1,092 91 7MB
German Pages 610 Year 2018
Dies ist ein utb-Band aus dem Verlag Klinkhardt. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen.
ISBN 978-3-8252-8697-2
,!7ID8C5-cigjhc! 86972 Gogolin_L-8697.indd 1
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Handbuch Interkulturelle Pädagogik, 9783825286972, 2018
Handbuch Interkulturelle Pädagogik
Gogolin | Georgi Krüger-Potratz | Lengyel Sandfuchs (Hrsg.)
Das Handbuch wendet sich an alle, die sich im Studium, in der Praxis und in der Forschung mit den Folgen von sprachlicher, kultureller und sozialer Diversität für Erziehung und Bildung befassen.
Ingrid Gogolin | Viola B. Georgi Marianne Krüger-Potratz Drorit Lengyel | Uwe Sandfuchs (Hrsg.) wurde mit IP-Adresse 141.020.217.204 aus dem Netz der HU Berlin am Juli 11, 2021 um 13:53:45 (UTC) heruntergeladen.
Migrationsbewegungen und Globalisierungsprozesse haben die kulturelle, sprachliche und soziale Vielfalt nachhaltig verstärkt. Die Folgen sind in allen gesellschaftlichen Bereichen, gerade auch in Bildung und Erziehung zu sehen. Über die Bildungs institutionen müssen die erforderlichen Kenntnisse, Kompetenzen und Haltungen vermittelt werden. Zugleich sollte damit ein Beitrag zum Abbau von Bildungsdisparitäten verbunden sein. Die Interkulturelle Pädagogik hat sich in den letzten Jahrzehnten als eigenständige Teildisziplin der Erziehungswissenschaft etabliert. Sie befasst sich speziell mit den migrationsbedingten Folgen für Erziehung und Bildung. Sie tut dies in engem diszip linären Kontakt mit anderen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen sowie Nachbarwissenschaften, die unter ihrer fachlichen Perspektive interkulturelle Fragestellungen aufgreifen. Das Handbuch spiegelt den erreichten Wissensstand und führt unterschiedliche Zugänge und Sichtweisen zusammen. In über 100 Beiträgen stellen etwa 150 Autorinnen und Autoren ihr Fachwissen und ihre Perspektive dar.
Handbuch Interkulturelle Pädagogik
Pädagogik
09.01.18 15:29
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Ingrid Gogolin Viola B. Georgi Marianne Krüger-Potratz Drorit Lengyel Uwe Sandfuchs (Hrsg.)
Handbuch Interkulturelle Pädagogik
Verlag Julius Klinkhardt Bad Heilbrunn • 2018
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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2018.Klg. © by Julius Klinkhardt. Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlagillustration: © Cienpies Design/shutterstock.com. Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart. Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg. Printed in Germany 2018 Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem alterungsbeständigem Papier. utb-Band-Nr.: 8697 ISBN 978-3-8252-8697-2
| 5 Inhaltsverzeichnis Einleitung: Zur Konzeption des Handbuches ..........................................11 1
Grundlagen und Diskurse
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1.1 Grundbegriffe
1 Kultur ..........................................................................................................................17 Regina Römhild 2 Migration .....................................................................................................................24 Christiane Hintermann und Barbara Herzog-Punzenberger 3 Migrant, Migrantin ......................................................................................................30 Barbara Herzog-Punzenberger und Christiane Hintermann 4 Ethnizität .....................................................................................................................34 Wolfram Stender 5 Minderheiten ...............................................................................................................37 Friedrich Heckmann 6 Integration – Inklusion .................................................................................................41 Viola Georgi und Filiz Keküllüoğlu 7 Assimilation – Akkulturation ........................................................................................45 Thomas Geisen 8 Interkulturelle Kompetenz ............................................................................................49 Anne-Christin Schondelmayer 9
1.2 Grundlegende Diskurse
Interkulturalität – Multikulturalität – Transkulturalität ................................................55 Ludger Pries und Martina Maletzky 10 Diversity .......................................................................................................................61 Viola B. Georgi 11 Migration und sprachliche Bildung ..............................................................................67 Ingrid Gogolin und Joana Duarte 12 Migration und Religion ................................................................................................72 Alexander-Kenneth Nagel 13 Migration und Geschlecht ............................................................................................76 Helma Lutz und Katrin Huxel 14 Rassismus und Diskriminierung ...................................................................................81 Ulrike Hormel 15 Migration und Demographie ........................................................................................87 Steffen Kröhnert 16 Migration und Sozialisation ..........................................................................................92 Leonie Herwartz-Emden 17 Bi-kulturelle Partnerschaften und Ehen ........................................................................97 Bernhard Nauck und Vivian Lotter
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Inhaltsverzeichnis
Interkulturalität in den Nachbarwissenschaften
18 Soziologische Migrationsforschung .............................................................................107 Wassilios Baros und Anna Cornelia Reinhardt 19 Politikwissenschaftliche Perspektiven ..........................................................................113 Axel Schulte und Dirk Lange 20 Kommunikationswissenschaft: Migration und Medien ...............................................119 Georg Ruhrmann 21 Psychologische Perspektiven auf Kultur ......................................................................126 Heidi Keller 22 Mehrsprachigkeit ........................................................................................................133 Georges Lüdi 23 Germanistische Forschung zur Interkulturalität ..........................................................140 Karen Schramm und Hannes Schweiger 24 Historische Migrationsforschung ................................................................................144 Jochen Oltmer 25 Interkulturelle Konzepte in der Geographie ................................................................150 Anton Escher und Elisabeth Sommerlad 26 Interkulturalität in den Wirtschaftswissenschaften ......................................................153 John Siegel 27 Perspektiven der Philosophie(n) ..................................................................................159 Franz Martin Wimmer 28 Interkulturalität in Medizin und Gesundheitswesen ...................................................163 Mike Mösko 29 Ethnologie und Interkulturalität .................................................................................170 Michael Schönhuth 30 Cultural Studies und Postkolonialismus ......................................................................176 Stefan Neubert
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Interkulturalität als Gegenstand der Erziehungswissenschaft 3.1 Teildisziplinen
31 Interkulturelle Pädagogik ............................................................................................183 Marianne Krüger-Potratz 32 Vergleichende Erziehungswissenschaft ........................................................................191 Sabine Hornberg und Hans-Georg Kotthoff 33 Bildungsforschung ......................................................................................................194 Volker Mehringer und Leonie Herwartz-Emden 34 Pädagogik der frühen Kindheit ...................................................................................198 Thilo Schmidt 35 Schulpädagogik ..........................................................................................................202 Beate Wischer und Matthias Trautmann 36 Schulqualitätsforschung ..............................................................................................207 Sara Fürstenau 37 Schulentwicklungsforschung ......................................................................................211 Nina Bremm
Inhaltsverzeichnis
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38 Unterrichtsforschung ..................................................................................................216 Svenja Vieluf, Kerstin Göbel und Markus Sauerwein 39 Sozialpädagogik ..........................................................................................................219 Andreas Herz und Wolfgang Schröer 40 Sonderpädagogik ........................................................................................................224 Winfried Kronig 41 Erwachsenenbildung/Weiterbildung ...........................................................................228 Halit Öztürk 42 Schulbuchforschung ...................................................................................................235 Thomas Höhne
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3.2 Konzepte und Ansätze Interkultureller Pädagogik
43 Interkulturelle Bildung als allgemeine Aufgabe von Bildung .......................................239 Hans-Joachim Roth 44 Interkulturelles Lernen in der politischen Bildung ......................................................243 Sabine Achour 45 Menschenrechtsbildung ..............................................................................................247 Claudia Lohrenscheit 46 Globales Lernen und Bildung für nachhaltige Entwicklung ........................................251 Bernd Overwien 47 Rassismuskritische Ansätze in der Bildungsarbeit ........................................................255 Rudolf Leiprecht
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Interkulturelle Fragestellungen in Politik und Recht 4.1 Politik
48 Auswirkungen der Einwanderungs- und Integrationspolitik auf Bildung und Erziehung ...................................................................................................................261 Ellen Kollender und Uwe Hunger 49 Einwanderungspolitik und Integrationspolitik im internationalen Vergleich ...............267 Sabine Klotz 50 Bildungspolitik der Europäischen Union ....................................................................274 Peter Becker 51 Kommunale Integrationspolitik ..................................................................................278 Frank Gesemann
4.2 Recht
52 Migranten als Träger von Grundrechten .....................................................................283 Reinhard Marx 53 EU-Freizügigkeit ........................................................................................................289 Roman Lehner 54 Einwanderungsmöglichkeiten von Drittstaatsangehörigen ..........................................295 Roman Lehner 55 Flucht und Asyl ..........................................................................................................304 Hendrik Cremer 56 Aufenthaltsstatus: Verfestigung, Beendigung, Einbürgerung .......................................309 Stefan Oeter
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57 Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen ...................................................314 Esther Weizsäcker 58 Integration als Rechtsbegriff .......................................................................................318 Stefan Oeter 59 Minderheitenschutz ....................................................................................................323 Christine Langenfeld und Roman Lehner 60 Rechtsprobleme von Migrantenkindern in der Schule ................................................328 Christine Langenfeld und Roman Lehner
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Räume und Institutionen interkultureller Bildung und Erziehung
5.1 Bildungsinstitutionen
5.2 Sozialisationsinstanzen und Handlungsfelder
61 Kindertagesbetreuung .................................................................................................339 Peter Cloos 62 Schule und Schulmodelle in der Migrationsgesellschaft ..............................................343 Lisa Rosen 63 Bilinguale Schulen ......................................................................................................349 Joana Duarte und Ursula Neumann 64 Interkulturelles Lernen in der beruflichen Bildung .....................................................354 Susanne Weber 65 Interkulturelle Bildung in Volkshochschulen ..............................................................361 Hartwig Kemmerer und Margitta Rudolph 66 Hochschulen: Internationalisierung und Diversity ......................................................365 Uta Klein 67 Kommunale Bildungslandschaften und regionale Bildungsnetzwerke .........................369 Tanja Salem 68 Familie als Sozialisationsinstanz ..................................................................................375 Britta Klopsch, Anne Sliwka und Aleksandra Maksimovic 69 Jugend und Peers ........................................................................................................382 Christine Riegel und Wiebke Scharathow 70 Eltern als Bildungspartner ..........................................................................................388 Manuela Westphal 71 Vereine – Jugendzentren – Bürgerzentren ...................................................................392 Uta Lindemann und Iris Pahmeier 72 Jugendaustausch – Jugendbegegnungen ......................................................................398 Andreas Thimmel 73 Migrantenselbstorganisationen ...................................................................................403 Uwe Hunger, Stefan Metzger und Seyran Bostanci 74 Integrationskurse ........................................................................................................407 Hannes Schammann und Elke Montanari
5.3 Orte kultureller Bildung
75 Bibliotheken als interkulturelle Lernorte .....................................................................412 Silke Schumann
Inhaltsverzeichnis
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76 Theater .......................................................................................................................417 Wolfgang Sting 77 Museum .....................................................................................................................421 Sabine Hess 78 Gedenkstätten und Erinnerungsorte ...........................................................................425 Astrid Messerschmidt 79 Digitale Medien und Interkulturalität ........................................................................428 Jannis Androutsopoulos 80 Digitale Lerntagebücher .............................................................................................435 Christina Schlegl
Interkulturelle Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen und Schule 6.1 Bildungspolitische Rahmensetzungen und Konzepte
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81 Orientierungs- und Bildungspläne für die Kindertagesbetreuung ...............................441 Drorit Lengyel und Tanja Salem 82 Bildungspolitische Zielsetzungen – Lehrpläne – Bildungsstandards ............................445 Uwe Sandfuchs 83 Integration von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen ..................................451 Uwe Sandfuchs
6.2 Interkulturelle Bildung in der frühen Kindheit
84 Betreuung und Bildung unter Dreijähriger .................................................................457 Berrin Özlem Otyakmaz 85 Konzepte interkultureller Bildung ..............................................................................461 Claudia M. Ueffing 86 Interreligiöses Lernen .................................................................................................465 Christa Dommel 87 Sprachbildung ............................................................................................................469 Drorit Lengyel
6.3 Lernbereiche und Unterrichtsfächer
88 Durchgängige sprachliche Bildung als fächerübergreifende Aufgabe ...........................474 Ingrid Gogolin 89 Deutschunterricht ......................................................................................................481 Claudia Maria Riehl und Julia Blanco López 90 Unterricht in Deutsch als Zweitsprache ......................................................................485 İnci Dirim 91 Fremdsprachenunterricht ...........................................................................................491 Ingrid Gogolin 92 Politische Bildung .......................................................................................................496 Sven Oleschko 93 Geschichtsunterricht ..................................................................................................499 Johannes Meyer-Hamme 94 Geographieunterricht .................................................................................................505 Gabriele Schrüfer
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95 Sachunterricht ............................................................................................................510 Janine Brade und Bernd Dühlmeier 96 Naturwissenschaftliche Unterrichtsfächer ...................................................................514 Dietmar Höttecke 97 Mathematikunterricht ................................................................................................518 Susanne Prediger und Alexander Schüler-Meyer 98 Philosophie- und Ethikunterricht ...............................................................................526 Markus Bartsch 99 Religion und interreligiöser Unterricht .......................................................................530 Thorsten Knauth und Dörthe Vieregge 100 Islamischer Religionsunterricht ...................................................................................534 Riem Spielhaus 101 Toleranzerziehung ......................................................................................................539 Markus Tiedemann 102 Kunstunterricht ..........................................................................................................541 Georg Peez 103 Musikunterricht .........................................................................................................545 Dorothee Barth 104 Sport und Sportunterricht ..........................................................................................549 Vera Volkmann
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Personal: Handlungsfelder und Qualifizierung
105 Trainer – Interkulturelle Trainings ..............................................................................555 Jürgen Henze 106 Interkulturelle und interreligiöse Moderation .............................................................559 Dorothea Bender-Szymanski 107 Sprachlehrkräfte für Deutsch als Zweitsprache ............................................................565 Claudia Riemer 108 Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen ..................................................................569 Hanna Rettig und Wolfgang Schröer 109 Erwachsenenbildnerinnen und Erwachsenenbildner ...................................................573 Alisha Heinemann und Annette Sprung 110 Erzieherinnen und Erzieher ........................................................................................577 Anke König 111 Lehrkräfte ...................................................................................................................581 Yasemin Karakaşoğlu und Aysun Doğmuş 112 Studienangebote in Interkultureller Bildung: Vom Zusatzstudium zum Masterprogramm ................................................................587 Hans-Joachim Roth und Tim Wolfgarten
Sachregister ....................................................................................................................591 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ............................................................599
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Einleitung: Zur Konzeption des Handbuches
Internationale Migrationsbewegungen und vielfältige Prozesse der globalen wirtschaftlichen und kulturellen Vernetzung haben die Gesellschaften rund um den Globus grundlegend verändert. Kulturelle, sprachliche und soziale Vielfalt sind auch in der deutschen Gesellschaft stärker präsent als je zuvor in der Geschichte. In dieser Situation werden von allen Mitgliedern der Gesellschaft, von Nichtgewanderten wie von Migrantinnen und Migranten, von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, interkulturelle Fähigkeiten verlangt. Interkulturelles Lernen soll befähigen, das Zusammenleben mit Vernunft, Verständnis und Toleranz zu gestalten, allen Menschen – unabhängig von ihrer kulturellen, sprachlichen und sozialen Herkunft – aufgeschlossen, verständig und respektvoll zu begegnen. Die Fähigkeit, in Situationen von Verschiedenheit angemessen zu handeln, setzt Kenntnis und Wissen voraus, aber ebenso die Motivation und den Willen zu solchem Handeln. Für Personen, die im Feld von Erziehung und Bildung tätig sind, gehört diese Fähigkeit zu den professionellen Basiskompetenzen. Die Interkulturelle Pädagogik hat sich in den letzten Jahrzehnten als eigenständiges Fachgebiet in der Erziehungswissenschaft etabliert. Im Zentrum interkultureller pädagogischer Forschung und Lehre steht die Frage, „welche Konsequenzen es für das Aufwachsen, die Sozialisation und die Prozesse der Erziehung und der Bildung mit sich bringt, dass sie in einer sozial, kulturell und sprachlich immer komplexer, heterogener werdenden Lage geschehen“ (Gogolin & KrügerPotratz 2010, S. 11). Ihre Erkenntnisse gewinnt die Subdisziplin vornehmlich durch –– historische und international vergleichende Analysen, –– empirische Untersuchungen der Arbeit von Erziehungs- und Bildungsinstitutionen, –– Studien zur individuellen Entwicklung unter den Bedingungen sozialer, kultureller und sprachlicher Heterogenität. Ethnische, kulturelle, nationale und sprachliche Heterogenität sind kein neues Phänomen. Ebenso wenig neu ist, dass Migrantenkinder beschult werden müssen. Auch für sie gilt das Recht auf Bildung. Bis in die 1960er Jahre ist dies vorrangig als Sonder-Problem wahrgenommen worden, so als seien Migration und Globalisierung ohne Bedeutung für die „normale“ Gestaltung der Schule bzw. generell der Bildungsinstitutionen und für die Erziehungswissenschaft als Disziplin. Infolge der Arbeitsmigration durch Anwerbung (1955-1973), vor allem nach dem sog. Anwerbestopp von 1973, begann die Aufmerksamkeit für die Folgen von Migration für Bildung und Erziehung sich zu verändern. Nach dem Anwerbestopp setzte verstärkt der sog. Familiennachzug ein – als eine der wenigen Möglichkeiten, „legal“ nach Deutschland zuzuwandern. In den Folgejahren stieg die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die aus dem Ausland zuwanderten, stark an. So hatten 1982 mehr als 8% der Schülerschaft (720.700 Kinder und Jugendliche) an allgemeinbildenden Schulen einen ausländischen Pass. Weitere 500.000
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Einleitung
Kinder im Alter von null bis sechs Jahren standen sozusagen vor den Türen der Schule. Die von Schulverwaltungen in diesem Zeitraum favorisierte ‚ausländerpädagogische’ Vorstellung war, dass es genüge, einige – vor allem ‚sprachliche’ – Defizite der Schüler/innen (und ihrer Eltern) im Deutschen auszubessern; dann werde sich das Problem der Integration von selbst erledigen. Außerdem war der Gedanke verbreitet, dass viele Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten letztlich in ihre ‚Heimat’ zurückkehren würden. Anfänglich etablierte Fördermaßnahmen wie die Doppelzählung ausländischer Schülerinnen und Schüler bei der Berechnung von Lehrerstunden liefen aus (vgl. Sandfuchs 2005, S. 63f ). Grundlegende Veränderungen in Reaktion auf wachsende sprachliche, kulturelle und soziale Verschiedenheit in der Schülerschaft blieben aus. Mit den „Folgen der Arbeitsmigration für Bildung und Erziehung“ beschäftigten sich vor Anfang der 2000er Jahre relativ wenige Erziehungs- und Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sowie die auf diesen Aspekt spezialisierte politische Berichterstattung. So machten die Berichte der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Ausländer (z.B. 1997 und 2001) sowie die dazugehörenden „Daten und Fakten zur Situation der Ausländer“ (1999 und 2002) deutlich, dass die Integration ausländischer Schülerinnen und Schüler hinter den Notwendigkeiten und Möglichkeiten des Bildungssystems weit zurückblieb. Größeres öffentliches Interesse fand das Thema der anhaltenden Bildungsdisparitäten zwischen altansässigen und zugewanderten Kindern und Jugendlichen jedoch erst, als 2001 die Ergebnisse der ersten PISAStudie publiziert wurden. Der Befund, dass fast „50% der Jugendlichen aus Zuwandererfamilien (…) im Lesen nicht die elementare Kompetenzstufe I“ überschreiten, „obwohl über 70% von ihnen die deutsche Schule vollständig durchlaufen haben“ (PISA 2001, S. 379), alarmierte die Öffentlichkeit. Zugleich wurde durch die Operationalisierung von ‚Migrationshintergrund’, die bis zu diesem Zeitpunkt zwar argumentativ eingefordert, aber nicht in Studien mit substanziellen Stichproben umgesetzt worden war, die Größenordnung des Problems deutlich: Es handelt sich nicht um eine in der Zahl vernachlässigenswerte Gruppe von Schülerinnen und Schülern und deren Benachteiligung im Bildungssystem, sondern um einen erheblichen Teil der Schülerschaft in Deutschland. Zu den ‚PISA-Folgen’ gehört die Etablierung einer nationalen Berichterstattung zum Stand der „Bildung in Deutschland“. Diese wendete sich in ihrer ersten indikatorengestützten Fassung (2006) dem Schwerpunktthema „Bildung und Migration“ zu. Dieses Thema wurde im Bericht 2016 wieder aufgenommen, um eine Bilanz nach zehn Jahren ziehen zu können. Zu den auch mit Blick auf das hier vorgelegte Handbuch wichtigen Befunden des Bildungsberichts von 2016 (vgl. Bildung in Deutschland 2016, S. 10-12, 161ff) gehören z.B.: –– Der Anteil an Personen mit Migrationshintergrund ist (regional sehr unterschiedlich) zwischen 2005 und 2013 leicht von 19% auf 21% (16,5 Millionen Personen) gestiegen. Bei den Kindern unter zehn Jahren betrug der Anteil im bundesweiten Durchschnitt etwa ein Drittel. In großstädtischen Regionen hat mindestens die Hälfte der Schülerschaft einen Migrationshintergrund. –– Die Bildungsbeteiligung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Migrationshintergrund nimmt zu. Das bedeutet, dass der Anteil derer, die an höherqualifizierenden Bildungsangeboten teilnehmen, gestiegen ist. Zugleich ist im Elementarbereich (3- bis 6-Jährige) zu beobachten, dass sich die Bildungsbeteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund im letzten Jahrzehnt bis auf wenige Prozentpunkte der von Kindern ohne Migrationshintergrund angeglichen hat; die meisten Kinder nutzen also frühkindliche Bildungsangebote. Gleichwohl sind in allen Stufen und Formen des Bildungswesens – von Kindertageseinrichtungen bis zur beruflichen Weiterbildung – Disparitäten zwischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit und ohne Migrationsgeschichte sichtbar. Zudem sind Segregationstendenzen
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Einleitung
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erkennbar, die im Wesentlichen darauf beruhen, dass die Bevölkerung mit Migrationshintergrund nicht gleichmäßig über alle Wohngebiete des Landes verteilt ist. Ein weiterer Grund ist, dass ein erheblicher Teil der zugewanderten Bevölkerung unter eher benachteiligenden sozio-ökonomischen Umständen lebt und entsprechend auf ärmere Wohngebiete (und die dort befindlichen Bildungseinrichtungen) konzentriert ist. –– Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist, z.B. nach Herkunft und Migrationsgeschichte, Bildungserfahrung, sprachlichen Kompetenzen, sehr heterogen. Diese Heterogenität wirkt sich auch auf die Bildungsbeteiligung und den Bildungserfolg aus. Untersuchungen zeigen, dass unterschiedliche Herkunftsgruppen sehr unterschiedliche Bildungserfolge aufweisen. So sind z.B. Kinder und Jugendliche vietnamesischer Herkunft sehr bildungserfolgreich, auch wenn sie in sozio-ökonomisch und in anderer Hinsicht benachteiligten Familien leben (Nauck & Schnoor 2015). Ähnliche Befunde sind auch schon aus früheren Untersuchungen bekannt. So waren in der ‚Gastarbeiterkinder-Epoche’ zum Beispiel die Kinder griechischer oder portugiesischer Herkunft schulisch sehr erfolgreich, obwohl ihre Lebensumstände (wie die materielle Lage und die Bildungsherkunft der Familien) ungünstig waren. Die Ursachen für dieses Phänomen sind nach wie vor nicht befriedigend durch Forschung geklärt. Offen ist insbesondere, welche Handlungsformen der Familien es sind, die die positiven oder negativen Konsequenzen für Bildungserfolg mit sich bringen. Parallel zu den bildungspolitischen Maßnahmen und Modellversuchen einschließlich der sie begleitenden Kontroversen hat sich die Erziehungswissenschaft zunehmend mit interkulturellen Fragestellungen befasst. Seit den 1970er Jahren hat sich ein Fachgebiet etabliert, das seit den 1980er Jahren mehrheitlich unter der Bezeichnung Interkulturelle Pädagogik firmiert. Seit den 2000er Jahren sind interkulturelle Fragestellungen und Diskurse auch von anderen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen aufgegriffen worden. Gleiches gilt für eine Reihe von Nachbarwissenschaften (Sozial-, Geistes- und Sprachwissenschaften, Rechtswissenschaften oder auch Medizin). Damit wird deutlich: Migration als Teil der Europäischen Integration und ein Element des Globalisierungsprozesses verändert die nationalen Gesellschaften nicht nur im Feld der Erziehung und Bildung, sondern in allen politischen Feldern: Wohnen, Arbeit, Gesundheit, Soziales, Freizeit und Kultur usw. Im Bereich der Erziehung und Bildung geht es um mehr als um den Zugang zu schulischer Bildung: Herausgefordert sind, wie die Beiträge in diesem Handbuch verdeutlichen, Bildungsinstitutionen und Sozialisationsinstanzen insgesamt. Die hier skizzierte Sachlage erfordert eine systematische Auseinandersetzung mit den politischgesellschaftlichen Entwicklungen und deren Folgen für Bildung und Erziehung unter Einbeziehung aller Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft und entsprechender Schwerpunktsetzungen in anderen Wissenschaftsdisziplinen. In dieser Perspektive haben die Herausgeberinnen und der Herausgeber das vorliegende Handbuch konzipiert und versucht, die unterschiedlichen Sichtweisen und Zugänge zusammenzuführen. Eingeladen worden sind etwa 150 Autorinnen und Autoren, die in über hundert Beiträgen ihr Fachwissen und ihre disziplinäre Perspektive dargestellt haben. Handbücher repräsentieren den State of the Art, das zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vorliegende Fachwissen, also den Forschungs- und Diskussionsstand zu einem Thema in komprimierter und verständlicher Form aus Sicht der jeweiligen Autorin oder des jeweiligen Autors. Der aktuelle Fachdiskurs in Deutschland steht im Vordergrund. Soweit nötig und möglich werden historische Entwicklungen und internationale Perspektiven einbezogen. Vor allem aber werden empirisch gestütze Befunde dargestellt. Auch Kontroversen in Theorie und Praxis sind berücksichtigt. Desgleichen werden Forschungsdesiderata und Bezüge zur Erziehungspraxis aufgezeigt.
Einleitung
Das Handbuch verbindet die Systematik eines Lehrbuches mit der ausführlichen Begriffs- und Themenbehandlung eines Lexikons. Das Handbuch Interkulturelle Pädagogik wendet sich an alle, die sich im Studium, in der Praxis und in der Forschung mit den Folgen von sprachlicher, kultureller und sozialer Diversität für Erziehung und Bildung befassen. Es bietet Orientierungshilfe in einem komplexen, inzwischen deutlich ausdifferenzierten Gegenstandsfeld. Gedacht ist das Handbuch für Studierende der Lehrämter und aller erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Studiengänge; es richtet sich ebenso an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Erziehungswissenschaft und in den relevanten Nachbardisziplinen sowie an Pädagoginnen und Pädagogen in den verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern. Unser Dank gilt allen Autorinnen und Autoren, die mit ihrer fachlichen Perspektive und ihrem spezifischen Erfahrungshintergrund zu diesem facettenreichen Handbuch beigetragen haben. Redaktionelle Unterstützung und Hilfe bei der Manuskripterstellung erhielten das Herausgeberteam von Doreen Arndt, Christin Güldemund, Susanne Reitemeyer und Olga Schlee, bei denen wir uns sehr herzlich bedanken. Ebenso gilt unser Dank dem Verlag Julius Klinkhardt, der das Werk ermöglicht hat und damit die Reihe seiner erfolgreichen Handbücher fortsetzt. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Hamburg, Hildesheim, Münster und Dresden Ingrid Gogolin, Viola B. Georgi, Marianne Krüger-Potratz, Drorit Lengyel und Uwe Sandfuchs
Literatur
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2006): Bildung in Deutschland 2006. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld: Bertelsmann Verlag. – Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2016): Bildung in Deutschland 2016. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld: Bertelsmann Verlag. – Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen (Hg.) (1999): Daten und Fakten zur Ausländersituation. Bonn. – Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen (Hg.) (2002): Daten und Fakten zur Ausländersituation. Bonn. – Bericht der Beauftragten der Bundesregierung in Ausländerfragen über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland (1997). Bonn. – Bericht der Beauftragten der Bundesregierung in Ausländerfragen über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland (2001). Bonn. – Gogolin, Ingrid & Krüger-Potratz, Marianne (2010): Einführung in die Interkulturelle Pädagogik. 2. Aufl. Opladen: Verlag Barbara Budrich. – PISA 2000 (2001): Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Hg. vom Deutschen PISA-Konsortium. Opladen: Leske und Budrich. – Sandfuchs, Uwe (2005): Interkulturelle Kompetenz und Lehrerprofessionalität. Ein Lehrstück zur Frage „Was bewegt die Lehrerbildung?“. In: Rosemarie Nave-Herz & Wolf-Dieter Schulz (Hg.): Beiträge zur Bildungs- und Familienforschung. Würzburg: Ergon, S. 53-67.
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1 Grundlagen und Diskurse
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1.1 Grundbegriffe
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1 Kultur Regina Römhild
Kultur hat Konjunktur: Als Leitvokabel bestimmt ‚Kultur‘ die Debatten über kulturelle Vielfalt in der Einwanderungsgesellschaft ebenso wie Diskussionen über gesellschaftspolitische, ökonomische Sphären – von Unternehmens- oder Konsumkultur bis hin zur populären Beziehungsund der neuerdings viel zitierten ‚Willkommenskultur‘. Der Begriff ist längst aus dem Kontext der Wissenschaft, wo er ganze Subdisziplinen – z.B. Kultursoziologie, Kulturgeographie, Interkulturelle Pädagogik – hervorgebracht hat, in den Raum des gesellschaftlichen Alltags und der ihn dominierenden Diskurse gewandert. Damit ist jedoch auch die Gefahr der Verflachung und der politischen Instrumentalisierung eines komplexen wissenschaftlichen Konzepts verbunden. So zeigt sich hier eine wirkmächtige, diskursive Verschiebung: Wo es zuvor um Formen und Konsequenzen gesellschaftlicher Hierarchien und sozialer Differenzen, um Machtverhältnisse und ökonomische Materialitäten ging, wird nun Kultur zur Erklärung von gesellschaftlichen Entwicklungen, sozialen Lagen, Integrationsproblemen und Konflikten herangezogen. Die „Kulturalisierung“ (Kaschuba 1995) des Sozialen und des Politischen lässt sich im großen Maßstab beobachten, etwa in den Populärversionen eines von Samuel Huntington postulierten „Kampfs der Kulturen“, eine ‚Diagnose‘, mit der suggeriert wird, dass globale Konfliktstoffe auf unterschiedliche Prägungen und Mentalitäten in antagonistisch gedachten ‚Kulturkreisen‘ bzw. ‚Zivilisationen‘ zurückgeführt werden könnten. Die Tendenz zur Kulturalisierung lässt sich aber genauso im Alltag nationaler Diskurse zu Einwanderung feststellen, wo Kultur ganz ähnlich zur Unterscheidung von ‚Anderen‘ verschiedener Herkunft und kulturelle Differenz als Erklärung sozialer Problemlagen eingesetzt wird.
1 Herausforderungen eines verbreiteten Begriffs Dass Kultur inzwischen überall ist (siehe z.B. Hannerz 1996, S. 30ff), führt dazu, dass die Wissenschaft ihren eigenen Konzeptionen – in adaptierter, oft verzerrter Form – in der Wirklichkeit der Gesellschaft wieder begegnet und sich entsprechend mit diesem Eigenleben des Begriffs außerhalb des akademischen Diskurses reflexiv und kritisch auseinandersetzen muss. Kultur ist in diesem Sinne weder ein politisch unschuldiges noch ein singuläres, eindeutiges Konzept, sondern ein komplexes diskursives Projekt, in dem es sich zunächst zu orientieren gilt, um zu einer reflektierten Verwendung und Weiterentwicklung zu kommen.
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2 Kleine Genealogie der Kulturbegriffe 1952 sammelten die Kulturanthropologen Alfred L. Kroeber und Clyde Kluckhohn 164 Definitionen von culture, die damals in den englischsprachigen Sozial- und Kulturwissenschaften kursierten. Sie fanden dabei drei typische, wiederkehrende Schwerpunkte: 1. einen definitorischen Bereich der materiellen Kultur, der Mensch-Umwelt-Beziehungen und technologische Entwicklungen adressiert, 2. einen Bereich der sozialen Kultur, der zwischenmenschliche Beziehungen zum Gegenstand hat, und 3. einen Bereich der geistigen Kultur, der sich auf Wissen, Ideen und Symbole, Werte und Normen bezieht (Kroeber & Kluckhohn 1952, S. 97f ). In je unterschiedlichen Gewichtungen und Auslegungen hat diese Dreiteilung die wissenschaftliche Entwicklung von Kulturbegriffen nachhaltig geprägt. Sie lässt sich auf ein holistisches, d.h. ganzheitliches Verständnis von Kultur zurückführen, wie es die Ethnologie/Anthropologie in der Frühphase ihrer akademischen Institutionalisierung, am Ende des 19. Jahrhunderts, im Wissenschaftsraum zu etablieren begonnen hat. Dieser ethnologische Kulturbegriff vermittelte zwischen einer – besonders im deutschsprachigen Raum bedeutsamen – Dichotomie: zwischen Kultur, verstanden als ‚Hochkultur‘ geistiger und künstlerischer Leistungen einerseits, und Zivilisation als Bereich sozialer, materieller, technologischer Entwicklungen, als tätige Auseinandersetzung mit Natur andererseits. So wurde es möglich, Kultur als nachhaltig wirkendes Orientierungs- und Handlungspotential zu verstehen, das alle Mitglieder einer Gesellschaft oder Gemeinschaft, d.h. über alle sozialen Unterschiede hinweg, verbindet. Gleichzeitig wurde Kultur damit zu dem Begriff, mit dem eine bestimmte Gruppe von Menschen bezeichnet und von anderen Gruppen unterschieden werden kann. In den wissenschaftlichen Definitionen menschlicher Kultur oszillieren seitdem zwei unterschiedliche Bedeutungen: Zum einen steckt in der Rede von Kultur ein Wissensbegriff, der auf tradierte Inhalte und erlernte Fähigkeiten abzielt, die es Menschen ermöglichen, in ihren jeweiligen Lebens-, Arbeits- und Alltagswelten sinnvoll zu handeln. Zum anderen wird Kultur zu einem Differenzbegriff. Er erscheint dann im Plural, in der Rede von unterschiedlichen, jeweils in ihrer Besonderheit zu sehende Kulturen, die an bestimmte räumlich und sozial, insbesondere auch ethnisch oder national definierte Kollektive gebunden seien. Während die erste Bedeutung Kultur eher als veränderlichen, offenen Prozess des Lernens von Menschen in der Auseinandersetzung mit der äußeren und der inneren Natur, mit der sozialen Welt fasst und somit ihre ermächtigenden, kreativen Potentiale betont, tendiert die zweite Bedeutung zu einer statischen Auffassung von Kultur als Kollektivmerkmal, das Menschen zu Mitgliedern und Repräsentanten ihrer Gesellschaften und Gemeinschaften macht, sie als solche prägt und klassifizierbar macht. Beide Bedeutungen verweisen ihrem Ursprung nach auf den historischen Horizont der europäischen Nationalstaatsbildung und des europäischen Kolonialismus im 18. und 19. Jahrhundert: In diesem Zeitraum wird Kultur in den oben skizzierten Lesarten ein einflussreicher Begriff, der in enger Verflechtung wissenschaftlicher und politischer Ideen sowohl die Konstruktion und Klassifizierung einer je eigenen, von anderen abgegrenzten nationalen Kultur ermöglicht, als auch die Kulturen ‚der Anderen‘ in ein hierarchisches Verhältnis zum ‚Eigenen‘ zu setzen erlaubt, was auf globaler Ebene schließlich zur Herausbildung der machtvollen Unterscheidung des „Westens“ vom „Rest“ führt (Hall 1994b). Wenn auch mit universellem Geltungsanspruch in Umlauf gebracht, so zeugt der Kulturbegriff letztlich von seiner Situierung in modernen europäisch-westlichen Denktraditionen. Die mit ihm installierten Grenzen ebneten Unterschiede im Inneren der jeweils so gedachten ‚Kultur‘ ein, während sie die Unterschiede zwischen den ‚Kulturen‘ überproportional betonten. Auf diese Weise wurden auch die im Zuge des Kolonialismus hergestellten Verflechtungen zwischen den so geschaffenen Kulturräumen unsichtbar gemacht (Conrad & Randeria 2013, S. 39ff), und Kultur – in dieser Tradition als fundamentale
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Differenz verstanden – konnte seither immer wieder auch zur Begründung von Nationalismen und Rassismen herangezogen werden. In der Kulturanthropologie führte dieser durch das eigene Fach mit hervorgebrachte Missbrauch zu einer „Krise der ethnographischen Repräsentation“ des/der Anderen (Berg & Fuchs 1993) und auch zu einer bisweilen radikalen Abkehr vom Kulturbegriff bis hin zur Forderung nach einem aktiven „Schreiben gegen Kultur“ (Abu-Lughod 1996). Überwiegend mündete diese selbstreflexive Kritik jedoch in Versuchen, den Kulturbegriff grundlegend zu reformieren. Nach der durch Clifford Geertz eingeführten „interpretativen Wende“, mit der Kultur als „Bedeutungsgewebe“ zu verstehen und mithin als „Text“ zu deuten war, geriet der auch bei Geertz noch unhinterfragte ethnische bzw. nationale Zuschnitt solcher kulturellen Texte und ihre Positionierung jenseits einer dem Westen zugeschriebenen Moderne ins Visier der Kritik (Berg & Fuchs 1993, S. 59ff). Es ging zunehmend darum, den Kulturbegriff an seinen bis dahin gesetzten Grenzen durchlässiger, plastischer, dynamischer zu gestalten und seine empirische Untersuchung als ein dialogisches Unterfangen zwischen Erforschenden und Erforschten zu verstehen, um so den tatsächlichen kulturellen Differenzierungen und Austauschprozessen in und zwischen Gesellschaften angemessener Rechnung tragen zu können. Dies wurde umso dringlicher, je mehr sich der wissenschaftliche Blick auf Mobilität, Migrationsprozesse und transnationale Verflechtungen zwischen den Gesellschaften sowie auf die dadurch zunehmende kulturelle Diversität in ihrem Innern richtete. Die zuvor zugrunde gelegte räumliche Trennung zwischen ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ war so gerade auch in der Perspektive auf die westlich-europäischen Einwanderungsgesellschaften nicht mehr aufrecht zu erhalten. Die moderne ethnische Grundierung des Kulturbegriffs erweist sich dennoch bis heute als hartnäckig: Sie prägt selbst Reform-Konzepte, wie das der multikulturellen Gesellschaft, das eigentlich als Kritik an der Behauptung der kulturellen Homogenität des Nationalstaats und als Hinweis auf Heterogenität gedacht war, dabei aber selbst durch die Rede von ‚Kultur im Plural‘ die Trennung von eingewanderten ‚ethnischen Minderheiten‘ gegenüber einer sesshaften ‚nationalen Mehrheit‘ erneut hervorbringt. Auch definitiv konträr konzipierte Begriffe des Inter- und Transkulturellen oder des Hybriden setzen das Containermodell unterschiedlicher, ethnisch begrenzter Kulturen nicht vollständig außer Kraft, solange sie zwar von Begegnungen von und Mischungen zwischen Kulturen ausgehen, damit aber doch deren vormalige distinkte Besonderheit implizit voraussetzen. Würde Kultur aber auf ethnische Hybridität als Normalfall verweisen, wären die dies anzeigenden Vorsilben letztlich nur eine tautologische Zutat. Die wissenschaftliche Arbeit am Kulturbegriff trägt dieser Problematik in unterschiedlichen Konzeptionen Rechnung. Dabei geht es insbesondere darum, Kultur als identitätspolitisch umkämpfte Zone sichtbar und zum Gegenstand von Forschung zu machen, ihre ständige Bearbeitung und Veränderung im Rahmen kultureller Praxis zu berücksichtigen sowie Formate intersektionaler Überschneidung und Auseinandersetzung mit anderen Differenzmarkierungen – wie Klasse, Ethnizität, ‚Rasse‘, Geschlecht – bei der Betrachtung kultureller Prozesse zentral zu stellen.
3 Kultur – Wissen – Bedeutung Ein wesentlicher theoretischer Strang, Kultur jenseits von primär ethnischen Zuschnitten zu konzipieren, fokussiert deren handlungsorientierende Funktion als spezifisches Wissensreservoir. Kultur bezeichnet dann ein intersubjektiv geteiltes Verständnis, wie die Welt funktioniert und das daran anschließende Alltagswissen, das gemeinsames Handeln in einer sozial konstruierten Lebens- und Arbeitswelt ermöglicht.
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In wissenssoziologisch orientierten Konzeptionen geht es dabei insbesondere um das selbstverständliche, naturalisierte, verinnerlichte, verkörperlichte Wissen, das für einen reibungslosen, unhinterfragten, routinisierten Handlungsablauf notwendig und verantwortlich ist. Das betrifft sowohl alltägliche Handlungsabläufe (z.B. Kochen, Essen, Autofahren) wie auch hochkomplexe Tätigkeiten in beruflichen Kontexten (etwa im naturwissenschaftlichen Labor, in handwerklichen, künstlerischen, technologisierten Arbeitszusammenhängen). Das für solches Tun nötige Wissen kann je nach Situation abgerufen, eingesetzt und auch wieder ausgeblendet werden. Seine Inhalte unterscheiden sich hinsichtlich der sozialen Kontexte, in denen sie Geltung beanspruchen und es ist an soziale Alltagswelten gebunden, ohne damit jedoch die beteiligten Akteure auf eine einzige und quasi unveränderliche Zugehörigkeit festzulegen. Dazu gehört, dass dieses Wissen nicht einfach nur reproduziert, sondern in der Praxis permanent weiter erprobt und an prinzipiell veränderliche Gegebenheiten angepasst wird, auf die es zugleich selbst einwirkt (Hörning 2001). Kulturanthropologische Auffassungen von Alltagswissen fokussieren zudem den geteilten „Common Sense“ kulturspezifischer Bedeutungen, die Alltagshandeln orientieren (Herzfeld 2001, S. 1ff). Auch diese Bestände an Symbolen, Bildern, Narrativen sind veränderlichen und beweglichen sozialen Kontexten zugeordnet, in denen sie kursieren; auch sie werden in sozialen Interaktionen als geteiltes Wissen erworben. In einer vernetzten, globalisierten Welt wird dieses Wissen mobil: im Sinne eines beweglichen „Werkzeugkastens“ oder Repertoires (Hannerz 1996, S. 44ff), aus dem die Subjekte die für ihre Handlungskontexte relevanten kulturellen Bedeutungen auswählen und zusammenstellen. Arjun Appadurai (1996, S. 27ff) zufolge entstehen entlang der diversen Bewegungen von Menschen, der medialen Inhalte, Technologien, Finanzströme und Ideen ungleich verteilte Landschaften einer globalen kulturellen Ökonomie, die er als „Ethno-, Media-“, „Techno-“, „Finance-“ und Ideoscapes“ bezeichnet. In diesen Landschaften werden kulturelle Inhalte für die Imagination deterritorialisierter kultureller Identitäten und sozialer Welten global verfügbar. An Wissen und Bedeutung orientierte Kulturbegriffe sind plastische Konstrukte, die den entgrenzenden Einfluss von Mobilität und Transformationen zu erfassen erlauben. Ihre Grundlage sind soziale – und nicht per se ethnische oder nationale – Entitäten, deren Bestand an handlungsleitendem Wissen, an Überzeugungen und Selbst- wie Welt-Verständnissen sie beschreiben. Dabei können diese sozialen Entitäten an ein spezifisches professionelles Wissen geknüpft sein – wie etwa im Fall von Chirurg/innen oder Taxifahrer/innen –, an spezifische Glaubensinhalte – so im Fall religiöser Gemeinschaften oder weltanschaulicher Gruppierungen wie Veganer/innen – ebenso wie an spezifische Klassenlagen, soziale Milieus und Lebensstile, aber auch an Narrative ethnischer, nationaler Gemeinschaften und Diasporen. Als Alltagswissen und Common Sense solcher Gruppen gefasst, überschneidet sich Kultur mit Konzepten des Habitus und des Diskurses, die in durchaus ähnlicher Weise auf ein in die Subjekte eingeschriebenes und sie konstituierendes Wissen über Welt verweisen. Indem sie solche sozialen Gruppen über die ihnen gemeinsamen Wissensinhalte und Weltsichten zu vergemeinschaften erlauben, wird der so gefasste Kulturbegriff relevant für entsprechende alltagsweltliche und wissenschaftliche Konstruktionen von Identität und Differenz. Sein Einsatz muss deshalb in engem Zusammenhang mit Konzepten der Repräsentation und der Identitätspolitik sowie mit Fragen der Gouvernementalität und der Selbst-Technologien betrachtet und reflektiert werden. Aus dieser Perspektive zeigt sich, dass Kulturen und daran geknüpfte Identitäten ihrerseits in machtvolle diskursive Verhältnisse von Selbst- und Fremdzuschreibung eingelagert sind. Dabei werden spezifische Bewertungshierarchien, die auf koloniale Maßstäbe von „Moderne“ und „Entwicklung“ zurückgehen, wirksam, an denen Dominanz- und subalterne Kulturen im
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Verhältnis zueinander hegemonial positioniert sind. Kulturelle Repertoires sind deshalb nicht beliebig und autonom konstruierbar, sondern Gegenstand und Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse.
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4 Kultur – Praxis – Diversität Ein weiterer theoretischer Strang, Kultur jenseits von fixen Kollektiv-Repräsentationen zu fassen, setzt auf Praxis: als nicht nur von Kultur bestimmtes, sondern Kultur auch selbst generierendes Handeln. Kulturspezifische Deutungen und Identifikationen werden in diesem Sinne in unterschiedlichen sozialen Kontexten immer wieder handelnd bearbeitet und dabei mehr oder weniger neu gewichtet, zugeschnitten, verändert. Aus dieser Perspektive verschiebt sich der Fokus: weg von einer durch Gesellschaft und Lebenswelt vorgegebenen Kultur hin zu subjektiven Handlungsräumen und Materialitäten, aus denen heraus Kulturen (im Plural) und Identitäten (in beweglichen, vorläufigen Formaten) gemacht werden. In Ansätzen wie „Doing Culture“ (Hörning & Reuter 2004) geht es um die praktische Herstellung von Kultur und um ihre Diversität, ihre Vervielfältigung innerhalb von und quer zu kollektiven Repräsentationen. Ein Ausgangspunkt für diese Ansätze ist die insbesondere in der Migrationsforschung gewonnene Einsicht, dass Alltagswelten in einer globalisierten, kosmopolitisierten Gegenwart weniger denn je durch ethnisch konnotierte Homogenität charakterisiert sind (Bojadžijev & Römhild 2014). Auch in den Gesellschaften des globalen Nordens durchkreuzen transnationale, postkoloniale Migrationen und die unübersehbaren Folgen globaler Interdependenzen den dominanten Diskurs des kulturell geschlossenen, politisch souveränen Nationalstaats. Ob in medialen, digitalisierten sozialen Räumen oder in der face-to-face-Situation der Schulklasse, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft des Wohnquartiers, im Verein oder der jugendkulturellen Szene: Der gesellschaftliche Alltag ist längst überall von Mobilität sowie einer damit verbundenen Pluralität der Herkünfte und Zugehörigkeiten geprägt. Der Umgang mit Differenz und Diversität ist also eine tägliche Erfahrung und als solche eine konstitutive Voraussetzung – und nicht etwa eine Randerscheinung – von Alltagskulturen. Eine Perspektive, die Kultur als Praxis versteht, setzt Grenzen und daran geknüpfte Gemeinschaften nicht voraus, sondern betrachtet deren Herstellung, Bearbeitung, Verwandlung und Auflösung als Gegenstand und Produkt gesellschaftlichkultureller Prozesse. Wesentliche Anregungen für diese Sichtweise lieferte die Genderforschung im Verbund mit der transnationalen Migrationsforschung und neueren Diskussionen zum Konzept der Diaspora (Römhild 2014). So zeigt sich aus solchen, an diversen ‚Minderheiten‘ interessierten Perspektiven, dass die Wirklichkeit, insbesondere in den urbanen Metropolen, durch eine sich immer weiter vervielfältigende „Super-Diversität“ (Vertovec 2006; Römhild 2014, S. 259f ) gekennzeichnet ist, die keineswegs nur die Pluralität ethnischer Herkunftsgruppen in den Einwanderungsgesellschaften meint, sondern auch die diese Gruppen differenzierenden und transzendierenden Unterschiede und Unterscheidungen hinsichtlich Aufenthalts- und Bürgerrechten, Bildungstiteln und sozioökonomischem Status sowie in Fragen religiös-weltanschaulicher, politischer, queerer, subkultureller und anderer Orientierungen und Lebensstile. Statt Nationalität wird eine dazu quer positionierte Diversität zum vergemeinschaftenden Faktor sozialer Milieus. Dabei muss Diversität jedoch im Kontext machtvoller, sich überschneidender und gegenseitig verstärkender Differenzmarkierungen wie Gender, Klasse und ‚race‘ betrachtet und verstanden werden. Darauf macht das Konzept der Intersektionalität aufmerksam, das auf Interventionen schwarzer Bürgerrechtlerinnen und Feministinnen zurückgeht. Sie haben gezeigt, dass der universal gedachte Gender-Begriff in einem spezifisch weißen Diskurs situiert ist, der die von Ras-
Regina Römhild
sismus gekennzeichnete Situation schwarzer Frauen – und damit auch seine eigenen Grenzen – übersieht und unsichtbar macht. Diese Perspektive öffnete den Blick für weitere Verschränkungen von Grenzziehungen innerhalb transnationaler Gemeinschaften und Subjektkategorien, wie sie das Diaspora-Konzept im Anschluss an Avtar Brah (1996) und Floya Anthias (2008) thematisiert. Diasporische Gemeinschaften erscheinen hier durch Prozesse der Migration im Sinne einer dauerhaften Entwurzelung und durch aktive Prozesse der Beheimatung gleichermaßen charakterisiert. Dabei formen rassifizierende, ethnisierende Markierungen diasporische Subjektkategorien ebenso wie klassen- oder geschlechtsspezifische Unterscheidungen. Und zugleich können diese sich überschneidenden Klassifizierungen durch Praktiken und Politiken der „sozialen Lokalisierung“ (ebd.) in selbstermächtigende Subjektpositionen verwandelt werden. Zusammen mit Konzepten des „Doing Gender“ oder des „Doing Ethnicity“ erlauben praxeologische Ansätze eines „Doing Culture“, solche sozialen Lokalisierungen zu erfassen: als performative Prozesse, in denen Differenzkategorien subjektiv mobilisiert und angeeignet, kritisiert, zurückgewiesen und transformiert werden können. Diversität lässt sich dann als Produkt dieser kulturellen Praxis verstehen: hergestellt in der tätigen Auseinandersetzung mit zugeschriebener Differenz sowie den daraus entstehenden materiellen Benachteiligungen und sozialen Ungleichheiten. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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5 Kultur als Schauplatz gesellschaftlicher Auseinandersetzungen In der gesellschaftlichen Wirklichkeit wird Kultur zu einem machtvollen Merkmal, das Menschen nach bestimmten Gruppenzugehörigkeiten und Identitäten, spezifischen Orientierungen, Mentalitäten und Wissensbeständen zu kategorisieren erlaubt: von temporären, subkulturellen Zugehörigkeiten in Fanlagern und Szenen bis zu dauerhafteren Verortungen in den Nationalitäten der ‚Herkunftsgemeinschaften‘ migrantischer ‚Minderheiten‘ und nationaler ‚Mehrheiten‘. Kultur bezeichnet aber ebenso die Prozesse, in denen die so eingeordneten und unterschiedenen Subjekte sich als Akteure mit diesen kollektiven Zuschreibungen auseinandersetzen, sich mit ihnen identifizieren oder aber sich ihnen widersetzen, sie mit anderen Vergemeinschaftungen und Identifikationen durchkreuzen und transzendieren. Kultur wird daher zu einem Schauplatz der gesellschaftlichen Auseinandersetzung über soziale Ein- und Ausschlüsse, über Formate und Folgen von Selbst- und Fremdpositionierungen. Sowohl in der Forschung wie im Alltag gesellschaftlicher Handlungsfelder gilt es, diese Mehrdimensionalität von Kultur, ihre divergierenden Bedeutungen als uneindeutige, umkämpfte Kategorie des ‚Eigenen‘ und des ‚Anderen‘ gleichermaßen im Blick zu haben. Dafür ist es wesentlich, nicht von scheinbar gegebenen Kollektiven auf deren kulturelle Orientierungen zu schließen, sondern umgekehrt von den Wahrnehmungen, dem Wissen und den Praktiken der Subjekte auszugehen. So ausgerichtete Studien (z.B. Baumann 1996) zeigen, dass Menschen sich einerseits sehr wohl in den politischen Dimensionen der sie, etwa als Migrant/innen, subjektivierenden Zuschreibungen auskennen, und dass sie sich – wenn es notwendig ist – selbst in diesem dominanten Diskurs beschreiben und bewegen können, dass sie jedoch andererseits eigene, wesentlich differenziertere Diskurse der alltäglichen Selbstverortung in unterschiedlichen sozialen Zugehörigkeiten – z.B. in sozioökonomischen, subkulturellen Milieus, in transethnischen Jugendkulturen – entwickeln und praktizieren, die sie je nach Situation ein- und ausblenden und auch kombinieren können. Die Macht kultureller Selbst- und Fremddeutungen lässt dabei gerade die von benachteiligter, ungleicher Position aus handelnden Akteure zu Experten für einen kompetenten, taktischen Umgang mit den ihnen gesetzten Grenzen werden.
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So werden etwa auch Formen der „Selbst-Ethnisierung“ (Römhild 2014, S. 260f ) eingesetzt, um sich in den dominanten Zuschreibungen als Gruppe identitätspolitisch zu positionieren – und so Widerstand gegen die damit verbundenen Benachteiligungen mobilisieren zu können. Diese Identitätspolitik erster Ordnung ist für subalterne Minderheiten in postkolonialen Einwanderungsgesellschaften ein notwendiger Schritt kollektiver Selbstvergewisserung, bevor dann die dadurch überdeckten inneren Differenzen (des Geschlechts, der Klasse usw.) zum Gegenstand der (auch konflikthaften) Auseinandersetzung und neuer Vergemeinschaftungen und Mobilisierungen werden können, was eine diversifizierende Identitätspolitik zweiter Ordnung zur Folge hat (Hall 1994a, S. 6). Kultur ist damit sowohl diskursives Herrschaftsinstrument als auch praktisches Reservoir widerständiger Taktiken. Kultur ist der Wissens- und Handlungsraum, in dem Identitäten und Grenzen kreiert, bewegt und verändert werden. Ein Konzept von Kultur muss dieser komplexen Dimension gerecht werden: Dann ist es unverzichtbar, um die veränderliche soziale Komposition und Konstituierung von Gesellschaft zu verstehen. Literatur Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Kultur
Abu-Lughod, Leila (1996): Gegen Kultur Schreiben. In: Ilse Lenz; Andrea Germer & Brigitte Hasenjürgen (Hg.): Wechselnde Blicke: Frauenforschung in internationaler Perspektive. Opladen: Leske und Budrich, S. 14-46. – Anthias, Floya (2008): Thinking Through the Lens of Translocational Positionality: An Intersectional Frame for Understanding Identity and Belonging. In: Translocations 4 (1), S. 5-20. – Appadurai, Arjun (1996): Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis. London: University of Minnesota Press. – Baumann, Gerd (1996): Contesting Culture. Discourses of Identity in Multi-Ethnic London. Cambridge: Cambridge University Press. – Berg, Eberhard & Fuchs, Martin (Hg.) (1993): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – Bojadžijev, Manuela & Römhild, Regina (2014): Was kommt nach dem Transnational Turn? In: Labor Migration (Hg.): Vom Rand ins Zentrum: Perspektiven einer kritischen Migrationsforschung. Berliner Blätter, Nr. 65. Berlin: Panama, S. 10-24. – Brah, Avtar (1996): Cartographies of Diaspora: Contesting Identities. London: Routledge. – Conrad, Sebastian & Randeria, Shalini (2013): Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt. In: Sebastian Conrad; Shalini Randeria & Regina Römhild (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. 2. erw. Aufl. Frankfurt a.M.: Campus, S. 32-70. – Hall, Stuart (1994a): Alte und neue Identitäten, alte und neue Ethnizitäten. In: Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften, Bd. 2. Hamburg: Argument-Verlag, S. 66-88. – Hall, Stuart (1994b): Der Westen und der Rest. Diskurs und Macht. In: Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften, Bd. 2. Hamburg: Argument-Verlag, S. 137-179. – Hannerz, Ulf (1996): Transnational Connections. Culture, People, Places. London: Routledge. – Herzfeld, Michael (2001): Anthropology: Theoretical Practice in Culture and Society. Malden, MA: Blackwell. – Hörning, Karl H. (2001): Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens. Weilerswist: Velbrück. – Hörning, Karl H. & Reuter, Julia (Hg.) (2004): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld: Transcript. – Kaschuba, Wolfgang (1995): Kulturalismus: Vom Verschwinden des Sozialen im gesellschaftlichen Diskurs. In: Wolfgang Kaschuba (Hg.): Kulturen – Identitäten – Diskurse: Perspektiven europäischer Ethnologie. Berlin: Akademie Verlag, S. 11-30. – Kroeber, Alfred L. & Kluckhohn, Clyde (1952): Culture – a Critical Review of Concepts and Definitions. Papers of the Peabody Museum of American Archaeology and Ethnology, Harvard University, vol. XLVII (1). Cambridge, MA: Peabody Museum. – Römhild, Regina (2014): Diversität?! Postethnische Perspektiven für eine reflexive Migrationsforschung. In: Boris Nieswand & Heike Drotbohm (Hg.): Kultur, Gesellschaft, Migration. Die reflexive Wende in der Migrationsforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 255-270. – Vertovec, Steven (2006): The Emergence of Super-Diversity in Britain. Centre of Migration, Policy and Society, Working Paper No. 25. Oxford: University of Oxford.
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Christiane Hintermann und Barbara Herzog-Punzenberger
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2 Migration Christiane Hintermann und Barbara Herzog-Punzenberger
Migration bzw. Wanderung – im Folgenden werden die Begriffe synonym gebraucht – bezeichnet allgemein die Verlegung des Lebensmittelpunktes von Menschen. Im deutschen Sprachraum war lange Zeit nur von Auswanderung und Einwanderung die Rede; dies vermittelte den Eindruck als gebe es nur gerichtete Wanderungsbewegungen mit einem dauerhaften Ziel. Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich der aus dem englischen Sprachraum übernommene Begriff der Migration eingebürgert, unter dem nicht nur gerichtete und auf Dauer angelegte, sondern auch zirkuläre Wanderungsformen gefasst werden, Pendelmigration oder Transmigration, zeitlich unbestimmte wie zeitlich begrenzte, kollektive wie individuelle, freiwillige wie erzwungene Wanderungen aus den unterschiedlichsten Motiven und mit unterschiedlichen Zielen. Migration verweist somit auf komplexe Prozesse, die sich jeder einfachen Typologisierung und Klassifikation entziehen. Darunter wird sowohl die Altersmigration britischer Rentner/innen auf die Balearen, die saisonale Arbeitswanderung rumänischer Erntehelfer/innen nach Italien wie auch die Flucht von Menschen aus Kriegsgebieten verstanden – um nur drei Beispiele zu nennen. Migration hat Folgen für die wandernden wie gewanderten Personen und deren Familien ebenso wie für die Gesellschaften und Räume, zwischen und in denen sie sich bewegen, und damit auch für jene Menschen, die als ‚alteingesessen‘ gelten. Dies zeigt sich u.a. in den nationalen Diskursen zu Migration. Parallel zum hegemonialen Prinzip der Sesshaftigkeit im Konzept des Nationalstaats haben Auswanderung und Einwanderung im kollektiven Selbstverständnis von Gesellschaften einen durchaus unterschiedlichen Stellenwert. Dieser erschließt sich einerseits aus den historischen Fakten und andererseits aus den kollektiven Konstruktionen rund um diese Fakten, die von Vergessen und Verleugnen bis zu bewusst betonter Erinnerung(skultur) reichen. So wurde z.B. in Kanada Immigration seit den 1970er Jahren ins Zentrum des nationalen historischen Metanarratives gestellt, wohingegen die Erinnerungs- und Gedächtnispolitiken in Österreich oder auch Deutschland nach wie vor kaum Bezüge zu der jeweiligen (trans)nationalen Migrationsgeschichte aufweisen.
1 Migration: Normalität in Geschichte und Gegenwart Globalhistorisch betrachtet ist der homo sapiens – von wenigen Ausnahmen abgesehen – ein homo migrans. Nur so ist zu erklären, dass er sich im Verlauf der Zeit über alle Erdteile und Regionen dieser Welt verbreitet hat. Sowohl in der weiter zurückliegenden als auch in der unmittelbaren Vergangenheit und in der Gegenwart gehört die geographische Mobilität, d.h. die Verlagerung des Lebensmittelpunktes über lokale, regionale und nationale Grenzen hinweg zur conditio humana (vgl. Bade et al. 2010, S. 19). Formen und Strukturen der Migration sind wie jene der Sesshaftigkeit äußerst vielfältig und von den jeweiligen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen abhängig. Zum Beispiel haben Familien(-verbände) – meist aufgrund von Armut – einzelne Personen auf Wanderschaft geschickt, oder Familien und Gruppen sind zum Ausgleich kriegs- und seuchenbedingter Bevölkerungsverluste bzw. zur
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Erschließung bis dahin nicht bewohnbarer Gebiete angeworben worden (Peuplierungspolitik). Für die Anwerbung waren wirtschaftspolitische Motive entscheidend, im Mitteleuropa des 17. und 18. Jahrhundert z.B. um im eigenen Herrschaftsgebiet eine Höchstzahl an erwerbstätigen und steuerzahlenden Untertanen zu erreichen und in den städtischen Zentren (etwa Berlin) um das Innovations- und Modernisierungspotential zu steigern (Bade & Oltmer 2010, S. 144). Neben wirtschaftspolitischen Interessen haben weitere Motive sowohl für die Aufnahme wie für die (Flucht-)Migration eine Rolle gespielt, z.B. Religion resp. Konfession. Seitdem sich Migrationsprozesse und deren Folgen anhand von Aufzeichnungen rekonstruieren lassen, zeigt sich, dass Migrationen in gesellschaftlich-politischen Machtverhältnissen stattfinden und in unterschiedlichen Konstellationen zu physischer, kultureller, sprachlicher und religiöser Integration oder zu Assimilation oder Persistenz unterschiedlicher Gruppen (Exil, Diaspora) führen. Mit der Herausbildung von Nationalstaaten im 19. Jahrhundert und der damit einhergehenden Unterscheidung zwischen Mitgliedern nationaler Gemeinschaften (Staatsangehörige) und Zugewanderten (Ausländer) ist versucht worden, Migration politisch-rechtlich zu steuern und zu regeln: sowohl die Auswanderung (z.B. bestand im ehemaligen ‚Ostblock‘ ein Auswanderungsverbot) wie die Einwanderung. Mehrheitlich ging und geht es jedoch um die Kontrolle der Einwanderung. Einwanderungspolitiken orientieren sich insbesondere an den Bedürfnissen der jeweiligen nationalen Arbeitsmärkte und wechseln dementsprechend zwischen der aktiven Rekrutierung migrantischer Arbeitskräfte auf der einen und einer möglichst weitgehenden Schließung der Arbeitsmärkte auf der anderen Seite.
2 Begrifflichkeiten und Kategorisierungen Etymologisch leitet sich der Begriff Migration von migrare ab (lat. wandern, wegziehen). Nach den in der Migrationsforschung, insbesondere seit den 1950er Jahren erarbeiteten Definitionen und Vorschlägen zur Typologisierung von ‚Migration‘ wird zwischen räumlichen, zeitlichen und motivationalen Kriterien unterschieden: –– räumlich: Die Abgrenzung von Migration zum reinen Wohnortwechsel ist zwar fließend, aber Migration bedeutet, dass mit dem Wohnortwechsel weitere Veränderungen, wie etwa der Wechsel der zuständigen Verwaltung, verbunden sein müssen. Je nach zurückgelegter Distanz wird zwischen Nah- und Fernwanderung unterschieden und bei Überschreitung einer staatlichen Grenze zwischen Binnenmigration und internationaler bzw. grenzüberschreitender Migration. –– zeitlich: Zeitlich ist Migration gegen Nomadentum einerseits und Tourismus andererseits abzugrenzen. Auch hier ist der Übergang zu Migration fließend. In manchen Dokumenten wird schon der Wechsel des Lebensmittelpunkts ab einer Dauer von 3 Monaten als Migration definiert, in anderen erst ab einem Jahr. Unterschieden wird zwischen vorübergehendem Wohnortwechsel (z.B. saisonale Wanderung bei Erntehelfer/innen), ausbildungsbezogener Wanderung (Studierende, Gesellen bzw. generell Auszubildende) und dauerhaftem Wechsel des administrativen, geographischen und sozialen Bezugssystems (z.B. Ein- und Auswanderung, Rückwanderung) sowie nach Periodizität zwischen einmaliger (historisch z.B. Grand Tour) und wiederkehrender Wanderung (u.a. Pendelmigration, Jahreszeitenmigration). –– Motive und Ursachen: Die Grenze zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Wanderung ist nicht immer eindeutig zu bestimmen. Die Entscheidung zu migrieren kann beruflich motiviert sein (Arbeitssuche, bessere Arbeitsbedingungen, Karriere) oder lebensphasenbezogen (Ausbildung/Studium, Lebensgemeinschaft/Heirat, Rente). Weitere Ursachen können politische Veränderungen sein, die sowohl zu individuellen wie kollektiven Migrationsentschei-
Christiane Hintermann und Barbara Herzog-Punzenberger dungen führen: Kolonialisierung, politischer Wechsel, Kriege und Verfolgung (politisch, ethnisch, religiös begründet). Die Ausbreitung des homo migrans ist u.a. auch auf Klimaveränderungen zurückzuführen, und für die Zukunft werden Migrationsbewegungen aufgrund von Naturkatastrophen als Folge von Klimaveränderungen erwartet. Migrationsbewegungen mit gänzlichem Freiheitsentzug (z.B. Verschleppung, Versklavung) und unmittelbarer Gewaltandrohung (Deportation) werden zumeist nicht unter dem Begriff ‚Migration‘ gefasst, sondern mit Bezeichnungen, die auf die spezifische Form (Vertreibung), das Ziel (Asylsuche) oder die Ursache (Flucht) verweisen. Jede Migration ist durch räumliche, zeitliche wie motivationale Faktoren bestimmt, hinzu kommen weitere Unterschiede, die vom Status der Migrierten bzw. Migrierenden und den Möglichkeiten abhängen, die ihnen die sie auf Zeit oder Dauer aufnehmenden Staaten bzw. Gesellschaften eröffnen; vor allem der rechtliche Status ist entscheidend, denn von ihm hängt der Zugang zu Arbeit, Bildung, Wohnen weitgehend ab.
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Für die Politik, die öffentliche Diskussion wie für die Wissenschaft ist vor allem die grenzüberschreitende Migration von Interesse. Die Binnenmigration hingegen, die Verlagerung des Lebensmittelpunktes innerhalb eines politischen Territoriums, ist politisch-rechtlich hauptsächlich für die Regionalplanung und -politik relevant; öffentlich wird sie kaum thematisiert (abgesehen von spezifischen Fällen wie der Ost-West-Binnenwanderung in den 1990er Jahren). In der Migrationsforschung spielt sie ebenfalls kaum eine Rolle, wohl aber in der Geographie (räumliche Mobilität). Gegenstand der Migrationsforschung sind vor allem die Wanderungen über staatliche Grenzen hinweg und die damit verbundenen vielfältigen Konsequenzen in verschiedenen Bereichen: die substantiellen (z.B. Rechtsstatus) und materiellen (z.B. wohlfahrtsstaatliche Leistungen) und die Konsequenzen im symbolischen Bereich, z.B. Zugehörigkeitsfragen und Zuschreibungen. Mit den substantiellen und materiellen Veränderungen können sich auch symbolische Grenzen verschieben oder auflösen ebenso wie reproduziert und verfestigt werden. Veränderungen ergeben sich nicht nur, wenn Menschen Grenzen überschreiten, sondern auch wenn Grenzen verschoben (wie in Europa z.B. nach den beiden Weltkriegen) oder – wie im Fall der europäischen Integration – Grenzen abgebaut werden. In beiden Fällen hat dies Folgen für die auf den Territorien Lebenden. Im letztgenannten Fall hat dies u.a. zur Unterscheidung von Mobilität und Migration geführt: In offiziellen Dokumenten, vielfach auch in den Medien und in der öffentlichen Diskussion werden grenzüberschreitende Wanderungen von EU-Bürgerinnen und -Bürgern unter Mobilität gefasst im Unterschied zu Migration als Wanderungen von Drittstaatsangehörigen (Staatsbürger/innen von Nicht-EU-Staaten). Damit ist ein Ein-und Ausschließungsprozess verbunden: Konstruiert wird – ergänzend zum nationalen ‚Wir‘ – ein europäisches ‚Wir‘, aus dem qua definitionem Drittstaatsangehörige ausgeschlossen sind. Die erwartbare gruppenpsychologische Wirkung der begrifflichen Unterscheidung korrespondiert mit den realen Unterschieden rechtlicher Art zwischen EU-Binnenmigrant/innen und Drittstaatsangehörigen.
3 Theorien und Geschichte der Migrationsforschung Die Migrationsforschung ist ein inter- bzw. multidisziplinäres Forschungsfeld, in dem mit einer Vielfalt theoretischer Ansätze und unterschiedlichen Modellen zur Beschreibung und Analyse von Migrationsprozessen gearbeitet wird. Einigkeit besteht in der scientific community darüber, dass es nicht die eine gültige Migrationstheorie gibt (vgl. Cohen 1996), sondern eine Anzahl konkurrierender wie auch sich ergänzender Theorien und Forschungsansätze, die je nach eigener
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Forschungsfrage adaptiert bzw. erweitert werden müssen. Im Folgenden werden ausgewählte migrationstheoretische Zugänge in der zeitlichen Abfolge ihrer Entstehung kurz vorgestellt. Ernest George Ravenstein formulierte Ende des 19. Jahrhunderts auf Basis der Volkszählung von 1881 in Großbritannien die „Gesetze der Wanderung“ (The Laws of Migration). Sie gelten als Beginn der Migrationsforschung (vgl. Ravenstein 1972). Gegenstand seiner Untersuchung waren die Land-Stadt-Wanderung während der Hochphase der Industrialisierung in Großbritannien und das damit verbundene starke Wachstum der Städte. Aus den statistischen Daten leitete er sowohl eine erste Klassifikation von Migrant/innen ab sowie sieben sehr allgemein formulierte ‚Gesetze‘ in Bezug auf die Frage, wie der Arbeitskräftebedarf in den neuen, industriellen Zentren durch die Migration von Menschen gedeckt wurde, deren Arbeitskraft an anderen Orten nicht mehr gebraucht wurde. Einige seiner Erkenntnisse sind auch heute noch von Interesse, so z.B. die Bedeutung räumlicher Nähe und Distanz für Wanderungsentscheidungen, die Feststellung, dass Wanderungsbewegungen oft Schritt für Schritt verlaufen, oder dass Städte auf Kosten ländlicher Regionen wachsen, und nicht zuletzt hat er schon anhand seiner Daten zeigen können, dass – entgegen der bis heute verbreiteten Idee, dass in erster Linie Männer wandern würden – sowohl Männer wie Frauen wandern, bei Migrationen über kurze Distanzen Frauen sogar zahlreicher als Männer. Ravensteins Grundannahmen sind in verschiedene Ansätze zur Erklärung von Migrationsprozessen und -entscheidungen eingegangen, insbesondere in Distanzmodelle und in Push-Pull-Modelle. Bei ersteren wird die Distanz zwischen Herkunfts- und Zielgebieten als Erklärungsvariable für den Umfang und die Kosten-Nutzen-Rechnung von Migration herangezogen. Push-PullModelle basieren auf der Neoklassischen Theorie (vgl. Lee 1966). Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Menschen grundsätzlich bestrebt seien, ihre Lebenssituation zu verbessern. Dementsprechend würden Migrantionswillige die Lebensbedingungen am Herkunftsort mit denen in möglichen Zielgebieten vergleichen und anschließend nach rein rationalen Kriterien ihre Entscheidungen treffen. Migrationen werden in diesem Modell als Einzelentscheidungen von Personen interpretiert, die auf die divergierenden Beschäftigungsmöglichkeiten (Job-vacancyHypothese) und Lohnsituationen (Income-differentials-Hypothese) in Herkunfts- und potenziellen Zielgebieten reagieren. Zu den in jeder Region wirkenden „abstoßenden“ (push) und „anziehenden“ (pull) Faktoren kämen neben dem erwarteten Migrationsgewinn noch so genannte intervenierende Hindernisse hinzu, z.B. (große) Distanz, Einreisebestimmungen oder persönliche Gründe. Die dritte zentrale Hypothese (Informationshypothese bzw. Migrant-stock Variable) besagt, dass persönliche Beziehungen zu bereits gewanderten Personen und deren Erzählungen über die Situation im Zielgebiet entscheidend zum Wanderungsentschluss beitragen (vgl. Treibel 2011, S. 40). Seit den 1980er Jahren sind Push-Pull-Modelle aufgrund ihrer z.T. simplifizierenden Annahmen, die keiner empirischen Überprüfung standhalten, zunehmend kritisiert worden, u.a. als ahistorisch, individualistisch und hinsichtlich ihres begrenzten Erklärungs- und Prognosepotenzials (vgl. z.B. Castles & Miller 1993, Massey et al. 1993). Doch ungeachtet dieser Kritik spielen Push-Pull-Modelle im öffentlichen Diskurs und für die migrationspolitischen Entwicklungen in vielen (europäischen) Staaten weiterhin eine Rolle. Dass Migrationsentscheidungen vielfach auf Familienentscheidungen und nicht ausschließlich auf individuellen Entschlüssen beruhen, steht im Zentrum des insbesondere von dem Ökonomen Oded Stark (Stark & Bloom 1985) entwickelten Ansatzes der New Economics of Migration. Nach diesem Ansatz sind Wanderungen nicht nur ein Mittel, um Einkommen zu maximieren, sondern auch eine Strategie, um Risiken zu minimieren. Während ein Haushaltsmitglied in der lokalen Ökonomie beschäftigt ist, versuchen andere, im Ausland Arbeit zu finden. Migrationen und daraus resultierende Geldrücksendungen (Remittances) können eine Art Versiche-
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rung darstellen, sowohl für unvorhersehbare Ausfälle in der landwirtschaftlichen Produktion als auch für Arbeitslosigkeit in Regionen ohne (ausreichende) Versicherungsmöglichkeiten bzw. wohlfahrtsstaatliche Leistungen. Dazu kommt, dass die Einkommensunterschiede zwischen den Haushalten einer sozialen Gemeinschaft für die Entscheidung zu migrieren bedeutsamer sind als das absolute Einkommen der Haushalte. Stark bezeichnet dies als relative Verarmung (relative Deprivation). Makroanalytische Ansätze versuchen Ursachen und Wirkungszusammenhänge von Migrationen auf einer strukturellen bzw. aggregierten Ebene zu erklären. Nach der Theorie des dualen Arbeitsmarktes (vgl. Piore & Doeringer 1971) werden Migrationen nachfrageseitig ausgelöst, als Folge des inhärenten Bedarfs fortgeschrittener Industriegesellschaften nach mobilen Arbeitskräften, die aus unterschiedlichen Gründen bereit sind, zu ungünstigen Bedingungen zu arbeiten. Andere, sozialwissenschaftlich orientierte Theoretiker/innen arbeiten mit dem Weltsystemansatz (Wallerstein 1986) als Basis für ihre migrationstheoretischen Überlegungen. Charakteristika des Weltsystems sind u.a. die internationale Arbeitsteilung und die kontinuierliche Einbeziehung neuer Gebiete in die Weltwirtschaft mit dem Ziel, neue Absatzmärkte zu erschließen und billige Arbeitskräfte zu rekrutieren. Migrationen sind demzufolge eine logische Konsequenz jeder kapitalistischen Entwicklung und Expansion und den damit verbundenen tiefgreifenden Umstrukturierungen wie der Industrialisierung der Landwirtschaft und der (Zer-)Störung regionaler und lokaler Wirtschaftskreisläufe. Die Ausbreitung der Weltwirtschaft in die peripheren Regionen fungiert demzufolge als eine Art Katalysator für internationale Wanderungen, indem wirtschaftliche Abhängigkeitsbeziehungen und damit auch Brücken zwischen Herkunftsgebieten und Zielländern aufgebaut werden, und zugleich ein Migrationspotential geschaffen wird (vgl. Massey et al. 1993, S. 447f ). Saskia Sassen hat am Beispiel der USA nachgewiesen und gezeigt, dass die Immigration ab den 1960er Jahren vor allem aus jenen Ländern erfolgt ist, die mit den USA auf verschiedenste Weise – ökonomisch, politisch oder militärisch – verbunden sind (Sassen 1996, S. 267). Sie betont zudem die Bedeutung des historischen Kontextes bei der Erklärung von Migrationen und Migrationsrichtungen und widerspricht der in vielen Zielländern verbreiteten Auffassung, dass die Verantwortung für Wanderungsbewegungen allein oder zumindest vornehmlich bei den Herkunftsländern bzw. bei den Individuen selbst liege. Die Entwicklung von Migrationsnetzwerken und Migrationssystemen, die Herkunfts- und Zielgebiete miteinander verbinden, sind ein entscheidender Faktor für die Perpetuierung internationaler Migrationen (vgl. Massey et al. 1987; Kritz & Zlotnik 1992). Jede Migration schafft soziale Strukturen, die zu ihrer Aufrechterhaltung beitragen. Es entstehen Migrationsnetzwerke, eine Form sozialer Netzwerke, die Migrant/innen, schon Migrierte, Remigrierte wie auch NichtMigrierte in den Herkunfts- und Zielgebieten auf der Basis von Verwandtschaft, Freundschaft oder als Mitglieder einer gemeinsamen Herkunftsgemeinschaft verbinden. Netzwerkverbindungen stellen eine Art soziales Kapital (Massey et al. 1993, S. 448) dar, auf das Menschen im Falle einer Migration zurückgreifen können. Ab einer bestimmten kritischen Größe übernehmen sie eine kosten- und risikominimierende Funktion, insofern potentielle Migrantinnen und Mi granten durch sie Zugang zu genaueren migrationsrelevanten Informationen haben und ggf. mit Unterstützung im potentiellen Zielgebiet rechnen können. Einen nachhaltigen Perspektivenwechsel in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Migrationsforschung hat das Transnationalismus-Konzept (z.B. Glick-Schiller et al. 1992) bewirkt, u.a. weil deutlich wurde, dass empirische Forschungsergebnisse und beobachtbare alltägliche Phänomene nicht mehr mit traditionellen Theorien und Erklärungsmodellen in Einklang zu bringen sind (Strasser 2009), so auch die lange Zeit dominante Vorstellung von Migration als einer einma-
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ligen und endgültigen Verlagerung des Lebensmittelpunktes von A nach B. Zu beobachten ist, dass dies nur auf einen Teil der Migrantinnen und Migranten zutrifft. Viel häufiger handelt es sich um Transmigrationen. Die Migrant/innen verbinden mittels vielfältiger sozialer, durchaus auch umstrittener Praktiken Herkunfts- und Ankunftsregionen miteinander. Sie schaffen neue soziale Räume über nationalstaatliche Grenzen hinweg. Die sozialen Beziehungen zu Herkunftsgesellschaften werden aufrechterhalten, neue geknüpft, auch mehrfach grenzüberschreitende, wenn die Familienmitglieder in unterschiedlichen Ländern leben, und es bilden sich neue Zugehörigkeiten und Identifikationen aus. All dies sind Veränderungen, die nicht nur die Migrierten und Migrierenden tangieren, sondern die Gesellschaften insgesamt.
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4 Zusammenfassung Folgende drei Grundeinsichten sind für das Verständnis gegenwärtiger Migrationsgesellschaften und damit auch für die Steuerung von Bildungsprozessen und das Handeln in Bildungsinstitutionen zu beachten: Erstens ist Migration Teil der conditio humana, also Teil des Mensch-Seins und damit von Gesellschaften. Migration hat es zu allen historisch bekannten Zeitpunkten gegeben; sie ist kein neuartiges Phänomen. Als Zweites ist festzuhalten, dass die Ursachen von Migration in der Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse und wirtschaftlich-politischer Entwicklungen zu finden sind. Die Entscheidung des Einzelnen zu migrieren ist letztlich das Ende einer langen Kette von Ereignissen, Überlegungen und Entscheidungen, die ohne die Beachtung der je spezifischen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Kontexte nicht zu verstehen ist. Drittens wirkt sich Migration auf viele gesellschaftliche Bereiche aus, über lange Zeit und weite Distanzen. Migration verändert nicht nur das Leben der Migrierenden sondern auch das der ‚Ansässigen‘ nachhaltig. Literatur
Bade, Klaus J.; Emmer, Pieter C.; Lucassen, Leo & Oltmer, Jochen (2010): Die Enzyklopädie. Idee - Konzept - Realisierung. In: Klaus J. Bade; Pieter C. Emmer; Leo Lucassen & Jochen Oltmer (Hg.): Enzyklopädie. Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 3. Aufl. Paderborn: Ferdinand Schöningh & München: Wilhelm Fink, S. 19-27. – Bade, Klaus J. & Oltmer, Jochen (2010): Deutschland. In: Klaus J. Bade; Pieter C. Emmer; Leo Lucassen & Jochen Oltmer (Hg.) a.a.O., S. 141-170. – Castles, Stephen & Miller, Mark J. (1993): The age of migration: international population movements in the modern world. London: Macmillan. – Cohen, Robin (Hg.) (1996): Theories of Migration. Cheltenham: Elgar. – Glick-Schiller, Nina; Basch, Linda & Blanc-Szanton, Cristina (1992): Towards a Transnational Perspective on Migration, Race, Class, Ethnicity, and Nationalism Reconsidered. New York: New York Academy of Sciences. – Kritz; Mary M. & Zlotnik, Hania (1992): Global Interactions: Migration Systems, Processes, and Policies. In: Mary M. Kritz; Lin Lean Lim & Hania Zlotnik (Hg.): International Migration Systems: A Global Approach. London: Oxford University Press, S. 1-16. – Lee, Everett S. (1966): A Theory of Migration. In: Demography 3 (1), S. 47-57. – Massey, Douglas S.; Arango, Joaquin; Hugo, Graeme; Konaouci, Ali; Pellegrino, Adela & Taylor, Edward J. (1993): Theories of International Migration: A Review and Appraisal. In: Population and Development Review 19 (3), S. 431-466. – Piore, Michael J. & Doeringer, Peter B. (1971): Internal Labor Markets and Manpower Adjustment. New York: D.C. Heath and Company. – Ravenstein, Ernest G. (1972): Die Gesetze der Wanderung I und II. In: György Széll (Hg.): Regionale Mobilität. Elf Aufsätze. München: Nymphenburger Verlag, S. 41-94. – Sassen, Saskia (1996): Migranten, Siedler, Flüchtlinge. Von der Massenauswanderung zur Festung Europa. Frankfurt a.M.: Fischer. – Stark, Oded & Bloom, David (1985): The New Economics of Labour Migration. In: The American Economic Review 75 (2), S. 173-178. – Strasser, Sabine (2009): Transnationale Studien: Beiträge jenseits von Assimilation und „Super-Diversität“. In: Maria Six-Hohenbalken & Jelena Tošić (Hg.): Anthropologie der Migration. Theoretische Grundlagen und interdisziplinäre Aspekte. Wien: facultas.wuv, S. 70-91. – Treibel, Annette (2011): Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht. 5. Aufl. Weinheim: Juventa Verlag. – Wallerstein, Immanuel (1986): Das moderne Weltsystem. Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Syndikat/Wien: Promedia.
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3 Migrant, Migrantin Barbara Herzog-Punzenberger und Christiane Hintermann
Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge, lebten im Jahr 2013 weltweit mehr als 230 Millionen Menschen nicht in dem Land, in dem sie geboren wurden. Hinzu kommen diejenigen, die innerhalb eines Landes gewandert sind. Der Großteil der internationalen Migrant/ innen wandert zwar über Grenzen, aber innerhalb des jeweiligen Kontinents; so waren z.B. mehr als 80% der Afrikanerinnen und Afrikaner, die 2013 nicht in ihrem Geburtsland lebten, in einem anderen Staat des afrikanischen Kontinents geboren. Dasselbe gilt für drei Viertel der Vergleichsgruppe in Asien (UN 2013, S. 1-3), und auch in der Europäischen Union ist die Zahl der aus einem jeweils anderen EU-Land Zugewanderten viermal so hoch wie die Zahl der aus Nicht-EU-Ländern Zugewanderten (OECD 2013, S. 11).
1 Definitionen und rechtliche Einbettung Migrant bzw. Migrantin ist ein Sammelbegriff, der zunächst einmal nur alle diejenigen bezeichnet, die ihren Lebensmittelpunkt innerhalb eines Landes oder grenzüberschreitend verlegen, sei es auf Dauer oder auf eine begrenzte Zeit. Um nationale Daten vergleichbar zu machen, haben internationale Organisationen (OECD, UNO oder EUROSTAT) Vorschläge gemacht, wer als Migrant bzw. Migrantin gelten soll. Der Vorschlag der UN von 1998 hat Eingang in die Wissenschaft gefunden: Unterschieden wird zwischen long-term migrants, die ihren Hauptwohnsitz mindestens für zwölf Monate und short-term migrants, die ihren üblichen Aufenthaltsort für mindestens drei Monate, aber maximal für ein Jahr in ein anderes Land verlegen (UN 1998, S. 18). Diese Unterscheidung bezieht sich nur auf die ursprünglich mit der Migration verbundene Absicht, denn aus einer short-term migration kann aufgrund unterschiedlicher Faktoren eine longterm migration werden und umgekehrt oder eine der anderen Migrationsformen. Wenn Ersteres der Fall ist, besteht die Gefahr der Illegalisierung, da die Möglichkeit, als Ausländer/in Rechtstitel während des Aufenthalts umzuwandeln, in vielen Ländern stark beschränkt ist. Im deutschsprachigen Raum wurde in der amtlichen Statistik lange Zeit nur das Differenzkriterium der Staatsbürgerschaft genutzt, um Zu- und Abwanderungen (statistisch) zu dokumentieren. Die Unterscheidung zwischen Inländer/innen und Ausländer/innen nutzte die reale wie auch symbolische Bedeutung der Staatsbürgerschaft, um die Grenze zwischen einem nationalen Wir und den zugewanderten Anderen (Fremden) zu ziehen. Diese jahrzehntelang gebräuchliche Terminologie wurde im politischen Raum wie umgangssprachlich nach und nach durch Begrifflichkeiten aus der Migrationsforschung ersetzt, u.a. durch ‚Migrant‘ und durch ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ seit der Einführung dieser statistischen Kategorie. Dieser begriffliche Wandel trägt der Tatsache Rechnung, dass sich der Rechtsstatus bestimmter zugewanderter Personen verändert hat und es eine Reihe relevanter Zwischenstufen gibt, die sich aus den Regelungen des jeweiligen Aufnahme- als auch des Herkunftslandes ergeben. EU-Bürger/innen z.B. sind den Staatsangehörigen in einem anderen EU-Land rechtlich weitgehend gleichgestellt,
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ähnlich den landed immigrants in Kanada oder Australien oder langansässigen Ausländerinnen und Ausländern z.B. in Schweden nach dem Modell der Wohnbürgerschaft (denizenship) (vgl. Hammar 1990). Arbeitsmigrant/innen mit befristeter Aufenthaltserlaubnis hingegen haben nur wenige Rechte, und besonders prekär ist die Situation undokumentierter Migrant/innen, die von Abschiebung bedroht sind, es sei denn dass im Aufenthaltsland die Möglichkeit der Amnestieregelung vorgesehen ist.
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2 Generationale Begrifflichkeit Erwachsene, die ihr Geburtsland verlassen, um in ein anderes Land einzuwandern, werden in der soziologischen Migrationsforschung vielfach als Migrant/innen der ersten Generation bezeichnet, ihre bereits geborenen Kinder, die mit ihnen einwandern, oftmals als 1,5 Generation, vor allem wenn sie zum Zeitpunkt der Einwanderung schon im Schulalter sind. Für die im Einwanderungsland geborenen Kinder hat sich der Begriff der zweiten Generation durchgesetzt. Mit den internationalen Schulleistungsstudien wurde in den 2000er Jahren ein neuer Begriff, der Begriff der Schüler/innen mit Migrationshintergrund, eingeführt, der seit 2005 auch für die amtliche Statistik in Deutschland genutzt wird. Allerdings gibt es erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit ein Migrationshintergrund vorliegt. Nach der mit den Schulleistungsstudien zunächst eingeführten Definition z.B. liegt nur dann ein Migrationshintergrund vor, wenn beide Eltern im Ausland geboren sind, und im Unterschied zur soziologischen Tradition werden nicht die zugewanderten Eltern der Schüler/innen als erste Generation bezeichnet, sondern die im Ausland geborenen Schüler/innen (vgl. Nusche 2009). In wenigen Ländern, darunter Deutschland, wird in Bildungsstudien eine dritte Generation einbezogen: die Enkel der Eingewanderten (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006). Das erst seit Mitte der 2000er Jahre im deutschen Sprachraum auch amtlich gebräuchliche Konstrukt „Person mit Migrationshintergrund“ soll die familiale Migrationserfahrung und damit zusammenhängende Phänomene unabhängig von Staatsbürgerschaft oder Geburtsort erfassen; je nach Kontext wird hierfür die erste und zweite oder auch noch die dritte Generation berücksichtigt. In der schulbezogenen Statistik zum Zweck der Ressourcenzuteilung wird die Kategorie ‚Sprache‘ in den Vordergrund gestellt: Dementsprechend wird von Schüler/innen mit einer anderen Erstsprache (früher: ‚Muttersprache‘), mit Deutsch als Zweitsprache oder auch nichtdeutscher Herkunftssprache bzw. neuerdings auch von mehrsprachigen Schüler/innen gesprochen. Die Frage nach der Generation spielt keine Rolle mehr. Die Definitionsunterschiede und die damit verbundenen Folgen für die Ressourcenzuteilung variieren nicht nur zwischen den Staaten, z.B. Österreich und Deutschland, sondern in Deutschland auch zwischen den Bundesländern. Nach Definition der Kultusministerkonferenz reicht für den Nachweis des Migrationshintergrunds im Schulbereich entweder eine nichtdeutsche Staatsangehörigkeit oder ein nichtdeutsches Geburtsland oder die Angabe, dass zu Hause nicht vorwiegend Deutsch gesprochen wird (KMK 2015, S. 30f ). Einige Bundesländer haben landesspezifische Erhebungskonzepte entwickelt, z.B. hat man sich in Nordrhein-Westfalen (NRW) stärker an der Definition der PISA-Studie orientiert. In der österreichischen Schulstatistik wird die Kategorisierung fallweise nur für eine bestimmte Anzahl von Jahren angewandt; das Kriterium „Deutsch als Zweitsprache“ generiert nur bis zum sechsten Jahr des Besuchs einer österreichischen Schule zusätzliche Lehrerstunden (BMBF/Österreich 2014).
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3 Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge Unter dem Oberbegriff Migrant/in werden sowohl Personen gefasst, die freiwillig ihr Land verlassen haben als auch diejenigen, die sich dazu gezwungen sehen, in einem anderen Land Schutz zu suchen. Für die Anerkennung als Flüchtling gilt nach wie vor die Definition der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK). Demnach ist ein Flüchtling eine Person, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als Staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will“ (UNHCR 1951/1967, Art. 1, Abs. 2, S. 2). Aus heutiger Sicht ist die alleinige Bezugnahme auf die GFK zur Verleihung des Flüchtlingsstatus jedoch problematisch, da der Großteil der Flüchtlinge weltweit aus Gründen flieht, die von der Konvention bzw. der darauf bezogenen Rechtsprechung in Deutschland nicht explizit abgedeckt werden: z.B. Bürgerkriege, ökologische Probleme und Hungerkatastrophen, geschlechtsspezifische Fluchtursachen wie systematische Vergewaltigungen von Frauen oder die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung. Daher ist eine Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs bzw. eine Veränderung der historischen Kategorisierungen notwendig, auch hinsichtlich der weiterhin gängigen Unterscheidung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Migration. Denn Fluchtbewegungen entstehen nicht zufällig, quasi schicksalshaft, sondern sie sind Folge von politischökonomischen Konstellationen und in diesem Sinne ‚produziert‘. Zu bedenken ist außerdem, dass Flüchtlinge keineswegs nur „Getriebene ohne eigene Entscheidungsmöglichkeiten“ sind, sondern (auch) selbstbestimmte Akteur/innen (Treibel 2011, S. 168).
4 Akteursperspektive Gerade die Akteursperspektive wird oftmals ausgeblendet, insbesondere wenn Migration und die Aufnahme der Migrant/innen politisch nicht differenziert gestaltet wird. Ungeachtet der individuellen Strategien und Entscheidungen der Zugewanderten sind im deutschen Sprachraum (etwa im Vergleich zu den Niederlanden) lange Zeit die verschiedenen Formen der migrantischen Selbstorganisation von der Politik wie auch von der Wissenschaft kaum wahrgenommen und unterstützt worden (Initiativen folkloristischer, ethnischer, ideologischer, religiöser oder gesellschaftskritischer Art), stattdessen dominierte das Bild des bzw. der ‚betreuungsbedürftigen Migrant/in‘. Dies hat sich in Deutschland erst in den 1990er Jahren und in Österreich in den 2000er Jahren zu ändern begonnen.
5 Notwendigkeit und Gefahren von Kategorisierungen Um für politisches Handeln in den verschiedenen Feldern relevante statistische Aussagen über bestimmte Bevölkerungsgruppen treffen zu können, sind Kategorisierungen notwendig. Es ist aber zugleich zu vermitteln, dass sie niemals die reale Vielfalt in den so erfassten Bevölkerungsgruppen abbilden, und dass sie den Blick weg von der Individualität der Personen und der Einzigartigkeit jeder Situation lenken. Dennoch sind sie nötig, um auf dieser Basis bildungs- oder sozialpolitische Maßnahmen, etwa zur verstärkten Förderung und Unterstützung bestimmter Gruppen, treffen zu können. Der Widerspruch zwischen der Notwendigkeit, Kategorien bilden
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Migrant, Migrantin
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zu müssen, um den Blick auf spezifische Zusammenhänge zu richten, sie systematisch erforschen und politisch darauf reagieren zu können, und der Instrumentalisierbarkeit von Begriffen und der mit Benennungen einhergehenden Gefahr der Vereinheitlichung und Festschreibung von Personen und Prozessen lässt sich nicht aufheben, wohl aber analysieren und sowohl de- wie re-konstruieren (Nieswand 2014, S. 277). Dieses Dilemma muss in der Auseinandersetzung mit Migration stets bewusst gemacht werden. Besondere Bedeutung erlangt der dekonstruktivistische Blick nicht nur in der pädagogischen Praxis, sondern auch im Kontext empirischer Forschung, um der Gefahr zu entgehen, kritiklos die Erklärungskraft solcher Kategorien vorauszusetzen, anstatt sie immer wieder zu überprüfen. Abschließend kann festgehalten werden: Der Begriff ‚Migrantin/Migrant‘ wird weitgehend als neutral angesehen, aber auch mit ihm sind, wie mit jedem Begriff, Aus- und Eingrenzungsprozesse verbunden. Daher ist eine Auseinandersetzung mit diesem und weiteren Begriffen zur Unterscheidung verschiedener Migrantengruppen, wie sie in der Migrationsforschung – und damit auch in der Interkulturellen Pädagogik – seit den 1970er Jahren geführt wird, notwendig. Denn nur auf diese Weise können wissenschaftliche Fragestellungen in Kenntnis der je nach Kontext und Datenproduzenten unterschiedlichen Definitionen präzise bearbeitet werden. Dies gilt insbesondere für die hier diskutierten Begriffe: für den zu Datenerhebungszwecken eingeführten Begriff ‚Personen mit Migrationshintergrund‘ und für den politisch-historischen Begriff ‚Flüchtling‘ wie für den seit 2015 als passender diskutierten Begriff ‚Geflüchtete/r‘. Literatur
BMBF/Österreich (2014): Österreichisches Bundesministerium für Bildung und Frauen: Informationsblätter des Referats für Migration und Schule Nr. 1/2014-15. Gesetzliche Grundlagen schulischer Maßnahmen für SchülerInnen mit anderen Erstsprachen als Deutsch. Gesetze und Verordnungen. Wien. Online verfügbar unter http://www. schulemehrsprachig.at/fileadmin/schule_mehrsprachig/redaktion/Hintergrundinfo/info1-14-15.pdf [19.03.2016]. – Hammar, Tomas (1990): Democracy and the Nation-State. Aliens, Denizens and Citizens in a World of International Migration. Aldershot: Avebury. – KMK (2015): Definitionenkatalog zur Schulstatistik 2015. Online verfügbar unter https://www.kmk.org/dokumentation-und-statistik/statistik/schulstatistik/definitionenkatalog.html [08.05.2016]. – Konsortium Bildungsberichterstattung (2006): Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld: Bertelsmann. – Nieswand, Boris (2014): Über die Banalität ethnischer Differenzierungen. In: Boris Nieswand & Heike Drotbohm (Hg.): Kultur, Gesellschaft, Migration. Die reflexive Wende in der Migrationsforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 271-296. – Nusche, Deborah (2009): What Works in Migrant Education? A Review of Evidence and Policy Options. OECD Education Working Papers, No. 22. Paris: OECD Publishing. – OECD (2013): Organisation for Economic Co-operation and Development: International Migration Outlook. Paris: OECD Publishing. – Treibel, Annette (2011): Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht. Weinheim: Juventa. – UN (1998): United Nations. Recommendations of Statistics of International Migration. Revision 1. Statistical Papers. Series M, No. 58, New York: United Nations Publication. Online verfügbar unter http://unstats.un.org/unsd/publication/SeriesM/ seriesm_58rev1e.pdf [19.03.2016]. – UN (2013): United Nations. International Migration Report 2013. New York: United Nations Publication. Online verfügbar unter http://www.un.org/en/development/desa/population/publications/pdf/migration/migrationreport2013/Full_Document_final.pdf [19.03.2016]. – UNHCR (1951/1967): United Nations High Commissioner for Refugees: Genfer Flüchtlingskonvention und New Yorker Protokoll (laut BGBl in Deutschland). Online verfügbar unter http://www.unhcr.de/fileadmin/rechtsinfos/fluechtlingsrecht/1_international/1_1_voelkerrecht/1_1_1/FR_int_vr_GFK-GFKundProt_GFR.pdf [03.03.2016]
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4 Ethnizität Wolfram Stender
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1 Begriffsgeschichte „Ethnizität“ ist ein aus dem altgriechischen Wort éthnos (Volk, Volksstamm) gebildeter Neologismus, der zuerst in der amerikanischen Soziologie verwendet wurde. Als sicher gilt, dass der Begriff in den ersten beiden Bänden der „Yankee City Series“, „The Social Life of a Modern Community“ (1941) und „The Status System of a Modern Community“ (1942), verfasst von W. Lloyd Warner und Paul S. Lunt, zur Analyse der Immigrationsrealität in US-amerikanischen Großstädten eingeführt wurde (Sollors 1996, S. 13f.). Trotz seiner noch jungen Geschichte hat der Begriff bereits einen bemerkenswerten Form- und Funktionswandel durchlaufen. War die Einführung von Ethnizität als soziologischer Begriff noch als Kritik an den vorherrschenden Rasse-Ideologien zu verstehen, wandelte sich der Ethnizitätsdiskurs in den USA seit den 1960er Jahren in ein konservativ-rückwärtsgewandtes Verteidigungsinstrument der White Ethnics gegen die rassismuskritischen Forderungen der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Seit den 1980er Jahren hat sich der Begriff in beiden Varianten – als modernisierte Version völkischer Differenzkonstruktion und als kritische Reflexionsform sozialer Ungleichheitsstrukturen in modernen Migrationsgesellschaften – auch in Deutschland etabliert.
2 Richtungen der Ethnizitätsforschung Systematisch können drei Richtungen der Ethnizitätsforschung unterschieden werden: eine rassismusaffine, eine rassismusblinde und eine rassismuskritische. 2.1 Rassismusaffine Ethnizitätsforschung Theorien, die Ethnizität als vorgesellschaftliche Tatsache begreifen, weisen ihrer logischen Struktur nach eine große Nähe zu biologischen Rassekonstruktionen auf. In ihnen wird Ethnizität als Gegenprinzip zu Modernität etabliert. Als Basisprämissen dieses Ethnizitätsverständnisses, das auch als Primordialismus bezeichnet wird, nennen Eller und Coughlan (1993) Apriorität, Ineffabilität und Affektivität. Ethnizität wird als uranfängliche Herkunft, als vor jeder Erfahrung liegender Ursprung eines Volkes vorgestellt (Apriorität), der sich in ebenso zwingenden wie unaussprechlichen Gefühlsbindungen zwischen den Volksmitgliedern äußert (Ineffabilität und Affektivität). Im soziobiologischen Primordialismus wird von einer genetisch-reproduktiven Basis von Ethnien ausgegangen und Ethnizität in Erweiterung des biologischen Verwandtschaftsprinzips als gemeinsame Abstammung begriffen (Van den Berghe 1987, S. 24). Obwohl primordialistische Konzepte in der aktuellen Ethnizitätsforschung kaum noch zu finden sind, erfreuen sie sich im vorwissenschaftlichen Raum, insbesondere in rechtspopulistischen Bewegungen, nach wie vor großer Beliebtheit.
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2.2 Rassismusblinde Ethnizitätsforschung Konträr zum Primordialismus konstruiert die zweite Richtung der Ethnizitätsforschung nicht einen Gegensatz, sondern eine Koinzidenz von Ethnizität und Modernität. Ethnizität wird als ein spezifisch modernes Phänomen begriffen. Zwei Positionen sind hierbei zu unterscheiden. Exemplarisch für die erste ist die Theorie der symbolischen Ethnizität des amerikanischen Soziologen Herbert J. Gans (1979/1995). Gans interpretiert das von ihm beobachtete ethnische Paradox – die Konjunktur ethnischer Identifikationen bei gleichzeitiger Erosion herkunftsbezogener Organisationen – als eine Etappe im unaufhaltsamen Prozess der Assimilation der Einwanderer/ innen. Während sich herkunftsbezogene Loyalitäten und Solidaritäten sukzessive auflösen, gewinnt Ethnizität immer mehr eine expressive Funktion. Sie wird zu einem Ausdrucksmittel für posttraditionale Individualitäten. In nostalgischer und verklärender Weise beziehen sich moderne Individuen auf reale oder imaginierte kulturelle Eigenarten ihrer Vorfahren bzw. Herkunftsländer. Diese voluntative, künstliche und von den subjektiven Bedürfnissen und Interessen moderner Individuen bestimmte Form nennt Gans „symbolische Ethnizität“, Talcott Parsons „style of life distinctiveness“ und Mary C. Waters „ethnische Identität als Option“. Für die zweite Position steht die These von der New Ethnicity von Nathan Glazer und Daniel P. Moynihan (1975). Auch sie betonen die Angleichung der kulturellen Lebensformen im Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung, beobachten aber zugleich die Herausbildung neuer sozialer Ungleichheitsstrukturen. Ethnizität begreifen sie als eine neuartige Form der sozialen Gruppenbildung, die im Zusammenhang der gesellschaftlichen Globalisierung und der mit ihr einhergehenden globalen Migrationsbewegungen verstanden werden muss. Entsprechend den herkunftsbezogenen Hierarchiestrukturen in modernen Migrationsgesellschaften bilden sich Gruppen heraus, die durch eine spezifische Verknüpfung von gegenwartsbezogenen Interessen und vergangenheitsbezogenen Gefühlen – ökonomischen und politischen Interessen, gemeinsamen historischen Erfahrungen und emotionalen Bindungen – gekennzeichnet sind. Mit dieser Annahme etablieren Glazer und Moynihan eine kontextuell begründete Forschungsperspektive, die sich sowohl von assimilationstheoretischen Modellen als auch vom primordialistisch begründeten ethnic pluralism bzw. Multikulturalismus unterscheidet und programmatisch auf eine Theorie der modernen Weltgesellschaft verweist. So instruktiv die These von der historischen Neuheit des Phänomens und seiner Relevanz als strategischer Mobilisierungsressource auch ist, so kennzeichnet alle modernisierungstheoretischen Konzepte eine mehr oder weniger ausgeprägte Ignoranz gegenüber der exkludierenden Funktion von Ethnizitätskonstruktionen. Die harmlose Beliebigkeit ethnischer Identität als moderner Life Style und frei gewähltes Zugehörigkeitsmerkmal mag auf die erfolgreich integrierten Nachkommen europäischer Einwanderer/innen in den USA zutreffen, jedoch haben Native und Black Americans diese Wahlmöglichkeit nie gehabt. Für sie wie für andere visible minorities ist Ethnizität keine Option, sondern untrennbar mit Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen verknüpft (Waters 2010). 2.3 Rassismuskritische Ethnizitätsforschung Es ist ein fundamentaler Unterschied, ob Ethnizität als Voraussetzung oder als Resultat von gesellschaftlichen Prozessen begriffen wird. Wird Ethnizität als vorgesellschaftliche Substanz gesetzt – wie dies bei soziobiologischen Theorien der Fall ist –, kommt es, analog zum wissenschaftlichen Rassismus, zum Ethnizismus. Alle kritischen Konzepte hingegen betonen die Prozesshaftigkeit des Phänomens.
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Auf der Grundlage des ethnic boundary approach, in dem der Prozess ethnischer Gruppenbildungen auf situational definierte Grenzziehungen bezogen wird (Barth 1969), werden Ethnisierungsprozesse zum Gegenstand einer gesellschaftskritisch und dekonstruktiv ausgerichteten Ethnizitätsforschung. In ihr werden sowohl die stigmatisierenden Effekte von Ethnizitätskonstruktionen als auch – vergleichbar und z. T. auch intersektional verknüpft mit der Gender- und Klassenforschung – deren sozialstrukturelle Auswirkungen zum Thema empirischer Untersuchungen (vgl. Klinger et al. 2007; Jonuz 2009; Müller & Zifonun 2010). Ethnizität wird als soziale Strukturkategorie begriffen, Ethnisierung als Prozess der Herstellung sozialer Ungleichheit, der durch kategoriale Zuschreibungen in Gang gesetzt wird. Die von außen vorgenommenen ethnischen Klassifizierungen zwingen die Klassifizierten zu Reaktionen, die die Form der Selbstethnisierung annehmen können. Entsprechend begreift Joane Nagel (1994) ethnische Identitätsbildung als „dialektischen Prozess“ der Fremd- und Selbstethnisierung, der sich in und zwischen sozialen Gruppen abspielt, dabei durch den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang wie auch durch soziale, ökonomische und politische Teilprozesse mitbestimmt wird. Auch in der deutschsprachigen Literatur konzentriert sich die kritische Ethnizitätsforschung auf Prozesse der Ethnisierung. So begreift Wolf-Dietrich Bukow Ethnizität als Ausgrenzungspraxis. Diese hat eine klar bestimmbare Logik. Zunächst wird ein statistisches Merkmal der Unterscheidung gefunden, z.B. die Staatsangehörigkeit. Die dadurch gewonnenen Einheiten werden in eine Machtrelation gebracht: die Einheimischen als dominante, die Einwanderer/ innen als Außenseitergruppe. Dann erfolgt die Ausstattung der Gruppen mit weiterreichenden Eigenschaften: die dominante Gruppe wertet sich auf, die diskriminierte Gruppe wird über korrespondierende Zuschreibungen abgewertet. Indem der diskriminierten Gruppe das Prädikat „fremd“ verliehen wird, attestiert sich die dominante Gruppe einen homogenen und qualitativ hochwertigen Habitus. Schließlich beginnt die konstruierte ethnische Differenz die gesamte Gestaltung des sozialen Alltags zu organisieren – bis hin zum Ausbruch „ethnischer Konflikte“, die unteilbar und damit unlösbar erscheinen (Bukow 1996). Die Unlösbarkeit dieser Konflikte verweist auf den inneren Primordialismus ethnisierter Kollektive. Diese funktionieren nach dem Prinzip der imaginierten Blutsverwandtschaft. Sie werden, wie schon Max Weber beobachtet, durch den „subjektive(n) Glauben an eine Abstammungsgemeinsamkeit“ (Weber 1922, S. 237) zusammengehalten. Der Verwandtschaftsglaube avanciert im Prozess der Ethnisierung zum basalen Regulativ des Kollektivs. Die Destruktivität des ethnischen Prinzips, das Georges Devereux (1970) als Prinzip des „Alles oder Nichts“ charakterisiert, erschließt sich aus der Perspektive der analytischen Sozialpsychologie, die die Affektbasis ethnisierter Kollektive in den Fokus rückt. Sie begreift Ethnisierung als einen spezifisch modernen, säkularisierten Typus regressiver Massenbildung. Je stärker die Regression im Massenmedium der Ethnizität, umso größer der Konformitätszwang nach innen und die Aggressivität nach außen und umso unerbittlicher die imaginierten ethnischen Konflikte (Stender 2000).
3 Ethnizität in der Interkulturellen Pädagogik Interkulturelle Pädagogik gerät immer dann in die Ethnisierungsfalle, wenn sie die Erkenntnisse der rassismuskritischen Forschung ignoriert und Ethnizität volkstümelnd als vorgesellschaftliche Größe missversteht. Ebenso wenig aber wie rassifizierte Konflikte Konflikte zwischen „Rassen“ sind, sind ethnisierte Konflikte Konflikte zwischen ethnischen Gruppen (Brubaker 2007, S. 16ff). Zu fragen ist vielmehr, warum und wie gesellschaftliche Konflikte in ethnischen Kategorien interpretiert werden. Aus der Perspektive kritischer Gesellschaftstheorie lässt sich die weltweit zu beobachtende Tendenz der Ethnisierung gesellschaftlicher Verhältnisse als Symptom
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missglückter Globalisierung deuten. Sollte dies zutreffen, dann wäre undoing ethnicity, also die Ent-Ethnisierung sozialen Handelns eine der wichtigsten Maximen einer (selbst-)reflexiven Interkulturellen Pädagogik.
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Literatur
Barth, Fredrik (1969): Introduction. In: Fredrik Barth (Hg.): Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference. London: Allen & Unwin, S. 1-38. – Brubaker, Rogers (2007): Ethnizität ohne Gruppen. Hamburg: Hamburger Edition. – Bukow, Wolf-Dietrich (1996): Feindbild: Minderheit. Ethnisierung und ihre Ziele. Opladen: Leske und Budrich. – Devereux, Georges (1970): Die ethnische Identität. Ihre logischen Grundlagen und ihre Dysfunktionen. In: Georges Devereux (Hg.): Ethnopsychoanalyse. Die komplementaristische Methode in den Wissenschaften vom Menschen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 131-169. – Eller, Jack; Coughlan, Reed (1993): The Poverty of Primordialism. The Demystification of Ethnic Attachments. In: Ethnic and Racial Studies 16 (2), S. 187-201. – Gans, Herbert J. (1979/1995): Symbolic Ethnicity: The Future of Ethnic Groups and Cultures in America. In: Werner Sollors (Hg.): Theories of Ethnicity. A Classical Reader. London, New York: New York Univ. Press 1996, S. 425-459. – Glazer, Nathan & Moynihan, Daniel P. (Hg.) (1975): Ethnicity. Theory and Experience. Cambridge, Massachusetts: Harvard Univ. Press. – Jonuz, Elizabeta (2009): Stigma Ethnizität. Wie zugewanderte Romafamilien der Ethnisierungsfalle begegnen. Opladen: Budrich. – Klinger, Cornelia; Knapp, Gudrun-A. & Sauer, Birgit (Hg.) (2007): Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Frankfurt a.M.: Campus. – Müller, Marion & Zifonun, Dariuš (Hg.) (2010): Ethnowissen. Soziologische Beiträge zu ethnischer Differenzierung und Migration. Wiesbaden: VS. – Nagel, Joane (1994): Constructing Ethnicity: Creating and Recreating Ethnic Identity and Culture. In: Social Problems 41 (1), S. 152-176. – Sollors, Werner (1996): Theories of Ethnicity. A Classical Reader. London: New York Univ. Press, X-XLIV. – Stender, Wolfram (2000): Ethnische Erweckungen. Zum Funktionswandel von Ethnizität in modernen Gesellschaften – ein Literaturbericht. In: Mittelweg 36. 9 (4), S. 65-82. – Van den Berghe, Pierre (1987): The Ethnic Phenomenon (zuerst 1981). New York: Greenwood Press. – Waters, Mary C. (2010): Ethnizität als Option: Nur für Weiße? In: Marion Müller & Dariuš Zifonun (Hg.), a.a.O., S. 197-215. – Weber, Max (1922): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5. Aufl., 1980. Tübingen: Mohr.
5 Minderheiten Friedrich Heckmann
Theorien können Sachverhalte und Prozesse erklären, Begriffe können das nicht. Begriffe sind aber konzeptuelle Bausteine für Theorien und insofern auch für Theorien und Erklärungen von Bedeutung. Man kann die inhaltliche Bedeutung von Begriffen festlegen, oder aber vorhandene Bedeutungen rekonstruieren. In diesem Artikel wird letzteres unternommen. Diskutiert werden folgende unterschiedliche Bedeutungen des Minderheitenbegriffs: • Minderheiten als benachteiligte Gruppen • Minderheiten als Machteliten • nationale und regionale Minderheiten • ethnische Minderheiten im Einwanderungsprozess • religiöse Minderheiten • kolonisierte Minderheiten.
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Friedrich Heckmann
Einige dieser Bedeutungen sind stark mit konkreten historisch sozialstrukturellen Konstellationen verknüpft, während dies bei anderen nicht oder nur in schwacher Form der Fall ist. Nationale und regionale Minderheiten z.B. entstehen im Kontext der Bildung moderner Nationalstaaten. Ethnische Minderheiten im Einwanderungsprozess entstehen als Folge moderner Migrationen und kolonisierte Minderheiten sind das Resultat kolonialer Herrschaftsüberformung. Nicht eingegangen wird im Folgenden auf Verhaltensminderheiten, d.h. auf Gruppen, die herrschende(n) Normen nicht oder nur z.T. einhalten bzw. entsprechen. Menschen, die zu Verhaltensminderheiten resp. Randgruppen zählen, können ebenso Angehörige der Mehrheitsgesellschaft wie auch Angehörige einer der im Folgenden kurz skizzierten anderen Minderheiten sein.
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1 Minderheiten als benachteiligte Gruppen Dieser Minderheitenbegriff, der nicht notwendigerweise von kleinen Zahlen ausgeht, setzt an der ungleichen Verteilung gesellschaftlicher Güter und Ressourcen an und fasst Gruppen zusammen, die in Bezug auf die Verteilung dieser gesellschaftlich wertvollen, materiellen wie immateriellen Ressourcen und Güter stark benachteiligt sind: z.B. Menschen aus sozial schwachen Milieus, Menschen mit Beeinträchtigung/Behinderung, rassistisch Diskriminierte oder Flüchtlinge. Auch die gesellschaftliche Lage von Frauen wird in diesem Sinne nicht selten als Minderheitenlage interpretiert.
2 Minderheiten als herrschende Machteliten Aber auch Privilegierte können als Minderheit begriffen werden. In diesem Fall bezieht sich der Minderheitenbegriff auf eine kleine, aber herrschende Gruppe, die über bedeutende Ressourcen und damit auch über Macht verfügt und so die Mehrheit der Bevölkerung beherrscht. Gegenüber dem Verständnis von Demokratie als Mehrheitsherrschaft thematisiert dieser Minderheitenbegriff die Illegitimität einer Herrschaft; Beispiele hierfür sind das Apartheidsystem, die Herrschaft einer weißen Minderheit über eine schwarze Mehrheit, oder die Nomenklatura von Parteifunktionär/innen gegenüber der Mehrheit einer unterdrückten Bevölkerung.
3 Nationale und regionale Minderheiten Der Entstehung nationaler Minderheiten liegen Prozesse zugrunde, die im Zuge des Wandels vom Territorialstaat zum Nationalstaat oder auch bei Grenzverschiebungen zu beobachten sind. Der Territorialstaat war tendenziell gleichgültig gegenüber der ethnischen Zugehörigkeit seiner Bevölkerung, während der Nationalstaat die Übereinstimmung von ethnischer Zugehörigkeit und staatlicher Organisation anstrebt(e). Nationale Minderheiten sind sozialstrukturell heterogene Bevölkerungsgruppen, die in Folge der Konstitution von Nationalstaaten aufgrund historischer Siedlungsstrukturen oder politisch erzwungener Staatsgebietsveränderungen innerhalb eines in Bezug auf ihre ethnische Identität, ihre Lebensweise und Geschichte fremden Staatsgebiets leben. Das Völkerrecht spricht ihnen spezifische Autonomierechte zu, die jedoch nicht immer gewährt werden. Mit der Begründung und Festigung von Nationalstaaten sind kulturelle Vereinheitlichungs- und ethnische Akkulturations- bzw. Assimilierungsprozesse verbunden, die ethnisch zuvor eigenständige Bevölkerungen in Nationen „aufgehen“ lassen. Diese Prozesse werden z.T. mit Zwang durchgesetzt, sie werden eingeleitet bzw. vorangetrieben durch öffentliche Bildung und Verwaltungshandeln und sind Resultat von allgemeinen Modernisierungsprozessen in Wirtschaft,
Minderheiten
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Kommunikation und Verkehr. Regionale Minderheiten sind Bevölkerungsgruppen, die aus unterschiedlichen Gründen den Vereinheitlichungs- und Assimilierungsprozessen gegenüber ihre ethnische Identität bewahren oder als ethnische und politische Bewegung verschüttete ethnische Traditionen, Kultur und Sprache wieder entdecken und wieder beleben wollen. In Deutschland sind die Sorben ein Beispiel für eine regionale Minderheit; Katalanen, Basken, Waliser, Schotten, Okzitanier oder Rätoromanen sind weitere Beispiele in anderen europäischen Ländern, die an vornationalstaatlicher ethnischer und sprachlicher Identität anknüpfen.
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4 Ethnische Minderheiten im Einwanderungsprozess Der Begriff der nationalen Minderheit ist mit der Entstehung und Existenz von Nationalstaaten verbunden. In universeller und allgemeiner Betrachtungsweise, die über den Nationalstaat hinausgeht, sind nationale Minderheiten eine Form ethnischer Minderheiten. Das sozialstrukturelle Merkmal der Ethnizität wird konstituiert durch Vorstellungen von einer gemeinsamen Herkunft, kulturellen und historischen Gemeinsamkeiten, Solidarerwartungen und von Vorstellungen von einer gemeinsamen Zukunft. In gegenwärtigen Gesellschaften entstehen ethnische Minderheiten immer wieder im Zusammenhang von Einwanderungsprozessen. Im Kontext von Migrationsprozessen in modernen Gesellschaften (etwa Arbeitsmigration oder Asyl) knüpfen Neuzugewanderte ihre ersten Kontakte in der neuen Gesellschaft häufig mit Personen und Organisationen, die aus dem gemeinsamen Herkunftskontext stammen. Auf diese Weise können sich ethnische Kolonien bilden, die mit ihren verschiedenen sozialen, ökonomischen, kulturellen und religiösen Strukturen Dienstleistungen und soziales Kapital bieten, die die Integration in der ersten Phase des Integrationsprozesses erleichtern. Migrant/innen, die sich primär auf herkunftsbezogene Strukturen beziehen und sich in diesen bewegen, lassen sich als ethnische Minderheiten im Einwanderungsprozess oder Einwandererminderheiten bezeichnen. Differenziert nach der Dauer des Aufenthalts und nach Generationen entwickeln jedoch Migrant/innen bei Offenheit der Mehrheitsgesellschaft die Tendenz, sich stärker in die Institutionen und Bezüge der Mehrheitsgesellschaft zu integrieren, so dass der Status als Einwandererminderheit für sie zum Übergangsstatus wird. Bei Geschlossenheit der Mehrheitsgesellschaft oder einem Minderheitenintegrationskonzept, wie etwa in Großbritannien, das Einwanderer/innen als ethnic minorities definiert, verfestigen sich die Minderheitenstrukturen in der Sozialstruktur.
5 Religiöse Minderheiten Religiöse Minderheiten sind religiöse Gruppen, die sich in Kritik an einer Mehrheitsreligion gebildet haben (Altkatholiken, Altreformierte, Zeugen Jehovas usw.). Religiöse Minderheiten können zugleich ethnische und nationale Minderheiten sein, so dass die Merkmale Religionszugehörigkeit, Ethnizität und Nationalität sich wechselseitig verstärken. Von religiösen Minderheiten spricht man, wenn es in einem staatlichen Personenverband eine zahlen- und machtmäßig dominante religiöse Mehrheit gibt, die tendenziell oder faktisch die Glaubens- und Entfaltungsfreiheit der religiösen Minderheit bedroht. In Jahrhunderte dauernden Auseinandersetzungen hat sich ein den Menschenrechten zugeordneter Kodex von religiösen Schutz- und Freiheitsrechten entwickelt, wie er z.B. in Artikel 4, Absatz 1,2 im Grundgesetz Deutschlands festgeschrieben ist. Zu den historischen Vorbildern solcher Schutzrechte gehört etwa die Religionsfreiheit, die französischen Hugenotten (Reformierte) im protestantischen Preußen im 18. Jahrhundert gewährt wurde.
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Friedrich Heckmann
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6 Kolonisierte Minderheiten Der Kolonialismus betrachtete das Land einheimischer Bevölkerungen im Grunde als eine Art Niemandsland, das auf seine Inbesitznahme durch die europäischen Kolonisatoren wartete. Dies hatte zur Folge, dass die Ureinwohner/innen ihres Landes beraubt, getötet, vertrieben oder durch Krankheiten dezimiert und durch Alkohol demoralisiert wurden. Ihre Lebensgrundlagen und Lebensweise wurden zerstört, häufig wurden sie in so genannte Reservate gezwungen. Zu diesen Gruppen sind z.B. die Ureinwohner/innen Nordamerikas (Native Americans, First Nations) und Australiens (Aborigines) oder die polynesische Bevölkerung Hawaiis zu rechnen. Diese Gruppen werden heute auch als „indigene Bevölkerung“ der jeweiligen Kontinente oder Länder bezeichnet. Kolonisierte Minderheiten können also als Nachkommen der Bevölkerung kolonial eroberter Territorien definiert werden, die ihrer überkommenen Lebensgrundlage und Kultur beraubt wurden und dadurch häufig in ökonomische, psychosoziale und physische Verelendung getrieben wurden. In sozialwissenschaftlicher Literatur und öffentlichen Diskursen wird häufig von „Minderheiten“ in einem allgemeinen Sinne gesprochen, der die aufgezeigten Unterschiede in der Entstehung und Lage der verschiedenen Bevölkerungsgruppen nicht berücksichtigt. Die hier vorgestellte Typologie hat sich an Francis (1965, S. 123) und seiner Position orientiert, nach der sich „Unterschiede zwischen den Minderheiten (...) dann erklären lassen, wenn es gelingt, sie statt mit Hilfe von äußeren Merkmalen auf Grund konstitutiver Unterschiede zu differenzieren“. Der allgemeine Gebrauch des Minderheitenbegriffs ist jedoch nicht vollkommen willkürlich, da er – mit Ausnahme der Minderheit als Machtelite – an Gemeinsamkeiten von Gruppen hinsichtlich von ihnen erfahrener Vorurteile, Diskriminierungen wie auch bestimmten Formen der „Abweichung“ und des „Andersseins“ anknüpft. Dies schließt die hier nicht weiter behandelten Verhaltensminderheiten ein. Diese Gemeinsamkeit der „Objektstellung“ erlaubt es dann auch, sozialwissenschaftliche Theorien über Vorurteile, Diskriminierung und Intergruppenbeziehungen auf unterschiedliche Gruppen von Minderheiten anzuwenden. Die Erklärung ihrer sozialstrukturellen Lage muss jedoch von den aufgezeigten jeweils konkreten und historisch spezifischen Bedingungen ausgehen. Literatur
Farley, John E. (2005): Majority – Minority Relations. 5. Aufl. Upper Saddle River, New Jersey: Pearson Prentice Hall. – Francis, Emmerich K. (1965): Ethnos und Demos. Berlin: Duncker und Humblot. – Heckmann, Friedrich (1992): Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie interethnischer Beziehungen. Stuttgart: Enke Verlag. – Heckmann, Friedrich (2015): Integration von Migranten – Einwanderung und neue Nationenbildung. Wiesbaden: Springer. – Kimminich, Otto (1990): Rechtsprobleme der polyethnischen Staatsorganisation. Mainz: Grünewald. – Toggenburg, Gabriel N.; Rautz, Günther (2010): Das ABC des Minderheitenschutzes in Europa. Wien: Böhlau (UTB 3269).
Integration – Inklusion
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6 Integration – Inklusion Viola B. Georgi und Filiz Keküllüoğlu
Integration ist zum buzzword der Migrationsdebatte geworden. In einem allgemeinen Verständnis bedeutet Integration die Eingliederung in ein Ganzes, die Herstellung einer Einheit aus einzelnen Elementen sowie deren Zusammenhalt. Integration wird entweder als Prozess, als Funktion oder als Ziel verstanden und zugleich mit jeweils spezifischen Gesellschaftsbildern verknüpft, die unterschiedliche Antworten auf die Fragen – „Wer soll integriert werden?“ und „Wohin soll integriert werden?“ – geben. Im Kontext von Migration und Interkultureller Pädagogik geht es vornehmlich um ein Verständnis von Integration, das den Umgang mit wachsender Heterogenität in der Einwanderungsgesellschaft, etwa mit Mehrsprachigkeit oder religiöser Pluralisierung, aufgreift. Integration wird in dieser Sichtweise gemeinhin als ein Prozess verstanden, in dem die Eingewanderten und ihre Nachkommen zu integralen Bestandteilen der Gesellschaft des Landes werden sollen, in das sie migriert sind. Darüber, wie das geschieht und was das bedeutet – und zwar sowohl für die Migrant/innen als auch für die aufnehmende Gesellschaft – gibt es unterschiedliche Auffassungen, die sich im politischen und öffentlichen Diskurs zumeist auf folgende drei Dimensionen von Integration beziehen: (1) die Integration in eine Nation und damit (2) in eine als homogen imaginierte nationale Kultur (Idee der „Leitkultur“) und (3) die Integration in eine Werteordnung (Verfassung, Grundrechte, Menschenrechte). Diese drei Dimensionen sind im Alltag auf komplexe Weise miteinander verschränkt. Zudem gehen die verschiedenen Auslegungen des Integrationsbegriffs mit spezifischen Gesellschaftsbildern einher: Diejenigen, die das Konzept einer „Leitkultur“ vertreten, propagieren eine historisch gewachsene, jüdisch-christlich-abendländisch geprägte „Tugendgemeinschaft“ (Brumlik 2015). Sie begreifen Integration als Anpassung der Menschen mit Migrationsgeschichte an diese Leitkultur. Diejenigen, die ein „multikulturelles“ Gesellschaftsmodell befürworten, verstehen Integration als einen wechselseitigen Prozess zwischen autochthoner und allochthoner Bevölkerung. In diesem Modell sind Anerkennung, Repräsentation und Wertschätzung von (kultureller) Vielfalt fest verankert. Mit Bezug auf theoretische Konzepte von Diversity und Intersektionalität entwickelt sich seit den 2000er Jahren in den Sozial-, Kultur- und Erziehungswissenschaften – insbesondere in der Interkulturellen Pädagogik – ein neuer Differenzdiskurs, indem die Gesellschaft als grundsätzlich heterogen und pluriform beschrieben und Integration als die Ermöglichung von umfassender Teilhabe im Sinne des Inklusionsgedankens begriffen wird.
1 Integration als Bringschuld Die Vorstellung, dass sich die aufnehmende Gesellschaft und die zugewanderten Gruppen als kulturell homogene Einheiten gegenüberstünden, ist nach wie vor Ausgangspunkt für integrationspolitisches Handeln. Der Gegensatz von Eigenem und Fremden, von Normalität und Abweichung, von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit wird quasi vorausgesetzt (Geisen 2010, S. 28; Messerschmidt 2008, S. 6) und mündet schließlich in der Forderung, dass sich die Eingewanderten integrieren müssen: etwa indem sie an Integrationskursen teilnehmen, die
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Viola B. Georgi und Filiz Keküllüoğlu
deutsche Sprache erlernen, sich „deutsche Gepflogenheiten“ zu eigen machen, dabei ihre eigenen religiösen oder kulturellen Besonderheiten möglichst ablegen und ihre Integrationsbereitschaft durch das Bestehen eines Einbürgerungstests unter Beweis stellen. Die Bezugsgruppe bzw. der Maßstab für solche Äußerungen ist ein nicht weiter bestimmtes „deutsches Wir“. Die wahrgenommenen oder auch zugeschriebenen Unterschiede zwischen „Einheimischen“ und „Migrant/innen“ werden hier als Defizite der Einwanderten charakterisiert. Das zeigen auch die immer wiederkehrenden Debatten über Modernisierungsrückstände, mangelnde deutsche Sprachkenntnisse, niedrige Schulleistungen, Kriminalität und Sexismus. Integration wird als individuelle Anpassungsleistung verstanden, die Migrant/innen quasi als Bringschuld gegenüber der Aufnahmegesellschaft einseitig erbringen müssen. In dieser Lesart wird Integration mit Assimilation gleichgesetzt. In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird zwischen System- und Sozialintegration unterschieden (für die Erziehungswissenschaft siehe z.B. Hamburger 2005). Für die Systemintegration ist das System der Gesellschaft Bezugspunkt der Betrachtung, für die Sozialintegration sind es Individuen und gesellschaftliche Gruppen. Systemintegration meint die Positionierung und die Platzierung der Einzelnen in den funktionalen Teilsystemen (etwa Ökonomie, Bildung, Recht, Kultur, Politik) der Aufnahmegesellschaft. Esser spricht in diesem Zusammenhang von struktureller Assimilation (Esser 2001, S. 22). Sozialintegration umfasst die Integration in die „Lebenswelt“ der alltäglichen Beziehungen (Hamburger 2005, S. 13). Esser fasst hierunter weitere drei Assimilationsformen: (1) die kulturelle Assimilation, d.h. der Erwerb von Wissen und Kompetenzen, die sich auf „die Kenntnis der wichtigsten Regeln für typische Situationen und die Beherrschung der dafür nötigen (kulturellen) Fertigkeiten“ beziehen, (2) die soziale Assimilation, gemeint ist die „interethnische“ Interaktion und (3) die emotionale Assimilation, die Angleichung von Eigenschaften und Verhaltensweisen an die „kollektiven Werte“ der Aufnahmegesellschaft (Esser 2001, S. 8; 13). Eine solche auf Assimilation fokussierte Integrationstheorie wird in Teilen der Migrations- und Integrationsforschung aus folgenden Gründen problematisiert: (a) Diese Theorie beinhaltet kein dynamisches bzw. auch multidirektionales Verständnis von Migration (Transmigration, Pendelmigration etc.). (b) Sie basiert auf einem statischen Kulturkonzept. (c) Im Rahmen dieser Theorie bleibt unberücksichtigt, dass Menschen sich, wie Pries (1997) es formuliert, gleichzeitig – emotional, strukturell, sozial, kulturell – zu mehreren Gruppen, Gesellschaften, Ländern zugehörig fühlen können. (d) Integrationserfolg bzw. das Scheitern von Integration wird auf das Individuum und seine mangelnde Anpassungsfähigkeit zurückgeführt. Multiple kulturelle Zugehörigkeit und die Mehrsprachigkeit von Migrant/innen und ihren Nachkommen werden als kontraproduktiv für den Integrationsprozess bewertet. In dieser Sichtweise werden sie zudem als nicht-integriert bzw. integrationsunwillig bezeichnet, wenn sie nach der ökonomischen Verwertungslogik als für die Gesellschaft ‚nicht nützlich‘ gelten. Riegel (2007, S. 31) kritisiert diese Dimension der Integration und spricht davon, dass es sich beim „Integrationsverhältnis“ um ein gesellschaftlich produziertes Verhältnis handele. Denn eben dieser in die Macht- und Herrschaftsverhältnisse des Aufnahmelandes verstrickte Integrationsdiskurs erzeuge durch die Hervorhebung und Zuschreibung von Kultur-, Religions- und Sprachdifferenzen hierarchisierende Zugehörigkeitsordnungen und halte sie aufrecht.
2 Integration als Aushandlungsprozess Versteht man Integration als einen ergebnisoffenen, wechselseitigen Aushandlungsprozess zwischen allen Mitgliedern der Gesellschaft (vgl. z.B. Treibel 2016), so geht es nicht um hegemo-
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Integration – Inklusion
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niale Anpassungsforderungen an die Zugewanderten und ihre Nachkommen, sondern um die Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Wandel und der Frage nach der gesellschaftlichen Kohärenz in Bezug auf die Aushandlung eines jeweils neuen Konsenses über „deutsche“ Identitäten. Damit ändern sich auch die Narrative über das „Deutschsein“. Das Gelingen von Integration hängt somit auch maßgeblich von der aufnehmenden Gesellschaft ab, etwa deren demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen, dem zivilgesellschaftlichen Engagement und – bezogen auf die Interkulturelle Pädagogik – von der diversitätssensiblen Verfasstheit des Bildungswesens. Diversitätssensibel bedeutet, Vielfalt als Potential zu verstehen, und Menschen, trotz aller Unterschiedlichkeit – etwa hinsichtlich ihrer ethnischen, sozialen oder religiösen Herkunft, Geschlechtszugehörigkeit oder ihrer sexuellen Orientierung usw. – Möglichkeiten für eine gleichberechtigte Teilhabe und eigenständige Lebensgestaltung zu bieten sowie diskriminierenden Routinen, Handlungen sowie Strukturen entgegenzuwirken. An diesem Postulat anknüpfend schlägt der Sachverständigenrat für Migration und Integration folgende Definition vor: „Als Integration gilt die möglichst chancengleiche Partizipation an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Diese reichen von Erziehung und früher Bildung in der Familie und in vorschulischen öffentlichen Einrichtungen über schulische Bildung, berufliche Ausbildung und ein durch Arbeit und deren Ertrag selbstbestimmtes, nicht transferabhängiges Leben bis hin zur – statusabhängigen – politischen Partizipation und zur Teilhabe an den verschiedensten Schutz- und Fürsorgesystemen im Rechts- und Wohlfahrtsstaat. Im Sinne dieser Definition kann es mithin, unterhalb der anzustrebenden und für die demokratische Einwanderungsgesellschaft grundlegenden Gemeinschaft in den politischen Rechten und Pflichten als Staatsbürger, auch gut integrierte Ausländer und schlecht integrierte Deutsche geben“ (SVR 2010, S. 21). Integration ist ein Prozess, in den alle in einer Gesellschaft Lebenden einbezogen sind. In diesem Sinne kann es – wie es die eingangs auch zitierte Definition (Eingliederung in ein Ganzes) nahelegt – die Integration in das „gesellschaftliche Ganze“ nicht geben, weil Menschen immer nur in gesellschaftliche Teilbereiche integriert sein können und weil die Gesellschaft kein „feststehendes Ganzes“ ist. Politik und Gesellschaft müssen aber die strukturellen Voraussetzungen für die Integration in diese verschiedenen Teilbereiche schaffen.
3 Von der Integration zu Inklusion Gesellschaftliche Heterogenität ist normal und somit kein neues Phänomen für pädagogisches Handeln. Neu ist jedoch zum einen, dass angesichts von Globalisierung, Migration und wachsender binnengesellschaftlicher Pluralisierung der Kulturen, Sprachen, Wissensformen, Lebensentwürfe und Handlungsmuster Heterogenität verstärkt und zugleich gesamtgesellschaftlich offensichtlicher geworden ist. In Zusammenhang damit sind auch die Anforderungen an und Zielvorstellungen für pädagogisches Handeln neu gefasst worden. Mit einem EinbahnstraßenVerständnis von Integration, nach dem Nationalstaaten als ethnisch, kulturell und sprachlich in sich homogene ‚Container‘ aufgefasst werden, können die vielfältigen Dimensionen internationaler Mobilität, Phänomene transnationaler Lebensführung und die Komplexität sich überschneidender Differenzlinien (Stichwort: Intersektionalität) in der (Migrations-)Gesellschaft nicht hinreichend erfasst werden. Vonnöten scheint ein Konzept, das nicht nur vielfältige Identitätsmerkmale umfasst – etwa soziale Herkunft, Geschlecht, Behinderung, nationale bzw. ethnische Herkunft, Hautfarbe, religiöse Zugehörigkeit bzw. Weltanschauung, sondern zugleich berücksichtigt, dass diese Differenzlinien mehrschichtig und in komplexer Weise miteinander verwoben sind. Infolge der
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Viola B. Georgi und Filiz Keküllüoğlu
Ausdifferenzierung der Protest- und Emanzipationsbewegungen (z.B. der Bürgerrechts- oder Frauenbewegung), die z.T. schon eine lange Tradition in der Einforderung ihres Recht auf Verschiedenheit und Gleichheit haben, ist seit den 1980er, 1990er Jahren auch das Bewusstsein dafür geschärft worden, dass ethnische, nationale bzw. kulturelle Zugehörigkeiten ebenso Teilaspekte individueller sowie kollektiver Identitäten sind, die mit Diskriminierung wie Privilegierung verbunden sind. Vor dem Hintergrund der Diskussion über die Umsetzung der Menschen- und Grundrechte und vielfältiger Initiativen zur Durchsetzung partikularer Rechte wird ein Konzept benötigt, das es ermöglicht, die Komplexität von Mehrfachidentitäten theoretisch adäquater zu fassen. In dieser Perspektive wird Inklusion als ein Konzept vorgeschlagen, das eine optimierte, erweiterte oder gar visionäre Version von Integration bietet. Denn im Unterschied zum Integrationsbegriff geht es beim Inklusionsbegriff um die Anerkennung gesellschaftlicher Diversität, ohne die Gesellschaft in klar voneinander unterscheidbare, scheinbar homogene Gruppen aufzuteilen. Inklusion ist als dauerhafter und nie abgeschlossener Prozess zu begreifen, an dem alle Mitglieder der Gesellschaft so wie ihre Institutionen (etwa Schulen) beteiligt sind. In den aktuellen Debatten gibt es zwei Zugänge zum Inklusionsbegriff, die bei einigen Autor/innen miteinander vermengt werden: (1) Unter Bezug auf die UN-Behindertenrechtskonvention wird Inklusion – schwerpunktmäßig oder auch ausschließlich – mit der gesellschaftlichen Gleichstellung von Menschen mit Behinderung in eins gesetzt. Entsprechend dieses engen Verständnisses von Inklusion geht es um Rahmenbedingungen und Bildungskonzepte für die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung. (2) Gleichzeitig wird Inklusion weiter gefasst. Hiernach stehen jedem Menschen die unveräußerlichen Menschenrechte zu. Jeder Mensch hat das Recht, ein gleichberechtigter Teil der Gesellschaft zu sein bzw. – wie es die deutsche Unesco-Kommission für den Bildungsbereich formuliert hat „Inklusion im Bildungsbereich bedeutet, dass allen Menschen die gleichen Möglichkeiten offen stehen, an qualitativ hochwertiger Bildung teilzuhaben und ihre Potenziale entwickeln zu können, unabhängig von besonderen Lernbedürfnissen, Geschlecht, sozialen und ökonomischen Voraussetzungen“ (DUK o.D.). Hierfür gilt es, diversitätssensible strukturelle Rahmenbedingungen zu schaffen, in den Bildungseinrichtungen wie auch in Verwaltungen, Medien und im Rechtssystem. Das Ziel von Inklusion sei der rechtlich verbindliche Nachteilsausgleich sowie die Beseitigung von Barrieren und Exklusion für Menschen mit unterschiedlichen Ausgangslagen. Dieses Inklusionsverständnis unterstreicht zugleich das Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes: „Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“ (GG Art. 3.3). Daraus leitet sich der Rechtsanspruch auf inklusive Bildung ab mit dem Ziel in der Pädagogik, der Diversität, der Vielschichtigkeit und der Veränderbarkeit menschlichen Lebens in Bildungseinrichtungen besser gerecht zu werden und den Blick auf die individuellen Ressourcen der Lernenden zu richten (vgl. Georgi 2015, S. 26). Insofern „Bildung (...) sich in formalen und non-formalen Kontexten, in Familien und Gemeinden“ vollziehe, sei „inklusive Bildung kein randständiges Thema, sondern zentral, um qualitativ hochwertige Bildung für alle Lernenden zu erreichen und um eine inklusivere Gesellschaft zu entwickeln. Inklusive Bildung ist wesentlich, um soziale Gerechtigkeit zu erreichen und sie ist ein konstituierendes Element lebenslangen Lernens“ (Burnett 2009, S. 4). Auf diese Weise werden Teilhabe und Selbstbestimmung ermöglicht. Die Aufmerksamkeit von Politik und Pädagogik sollte sich also weniger auf die vermeintliche „Integrationsfähigkeit“ von Einzelnen oder Gruppen richten, sondern auf die Transformationsfähigkeit von Institutionen (vgl. Merx 2013).
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Literatur
Brumlik, Micha (2015): Essay zum Nationalismus in Europa: Was heißt eigentlich Integration? In: taz vom 19.11.2015. Online verfügbar unter http://www.taz.de/Essay-zum-Nationalismus-in-Europa/!5246366/ [03.09.2016]. – Burnett, Nicholas (2009): Vorwort. In: Deutsche UNESCO -Kommission e.V (Hg.): Inklusion: Leitlinien für die Bildungspolitik. Deutsche Ausgabe. Bonn, S. 4. Online verfügbar unter https://www.unesco.de/fileadmin/medien/Dokumente/Bildung/InklusionLeitlinienBildungspolitik.pdf [27.09.2016]. – DUK (o.D.): Deutsche UNESCO -Kommission. Inklusive Bildung. Online verfügbar https://www.unesco.de/bildung/inklusive-bildung.html [16.11.2016]. – Esser, Hartmut (2001): Integration und ethnische Schichtung. In: Arbeitspapiere – Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung, Nr. 40. Mannheim. – Geisen, Thomas (2010): Vergesellschaftung statt Integration. Zur Kritik des Integrations-Paradigmas. In: Paul Mecheril; İnci Dirim; Mechtild Gomolla; Sabine Hornberg & Krassimir Stojanov (Hg.): Spannungsverhältnisse: Assimilationsdiskurse und interkulturell-pädagogische Forschung. Münster: Waxmann Verlag, S. 13-34. – Georgi, Viola B. (2015): Anmerkungen zu aktuellen Debatten in der deutschen Migrationsgesellschaft. Integration, Diversity, Inklusion. In: Zeitschrift für Erwachsenenbildung. Themenheft: Migration 22 (11), S. 25-28. – GG Art 3.3 (2010): Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 23. Dezember 2014 (BGBl. I S. 2438) geändert worden ist. Online verfügbar unter: https://www.gesetzeim-internet.de/gg/BJNR000010949.html [27.10.2016]. – Hamburger, Franz (2005): Der Kampf um Bildung und Erfolg. In: Franz Hamburger; Tarek Badawia & Merle Hummrich (Hg.): Migration und Bildung. Wiesbaden: VS Verlag, S. 7-22. – Merx, Andreas (2013): Diversity. Umsetzung oder Proklamation? In: Migration und Soziale Arbeit 35 (3), S. 236-242. – Messerschmidt, Astrid (2008): Pädagogische Beanspruchungen von Kultur in der Migrationsgesellschaft. Bildungsprozesse zwischen Kulturalisierung und Kulturkritik. In: Zeitschrift für Pädagogik 54 (1), S. 5-17. – Pries, Ludger (1997): Transnationale Migration. Sonderband 12. Baden-Baden: Nomos. – Riegel, Christine (2007): Integration – ein Schlagwort? Zum Umgang mit einem problematischen Begriff. In: Wolf-Dietrich Bukow; Claudia Nikodem; Erika Schulze & Erol Yıldız (Hg.): Was heißt hier Parallelgesellschaft? Zum Umgang mit Differenz. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 23-40. – SVR (2010): Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Einwanderungsgesellschaft 2010. Jahresgutachten 2010 mit Integrationsbarometer. Berlin. – Treibel, Annette (2016): Integriert Euch! Plädoyer für ein selbstbewusstes Einwanderungsland. Frankfurt a.M.: Campus.
7 Assimilation – Akkulturation Thomas Geisen
Im Zentrum der Interkulturellen Pädagogik steht u.a. die Frage, was auf der individuellen wie gesellschaftlichen Ebene geschieht, wenn Menschen migrieren und somit ihren Lebensmittelpunkt verlagern. Konzepte von Akkulturation und Assimilation beantworten diese Frage dahingehend, dass es zu Prozessen der Annäherung und Angleichung kommt, die mit der Übernahme der sozialen und kulturellen Normen, Werte und Praxen der neuen Gesellschaft einhergehen. Diese Entwicklung ist vielfach als Zyklen-Modell oder als Drei-Generationen-Sequenzmodell vorgestellt und diskutiert worden (Bogardus 1931). Das Grundmuster lässt sich wie folgt zusammenfassen: In der ersten Generation komme es zur ökonomischen Anpassung, die zweite Generation lebe in zwei Kulturen und die dritte Generation sei schließlich vollständig assimiliert, d.h.
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Thomas Geisen
in die core culture der Gesellschaft des Einwanderungslandes eingepasst. Die erste Generation pflege somit die Herkunftskultur, bei der zweiten stünden herkunftsgeprägte Familienkultur und die Kultur des Einwanderungslandes in Konkurrenz und mit der dritten Generation werde durch Assimilation das durch Einwanderung entstandene sozio-kulturelle Ungleichgewicht, das den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet habe, ausgeglichen.
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1 Assimilation als lineares Konzept Konzepte dieses Zuschnitts sind in Reaktion auf die starke Einwanderung in die USA in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstanden. In der in den 1930er Jahren einsetzenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung verstanden die einen Kulturen als stabile und in sich geschlossene Systeme, während andere, so vor allem die zur Chicago School zählenden Wissenschaftler, wie z.B. Robert E. Park, davon ausgingen, dass Kulturen sich verändern, u.a. wenn Menschen unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeiten dauerhaft miteinander in Kontakt kämen. Den entsprechenden Prozess haben Park und Ernest W. Burgess als Race relation cycle (Park & Burgess 1921) bezeichnet, race im Sinne von Ethnizität bzw. Kultur. Der Zyklus umfasse die Schritte von Kontakt, über Konkurrenz, sich Einrichten (accommodation) bis hin zur Assimilation; er sei fortschreitend und irreversibel. Migrationspolitische Regulierungen, Diskriminierung und Rassismus könnten ihn weder verhindern noch seine Richtung ändern. Diesem Konzept liegen die Norm- und Wertvorstellungen einer liberalen Gesellschaft zu Grunde: Partikulare kulturelle Zugehörigkeit wird nicht mehr als eine öffentliche, sondern als private Angelegenheit gesehen, und es wird die Voraussetzung dafür geschaffen, dass sich die liberale Gesellschaft in ihrer Selbstbeschreibung als universell-orientierte Gesellschaft verstehen kann, ohne das Ziel des Assimilationsprozesses – in dem Fall die Amerikanisierung der Eingewanderten – aufgeben zu müssen (Thomas 1965, S. 363). Voraussetzung für einen solchen erfolgreichen Assimilationsprozess sei jedoch eine hinreichend große Apperzeptionsmasse, das heißt, dass es genügend Ähnlichkeiten in den kulturellen Erfahrungsgehalten zwischen der amerikanischen Kultur und der Kultur der Eingewanderten geben müsse (ebd., S. 351). Für Park wie auch für William I. Thomas ist Assimilation unvermeidlich und wünschenswert und sie sei erreicht, wenn vorhandene Unterschiede nicht mehr auf Zuschreibungen, sondern auf individuellen Leistungen und der Mannigfaltigkeit der Persönlichkeiten beruhten.
2 Akkulturation und Assimilation als plurale Konzepte Der dem Modell von Park und von Thomas zu Grunde liegende Fortschritts- und Entwicklungsgedanke ist vielfach kritisiert worden. Denn u.a. zeigte sich, dass – statt im Schmelztiegel (melting pot) sich zu ‚amerikanisieren‘ – viele eingewanderte Minderheiten als ethnisch unterscheidbare soziale Gruppen bestehen blieben. Milton Gordon führte dies darauf zurück, dass viele Eingewanderte sich zwar kulturell assimilierten, also die Sprache und äußere Verhaltensweisen übernähmen, aber nicht strukturell assimiliert würden. Sein Assimilationskonzept umfasst daher die kulturelle Assimilation (Akkulturation) und die strukturelle Assimilation (Gordon 1965, S. 65). Mit seiner These der Pluralisierung von Assimilationsformen, die er nicht mehr notwendigerweise als aufeinanderfolgende ansah, vollzog Gordon eine Wende im Assimilationsdiskurs. Er hielt zwar weiterhin an der Zielperspektive Assimilation fest, zugleich anerkannte er aber auch die Nicht-Hintergehbarkeit der kulturellen Pluralität moderner Gesellschaften. Daraus folgt letztlich, dass der Universalismus westlicher Prägung selbst auch als eine Form kulturellen Partikularismus zu verstehen sei.
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Assimilation – Akkulturation
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Bei Nathan Glazer und Daniel Moynihan findet sich die von Gordon eröffnete Perspektive in radikalisierter Form: Die Existenz kultureller Pluralität ist für sie eine zentrale Grundlage für die Dynamik und Entwicklung moderner Gesellschaften. Normen und Werte stünden in einem Wettbewerb um gesellschaftliche Geltung, die sich immer wieder neu erweisen müsse (Glazer & Moynihan 1975, S. 14). John W. Berry, der sich seit den 1970er Jahren mit der Frage des Zusammenhangs von Kultur und individuellem Verhalten beschäftigt, kehrte das Verhältnis von Akkulturation und Assimilation schließlich um: Assimilation wird von ihm als mögliches Resultat des Akkulturationsprozesses verstanden, der sich entweder in Richtung Aufrechterhaltung der eigenen Kultur oder in Richtung Kontakt und Partizipation entwickeln könne. Die Aufgabe der eigenen Kultur könne zu Integration oder Assimilation führen, der Kulturerhalt zu Separation resp. Segregation und Marginalisierung (Berry 1997, S. 9f ). Im deutschsprachigen Raum hat Hartmut Esser das plurale Konzept der Assimilation aufgegriffen. Er unterscheidet zwischen Akkulturation, als Angleichung im kognitiven Bereich, und Assimilation, als einem Zustand der Ähnlichkeit in Handlungsweisen, Orientierungen und interaktiven Beziehungen im Einwanderungsland. In den Bereichen Fertigkeiten, Rollenausübungen und Statusbesetzung glichen sich die Eingewanderten den Einheimischen an, und es entstünden Identifikationen mit dem neuen Lebensbereich (Esser 1980, S. 14). Bernhard Nauck hat die auf einem methodischen Individualismus gründende Handlungstheorie Essers erweitert, indem er auch kollektive Akteure, insbesondere die Familie, mit einbezogen hat. Zugleich kritisiert er, dass Esser sowohl Prozess als auch Resultat als Assimilation bezeichnet. Damit werde der Begriff für die empirische Analyse unbrauchbar. Er unterscheidet daher zwischen Akkulturation und Assimilation: Akkulturation für den Prozess der Angleichung und Assimilation für den jeweils erreichten Zustand der Angleichung. Wenn individuell und sozial ein spannungsfreier Zustand erreicht werde, könne dieser mit Integration bezeichnet werden (Nauck 1985, S. 194f ). Anders als Esser folgt im deutschsprachigen Raum Friedrich Heckmann den Vertretern des ‚klassischen Assimilationsmodells‘; er geht von der Unvermeidlichkeit von Assimilation aus. Der Assimilationsprozess erstrecke sich über mehrere Generationen (Heckmann 1981, S. 218), entscheidend sei jedoch die zweite Einwanderergeneration, deren Assimilationswünsche mit denen der Elterngeneration kollidierten. Kennzeichnend für Heckmanns Ansatz ist, dass er den ethnischen Communities bzw. ethnischen Kolonien eine wichtige Funktion zuspricht: Über sie, d.h. über die schon Eingewanderten würden die jeweils neu Zugewanderten in die Gesellschaft integriert. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny betont hingegen die Grenzen des Assimilationsprozesses. Für ihn ist Assimilation ein Lernprozess, der – da er letztlich die Persönlichkeitsstruktur grundlegend verändere – umfassend nur in der frühen Kindheit und Jugend vollzogen werden könne (Hoffmann-Nowotny 1973, S. 296). Daher könnten Erwachsene sich nur partiell assimilieren, in dem sie einzelne Elemente der Lebensweisen (Kultur) der Einwanderungsgesellschaft übernähmen. Voraussetzung hierfür sei allerdings eine erfolgreiche Integration, ohne die alle auf Assimilation zielenden Massnahmen wirkungslos blieben. Deshalb müsse Integration von Anfang an gefördert werden (ebd., S. 194).
3 Neoassimilationismus Im Zuge der kritischen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Folgen der Arbeits- und Familienmigration der 1960er und 1970er Jahre, die zu einer Verstetigung der Migrationsbevölkerung und damit zur Entstehung neuer, ethnischer Minderheiten geführt hat, verlor das Assimilationskonzept vorübergehend an Attraktivität. Im deutschsprachigen Raum beispielsweise wurde es insbesondere von Diskussionen über Integrationskonzepte und den Integrati-
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Thomas Geisen
onsbegriff abgelöst, im Zuge derer das Recht auf kulturelle Selbstbestimmung der Migrantinnen und Migranten und verstärkt auch Anpassungen der ‚einheimischen‘ Gesellschaft an die durch Migration veränderten gesellschaftlichen Bedingungen eingefordert wurden (Geisen 2010). Mit der öffentlichen Kritik am Integrationskonzept, die sich vor allem auf fortbestehende, ungleiche Geschlechterverhältnis und anhaltende soziale Probleme im Kontext von Migration bezog und eine fehlende Bereitschaft zur Anpassung an die gesellschaftlichen Bedingungen des Einwanderungslandes diagnostizierte, setzte ab den 1990er Jahren eine erneute Auseinandersetzung mit dem Assimilationskonzept – auch als Neoassimilationismus bezeichnet – ein. So hält z.B. Ewa Morawska den Dreischritt von kultureller Assimilation oder Akkulturation, sozialer Assimilation und identifikatorischer Assimilation weiterhin für relevant, allerdings müssten das Konzept komplexer ausgebaut und historische Kontexte stärker berücksichtigt werden (Morawska 1994, S. 76). Richard Alba und Victor Nee setzten mit ihrer Kritik an dem aus ihrer Sicht simplifizierenden Kulturverständnis der Assimilationskonzepte an. Bei Akkulturation gehe es nicht um die Aufgabe oder Übernahme von Kultur, sondern um die zentrale Frage, wie kulturelle Charakteristika ihre Attribuierung zu spezifischen sozialen Gruppen verlieren und zu allgemein anerkannten kulturellen Orientierungen werden (Alba & Nee 1999, S. 141). Im Gegensatz zum klassischen Assimilations-Konzept verstehen sie Assimilation als einen relationalen Prozess, der durch das jeweilige Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bestimmt werde. Für Rogers Brubaker ist die erneute Hinwendung zur Assimilation eng mit dem Abebben des differentialistischen Denkens des Multikulturalismus verbunden. Er selbst unterscheidet zwischen einem allgemeinen und einem organischen Assimilationsbegriff: Ersterer sei abstrakt, Assimilation in diesem Sinne bedeute zunehmende Gleichheit oder Ähnlichkeit; im organischen Sinne hingegen bedeute Assimilation, dass etwas vollständig absorbiert, einverleibt werde (Brubaker 2007, S. 168ff). Diese letztgenannte Perspektive habe den Begriff in Misskredit gebracht. Daher schlägt Brubaker vor, Assimilation nur in einem reflexiven, abstrakten Sinne als konzeptuelles Instrument in der Migrationsforschung zu verwenden.
4 Fazit Seit den 1930er Jahren ist zu beobachten, dass in der Migrationsforschung versucht wird, Erklärungsansätze und Konzepte zu entwickeln, um aufzeigen und ggf. auch prognostizieren zu können, wie Einwandernde und Eingewanderte sich in die neue Gesellschaft und den neuen Staat einfügen. Der Blick war dabei meist vorrangig auf die neu Hinzu-Kommenden gerichtet und mit der Idee verbunden, dass diese sich primär durch Prozesse der Akkulturation und der Assimilation an die Verhältnisse im Einwanderungsland anpassen sollten. Diese eindimensionalen Erklärungsansätze und Konzepte haben sich bis in die Gegenwart erhalten, trotz aller Kritik, die auch seitens verschiedener Vertreter/innen der Migrationsforschung einschließlich der Interkulturellen Pädagogik vorgetragen wird. In der Kritik wird beispielsweise vorgeschlagen, die stark umstrittenen Konzepte Assimilation, Akkulturation oder auch Integration aufzugeben und stattdessen mit dem Begriff der Vergesellschaftung zu arbeiten (siehe Geisen 2010), um den Blick von den Zugewanderten und den Ansprüchen an sie auf die Gesellschaft insgesamt und damit auf die gesellschaftlich-politischen Strukturen zu lenken, die die Kohärenz der Gesellschaft sichern sollen. In dieser Perspektive wird deutlich, dass es um Prozesse geht, die alle in einer Gesellschaft Lebenden – wenn auch in unterschiedlicher Weise – betreffen. Migrationsund Integrationspolitik sei ein wichtiges, aber dennoch nur ein Feld von Gesellschaftspolitik im Zeichen von europäischer Integration und Globalisierung. Die in diesem Bereich getroffenen Regelungen und Maßnahmen zur Aufnahme und Eingliederung können daher nur dann er-
Interkulturelle Kompetenz
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folgreich sein, wenn sie mit den in anderen Politikfeldern getroffenen Maßnahmen, z.B. in den Feldern Arbeit, Gesundheit, Wohnen, Bildung, kompatibel sind.
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Literatur
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8 Interkulturelle Kompetenz Anne-Christin Schondelmayer
Seit Beginn der 2000er Jahre gewinnt Interkulturelle Kompetenz im deutschsprachigen Raum zunehmend an Bedeutung. Mittlerweile gilt sie als „Schlüsselqualifikation“ für das 21. Jahrhundert. Da der Begriff in unterschiedlichen Feldern sozialen Handelns eine Rolle spielt, gestaltet sich die fachliche Diskussion äußerst heterogen. Die Debatten kreisen dabei vor allem um folgende Fragen: (1) Welcher Kulturbegriff liegt dem Konzept zugrunde?; (2) Wie kann (interkulturelle) Kompetenz erfasst und gemessen werden? und (3) Inwiefern kann interkulturelle Kompetenz gelehrt und erlernt werden? Vor dem Hintergrund dieser Fragen, diskutiert und problematisiert der Beitrag zentrale Grundannahmen interkultureller Kompetenz.
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Die Verbreitung des Begriffs ‚interkulturelle Kompetenz‘ in der pädagogischen Fachdiskussion ist nicht nur eine Folge von Globalisierungsprozessen, sondern auch dessen, dass Deutschland sich politisch-gesellschaftlich als Einwanderungsgesellschaft zu verstehen beginnt. Von Interkultureller Kompetenz ist zunächst vor allem in den Diskussionen und Studien zu internationaler Mobilität von Höherqualifizierten die Rede, z.B. in den Studien zum Studierendenaustausch (Thomas 1985), zu Expatriates im Sozial- und Wirtschaftsbereich (Moosmüller 2007) und zum internationalen Management (Bolten 2004). Im internationalen Kontext wird dabei zumeist von „cross-culture-competence“ (Brislin 1981) oder auch „cultural sensitivity“ (Bennett 1993) gesprochen. Auch im sozialen Bereich wird interkulturelle Kompetenz immer bedeutsamer. Der pädagogische Ansatz hat sich dort von einem defizitorientierten Blick auf Menschen anderer Herkunft und Kulturen zu einem ressourcenorientierten Blick gewandelt. Zumeist liegt der Fokus in Bezug auf die Einwanderungsgesellschaft auf dem Umgang von Mehrheitsangehörigen mit Minderheitenangehörigen bzw. auf einer Sensibilisierung bezüglich der ‚kulturellen Diversität‘ von Lebenskonzepten (vgl. Auernheimer 2013). Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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1 Interkulturelle Kompetenz – zur Verwendung des Begriffs
2 Grundannahmen und Kritik Drei Grundannahmen sind mehrheitlich für Konzepte interkultureller Kompetenz kennzeichnend: (1) Dass es unterschiedliche Kulturen gebe, (2) dass diese mit der jeweiligen nationalen Herkunft verbunden seien und (3) dass es einer spezifischen sozialen Kompetenz bedürfe, um mit diesen, so als voneinander verschieden markierten Kulturen ‚erfolgreich‘ interagieren zu können. Auf diese Annahmen wird im Folgenden kurz eingegangen: 2.1 Unterschiedliche Kulturen In den Debatten um die Verwendung des Kulturbegriffs wird u.a. darüber gestritten, wann und wie und in Bezug auf wen, von Kultur gesprochen wird, aber auch, was mit Kultur verbunden wird, z.B. Ethnie, Nationalität, Religion, Sprache oder Traditionen, und welche Konsequenzen diese Zuschreibungen haben können. Ein Fokus, der vornehmlich auf migrationsbedingte (Kultur-)Differenz gerichtet ist, blendet vielfältige Phänomene von Diversität in der Migrationsgesellschaft, wie sie sich etwa in sozialen und Geschlechterungleichheiten, in Unterschieden zwischen Stadt und Land, oder zwischen Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeiten und Weltanschauungen zeigen, aus. Zugleich werden auch Gemeinsamkeiten von Menschen unterschiedlicher Herkunft de-thematisiert (vgl. Mecheril et al. 2010). Für die Frage, wie interkulturelle Kompetenz erworben, erfasst, gemessen und vermittelt werden kann, gilt es zunächst zu klären, was unter ‚interkulturell‘ verstanden werden soll. Denn dies bestimmt das Design und auch mögliche Erkenntnisse von Forschungen, bildet den Ansatzpunkt in der Lehre und bestimmt die Ausrichtung pädagogischer Interventionen. Daher beginnen viele Arbeiten zu interkultureller Kompetenz mit einer differenzierten Auseinandersetzung zum Kulturbegriff. Kultur wird hier mehrheitlich als ein kollektiv geteiltes Orientierungssystem verstanden, das strukturierend auf Wahrnehmung, Denken und Handeln wirkt, zugleich aber dynamisch ist. Es geht einher mit einem sozialen Wissen, das in der Regel implizit bleibt und sich etwa in Vorstellungen von ‚Normalität‘ zeigt (vgl. Straub et al. 2007). Die erste Grundannahme erhält somit in der Konkretisierung eine Erweiterung: Menschen verfügen über differentes wie gemeinsames Wissen und über unterschiedliche wie gemeinsame Erfahrungen und Orientierungen entlang verschiedener Zugehörigkeitsdimensionen.
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2.2 Nationale Herkunft
2.3 Kompetenz
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Wird die Operationalisierung des Kulturbegriffs im Zuge der Analyse interkultureller Kompetenz allerdings national, d.h. auf verschiedenen Ländern zugeschriebene Traditionen verengt, können die realen transkulturellen Lebenswelten, die hybriden Identitäten und auch die Interdependenzen verschiedener Zugehörigkeiten (vgl. Krüger-Potratz & Lutz 2002; Walgenbach 2011) nicht oder nur unzureichend erfasst werden. Allein entlang nationaler Zugehörigkeit zu differenzieren, blendet die Mehrdimensionalität von Zugehörigkeiten aus und verkennt die Komplexität alltäglicher Erfahrungen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass nationale Zugehörigkeiten sich nicht auf das Leben von Menschen auswirkten, z.B. haben Bürger/innen je nach Staatsangehörigkeit Pflichten und Rechte, etwa in Bezug auf Mobilitäts- und Partizipationsmöglichkeiten. Dennoch ist die zweite Grundannahme in ihrer Engführung auf eine essentialisierende Zugehörigkeit (sei es Nationalität oder auch Religionszugehörigkeit) kritisch zu hinterfragen.
Die dritte Grundannahme geht davon aus, dass es spezifischer Fähigkeiten bedarf, wenn sich Menschen mit differenten kulturellen Orientierungen begegnen. Eine eindeutige, generell akzeptierte Definition von interkultureller Kompetenz gibt es jedoch nicht, da das Begriffsverständnis stets eng mit dem jeweiligen Forschungs- und Praxisfeld verknüpft ist. In zahlreichen Arbeiten wird interkulturelle Kompetenz, im Sinne eines „zielführenden, erfolgreichen Handelns“, an der „Effektivität und Angemessenheit“ der Kommunikation gemessen (Straub et. al 2007, S. 40). Verschiedene Fähigkeiten müssen zusammenkommen, damit eine Interaktion ‚gelingt‘. Um die Komplexität menschlicher Interaktionen in ihrer Dynamik zu erfassen, werden in Modellen zur interkulturellen Kompetenz zumeist folgende drei Kategorien hervorgehoben: Wissen, Fähigkeit und Fertigkeit. Für die soziale Arbeit hat Eppenstein (2015) die bereits genannten Kategorien um die Komponenten Haltungen, Sensibilität und pragmatische Ziele ergänzt (ebd., S. 42). Auch Wissen über Diskriminierung unter Bezug auf migrantische Herkunft oder auch die subjektive Bedeutung von Religion werden hier thematisiert. Generell handelt es sich bei den Fähigkeiten um allgemeine soziale Kompetenzen, bei denen Empathie, Rollendistanz, Ambiguitätstoleranz, kommunikative Kompetenz sowie Handlungsfähigkeit besonders hervorgehoben werden (ebd. S. 42ff). Straub kritisiert jedoch berechtigterweise, dass nicht eindeutig zu klären sei, ob alle einzelnen Komponenten dieser Modelle notwendig sind. Auch bleibe unklar, ab wann wie viele und welche Komponenten als hinreichend gelten können, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen und wie sie entstehen oder gefördert werden können (Straub 2007, S. 42f ). Die Modelle dienen daher eher einer Annäherung als einer vollständigen Erfassung des Phänomens. Die von verschiedenen Autor/innen vorgeschlagenen Modelle interkultureller Kompetenz sind komplex und zugleich umstritten, zumal die Übersetzung in praktisches Handeln mitunter schwierig ist. Weitere Kritikpunkte sind, dass nicht-westliche Perspektiven nicht berücksichtigt würden (Henze 2007) und das Zusammenspiel von internen Fähigkeiten und Verwirklichungsbedingungen (capability) des Handelns fehlten (Otto & Schrödter 2009). Grundsätzlicher ist die Kritik von Bredella im Anschluss an Tzvetan Todorov und Edward Said. Er fasst interkulturelle Kompetenz als Kapital, welches zur Ermächtigung der „eigenen Kultur“ beitrage und verweist darauf, dass ein Wissen über ‚andere‘ Kulturen auch zu deren Vernichtung beitragen könne (ebd. 2007, S. 106). Paul Mecheril plädiert in dieser Perspektive für eine „Kompetenzlosigkeitskompetenz“, für „ein professionelles Handeln, das auf Beobachtungskompetenz für die von sozialen Akteuren zum Einsatz gebrachten Differenzkategorien gründet und das von einem
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Ineinandergreifen von Wissen und Nicht-Wissen, von Verstehen und Nicht-Verstehen hervorgebracht wird, ein Ineinandergreifen, in dem die Sensibilität für Verhältnisse der Dominanz und Differenz in einer handlungsvorbereitenden Weise möglich ist“ (ebd. 2013, S. 33). Die Idee, man könne z.B. in interkulturellen Trainings spezifische Kompetenzen für ‚erfolgreiche‘ Interaktionen erlernen (Grundannahme 3), beruht auf einem einseitigen, problemorientierten und technokratischen Verständnis von Interaktionen. Diese Vorstellung kann dazu beitragen, dass alltagspraktische Erfahrungen in Interaktionen kulturalisiert und somit vorhandene Handlungskompetenzen ‚vergessen‘ werden. Für eine kooperative Praxis im pädagogischen Bereich kommt es aber eher auf eine prozessuale Kompetenz an. Personen werden dann in ihrem Handeln nicht pauschal einer Kultur zugeordnet. Vielmehr werden die mit den Handlungen verbundenen unterschiedlichen Deutungen der beteiligten Interaktionspartner/innen reflektiert (vgl. Nazarkiewicz 2013). Dies erfordert ein Sich-Einlassen auf Andere, die Bereitschaft dazuzulernen und eine nicht-essentialisierende Wahrnehmung von Anderen (vgl. Schondelmayer 2010).
3 Interkulturelle Kompetenz lernen und lehren Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Interkulturelle Kompetenz ist keine Fähigkeit, die in Trainings so vermittelt werden kann, dass die geschulten Personen in jeder Situation angemessen mit Differenzerfahrungen umgehen können. Schließlich handelt es sich hier nicht allein um ein rational-anwendbares Wissen, sondern um ein handlungspraktisches Können und eine Haltung, deren Entwicklung Zeit und Praxis benötigt. Zudem sind Interaktionen zwischen Menschen sehr komplex. Sie sind zum Beispiel durch Interessen, Wünsche, Rollen, soziale Positionen, Machtverhältnisse, Situationsdefinitionen und -anforderungen bedingt und beeinflusst. Es gibt verschiedene Methoden zur Vermittlung und Einübung interkultureller Kompetenz bzw. interkultureller Sensibilität (vgl. Weidemann et al. 2010). Für den Erwerb interkultureller Kompetenz bedarf es eines Raums, um die eigenen Vorannahmen, die Erfahrungen mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen, aber auch unterschiedliche Deutungen von Situationen reflektieren zu können (vgl. Doğmuş et al. 2016). Auch ein Hineinwachsen in kulturell diverse Milieus und praktische Erfahrungen mit differenten Deutungsmustern können eine Form interkultureller Kompetenz hervorbringen, die weniger reflektiert ist, aber in der Praxis einige der beschriebenen Komponenten aufweist. Literatur
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und Interkulturell Vergleichende Erziehungswissenschaft 8 (2), S. 81-92. – Mecheril, Paul; Castro Varela, Maria do Mar; Dirim, İnci; Kalpaka, Annita & Melter, Claus (2010): Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz. – Mecheril, Paul (2013). „Kompetenzlosigkeitskompetenz“. Pädagogisches Handeln unter Einwanderungsbedingungen. In: Georg Auernheimer (Hg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. 4. durchges. Aufl. Wiesbaden: VS, S. 15-34. – Moosmüller, Alois (2007): Lebenswelten von ‚Expatriates‘. In: Jürgen Straub; Arne Weidemann & Doris Weidemann (Hg.): Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder. Stuttgart: J.B. Metzler, S. 480-488. – Nazarkiewicz, Kirsten (2013): Hürden und Lösungen in interkulturellen Settings. In: Katharina von Helmolt; Gabriele Berkenbusch & Wenjian Jia (Hg.): Interkulturelle Lernsettings. Konzepte - Formate - Verfahren. Stuttgart: Ibidem, S. 43-84. – Otto, Hans-Uwe & Schrödter, Mark (2009). „Kompetenzen“ oder „Capabilities“ als Grundbegriffe einer kritischen Bildungsforschung und Bildungspolitik? In: Hans-Hermann Krüger; Ursula Rabe-Kleberg; Rolf-Torsten Kramer & Jürgen Budde (Hg.): Bildungsungleichheit revisited. Wiesbaden: VS Verlag, S. 163-185. – Schondelmayer, Anne-Christin (2010): Interkulturelle Handlungskompetenz. Entwicklungshelfer und Auslandskorrespondenten in Afrika. Eine narrative Studie. Bielefeld: transcript. – Straub, Jürgen (2007): Kompetenz. In: Jürgen Straub; Arne Weidemann & Doris Weidemann (2007): Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Stuttgart: Metzler, S. 35-46. – Straub, Jürgen; Weidemann, Arne & Weidemann, Doris (Hg.) (2007): Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe - Theorien - Anwendungsfelder. Stuttgart: Metzler. – Thomas, Alexander (1985): Interkultureller Austausch als interkulturelles Handeln - Theoretische Grundlagen der Austauschforschung (SSIP-Bulletin Nr. 56). Saarbrücken: Verlag Breitenbach. – Walgenbach, Katharina (2011): Intersektionalität als Analyseparadigma kultureller und sozialer Ungleichheiten. In: Johannes Bilstein; Jutta Ecarius & Edwin Keiner (Hg.): Kulturelle Differenzen und Globalisierung. Herausforderungen für Erziehung und Bildung. Wiesbaden: VS Verlag, S. 113-132. – Weidemann, Arne; Straub, Jürgen & Nothnagel, Stefanie (Hg.) (2010): Wie lehrt man interkulturelle Kompetenz? Theorien, Methoden und Praxis in der Hochschulausbildung. Ein Handbuch. Bielefeld: transcript.
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9 Interkulturalität – Multikulturalität – Transkulturalität Ludger Pries und Martina Maletzky
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1.2 Grundlegende Diskurse
Interkulturalität, Multikulturalität und Transkulturalität sind Begriffe, die sich auf die Voraussetzungen, Formen und Folgewirkungen von Austauschbeziehungen zwischen verschiedenen „Kulturen“ beziehen. In allen Begriffen wird dabei unterstellt, dass sich „Kulturen“ als mehr oder weniger kohärente Ganzheiten voneinander unterscheiden lassen. Der Begriff der Kultur wird dabei sehr unterschiedlich verwendet. Im Folgenden wird unter Kultur allgemein ein sozial erlerntes (nicht genetisch vererbtes) komplexes Handlungsskript für soziale Gruppen verstanden, welches sich in sozialer Praxis (sich begrüßen, kleiden, ernähren, Initiations-, Heirats- und Sterberitualen etc.) sowie in Symbolsystemen (Sprache, Werte, Normen, Recht etc.) und Artefaktstrukturen (Werkzeugen, Gebäuden, Institutionen, Techniken etc.) niederschlägt. Die Begriffe Interkulturalität, Multikulturalität und Transkulturalität fokussieren auf verschiedene Aspekte des Kontaktes und Austausches zwischen so verstandenen Kulturen sowie der daraus erwachsenden Resultate. Interkulturalität bezeichnet im weitesten Sinn einen Interaktionskontext, bei dem Personen mit unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeit interagieren, sowie das Ergebnis dieser Interaktionen. Der Begriff Multikulturalität hingegen wird häufiger im politischen Diskurs verwendet, er beschreibt die parallele Existenz mehrerer kultureller Gruppen auf einem nationalstaatlich organisierten Flächenraum und geht oft mit einer Diskussion um Minderheitenrechte einher. Davon hebt sich Transkulturalität ab. In Abgrenzung von einem substantialistischen Kulturverständnis – wie es oft in den Begriffen Interkulturalität und Multikulturalität impliziert ist – wird hier von Kulturen als hybriden und fluiden Gebilden ausgegangen. Während der Begriff Interkulturalität aufgrund seines Präfixes „Inter“ ein Zwischen der Kulturen suggeriert, bezieht sich Transkulturalität auf etwas Übergreifendes und die National- bzw. Einzelkulturen Transzendierendes. Der Begriff wird vielfach in literaturwissenschaftlichen Analysen oder postkolonialen Studien als hermeneutischer Bezugsrahmen verwendet, wobei die bestehenden Herrschaftsverhältnisse und Absolutheitsansprüche von dominanten Kulturen und nationalistischen Diskursen hierdurch hinterfragt werden sollen. In Anlehnung an Konzepte der Transnationalisierung der sozialen Welt (Pries 2007, 2010) kann Transkulturalität auch als komplexes Handlungsskript verstanden werden, welches sich über uni-lokale und nationalstaatliche Grenzen hinweg bei gleichzeitiger pluri-lokaler Verortung aufspannt.
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Ludger Pries und Martina Maletzky
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1 Interkulturalität, Interkultur, interkulturelle Kommunikation Der Präfix „Inter“ im Wort Interkulturalität deutet auf ein Zwischen der Kulturen hin, also auf einen zwischenkulturellen Zustand, bei dem es zu kulturellen Missverständnissen kommen kann. Der Kommunikationsprozess wird im Kontext von Interkulturalität als störanfällig gesehen (Hinnenkamp 1999), da in diesem Fall Menschen ihr eigenes kulturelles Bezugssystem als selbstverständlich erachten und zur Norm erklären. Diese Selbstverständlichkeit wird erst hinterfragt, wenn es z.B. durch Missverständnisse zu Irritationen kommt, wodurch das diskursive Bewusstsein (Giddens 1997) aktiviert wird und Anpassungsleistungen der Interaktionspartner/in erforderlich werden (Maletzky 2013). Denn bei der Begegnung von Angehörigen einer Kulturgruppe mit solchen einer anderen Kulturgruppe kommt es zu kulturellen Überschneidungssituationen, in denen es nicht mehr ausreicht, allein aus dem eigenen kulturellen Orientierungssystem heraus zu handeln. Deutungen und Interpretationen müssen in der Interaktion überprüft, verifiziert, eventuell neu ausgehandelt werden. Fremdes wird für das Eigene bedeutsam und es kommt zu wechselseitigen Beziehungen zwischen Eigenem und Fremdem (Thomas 2005, S. 46), die als interkulturell bezeichnet werden können (zu Abschnitt 1 siehe ausführlich Pries et al. 2011). Der Begriff Interkulturalität birgt in verschiedener Hinsicht ein kritisch zu sehendes Potential: Ein Zwischen den Kulturen suggeriert ein zugrundeliegendes Kulturkonzept, das Kulturen als statische, in sich geschlossene Gebilde sieht (etwa Welsch 1999), die sich nach Wolf (1982) wie Billardkugeln voneinander abstoßen und so Konflikte verursachen können. Die Annahme statischer und in sich abgeschlossener, allein in sich ruhender und sich aus sich selbst heraus stabilisierender Kulturen wird jedoch in der Ethnologie und Soziologie als längst überholt angesehen. Kulturen werden heute als dynamische, situative Konstrukte gesehen, die sich in einem ständigen Veränderungsprozess befinden, der sowohl endogen als auch durch soziale Interaktionen zwischen kulturell unterschiedlichen Einzelnen und Gruppen angetrieben ist. Dreher und Stegmaier (2007, S. 7f ) haben betont, dass Kulturen an sich nicht miteinander in Kontakt treten, sondern Menschen unterschiedlichen kulturellen Hintergrunds: „Es sind nicht ‚die Kulturen‘, also die kulturellen Systeme selbst, die sich begegnen – begegnen können sich nur Menschen. Diese tragen immer schon die Erfahrungen des Andersseins gegenüber den begegnenden Individuen und deren sozialen Welten in sich. Verständigung ist allenfalls approximativ möglich.“ Aufgrund kultureller Unterschiede kann es im Rahmen dieser Begegnungen zu Missverständnissen kommen. Andererseits und damit verbunden kann nach neuerem Begriffsverständnis Interkulturalität kein Zustand sein, sondern sollte in Anlehnung an ein prozessorales Kulturverständnis (siehe Beitrag „Kultur“ in diesem Band) eher als ein sozialer Prozess verstanden werden (Maletzky 2013), bei dem u.U. etwas Neues – eine Interkultur – entsteht. Dementsprechend unterliegt auch das Forschungsparadigma zu Interkulturalität einem Wandel. Nach einer zunächst starken Verbreitung von kulturvergleichender Forschung, die versucht hatte, Kulturen in einer begrenzten Anzahl von Dimensionen zu beschreiben und aus den sich ergebenden Unterschieden Handlungsempfehlungen abzuleiten (siehe etwa die Arbeiten von Alexander Thomas, Geert Hofstede etc.), kommt es vermehrt zu Forderungen, die interkulturelle Interaktion mit ihrer Eigendynamik in den Blick zu nehmen. So betont Müller-Jacquier: „Forschungen zur Interkulturellen Kommunikation müssen immer als Wirkungsforschung verstanden werden. Damit wird das Verhalten von Personen in interkulturellen Situationen nicht nur aufgrund ihrer eigenkulturellen Sozialisation (kontrastiv) erklärt, sondern auch als Produkt eines wechselseitigen Interpretations- und Anpassungsprozesses, das im Extremfall stark von in den jeweiligen Einzelkulturen praktizierten Verhaltensnormen abweichen kann [...] und situa-
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Interkulturalität – Multikulturalität – Transkulturalität
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tive Neuschöpfung zeigt“ (Müller-Jacquier 2000, S. 25). Jürgen Bolten bezeichnete Interkultur 1996 als eine neue symbolische Ordnung, die in einem permanenten Aushandlungsprozess generiert und immer wieder verändert und neu befestigt wird. Interkultur wird somit als ein dynamischer Prozess konzeptioniert, in dem Interaktionsmuster erzeugt werden, die für beide Partner/innen des Kommunikationsprozesses akzeptabel sind und handlungsleitend werden. Wie Interkultur bzw. Interkulturalität letzten Endes aussieht und wie sie die Interaktion der beteiligten Akteur/innen beeinflusst bzw. aus dieser hervorgeht, hängt von dem sozialen Kontext mit seinen Machtverhältnissen, Sinn- und Legitimationsstrukturen ab, in den sie eingebettet ist (Maletzky 2013). Interkulturalität stellt insofern eine Herausforderung für die Pädagogik dar, als kulturelle Unterschiede sich auf den Lern- und Interaktionsprozess auswirken können. Im Hinblick auf Leistungsbewertung können unterschiedliche Arten der Kommunikation, des Impression Managements und der Beteiligung am Unterricht u.U. zu Fehleinschätzungen durch den Lehrkörper führen, wenn Lehrer/innen die eigenen Bewertungsmaßstäbe unhinterfragt als Grundlage der Evaluation nehmen. Während Interkulturalität also die Mikroebene der Interaktion (mit ihrer Einbettung in gesellschaftliche Strukturen) fokussiert, bezieht sich der Begriff Multikulturalität eher auf die Makroebene, die Ebene der Gesellschaft.
2 Multikulturalität Multikulturalismus ist zu einem Leitbegriff geworden, mit dem moderne Einwanderungsgesellschaften ebenso beschrieben werden wie Gesellschaften, die durch indigene Bevölkerungsgruppen eine kulturelle Heterogenität aufweisen. Dabei blicken die klassischen Einwanderungsländer wie USA, Kanada und Australien bei der Diskussion über das multikulturelle Zusammenleben auf eine längere Geschichte zurück als Deutschland. In Deutschland wird „Multikulturalismus“ erst seit Anfang der 1980er thematisiert (Neubert et al. 2013) und dies bezogen auf die Zugewanderten (Allochthone), nicht auf einheimische sprachlich-kulturelle Minderheiten (Autochthone). Die Diskussion wird hier eher punktuell und teilweise für politische Zwecke instrumentalisiert geführt. Im anglo-amerikanischen Sprachraum dominiert seit den 1970er Jahren ein Streit zwischen Kommunitaristen und Liberalen, die gegensätzliche Standpunkte dazu vertreten, wie mit Multikulturalität und einer multikulturellen Gesellschaft umgegangen werden sollte. Die Kommunitaristen stellen die Freiheit der Gruppe in den Vordergrund, während die Liberalen die Freiheit der Individuen über die der Gruppe stellen. Kernpunkte sind dabei Fragen der Anerkennung von Minderheiten und deren kulturellen Wert- und Normensystemen sowie Fragen der Befürwortung von Sonderrechten (wie etwa bei dem Multikulturalismustheoretiker Kymlicka 1995) und der Autonomie für Minderheitenkulturen (z.B. Kukathas 2003). Diskutiert wird auch, ob es sich bei Multikulturalität um eine Bereicherung oder um ein Problem handelt, wie eine formale Gleichberechtigung auch bei Angehörigen von ethnischen Minderheiten erreicht und wie Inklusion durch politische Maßnahmen herstellgestellt werden kann (Sheikhzadegan 2012; Neubert et al. 2013). Politische Maßnahmen zum Umgang mit Multikulturalität können von einer Förderung der Demokratisierung durch die Vertretung von Minderheiten in Parlamenten über eine Umverteilung von Ressourcen zur Besserstellung von benachteiligten Minderheiten (etwa affirmative action), besonderer Hilfestellung und Schutz der Angehörigen unterschiedlicher Kulturen bis hin zu einer öffentlich-rechtlichen Anerkennung einer Minorität oder die Gewährung der Autonomie reichen. Es gibt jedoch auch Stimmen, die die Gefahr zu weit reichender Toleranz in mul-
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Ludger Pries und Martina Maletzky
tikulturellen Gesellschaften und bei bestimmten Rechten ethnischer Minderheiten betonen. In diesen Auseinandersetzungen wird zumeist mit universalistischen (oft westlich geprägten) Werten argumentiert, die einer (modernen) Gesellschaft zugrunde liegen sollten und von denen eine Abweichung nicht tolerabel sei (wie etwa bei Beschneidungen, Gesichtsvollverhüllungen etc.). Es wird auch hervorgehoben, dass gemeinsame Werte und Richtlinien mehr sozialen Zusammenhalt hervorbringen (Castles 1997) und u.a. auch zum Erhalt des Gemeinwohls notwendig sind. Dabei wird die Diskussion gerade um Werte und Normen nicht nur auf wissenschaftlicher, sondern auch auf populärwissenschaftlicher oder gar populistischer Ebene geführt. In Deutschland wandelt sich der politische Diskurs von einer lange vorherrschenden Defizitorientierung, basierend auf der Annahme, dass kulturelle Vielfalt mit entstehenden oder existenten Parallelwelten einhergehe und entsprechend Benachteiligungen bestimmter kultureller Gruppen behoben werden müssten, hin zu einer tendenziell positiven Bewertung kultureller Vielfalt und der (verspäteten) Anerkennung, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei (Geißler 2003). Dies geht nicht zuletzt mit der Einsicht einher, dass bestehende gesellschaftliche Defizite wie etwa der Fachkräftemangel oder die Überalterung der Gesellschaft auch durch substantielle Einwanderungen bekämpft werden sollten. Auch setzt man, wie anhand des Integrationsgipfels in Deutschland 2006 sichtbar wurde, auf die voice-Strategie (Murphy 2012), nach der die Angehörigen kultureller Minderheiten die Möglichkeit haben sollten, ihre Stimme im politischen Diskurs zu erheben. Kritisiert wird dabei von Einigen die Einschränkung der politischen Diskussion auf Minderheitenvertreter/innen, die ohnehin schon westliche Werte vertreten, wodurch im nationalen Aktionsplan auch eher ein Konsens mit den Leitwerten der Mehrheitsgesellschaft sichtbar werde (Nájera-Núnez 2013). Der Umgang mit Vielfalt sei somit auf einen universalistischen und assimilatorischen Diskurs ausgerichtet (Miera 2007), und dies begünstigte die Ansicht, dass sich Minderheiten im Idealfall einer Leitkultur unterordnen sollten (Jahn 2012). In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, wie mit migrationsbedingter kultureller Vielfalt in Deutschland umzugehen sei, wurden auch Stimmen laut, die auf den Begriff der Integration oder auch auf die amtliche Bezeichnung ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ – wegen deren ‚mehrheitsgesellschaftlichen Zumutungen‘ – ganz verzichten wollen. Das Gegenargument lautete, dass Chancenungleichverteilungen, etwa auf dem Arbeitsmarkt oder im Bildungsbereich, die mit migrationsbedingter Vielfalt zusammenhängen, nur dann untersucht werden können, wenn entsprechende Indikatoren und darauf bezogene Messungen vorlägen, aufgrund derer dann Maßnahmen zur Verbesserung von Teilhabe und Zughörigkeit entwickelt werden könnten (Pries 2012). Herausforderungen der Multikulturalität für die Pädagogik ergeben sich durch ungleichen Zugang von Minderheiten zu (Bildungs-)Ressourcen und durch die erweiterten Möglichkeiten, aber auch besonderen Probleme, die mit verschiedenkulturellen Voraussetzungen, Formen und Umgangsweisen von bzw. mit Wissen und Lernen verbunden sind.
3 Transkulturalität Der Begriff Transkulturalität ist weniger prominent als die Begriffe Interkulturalität und Multikulturalität. Wolfgang Welsch (1999) setzt Transkulturalität im weitesten Sinne mit Hybridität oder Glokalisierung gleich und stellt damit die Vorstellung von Kulturen, die in sich abgeschlossen und gleichsam in Reinform vorkommen, in Frage. Transkulturalität ist das Resultat einer Ausdifferenzierung von Kulturen. Demnach sind Kulturen schon immer eine Mischform und werden durch innere Dynamiken (wie kollektive Mobilisierung im Namen einer spezifischen Kultur) und äußere Einflüsse (wie Globalisierung oder Migration) immer neu vermischt und
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Interkulturalität – Multikulturalität – Transkulturalität
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miteinander vernetzt. Transkulturalität ist somit das lokale Ergebnis globaler bzw. universaler und kulturindifferenter Phänomene. So kann z.B. eine „Pizza Curry Wurst“, die es zuweilen in deutschen Schnellimbissen zu kaufen gibt, ein transkulturelles Artefakt sein, das mit der ursprünglichen Pizza, wie sie in Italien gegessen wird, nur noch wenig gemein hat, sondern vielmehr ein genuin neues Kulturprodukt aus unterschiedlichen Elementen ist. Gerade in der Transmigration als Spezialform von Migration kann ein Motor von Transkulturalität gesehen werden. Mit den Begriffen transnational und Transnationalisierung werden „grenzüberschreitende Phänomene verstanden, die – lokal verankert in verschiedenen Nationalgesellschaften – relativ dauerhafte und dichte soziale Beziehungen, soziale Netzwerke oder Sozialräume konstituieren“ (Pries 2010, S. 13). Dabei sind Transmigrant/innen idealtypisch dadurch gekennzeichnet, dass sich ihre Lebenspraxis und Lebensprojekte als Sozialraum zwischen Orten in verschiedenen Ländern und Kulturen aufspannen (z.B. Pries 1997), wobei physische Pendelbewegungen zwischen dem Ankunftsland und dem Herkunftsland vorkommen (können), aber angesichts moderner Informations- und Kommunikationstechnologien nicht der einzige und meistens auch nicht der wesentliche Mechanismus der Reproduktion transnationaler sozialer Beziehungen und Sozialräume sind. Transmigration und transnationale Sozialräume strahlen hinsichtlich der damit verbundenen grenzüberschreitenden Alltagspraktiken und Identitäten (z.B. kommunizieren, sich informieren, Kleidungsformen, Essgewohnheiten), der Symbolsysteme (z.B. Sprachmischformen, Normen und Werte) und der Artefaktestrukturen (z.B. Einrichtung von Dönerbuden oder Teehäusern, spezialisierte Lebensmittelläden, Migrantenvereine und Bethäuser) sowohl in den Herkunfts- wie auch in den Ankunftsregionen auf die dortigen Sozialräume aus und führen zu neuen kulturellen Praxen, Symbolsystemen und Artefakten. Kritisch anzumerken bleibt gegenüber dem Konzept der Transkulturalität, dass es häufig als eine Zusatzform von Kulturäußerungen der Menschen verstanden wird, die auf den mehr oder weniger homogen gedachten bestehenden Lokal- und Nationalkulturen aufbaut bzw. sich derer gleichsam als Steinbrüche für die Herausbildung von etwas grenzüberschreitend Neuem bedient. Entsprechend wird Transkulturalität z.B. bei Welsch auf moderne Gesellschaften und aktuelle Entwicklungen begrenzt betrachtet. Wanderungen und Kulturkontakte sind aber so alt wie die Menschheit. In Grenzgebieten, aber auch durch Eroberungen, Kriege und Handel haben die Handlungsskripte sozialer Gruppen, wie sie sich in sozialer Praxis, in Symbolsystemen und Artefaktestrukturen niederschlagen, immer schon wechselseitig beeinflusst. So verstandene Transkulturalität ist also kein modernes Phänomen. Gleichwohl sollte aber betont werden, dass z.B. aufgrund moderner Transport- und Kommunikationsmittel grenzüberschreitende Kulturkontakte im 21. Jahrhundert für alle Menschen zugänglich und zumeist auch gelebte Alltagspraxis sind, etwa in Form medialen Konsums. Herausforderungen und auch Chancen der Transkulturalität für die Pädagogik ergeben sich auch aus den multiplen Verortungen von Lernenden und – weniger häufig – von Lehrenden. Denn eigentlich müsste und könnte Transkulturalität als Chance sowohl in die Inhalte wie auch in die Formen des Lehrens und Lernens Eingang finden. Sehr häufig aber werden transkulturelle Lernumgebungen noch vorwiegend in einer Defizitperspektive wahrgenommen. Wenn z.B. in Kindergärten oder Schulen eindeutige kulturelle Zuordnungen verlangt werden, wo eigentlich transkulturelle Bedingungen eine große Rolle spielen, kann dies zu psychischen Beeinträchtigungen, Exklusionsprozessen und Nichtnutzung von Potentialen führen.
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Ludger Pries und Martina Maletzky
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Diversity
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Gegenstand des Beitrags sind Diversity-Ansätze und deren Bedeutung für interkulturelle Bildung und Forschung. Auf allgemeine definitorische Überlegungen folgt eine Einordnung in den Entstehungskontext, ausgehend von den sozialen Protestbewegungen in den USA und der Reaktionen im Zuge der politisch-rechtlichen Entwicklungen in Europa bzw. in Deutschland. Im Anschluss werden unterschiedliche politische, soziologische und pädagogische Zugänge zu Diversity vorgestellt und mit Bezugnahme auf andere, frühere pädagogische Ansätze, die Herausbildung von Diversity Education seit den 2000er Jahren dargestellt.
1 Begriffsfeld Diversity Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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10 Diversity Viola B. Georgi
Diversity bedeutet Verschiedenheit und Vielfältigkeit. Oft werden Begriffe wie Vielfalt, Verschiedenheit, Differenz, Heterogenität und Diversität synonym verwendet, um die Verschiedenheit von Menschen zu beschreiben, ohne zu hierarchisieren. Der Blick richtet sich auf die sich vielfältig überschneidenden Differenzlinien, die für die soziale Positionierung jeder bzw. jedes Einzelnen entscheidend sind. Dies gilt für die Unterschiede wie Gemeinsamkeiten von Menschen wie für die Zuordnung zu Gruppen mit entsprechenden Zuschreibungen, durchaus auch unabhängig davon, ob die Einzelnen sich mit dieser Zuordnung identifizieren oder nicht. Die Diversity-Perspektive thematisiert soziale Differenzierungen und stellt gesellschaftliche, auf Homogenität ausgerichtete Normalitätsvorstellungen in Frage, indem sie Verschiedenheit als Normalfall propagiert. In der Praxis wird dies häufig mit dem Motto „Es ist normal, verschieden zu sein“ übersetzt. Mit dieser gut gemeinten ‚Normalisierung’ von Differenz geht jedoch die Gefahr einher, die Macht von Differenzmarkierungen zu leugnen. Diversity steht für die Mannigfaltigkeit der wirkenden Differenzlinien und die Heterogenität individueller und kollektiver Identitäten, etwa bezogen auf soziale Herkunft, Ethnizität, Religion, sexuelle Orientierung, Behinderung, Alter und Geschlecht. Diversity umfasst individuelle ebenso wie gruppenbezogene Merkmale von Menschen. Einige der Merkmale sind – wenn auch manchmal nur unter Schwierigkeiten – veränderlich, andere weniger oder gar nicht beeinflussbar. Zu ersteren gehören Merkmale wie Staatsangehörigkeit, Religion, Sozialstatus oder sprachliche Herkunft, zu letzteren körperbezogene Merkmale wie Alter, Behinderung oder auch Geschlecht. Diversität ist immer auch Ergebnis sozialer Konstruktionsprozesse, d.h. dass Verschiedenheit durch Praktiken des „doing difference“ (Fenstermaker & West 2002) erst hervorgebracht wird. Diversity-Ansätze richten den analytischen Blick auf die Komplexität von Identitätsbildungsprozessen und damit auf die Einzigartigkeit des Individuums. Klassifizierungen jeglicher Art werden verworfen und stattdessen wird auf die Ermöglichung und Achtung der Individualität jedes Einzelnen im Sinne der Menschenrechte gesetzt (Prengel 2013, S. 12). Zugleich gilt aufgrund der verschiedenen Diversity-Ansätzen innewohnenden machtkritischen Perspektive die besondere Aufmerksamkeit der Frage, weshalb bestimmte soziale, kulturelle, sprachliche oder religiöse Orientierungen und Zugehörigkeiten von Individuen, z.B. im Bildungssystem oder
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Viola B. Georgi
auf dem Arbeitsmarkt, mit Benachteiligungen, Diskriminierung und Exklusion einhergehen, während andere Zugehörigkeiten privilegiert werden. Der Begriff Diversity hat in den letzten Jahren Karriere gemacht und in unterschiedliche Bereiche von Politik und Gesellschaft Eingang gefunden, ohne dass er dadurch an Kontur gewonnen hätte. Im Gegenteil, der Begriff entzieht sich, auch durch seine interdisziplinäre Verortung, den Versuchen, eine eindeutige Definition zu finden. Dies liegt u.a. daran, dass Diversity Ansätze tradierte, scheinbar naturgegebene Ordnungsvorstellungen infrage stellen und zugleich neue Ordnungsvorstellungen anbieten, in deren Zentrum die Anerkennung von Pluralität und Heterogenität stehen. Diversity ist daher eher als Diskurs zu verstehen, „in dem die Frage des angemessenen politischen, rechtlichen, ökonomischen und pädagogischen Umgangs mit gesellschaftlicher Vielfalt thematisiert wird“ (Hauenschild et al. 2013, S. 16). Auslöser für diesen Diskurs sind die Pluralisierung der ‚nationalen Gesellschaft’, gerade auch durch Migration sowie – damit einhergehend – ein gestiegenes Bewusstsein für Diskriminierung sowie generell Tendenzen der Individualisierung. Aus dieser Zunahme „hochgradig differenter Wissensformen, Lebensentwürfe und Handlungsmuster“ erwachse, so Wolfgang Welsch (2002, S. 5), die Notwendigkeit nach vielfältiger Anerkennung. Dies ist sowohl für die erziehungswissenschaftliche Forschung und Theoriebildung als auch für die praktische Gestaltung des Erziehungs- und Bildungswesens folgenreich. Aufgabe der Erziehungs- und Sozialwissenschaften ist es, theoretische, empirische und konzeptuelle Modelle zu entwickeln, die erfassen und erklären können, wie Diversity in unterschiedlichen Kontexten von Bildung und Erziehung zum Ausdruck gebracht und bearbeitet wird und welche Folgen dies für die Organisation und die Gestaltung von Bildung hat.
2 Ressourcenorientierung Der Diversity-Begriff ist positiv konnotiert, weil er die Wertschätzung der Pluralität von Lebensweisen und Bedürfnissen unterstreicht. Er verweist auf Vielfalt und Verschiedenheit als gesellschaftliche Ressource; durch die Wahrnehmung und Anerkennung von Diversity soll Benachteiligungen entgegengewirkt werden. Diese Ressourcenorientierung speist sich vornehmlich aus zwei Diskurssträngen: Der erste Strang kann als utilitaristisch oder auch affirmativ bezeichnet werden. Diversity wird im Rahmen von Diversity Management in der Wirtschaft als affirmatives Konzept der Unternehmensführung eingesetzt, um insbesondere im Bereich der Personalentwicklung, die Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen zu steigern (Engel 2004). Der zweite Diskursstrang kann als eher normativ-demokratisch oder auch machtkritisch charakterisiert werden: Diversity wird dabei einerseits aus Menschenrechts- und Antidiskriminierungsperspektive bewusst berücksichtigt und anerkannt, andererseits als Folge von Herrschaftsstrukturen und mit diesen einhergehenden Ungleichheitsverhältnissen reflektiert (Nestvogel 2008, S. 23). In Konsequenz wird die Notwendigkeit betont, eine kritische Sicht auf Normalitätsvorstellungen wie -erwartungen von Individuen und Organisationen zu entwickeln, Prozesse des Fremdmachens (othering) zu erkennen, jedes Individuum mit seinen Besonderheiten anzuerkennen, mithin allen Formen der Ungleichbehandlung entgegenzuwirken und Chancengleichheit zu verwirklichen. In dieser Denkbewegung offenbart sich zugleich ein normativer Anspruch. Das gemeinsame der beiden Diskursstränge ist, dass sie – ungeachtet aller Unterschiede – Diversität als Ressource verstehen. Dies mag u.a. der Tatsache geschuldet sein, dass die Diversity Studies, ebenso wie Konzepte des Diversity Management aus den am Gleichheitsprinzip orientierten Anerkennungskämpfen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen hervorgegangen sind, wie etwa der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA oder auch der Frauenbewegung.
Diversity
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Diversity und Intersektionalität sind in engem Zusammenhang zu betrachten. Diversität verweist auf die Vielzahl von Differenzlinien. Intersektionalität hebt die Verschränkungen und Überlappungen dieser Differenzlinien hervor. Insbesondere geht es darum, die Überschneidung von verschiedenen Differenzlinien sichtbar zu machen, die Diskriminierung verstärken oder verringern können (Walgenbach 2014). Inspiriert wurde diese Perspektive zunächst durch die „schwarze“ Frauenbewegung („Black Feminism“) in den USA, die erstmals „multiple Diskriminierungserfahrungen“ entlang der Kategorien race, class und gender thematisierte und vor diesem Hintergrund auch die Fehlentwicklung von Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsmaßnahmen kritisierte (Crenshaw 1989). Diversity Ansätze, die sich eine intersektionale Perspektive zu eigen machen, untersuchen demnach Berührungspunkte, Ähnlichkeiten und Überschneidungen von Diskriminierung (Krüger-Potratz & Lutz 2002). Auf diese Weise ermöglichen sie die Analyse der gesellschaftlichen Herstellung von In- und Exklusion entlang dieser Differenzlinien.
4 Politisch-rechtliche Rahmungen von Diversity: Europa und Deutschland Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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3 Intersektionalität
Auch in Europa lässt sich eine stetig wachsende Bedeutung der Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Diversität beobachten. Internationalisierungs- und Globalisierungsprozesse und darin eingebettet Migration haben zu einer nachhaltigen gesellschaftlichen Pluralisierung beigetragen und damit das Thema Diversity auch auf die politisch-rechtliche Agenda in Deutschland wie in Europa gesetzt: 1999 z.B. ist der Amsterdamer Vertrag (Artikel 13 EG-Vertrag) mit einem umfassenden Diskriminierungsverbot in Kraft getreten, 2000 folgte die Verabschiedung der EU Grundrechtecharta (Charta of Fundamental Rights), in der die Gleichstellung und Gleichbehandlung aller EU-Bürger und -Bürgerinnen rechtlich verbürgt ist. Für Deutschland sind die Verabschiedung des neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes 2000, das Zuwanderungsgesetz von 2005, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von 2006 sowie das Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention 2009 und die damit einhergehende Hinwendung zu inklusiven Konzepten zu nennen. Mit diesen Änderungen und den sie begleitenden Diskussionen wurden nicht nur rechtliche, sondern auch entscheidende diskursive Weichen gestellt. Gleichzeitig wurden und werden die Debatten um Diversität und gesellschaftliche Teilhabe – ähnlich wie in den USA – durch soziale Bewegungen stimuliert, etwa durch die Frauenbewegung, die Behindertenrechtsbewegung oder neuerdings durch die Formierung von People of Color. Hier wird der Anspruch formuliert, für alle rassifizierten, d.h. von Rassismus betroffenen Menschen, zu sprechen. Im Zuge dieser Entwicklungen brachten und bringen die genannten sozialen Bewegungen Perspektivwechsel, Gesellschaftsanalysen, empirische Forschung und Theorien hervor, die unter dem Sammelbegriff Diversity Studies diskutiert werden (Krell et al. 2007). Hierzu gehören etwa die Gender-, Disability-, Queer- und Postcolonial Studies sowie verschiedene Strömungen der Cultural Studies. Es gehört zum Verdienst der mit diesen Theorierichtungen verbundenen sozialen Bewegungen, die gesellschaftlichen Differenzverhältnisse grundlegend mit Bezug auf Macht und Ungleichheit thematisiert und Untersuchungen angestoßen zu haben (Mecheril & Plößner 2009, S. 1).
5 Diversity Education In den USA und Kanada wurden die Debatten um die Bedeutung von Diversität für die Gestaltung von Bildungsprozessen und die Organisation von Bildungsinstitutionen angestoßen
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durch die sozialen Bewegungen seit den späten 1960er Jahren geführt. Unterdessen haben diese Debatten nicht nur Niederschlag in vielfältigen Konzepten von „multicultural education“, „culturally responsive education“ oder eben auch „diversity education“ gefunden, sondern sind auch Teil von Lehrerausbildung, Rahmenplänen, Curricula, Unterrichtspraxis und Schulentwicklung geworden (vgl. Applebaum 2002). Im deutschsprachigen Raum lässt sich seit Mitte der 1990er Jahre eine Verdichtung der erziehungswissenschaftlichen Diskurse um Diversity beobachten. Seit Beginn der Jahrtausendwende wird Differenz – in der Auseinandersetzung mit Intersektionalität – verstärkt thematisiert (Lutz & Wenning 2001; Krüger-Potratz & Lutz 2002). Die Thematisierung von Differenz in der Erziehungswissenschaft ist mit der Aufforderung verbunden, Differenz anzuerkennen, d.h. die unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden in der Gestaltung von Bildungsprozessen angemessen zu berücksichtigen. In der Folge entstanden pädagogische Konzepte, die Differenz zu ihrer zentralen Bezugsgröße machten: etwa die feministische Pädagogik, die integrative Pädagogik und die interkulturelle Pädagogik. Diese drei an jeweils einer Differenzlinie (Geschlecht, Behinderung, Kultur und Sprache) festgemachten Zugänge zum pädagogischen Handlungsfeld werden im Kontext von Diversity Education miteinander verbunden. Ein Beispiel hierfür ist der Entwurf einer „Pädagogik der Vielfalt“ (Prengel 1993). Rückblickend lässt sich folgende Entwicklung in den gesellschaftspolitischen und pädagogischen Diskursen nachzeichnen (Krüger-Potratz 2005; Nohl 2014): In den 1970er Jahren reagierte die Bildungspolitik mit der sog. Ausländerpädagogik auf die Einwanderung von Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen und ihren Familien. Diese war von einer Defizitannahme geprägt, denn schulische Probleme von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund wurden durch eine Divergenz zwischen Herkunftskultur und deutscher Kultur erklärt. Die sich in den 1980er Jahren entwickelnde Interkulturelle Pädagogik basierte im Gegensatz zur Ausländerpädagogik nicht auf einer Defizit- sondern einer Differenzperspektive. Die Kultur der Zugewanderten und ihrer Kinder wurde fortan nicht mehr als defizitär, sondern lediglich als different zur Kultur der „Einheimischen“ betrachtet (Nohl 2014, S. 9). Im Kern ging es darum, alle in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen unabhängig von ihrer Herkunft für das Leben in einer ethnisch, sprachlich und kulturell pluralisierten Gesellschaft zu befähigen. Dabei folgte die Interkulturelle Pädagogik der Prämisse, alle Kulturen als gleichwertig anzuerkennen und mit kultureller Vielfalt leben zu lernen. In dieser Absicht wurde aber häufig auch ein statisches Kulturverständnis gepflegt. Seit Mitte der 1990er Jahre richtete sich der Blick bewusst auf die Vielfalt von Heterogenitätsdimensionen, so dass kulturelle Verschiedenheit nur als ein Aspekt unter vielen anderen Differenzlinien analysiert wurde. Auf diese Weise wurde „Kultur“ als kontextabhängige und dynamische Kategorie betrachtet, die eng mit anderen Differenzkategorien verknüpft ist. Diversity Education basiert demnach auf der Annahme, dass jeder Mensch durch seine individuelle Lebensgeschichte einzigartig im Vergleich zu anderen Menschen ist (Prengel 2007, S. 56ff). Es geht daher im Kern um die Ermöglichung einer vollständigeren Entfaltung jedes Einzelnen. Die Vielfalt und Individualität jedes Einzelnen soll gefördert, vielfältige Zugänge zu Bildung eröffnet und möglichst umfassende Partizipation in allen Lebensbereichen ermöglicht werden. Daher werden die Anerkennung und Wertschätzung von individueller und kollektiver Vielfalt ebenso betont wie die Vermeidung jeglicher struktureller Ausgrenzung (Nestvogel 2008). Indem Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Zugehörigkeiten von Individuen und Gruppen gleichzeitig adressiert werden, soll Diversity Education für Vielfalt sensibilisieren, möglichen Konflikten vorbeugen und entstandene Konflikte konstruktiv lösen helfen. So hebt etwa das Konzept „Pädagogik für die Einwanderungsgesellschaft“ (Hormel & Scherr 2004) die Potentiale
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von Diversity Ansätzen gegenüber der Interkulturellen Pädagogik hervor, indem Antidiskriminierungsansätze, Menschenrechtsbildung, antirassistische Pädagogik und Elemente der interkulturellen Bildung miteinander verknüpft werden. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Diversity Education im „Kampf um Anerkennung“ (Gutmann 2004) entstanden ist und bis heute dort verortet werden muss – und zwar im doppelten Sinne: Einerseits geht es um den Anerkennungskampf bestimmter gesellschaftlicher Gruppen in ihrer Differenz. Menschen wollen in ihrer Unterschiedlichkeit erkannt und anerkannt werden. Sie klagen quasi ihr Recht auf Differenz ein. Andererseits geht es aber auch um einen Kampf gegen die Zuschreibung von Andersheit und Differenz, die mit der gesellschaftlichen Legitimierung von Machtansprüchen und Hierarchien einhergehen (Prengel 2013, S. 11; Fuchs 2007, S. 22). Man kann in diesem Zusammenhang vom einem Dilemma sprechen, weil auch der Diversity-Ansatz die Zuschreibung von Differenzen über Identitäten nicht aufheben und Diskriminierungen nicht ausschließen kann (Plößner & Mecheril 2009, S. 10). Da dieses Dilemma nicht aufgelöst werden kann, sind Ansätze der Diversity Education gehalten, die im Zuge der Anerkennung und Förderung von Diversity in Bildungsprozessen und Bildungsinstitutionen initiierten Lern- und Entwicklungsprozesse stets aufs Neue selbst- und machtkritisch zu reflektieren. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Diversity
6 Superdiversity Steven Vertovec hat den Begriff „Superdiversity“ in die Debatte eingeführt (2007). Mit diesem verweist er auf die Komplexitätssteigerung einander überschneidender Formen von Unterschiedlichkeit bereits existierender Formen sozialer und kultureller Vielfalt im Zeitalter beschleunigter Internationalisierung und Globalisierung und macht dabei deutlich, dass auch Zuwanderung höchst heterogen ist. Im Spiel sind ganz vielfältige Dimensionen von Differenz, etwa die Wanderungsmotivation, der individuelle Bildungshintergrund, der aufenthaltsrechtliche Status, die religiöse Zugehörigkeit, die beruflichen Qualifikationen, die Beziehungen zum Herkunftsland und die Generationszugehörigkeit. Angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung heutiger Gesellschaften sind nationale und kulturelle Zugehörigkeiten in Bewegung geraten, da sich Soziallagen, Milieus und andere Differenzlinien nicht allein entlang einer Trennlinie zwischen gewanderter und nicht gewanderter Bevölkerung voneinander unterscheiden (SVRJahresgutachten 2010). Anforderungen und Möglichkeiten internationaler Mobilität, transnationaler Lebensführung und Phänomene wie Transmigration lassen sich daher mit dem Konzept Superdiversity präziser fassen.
7 Fazit: Diversity als neues Paradigma der Gesellschaftsforschung Derzeit gewinnt die Diversity-Perspektive in der interkulturellen Bildungsforschung und in der Migrationsforschung an Bedeutung. Durch die Entwicklung und Erprobung intersektionaler Forschungsansätze und Forschungsdesigns wird es möglich, den Blick für die weiteren Zusammenhänge, in denen soziale, kulturelle, sprachliche und religiöse Unterschiede produziert und reproduziert werden, zu schärfen. Diversity-Ansätze helfen dabei, individuelle und kollektive Differenz gleichermaßen zu adressieren sowie die jeweils spezifischen Macht- und Ungleichheitsverhältnisse, die gesellschaftliche Unterscheidungen und Zuschreibungen beeinflussen, zu reflektieren. Gerade Formen migrationsbedingter Diversität können durch die simple Unterscheidung zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund nicht angemessen erfasst werden. Um
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die gesellschaftliche Realität in einer hoch diversifizierten deutschen Migrationsgesellschaft zu beschreiben, bedarf es komplexer Kategorien, so wie sie die Diversitätsforschung bereithält. In dem Maße aber wie „die Migrationsforschung zur Diversitätsforschung wird, verlässt sie ihren angestammten Gegenstandsbereich und öffnet sich gegenüber einer allgemeinen Gesellschaftsforschung“ (Nieswand 2007, S. 3). Hier deutet sich an, dass Diversity – zumindest vorübergehend – ein neues und wichtiges Forschungsparadigma in der Analyse immer komplexer werdender Gesellschaften sein kann.
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Literatur
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Seit es allgemeinbildende Schulsysteme im heutigen Verständnis gibt – also in Europa etwa seit dem 19. Jahrhundert –, ist es ein wichtiges Thema, wie es gelingen kann, mit sprachlicher Verschiedenheit in der Schülerschaft zurechtzukommen. Im deutschen Sprachraum ging es zunächst um den Beitrag schulischer Bildung dazu, der Bevölkerung über die verschiedenen Mundarten hinaus, in denen sie sich alltäglich verständigte, eine gemeinsame, standardisierte Variante zu vermitteln, in der eine überregionale öffentliche Verständigung möglich sein sollte: die „Nationalsprache Deutsch“. Ein zweites Thema war die Integration sprachlicher Minderheiten, die entstanden, weil sich z.B. infolge von Kriegen Grenzveränderungen ergaben (KrügerPotratz 2011). Eine andere Quelle für sprachliche Diversität ist traditionell die Zuwanderung von Personen, die ihre Herkunftssprachen an den neuen Lebensort mitbringen und dort weiterhin pflegen (Oltmer 2016). Im gegenwärtigen deutschen Bildungssystem sind die Folgen der Zuwanderung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs von besonderer Bedeutung. Im folgenden Beitrag wird zunächst die Dynamik der Zuwanderung seit dieser Zeit angedeutet und daran anknüpfend ein Blick auf die sprachliche Textur geworfen, die sich aufgrund dessen ergeben hat. Sodann werden Reaktionen des Bildungssystems auf sprachliche Verschiedenheit und Vielfalt dargestellt.
1 Migrationsdynamik und Sprachenvielfalt Seit dem Zweiten Weltkrieg ist in Deutschland – wie in vielen Staaten der wohlhabenden westlichen Welt – eine Veränderung der Formen der Migration zu beobachten, die sich auf die sprachliche Zusammensetzung der Bevölkerung auswirkt. Seit den frühen 1950er Jahren wurden Arbeitskräfte – „Gastarbeiter“ – angeworben, die ihre Herkunftssprachen mitbrachten. Die Arbeitsmigration der 1950er und 1960er Jahre war zunächst für den Anstieg der Zahl der Sprachen verantwortlich, die in Deutschland gesprochen wurden. Allerdings war dieser Anstieg zunächst überschaubar. Bis in die 1970er Jahre war zu beobachten, dass aus einer relativ geringen Zahl von Herkunftsstaaten, mit denen das Land Anwerbeverträge für Arbeitskräfte geschlossen hatte, relativ große Gruppen von Menschen nach Deutschland zuwanderten. Infolge dieser Entwicklung ist noch heute das Türkische die meistgesprochene Sprache neben der deutschen in Deutschland. Weitere Sprachen dieser Zuwanderungsepoche, die in Deutschland nach wie vor zahlreich vertreten sind, sind Italienisch, Griechisch, Spanisch, Portugiesisch, Serbokroatisch resp. Serbisch, Bosnisch und Kroatisch (als Sprachen des ehemaligen Jugoslawien) sowie Arabisch. Hinzu kommen aus jener Zeit – durch die Zuwanderung von sog. Spätaussiedlern, also ‚ethnisch Deutschen‘ – aus Polen und der UdSSR, slawische Sprachen wie Polnisch und Russisch. Seit den 1980er Jahren, und verstärkt seit dem Zerfall der UdSSR und ihres Einflussbereichs, hat sich die Zahl der Staaten, aus denen Migranten nach Deutschland zuwandern, vervielfacht. Nach offiziellen Statistiken leben seit Beginn der 2010er Jahre Menschen aus ca. 190 Herkunftsstaaten in Deutschland. Seit 2011 sind 193 Staaten der Welt offiziell als Mitglieder der Vereinten Nationen anerkannt (vgl. http://www.un.org/en/sections/member-states/growth-united-nations-
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membership-1945-present/index.html; Januar 2017). Nahezu alle Staaten sind mehrsprachig (Lewis et al. 2015). Es ist demnach wahrscheinlich, dass 190 oder mehr Sprachen in Deutschland alltäglich benutzt werden. Anders als in anderen Einwanderungsstaaten (z.B. Australien, Kanada), sind jedoch keine offiziellen Statistiken über die Zahl der Sprachen verfügbar, die im Lande vertreten sind. Die Vervielfältigung der Zahl der Herkunftsregionen, verbunden mit der Diversifizierung anderer kultureller und sozialer Merkmale der Migration, führt zu einer „Vervielfältigung der Vielfalt“ in der deutschen Bevölkerung. Dies hat Einfluss auf die Gestaltung von Bildung. Um auf die Komplexität und Dynamik der unterschiedlichen Merkmale aufmerksam zu machen, die das Leben in Zuwanderungsgesellschaften beeinflussen, wurde der Begriff der Super-Diversität eingeführt (Meissner & Vertovec 2015): ein Arbeitsbegriff, mit dem es gelingen soll, auf die aus der Vervielfältigung von Migrationswegen, Herkünften und Traditionen resultierenden Veränderungen aufmerksam zu machen, die Einfluss auf die Gestaltung gesellschaftlicher Institutionen besitzen.
2 Reaktionen des Bildungssystems auf sprachliche Diversität Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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In der Bundesrepublik Deutschland ebenso wie in anderen europäischen Staaten ist der institutionelle Umgang mit der mehrsprachigen Realität von den historisch überlieferten Grundüberzeugungen geprägt, dass das „normale Kind“ einsprachig aufwächst und lebt, und dass es am besten sei, das Bildungssystem einsprachig in der Sprache des Staates zu gestalten; eine Ausnahme hiervon bildet der Unterricht in anerkannten Fremdsprachen (Gogolin 2010). Die Reaktionen, die im deutschen Bildungssystem ergriffen wurden, um die zunehmende zuwanderungsbedingte sprachliche Diversität zu bewältigen, folgten zunächst konsequent diesen Grundüberzeugungen, indem sie nach dem Muster „Regel und Ausnahme“ gestaltet wurden. Die Regel blieb lange Zeit das monolingual gestaltete System, in dem jeder Unterricht – mit Ausnahme des fremdsprachlichen – einzig auf Deutsch angeboten wird. Für Schüler/innen, die keine deutsch-einsprachige Sozialisation durchlaufen haben, wurden Sondermaßnahmen etabliert: Lerngruppen oder Klassen mit unterschiedlichen Bezeichnungen (wie „Vorbereitungsklasse“, „Aufnahmeklasse“). In diesen sollten Neuzuwanderer, die das Deutsche nicht beherrschten, auf den „Regelunterricht“ vorbereitet werden, der auf Deutsch stattfindet. In den deutschen Bundesländern unterschied sich die Dauer dieser Maßnahmen, die seit den 1960er bis in die 1980er Jahre verbreitet waren; Schüler/innen konnten zwischen einem halben Jahr und sechs Jahren dort verbringen (Boos-Nünning et al. 1983). Einige Bundesländer boten im Rahmen solcher Maßnahmen auch herkunftssprachlichen Unterricht an. Hintergrund dessen war es, dass Migration in dieser Zeit als ein temporäres Ereignis aufgefasst wurde. Es herrschte die Auffassung vor, dass Migrant/innen nach einigen Jahren des Aufenthalts in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden. Herkunftssprachlicher Unterricht sollte daher der Aufrechterhaltung der „Rückkehrperspektive“ dienen, die den Gewanderten unterstellt wurde. Diese Maßnahmen betrafen insbesondere Migrant/innen aus den sog. Anwerbeländern (Italien, Jugoslawien, Griechenland, Spanien, Portugal, Türkei, Marokko) und die von dort mitgebrachten Amtssprachen. Es sei darauf hingewiesen, dass dieser Teil der Geschichte nur die Bundesrepublik Deutschland bis 1989 betrifft. Das zweite Deutschland, die DDR, hatte keine entsprechenden Maßnahmen ergriffen, da hier nur eine zeitbegrenzte Zuwanderung von Vertragsarbeiter/innen möglich war, die in der Regel nicht von Familien begleitet wurden (Krüger-Potratz et al. 1991). Hauptziel jener ersten Maßnahmen war es, die Defizite der Zugewanderten im Deutschen zu beheben. In den späten 1970er Jahren setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, dass eine
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langfristige gesellschaftliche Integration der Zuwandernden und ihrer Kinder erforderlich ist, zu der schulische Bildung beitragen müsse. Damit ging eine Entwertung des herkunftssprachlichen Unterrichts einher. Parallel dazu wurden erste Ansätze der Entwicklung einer Didaktik des Deutschen als Zweitsprache unternommen (Reich 2010). Diese unterschied sich von der etablierten Didaktik des Deutschen als Fremdsprache durch die Beachtung des Umstands, dass die Lernenden nicht nur im Unterricht, sondern auch in ihrer außerschulischen Umgebung Spracherfahrungen machen, die es bei der Gestaltung von Lehr-/Lern-Prozessen zu berücksichtigen gelte. Das Grundprinzip „Regel/Ausnahme“ der Reaktion auf migrationsbedingte sprachliche Vielfalt ist bis heute vorherrschend im deutschen Schulsystem: Für Schüler/innen, in deren Familie eine oder mehrere andere Sprachen als Deutsch gesprochen werden und deren Bildungserfolg deshalb als gefährdet angesehen wird, werden besondere Maßnahmen etabliert, etwa frühzeitige Förderangebote vor dem Eintritt in das Schulsystem, additive Förderung des Deutschen als Zweitsprache begleitend zum „Regelunterricht“ oder Aufnahme- bzw. Vorbereitungsmaßnahmen (z.B. mit der Bezeichnung „Willkommensklassen“) für jene Schüler/innen, die neu zuwandern. Die Letzteren wurden insbesondere wiederbelebt im Zusammenhang mit der Zuwanderung von Flüchtlingen und Schutzsuchenden seit dem Jahr 2014, die eine hohe Zahl von neuzuwandernden Kindern und Jugendlichen mit sich brachte (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016). Nach Durchlaufen entsprechender „besonderer“ Maßnahmen soll eine „Integration“ in das „Regelsystem“ erfolgen, womit die Vorstellung einhergeht, dass dann sprachliche Diversität nicht mehr berücksichtigt werden müsse (Massumi et al. 2015). Grundlegend für diese Strategie ist eine Orientierung an der Tradition der „Normalvorstellung Monolingualität“, wobei es inzwischen zu dieser Vorstellung gehört, dass alle Schüler/innen mindestens eine Fremdsprache – zumeist Englisch – erlernen sollen.
3 Reform- und Innovationsbemühungen Die beschriebene Entwicklung wurde bereits seit den 1970er Jahren begleitet von einer kritischen Forschung und Praxis, in der die Frage gestellt wurde, ob das Monolingualitätskonzept angesichts der zunehmenden sprachlichen Diversität in Gesellschaft und Schülerschaft noch trägt. Dabei wurden und werden zwei große Themen in den Blick genommen: (1) Welche Rolle und Funktion kommt den Herkunftssprachen von Migranten bei der sprachlichen Bildung zu? (2) Welchen Einfluss übt Zwei- oder Mehrsprachigkeit als individuelle Bildungsvoraussetzung und als Kompositionsmerkmal von Lerngruppen auf das Lehren und Lernen aus, das in deutscher Sprache stattfindet? Zu beiden Themen gibt es Forschung ebenso wie praktische Ansätze, die vor allem zur Klärung strittiger Positionen beitragen wollen (vgl. für einen umfassenden Überblick Lengyel 2017). Solche strittigen Positionen finden sich beim ersten Thema insbesondere bei der Frage, ob und wofür es von Nutzen ist, die Herkunftssprachen von Migranten durch Unterricht zu fördern. In diesem Zusammenhang offenbart sich auch, dass Diskussionen über Sprache und Bildung von normativen Grundpositionen begleitet sind, die nicht nur, aber wesentlich von Zusammenhängen zwischen Sprache und Macht beeinflusst sind. Zu solchen Positionen gehört es, dass eine Sprache nur dann wert sei, gelernt zu werden, wenn sie von großen Sprechergruppen benutzt wird oder wenn ihre Beherrschung mit ökonomischen Vorteilen einhergeht. In Frage gestellt wird der Nutzen der Mehrsprachigkeit also nicht grundsätzlich, sondern speziell mit Blick auf Sprachen und ihre Sprecher/innen, die von minderem gesellschaftlichen Ansehen sind (vgl. kritisch hierzu: Auer 2009).
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Auf der einen Seite wird bildungspolitisch kein Zweifel daran gelassen, dass Mehrsprachigkeit ein Wert an sich und ein erstrebenswertes Bildungsziel sei. Davon zeugen zum Beispiel Positionen und bindende Vereinbarungen auf der Ebene der Europäischen Union, zu denen auch Deutschland sich verpflichtet hat. Sie besagen, dass Mehrsprachigkeit ein besonderer und bewahrenswerter Reichtum Europas sei; und dass deshalb jedes Kind, das in Europa zur Schule geht, mindestens drei Sprachen erlernen solle: die Hauptverständigungssprache des Landes, eine weit verbreitete Fremdsprache (wie Englisch) und eine weitere Sprache (vgl. http://europa. eu/pol/mult/index_de.htm; Mai 2016). Auf der anderen Seite aber werden die mitgebrachten Sprachen der Zugewanderten nicht als Quelle für die Realisierung dieser Ziele aufgefasst, und der Nutzen ihrer Förderung wird in Zweifel gestellt. Eine wissenschaftliche Kontroverse wird dabei über die Frage geführt, ob die schulische Förderung der Herkunftssprache auf Kosten der Aneignung der allgemeinen Schul- und Unterrichtssprache (meist genannt: Zweitsprache, also bei uns: des Deutschen) geht (Gogolin & Neumann 2009). Leitend für die entsprechende Befürchtung ist die „time-on-task-Hypothese“ (Hopf 1987; Esser 2006), auf deren Grundlage angenommen wird, dass Zeit, die in die Förderung der Herkunftssprache investiert wird, notgedrungen für die Aneignung der Zweitsprache und von Bildungswissen in Letzterer verloren geht. Vorliegende Forschungsergebnisse zeigen teilweise widersprüchliche Effekte. Insgesamt aber deuten sie eher darauf, dass ein solcher Kausalzusammenhang nicht besteht. Negative Effekte auf die zweitsprachliche Entwicklung bzw. die Entwicklung von Kompetenzen in Unterrichtsfächern (wie Mathematik) wurden in der vorliegenden Forschung nicht nachgewiesen. Für die Aneignung weiterer Sprachen in der Schule – geprüft vor allem am Beispiel des Englischen als Fremdsprache – ergeben sich sogar Vorteile (Möller et al. 2017). Es scheint, dass es bei einer schulischen Förderung von Zweisprachigkeit gelingen kann, die Lernenden zu insgesamt gleichen, nach einigen Studien sogar zu besseren Lernergebnissen in anderen Lernbereichen und Fächern zu bringen, in der gleichen Lernzeit aber zudem dazu, Fähigkeiten in zwei Sprachen zu entwickeln. Der schulischen Förderung der Herkunftssprachen ist demnach jenseits eines Nutzens, den dies für das Lernen des bzw. im Deutschen hätte, ein Wert beizumessen (Kempert et al. 2016). Das zweite ‚Großthema‘ betrifft das Lehren und Lernen in der Konstellation der Mehrsprachigkeit, die dadurch zustande kommt, dass Lernende mit unterschiedlichen Spracherfahrungen gemeinsam unterrichtet werden. Hierbei geht es nicht allein um das Lernen von Sprache. Vielmehr steht die Frage im Zentrum, ob und in welcher Weise die Bildung in anderen als sprachlichen Fächern von Mehrsprachigkeit als Lernbedingung betroffen ist. Mit Forschung zu dieser Frage wurde im deutschen Kontext in den 1980er Jahren begonnen. Sie stand zum Beispiel im Zentrum etlicher Untersuchungen, die im Schwerpunktprogramm „Folgen der Arbeitsmigration für Bildung und Erziehung FABER“ realisiert wurden, das in den 1990er Jahren von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde (Gogolin & Nauck 2000). Weiteren Aufwind erhielt diese Forschung durch Ergebnisse der internationalen Schulleistungsvergleichsstudien wie PISA, die aus einer anderen Perspektive darauf aufmerksam machten, wie bedeutend das Verfügen über schul- und bildungsrelevante sprachliche Fähigkeiten für Bildungserfolg generell ist (Klieme et al. 2010). In bildungspraktischer Hinsicht wurde hierauf mit wissenschaftlich begleiteten Modellprojekten reagiert. Das erste Großprojekt trug den Namen „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund FörMig“ (vgl. https://www. foermig.uni-hamburg.de; [28.04.2017]). In seinem Rahmen wurde das Konzept „Bildungssprache“ fundiert, das darauf aufmerksam macht, dass Bildungserfolg nicht so sehr von alltäglichumgangssprachlichen Kompetenzen abhängt als vielmehr davon, dass die Lernenden über die
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spezifischen sprachlichen Mittel verfügen, in denen die Gegenstände der Bildung dargeboten werden und an deren Beherrschung Lernerfolg gemessen wird (Roth 2015). Für die Förderung bildungssprachlicher Fähigkeiten wurde im Rahmen von FörMig das Konzept „Durchgängige Sprachbildung“ entwickelt, praktisch erprobt und in ersten Schritten empirisch überprüft (Gogolin et al. 2011). Dabei geht es darum, dass die Förderung schulrelevanter Sprachkompetenzen sich explizit auf dasjenige Sprachregister bezieht, das in der Vermittlung von schulischem Wissen verwendet und von den Lernenden als Leistung erwartet wird. Angelehnt an Forschungsbefunde aus dem englischsprachigen Raum (Cummins 2000), die auf den Unterschied zwischen „alltagstauglichen“ sprachlichen Fähigkeiten („Basic Interpersonal Communication Skills – BICS“) und bildungssprachlichen Fähigkeiten („Cognitive Academic Language Proficiency – CALP“) hinweisen, wurden hier Ansätze der expliziten und systematischen Förderung des bildungssprachlichen Registers entwickelt, in denen Mehrsprachigkeit als eine relevante Bildungsvoraussetzung berücksichtigt wird (Gogolin et al. 2013). Aufgegriffen und weiterentwickelt werden diese ersten Sprachbildungskonzepte, in denen sprachliche Diversität als Voraussetzung berücksichtigt ist, von Praxisprojekten, die im von Bund und Ländern geförderten Programm „Bildung durch Sprache und Schrift BiSS“ angesiedelt sind (http://www.biss-sprachbildung.de; Zugriff Mai 2016). Allerdings steht in diesem Programm explizit die Förderung des Deutschen im Zentrum. Fragen, die sich auf die Rolle und Funktion der Herkunftssprachen von Migrant/innen im Bildungsprozess beziehen, sind noch eher der Forschung vorbehalten als der praktischen Erprobung und Evaluierung im Bildungssystem. Aber auch hier sind gewichtige Aktivitäten in Gang gekommen. So fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung einen Forschungsschwerpunkt mit dem Titel „Sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit“, in dem zwölf Untersuchungen an verschiedenen deutschen Universitäten angesiedelt sind (vgl. www.kombi-hamburg.de). Aus beiden letztgenannten Aktivitäten sind in den nächsten Jahren zahlreiche Ergebnisse zu erwarten, die wichtige Klärungen zur Frage erbringen werden, wie erfolgreiche sprachliche Bildung im Kontext von Migration gestaltet werden kann. Literatur
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Alexander-Kenneth Nagel
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12 Migration und Religion Alexander-Kenneth Nagel
1 Debatten und Blickwinkel Wenn der Zusammenhang von Religion und Migration thematisiert wird, kommt Religion fast ausschließlich als abhängige Variable in den Blick und dies zumeist mit sicherheitspolitischem Interesse an religiöser Radikalisierung und/oder integrationspolitischem Interesse an klaren Organisationsstrukturen. Dies spiegelt sich auch in der wissenschaftlichen Debatte über Religion und Migration wider, die v.a. von Religionswissenschaftler/innen, Migrationssoziolog/innen und Sozialanthropolog/innen geführt wird. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Transformation von Religion im Migrationskontext und dies vorrangig unter Bezug auf den Islam. Dabei lassen sich drei Kernthemen unterscheiden, die im Folgenden kurz vorgestellt werden: die (vermeintliche) Intensivierung des religiösen Lebens, die Formen religiöser Institutionalisierung sowie die transnationale Situation religiöser Migrantenorganisationen.
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1.1 Intensivierung und Innovation Zahlreiche Studien haben sich mit dem Wandel religiöser Identität oder religiöser Lebensführung in der Migrationssituation befasst. Dabei wird die religiöse Identität von Migrant/innen in Abgrenzung von geläufigen Gefährdungsszenarien religiöser Radikalisierung eher als „Identitätsressource“ verstanden (Reuter 2009), die eine produktive Teilhabe an den sozialen, ökonomischen und politischen Prozessen der Aufnahmegesellschaft ermöglicht. Eine Schlüsselrolle spielten in diesem Zusammenhang Debatten über das Kopftuch als Aspekt islamischer Lebensführung. Die verbreitete Auffassung, die Bedeckung von Haaren und Gesicht sei Ausdruck einer überkommenen und restriktiven religiösen Doktrin von Geschlechterrollen, wurde durch eine Reihe empirischer Untersuchungen in Frage gestellt. In diesen methodisch oft biographisch und interpretativ angelegten Arbeiten aus der Religionswissenschaft oder interkulturellen Pädagogik wird auf die prinzipielle Mehrdeutigkeit des Kopftuches verwiesen (Karakaşoğlu 2002). Es sei nicht nur mit den Erfordernissen moderner Lebensführung vereinbar, sondern könne unter bestimmten Umständen geradezu Ausdruck von Individualität und Selbstbestimmung sein (Klinkhammer 2000). Das Beispiel der Kopfbedeckung macht deutlich, dass die Vorstellung einer Rückbesinnung auf traditionelle religiöse Symbole und Werthaltungen im Migrationskontext zu kurz greift. Vielmehr ist es gerade die Spannung zwischen dem Wunsch nach Bewahrung und dem Drang zur Veränderung, die für religiöse Transformation in der Diaspora kennzeichnend ist (Baumann 2000, S. 17). Die eigene religiöse Tradition, die in den Herkunftsländern oft genug stillschweigend im kulturellen Mehrheitskonsens verankert war, muss nunmehr aktiv erinnert und bewusst gemacht werden. Dadurch entstehen auch Freiheitsgrade für religiöse Innovation. Ein wichtiger Impuls dafür liegt in der Weitergabe religiösen Wissens von der ersten an die zweite und dritte Einwanderergeneration, die jeweils ihre religiöse Lebensführung im Benehmen mit den (jugend-)kulturellen Normen der Aufnahmegesellschaft gestalten und hierzu teilweise verschüttete Stränge der religiösen Überlieferung aktivieren, wie Frese (2002) am Beispiel muslimischer Jugendlicher zeigt. 1.2 Institutionalisierung Religionswissenschaftliche Autor/innen haben die religiöse Selbstorganisation von Migrant/ innen, bislang v.a. unter dem Gesichtspunkt einer fortschreitenden Institutionalisierung betrachtet. Bei Migrantengruppen, die – wie z.B. Brüdergemeinden – keine feste Organisationstruktur mitbringen, lässt sich eine Art Verlaufsschema in drei Phasen unterscheiden (Baumann 2004, S. 21; Lehmann 2004, S. 33). Die erste, die Formierungsphase, ist gekennzeichnet durch lose Zusammenkünfte religiöser Laien mit einer rudimentären Infrastruktur: Man trifft sich in Privatwohnungen, Bürgerhäusern oder Kirchengemeinden, um gemeinsam religiöse oder kulturelle Feste zu feiern. Alles Nötige wird durch situative Geld- oder Sachspenden zur Verfügung gestellt. Es besteht kein Mitgliedschaftsverhältnis und keine klare religiöse Hierarchie. In der zweiten, der Etablierungsphase, werden einfache Organisationsstrukturen geschaffen, etwa durch die Gründung eines Vereins. Durch Mitgliedsbeiträge und Arbeitsteilung wird es möglich, günstige Räumlichkeiten anzumieten, auszustatten und die religiösen Abläufe zu professionalisieren. Diese Entwicklung steht oft in einem engen Zusammenhang mit dem Nachzug oder der Gründung von Familien und dem Wunsch, die religiöse Erziehung der zweiten Generation zu gewährleisten. In der dritten, der Konsolidierungsphase schließlich, wird die Professionalisierung weiter vorangetrieben, etwa indem die Gemeinden hauptamtliche religiöse Funktionsträger
Alexander-Kenneth Nagel
(Imam, Priester, Mönch) anstellen. Der zunehmende Wohlstand der Gemeindemitglieder sowie erloschene Rückkehrhoffnungen führen dazu, dass die einfachen Kulträume vermehrt als unangemessen und beengt empfunden werden und der Wunsch nach größeren und repräsentativen Gebäuden an Gewicht gewinnt. In dem Maße, wie religiöse Migrantenorganisationen sichtbar werden, werden sie für Akteure der Aufnahmegesellschaft, z.B. aus Politik und Verwaltung oder aus gesellschaftlichen Verbänden wie Kirchen, Wohlfahrtsverbänden oder Gewerkschaften, adressierbar. Dabei werden sie in der Regel nicht als religiöse Gruppen angesprochen, sondern als multifunktionale Zentren, die neben der religiösen Versorgung, auch soziale Dienste, Kulturpflege sowie die politische Mobilisierung und Interessenvertretung einer Migranten-Community übernehmen. Daraus können verschiedene Formen der interkulturellen oder interreligiösen Zusammenarbeit hervorgehen, etwa im Bereich der Frauenförderung, Kinder- und Jugendarbeit. Die Bewertungen dieser Indienstnahme religiöser Migrantenorganisationen gehen derweil auseinander und bewegen sich zwischen tendenziell positiven Verweisen auf „Empowerment“, also symbolische und strukturelle Bestärkung (Klinkhammer et al. 2011, S. 26), Warnungen vor integrationspolitischer Instrumentalisierung (Tezcan 2006, S. 26) und Befürchtungen vor einer Aufweichung professioneller Standards in der Sozialarbeit (Latorre & Zitzelberger 2011). Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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1.3 Transnationale Situation Eine weitere wichtige Dimension religiöser Transformation im Migrationskontext sind die transnationalen Bezüge religiöser Migranten/innen und ihrer Organisationen. Nachdem die Migrationssoziologie lange Zeit davon ausgegangen war, dass grenzüberschreitende Beziehungen von Migrantenorganisationen mit zunehmender Assimilation zurückgehen würden (Vermeulen 2006, S. 49), verweisen neuere Studien auf die Beständigkeit ihrer transnationalen Netzwerke (Pries & Sezgin 2010). Religionsgemeinschaften unterhalten nicht nur vielfältige Beziehungen in ihre Herkunftsländer, sondern auch zu anderen Diaspora-Standorten und werden so zu Plattformen transnationaler Vergesellschaftung (Vertovec 1999). Neben dem grenzüberschreitenden Transfer von Geld, Gütern und Informationen weisen religiöse Migrantenorganisationen eine Reihe spezifischer Beziehungsinhalte auf (Nagel 2013). Dazu gehören die Zirkulation religiöser Spezialist/innen oder Kultgegenstände über verschiedene Standorte ebenso wie grenzüberschreitende sakramentale Handlungen (z.B. der päpstliche Ostersegen „Urbi et Orbi“) und Weisungen zur religiösen Lebensführung, etwa im Rahmen von Online-Fatwas (Graef 2010). In der Aufnahmegesellschaft begründen die transnationalen Bezüge religiöser Migrantenorganisationen zuweilen Verdachtsmomente von Fremdsteuerung und Integrationsverweigerung. Im Unterschied dazu zeigen empirische Arbeiten immer wieder, dass sie zu Agent/innen eines Religions- und Kulturtransfers in die Herkunftsländer werden können (Levitt & Lamda-Nieves 2011).
2 Empirische Befunde Neuere statistische Datensammlungen zu den religiösen Zuwanderungsprofilen verschiedener Staaten bieten empirische Aufschlüsse zum Verhältnis von Religion und Migration (dazu umfassender Nagel 2014). Hier fällt zunächst auf, dass der überwiegende Teil der Eingewanderten einer christlichen Kirche oder Gemeinschaft angehört, während nur jeder Vierte einer muslimischen Gemeinschaft zugerechnet werden kann. Diese Beobachtung steht in bemerkenswertem Kontrast zur Tendenz der Medienberichterstattung, die Migrationsthematik zu ‚islamisieren‘. Dabei wird deutlich, dass Spanien und die Schweiz den mit Abstand höchsten Anteil christ-
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Migration und Religion
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licher Immigrant/innen haben. In beiden Ländern ist der Anteil der zugewanderten Christen ca. fünfmal so groß wie der Anteil der zugewanderten Muslim/innen. Das einzige europäische Land, in das mehr Muslime als Christen eingewandert sind, ist Frankreich. Hier stammt ein großer Teil der muslimischen Migrant/innen aus den ehemaligen französischen Kolonien in Nordafrika. Großbritannien und Norwegen sind die einzigen Länder mit einem leicht erhöhten Anteil zugewanderter Hindus und Buddhisten. Für Großbritannien lässt sich dies als Erbe des Commonwealth erklären, die überwiegend vietnamesischen und singhalesischen Buddhisten in Norwegen kamen als Flüchtlinge oder Arbeitsmigrant/innen. Die nationalen Zuwanderungsprofile dokumentieren religiöse Pluralisierung auf der Makroebene. Für die interkulturelle Pädagogik dürften indes lokale und regionale Verdichtungen religiöser Vielfalt und die damit einhergehenden Religionskontakte und -konflikte relevanter sein, in allen pädagogischen Arbeitsfeldern, speziell aber in den Schulen. Ein zentrales Handlungsfeld in diesem Zusammenhang sind interreligiöse bzw. religionsübergreifende Aktivitäten. War der interreligiöse Dialog, verstanden als Aufklärung und Wissensvermittlung über religiöse Traditionen, lange Zeit ein Metier von Theologen, hat die Bandbreite interreligiöser Formate in den vergangenen Jahren zugenommen. Neben die klassische Dialogveranstaltung sind weitere Formen der interreligiösen Begegnung getreten, etwa interreligiöse Friedensgebete, die weniger auf kognitiven Austausch und mehr auf gemeinsame religiöse Rituale und Erfahrungen setzen, sowie Nachbarschaftstreffs, Schulgottesdienste und Tage der offenen Tür. Darüber hinaus gibt es ‚religionsunabhängige’ Angebote wie z.B. Ethikunterricht. Diese Erweiterung des interreligiösen Feldes bringt auch neue Herausforderungen der Organisation und Moderation mit sich und eröffnet damit Mitwirkungsmöglichkeiten für die interkulturelle Pädagogik. Literatur
Baumann, Martin (2004): Religion und ihre Bedeutung für Migranten. In: Beauftragte der Bundesregierung für Migration (Hg.): Religion – Migration – Integration in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Berlin/Bonn, S. 19-30. – Baumann, Martin (2000): Migration – Religion – Integration. Buddhistische Vietnamesen und Sarna, hinduistische Tamilen in Deutschland. Marburg: diagonal. – Frese, Hans-Ludwig (2002): Den Islam ausleben. Konzepte authentischer Lebensführung junger türkischer Muslime in der Diaspora. Bielefeld: transcript. – Graef, Bettina (2010): Media Fatwas, Yusuf al-Qaradawi and Media-Mediated Authority in Islam. In: Orient 51 (1), S. 6-15. – Karakaşoğlu, Yasemin (2002): Die „Kopftuch-Frage“ an deutschen Schulen und Hochschulen (Reihe iks – QuerFormat, 6). Münster: Arbeitsstelle Interkulturelle Pädagogik, Lehreinheit Erziehungswiss., Fachbereich 06, Westfälische Wilhelms-Univ. – Klinkhammer, Gritt (2000): Moderne Formen islamischer Lebensführung: Eine qualitativ-empirische Untersuchung zur Religiosität sunnitisch geprägter Türkinnen der zweiten Generation in Deutschland. Marburg: diagonal. – Klinkhammer, Gritt; Frese, Hans-Ludwig; Satilmis, Ayla & Seibert, Tina (2011): Interreligiöse und interkulturelle Dialoge mit Muslimen in Deutschland. Eine quantitative und qualitative Evaluation. Bremen: Selbstverlag. – Latorre, Patricia & Zitzelsberger,Olga (2011): MigrantInnenselbstorganisationen und Soziale Arbeit : was der Zusammenarbeit auf Augenhöhe im Wege steht. In: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 24, S. 49-58. – Lehmann, Karsten (2004): Migration und die dadurch bedingten religiösen Pluralisierungsprozesse.In: Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hg.): Religion – Migration – Integration in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Berlin/Bonn, S. 31-48. – Levitt, Peggy & Lambda-Nieves, Deepak (2011): Social Remittances Revisited. In: Journal of Ethnic and Migration Studies 37, S. 1-22. – Nagel, Alexander-Kenneth (2013): Urbi et Orbi: Transnationale religiöse Netzwerke. In: Martina Maletzky; Manfred Wannöffel & Martin Seeliger (Hg.): Arbeit und Mobilität in einer globalisierten Welt. Frankfurt a.M.: Campus, S. 133-153. – Nagel, Alexander-Kenneth (2014): Religionslandschaft in Bewegung. Drauf- und Einsichten. In: Gudrun Biffl & Lydia Rössl (Hg.): Migration und Integration. Dialog zwischen Politik, Wissenschaft und Praxis. Wien: Guthmann-Peterson, S. 147-157. – Pries, Ludger & Sezgin, Zeynep (2010): Migrantenorganisationen als Grenzüberschreiter – ein (wieder)erstarkendes Forschungsfeld. In: Ludger Pries & Zeynep Sezgin (Hg.): Jenseits von ‚Identität oder Integration’. Grenzen überspannende Migrantenorganisationen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 7-14. – Reuter, Astrid (2009): Religionen im Prozess von Migration. Eine Fallstudie: Muslimische Migration nach Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert. In: Hans G. Kippenberg; Jörg Rüpke & Kocku von Stuckrad (Hg.): Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus. Göttingen: Vandenhoeck &
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Helma Lutz und Katrin Huxel
13 Migration und Geschlecht Helma Lutz und Katrin Huxel
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Ruprecht, S. 371-410. – Tezcan, Levent (2006): Interreligiöser Dialog und politische Religionen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 28-29, S. 26-32. – Vermeulen, Floris (2006): The Immigrant Organising Process. Turkish Organisations in Amsterdam and Berlin and Surinamese Organisations in Amsterdam 1960–2000. Amsterdam: Amsterdam University Press. – Vertovec, Steven (1999). Three meanings of ‘diaspora’, exemplified by South Asian religions. In: Diaspora 6 (3), S. 277-300.
„Als ich in die fünfte Klasse des Gymnasiums kam, meldete ich mich nie, ich quatschte einfach dazwischen, und ich tat es oft. Ich störte. Ein klarer Fall, glaubte meine Klassenlehrerin, Frau K. Also lud sie meinen Vater zum Elterngespräch ein. Frau K. hatte sich vorbereitet. Sie wusste jetzt alles über die Frau im Islam, meine Mutter. Über das Patriarchat, meinen Vater, Unterdrückung, Ehrenmord, Aufgabenteilung und Redeanteile von Mann und Frau in einer türkischen Familie, also meiner. Jetzt erklärte sie meinem Vater: ‚Herr Gezer, ich kenne Ihre Herkunft und verstehe Ihre Kultur – aber wenn Sie das Mädchen zuhause so unterdrücken und nicht reden lassen, weil es ein Mädchen ist, dann lässt es alles in der Schule raus‘. …. Mein Vater ist ein geduldiger Mensch, irgendwann unterbrach er sie doch: ‚Frau K., wenn Sie wüssten, wie viel Özlem zuhause spricht, dann wären sie glücklich mit dem, was sie hier in der Schule spricht‘“ (Özlem Gezer 2013).
Diese Beschreibung erschien in einer Kolumne der Spiegel-Journalistin Özlem Gezer unter der Überschrift ‚Türkisierung‘. Gezer berichtet darin, wie sich die gesellschaftliche Markierung als Türkin durch ihre gesamte Biographie zieht, ungeachtet der Tatsache, dass sie als Enkelkind eines aus der Türkei angeworbenen Arbeitsmigranten in Deutschland geboren wurde, aufwuchs und die Schule sowie die Universität besuchte.
1 „Schleichende Ethnisierung“, Kulturalisierung und Vergeschlechtlichung Wolf Bukow und Roberto Llaryora (1988) haben Ende der 1980er Jahre dieses Phänomen als schleichende Ethnisierung bezeichnet und als einen Prozess charakterisiert, in dessen Verlauf diese Art der Eigenschaftsbeschreibungen von Eingewanderten über Generationen als Grundlage der gesellschaftlichen Zweiteilung dienen und sozialer Exklusion Vorschub leisten kann – damals Inländer versus Ausländer, heute Personen ohne versus Personen mit Migrationshintergrund. Die in diesem Prozess herausgebildeten Denkfiguren und Diskurse haben sich verselbstständigt; sie sind Teil des Allgemeinwissens geworden. Dazu beigetragen haben nicht nur Politik und Medien, sondern auch die mit Migration befassten wissenschaftlichen Disziplinen, deren Vertreter/ innen diese Diskurse sowohl kritisiert aber auch affirmiert und re-konstituiert haben. Über die Ethnisierung, Kulturalisierung sowie ‚Rassialisierung’ von Minderheiten und Eingewanderten hinaus sind diese Diskurse gleichzeitig ‚vergeschlechtlicht‘, insofern stets auch Vorstellungen und Aussagen über die Ausgestaltung des Geschlechterverhältnisses im Habitus bestimmter Gruppen mit einbezogen sind.
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Migration und Geschlecht
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Die ersten Forschungsarbeiten zu Migration unter besonderer Berücksichtigung von Geschlecht und Ethnizität stammen aus den späten 1980er Jahren. Zunächst ging es darum, sichtbar zu machen, dass Migration auch weiblich ist, dass Frauen sowohl als Arbeitsmigrantinnen angeworben wurden, wie auch im Zuge des Familiennachzugs zugewandert sind – ein Faktum, das bis zu diesem Zeitpunkt weder von der Migrationsforschung noch von der Frauenforschung als forschungsrelevantes Thema aufgegriffen worden war (Hebenstreit 1988; Lutz 1988). Erste Anstöße kamen aus der englischsprachigen Frauenforschung, in der Gender and Migration schon ein eigenständiges Forschungsgebiet war (siehe Morokvasic 1983). In der Bundesrepublik Deutschland galt das Interesse zunächst ausschließlich den Frauen bzw. Mädchen und erst ab den späten 1990er Jahren bzw. mit den 2000er Jahren dem Geschlechterverhältnis und schließlich – in Auseinandersetzung mit der kritischen Männlichkeitsforschung – auch der Situation von Jungen und Männern im Migrationskontext (Spindler 2006; Huxel 2014). Inzwischen wird das Geschlechterverhältnis in der Migrationsgesellschaft im Zusammenhang mit weiteren Differenzlinien (etwa Klasse, ‚Rasse‘, Ethnizität, Religion und Alter), die als intersektionell miteinander verwoben und sich wechselseitig ko-konstruierend betrachtet werden, analysiert (Lutz 2001). So wird gezeigt, wie infolge des Zusammenspiels verschiedener, miteinander interagierender und sich wechselseitig ko-konstruierender Differenzlinien Personen wie Personengruppen soziale Positionen zugewiesen werden. In den aktuellen pädagogischen Diskursen geht es um die (De-)Thematisierung von Geschlecht (mit Bezug zu Klasse, ‚Rasse‘ resp. Ethnizität etc.) und um die oft skandalisierenden, stereotypen Muster der Betonung und Konstruktion von Unterschieden zwischen Minderheiten- und Mehrheitsangehörigen. Die Betonung dieser angeblichen Unterschiede in der Ausdeutung des Geschlechterverhältnisses führen zu einer Hervorhebung ethnisch-kultureller anstelle sozialer Differenzen (siehe dazu Lutz 2010). Im Folgenden wird zunächst eine gender- und queer-sensible Forschungsperspektive mit Bezug zu Migration skizziert, bevor in einem weiteren Schritt ein Überblick über Repräsentationen weiblicher und männlicher Zugewanderter in der Forschung gegeben und die Verwobenheit und Ko-Konstruktion der Differenzlinien Geschlecht und Migration thematisiert wird.
2 Migration aus gender- und queer-sensibler Perspektive Seit Beginn der modernen, internationalen Migrationsforschung Ende des 19. Jahrhunderts galten Männer als prototypische Wanderer. Eigenständige Migration von Frauen (wie etwa die ‚Dienstmädchenauswanderung‘ im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert) wurde in der Forschung als Ausnahme behandelt ebenso wie die Migrationsbewegungen von Kindern mit und ohne Eltern. In dieser ‚Tradition’ wurden Ehefrauen und Kinder in der Migrationsforschung bzw. in der sogenannten ‚Gastarbeiterforschung‘ der 1950er bis 1970er Jahre zunächst nur als im Herkunftsland verbliebene bzw. verbleibende und/oder im Zuge der Familienzusammenführung einwandernde Personen wahrgenommen. Ignoriert wurde, dass auch die Anwerbung und Beschäftigung von Frauen für bestimmte Wirtschaftszweige attraktiv war. 30 Prozent der in den 1950er und 1960er Jahren angeworbenen Arbeitskräfte waren weiblich. Doch sofern die Forschung sich überhaupt für das Leben von Migrantinnen in Deutschland interessierte, galt das Interesse nicht ihren Erfahrungen und ihrer Rolle als Arbeitnehmerinnen, sondern ihrem Leben als nachgereiste Ehefrauen und Mütter und der Frage, wie stark sie den heimatlichen Traditionen verhaftet waren. Sie wurden dargestellt als aufklärungs- und beratungsbedürftige Mütter von Schulkindern, als Klientinnen bei Behörden, im Gesundheits- und Sozialsystem oder als ‚fremde Frauen’ in Nachbarschaften. Verstärkt wurde dies dadurch, dass sich die Migrationsforschung in Deutschland und vor allem die sich ab den 1970er Jahren herausbildende ‚Aus-
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Helma Lutz und Katrin Huxel
länderpädagogik’ bzw. Interkulturelle Pädagogik auf die im Zuge der Arbeitsmigration durch Anwerbung (1955-1973) in die Bundesrepublik Zugewanderten konzentriert hatte. Mittlerweile stehen auch andere Migrationsbewegungen im Fokus der Forschung, bildungsbezogene Migrationsbewegungen sowie Migrationen infolge von (Bürger-)Kriegen, ökologischen Katastrophen, Systemtransformationen usw. Doch welche Migrationsbewegungen auch immer in den Blick genommen werden: Frauen und Männer bzw. Mädchen und Jungen sind in allen vertreten. Die Migrationsentscheidungen werden individuell (Ich muss dazu beitragen, dass meine Kinder bessere Chancen haben) oder in der Familie (Wer geht zuerst? Gehen wir gemeinsam?) getroffen. Dabei spielt auch das Geschlecht eine Rolle, vor allem in Bezug auf Kriterien wie z.B. die geschlechtsspezifischen bzw. nach Geschlecht segregierten Arbeitsmärkte in den Zielländern oder auch hinsichtlich bestimmter traditioneller Verbindungen von Beruf und Geschlecht. Dies spiegelt sich in der Forschung: So z.B. wird die sogenannte Care-Migration zur Übernahme von Reinigungs-, Betreuungs- und Pflegearbeiten in privaten Haushalten vor allem durch Arbeitskräfte aus Osteuropa und Asien vorwiegend als weibliches Phänomen thematisiert (Lutz 2007). Tatsächlich wird bislang über 80% der migrantischen Care-Arbeit von Frauen und etwa 20% von Männern übernommen; vereinzelt sind es auch Ehepaare, die die Haus- und Pflegarbeiten gemeinsam leisten. Weil Care-Arbeit jedoch nicht als männlich wahrgenommen wird, geraten männliche Migranten, die diese Arbeit verrichten, nicht in das Blickfeld der Öffentlichkeit wie auch weitgehend nicht in das der Forschung. Heiratsmigration wird ebenfalls sowohl im inter- als auch im intra-ethnischen Kontext vornehmlich als Migration von Frauen betrachtet, obwohl auch Männer als Heiratsmigranten einreisen – wenn auch in geringerer Zahl (vgl. Büttner & Stichs 2013). Die Studien über die Zuwanderung von Handwerkern oder Bauarbeitern sind ebenfalls geschlechtsspezifisch ausgerichtet; geforscht wird in erster Linie über Männer. In den handwerklichen Arbeitsbereichen sind zwar überwiegend Männer beschäftigt, aber z.B. in der landwirtschaftlichen Saisonarbeit Männer wie Frauen, was sich jedoch nicht angemessen in der entsprechenden Forschung spiegelt (Palenga-Möllenbeck 2013; Lutz 2010). Seit Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnen sind zwei neue Entwicklungen in der Forschung zu Migration und Geschlecht ab: zum einen die Einbeziehung einer ‘queeren‘ Perspektive und zum anderen die transnationale Dimension von Migration. Aus queer-sensibler Perspektive wird kritisiert, dass die feministische bzw. auf Geschlecht bezogene Migrationsforschung Sexualitätsfragen bislang weitgehend ausgeklammert bzw. Homosexualität als einen Sonderfall behandelt habe und somit in einer heteronormativen Matrix gefangen bleibe, obwohl Globalisierung und Migration zur Diversifizierung sexueller Identitäten und Praktiken beitrügen (Castro-Varela & Dhawan 2009; Kosnick 2010). Mit der Einführung des Begriffs Transnationalisierung ist ein Paradigmenwechsel in der Forschung verbunden: Anstelle von Dualität (Herkunfts- und Ankunftsland), Linearität (Emigration aus dem Land X führt zu Immigration ins Land Y) und Monodimensionalität von Zugehörigkeit (eine Person könne nur zu einer Ethnie oder einer Nation gehören) müsse sich der Blick angesichts der transnationalen Bezüge und Netzwerke von Migrantinnen und Migranten auf Mehrfachzugehörigkeiten und mehrfache Ortsbindungen (Ortspolygamie) richten (Lutz 2009).
3 Repräsentationen von Migrantinnen und Migranten Geschlecht kommt im Diskurs um Migration und deren Akteure eine Schlüsselrolle bei der Konstruktion ethnischer Differenz zu. Sowohl Migrantinnen wie Migranten bzw. bestimmte Migrantengruppen können diskursiv zum Gegenstand stereotyper Repräsentationen werden, indem ihnen z.B. eine grundsätzlich andere, von der Mehrheitsgesellschaft verschiedene Ausge-
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Migration und Geschlecht
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staltung des Geschlechterverhältnisses unterstellt bzw. zugeschrieben wird. Bei näherem Hinsehen wird erkennbar, dass eine alltagstheoretisch verbreitete Vorstellung von einer signifikanten Modernitätsdifferenz zwischen Mehrheitsgesellschaft und Zugewanderten bzw. bestimmten Gruppen von Zugewanderten dafür bestimmend sind. Nicht selten wird das, was bestimmten Gruppen von Zugewanderten als Modernitätsrückstand zugeschrieben wird, generalisiert. Der Effekt ist ein doppelter: Die den Zugewanderten zugeschriebene Rückständigkeit markiert diese als ethnisch-kulturelle Minderheit und zugleich wird die Modernität der Mehrheitsgesellschaft (Aufnahmegesellschaft) bestätigt: Fremdheit wird erzeugt und Differenz in hierarchisierender Weise betont. Auch in wissenschaftlichen Diskursen wird vielfach implizit durch Verallgemeinerungen, teilweise auch explizit der Gegensatz von ‚emanzipierter Egalität der Mehrheitsgesellschaft’ und dem ‚traditionellen Patriarchat der Zugewanderten und Migrationsfolgegenerationen’ behauptet. Mit dem Anspruch, weibliche Biographien und Sichtweisen in der Migration sichtbar zu machen, sind ab den späten 1970er Jahren eine Reihe von Studien speziell zu Migrantinnen erstellt worden (vgl. Lutz 2004). Das Interesse galt vor allem Migrantinnen aus muslimisch geprägten Ländern, insbesondere den Migrantinnen aus der Türkei. Ohne die faktische Heterogenität der Migrantinnen aus der Türkei zu beachten, wurden sie vor allem als Opfer patriarchaler Herrschaftsverhältnisse dargestellt. Zugleich wurden die patriarchalen Verhältnisse als typisch für das Herkunftsland und die ‚Herkunftskultur’ definiert und den Migrantinnen und Migranten als Teil ihrer ‚kulturellen Identität’ zugeschrieben; Ausbeutung und Unterdrückung von Frauen wurden als ‚kulturbedingt’ dargestellt und Geschlecht somit kulturalisiert. Mit Beginn der 1990er Jahre ist diese Repräsentation der Migrantin Gegenstand kritischer Forschung im Schnittfeld von Migrations- und Frauen.- resp. Genderforschung (Huth-Hildebrand 2002; Lutz 2004). Unter dem Einfluss poststrukturalistischer Theorie ist verstärkt nach den Modi der Konstruktion von Geschlecht im Migrationsdiskurs gefragt und u.a. kritisiert worden, dass die Figur der (türkischen/muslimischen) Migrantin als Opfer einer patriarchalen Kultur letztlich vor allem der Selbstvergewisserung der als egalitär unterstellten Geschlechterordnung der Mehrheitsgesellschaft diene. Aus postkolonialer Perspektive wird ergänzend auf Forschung zur Mit-Täterinnenschaft an der kolonialen Unterdrückung hingewiesen und auf die dort herausgearbeitete Argumentationsfigur, nach der die ‚emanzipierte westliche Frau’ die „unterdrückte Andere [brauche], um Befreiung überhaupt denken und leben zu können“ (Castro-Varela & Dhawan 2004, S. 297). Aktuell finden sich in Texten der Migrationsforschung wie auch in der erziehungswissenschaftlichen interkulturellen Forschung zwar weiterhin klientelisierende und kulturalisierende Repräsentationen von Migrantinnen, vor allem in Arbeiten zu Themen, in denen Migration und Gender nicht im Mittelpunkt stehen. Doch in anderen Studien und vor allem in Studien der migrationsbezogenen Genderforschung werden Frauen und Mädchen als selbstbewusste Akteurinnen in Migrationsprozessen gezeigt, und – ohne reale Konflikte auszuklammern – gilt das Interesse vor allem aus intersektionaler Perspektive der wechselseitigen Beeinflussung der Konstruktionsprozesse von Geschlecht, Sozialstatus und Ethnizität (Lutz 2007; Ruokonen-Engler 2012). Analog zur Repräsentation von Migrantinnen als Opfer patriarchaler Unterdrückung wurden männliche Migranten lange Zeit fast ausschließlich als patriarchal sozialisierte Ehemänner, Väter und Söhne charakterisiert: als Männer, die ihre Ehefrauen und Töchter in ihrer persönlichen Entfaltung behindern oder diese sogar gewaltsam unterdrücken, oder aber – vor allem in jüngerer Zeit – als junge Männer, die in der Schule und Öffentlichkeit durch deviantes Verhalten auffallen (Scheibelhofer 2008). Gerade junge Migranten erscheinen auch in aktuellen Darstellungen als gewaltaffin und potentiell gefährlich. Gewalt wird in Bezug auf diese Jugendlichen
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Helma Lutz und Katrin Huxel
und jungen Erwachsenen primär als ethnisiertes oder kulturalisiertes, und nur sekundär als vergeschlechtlichtes Phänomen verstanden, denn analysiert werden entsprechende Taten nicht in erster Linie als Gewalt bestimmter (junger) Männer gegen Frauen oder andere Männer – wie das in entsprechenden Studien über männliche Gewalt in der Mehrheitsbevölkerung der Fall ist – sondern vor allem als ein Phänomen ‚ihrer fremden Kultur’. Migranten werden in verschiedenen Studien als ‚hypermaskulin’ oder betont patriarchal eingestellt beschrieben. Ihre Männlichkeit wird als durch ihre (bzw. die ihnen zugeschriebene) ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit determiniert gedacht und als problematisch markiert. Damit wird auch im Fall der Männer die Differenz zwischen ‚patriarchal’ und ‚emanzipiert’ ins Spiel gebracht, zwischen den ‚hypermaskulinen fremden’ Männern bestimmter eingewanderter Minderheiten und den ‚männlichemanzipierten einheimischen Männern der Mehrheitsgesellschaft. Während im Schnittfeld von Migrations- und Genderforschung die Kulturalisierung und Ethnisierung des Geschlechts von Migrantinnen, d.h. die spezifischen Ko-Konstruktionsprozesse von weiblichem Geschlecht und Ethnizität, schon länger kritisch analysiert wird (vgl. Gutiérrez Rodríguez 1999), erfolgt die intersektionale systematische Betrachtung von Männlichkeit und Migration erst seit den frühen 2000er Jahren. Inzwischen ist ein wachsendes wissenschaftliches Interesse an Männlichkeit(en) im Migrationsprozess zu konstatieren, und zugleich werden poststrukturalistische Perspektiven hinsichtlich des Geschlechts als wirkmächtige soziale Konstruktion in den Analysen berücksichtigt. Dabei richtet sich der Blick bei den Migranten inzwischen nicht nur auf Gewalt und Kriminalität, sondern auch auf Care, Schule, Bildung und andere relevante Lebensbereiche (Huxel 2014). Der Forschungsstand zu Migration und Männlichkeit lässt erkennen, dass es zwar immer noch Studien gibt, deren Verfasser/innen mit der Annahme von einer ‚herkunftsbedingten Kulturdifferenz’ als ursächlich für bestimmte – hypermaskuline und patriarchale – Inszenierungs- und Darstellungsformen von Männlichkeit arbeiten, während andere derartige Kulturalisierungs- und Ethnisierungsprozesse unter intersektionaler Perspektive kritisch in den Blick nehmen (Spies 2010; Spindler 2006) und damit an die kritisch-problematisierenden Diskurse über ‚Kultur’ anschließen, wie sie seit Ende der 1990er Jahre auch in der Interkulturellen Pädagogik geführt werden. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Bild von der ‚unselbständigen, unterdrückten Migrantin’ und dem Migranten als ‚heterosexuellem Mann und einzigem Akteur’ in Migrationsprozessen zwar noch nicht aus der Migrationsforschung verschwunden ist, denn es hält sich, vor allem im öffentlichen Diskurs und in den Medien. Doch die Kritik an diesen folgenreichen problematischen ‚Bildern’ einschließlich der Analyse ihrer Funktion ist in der Forschung ebenso präsent. Gender- und queer-sensible Perspektiven können heute nicht mehr ignoriert werden ebenso wenig wie die Tatsache, dass ‚Geschlecht’ (bzw. das ‚Geschlechterverhältnis’) eine der Ordnungskategorien ist, die zur Erklärung wie Rechtfertigung sozialer Ungleichheit und Ausgrenzungen, u.a. im Bildungsbereich, eine wichtige Rolle spielt. Literatur
Bukow, Wolf-Dieter & Llaryora, Roberto (1988): Mitbürger aus der Fremde. Opladen: Westdeutscher Verlag. – Büttner, Tobias & Stichs, Anja (2013): Die Integration von zugewanderten Ehegattinnen und Ehegatten in Deutschland. BAMF-Heiratsmigrationsstudie 2013. Forschungsbericht 22. Nürnberg: BAMF. – Castro-Varela, Maria do Mar & Dhawan, Nikita (2009): Queer mobil? Heteronormativität und Migrationsforschung. In: Helma Lutz (Hg.): Gender Mobil? Geschlecht und Migration in transnationalen Räumen. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 102-121. – Castro-Varela, Maria do Mar & Dhawan, Nikita (2004): Horizonte der Repräsentationspolitik – Taktiken der Intervention. In: Bettina Roß (Hg.): Migration, Geschlecht und Staatsbürgerschaft. Perspektiven für eine antirassistische und feministische Politik und Politikwissenschaft. Wiesbaden: Springer VS, S. 205-226. – Gezer, Özlem (2013): Türkisierung. Der Spiegel, Nr. 45. Online verfügbar unter http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-119402601.html [29.04.2016]. – Gutiérrez Rodríguez, Encarnación (1999): Intellektuelle
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Migrantinnen – Subjektiviäten im Zeitalter von Globalisierung. Eine postkoloniale dekonstruktive Analyse von Biographien im Spannungsverhältnis von Ethnisierung und Vergeschlechtlichung. Opladen: Leske + Budrich. – Hebenstreit, Sabine (1988): Feministischer Ethnozentrismus und Wege zum Verstehen. In: Informationsdienst zur Ausländerarbeit, 9 (3), S. 28-32. – Huth-Hildebrandt, Christine (2002): Das Bild von der Migrantin. Auf den Spuren eines Konstrukts. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel. – Huxel, Katrin (2014): Männlichkeit, Ethnizität und Jugend. Wiesbaden: Springer VS. – Kosnick, Kira (2010): Sexualität und Migrationsforschung: Das Unsichtbare, das Oxymoronische und heteronormatives „Othering“. In: Helma Lutz; Maria Teresa Herrera Vivar & Linda Supik (Hg.): Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts. Wiesbaden: Springer VS, S. 145-163. – Lutz, Helma (1988): Lebensentwürfe ausländischer Frauen. In: Informationsdienst zur Ausländerarbeit, 8 (4), S. 18-22. – Lutz, Helma (2001): Differenz als Rechenaufgabe? Über die Relevanz der Kategorien Race, Class und Gender. In: Helma Lutz & Norbert Wenning (Hg.): Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske + Budrich, S. 215-230. – Lutz, Helma (2004): Migrations- und Geschlechterforschung. Zur Genese einer komplizierten Beziehung. In: Ruth Becker & Beate Kortendiek (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden: Springer VS, S. 476482. – Lutz, Helma (2007): Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Die neuen Dienstmädchen im Zeitalter der Globalisierung. Opladen: Barbara Budrich. – Lutz, Helma (2009): Gender Mobil? Geschlecht und Migration in transnationalen Räumen. In: Helma Lutz (Hg.): Gender Mobil? Geschlecht und Migration in transnationalen Räumen. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 8-26. – Lutz, Helma (2010): Gender in the Migratory Process. In: Journal of Ethnic and Migration Studies, 36 (10), S. 1647-1663. – Lutz, Helma & Wenning, Norbert (2001): Differenzen über Differenz. In: Helma Lutz & Norbert Wenning (Hg.): Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen. Leske + Budrich, S. 11-24. – Morokvasic, Mirjana (1983): Women in Migration: Beyond the reductionist outlook. In: Annie Phizacklea (Hg.): One Way Ticket. Migration and Female Labour. London: Routledge and Keagan Paul, S. 13-31. – Palenga-Möllenbeck, Ewa (2013): New Maids – New Butlers? Polish domestic workers in Germany and the commodification of social reproductive work. In: Equality, Diversity and Inclusion: An International Journal, 32 (6), S. 557-574. – Scheibelhofer, Paul (2008). Die Lokalisierung des Globalen Patriarchen. Zur diskursiven Produktion des „türkisch-muslimischen Mannes“ in Deutschland. In: Lydia Potts & Jan Kühnemund (Hg.): Mann wird man. Geschlechtliche Identitäten im Spannungsfeld von Migration und Islam. Bielefeld: transcript, S. 39-53. – Spies, Tina (2010): Migration und Männlichkeit. Biographien junger Straffälliger im Diskurs. Bielefeld: transcript. – Spindler, Susanne (2006): Corpus delicti. Männlichkeit, Rassismus und Kriminalisierung im Alltag jugendlicher Migranten. Münster: Unrast.
14 Rassismus und Diskriminierung Ulrike Hormel Die Frage ‚Was ist Rassismus?‘ ist in verschiedenen humanwissenschaftlichen Disziplinen und aus der Perspektive unterschiedlicher erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Traditionslinien gestellt worden. Entsprechend stellt Rassismus einen je nach Theoriereferenz und Forschungszugang spezifisch konturierten Gegenstand der wissenschaftlichen Beobachtung dar. In den seit den 1950er Jahren veröffentlichten Unesco-Erklärungen zum Begriff ‚race‘ (vgl. UNESCO 1969) wird der mittlerweile als konsensuell aufzufassende Standpunkt vertreten, dass mit der Unterscheidung von Menschen entlang der Kategorie ‚Rasse’ das Objekt, auf das sich die Unterscheidung bezieht, allererst hergestellt wird. Den Rassismus zeichnet folglich aus, dass er die Existenz unterschiedlicher ‚Rassen‘ behauptet.
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1 Rassismus und Diskriminierung als Gegenstand wissenschaftlicher Beobachtung Theorien über Rassismus haben die historische Tatsache zu berücksichtigen, dass sich Ausprägungen des Rassismus in dem Maße verändern, in dem sich Gesellschaft insgesamt verändert. Analysen zur Erscheinungsweise des Rassismus müssen daher die unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Kontexte, in denen er sich artikuliert, berücksichtigen. In systematischer Hinsicht stellt sich aber die Frage, ob und inwiefern Rassismus überhaupt als ein zeitübergreifend einheitliches Phänomen bestimmt werden kann. Klärungsbedürftig ist insbesondere, worin die innere Logik und die innere Struktur des Rassismus bestehen. Eine gleichermaßen historisch wie systematisch vorgehende Betrachtung hätte daher zu bestimmen, was das Allgemeine und was das Besondere des Rassismus ist. Mit Blick auf die Theoriebildung zu Rassismus sind zwei Hauptlinien zu unterscheiden: Die erste Linie führt zu einer psychologischen resp. sozialpsychologischen Theorietradition, die zweite zu einer sozialwissenschaftlichen resp. gesellschaftstheoretischen. In sozialpsychologischer Perspektive wird Rassismus als ein Komplex individueller Einstellungen, als ein psychischer/mentaler Sachverhalt verstanden; der Analysefokus liegt folglich auf möglichen psychischen Dispositionen des Individuums. Im Kontext gesellschaftstheoretischer Ansätze wird Rassismus hingegen als sozialer/gesellschaftlicher Sachverhalt begriffen und in seiner Form als Diskurs oder Ideologie primär in Referenz auf gesellschaftliche Strukturbildungsprozesse analysiert. Während die Thematisierung von ‚Rassismus‘ als ideologische oder diskursive Struktur einen etablierten Bestandteil der sozialwissenschaftlichen Gegenstandsbestimmung darstellt, wird die Frage nach den basalen sozialen Mechanismen der gesellschaftlichen ‚Realisierung‘ dieser ideologischen oder diskursiven Strukturen erst in jüngerer Zeit mit Bezugnahme auf den zunächst politischrechtlich konturierten Begriff der Diskriminierung aufgegriffen. Seine analytische Tragfähigkeit entfaltet ein sozialwissenschaftlich begründeter Diskriminierungsbegriff allerdings erst, wenn er die Betrachtungsebene direkter vorurteilsgeleiteter Individualhandlungen überschreitet und strukturelle Formen von Diskriminierung und deren Verankerung in gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen in den Analysefokus stellt (vgl. die Beiträge in Hormel & Scherr 2010). Die folgenden Ausführungen zielen zum einen darauf, unterschiedliche Perspektiven der Gegenstandsbestimmung im wissenschaftlichen Diskurs über Rassismus zu skizzieren, zum anderen Diskriminierung als strukturbildenden Mechanismus des Rassismus zu bestimmen.
2 Rassismus und Diskriminierung in der Perspektive der Vorurteilsforschung Den Gegenstand der sozialpsychologischen Vorurteilsforschung bilden soziale Vorurteile als besondere ‚Klasse‘ individueller Einstellungen. Historisch betrachtet ist die Vorurteilsforschung mit dem Anspruch aufgetreten, ein Erklärungsmodell für die Diskriminierung ‚ethnisch’ markierter Gruppen bereitzustellen. Das „ethnische Vorurteil“ ist dementsprechend eine Kernkategorie der Vorurteilsforschung und auch wesentliches Element der klassischen Vorurteils-Definition von Allport (1954/1971, S. 23): „Ein ethnisches Vorurteil ist eine Antipathie, die sich auf eine fehlerhafte und starre Verallgemeinerung gründet. Sie kann ausgedrückt oder auch nur gefühlt werden. Sie kann sich gegen eine Gruppe als ganze richten oder gegen ein Individuum, weil es Mitglied einer solchen Gruppe ist.“ Im Zentrum dieser Begriffsbestimmung steht die auf einer verzerrten Realitätswahrnehmung und Generalisierung beruhende affektiv-negative Bezugnahme auf das Vorurteilsobjekt, wobei die ‚ethnische Gruppe‘ als ein real gegebenes, dem Vorurteil vorgängiges Objekt verstanden
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wird. Allerdings stellt sich die Frage, warum und auf welcher Grundlage Individuen überhaupt als Angehörige ‚ethnischer Gruppen‘ wahrgenommen und als solche klassifiziert werden, und wie sich die Nichtbeliebigkeit des ‚ethnischen‘ Vorurteilsobjekts psychologisch erklären lässt. Dies kann jedoch infolge der schlichten positivistischen Annahme einer Existenz unterschiedlicher Ethnien in der älteren Vorurteilsforschung nicht beantwortet werden. Insgesamt werden Vorurteile daher als anthropologische Konstante, als zur conditio humana gehörende intrapsychische Disposition verstanden. Ansätze, die Vorurteile als quasi-natürliche Verhaltensdispositionen von Individuen verstehen, sind zunehmend von differenzierteren Erklärungsansätzen, deren Vertreter sozialisationstheoretisch oder psychoanalytisch argumentieren, abgelöst worden. Zahlreiche Theorieangebote, so etwa auch die „Theorie des autoritären Charakters“ (vgl. Adorno 1950/1973), gehen dabei davon aus, dass Vorurteile auf der Außen-Projektion ungelöster innerer Konflikte des Individuums basieren und Vorurteilen somit eine psychisch entlastende Funktion bei der externalisierten Konfliktverarbeitung zukomme. Allerdings hat bereits Adorno selbst das Erklärungspotential von individuumszentrierten Ansätzen als begrenzt eingeschätzt und in Hinblick auf den völkischen Antisemitismus z.B. wird der eigene Erklärungsanspruch explizit eingeschränkt: Erklärt werden könne allein, wovon die „Empfänglichkeit des Individuums für solche Ideologien“ (ebd., S. 3) abhänge. Die Entstehung und gesellschaftliche Bedeutung von Rassismus als Ideologie könne hingegen mittels der psychosozialen Dispositionen von Individuen nicht erklärt werden. Vor dem Hintergrund der Kritik an der individualistischen Betrachtungsweise der klassischen Vorurteilsforschung richtet sich der Fokus seit den 1970er Jahren stärker auf die Verankerung von Vorurteilen in Prozessen der Gruppenidentifikation und Gruppenabgrenzung, denen eine zentrale Bedeutung für die soziale Identitätsbildung und die Konsolidierung eines positiven Selbstwertgefühls zugeschrieben wird. Henri Tajfels „Theorie der sozialen Identität“ z.B. liegt dabei ein sozialkonstruktivistisches Verständnis sozialer Wirklichkeit zugrunde, so dass sich die Untersuchungsperspektive auf das Phänomen „sozialer Kategorisierung“, d.h. auf die Zuschreibung von Gruppenzugehörigkeit und damit verbundener diskriminierender Denk- und Handlungsformen verschiebt (vgl. Tajfel 1982). Zudem wird der Anspruch erhoben, die gesellschaftlichen Kontexte und Bedingungen der Genese rassistischer Vorurteile systematisch zu berücksichtigen (vgl. u.a. Pettigrew 1982). In tendenzieller Umkehr der in der Vorurteilsforschung gängigen, aber selbst nicht empirisch untersuchten Annahme, dass Vorurteile zu abwertendem Verhalten und Diskriminierung führen, wird davon ausgegangen, dass gesellschaftsstrukturelle Benachteiligungen und Mechanismen der Diskriminierung (etwa auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt) dazu beitragen, Vorurteile zu generieren und als kollektiv geteilte Interpretationsmuster sozialer Wirklichkeit verfügbar zu machen. Die damit aufgeworfene entscheidende Frage nach den gesellschaftlichen Mechanismen, die Vorurteile als nicht beliebige, kollektiv geteilte Vorstellungen hervorbringen sowie die Frage, inwiefern und unter welchen Bedingungen Vorurteile handlungsleitend sind und diskriminierungsrelevant werden, kann die sozialpsychologische Forschung mit ihren eigenen methodologischen Mitteln jedoch nicht klären. Ein grundlegendes Problem der Vorurteilsforschung scheint darin zu bestehen, dass Rassismus empirisch vorrangig als ein Sachverhalt beobachtet wird, den Individuen ‚im Kopf haben‘. Auch diejenigen, die sozialpsychologische Ansätze vertreten, gehen in ihren meist quantitativen empirischen Untersuchungen weitgehend unkritisch von der Annahme aus, dass das Objekt des Rassismus dem Rassismus vorgängig ist. So interessiert sich etwa das Konzept der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ empirisch ausschließlich für die Beobachtung des angenommenen Faktums der Einstellung, aber nicht dafür, ob die Gruppen, denen mit feindlicher Einstellung begegnet wird, überhaupt existieren bzw. wie sie als Gruppen überhaupt erst hervorgebracht werden (vgl. Zick et al. 2011).
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3 Rassismus in gesellschaftstheoretischer Perspektive In gesellschaftstheoretischer Perspektive wird Rassismus nicht in Form individueller Einstellungen in den Blick genommen, sondern als ein überindividuelles, sozial konstruiertes und als solches geteiltes ‚Wissen‘. Damit verbunden ist die Frage, in welchem Zusammenhang dieses Wissen zu gesellschaftlichen Strukturbildungsprozessen, d.h. ökonomischen, politischen und sozialen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen steht. Ein zentraler Bezugspunkt ist hierbei die Auseinandersetzung mit der in der marxistischen Theorietradition nur unzureichenden Berücksichtigung von Rassismus als eigenständiger Herrschaftsform. Rassismustheoretiker wie Stuart Hall, Robert Miles oder Etienne Balibar gehen davon aus, dass Rassismus nicht aus den kapitalistischen Verhältnissen abgeleitet werden kann, sondern seine eigenen Ursachen und strukturbildenden Folgen hat. Während Rassismus im klassischen Marxismus allenfalls in Form eines ‚falschen Bewusstseins‘ erscheint, argumentieren sie mit Bezug auf die Ideologietheorie Louis Althussers und die Diskurstheorie Michel Foucaults, dass Rassismus keine lediglich falsche Repräsentation der realen gesellschaftlichen Verhältnisse ist, sondern sich für die Individuen als ein für sie als ‚wahr‘ geltendes handlungsrelevantes Interpretationsmodell der sozialen Wirklichkeit darstellt (vgl. etwa Hall 2000). Rassismus wäre demnach als eine Ideologie bzw. als ein Diskurs freizulegen und zu kritisieren, der die Vorstellung, es gebe unterschiedliche ‚Rassen‘ verdinglicht und sozial ‚wahr‘ macht. „Rassismus“, so heißt es bei Hall (2000), „ist eine soziale Praxis, bei der körperliche Merkmale zur Klassifizierung bestimmter Bevölkerungsgruppen benutzt werden (…). [I]n rassistischen Diskursen funktionieren körperliche Merkmale als Bedeutungsträger, als Zeichen innerhalb eines Diskurses der Differenz. Es entsteht (…) ein Klassifikationssystem, das auf ‚rassischen‘ Charakteristika beruht“ (ebd., S. 7). Der Rassismus gründet folglich nicht auf körperlichen Merkmalen als solchen, sondern auf einem als soziale Praxis zu bezeichnenden Vorgang der klassifizierenden Unterscheidung, der Individuen erst zu Angehörigen unterscheidbarer Bevölkerungsgruppen macht. Miles fasst diesen Klassifikationsvorgang als selektiven Prozess der Bedeutungszuschreibung. „Spricht man (…) von ‚Rassen‘, dann ist dies das Resultat eines bestimmten Prozesses der Bedeutungskonstitution: Bestimmte somatische Merkmale (z.B. die Hautfarbe) werden bedeutungsvoll aufgeladen und so zum Einteilungskriterium von als ‚Rasse‘ definierten Bevölkerungsgruppen gemacht“ (Miles 2000, S. 18). Die scheinbar natürlichen Unterscheidungen ‚Schwarz‘ und ‚Weiß‘ sind demnach soziale Klassifikationen, die nur im und durch das Klassifikationssystem des Rassismus ‚Sinn machen‘. Historisch betrachtet ist der Rassismus als modernes ‚wissenschaftliches‘ Wissen in Erscheinung getreten, mit dem ein kausaler Zusammenhang zwischen körperlichen Merkmalen einerseits und intellektuellen Fähigkeiten andererseits behauptet wird. In den Rassentheorien des 18. und 19. Jahrhunderts verknüpft sich die Idee einer kategorialen Ungleichartigkeit der so konstruierten ‚Rassen‘ mit der Behauptung ihrer Ungleichwertigkeit. Der Rassismus verfährt Miles zufolge „praktisch adäquat“ (ebd., S. 25): So legitimierte der Rassismus historisch gesehen die koloniale Ausbeutung, obwohl diese im dezidierten Widerspruch zum Wertesystem der europäischen Aufklärung stand, indem er eine ‚wissenschaftliche Erklärung‘ dafür lieferte, weshalb einige Menschen von den als universalistisch behaupteten Werten der Freiheit und Gleichheit ausgeschlossen werden konnten. Rassismus etablierte sich folglich als ein ‚wissenschaftlich‘ begründetes „Weltbild“ (Dittrich 1991), das auf Grundlage naturalisierender Gruppenkonstruktionen gesellschaftlich produzierte Macht- und Ausbeutungsverhältnisse legitimierte. Die auf dieser Klassifikationslogik basierenden historischen Formen des biologischen/kolonialen Rassismus oder völkischen Rassismus des NS-Staates haben zwar seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-
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derts an Bedeutung verloren, was allerdings nicht bedeutet, dass das Problem des Rassismus überwunden ist. Vielmehr unterliegt der Rassismus seither einem Gestaltwandel. Eine der modernisierten Formen des Rassismus hat Balibar mit dem Begriff „Neo-Rassismus“ bzw. „Rassismus ohne Rassen“ gefasst und zu analysieren versucht. Er beschreibt damit einen „Rassismus, dessen vorherrschendes Thema nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist; [einen] Rassismus, der – jedenfalls auf den ersten Blick – nicht mehr die Überlegenheit bestimmter Gruppen oder Völker über andere postuliert, sondern sich darauf ‚beschränkt‘, die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen zu behaupten“ (Balibar 1992a, S. 28). Dieser auch als „kulturell“ (Hall 2000) oder „differentialistisch“ (Taguieff 1991) bezeichnete Rassismus bezieht sich nicht primär auf phänotypische Merkmale und distanziert sich von der hierarchisierenden Bewertung der über den Topos der ‚kulturellen Differenz‘ konstruierten Gruppen. Charakteristisch für den modernisierten Rassismus ist, dass er vordergründig nicht mehr auf der Idee der Ungleichwertigkeit, sondern der Ungleichartigkeit, nicht mehr auf der Logik der Unterwerfung, sondern der Separation basiert. Das dahinter liegende Klassifikationssystem bleibt jedoch von der semantischen Verschiebung weitgehend unberührt, insofern Kulturen als statisch und vererbbar, als „zweite Natur“ (Taguieff 1991, S. 238) erscheinen und damit als ‚Quasi-Rassen‘ konzeptualisiert werden, deren „radikale Inkommensurabilität“ (ebd., S. 237) behauptet wird. Wie sich am Beispiel des Antisemitismus als einem „Prototyp“ des „Rassismus ohne Rassen“ (Balibar 1992a, S. 32) zeigt, beruht die Wirkmächtigkeit rassistischer Ideologien auf gesellschaftlichen Prozessen der Herstellung sozialer Sichtbarkeit. So weisen Horkheimer und Adorno hinsichtlich des völkischen Antisemitismus darauf hin, dass die systematische Verfolgung und Vernichtung der Juden in Deutschland in einer historischen Situation stattgefunden hat, in der die soziale Sichtbarkeit von Juden über ihre Religionszugehörigkeit in der säkularisierten Industriegesellschaft gerade nicht mehr gegeben war: „Die Eigenart, um derentwillen die Opfer erschlagen werden, ist denn auch selber längst weggewischt. Die Menschen, die als Juden unters Dekret fallen, müssen durch umständliche Fragebogen erst eruiert werden, nachdem unter dem nivellierenden Druck der spätindustriellen Gesellschaft die feindlichen Religionen, die einst den Unterschied konstituierten, durch erfolgreiche Assimilation bereits in bloße Kulturgüter umgearbeitet worden sind […] Der faschistische Antisemitismus muß sein Objekt gewissermaßen erst erfinden“ (Horkheimer & Adorno 1947/1991, S. 216). Um ‚die Juden‘ als ‚Objekt‘ des Antisemitismus hervorbringen zu können, bedurfte es nach Horkheimer und Adorno folglich der bürokratischen Umsetzung der ‚Nürnberger Gesetze‘ als einer – durch den NS-Staat vollzogenen – antisemitischen Klassifikations- und Askriptionspraxis (Zuschreibungspraxis): Erst durch die Erfassung von Familiengenealogien konnte die vermeintliche ‚Gruppe‘ der Juden im Sinne des rassistischen Gesetzes konstruiert und sozial sichtbar gemacht werden. In ähnlicher Weise hat auch der antimuslimische Rassismus als eine spezifische und aktuell bedeutsame Ausprägung des Kulturrassismus sein Objekt erst durch die Konstruktion einer ‚nicht-westlichen islamischen Kultur‘ gewinnen können. Die wesentlich von medialen und öffentlichen Diskursen getragene „Rassifizierung von Muslim_innen“ (Shooman 2011, S. 64), wie sie z.B. durch das verbreitete Bild der ‚unterdrückten Muslimin‘ erfolgt, macht die vermeintlich homogene Gruppe ‚der Muslime‘ allererst sozial sichtbar: Denn erst die Erfindung eines mit der ‚westlichen Kultur‘ nicht zu vereinbarenden ‚islamischen‘ Verständnisses von Geschlechterrollen lässt die Behauptung einer Ungleichartigkeit, Unvereinbarkeit und Ungleichwertigkeit der so konstruierten ‚Kulturen‘ plausibel erscheinen.
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4 Rassismus, Ungleichheit und Diskriminierung Gesellschaftstheoretische Zugänge stimmen darin überein, dass Rassismus nicht auf eine realitätsverzerrende Imagination und ein ideologisches Klassifikationssystem reduziert werden kann, sondern vielmehr ein strukturbildendes „gesellschaftliches Verhältnis“ (Balibar 1992b, S. 54) konstituiert. Dies führt zu der Frage, wie sich dieses Verhältnis im historischen Wandel darstellt. Während sich für den Rassismus des 18. und 19. Jahrhunderts ein enger Zusammenhang zwischen kolonialen Ausbeutungsverhältnissen und den diese legitimierenden rassistischen Ideologien rekonstruieren lässt, ist es für die modernisierte Form des Rassismus deutlich schwieriger zu erfassen, in welcher Hinsicht er gesellschaftlich strukturbildend wirkt. Miles (2000, S. 23) z.B. plädiert dafür, analytisch zwischen rassistischen Ideologien einerseits und „Ausschließungspraxen“ als konkreten ökonomischen und sozialen Benachteiligungen andererseits zu unterscheiden. Zur Klärung der Ursachen von Macht- und Ungleichheitsverhältnissen sollte empirisch offen gehalten werden, ob konkrete Ausschließungspraxen – z.B. das Phänomen der Überrepräsentation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationsgeschichte auf Sonderschulen – Folge einer rassialisierenden Zuschreibungspraxis sind, oder ob diese auf anderweitigen benachteiligenden Mechanismen beruhen. Weil in Bezug auf die moderne Gesellschaft davon ausgegangen werden kann, dass rassistische Ideologien für die gesellschaftlichen Teilsysteme wie das Rechtssystem, das Wirtschaftssystem oder das Erziehungssystem nicht funktionsnotwendig sind, stellt sich beispielsweise die Frage nach den Mechanismen, die gerade in der modernen Gesellschaft systematisch ‚ethnisch‘ markierte soziale Ungleichheitsverhältnisse entstehen lassen. Eine mögliche Antwort hierfür bietet die Theorie der „institutionellen Diskriminierung“ (vgl. Feagin & Booher-Feagin 1986; Gomolla & Radtke 2002), die den Blick darauf lenkt, dass Diskriminierungen in der Migrationsgesellschaft nicht nur Folge eines direkten, intentionalen Verhaltens von Individuen sind, sondern auch indirekt aus den ‚Normalvollzügen‘ gesellschaftlicher Institutionen wie Arbeits- und Bildungsorganisationen resultieren, die einen ungleichen Zugang zu sozialen Positionen und Ressourcen zur Folge haben. So können Zugewanderte aufgrund geringen Einkommens, niedrigen Bildungsniveaus oder prekären Aufenthaltsstatus auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt oder in Bildungsinstitutionen systematisch benachteiligt werden, ohne dass diese Benachteiligung unmittelbar auf rassistische oder ethnisierende Zuschreibungen zurückgeführt werden kann. Festzuhalten bleibt, dass die Frage, in welcher Weise Rassismus als Klassifikationssystem strukturbildend ist, nur auf der Grundlage der empirischen Untersuchung der diskriminierenden Klassifikations- und Askriptionspraxen in Organisationen und Institutionen zu beantworten ist. Dabei ist jedoch zu beachten, dass – wie es der Intersektionalitätsansatz deutlich zeigt – von der faktischen ‚Überschneidung‘ unterschiedlicher Diskriminierungsformen auszugehen ist: So können sich etwa rassistische und sexistische Praxen der Klassifikation und Askription überlagern oder auch ganz andere diskriminierungsrelevante Faktoren wie etwa der Wohnort eines Individuums eine Rolle spielen (vgl. Emmerich & Hormel 2013). In dieser Hinsicht wäre stärkere wissenschaftliche Aufmerksamkeit gegenüber komplexen Mechanismen einer ‚intersektionalen Diskriminierung‘ angezeigt, um rassistische von nicht-rassistischen Diskriminierungen unterscheiden, vor allem aber um der Komplexität der ‚realen‘ Diskriminierungspraxis in der Migrationsgesellschaft Rechnung tragen zu können. Literatur
Adorno, Theodor W. (1973): Studien zum autoritären Charakter. Ausgewählte Kapitel aus The Authoritarian Personality und eine Inhaltsanalyse faschistischer Propagandareden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – Allport, Gordon W. (1971): Die Natur des Vorurteils. Köln: Kiepenheuer & Witsch. – Balibar, Etienne (1992a): Gibt es einen ‚Neo-
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Rassismus‘? In: Etienne Balibar & Immanuel Wallerstein: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten. 2. Aufl. Hamburg: Argument, S. 23-38. – Balibar, Etienne (1992b): Rassismus und Nationalismus. In: Etienne Balibar & Immanuel Wallerstein, ebd., S. 49-84. – Dittrich, Eckhard J. (1991): Das Weltbild des Rassismus. Frankfurt a.M.: Cooperative. – Emmerich, Marcus & Hormel, Ulrike (2013): Heterogenität – Diversity – Intersektionalität. Zur Logik sozialer Unterscheidungen in pädagogischen Semantiken der Differenz. Wiesbaden: Springer VS. – Feagin, Joe; Booher-Feagin, Clairece (1986): Discrimination American Style. Institutional Racism and Sexism. Malabar, Fla: R.E. Krieger. – Gomolla, Mechtild & Radtke, Frank-Olaf (2002): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen: Leske + Budrich. – Horkheimer, Max & Adorno, Theodor W. (1991): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – Hall, Stuart (2000): Rassismus als ideologischer Diskurs. In: Nora Räthzel (Hg.): Theorien über Rassismus. Hamburg: Argument, S. 7-16. – Hormel, Ulrike & Scherr, Albert (2010) (Hg.): Diskriminierung. Grundlagen und Forschungsergebnisse. Wiesbaden: Springer VS. – Miles, Robert (2000): Bedeutungskonstitution und der Begriff des Rassismus. In: Nora Räthzel (Hg.): Theorien über Rassismus. Hamburg: Argument, S. 17-33. – Pettigrew, Thomas F. (1982): Prejudice. In: Thomas F. Pettigrew; George M. Fredrickson; Dale T. Knobel; Nathan Glazer & Reed Ueda (Hg.): Dimensions of Ethnicity. A Series of Selections from the Harvard Encyclopedia of American Ethnic Groups. Cambridge: Harvard University Press, S. 1-29. – Shooman, Yasemin (2011): Keine Frage des Glaubens. Zur Rassifizierung von ‚Kultur‘ und ‚Religion‘ im antimuslimischen Rassismus. In: Sebastian Friedrich (Hg.): Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Münster: Edition Assemblage, S. 59-76. – Tajfel, Henri (1982): Gruppenkonflikt und Vorurteil. Entstehung und Funktion sozialer Stereotypen. Stuttgart: Huber. – Taguieff, Pierre André (1991): Die Metamorphosen des Rassismus und die Krise des Antirassismus. In: Uli Bielefeld (Hg.): Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der alten Welt. Hamburg: Hamburg Edition, S. 221-268. – Unesco (1969): Four statements on the Race Question. Paris. Online verfügbar unter http://unesdoc.unesco.org/images/0012/001229/122962eo.pdf [02.03.2016]. – Zick, Andreas; Küpper, Beate & Hövermann, Andreas (2011): Die Abwertung der Anderen. Die europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung. Hg. von Nora Langenbacher. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung.
15 Migration und Demographie Steffen Kröhnert
Zwischen 1949 und 2013 sind per Saldo etwa elf Millionen Menschen aus dem Ausland nach Deutschland zugewandert. Lange Zeit schien es ausreichend, die Gruppe der Migrantinnen und Migranten anhand des „Ausländeranteils“ zu bemessen, d.h. des Anteils an Menschen, die in Deutschland zwar ihren Lebensmittelpunkt haben, aber nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Bis 2000 war die Zahl der Einbürgerungen gering, zumal es für die meisten Zugewanderten schwierig war, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben, und die Politik die Position vertrat, dass vor allem die angeworbenen ausländischen Arbeitskräfte in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden. Die Entwicklung verlief jedoch anders: Viele der Zugewanderten blieben, und im Laufe der mehr als 60-jährigen Geschichte der Bundesrepublik wurden in diesen Familien etwa sechs Millionen Kinder geboren. Eine „in Deutschland geborene Generation Ausländer“ entstand.
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Steffen Kröhnert
1 Zusammensetzung der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Die Politik reagierte im Jahr 2000 mit einer Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts (Staatsangehörigkeitsgesetz, siehe StAG 2015): Die Einbürgerung von Zugewanderten wurde erleichtert und den in Deutschland geborenen Kindern der Zugewanderten wurde unter bestimmten Bedingungen der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit mit der Geburt ermöglicht. Damit wurde die bloße Unterscheidung in Ausländer und Deutsche im Migrationsdiskurs mehr und mehr obsolet. Hinzu kam, dass eine große Gruppe von Zugewanderten – die Aussiedlerinnen und Aussiedler – aus politischen Gründen sofort die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen konnten. Für diese politisch bedingten neuen demographischen Verhältnisse hat sich in den vergangenen Jahren der Begriff der „Bevölkerung mit Migrationshintergrund“ im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs durchgesetzt. Er bezeichnet all jene Menschen, die entweder selbst nach Deutschland zugewandert sind oder mindestens einen Elternteil mit eigener Migrationserfahrung haben.
Die Migrationsbewegungen seit den 1950er Jahren haben die Zusammensetzung der Bevölkerung nachhaltig verändert: Mittlerweile haben mehr als 20% der Gesamtbevölkerung, d.h. 16,5 von 81 Millionen Einwohnern Deutschlands einen Migrationshintergrund. Dieser Anteil kann sich (zeitweise) erhöhen, z.B. wenn Flüchtlinge in hoher Zahl – auf Zeit oder Dauer – kurzfristig aufgenommen werden. Deutschland, das sich lange nicht als Einwanderungsland sehen wollte, ist inzwischen eines der Haupteinwanderungsländer der westlichen Welt. Die Zuwandernden kamen und kommen aus unterschiedlichen Gründen und verschiedenen Weltregionen nach Deutschland: –– Die größte Gruppe sind die etwa vier Millionen Aussiedler/innen, Angehörige deutschstämmiger Minderheiten aus den ehemaligen deutschen Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie oder aus der ehemaligen Sowjetunion (Woellert & Klingholz 2014, S. 27). Sie sind vor allem nach 1989, nach dem Fall des ‚Eisernen Vorhangs’ in großer Zahl eingewandert. Mittlerweile ist dieses Wanderungspotential erschöpft, ganz abgesehen davon, dass einige der früheren Aussiedlungsländer (z.B. Polen oder Rumänien) inzwischen Mitglieder der EU sind. –– Zur zweitgrößten Migrantengruppe gehören etwa 3,6 Millionen Menschen aus den Ländern der Europäischen Union. Diese Gruppe ist sehr heterogen; sie umfasst Personen, die ehemals als ‚Gastarbeiter’ angeworben wurden (aus Spanien, Italien oder Griechenland) und deren Nachkommen ebenso wie erst kürzlich eingewanderte Arbeitssuchende oder auch Studierende aus den alten wie neuen Mitgliedsländern der EU. –– Zahlenmäßig an dritter Stelle stehen Menschen, die selbst oder deren Eltern aus der Türkei zugewandert sind, insgesamt knapp drei Millionen. Viele von ihnen sind in den 1960er Jahren als ‚Gastarbeiter’ bzw. ‚Gastarbeiterinnen’ oder später als nachziehende Familienangehörige zugewandert. Fast die Hälfte von ihnen gehört der ‚zweiten Generation’ an, d.h. sie sind bereits in Deutschland geboren; diese dritte Gruppe – so könnte man sagen – ist die „deutscheste“ aller Migrantengruppen. –– Weitere 1,4 Millionen Zugewanderte stammen aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawien. Auch von ihnen sind einige schon in den 1960er Jahren angeworben worden, doch der größte Anteil sind Flüchtlinge, die in den 1990er Jahren vor den Kriegen der Balkanrepubliken geflohen sind.
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Die genannten Gruppen machen zusammen drei Viertel der in Deutschland lebenden Bevölkerung mit Migrationshintergrund aus. Zugewanderte aus dem Nahen und Fernen Osten, aus Afrika und aus weiteren Ländern der Welt (in dieser größenmäßigen Reihenfolge) bilden das übrige Viertel der Migrationsbevölkerung; insgesamt sind in der Statistik Zugewanderte aus mehr als 190 Staaten verzeichnet.
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2 Veränderung des Migrationsdiskurses infolge des demographischen Wandels Seit den 1970er Jahren, als nach dem Ende des sogen. Wirtschaftswunders in Westdeutschland die seit Mitte der 1950er Jahre angeworbenen ausländischen Arbeitskräfte keine wirtschaftlich relevante Ressource mehr darstellten, wurde das Thema Zuwanderung in der deutschen Politik und Öffentlichkeit fast ausschließlich unter humanitären und ethnisch-politischen Aspekten diskutiert und gesetzlich geregelt: Familienangehörige der gebliebenen Gastarbeiter/innen sollten nachziehen können, Deutschstämmige aus bestimmten osteuropäischen Ländern in das ‚Land ihrer Vorfahren’ zurückkehren dürfen und Bürgerkriegsflüchtlinge und politisch Verfolgte sollten in der Bundesrepublik Zuflucht finden. Dies, so die Begründung in Auslegung des Artikels 16 des Grundgesetzes, sei man der eigenen, deutschen Geschichte, in der vielfach politisch und ‚rassisch’ Verfolgte anderswo Zuflucht gefunden hätten, schuldig. Wirtschaftliche Aspekte haben in dieser Zeit in der politischen und öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle gespielt. Dabei dürfte die Tatsache, dass die Arbeitslosenquote zwischen 1974 und 2004 fast kontinuierlich von 2,5% auf 12% angestiegen war, eine Rolle gespielt haben. Dies änderte sich als die Wirkungen des demographischen Wandels – vor allem die demographische Alterung der Bevölkerung – in den 2000er Jahren immer deutlicher sichtbar wurden. Die Ursachen reichen Jahrzehnte zurück. Nach einer Höchstzahl von Geburten im Jahr 1964 (Jahr der sogen. Babyboomer) ging die Geburtenzahl nahezu kontinuierlich zurück. 2013 kamen gerade noch halb so viele Kinder zur Welt wie 50 Jahre zuvor. Da die stark besetzten Altersjahrgänge der heute um die 50-Jährigen ‚Babyboomer’ in ein immer höheres Lebensalter gelangen, während gleichzeitig am jugendlichen Ende der Alterspyramide immer weniger Menschen nachrücken, sind die Konsequenzen für die Wirtschaft und Sozialversicherungssysteme erheblich. Denn die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft hängt grundsätzlich von zwei Faktoren ab: von der Zahl der Arbeitskräfte und von deren Produktivität. Beide Größen werden auch von demographischen Faktoren beeinflusst. Infolge des demographischen Wandels verschieben sich die zahlenmäßig stärksten Altersgruppen der Bevölkerung in ein immer höheres Alter. Während in den 2010er Jahren die 45- bis 49-Jährigen noch die zahlenmäßig größte Fünfjahresgruppe innerhalb der Erwerbsbevölkerung stellen, werden es im Jahr 2030 die 60- bis 64-Jährigen sein. Aufgrund der damit einhergehenden ‚Verrentungswelle’ gehen Prognosen davon aus, dass die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter bis zum Jahr 2040 um bis zu einem Viertel abnehmen wird (Destatis 2009). Historisch ist dies ein einmaliger Vorgang. Das schrumpfende Arbeitskräfteangebot könnte künftig zum beschränkenden Faktor für wirtschaftliches Wachstum werden. Vor diesem Hintergrund wird Zuwanderung zunehmend auch als ein Faktor wahrgenommen, der die demographisch bedingte Abnahme der Erwerbsbevölkerung mildern und so zu ökonomischer Prosperität beitragen kann.
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Steffen Kröhnert
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3 Übergang zum Integrationsmonitoring auf Basis messbarer Indikatoren Solange in der Datenerhebung nur der Ausländerstatus berücksichtigt wurde, konnte die Frage der Integration der zugewanderten Bevölkerung nicht angemessen thematisiert werden. Erst seit 2005, mit der Erhebung des Migrationshintergrundes in der amtlichen Bevölkerungsbefragung Mikrozensus, ist eine Datenbasis geschaffen worden, die detaillierte Erkenntnisse über die soziale und ökonomische Situation der Migrationsbevölkerung einschließlich der zweiten Generation möglich. Die auf dieser Datenbasis in sozialwissenschaftlichen Analysen gewonnenen Erkenntnisse haben eine Reihe von Integrationsmängeln offengelegt. Auf der Basis von Daten aus dem Jahr 2007 sind z.B. Woellert et al. (2009) zu dem Ergebnis gekommen, dass lediglich Zugewanderte aus EU-Ländern als ökonomisch gut integriert angesehen werden können, insofern ihre Erwerbsquote ähnlich hoch wie die von Einheimischen ist. Zugleich zeigte sich, dass der Anteil von Zugewanderten aus der EU mit Hochschulbildung sogar größer ist als der unter Einheimischen – ein Hinweis darauf, dass Deutschland ein Anziehungspunkt auch für die europäische Bildungselite geworden ist. Eine auf jüngeren Daten von 2010 basierende Nachfolgestudie (Woellert & Klingholz 2014, S.41) gibt Auskunft über den Anteil derjenigen Personen, die überwiegend von öffentlichen Leistungen anhängig sind: Bei Menschen ohne Migrationshintergrund sind es 8%, bei Aussiedlern 12%, bei Menschen mit türkischem Migrationshintergrund 18% und bei Migranten aus dem Nahen Osten 32%. Diese Daten spiegeln unter anderem Bildungsdefizite wider, denn 11% dieser Zugewanderten verfügten über keinen Bildungsabschluss im Unterschied zu nur 1% von Menschen ohne Migrationshintergrund. Auch unter den in Deutschland geborenen Nachkommen von Zugewanderten bleiben 5% ohne Schulabschluss, wobei hier die Anteile bei bestimmten Zuwanderergruppen besonders hoch sind. In Politik und Medien wird vielfach die Situation der türkeistämmigen Migrationsbevölkerung kritisch diskutiert. Sie gehört zu den am längsten in Deutschland lebenden Zuwandergruppen; die Hälfte ihrer Mitglieder ist in Deutschland geboren. 2010 verfügten 25% von ihnen über keinerlei Bildungsabschluss und lediglich 20% über eine Hochschulreife – der geringste Wert unter allen Zuwandergruppen. Die Daten zeigen zwar auch, dass sich der Bildungsstand der Migranten türkischen Migrationshintergrunds mit der in Deutschland aufgewachsenen Generation verbessert, aber er bleibt deutlich hinter dem der autochthonen Bevölkerung zurück. Damit wurde die Notwendigkeit einer zielgerichteten und evaluationsbasierten Integrationspolitik mittels Indikatoren basierter Integrationsstudien offensichtlich, wie sie seit 2007 vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration durchgeführt werden (z.B. SVR 2010) und von der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge (z.B. Beauftragte 2012).
4 Migration als Beitrag zur Bewältigung der demographischen Alterung Es ist nicht zu übersehen, dass die Zahl junger Menschen auf dem Lehrstellenmarkt deutlich zurückgeht: In der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen ist sie zwischen 1990 und 2010 von 10,7 Millionen auf 8,7 Millionen gesunken (Destatis 2014). Hinzu kommt, dass immer mehr junge Menschen ein Studium aufnehmen. Beides hat zur Folge, dass das Angebot an Ausbildungssuchenden für kleine und mittlere Unternehmen immer kleiner wird. Auch dies hat dazu beigetragen, dass in den vergangenen Jahren das ökonomische und demographische Argument pro Zuwanderung immer stärker vorgetragen worden ist. Deutschland benötige Zuwanderung, um die demographisch bedingten Probleme des Fachkräftemangels und der befürchteten ab-
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nehmenden Innovationsfähigkeit einer alternden Erwerbsbevölkerung zumindest teilweise zu kompensieren. Die starke Zuwanderung, die Deutschland seit 2010 erlebt, trifft daher im zweiten Jahrzehnt der 2000er Jahre kaum noch auf jene Vorbehalte seitens der Politik, wie sie noch in den 1990er Jahren zu hören waren. Die neue Migration wird einerseits von der europäischen Integration osteuropäischer Staaten, andererseits von der krisenhaften Entwicklung in den südeuropäischen EU-Staaten Griechenland, Spanien und Italien gespeist, und seit 2014 kommen die Fluchtbewegungen infolge der Kriege und Krisen im Nahen Osten wie in einigen afrikanischen Ländern hinzu. Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung ist eine wirksame ‚Integrationspolitik‘, u.a. auch eine entsprechende Bildungspolitik, von besonderer Bedeutung: Zum einen weil nur gut gebildete Zuwanderer und Zuwanderinnen eine Chance auf sozialen Aufstieg haben, und zum anderen weil der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in der jüngeren Generation immer mehr zunimmt. Die Gruppe mit Migrationshintergrund weist eine höhere Fertilität auf, mit der Folge, dass der Anteil der Migrationsbevölkerung um so höher, je jünger die betrachtete Bevölkerungsgruppe ist. So hatten in 2015 im Bundesdurchschnitt etwa 21% der Gesamtbevölkerung einen Migrationshintergrund, bei den unter Zehnjährigen war es bereits ein Drittel. Aus demographischer Sicht braucht Deutschland kontinuierlich Zuwanderung, um Lasten, die durch die demographische Alterung der Bevölkerung entstehen, zu mildern. Dies gelingt jedoch nur, wenn zugleich durch eine gezielte Integrationspolitik dafür Sorge getragen wird, dass die nachwachsenden Generationen mit Migrationshintergrund so gut ausgebildet werden, dass sie ähnliche Chancen auf sozialen Teilhabe und sozialen Aufstieg erleben, wie die Nachkommen der autochthonen Bevölkerung. Literatur
Beauftragte (2012): Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (2012): Zweiter Integrationsindikatorenbericht. Köln/Berlin. Online verfügbar unter http://www.bundesregierung.de/Webs/ Breg/DE/Bundesregierung/BeauftragtefuerIntegration/weitereschwerpunkte/monitoring/monitoring.html [27.01.2016]. – Destatis (2014): Genesis-Online Datenbank. Online verfügbar unter http://www-genesis.destatis. de [27.01.2016]. – Destatis (2009): Bevölkerung Deutschlands bis 2060. 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. – Woellert, Franziska; Kröhnert, Steffen; Sippel, Lilli & Klingholz, Reiner (2009): Ungenutzte Potenziale. Zur Lage der Integration in Deutschland. Berlin: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. – Woellert, Franziska & Klingholz, Reiner (2014): Neue Potenziale. Zur Lage der Integration in Deutschland. Berlin: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. – SVR (2010): Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2010): Einwanderungsgesellschaft 2010 mit Integrationsbarometer. Berlin. Online verfügbar unter http://www.svr-migration.de/publikationen/jahresgutachten-2010-mit-integrationsbarometer/ [27.01.2016]. – StAG (2015): Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG). Staatsangehörigkeitsgesetz in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 102-1, veröffentlichten bereinigten Fassung; zuletzt geändert durch Art. 3 G vom 28.10.2015; 1802. Online verfügbar unter http://www.gesetze-iminternet.de/hinweise.html#stand [27.01.2016].
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Leonie Herwartz-Emden
16 Migration und Sozialisation Leonie Herwartz-Emden
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1 Ausgangspunkt und Merkmale Sozialisation gehört zu den grundlegenden Erscheinungen des menschlichen Lebens, für die eine kulturvergleichende Analyse eine lange Tradition hat. Der Begriff der interkulturellen Sozialisation bezieht sich auf Bedingungen, Prozesse und Wirkungen des Aufwachsens und Lernens in Situationen der Kulturbegegnung. Die interkulturelle Sozialisationsforschung kann als Teilbereich der kulturvergleichenden Sozialisationsforschung bestimmt werden, wobei die Komplexität dieses Forschungsansatzes, der sich nicht auf einen bestimmten Gegenstandsbereich, eine bestimmte Wissenschaftsdisziplin oder ein bestimmtes methodisches Verfahren beschränkt, hervorzuheben ist (Liegle 1982). Der Zusammenhang zwischen Kultur und Sozialisation kann so gesehen werden, dass Kultur eine Hervorbringung menschlicher Erfahrung ist, deren Weitergabe der Sozialisation obliegt. Kulturelle Besonderheiten sind dabei Bedingungsfaktoren und Ergebnis von Sozialisation; Kultur und Sozialisation sind untrennbar miteinander verbunden (Trommsdorff 1989; 2008). Kulturelle Tradierung sollte in der Theoriebildung als Merkmal von Sozialisationsprozessen konzeptualisiert werden. Der kulturelle Kontext muss jedoch nicht nur in Theoriebildung, sondern auch in Methodologie und Methodenfragen der Sozialisationsforschung einbezogen werden, wenn ethnozentrische Aussagen vermieden werden sollen. Die Sozialisationsforschung hat sich seit ihren Anfängen in verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten entwickelt, ein interdisziplinärer Bezug ist unabdingbar. Für das Gebiet der interkulturellen Sozialisationsforschung sind neben kulturvergleichenden Arbeiten der Bildungsforschung psychologische, insbesondere entwicklungspsychologische, soziologische, migrationssoziologische und kulturanthropologische/ethnologische Forschungen und Theorieentwicklungen von hoher Relevanz. Der kulturvergleichende Ansatz ist seit Beginn der wissenschaftlichen Entwicklung der Humanwissenschaften (insbesondere von Psychologie und Soziologie) als Methode verwendet worden. Die anthropologischen Feldforschungen Bronislaw Malinowskis und Margaret Meads ab den 1920er Jahren hatten erstmals empirisch nachgewiesen, wie unterschiedlich Sozialisationsbedingungen und individuelles Verhalten in verschiedenen Kulturen sind. Erste Bezüge zwischen Sozialisationstheorie und Migrationsforschung sind in der Studie von William I. Thomas und Florian Znaniecki über polnische Einwanderer nach Chicago zu finden (The Polish Peasant in Europe and America, 5 Bde., 1918–1920).
2 Interkulturalität und interkulturelle Sozialisation in der fachlichen Entwicklung Interkulturalität und folglich ein interkultureller Vergleich in der Erforschung von Erziehung und Bildung sind nicht auf die Folgen von Migration zu beschränken. Aber: Die Entwicklung des Arbeitsmarktes mit der Anwerbung von sog. Gastarbeiter/innen hatte in der Bundesrepublik Deutschland zu unvorhergesehenen Folgen im Bildungssystem geführt: Es gab Schulklassen mit überwiegend (damals so genannten) ‚ausländischen‘ Kindern, die kein Deutsch sprachen und
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Migration und Sozialisation
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deren Eltern – oft unvertraut mit den Bedingungen der deutschen Schule – kaum Hilfestellungen vorfanden. Die Erfahrung von Interkulturalität wurde zu einer alltäglichen Erfahrung für Schüler/innen und Lehrkräfte. Sozialisation in der Schule und zwischen Schule und Familie war von da an unübersehbar durch Interkulturalität gekennzeichnet – wobei dies für alle an den Prozessen des Aufwachsens und Unterrichtens Beteiligten galt und keineswegs alleine für Migrantenkinder und -jugendliche. Interkulturalität wurde zum Phänomen, das nach einer wissenschaftlichen Betrachtung verlangte und als innergesellschaftliches Moment zu analysieren war. In der Erziehungswissenschaft stand zu diesem Zeitpunkt vornehmlich der institutionenbezogene Vergleich bzw. der Vergleich von Bildungssystemen und -strukturen im Vordergrund des Interesses; die Prozesse von Sozialisation und Erziehung innerhalb und außerhalb von Schule gerieten kaum in den Fokus der Forschung. In der kulturvergleichenden Pädagogik wie auch allgemein in der empirischen Sozialforschung waren seit dem Zweiten Weltkrieg national-repräsentative Querschnittserhebungen die dominante Untersuchungsform. Interkulturalität wurde ab den 1980er Jahren zum Thema in der ursprünglich so bezeichneten „Ausländerpädagogik“. Das Verständnis von Sozialisation, das in diesen Anfängen der Beschäftigung mit Migration ersten Theorieansätzen und Studien zugrunde lag, war weitgehend reduktionistisch und ‚defizit orientiert‘; in den deutschsprachigen Untersuchungen hatte sich noch keine angemessene Theoretisierung eines interkulturellen Sozialisationsprozesses, die auch internationale Forschungen rezipierte, ergeben. Eine Wende brachte ab 1990 das in der Erziehungswissenschaft entwickelte DFG-Forschungsschwerpunktprogramm FABER (Gogolin 2000), das sich interdisziplinär und, angelehnt an die Ergebnisse internationaler Migrationsforschung, den Folgen der Arbeitsmigration für Bildung und Erziehung zuwandte und empirische Forschung forcierte. In den in FABER durchgeführten Studien wurde eine weitreichendere und der o.g. ‚Defizitorientierung‘ entgegengesetzte Perspektive eingebracht. Ein Beispiel stellen die Studien des Soziologen Bernhard Nauck (z.B. Nauck et al. 1997) dar. Sein individualistisch-strukturtheoretischer Ansatz erklärt Anpassungsstrategien und Verhaltensweisen von Migrantinnen und Migranten aus einer ‚rationalen‘, der Situation angemessenen Haltung der Individuen und nicht aus ‚kulturellen Zwängen‘ und Zugehörigkeiten. Die empirischen Forschungen von Leonie Herwartz-Emden in Zusammenarbeit mit Sedef Gümen und Manuela Westphal (FAFRA) basierten auf einer sozialisationstheoretischen Per spektive, die die Kategorien Ethnizität und Geschlecht mit theoretischen Erklärungen aus der Migrations- und Akkulturationsforschung und der Genderforschung verwob (Herwartz-Emden 2000) und sich auf die verschiedenen Akteure und Ebenen der Migrantenfamilie bezog. Kennzeichnend für die beiden in FABER durchgeführten Forschungen war, dass nicht eine einzelne Migrantengruppe im Fokus stand, sondern dass vergleichend geforscht wurde: zwischen verschiedenen Gruppen von Migrant/innen und Einheimischen, nicht gewanderten Familien bzw. vergleichend zu Familien im Herkunftsland. Wesentliche Impulse für die Entwicklung der Migrationsforschung und auch einer interkulturellen Sozialisationsforschung gaben neu gegründete, interdisziplinär arbeitende Zentren an den Universitäten, so z.B. das an der Universität Osnabrück 1991 gegründete IMIS, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien. Interkulturalität ist unterdessen zu einem grundlegenden Aspekt des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen geworden (siehe dazu die Zusammenschau in Herwartz-Emden et al. 2010) und zu einem aktuellen Thema in der Sozialisationsforschung verschiedener Disziplinen. In der Erziehungswissenschaft ist es gelungen, Interkulturalität als wesentliche Fragestellung weitgehend in die Themengebiete und Subdisziplinen zu übernehmen, wie einschlägige Publikationen in Form von Themenheften, Sammelbänden und Handbüchern darlegen – es mangelt teilweise noch an Theoriebildung, Methodologie und vielfach an empirischer Erforschung der Phänomene.
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Leonie Herwartz-Emden
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3 Sozialisation und Akkulturation Ein angemessenes theoretisches Verständnis eines interkulturellen Sozialisationsprozesses erfordert den Einbezug von Migrationstheorie und internationaler Migrationsforschung. Grundlagen dazu finden sich ebenfalls in der subjektorientierten Ausrichtung der Sozialisationsforschung, der Akkulturationsforschung und ihren interdisziplinären Bezügen. Die mit Migration verknüpften Erfahrungen der Andersartigkeit der gesellschaftlichen und kulturellen Umgebung des Aufnahmelandes setzen einen Prozess des Wandels und der Anpassung in Gang, der mit dem Begriff Akkulturation bezeichnet wird. Mit der Thematisierung von Akkulturation wird zugleich die praktisch-politische Bedeutung der interkulturellen Sozialisationsforschung unterstrichen, denn die Einwanderungsgesellschaft ist in breitem Ausmaß mit Akkulturationsprozessen konfrontiert (dies betont Liegle bereits 1982). Der Sozialisationsprozess kann als Prozess bestimmt werden, durch den in der Interdependenz zwischen individuellen Akteuren und ihrer physischen und sozialen Umwelt relativ dauerhafte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen entstehen (Hurrelmann et al. 2008). Im interkulturellen Sozialisationsprozess, der in verschiedenen Konstellationen zustande kommen kann und im Zusammenhang mit einem Zweitspracherwerb steht, finden in der Dynamik des Zusammentreffens der beteiligten gesellschaftlichen Kontexte Aushandlungsprozesse, Anpassungen und auch Abgrenzungsbemühungen statt. Es lassen sich eine Reihe von Merkmalen und Faktoren identifizieren, die den Entwicklungsverlauf anders als in einer monokulturellen Sozialisation beeinflussen: Ist eine direkte Migrationssituation vorhanden, findet Sozialisation zunächst über die Sozialisation des Herkunftslandes im Rahmen von Enkulturation, dann im Aufnahmeland über die Akkulturation statt. Ist das Individuum im Aufnahmeland geboren, ist der Sozialisationshintergrund des Herkunftslandes – über die verantwortlichen Akteure vermittelt – in den Gesamtprozess involviert. Wesentlich anzumerken ist, dass Machtbeziehungen und Statusfragen bzw. Determinanten von Mehrheits- und Minderheiten-Beziehungen sowie rassistisch geprägte Strukturen und Ausschlussmechanismen auf allen Ebenen des Geschehens in Sozialisation und Akkulturation eingewoben sind. Das Akkulturationsgeschehen wird demnach nicht allein durch die Fähigkeiten der Zugewanderten bestimmt, sondern in hohem Maße auch durch Vorgaben, Zuschreibungen, Wahrnehmungen, Ideologien und Reaktionen der Mehrheitsgesellschaft (Zick 2010). Akkulturative Reaktionen werden von beiden Seiten gefordert, so dass sich in der Folge auch nicht-gewanderte Gruppen einer Gesellschaft in Akkulturationsprozessen befinden (ebd.). Akkulturation ist in ihrem Verlauf nicht eindimensional und neben den affektiven und kognitiven Veränderungen entstehen Verhaltensänderungen sowie Veränderungen, die sich über den Kontext selbst und über die Zeit ergeben (Leyendecker 2012). Unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten von Akkulturationsstrategien zeigt John W. Berry auf (Berry 1980). Er entwickelte hierzu ein einflussreiches Modell, das in vielen empirischen Forschungen rezipiert wird.
4 Interkulturelle Sozialisation in Sozialisationskontexten und -verläufen Familie stellt für Sozialisation den unmittelbaren informellen Kontext dar, in welchem in allen Kulturen Sozialisationserfahrungen vermittelt werden (Trommsdorff 2008). Aktuelle europäische und internationale empirische Forschungen widmen sich mit einer Vielfalt von Fragestellungen der Familie unter den Bedingungen der Migration (so z.B. der Band „Migration, Familie und Gesellschaft“, hrsg. von Geisen et al. 2014). Die interkulturelle Erforschung der Familie bietet die Möglichkeit, vergleichend Beziehungen zwischen den Generationen, Erziehungsvor-
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stellungen und Konzepten von Vaterschaft und Mutterschaft in den Blick zu nehmen (z.B. Westphal 2000). Interkulturell angelegte Studien zur Lebenswelt von Kindern bzw. Kindheit, die sich vor dem Hintergrund einer theoretisch breit ausgearbeiteten Modellierung gruppenbezogen auf den familiären Lebenszusammenhang von Kindern mit Migrationshintergrund richten und diesen Kontext differenziert aufschlüsseln, fehlen in der deutschsprachigen Forschung (Herwartz-Emden & Mehringer 2011).Vorhandene Studien fallen in ihrer theoretischen Ausgestaltung oft hinter Arbeiten aus der soziologischen Migrationsforschung zurück. Ähnliches gilt für die Jugendforschung. Das Lebensalter Jugend wird als Thema der interkulturellen Sozialisationsforschung vielfach in thematischen Rahmungen wie Jugend und Bildung, Medien, Jugendkulturen abgehandelt. Interkulturalität erscheint nicht als durchgängige Perspektive. Noch wenig empirische Forschung findet sich zu der Frage, wie Sozialisation in der Adoleszenz geschlechtsspezifisch und im Zusammenhang mit der Erfahrung kultureller Differenz zusammenspielt (Herwartz-Emden 1997); weiterführende Ansatzpunkte und Theoretisierungen ergeben sich in Veröffentlichungen, in denen auf gesellschaftliche Positionierung, Konstruktionsprozesse und Ressourcen in der Adoleszenz abgehoben wird (Geisen 2007).
5 Veränderungen von Sozialisation als Herausforderung der Forschung Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Migration und Sozialisation
Weit differenzierter als in der bisherigen Forschung muss nach den biographischen, kontextuellen und insbesondere familiären Bedingungen und Ressourcen der einzelnen Herkunftsgruppen geforscht werden, um interkulturelle Sozialisation in ihrer Komplexität erfassen zu können. Das Geschehen ist eingebunden in Wandlungsprozesse der Migration selbst, die wiederum die innergesellschaftliche Interkulturalität beeinflussen. In den Überlegungen, die sowohl der Bildungspolitik als auch den ersten Forschungen zugrunde lagen, ging man anfänglich davon aus, dass Sesshaftigkeit der Normalfall ist, der durch Migration nur vorübergehend unterbrochen wird. In den letzten Jahrzehnten ergaben sich tiefgreifende Veränderungen der internationalen Migration und der Gestaltung internationaler Mobilität. Unter der Bedingung von Transmigration (Pries 1997) wird Interkulturalität eine dauerhafte biographische Erfahrung für Individuen. In der Migration verlagern sich die Sozialisationsagenten in ein anderes Land, in der Transmigration verbleiben unterschiedliche Familienmitglieder für längere Zeiträume an verschiedenen Orten bzw. agieren sozialisationstheoretisch betrachtet, delokalisiert von Ort und Raum. Stuart Hall beschreibt die pluralisierende Wirkung der Globalisierung auf Identitäten und die Kultur der Hybridität als Normalfall gegenwärtiger Gesellschaften (Hall 1994). Die Studien, die in den letzten Jahren z.B. im Zusammenhang mit dem simultanen Agieren von Transmigrant/ innen in verschiedenen kulturellen Systemen entstanden sind, zeigen, dass Transmigration die Lebensbezüge der Familien und Sozialisationsbedingungen verändert. Neuartige Formen internationaler Arbeitsteilung, die sich in der globalisierten Welt verbreiten, lassen Sozialisationsbedingungen, auch für die ‚westliche‘ Welt entstehen, die in den bisherigen Überlegungen nicht erfasst werden und folglich eine Erweiterung von Sozialisationstheorie notwendig erscheinen lassen. Versorgungsarbeit im Privaten wird über Migration – teilweise in der Illegalität – delegiert, was das Ausmaß globaler Betreuungsketten und neuer Betreuungshierarchien belegt (Beck & Beck-Gernsheim 2011). Zu verweisen ist auch auf Veränderungen in den frühkindlichen Bedingungen des Aufwachsens, die sich durch die sich verbreitende Reproduktionstechnologie und kommerzielle Leihmutterschaften in weltweiter Arbeitsteilung ergeben (ebd.). Randthemen in der Sozialisationsforschung sind bis dato noch alle Fragen, die sich durch die Zunahme von Flüchtlingen in Deutschland für Kindheit und Sozialisation ergeben; Traumatisierungen sind generationenübergreifend wirksam in Sozialisationsprozessen. Die genannten Themenfel-
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Leonie Herwartz-Emden
der sollten mehr Aufmerksamkeit in der Sozialisationsforschung finden – was bedeuten diese Aspekte für die Sozialisation?
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6 Methodische Aspekte interkultureller Sozialisationsforschung In der Erforschung interkultureller Sozialisationsprozesse ist die vergleichende Perspektive zentrales Gestaltungselement für Theorie und Methode. Verglichen werden Gruppen, Kontexte und auch Generationen sowie alle Ebenen und Gestaltungsformen des Sozialisationsprozesses. Kindliche, jugendliche und familiäre Lebenswelten sollten in ihrer Ganzheit längsschnittlich und interkulturell vergleichend betrachtet werden. Da Sozialisationstheorie im Schnittbereich verschiedener human- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen angesiedelt ist und sich sozusagen auf alle wichtigen sozialwissenschaftlichen Theorietraditionen bezieht, ist eine Vielzahl von Forschungsparadigmen relevant. Eine Pluralität von Methoden ist einsetzbar, von quantitativer Forschung und dem Fragebogen bis zur qualitativen Feldforschung mit teilnehmender Beobachtung. Um zu relevanten Aussagen zu gelangen, muss ein tiefes Verständnis für die besondere Bedeutung sozialer und kultureller Praktiken in ihrem jeweiligen Kontext entwickelt werden, die ‚lokal begrenzte‘ Sicht wird aufgegeben und ist dennoch relevant. Kulturspezifische (emische oder „emic“) und kulturübergreifende (etische oder „etic“) Perspektiven müssen als Bezugspunkte und Schritte im – empirischen – Forschungsprozess verstanden werden. Tiefgehende kulturspezifische Analysen werden für die Konstruktion kulturangepasster Instrumente benötigt. Zusätzliche Überlegungen, die sich auf soziale Positionierungen und Machthierarchien beziehen, sind unverzichtbar und in die Erhebungssituation mit einzubeziehen (Herwartz-Emden 1995; 2000). In Befragungen, auch in qualitativen Interviews, sind eine Reihe von Verzerrungseffekten wirksam, wie Paternalismus-, Ethnisierungs- , Kultur-, Gender- und Tabuisierungseffekte, die es für eine interkulturell valide Untersuchungsgestaltung zu berücksichtigen gilt (HerwartzEmden 2000). Die Erforschung interkultureller Sozialisation muss sich auf Erkenntnisse stützen können, die im Zusammenhang mit einer entsprechend sensiblen und auf die interkulturelle Situation bzw. Einwanderungssituation bezogenen Methodik entstanden sind. Literatur
Beck, Ulrich & Beck-Gernsheim, Elisabeth (2011): Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter. Berlin: Suhrkamp. – Berry, John W. (1980): Acculturation as varieties of adaptation. In: Amando M. Padilla (Hg.): Acculturation: Theory, models and some new findings. Boulder: Westview Press, S. 9-25. – Geisen, Thomas; Studer, Tobias & Yildiz, Erol (Hg.) (2014): Migration, Familie und Gesellschaft. Beiträge zu Theorie, Kultur und Politik. Wiesbaden: Springer VS. – Geisen, Thomas (2007): Der Blick der Forschung auf Jugendliche mit Migrationshintergrund. In: Christine Riegel & Thomas Geisen (Hg.): Jugend, Zugehörigkeit und Migration. Wiesbaden: VS Verlag, S. 27-60. – Gogolin, Ingrid (2000): Minderheiten, Migration und Forschung. Ergebnisse des DFG-Schwerpunktprogramms FABER . In: Ingrid Gogolin & Bernhard Nauck (Hg.): Migration, gesellschaftliche Differenzierung und Bildung. Resultate des Forschungssschwerpunktprogramms FABER . Opladen: Leske + Budrich, S. 15-35. – Hall, Stuart (1994): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument. – Herwartz-Emden, Leonie (1995): Methodologische Überlegungen zu einer interkulturellen empirisch-erziehungswissenschaftlichen Forschung. In: Zeitschrift für Pädagogik 41 (5), S. 745-764. – Herwartz-Emden, Leonie (1997): Die Bedeutung der sozialen Kategorien Geschlecht und Ethnizität für die Erforschung des Themenbereichs Jugend und Einwanderung. In: Zeitschrift für Pädagogik 43 (6), S. 895-913. – Herwartz-Emden, Leonie (Hg.) (2000): Einwandererfamilien. Geschlechterverhältnisse, Erziehung und Akkulturation. Osnabrück: Rasch. – Herwartz-Emden, Leonie & Mehringer, Volker (2011): Lebenswelt und Sozialisationsbedingungen von Kindern mit Migrationshintergrund aus Sicht aktueller Kinderstudien. In: Svendy Wittmann; Thomas Rauschenbach & Hans Rudolf Leu (Hg.): Kinder in Deutschland. Weinheim: Juventa, S. 234-266. – Herwartz-Emden, Leonie; Schurt, Verena & Waburg, Wiebke (2010): Aufwachsen in heterogenen Sozialisationskontexten. Wiesbaden: VS Verlag. – Hurrelmann, Klaus; Grundmann, Matthias & Walper, Sabine (2008): Zum Stand der Sozialisationsforschung. In: Klaus Hurrelmann; Matthias Grundmann & Sabine Walper (Hg.): Handbuch Sozialisationsforschung. 7. Aufl. Weinheim: Beltz,
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S. 4-31. – Leyendecker, Birgit (2012): Zuwanderung, Diversität und Resilienz – eine entwicklungspsychologische Perspektive. In: Michael Matzner (Hg.): Handbuch Migration und Bildung. Weinheim: Beltz, S. 57-72. – Liegle, Ludwig (1982): Kulturvergleichende Ansätze in der Sozialisationsforschung. In: Klaus Hurrelmann & Dieter Ulich (Hg.): Neues Handbuch der Sozialisationsforschung. 2. Aufl. Weinheim: Beltz, S. 197-225. – Nauck, Bernhard; Kohlmann, Annette & Diefenbach, Heike (1997): Familiäre Netzwerke, intergenerative Transmissionen und Assimilationsprozesse bei türkischen Migrantenfamilien. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 49, S. 477-499. – Pries, Ludger (1997): Transnationale Migration. Soziale Welt; Sonderband 12. Baden-Baden: Nomos. – Trommsdorff, Gisela (1989): Kulturvergleichende Sozialisationsforschung. In: Gisela Trommsdorff (Hg.): Sozialisation im Kulturvergleich. Stuttgart: Ferdinand Enke, S. 6-24. – Trommsdorff, Gisela (2008): Kultur und Sozialisation. In: Klaus Hurrelmann; Matthias Grundmann & Sabine Walper (Hg.): Handbuch Sozialisationsforschung. 7. Aufl. Weinheim: Beltz, S. 229-239. – Westphal, Manuela (2000): Vaterschaft und Erziehung. In: Leonie Herwartz-Emden (Hg.) (2000): Einwandererfamilien. Geschlechterverhältnisse, Erziehung und Akkulturation. Osnabrück: Rasch, S. 121-204. – Zick, Andreas (2010): Psychologie der Akkulturation. Neufassung eines Forschungsbereiches. Weinheim: VS Verlag.
17 Bi-kulturelle Partnerschaften und Ehen Bernhard Nauck und Vivian Lotter
1 Begriffsklärung Befunde zur sozialen Distanz zwischen Personen der Aufnahmegesellschaft und Zuwanderern zeigen, dass Familienbeziehungen diejenigen sind, in denen „zuletzt“ interethnische Beziehungen gewünscht werden. Entsprechend häufig sind interethnische und bi-nationale Eheschließungen als ein besonders „harter“ Indikator für interethnische Beziehungen in einer Gesellschaft und für den Assimilationsgrad von Zuwandererminoritäten herangezogen worden (Gordon 1964). Interethnische Ehen bedeuten dauerhafte soziale Interaktionen zwischen ethnischen Gruppen und verstärken so die Integration in anderen Lebensbereichen (Pagnini & Morgan 1990). Für das Verständnis von bi-kulturellen Partnerschaften und Ehen ist es notwendig zwischen nationalitätsinternen und -externen Paaren einerseits und ethnisch endogamen und exogamen Beziehungen andererseits zu unterscheiden, d.h. ob ein Partner innerhalb derselben Staatsangehörigkeit oder der eigenen ethnisch-kulturellen Gruppe gewählt wird. Mit ethnisch-kultureller Zugehörigkeit ist im Unterschied zur Staatsangehörigkeit hier die selbstperzipierte Zugehörigkeit zu einer Herkunftsgemeinschaft gemeint. Ethnische Zugehörigkeit kann mit der Nationalität übereinstimmen, muss es aber nicht, wenn eine Person in der Paarbeziehung einer Minderheit angehört. Zunehmende Einbürgerungen von in Deutschland lebenden Ausländern führen z.B. dazu, dass nationale und ethnische Zugehörigkeiten auseinander fallen. Entsprechend muss eine Zunahme z.B. von „deutsch-türkischen“ Eheschließungen nicht zwangsläufig ein Indiz für eine Annäherung zwischen der türkischen Minderheit und der deutschen Mehrheitsbevölkerung sein, vielmehr kann dies auch Ausdruck zunehmender Heiratsmigration von Ehepartnern aus der Herkunftsgesellschaft zu einem (eingebürgerten) Minoritätsangehörigen
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sein (Baykara-Krumme & Fuß 2009). Entsprechend kann weder bei Minoritäts- noch Majoritätsangehörigen aus der übereinstimmenden Nationalität umstandslos auf eine monokulturelle Partnerschaft oder Ehe geschlossen werden, genauso wenig wie unterschiedliche Nationalitäten zwangsläufig eine unterschiedliche ethnische Zugehörigkeit bedeuten. Diese begriffliche Differenzierung ist schon deshalb notwendig, weil viele empirische Analysen von bi-kulturellen Ehen auf einer Auswertung von Registerdaten beruhen, die (in Deutschland) ausschließlich die jeweilige Nationalität zum Gegenstand haben, wohingegen ethnische Bindungen (anders als im anglo-amerikanischen Raum) nicht erfasst werden.
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2 Ursachen bi-kultureller Partnerschaften und Ehen Das Ausmaß bi-kultureller Partnerwahlen hängt grundsätzlich von den jeweils gegebenen Opportunitätenstrukturen und Barrieren sowie von der Verteilung individueller Partnerwahlpräferenzen ab (Kalmijn 1998). (1) Wichtige Faktoren der Opportunitätenstrukturen sind die Größe der jeweiligen Bevölkerungsgruppen sowie die jeweiligen Anteile von darin wählbaren Frauen und Männern (sex-ratio) (Gonzales-Ferrer 2006), die segmentäre Untergliederung des Beziehungs- und Heirats-(binnen)marktes und die Etablierung eines internationalen Heiratsmarktes. (2) Wichtige Barrieren sind rechtliche Einschränkungen internationaler Eheschließungen, institutionelle Vorkehrungen, die eine interethnische Eheschließung behindern, sowie soziale Diskriminierung. (3) Von den individuellen Präferenzen, die die Selektionsstrategien der Akteure auf dem Beziehungs- und Heiratsmarkt bestimmen, ist für bi-kulturelle Beziehungen von Bedeutung, inwiefern hierfür ethnisch-kulturelle Endogamie ein bedeutsames Kriterium ist bzw. inwiefern eine interethnische Beziehung einen komparativen Vor- oder Nachteil gegenüber einer innerethnischen Beziehung darstellt (Kalmijn 1998). Folgende Partnerwahlmechanismen sind mit diesen Faktoren verbunden: (1) Die Gruppengröße ethnischer Minderheiten hat einen doppelten Effekt auf das Ausmaß bi-kultureller Beziehungen: Je größer eine Gruppe ist, desto häufiger sind die Gelegenheiten für eine bi-kulturelle Partnerschaft mit der Mehrheitsbevölkerung, aber auch die Gelegenheiten für eine Partnerschaft innerhalb der eigenen ethnischen Minorität. Ethnisch homogene Wohn- und Beschäftigungsverhältnisse innerhalb einer Gesellschaft vermindern die Wahrscheinlichkeit einer bi-kulturellen Partnerschaft. Je ungleicher die Anteile von Frauen und Männern innerhalb der eigenen Gruppe sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dasjenige Geschlecht mit höherem Anteil an der sex-ratio ein Mitglied einer anderen ethnischen Gruppe wählt. Je zugänglicher ein Beziehungs- und Heiratsmarkt außerhalb der eigenen Gesellschaft (z.B. durch Kettenmigration) ist, desto wahrscheinlicher ergänzt er den Binnenmarkt. (2) Rechtliche Regelungen können eine internationale Partnerwahl erheblich einschränken, indem sie den Aufenthalt zum Zweck der Partnersuche begrenzen, der Partnerstatus kein Aufenthaltsrecht begründet oder dies an Wartezeiten nach der Eheschließung gekoppelt ist. Selten ist ein Zuzug zum Zweck der Paarbildung vor der Eheschließung möglich, so dass dies nur für solche Ausländer in Betracht kommt, die aufenthaltsrechtlich begünstigt sind (z.B. EU-Angehörige). In Gesellschaften, in denen Eheschließungen von religiösen Amtsträgern vorgenommen werden, verhindert eine solche institutionelle Vorkehrung bikulturelle Ehen zwischen Angehörigen verschiedener Religionen (z.B. in Israel). (3) Generell ist die individuelle Präferenz für ethnisch-kulturelle Partnerschaftshomogamie auch dann hoch, wenn die soziale Diskriminierung interethnischer Beziehungen gering ist. Je stärker individuelle Präferenzen über Gemeinsamkeiten in den Wertvorstellungen, Nor-
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Bi-kulturelle Partnerschaften und Ehen
men der familialen Lebensführung und in den ästhetischen Geschmacksurteilen gesteuert sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit bi-kultureller Partnerschaften.
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3 Ausmaß bi-kultureller Partnerschaften und Ehen in Deutschland Der deutsche Partnerschafts- und Heiratsmarkt ist bereits seit dem Zweiten Weltkrieg durch große Ungleichgewichte in den Geschlechterproportionen gekennzeichnet gewesen. Bis zum Ende der 1950er Jahre war er aufgrund der Kriegsfolgen durch eine erhebliche Knappheit an männlichen Bewerbern geprägt, was seinerseits dazu beigetragen hat, dass es in dieser Zeit eine große Anzahl von Ehen zwischen deutschen Frauen und Angehörigen ausländischer Streitkräfte gegeben hat: Noch bis 1970 waren amerikanische Ehemänner die bei weitem am stärksten bevorzugte Nationalität von bi-nationalen Ehen deutscher Frauen (Klein 2000). In den nachfolgenden Kohorten ist jedoch eine Umkehrung eingetreten, da seitdem jeweils mehr Männer als Frauen in den Partnerwahlprozess eintreten. Entsprechend bestehen in den letzten drei Jahrzehnten zunehmend stärkere Anreize für deutsche Männer, eine bi-kulturelle Partnerschaft einzugehen: Seit Beginn der 1960er Jahre ist ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen und seit 1993 werden mehr Ehen zwischen ausländischen Männern und deutschen Frauen geschlossen (siehe Tab. 1). Tab. 1: Bi-nationale Eheschließungen mit deutschen Ehepartnern in Deutschland 1950 Frau Deutsche
14.750
Mann Deutscher 3.556
1960
1970
1980
1990
2000
2010
15.600
14.645
18.927
22.031
27.323
19.103
3.858
10.152
9.084
17.753
33.839
24.695
Quelle: Statistisches Bundesamt (2014): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit 2012. Natürliche Bevölkerungsbewegung; Statistisches Bundesamt (1997): Strukturdaten über die ausländische Bevölkerungsbewegung.
Eine weitere wichtige Strukturkomponente für die Entwicklung bi-kultureller Partnerschaften und Ehen ist die demographische Entwicklung der ausländischen Bevölkerung und deren Geschlechterproportionen in Deutschland. Für die Situation der Pioniermigranten verzeichnet die Volkszählung 1961 einen Anteil von 451 ausländischen Frauen auf 1.000 ausländische Männer. Seitdem haben sich die Geschlechterproportionen bis 2014 auf 912 zu 1.000 angeglichen. Obwohl von den Arbeitsmigranten zu Beginn des Zuwanderungsprozesses nach Deutschland in hohem Maße auf den Heiratsmarkt in der Herkunftsgesellschaft zurückgegriffen worden ist, führte dies auch dazu, dass die männlichen Migranten in dieser Situation verstärkt in die einheimische Bevölkerung eingeheiratet haben, was bei einem ohnehin bestehenden Überschuss deutscher Männer im heiratsfähigem Alter zu erheblicher Konkurrenz auf dem Heiratsmarkt in der Aufnahmegesellschaft geführt hat. Zahlen der amtlichen Statistik zeigen, dass sich gleichzeitig die in Deutschland vertretenen Nationalitäten erheblich hinsichtlich ihrer demographischen Entwicklung unterscheiden: Während die Gruppe der Italiener in Deutschland zwischen 1971 (590 Tsd.) und 2014 (575 Tsd.) geringfügig abgenommen hat, hat sich die türkische Gruppe in gleichem Zeitraum mehr als verdoppelt (von 653 Tsd. auf 1528 Tsd.). Die russische und die polnische Bevölkerung in Deutschland hat sich seit den 1990er Jahren ebenfalls mehr als verdoppelt (von 81 Tsd. 1998 auf 221 Tsd. 2014 bzw. von 284 Tsd. auf 674 Tsd.). Entsprechend haben sich bei den Türken, Russen und Polen sowohl die Möglichkeiten, innerhalb der eigenen Nationalität einen Partner zu finden, vergrößert sowie das Potential derjenigen, die einen Partner in der Herkunftsgesellschaft suchen könnten.
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Bernhard Nauck und Vivian Lotter
Demgegenüber hatten heiratswillige Migranten in der Pioniermigrationssituation keine andere Wahl, als entweder eine Frau in der Herkunftsgesellschaft oder eine Deutsche zu heiraten. Da die Heiraten mit Frauen in der Herkunftsgesellschaft fast ausschließlich dort stattfinden (und dort nicht gesondert im Standesamtsregister ausgewiesen und als „Migranten“-Heiraten sichtbar werden), werden in der deutschen Aufnahmegesellschaft zu Beginn des Zuwanderungsprozesses vergleichsweise viele bi-nationale Ehen erfasst, die auf diese besondere Gelegenheitsstruktur zurückzuführen sind. Entsprechend ist nicht verwunderlich, dass mit zunehmendem Nachzug („Kettenmigration“) und der damit einhergehenden Veränderung auf dem intraethnischen Heiratsmarkt, d.h. mit der Vergrößerung des „Angebots“ und der Angleichung der Geschlechterproportionen, bi-nationale Eheschließungen abnehmen. Diese Entwicklungstendenzen sind vielfach in der öffentlichen Diskussion als besorgniserregende Tendenz „zunehmender ethnischer Schließung“, zur „Segregation“ und zu wachsender Konfliktträchtigkeit interethnischer Beziehungen missdeutet worden. Es wurde dabei unterstellt, dass diese Entwicklung nicht auf veränderte Gelegenheitsstrukturen, sondern auf sich verändernde Präferenzen zurückzuführen sei. Veränderungen in den Präferenzen treten jedoch erst langfristig ein und können somit keinesfalls erklären, warum am Anfang eines Zuwanderungsprozesses bi-nationale Ehen besonders häufig sind. Von solchen Präferenzveränderungen ist jedoch dann auszugehen, wenn entweder die ethnische Zugehörigkeit als Selektionskriterium seine Bedeutsamkeit verloren hat oder sogar eine bewusste Distanzierung von der Herkunftskultur erfolgt. Dies kann aufgrund vollzogener Assimilationsprozesse der ersten Migrantengeneration eintreten oder wenn über die Zeit eine zunehmende Zahl von Angehörigen der zweiten Migrantengeneration in den Heiratsmarkt eintritt. Diese beiden, sich überlagernden Prozesse führen mittelfristig zu dem für Zuwanderernationalitäten typischen U-förmigen Entwicklungsverlauf bi-nationaler Eheschließungen. Diese U-Kurve ist inzwischen nicht nur für viele andere Zuwanderungsgesellschaften, sondern auch für den Verlauf der Einheiratungsquoten der meisten Nationalitäten von Arbeitsmigranten in Deutschland beobachtet worden (Klein 2000; Gonzalez-Ferrer 2006; Schroedter 2013).
4 Bi-kulturelle Partnerwahlprozesse Die interethnische Partnerwahl wird jedoch nicht ausschließlich von den Gelegenheitsstrukturen des Partnerschaftsmarktes beherrscht, vielmehr sind mit kulturellen Faktoren wichtige Selektionsregeln verknüpft (Haug 2002). Das jeweilige soziale Prestige der ethnischen Gruppen hat hierbei ebenso Auswirkungen auf die interethnische Partnerwahl wie die wahrgenommene kulturelle Nähe bzw. Distanz zur eigenen Kultur (Pagnini & Morgan 1990; Kalmijn 1998). Die verschiedenen Nationalitäten heiraten in sehr unterschiedlichem Umfang in die deutsche Bevölkerung ein (Tab. 2). Tab. 2: Die fünf häufigsten Nationalitäten deutsch-ausländischer Eheschließungen in Deutsch land im Jahr 2012 Deutscher Mann heiratet Frau aus …
Anzahl
Deutsche Frau heiratet Mann aus …
Anzahl
Polen
2.610 Türkei
6.620
Türkei
2.488 Italien
3.199
Russland
2.161 Vereinigte Staaten
1.277
Ukraine
1.276 Österreich
996
Thailand
1.112 Kroatien
938
Quelle: Statistisches Bundesamt (2014): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit 2012. Natürliche Bevölkerungsbewegung.
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Bi-kulturelle Partnerschaften und Ehen
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Bei deutschen Männern wird die Liste der am häufigsten gewählten Nationalität von Polinnen angeführt, gefolgt von Frauen aus der Türkei, Russland, Ukraine und Thailand. Bei deutschen Frauen dominieren mit großem Abstand die Männer aus der Türkei, gefolgt von Italien und USA. Allerdings ist bei dieser Reihenfolge der Nationalitäten zu beachten, dass die verschiedenen Nationalitäten vor deutschen Standesämtern heiraten und damit in der Eheschließungsstatistik erfasst werden. Schließlich gibt diese Statistik auch keine Auskunft darüber, in welchem Umfang es sich bei den Heiraten mit Partnern aus Osteuropa um „Kettenmigration“ handelt, die von eingebürgerten Aussiedlern ausgelöst wurden, die einen Partner aus ihrer Herkunftsgesellschaft geheiratet haben. Ebenso bleibt verborgen, in welchem Ausmaß es sich bei den deutschen Ehepartnern um Eingebürgerte (aus der Türkei) handelt, die ein Mitglied ihrer Herkunftsgesellschaft heiraten. Während das bi-nationale Heiratsverhalten der deutschen Frauen stärker von Gelegenheitsstrukturen in Deutschland geprägt ist und sich überwiegend auf die klassischen Anwerbestaaten der Arbeitsmigranten und die Staaten mit ausländischen Streitkräften in Deutschland bezieht, spielt bei deutschen Männern – entsprechend den gegenläufigen Geschlechterproportionen – die Suche von Ehepartnerinnen außerhalb von Deutschland eine größere Rolle. Außer Thailand sind die Hauptnationalitäten mit Polen, Russland, Ukraine und Rumänien Länder, von denen früher Aussiedler nach Deutschland zugewandert sind. Insofern ist davon auszugehen, dass viele dieser Heiraten auf Kettenmigration zurückzuführen sind. Frauen aus der ausländischen Wohnbevölkerung in Deutschland sind dagegen als potentielle Heiratspartnerinnen für deutsche Männer nach wie vor von geringer Bedeutung, wenn auch die Heiraten mit türkischen Frauen kontinuierlich angestiegen sind (sofern die Entwicklung nicht auf Heiraten mit eingebürgerten Männern türkischer Herkunft zurückzuführen ist). In welchem Ausmaß soziale Distanz zwischen einheimischen und zugewanderten Bevölkerungsgruppen deren interethnische Heiraten beeinflusst, zeigen Bevölkerungsumfragen, in denen ausländische Eltern danach gefragt wurden, ob sie damit einverstanden wären, wenn ihr Kind eine Deutsche oder einen Deutschen heiraten würde (Mehrländer et al. 1996; Babka von Gostomski 2010). 2006 sagten über 70 Prozent der türkischen und über 90 Prozent der italienischen und griechischen Eltern, dass sie mit einer Heirat ihrer Kinder mit einer deutschen Partnerin oder einem deutschen Partner einverstanden wären bzw. dass es ihnen „egal“ wäre. Ein Vergleich mit bis zu 20 Jahre zurückliegenden Befragungsergebnissen zeigt insbesondere, dass die Akzeptanz inter ethnischer Ehen in ausländischen Familien aller befragten Nationalitäten stark zugenommen hat: Die Anteile derjenigen, die bi-nationale Ehen ihrer Kinder akzeptieren würden, ist bei allen Eltern um über 30 Prozent gestiegen. Die Unterschiede zwischen Türken einerseits und den Italienern und Griechen andererseits dürften dabei vor allem auf die längere Aufenthaltsdauer dieser Minoritäten in Deutschland zurückzuführen sein: Mit zunehmendem Alter der befragten Eltern nimmt deren Bereitschaft zur Akzeptanz einer bi-nationalen Ehe zu. In den gleichen Befragungen wurden auch ausländische Frauen und Männer, die noch nicht verheiratet sind, aber heiraten möchten, gefragt, ob sie eine deutsche Partnerin oder einen deutschen Partner wählen würden (Tab. 3).
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Bernhard Nauck und Vivian Lotter
Tab. 3: Bereitschaft unverheirateter ausländischer Frauen und Männer zu einer Ehe mit Deutschen (in Prozent)
Ja Nein Unentschlossen
Türken
Italiener
Griechen
Frau
39,7
80,0
73,8
Mann
66,2
84,6
76,8
Frau
36,7
15,2
15,1
Mann
14,8
9,3
12,3
Frau
22,1
4,9
11,2
Mann
18,2
6,1
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Quelle: Babka von Gostomski 2010, S. 126.
Die Bereitschaft zu einer Ehe mit deutschen Partnern variiert nach Nationalität und Geschlecht. Insgesamt liegt der höchste Anteil bei den italienischen Frauen und Männern, deren Bereitschaft bereits seit 1985 vergleichsweise hoch ist. Die größte Steigerungsrate im Vergleich zu 1985 liegt bei der Bereitschaft der griechischen Frauen und Männer. Bei türkischen Männern ist mit rund 66 Prozent die geringste Zustimmung zu einer Ehe mit einer deutschen Partnerin zu verzeichnen. Hingegen hat sich die Einstellung türkischer Frauen im selben Zeitraum zugunsten bi-nationaler Ehen verändert und ist von 14 Prozent 1985 auf 40 Prozent 2006 gestiegen (Mehrländer et al. 1996; Babka von Gostomski 2010). Einen begrenzten Einblick in die Bedeutung von internationalen Teilheiratsmärkten von Deutschen ermöglichen Befunde zu Bildungs- und Altersunterschieden in deutsch-ausländischen Partnerschaften und Ehen (Klein 2000; Gonzalez-Ferrer 2006; Schroedter 2013). Entgegen weitverbreiteter Vorstellungen kommt eine bi-nationale Partnerwahl gehäuft vor, wenn zumindest ein Partner Abitur oder Fachhochschulreife hat. Bi-nationale Partnerwahl erscheint somit bei Deutschen wie bei Ausländern an gehobene Bildungsschichten gekoppelt. Wie eingehendere Analysen zeigen (Klein 2000; Glowsky 2011), ist der Anteil bi-nationaler Paare dann besonders hoch, wenn der Beginn der Partnerschaft in die Studienzeit fiel. Universitäten geben somit offenbar vergleichsweise günstige Gelegenheiten, eine deutsch-ausländische Partnerschaft zu beginnen. Bildungshomogamie ist weitaus deutlicher ausgeprägt, wenn beide Partner deutsch sind oder ein ausländischer Mann mit einer deutschen Frau verheiratet ist. Deutlich niedriger ist die Bildungshomogamie in deutsch-ausländischen Ehen mit einem deutschen Mann: Hier überwiegen ganz eindeutig Eheschließungen mit Partnerinnen, die einen niedrigeren Bildungsabschluss aufweisen als sie selbst. Bi-nationale Partnerschaften mit deutschen Männern haben einen im Durchschnitt besonders großen Altersabstand, wobei die deutschen Männer vergleichsweise alt zu Beginn der Partnerschaft und der Heirat sind. Dies zeigt sich insbesondere bei Ehen zwischen einem deutschen Ehemann und einer Frau aus den Ländern Thailand, Philippinen und Südamerikas (Glowsky 2011). Dieses hohe Heiratsalter deutscher Männer mit Frauen aus Ländern mit geringem Wohlstand ist vielfach als Indiz gedeutet worden, dass es sich überwiegend um Heiraten handelt, bei denen Männer aufgrund der demographischen Situation nach längerer erfolgloser Suche auf dem „ersten“ Heiratsmarkt (z.B. aufgrund eigener physischer, kultureller und ökonomischer Unattraktivität und sozialer Isolierung) auf den „zweiten“ internationalen Heiratsmarkt ausgewichen sind. Demnach wären bi-nationale Ehen deutscher Männer vornehmlich das Ergebnis einer Kompensation von Defiziten ihrer individuellen Ressourcen (Glowsky 2011).
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5 Ausblick Empirische Untersuchungen von Heiratsbeziehungen zwischen ethnischen Minderheiten und der Mehrheitsbevölkerung haben in den klassischen Einwanderungsländern, insbesondere in den USA, eine lange Tradition (Gordon 1964; Pagnini & Morgan 1990). In der Bundesrepublik sind hingegen entsprechende Untersuchungen nach wie vor unzureichend und basieren beinahe ausschließlich auf Zeitreihen der Registrierung bi-nationaler Eheschließungen vor deutschen Standesämtern. Bestehende Ehen werden anhand des Mikrozensus beobachtet (Schroedter 2013) bzw. über Bevölkerungsbefragungen wie dem Sozioökonomische Panel (Glowsky 2011) oder Repräsentativbefragungen ausgewählter Migrantengruppen (Babka von Gostomski 2010) untersucht, während bi-nationale Heiraten mit deutscher Beteiligung in den Herkunftsländern des Ehepartners oder in Drittstaaten von vornherein unberücksichtigt bleiben. Demzufolge fehlen systematische Untersuchungen über den Verlauf und die Ausgestaltung von bi-kulturellen Partnerschaften und Ehen in Deutschland bislang völlig – jenseits qualitativer Fallstudien. Wegen der unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingungen und der Länge der Existenz und der Größe von (Migranten-) Minoritäten sind empirische Befunde aus anderen Aufnahmegesellschaften nur sehr bedingt auf die Situation in Deutschland übertragbar. Für mehrere Gesellschaften und kulturelle Minoritäten replizierte Befunde zu bi-kulturellen Partnerschaften und Ehen sind außerordentlich selten (Carol 2013). Eine Ausnahme sind Analysen zum Trennungsund Scheidungsrisiko: In bislang allen systematischen Analysen erweisen sich bi-kulturelle Ehen als weniger stabil als monokulturelle Ehen (Kalmijn et al. 2004), wohingegen die determinierenden Faktoren als bislang kaum erforscht gelten können. Zweifellos wird Heiratsmigration in seiner quantitativen Bedeutung in Zukunft noch zunehmen (Haug 2003). Dies ist nicht nur auf die sich verschärfenden Ungleichgewichte auf dem internen Partnerschafts- und Heiratsmarkt zurückzuführen, sondern auch auf die anhaltende Nachfrage von Angehörigen der Migrantenminorität der „zweiten Generation“ nach Heiratspartnern aus den Herkunftsgesellschaften ihrer Eltern. Wegen der Assimilation der zweiten Generation an die kulturellen Standards der Aufnahmegesellschaft nehmen diese Beziehungen zunehmend den Charakter bi-kultureller Partnerschaften und Ehen an. Solche Anreize für transnationale Partnersuche in Migrantenminoritäten sind insbesondere dann sehr hoch, wenn eine restriktive Zuwanderungspolitik keine anderen Zuwanderungsmöglichkeiten zulässt, und gilt entsprechend vor allem für solche Personengruppen, deren Herkunftsländer von restriktiven Zuwanderungsmöglichkeiten betroffen sind. Insbesondere bei den türkischen Migrant/innen sind die Anreize, einen Ehepartner in der Herkunftsgesellschaft zu suchen, weiterhin stark ausgeprägt (Schrödter 2013). Der eigene verfestigte Aufenthaltsstatus des Angehörigen der zweiten Zuwanderergeneration dient als zusätzliche Offerte auf dem Heiratsmarkt in der Herkunftsgesellschaft, der eingesetzt werden kann, um dort einen Ehepartner mit höherem sozialen Status zu bekommen – ein Vorteil, der auf dem Heiratsmarkt in der Aufnahmegesellschaft weder bezüglich der Einheimischen noch der Angehörigen der eigenen Zuwanderungsminorität zur Geltung käme. Literatur
Babka von Gostomski, Christian (2010): Basisbericht: Tabellenband. Repräsentativbefragung „Ausgewählte Migrantengruppen in Deutschland 2006/2007“ (RAM). Zur Situation der fünf größten in Deutschland lebenden Ausländergruppen. Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. – Baykara-Krumme, Helen & Fuß, Daniel (2009): Heiratsmigration nach Deutschland: Determinanten der transnationalen Partnerwahl türkeistämmiger Migranten. In: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 34, S. 135-164. – Carol, Sarah (2013): Intermarriage Attitudes Among Minority and Majority Groups in Western Europe: The Role of Attachment to Religious In-Group. In: International Migration 51 (3), S. 67-83. – Glowsky, David (2011): Globale Partnerwahl. Soziale Ungleichheit
Bernhard Nauck und Vivian Lotter
als Motor transnationaler Heiratsentscheidungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. – GonzalezFerrer, Amparo (2006): Who do immigrants marry? Partner choice among immigrants in Germany. In: European Sociological Review 22, S. 171-185. – Gordon, Milton M. (1964): Assimilation in American life. The role of race, religion and national origins. New York: Oxford University Press. – Haug, Sonja (2002): Familie, soziales Kapital und soziale Integration. Zur Erklärung ethnischer Unterschiede in Partnerwahl und generativem Verhalten bei jungen Erwachsenen deutscher, italienischer und türkischer Abstammung. In: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 27, S. 393-425. – Haug, Sonja (2003): Arbeitsmigration, Familiennachzug, Heiratsmigration. In: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 28, S. 335-353. – Kalmijn, Matthijs (1998): Intermarriage and homogamy: Causes, patterns, trends. In: Annual Review of Sociology 24, S. 395-421. – Kalmijn, Matthijs; De Graaf, Paul M. & Janssen, Jacques P.G. (2004): Intermarriage and the risk of divorce in the Netherlands: The effects of differences in religion and in nationality. In: Population Studies 59, S. 71-85. – Klein, Thomas (2000): Partnerwahl zwischen Deutschen und Ausländern. In: Sachverständigenkommission 6. Familienbericht (Hg.): Familien ausländischer Herkunft in Deutschland Band 1: Empirische Beiträge zur Familienentwicklung und Akkulturation, S. 303-346. – Mehrländer, Ursula; Ascheberg, Carsten & Ueltzhöffer, Jörg (1996): Repräsentativuntersuchung‚ 95. Situation der ausländischen Arbeitnehmer und ihren Familienangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Bundesministerium für Arbeit und Soziales. – Pagnini, Deanna L. & Morgan, S. Philip (1990): Intermarriage and social distance among U.S. immigrants at the turn of the century. In: American Journal of Sociology 96, S. 405-432. – Schroedter, Julia H. (2013): Ehemuster von Migranten in Westdeutschland. Analysen zur sozialen Integration auf Basis des Mikrozensus. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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2 Interkulturalität in den Nachbarwissenschaften
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18 Soziologische Migrationsforschung Wassilios Baros und Anna Cornelia Reinhardt
Der tiefgreifende soziale und kulturelle Wandel unserer Gesellschaft im Zuge der Modernisierung führt zu einer Pluralisierung der Lebensformen. Folglich findet eine zunehmende gesellschaftliche Differenzierung statt, die mit einem Bruch von traditionellen Lebenskonzepten einhergeht. Massiv wird dabei die alltägliche Praktik der individuellen Lebensführung beeinflusst. Heterogenität wird zu einer „Lebens- und Bildungsbedingung“ (Gogolin & Krüger-Potratz 2010). An diesem Punkt findet vermehrt eine Diskussion über das soziale Phänomen der Migration und die mit ihr einhergehenden Folgen und Herausforderungen für die jeweiligen Gesellschaften statt. Diese gesellschaftliche Entwicklung einer allgemein zunehmenden, individuellen und grenzüberschreitenden Mobilität hat einen direkten Einfluss auf die Lebenslage von Kindern und Jugendlichen, was eine theoretische und praktische Auseinandersetzung mit Bildungs- und Erziehungsfragen erforderlich macht (vgl. Gogolin & Krüger-Potratz 2010). Ansätze, die auf diese veränderte Lebensweise eingehen und ein auf „Gleichheit und Anerkennung“ (Auernheimer) basierendes zwischenmenschliches Zusammenleben begünstigen und fördern sollen, gewinnen zunehmend an Relevanz. Dazu kann auch die vergleichsweise junge Subdisziplin der Interkulturellen Pädagogik gezählt werden, die seit den 1980er Jahren vermehrt in das wissenschaftliche und öffentliche Interesse gerückt ist. Um der umfassenden pädagogischen Herausforderung des Umgangs mit Heterogenität angemessen zu begegnen, muss zunächst ein evidentes Wissen über die aktuelle Gesellschaft vorhanden sein. Folglich ist für die Interkulturelle Bildungsforschung ein Transfer von Wissen aus anderen Disziplinen unerlässlich. Eine davon ist die Soziologie. Im Folgenden werden aktuelle Ansätze und Theorien der Migrationssoziologie vorgestellt und diskutiert.
1 Migrationsforschung – Ein historischer Abriss Soziale Wanderungsbewegungen in einem geografischen Raum sind seit jeher ein konstitutiver Bestandteil des menschlichen (Zusammen-)Lebens. Historisch dagegen vergleichsweise jung ist die wissenschaftliche Erforschung dieses sozialen Phänomens. In den Sozialwissenschaften, allen voran in der Soziologie, wurde die Migrationsforschung erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Chicago/USA als Fachdisziplin etabliert. Die wissenschaftliche Erforschung der Migration hat ihre Anfänge in den Forschungsarbeiten von Ernest George Ravenstein. Im Jahre 1885 veröffentlichte er seine „Gesetze der Wanderung“ (vgl. Han 2010). Die damalige Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Institutionalisierung und Fundierung dieses Forschungsbereichs entstand aufgrund einer Vielzahl von soziokulturellen und wirtschaftlichen Problemlagen, die in dem „brodelnden Labour“ Chicago in Folge massiver Immigration vorzufinden waren. Im weiteren historischen Verlauf stieg die Anzahl der inter- und innernationalen Wanderungsbewegungen. Migration wurde als ein komplexes, globales Phänomen wahrgenommen, das einer expliziten wissenschaftlichen Theoretisierung bedurfte. In Deutschland macht sich dies seit Beginn der 1960er Jahre durch einen quantitativen Anstieg von Professuren und Forschungsinstitutionen sowie einschlägigen Publikationen bemerkbar. Daraus erwuchs eine Vielfalt an theoretischen
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und methodischen Ansätzen (vgl. Kraler & Parnreiter 2005). Migrationsforschung ist inzwischen ein „multi- und interdisziplinäres Konglomerat“ (Bommes 2011) aus unterschiedlichen Disziplinen und Forschungsdesigns. Bei einer näheren Betrachtung der Forschungsinteressen und Schwerpunkte ist es dennoch möglich, disziplinspezifische Eigenschaften und Forschungsansätze zu erkennen (vgl. Haug 2013).
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2 Migrationssoziologie Grundsätzlich beschäftigt sich die Disziplin der Soziologie mit dem Zusammenleben der Menschen auf allen gesellschaftlichen Ebenen (Mikro-, Meso- und Makroebene). Dabei rücken verschiedene Formen der Vergemeinschaftung (wie z.B. Familienverbände, Nachbarschaften, soziale Gruppen) und der Vergesellschaftung (z.B. Gesellschaften oder Staaten) in das allgemeine Forschungsinteresse. Als eine empirische Wissenschaft erforscht die Soziologie die Struktur, welche dem sozialen Handeln zugrunde liegt (vgl. Schäfers 2006). Ein Kennzeichen der modernen Soziologie ist die Mannigfaltigkeit ihrer Forschungsgegenstände. Dazu zählt auch die seit den 1960er Jahren vermehrt etablierte Subdisziplin der Migrationssoziologie. Der derzeitige Gegenstandsbereich dieses Feldes besteht nicht alleine darin, die Folgen der Wanderungen für die Aufnahmegesellschaft zu untersuchen, wie dies lange Zeit in der Soziologie praktiziert wurde. Vielmehr rücken auch die Ursachen der Wanderungsbewegungen und Folgen für die abgebenden Regionen in ihr wissenschaftliches Erkenntnisinteresse (vgl. Oswald 2007; Kalter 2003). Hinter diesem konsensfähigen, aber sehr allgemein formulierten Interesse der Migrationssoziologie verbirgt sich eine Vielzahl an heterogenen Fragestellungen, Forschungsdesigns und Methoden. Dieses breite Forschungsspektrum lässt sich auf die Disziplin der Soziologie per se, aber auch auf die substantielle Breite des Migrationsphänomens zurückführen. Zusätzlich spiegeln sich in soziologischen Analysen von Wanderungen jeweils aktuelle Ereignisse wider. Damit ist fast keine andere Subdisziplin der Soziologie mit ihren Fragestellungen und Ansätzen so sehr an aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen gekoppelt wie die soziologische Migrationsforschung (vgl. Kalter 2003).
3 Ausgewählte Ansätze der Migrationssoziologie Zentral in der soziologischen Migrationsforschung sind Fragestellungen, die sich auf jüngeres Wanderungsgeschehen beziehen und mit den dadurch sich ergebenden gesellschaftlichen Veränderungen beschäftigen (vgl. Kalter 2003). Im Folgenden werden soziologische Themenkomplexe exemplarisch vorgestellt, welche einen Ausgangspunkt für interventionsorientierte Handlungsmöglichkeiten liefern könnten und sollten. 3.1 Globalisierung, Nationalstaat und Migration: Ein Spannungsfeld Wanderungen werden in unserer modernen Welt häufig nur dann wahrgenommen, wenn eine Überschreitung nationalstaatlicher Grenzen erfolgt. Binnenwanderungen (innerstaatliche Migration) werden dagegen zumeist als unproblematisch, wenn nicht sogar als gewünschte gesellschaftliche Mobilität erachtet. Diese kategoriale Denkweise in Nationalstaaten war lange Zeit in der Wissenschaft eine vorherrschende Analyseeinheit – methodologischer Nationalismus –, welche dazu geführt hat, dass Forschungen über die Gesellschaft zumeist an die „Kategorie“ des Nationalstaats gekoppelt waren (vgl. Triebe 2012). Vor diesem Hintergrund analysierte die Migrationssoziologie internationale Wanderungsbewegungen als unidirektionalen Wechsel von
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einem nationalstaatlichen „Container“ (Pries 2010) in einen anderen. Eine Veränderung dieser methodologischen Grundhaltung erfolgte erst in den letzten Dekaden. Ausschlag hierfür gaben Forschungsergebnisse, die vor dem Hintergrund des weltweiten Modernisierungsprozesses auf das stetige Zusammenwachsen der Welt verwiesen. Denn die Globalisierung, verstanden als eine ansteigende internationale und weltweite Verflechtung von wirtschaftlichen und politischen Vorgängen mit der gleichzeitigen Herausbildung weltumspannender zwischenmenschlicher „Interdependenzen“ (Norbert Elias), setzte sowohl den Nationalstaat an sich als auch seine wissenschaftliche Analyseebene unter Geltungsdruck. Als eine gesellschaftliche Konstruktion, die vor allem im 19. Jahrhundert in Europa entstand und daraufhin einen weltweiten Siegeszug erfuhr, bildet der Nationalstaat zwar eine „legitime Ordnung“ (Max Weber) der Welt, diese ist aber zugleich durch grenzüberschreitende Investitionen, Handel und Migrationen in ihrer Souveränität herausgefordert. Des Weiteren erweist sich das Verhältnis von Nationalstaat, Globalisierung und Migration immer dann als Paradox, wenn eine Restriktion der Immigration auf das nationalstaatliche Territorium stattfindet (vgl. Mackert 2006). Das Dilemma an diesem Punkt ist schnell benannt: internationale und ökonomische Entwicklungen (Handel und Investitionen) haben den Nationalstaat zu einer internationalen Öffnung gezwungen, wohingegen inländische Interessen, staatliche Souveränität, eine größere Abschottung verlangten (vgl. Hollifield 2003). Dieses Phänomen wird unter der Begrifflichkeit des „liberalen Paradox“ in der Wissenschaft diskutiert. Immigration in einen Nationalstaat stellt jedoch diese staatliche Souveränität in Frage. Folglich stehen Migration, Nationalstaat und Globalisierung in einem triadischen Spannungsfeld, das bei aktuellen soziologischen Ansätzen vermehrt berücksichtigt wird. 3.2 Transmigrant und Transnationalismus Waren in der Migrationssoziologie bis in die späten 1980er Jahre noch „bipolare Denkmodelle“ (vgl. Han 2010) einseitig fließender Migrationsströme zwischen Immigrations- und Emigrationsland weit verbreitet, änderte sich diese Sichtweise mit dem allmählich aufkommenden neuen Forschungsansatz des Transnationalismus. Dieser Ansatz geht auf soziologische und anthropologische Forschungen zurück, die 1992 in dem Sammelband, „Toward a Transnational Perspective on Migration. Race, Class, Ethnicity and Nationalism Reconsidered“ veröffentlicht wurden. Auslöser für diese neue Perspektive der „transnationalisierten“ Migrationen waren Beobachtungen, die bei den Wanderungsbewegungen zwischen Mexiko und den USA gemacht wurden (vgl. Yildrim-Krannig 2014). Dabei geriet ein „neuer“ Migrationstypus in das wissenschaftliche Blickfeld, welcher sich von den bisher bekannten Formen durch häufigere und multidirektional grenzüberscheitende Bewegungen unterschied. Aus diesen zirkulierenden Migrationen, transnationalen Migrationen (Ludger Pries) formierten sich neue transnationale Räume die in das Erkenntnisinteresse rückten. Obwohl Forschungen über solche Migrationsnetzwerke eine längere soziologische „Tradition“ aufweisen, besteht die Innovation der aktuellen Forschungen in ihrer neuen räumlichen Dimension (vgl. Oswald 2007). Das neue Forschungskonzept des Transnationalismus und des transnationalen Raums bietet einen Untersuchungsrahmen, in dem diese Migrationsnetzwerke hinsichtlich ihrer sozioökonomischen, politischen und kulturellen Komponenten staatenübergreifend untersucht werden können. Dabei zeigte sich eine Institutionalisierung dieser transnationalen Netzwerke, die eine Unterstützungs- und Informationsfunktion für Migrant(inn)en haben und somit die subjektive Wanderungsentscheidung der Migranten(inn)en beeinflussen können. Anzumerken ist, dass das vorgestellte Konzept des Transnationalismus eine „wissenschaftliche Konstruktion“ (Han 2010) darstellt, die dazu dient, ein begriffliches Werkzeug für die Theo-
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3.3 Assimilation oder Integrationsdiskurse
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retisierung der empirischen Befunde des „neuen“ Migrationstypus bereitzustellen. Die Analyse der sozialen Netzwerke im transnationalen Raum steht genauso im wissenschaftlichen Interesse dieses relativ jungen Ansatzes, der sich dezidiert vom methodologischen Nationalismus abwendet (vgl. Pries 2010). Beides, sowohl das skizzierte Spannungsfeld zwischen Migration, Nationalstaat und Globalisierung, als auch die Transnationalismus-Perspektive, sind aktuelle Forschungsansätze, mit denen sich die Migrationssoziologie auseinandersetzt. Beschäftigte sich die „klassische“ Migrationsforschung noch mit Fragen nach den Folgen der Migration für die Aufnahmegesellschaft bzw. für den jeweiligen Nationalstaat, rücken heute Fragen bezüglich der sich generierenden transnationalen Wirklichkeit der Migraten(inn)en in das Erkenntnisinteresse. Hierauf nimmt auch die empirische Bildungsforschung Bezug, indem sie transnationale Lehr- und Lernräume, „transnationale Bildungsräume“ (Gogolin & Pries 2004) untersucht.
Das vorgestellte „Transnationalismus-Paradigma“ ermöglicht, sowohl die Erforschung von Entwicklungen politischer und konzeptueller Art, als auch Strategien von Migrant(inn)en in den Blick zu nehmen, die in der Migrationsforschung lange Zeit nicht erfasst wurden. Folglich liefert dieses Konzept einen theoretischen Erklärungsrahmen für eine „neue“ Art der Migration, der zugleich die Raumkategorie des Nationalstaates und somit den methodologischen Nationalismus in Frage stellt (vgl. Baros 2006). Migrationssoziologie als Teilbereich der allgemeinen Soziologie beschäftigt sich aber nicht ausschließlich mit solchen Verflechtungen auf der globalen Makroebene, sondern zielt immer auch auf die Analyse des menschlichen Zusammenlebens in einer Gesellschaft ab. Deshalb finden sich neben solchen theoretischen Ansätzen, die das Phänomen der Migration vor dem Hintergrund einer globalisierten Welt betrachten und erklären möchten, in der modernen Migrationssoziologie auch diverse Ansätze, welche sich der Erforschung von Assimilations- und Integrationsprozessen von Migrant(inn)en widmen. Ein Kennzeichen der aktuellen, zum Teil öffentlich geführten Integrationsdebatten besteht in ihrer Heterogenität. Dabei treffen klassische Assimilations- oder Integrationskonzepte auf pluralistische Modelle. Konzepte, Theorien und Ansätze werden dabei miteinander vermengt. Ungeachtet dieser zum Teil diffusen öffentlich geführten Diskurse auf der einen Seite, besteht derzeit auch in der Wissenschaft kein allgemein geteilter Konsens darüber, wie die „Integration“ von Migrant(inn)en in der Ankunftsgesellschaft aussehen soll. Vielmehr werden in der Soziologie unterschiedliche Assimilations- und Integrationsansätze diskutiert. Auffällig ist der Mangel an theoretischer Fundierung der im Unterschied zu anderen soziologischen Themenfeldern bei der Betrachtung der Integrations-/Assimilationsthematik hervorsticht. Es lassen sich nur wenige umfassende theoretische soziologische Arbeiten zur Integrations- bzw. Assimilationsthematik benennen. Eine der ältesten Arbeiten lieferte Hoffmann-Nowotny in den frühen 1970er Jahren. In Anlehnung an die klassischen soziologischen Konzepte von Macht und Prestige entwickelte er das Konzept der strukturellen und anomischen Spannungen, das aus seiner Sicht nicht nur ein Erklärungsmodell für die Migration an sich darstellte, sondern darüber hinaus die Notwendigkeit der Eingliederung der Migrant(inn)en in die Ankunftsgesellschaft aufzeigt. Dabei plädierte er für eine komplette Assimilation, verstanden als Angleichung der Migrant(inn)en in die (zunächst als homogen gedachte) Aufnahmegesellschaft. Im weiteren historischen Verlauf war die Integrations- und Assimilationsthematik zunächst ein marginaler Bestandteil der soziologischen Forschung. Vertreter dieses Assimilationsansatzes (z.B. Richard Alba, Victor Nee und Roger Brubaker) gehen davon aus, dass in den formalen und informellen „Verfassungen
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und Kulturen“ (Esser 2003) der nationalstaatlich definierten Aufnahmegesellschaften kulturelle Kerne verankert sind, welche die Migrant(inn)en über die Generationen hinweg auf den Weg der Assimilation zwingen. Kulturelle Vorgaben des jeweiligen Aufnahmekontextes besäßen eine unumstößliche Bedeutung, insbesondere bei der Vermittlung von generell verwendbarem Humankapital, und seien Voraussetzung für die Vermittlung von Chancen der strukturellen Inklusion. Es wird ferner davon ausgegangen, dass die Orientierung der Migrant(inn)en an den sozial und kulturell gültigen Erwartungen des jeweiligen Einwanderungskontextes unverzichtbare Voraussetzung für eine gelingende Lebensführung sei. Anders als bei dem vorgestellten Konzept des Transnationalismus, liegt beim Assimilationsansatz der wissenschaftliche Bezugsrahmen auf dem Nationalstaat als Bezugskategorie. Assimilation ist jedoch, anders als der öffentliche Diskurs suggeriert, hierbei nicht gleichzusetzen mit einer ethnischen und kulturellen Homogenisierung. Vielmehr hebt Esser den deskriptiven Charakter des Assimilationsbegriffes in seiner Theorie hervor. Assimilation in diesem Sinne ist zu verstehen als eine Angleichung der verschiedenen Gruppen in bestimmten Eigenschaften (z.B. im Sprachverhalten oder in der Einnahme beruflicher Positionen). Dieses Verständnis von Assimilation ist dadurch geprägt, dass Assimilation als ein „Endziel“ des Eingliederungsprozesses eines Menschen oder einer Gruppe in eine andere gesellschaftliche Formation oft gar nicht erreicht werden kann. Wenn eine oberflächliche Hinwendung der Migrant(inn)en zu geltenden Verhaltensweisen, Normen und Werten stattfindet, reiche dies, so Esser, nicht aus, um eine zentrale gesellschaftliche Position zu erlangen, von der aus eine „wirkliche“ Integration möglich wäre. Die wichtigste Voraussetzung für das Andocken an diese Positionen seien „nachhaltige Investitionen in den Zugang zur Kernkultur der Aufnahmegesellschaft“ (Esser 1998), wobei die wohl wichtigste Investition dafür eine weiterführende Bildung sei. Es entspreche den Interessen der Migrant(inn)en, „ihre Chancen da zu suchen, wo sie sind: In der Kernkultur und in den Kerninstitutionen des Aufnahmelandes“ (ebd.). Individuelle Assimilation bilde einen Spezialfall der Sozial-Integration in bestehende soziale Systeme und lasse sich weiterhin unterscheiden in: kulturelle Assimilation (Spracherwerb), strukturelle Assimilation (Erwerb von Bildungsqualifikationen; Platzierung auf dem Arbeitsmarkt) und emotionale Assimilation (Identifikation mit den Verhältnissen im Aufnahmeland) (vgl. Esser 2003).
4 Soziologische Migrationsforschung und interkulturelle Bildung Die skizzierten Ansätze spiegeln nur einen Bruchteil an Schwerpunkten der Migrationssoziologie wider. Dennoch sollte die Mannigfaltigkeit dieser Subdisziplin sichtbar geworden sein. Anders als zu ihren Anfängen sind nicht allein die Folgen der Immigration für die jeweilige Aufnahmegesellschaft wichtige Forschungsschwerpunkte. Vielmehr entwickelte sich die Migrationssoziologie mit dem stattfindenden globalen Prozess der Modernisierung weiter. Die Erschließung neuer Forschungsperspektiven, die die weltweiten Interdependenzen genauso wie neue methodologische Bezüge einbeziehen, ist ein Charakteristikum der Migrationssoziologie. So scheint es beinahe eine Selbstverständlichkeit zu sein, dass ein Transfer der Forschungsergebnisse in andere Fachrichtungen erfolgt. Diesbezüglich kann auf die Pädagogik im Allgemeinen und die Interkulturelle Pädagogik im Besonderen verwiesen werden. Interkulturelle Pädagogik ist eng mit den Forschungsergebnissen der soziologischen Migrationsforschung verbunden. Die Idee einer interkulturellen Bildung und Pädagogik resultiert aus der Notwendigkeit, pädagogische Antworten auf Problemlagen zu finden, die im Zuge der weltweiten Wanderungen entstehen. Wissen über diese aktuellen und zukünftigen gesellschaftlichen Prozesse und dadurch über die Gesellschaft insgesamt stellt somit eine Grundvoraussetzung für pädagogisches Handeln
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Wassilios Baros und Anna Cornelia Reinhardt
dar. Während die Soziologie bzw. die Migrationssoziologie das Ziel verfolgt, dieses Wissen zu generieren, verbindet die Pädagogik mit diesen „rekonstruktiven“ Aussagen einen interventionsorientierten Ansatz für zukünftige Handlungsmöglichkeiten (vgl. Llaryora 1994). Dadurch kommt es zu einer wissenschaftlichen Verflechtung zwischen beiden Disziplinen. Ausgehend von soziologischen Erkenntnissen können gesellschaftliche und soziale „Schieflagen“ erkannt werden, die Anlass für erziehungswissenschaftliche Analysen und Debatten liefern.
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Literatur
Baros, Wassilios (2006): Neo-Assimilation: Das Ende des Konzeptes der Interkulturellen Öffnung?. In: Hans-Uwe Otto & Mark Schrödter (Hg.): Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft. Multikulturalismus – Neo-Assimilation – Transnationalität. Lahnstein: Verlag neue Praxis. – Bommes, Michael (2011): Nationale Paradigmen in der Migrationsforschung. In: IMIS-Heft 38, S. 15-52. – Esser, Hartmut (1998): Ist das Konzept der Integration gescheitert? In: Karl-Hugo Breuer (Hg.): Jahrbuch für Jugendsozialarbeit, Heft XIX. Köln: Verlag die Heimstatt, S. 129-139. – Esser, Hartmut (2003): Ist das Konzept der Assimilation überholt? In: Geographische Revue, Heft 2 (5), S. 5-22. – Gogolin, Ingrid & Krüger-Potratz, Marianne (2010): Einführung in die Interkulturelle Pädagogik. 2. Aufl. Opladen: Verlag Barbara Budrich. – Gogolin, Ingrid & Pries, Ludger (2004): Transmigration und Bildung. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaften, Heft 7. S. 5-19. – Han, Petrus (2010): Soziologie der Migration. Stuttgart: Lucius & Lucius Verlag. – Haug, Sonja (2013): Migration. In: Steffen Mau & Nadine M. Schöneck (Hg.): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Band 2 und Band 3, 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 593-607. – Hollifield, James F. (2003): Offene Weltwirtschaft und nationales Bürgerrecht: das liberale Paradox. In: Dietrich Thränhardt & Uwe Hunger (Hg.): Migration im Spannungsfeld von Globalisierung und Nationalstaat, LEVIATHAN Sonderheft 22. Wiesbaden: Westdeutsche Verlag, S. 35-57. – Kalter, Frank (2003): Stand und Perspektiven der Migrationssoziologie. In: Barbara Orth; Thomas Schwietring & Johannes Weiß: Soziologische Forschung: Stand und Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 323-337. – Kraler, Albert & Parnreiter, Christoph (2005): Migration theoretisieren, Heft 35. In: Prokla (140), S. 327-344. – Llaryora, Roberto (1994): Zur Kooperation von Pädagogik und Soziologie am Beispiel multikultureller Studien. In HansJoachim Roth (Hg.): Integration als Dialog. Interkulturelle Pädagogik im Spannungsfeld von Wissenschaft und Praxis. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 35-51. – Mackert, Jürgen (2006): Staatsbürgerschaft. Eine Einführung, 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. – Oswald, Ingrid (2007): Migrationssoziologie. Konstanz: UVK. – Pries, Ludger (2010): Internationale Migration, 3. unveränd. Aufl. Bielefeld: Transcript Verlag. – Schäfers, Bernhard (2006): Soziologie. In: Bernhard Schäfers & Johannes Kopp (Hg.): Grundbegriffe der Soziologie, 9. grundlegend überarb. und aktual. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. – Triebe, Benjamin (2012): Der Nationalstaat als sozialwissenschaftliche Denkkategorie. Eine Analyse des methodologischen Nationalismus, Band 53. Marburg: Tectum Verlag. – Yildirim-Krannig, Yeliz (2014): Kultur zwischen Nationalstaatlichkeit und Migration. Plädoyer für einen Paradigmenwechsel. Bielefeld: transcript.
Politikwissenschaftliche Perspektiven
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19 Politikwissenschaftliche Perspektiven Axel Schulte und Dirk Lange
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1 Politikbegriff und Legitimität politischer Herrschaft Gegenstand der Politikwissenschaft ist die Politik (vgl. zum Folgenden Schulte 2012 sowie Schulte & Treichler 2010). Im Zentrum stehen hier Fragen und Beziehungen der Macht zwischen Regierenden und Regierten. Mit Hilfe der Monopolisierung der legitimen physischen Gewalt beim Staat sowie der Produktion von rechtlichen Normen und des Treffens von Entscheidungen, die für alle verbindlich sind, sollen gesellschaftliche Verhältnisse gestaltet, Probleme bewältigt und Konflikte reguliert werden. Dabei lassen sich ein Input- und ein Output-Aspekt sowie verschiedene Dimensionen des Politischen unterscheiden: Die formale Dimension (polity) bezieht sich auf normative und institutionelle Aspekte, die prozessuale Dimension (politics) auf politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse und die inhaltliche Dimension (policy) auf Ziele und Aufgaben der Politik. Jede dieser Dimensionen kann für den analytischen und politischen Umgang mit Interkulturalität relevant sein. Politische Herrschaft, die unterschiedliche Formen aufweisen kann, wird heute im Allgemeinen nur dann als legitim angesehen, wenn durch sie Menschen-, Grund- und Bürgerrechte geachtet, geschützt und gewährleistet und rechtliche, also gesamtgesellschaftlich bindende Normen im Rahmen demokratischer Verfahren entwickelt werden.
2 Politische Steuerung von Migrations- und Integrationsprozessen In der Politikwissenschaft haben Politikfeldanalysen einen wichtigen Stellenwert. Bei diesen stehen Fragen der politischen Steuerung im Zentrum. Damit werden Bestrebungen und Maßnahmen politischer Akteure bezeichnet, in bestimmten Politikfeldern die gesellschaftliche Entwicklung gemäß konkretisierter Zielvorgaben und mit Hilfe von verschiedenen Instrumenten zu beeinflussen. Darauf bezogene Analysen fragen zum einen, durch welche Faktoren die jeweiligen Politiken geprägt werden, zum anderen, welche Wirkungen von ihnen ausgehen und wie leistungsfähig und erfolgreich sie sind. Im Hinblick auf die vorliegende Thematik umfasst die politische Steuerung erstens die Regulierung von internationalen Migrations- und Zuwanderungsprozessen. Beispiele sind in dieser Hinsicht die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften und die Flüchtlings- und Asylpolitik. Das zweite, hier ausführlicher betrachtete Element von Migrationspolitik bildet die Steuerung von Prozessen der Integration. Dabei geht es in einem engeren Sinne um die Eingliederung der Personen(-gruppen), die sich nach ihrer Zuwanderung schon länger in einem Land aufhalten und somit einen relativ festen Bestandteil der Wohnbevölkerung bilden, in einem weiteren Sinne um das Zusammenleben und den Zusammenhalt in Einwanderungsgesellschaften insgesamt. Insofern beinhaltet Integration nicht mehr die Frage des Ob, sondern des Wie des Zusammenlebens von Einheimischen einerseits und Angehörigen eingewanderter bzw. einwandernder Bevölkerungsgruppen andererseits. Von daher kann Integration auch als ein wechselseitiger Vorgang aufgefasst werden. Zentrale politische Herausforderung ist dabei, die ‚Anwesenheit‘ von Immigrant/innen in deren ‚Zugehörigkeit‘ zur Gesellschaft zu überführen. Diese Aufgabe
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umfasst strukturelle und kulturelle Dimensionen und betrifft verschiedene Ebenen, Bereiche und Akteur/innen bzw. Adressat/innen.
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3 Überkommene Integrationspolitiken im internationalen Vergleich In vergleichenden politikwissenschaftlichen Betrachtungsweisen wird nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Integrationspolitiken im Hinblick auf deren Ausprägungen, Einflussfaktoren und Wirkungen gefragt. In den verschiedenen Einwanderungsländern sind in dieser Hinsicht historisch-politische Kulturen relevant. Diese stehen wiederum im Zusammenhang mit dem jeweils vorherrschenden Verständnis von dem, was die ‚Nation‘ ausmacht und unter welchen Bedingungen Zuwanderer/innen als ‚zugehörig‘ betrachtet werden. Dies geht mit unterschiedlichen Interpretationen und Bewertungen von Multi- bzw. Interkulturalität sowie mit Tendenzen der Absicherung der Hegemonie der Aufnahmegesellschaften über die Zuwanderer/ innen einher. Idealtypisch können die folgenden überkommenen Modelle unterschieden werden: –– Das für Frankreich charakteristische Modell der „‚republikanischen’ bzw. ethnozentristischen Assimilation“: Dabei handelt es sich um eine Kombination von rechtlich-politischer Gleichstellung der Individuen und deren ethnisch-kultureller Angleichung. Bei der Debatte über die Präsenz von ‚Fremden’ und deren Integration wird von ethnischen Zusammenhängen weitgehend abstrahiert. Der Erwerb der Staatsbürgerschaft ist relativ unkompliziert und gilt als ein Instrument zur Förderung der Integration. Allerdings ist daran die Bedingung geknüpft, dass die Immigrant/innen die Kultur der französischen Nation annehmen und die grundlegenden politischen Regeln akzeptieren. –– Das für das Vereinigte Königreich kennzeichnende Modell eines „ungleichen Pluralismus“: Entsprechend der Vorstellung, dass ethnisch-kulturelle Differenzen innerhalb einer Gesellschaft normal sind, werden Immigrant/innen als Angehörige bestimmter ethnischer Gemeinschaften angesehen. Diesen werden erhebliche Spielräume der freien Entfaltung und der Institutionalisierung eingeräumt. Zudem werden Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit und zum Schutz vor Diskriminierung durchgeführt. Immigrant/innen, vor allem Personen aus Ländern des Commonwealth, sind rechtlich-politisch weitgehend gleichgestellt. Allerdings tendiert dieser Politiktyp dazu, Konzepte wie ‚Gemeinschaft’, ‚ethnische Minderheit’ und ‚Rasse’ allzu selbstverständlich zu verwenden, soziale Probleme zu ‚ethnisieren’, die Zuordnung von Individuen zu Gruppen zu erzwingen und durch Hervorhebung von ethnischkulturellen Besonderheiten Mechanismen der Segregation, der Segmentierung und der Stigmatisierung von Immigrant/innen zu fördern. –– Das in Deutschland dominierende und mit „institutionalisierter Unsicherheit“ einhergehende ethnische Modell: Deutschland hat sich lange geweigert, den gesellschaftlichen Sachverhalt der dauerhaften Niederlassung eines großen Teils der Migrant/innen politisch anzuerkennen. Ziel war hier nicht die Assimilation, sondern die Institutionalisierung der Unterscheidung zwischen Einheimischen und ‚Fremden‘. Das Festhalten an dem rechtlich ungleichen und prekären Status der Zugewanderten als ‚Ausländer‘ sollte deren ‚Flexibilität‘ auf dem Arbeitsmarkt wie auch im Hinblick auf eine mögliche Rückkehr in das Herkunftsland erhalten. Diese Orientierung ist auch beeinflusst durch ein primär ethnisch verstandenes Konzept der Nation. Konstituierend für das ‚deutsche Volk‘ sind danach gemeinsame Wurzeln, ein gemeinsames Schicksal, die gleiche Sprache und die gleiche Kultur. Für zugewanderte ‚Fremde‘ war und ist es so äußerst schwierig, Vollmitglied zu werden.
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4 Soziale Ungleichheit und ethnisch-kulturelle Vielfalt als Herausforderungen für Integrationspolitik In den europäischen Einwanderungsgesellschaften bestehen für die Integrationspolitik zwei besondere Herausforderungen. Unter strukturellen Gesichtspunkten ist die Lebenssituation der Mehrheit der Immigrant/innen nach wie vor durch erhebliche Ungleichheiten und Benachteiligungen in zentralen gesellschaftlichen Bereichen gekennzeichnet. In kultureller Hinsicht haben sich insbesondere in den städtischen Ballungszentren Phänomene und Tendenzen einer ethnisch-kulturellen Vielfalt, vor allem in sprachlicher und religiöser Hinsicht sowie im Hinblick auf die ‚Sichtbarkeit’ der Minderheiten, entwickelt. Bezüglich des Umgangs mit diesen Herausforderungen gibt es unterschiedliche integrationspolitische Reaktionen. Dabei spielt zum einen der Gegensatz zwischen rechts und links eine Rolle. Maßgebend ist dafür die gegensätzliche Haltung zum Prinzip der Gleichheit. Rechte Positionen gehen davon aus, dass Menschen(-gruppen) eher ungleich sind. Demgegenüber sind linke Positionen eher egalitär orientiert. Zudem sind kontroverse Antworten auf die Frage von Bedeutung, welches Verhältnis zwischen struktureller Integration einerseits und ethnisch-kultureller Vielfalt andererseits besteht. Für eine Politik der Verminderung ethnisch-kultureller Heterogenität plädieren zum einen Positionen, die national-konservativ, nationalistisch, ethnozentristisch, (kultur-)rassistisch oder rechtspopulistisch orientiert sind. Sie interpretieren diese Heterogenität als eine ‚Bedrohung‘ dessen, was sie als ‚nationale‘ oder ‚abendländische‘ Identität bezeichnen. Dies beruht auf der Annahme, dass ‚Volk‘, ‚Kultur‘ und ‚Identität‘ statisch-homogene und nationale Gebilde sind, zwischen dem ‚eigenen‘ Volk und seiner Kultur einerseits und ,fremden‘ Völkern und Kulturen andererseits unverträgliche Gegensätze bestehen, die Kulturen ungleichwertig sind und eine ungleiche Behandlung, Unterdrückung oder Ausschaltung des ‚Heterogenen‘ erforderlich ist. Bezogen auf die Mehrheitsbevölkerung werden so Mechanismen der ideologischen Vergemeinschaftung und des Selbstbewusstseins, hinsichtlich der Einwanderungsminderheiten die Vorenthaltung von gleichen Rechten sowie Maßnahmen der Entrechtlichung und der Ausgrenzung begünstigt. Für eine Politik der Verminderung ethnischer Heterogenität wird allerdings auch aus sozialwissenschaftlichen und liberal-demokratischen Positionen heraus plädiert, die eher assimilationsorientiert sind. Da hier ethnisch-kulturelle Vielfalt als Hindernis für erfolgreiche strukturelle Integrationsprozesse angesehen wird, wird eine Angleichung der Migrant/innen auch in ethnisch-kultureller Hinsicht an die jeweilige Aufnahmegesellschaft für notwendig erachtet. Dem Multikulturalismus wird vorgeworfen, eine soziale Segmentation zu begünstigen und damit die Chancen der Zugewanderten in der Aufnahmegesellschaft zu beeinträchtigen, durch das Auseinanderdriften der ethnischen Gruppen und durch kulturelle Separierungstendenzen eine Desintegration der Gesellschaft zu fördern, eine Ethnisierung gesellschaftlicher Probleme und politischer Konflikte zu bewirken sowie die Autonomie des Individuums und universale menschenrechtliche Orientierungen preiszugeben. Dabei wird allerdings zu wenig berücksichtigt, dass ‚der‘ Multikulturalismus unterschiedliche, nämlich extreme, aber auch gemäßigte bzw. aufgeklärte Ausprägungen aufweisen kann und die Aussagen restriktive Folgen für die Möglichkeiten der kulturellen Entfaltung auf der Seite der Einwanderungsminderheiten haben (können). Politiken der Beibehaltung bzw. Förderung kultureller Vielfalt liegen demgegenüber eher positive Bewertungen dieses Phänomens zugrunde. Allerdings existieren auch hier unterschiedliche Begründungen, Zielsetzungen und Interessen: –– Konservative Sichtweisen auf der Seite der Mehrheitsgesellschaft sind in erster Linie an dem Ziel der Bewahrung der kulturellen Identität orientiert – nicht zuletzt, um die Rückkehrfähigkeit der Betroffenen zu erhalten und/oder Ungleichbehandlungen zu legitimieren. Ähnliche Auffassungen gibt es auch auf der Seite der Einwanderungsminderheiten.
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–– Utilitaristische Positionen lassen sich von Kosten-Nutzen-Abwägungen leiten und sehen Integrationsmaßnahmen (nur) dann und insoweit vor, wie dadurch zur ‚Bereicherung‘ des Aufnahmelandes beigetragen wird. –– Ethnopluralistische Positionen plädieren für den ‚Kampf‘ von Kulturen und Ethnien – in der Erwartung bzw. Hoffnung, dass es dadurch zu einer Erneuerung der jeweils vorherrschenden ‚National- und Volkskultur‘ kommt und diese sich als „stärkere“ gegenüber den jeweiligen Minderheitenkulturen durchsetzt. –– Integrationsorientierte Positionen, die auch als ‚differenzsensibel‘, ‚pluralistisch‘ oder ‚interkulturell‘ bezeichnet werden, sehen keinen grundlegenden Widerspruch zwischen einer erfolgreichen strukturellen Integration und der Aufrechterhaltung bzw. Weiterentwicklung ethnisch-kultureller Vielfalt. Dementsprechend wird für eine angemessene Wahrnehmung, Anerkennung und Respektierung von ‚anderen‘ Kulturen sowie für kulturellen Austausch und interkulturelle Orientierungen plädiert. –– Menschenrechtlich und demokratisch orientierte Positionen betonen die Bedeutung der kulturellen Grundrechte und deren weitgehende Offenheit für vielfältige Inhalte. Nicht die Differenz, sondern die Ungleichheit wird als Gegensatz zum Prinzip der Gleichheit aufgefasst. Dementsprechend sollen die kulturelle Selbstbestimmung und Partizipation von Individuen und Gruppen ermöglicht, Ungleichheiten zwischen Mehrheits- und Minderheitenkulturen abgebaut, Prozesse des kulturellen Austauschs gefördert und Mechanismen der gewaltfreien Regulierung von Konflikten zur Verfügung gestellt werden.
5 Die neuere Integrationspolitik in der Bundesrepublik Deutschland – ein Perspektivenwechsel? Seit dem Ende der 1990er Jahre ist es in der Integrationspolitik der Bundesrepublik Deutschland zu erheblichen Neuerungen gekommen. Diesbezüglich wird verschiedentlich von einem „Perspektivenwechsel“ gesprochen. Zutreffender ist die Auffassung, dass diese im Vergleich mit der überkommenen Integrationspolitik sowohl Kontinuitäten als auch Veränderungen aufweist und insgesamt einen eher ambivalenten Charakter hat: –– Integrationsverständnis: Integration wird nunmehr explizit als öffentliche Aufgabe anerkannt und gefördert. Gleichzeitig bestehen Tendenzen, diese auf sprachlich-kulturelle Aspekte zu reduzieren und für restriktive Interpretationen des Zuwanderungs- und Aufenthaltsrechts zu instrumentalisieren. Zudem werden Hindernisse insbesondere auf der Seite von Migrant/ innen(-gruppen) geortet und die Pflicht zu Erbringung von Integrationsleistungen auf diese verlagert. –– Aufenthaltsintegration: In ausländerrechtlicher Hinsicht wurden Bestimmungen bei der Aufenthaltsbeendigung und beim Familiennachzug verschärft sowie Migrationspolitik und innere Sicherheit eng miteinander verknüpft. Der mit Kettenduldungen einhergehende prekäre Charakter des Aufenthalts wurde abgeschwächt, aber nicht abgeschafft. Für Flüchtlinge wurden die Aufenthalts- und Arbeitsmarktintegration partiell erleichtert, gleichzeitig aber auch die Möglichkeiten zur Abschiebung erweitert. –– Politische Integration und Partizipation: Im neuen Staatsangehörigkeitsrecht wird einerseits das Territorialprinzip berücksichtigt, das von zentraler Bedeutung für eine umfassende Gleichstellung von im Inland geborenen Kindern ausländischer Eltern ist. Andererseits werden diese Jugendlichen mit der seit 2014 allerdings abgeschwächten Pflicht konfrontiert, sich zwischen dem 18. und 23. Lebensjahr für eine der beiden Staatsangehörigkeiten zu entscheiden. Bei der Einbürgerung bestehen trotz Rechtsansprüchen der Betroffenen weiterhin erhebliche
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Hürden. Mit Migrant/innen(-verbänden) erfolgen Dialoge und zivilgesellschaftliche Akteure werden in die Planung und Umsetzung integrationspolitischer Maßnahmen partiell, aber nicht unbedingt auf Augenhöhe einbezogen. Zudem bestehen bei dem für demokratische Teilhabe zentralen Recht auf politische Gleichheit weiterhin deutliche Ungleichheiten und Benachteiligungen. –– Bei der sozialstrukturellen Integration wurden besondere Maßnahmen zur Förderung von Qualifizierung, zur Anerkennung von Qualifikationen und zum Schutz vor Diskriminierung durchgeführt. Gleichzeitig ist ein großer Teil der Immigrant/innen insbesondere im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt von einer gleichberechtigten Teilhabe noch weit entfernt. –– Im Bereich der kulturellen Integration wird ethnisch-kulturelle Vielfalt inzwischen grundsätzlich anerkannt und dafür sogar, z.B. im Rahmen der ‚Charta der Vielfalt’, geworben. Zudem gibt es Bemühungen zur interkulturellen Öffnung von Institutionen und Organisationen. Konterkariert werden diese Ansätze durch Erklärungen, wonach ‚Multi-Kulti‘ definitiv gescheitert sei, und durch Forderungen nach einer ‚deutschen’ bzw. ‚christlich-abendländischen‘ Leitkultur, utilitaristische Interpretationen von ‚Vielfalt’ sowie Infragestellungen der Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland. –– Zur Implementierung, Evaluierung und Weiterentwicklung der integrationspolitischen Maßnahmen wurden gewisse Vorkehrungen getroffen. Zudem erfolgte im Rahmen von Mainstreaming-Konzepten eine ansatzweise Verknüpfung von spezieller und allgemeiner Integrationspolitik. Ob diese Maßnahmen erfolgreicher als die bisherigen sind, lässt sich derzeit schwer abschätzen. –– Konfliktregulierung und Systemintegration: Die genannten positiven Elemente können dazu beitragen, Konflikte auf der Grundlage eines Basiskonsens grundsätzlich gewaltfrei zu regulieren und auf diesem Wege den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern. Gleichzeitig befindet sich die neuere Integrationspolitik in einer Kontinuität mit zentralen Elementen der traditionellen Ausländerpolitik und enthält neue Elemente der Ausgrenzung und Ungleichbehandlung. Das widersprüchliche Nebeneinander von positiven und problematischen Elementen ist beeinflusst durch konträre gesellschaftspolitische Optionen, unterschiedliche Interessen und Akteur/ innen sowie Prozesse der Modernisierung, Internationalisierung und Europäisierung.
6 Menschenrechtsbasierte Migrations- und Integrationspolitik als Perspektive Politikwissenschaftliche Analysen enthalten nicht selten Elemente der Politikberatung und Empfehlungen für politische Akteure zur Konzipierung und Durchführung bestimmter Maßnahmen. Bezogen auf die vorliegende Thematik wird an dieser Stelle für eine Orientierung optiert, die verstärkt auf die Menschenrechte Bezug nimmt. Diese enthalten eine „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ (Art. 1 Abs. 1 GG) und bieten –– einen formalen Rahmen, der aus rechtsstaatlichen und demokratischen Verfahrensregeln besteht und für Pluralität und Verschiedenheit weitgehend offen ist, –– ein inhaltliches Leitbild, dessen Kern die Würde sowie die Freiheit und Gleichheit der Individuen bilden und das zivile und politische sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte umfasst, –– Maßstäbe zur Bewertung von Migrations- und Integrationspolitiken sowie –– Spielräume und Grenzen für die Austragung von Konflikten.
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So verstanden, ist Migrations- und Integrationspolitik einerseits ein Indikator für den jeweiligen Stand der Menschenrechte, andererseits ein potentieller Beitrag zu einer Annäherung an das in diesen Rechten verankerte „ferne Ziel einer gerechten Gesellschaft von freien und gleichen Individuen“ (Bobbio 1998, S. 55).
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7 Migrationspolitische Bildung Innerhalb der Politikwissenschaft beschäftigt sich die Didaktik der Politischen Bildung mit Fragen des Lehrens und des Lernens über migrationsbezogene gesellschaftliche Phänomene. Mit der ‚Ausländerpädagogik’, der ‚multikulturellen Bildung’, der ‚interkulturellen Bildung’ sowie der ‚antirassistischen Bildung’ wurden verschiedene Konzeptionen erprobt. In den vergangenen Jahren hat sich die migrationspolitische Bildung empirisch erweitert und interessiert sich für das Bürgerbewusstsein in der Migrationsgesellschaft (vgl. zum Folgenden Lange 2010). Die Migrationsvorstellungen von Einheimischen, die Partizipationskompetenzen von Migrant/innen, die Demokratievorstellungen von Einwanderer/innen oder die Integrationskonzepte von Schüler/ innen sind didaktisch untersuchungsrelevant. Wie stellen sich Lernende das Zusammenleben von Einheimischen und Migrant/innen vor? Was verstehen sie unter „gelungener Integration“? Welche Anforderungen stellen sie an die Aufnahmegesellschaft und welche an die Zuwanderer/ innen? Lassen sich die subjektiven Vorstellungen mit sozialwissenschaftlichen Konzepten der Integration, Akkulturation, Assimilation oder Transkulturalität in Beziehung setzen? Welche Bildungsstrategien resultieren daraus? Im Bürgerbewusstsein bilden sich die mentalen Vorstellungen, die das Denken und Handeln in der Migrationsgesellschaft leiten. Empirische Studien über das Bürgerbewusstsein geben Hinweise darauf, wie sich Menschen in den Strukturen und Prozessen der Migrationsgesellschaft orientieren. Sie zeigen an, dass es auch fachliche (Fehl-)Vorstellungen (etwa: Integration = Assimilation) sein können, die zum Misslingen von Integration und zur Problematisierung von Interkulturalität beitragen. Für die migrationspolitische Bildung sind die Vorstellungen darüber, wie sich Individuen in einer Gesellschaft integrieren, wesentlich. Lernende haben eine Vorstellung über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Sie erleben und ordnen migrationsbedingte Heterogenität. Im Bürgerbewusstsein entwickeln sie Aussagen und Begründungen über die Bedeutung von sozialen Differenzen: sei es hinsichtlich des Geschlechts, der Ethnizität, der Herkunft, der sozialen Ungleichheit, des Lebensstils oder anderer Kategorisierungen. Um sich erklärbar zu machen, wie trotz sozialer Vielfalt und Interkulturalität gesellschaftliches Zusammenleben funktioniert, werden auch Denkkonzepte der Pluralität angewendet. Der Prozess der Vergesellschaftung in Migrationsprozessen wird durch Konzepte über das Individuum und die Mechanismen seiner sozialen Inklusion und Exklusion erklärbar. Zur Beantwortung der Frage, was die Gesellschaft trotz ihrer Vielfalt zusammen hält, sind im Bürgerbewusstsein auch Vorstellungen über Formen der Interaktion und Kommunikation in Integrationsgesellschaften vorhanden. „Wie integrieren sich Individuen in die Migrationsgesellschaft?“, so lässt sich ein zentrales Sinnbild zusammenfassen, das es durch didaktische Forschung zu rekonstruieren gilt. Im Bürgerbewusstsein lassen sich außerdem Vorstellungen darüber vorfinden, wie sich sozialer Wandel vollzieht. Wie werden die Ursachen und die Dynamik der Veränderungen in der Einwanderungs- und Migrationsgesellschaft erklärt? Welche Bedeutung wird dabei Migration und Interkulturalität beigemessen? Welche Konzepte – beispielsweise der Globalisierung, der Demokratisierung oder des Fortschritts – sind darin erkennbar? Schließlich verfügt das Bürgerbewusstsein über Vorstellungen darüber, wie Interessen in der Gesellschaft durchgesetzt werden.
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Kommunikationswissenschaft: Migration und Medien
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Wie werden die Ausübung von Macht und das Vertreten von Interessen in der Migrationsgesellschaft beschrieben und gerechtfertigt? Welche Vorstellungen von interkulturellen politischen Konflikten und der Partizipation von Migrant/innen sind erkennbar? Welche Migrationspolitiken werden legitimiert? Auf globaler, supranationaler und nationalstaatlicher Ebene werfen die Erfahrungen in der Migrationsgesellschaft Fragen nach politischer Verfasstheit der Herkunftsländer wie dem Umgang mit Migration in den Ankunftsregionen auf. Neben den zugeschriebenen Ursachen und Motiven von Flucht und Migration interessiert auch das Verhältnis zu und der Umgang mit Migration in den Ankunfts- bzw. Durchgangsregionen. Die migrationspolitische Bildung sollte die fachlichen Modellierungen, die Lernende über migrationsbedingte Phänomene aufgebaut haben, lerntheoretisch berücksichtigen. Deshalb stellt die migrationspolitische Bildung die Frage nach dem Wandel des Bürgerbewusstseins im Kontext von Migration und Interkulturalität. Sie will eine kritische Urteilsbildung und ein reflektiertes Handeln in interkulturellen Kontexten durch eine Erweiterung der mentalen Strukturen ermöglichen. Hierfür werden die subjektiven Konzepte über Fragen von Migration und Interkulturalität zunächst aktiviert und anschließend irritiert, mit Widersprüchen konfrontiert und an innere Grenzen geführt. Durch die veränderten Sichtweisen leistet die migrationspolitische Bildung einen Beitrag dazu, dass aktuelle migrationsbedingte Phänomene besser „gelesen“ und beeinflusst werden können. Literatur
Bobbio, Norbert (1998): Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar? Berlin: Wagenbach. – Lange, Dirk (2010): Migrationspolitische Bildung. Das Bürgerbewusstsein in der Einwanderungsgesellschaft. In: Dirk Lange & AyÇa Polat (Hg.): Migration und Alltag. Perspektiven politischer Bildung. Schwalbach: Wochenschau, S. 163-175. – Schulte, Axel (2012): Politische Steuerung von Integrationsprozessen und Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 32 (8), S. 289-297. – Schulte, Axel & Treichler, Andreas (2010): Integration und Antidiskriminierung. Eine interdisziplinäre Einführung. Weinheim: Juventa.
20 Kommunikationswissenschaft: Migration und Medien Georg Ruhrmann
Die Darstellung der Migrationsthematik in den Medien hat sich als ein politisch und kommunikationswissenschaftlich relevanter Themenkomplex erwiesen. Angesichts neuer Fluchtbewegungen und wachsender Migration wird Toleranz gegenüber anderen Herkünften, Lebensweisen, Kulturen, Sprachen und Religionen zu einem kontroversen Thema in der Berichterstattung. Dabei werden nicht nur subtile, sondern zugleich auch manifeste Tendenzen der Diskriminie-
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rung – vor allem im Netz – sichtbar. Es finden sich immer häufiger Aussagen zu rassistischer Gewalt. Diskriminierung und mangelnde Toleranz werden im Kontext sozialpolitischer und struktureller Verwerfungen ökonomischer und sozialer Ungleichheit zur größten politischen und sozialen Herausforderung Europas in der Nachkriegszeit. Rechtskonservative, rechtsextreme und neofaschistische Parteien und Ideologien gewinnen an Boden. Ihre Kampfbegriffe sind in die Parlamente verschiedener europäischer Nationalstaaten sowie einzelner Bundesländer eingezogen. Ihre Aussichten auf weitere Resonanz und Wahlerfolge stehen nicht schlecht. Was vor allem auffällt: Der öffentlich und auch in den Medien präsentierte Ton der Debatte hat sich deutlich verschärft. In der Versammlungsöffentlichkeit auf der Straße, in Parlamenten und in der veröffentlichten Meinung tauchen Begriffe und sprachliche Formulierungen auf, die Furcht vor sozialer Veränderung signifikant schüren sowie Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit stärker als in den letzten Jahren aktivieren. Zugleich sind es die Medien, die nach wie vor und nicht selten auch in exzellenter Weise journalistisch aufklären: Sie aktualisieren konkrete Zusammenhänge zwischen Vertreibung und Flucht aus Krisenregionen. Sie berichten über Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern. Ganz konkret im politischen Alltag machen journalistisch produzierte Medien Asylbewerber und Menschen auf der Flucht sichtbar. Je nach journalistischer Aufarbeitung werden wesentliche Facetten von Migration sichtbar.
1 Forschung zu Migration und Medien Migration und Medien galten noch in den 1980er Jahren als ein Nischenthema. Nur vereinzelt wurde in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, in der Sprachwissenschaft und Soziolinguistik systematisch theoretisch und empirisch dazu geforscht. „Fremdenfeindlichkeit“ taten konservative Politiker – selbst seit Jahrzehnten geübt im Vermeiden des Begreifens gesellschaftlicher und historischer Komplexität – als einen Kampfbegriff der Linken ab. Dies hat sich deutlich geändert. Im Herbst 2015 waren Asyl, Flucht und Migration zentrale Themen der Medien und deutsche Politiker/innen kamen nicht umhin, sich dazu in den Medien zu äußern. Dadurch wurde – zumindest für den sozialwissenschaftlichen Beobachter – sichtbar wie (un-)vorbereitet, (un-)koordiniert, (un-)reflektiert, wie (un-)verhohlen rechts und rechtsextrem und vor allem wie angstgetrieben viele von ihnen formulierten und ggf. auch entscheiden würden. Denn die „irrationalen Ängste“, die „Stöpsel auf der Flasche“, „Gefahren“, die sogenannte „Flüchtlingskatastrophe“ und „-krise“, die „Flüchtlingsströme“, Flüchtlinge als „sozialer Sprengstoff“ und „Asylorkan“ beginnen als Formulierungen im Kopf, in den Gedanken, bevor sie entscheidungsund handlungsrelevant werden. Eine immer variantenreichere Katastrophensemantik also bis hin zu kalkuliert rechtspopulistisch formulierten Argumentationen beherrscht zunehmend die Debatte (vgl. Schellenberg 2013). Angeführt von etablierten Parteien bis hin in weite Teile der konservativen und liberalen Medien findet sie zunehmend öffentliche Beachtung. International werden Rolle und Funktion der Medien und medial induzierte gesellschaftliche Diskurse beim Schüren und Verstärken rassistischer Einstellungen diskutiert (vgl. van Dijk 2014). Zunehmend erkennen außerhalb der Kommunikationswissenschaft verschiedene Disziplinen, etwa Soziologie, Psychologie und die Pädagogik nun die Rolle der Medien als relevanten Faktor im Geschehen an. Doch wie berichten die Medien, wie funktioniert der Journalismus? Und wie wirkt die Berichterstattung? Schüren die Medien unsere Vorurteile? Oder repräsentieren sie diese (nur), reflektieren sie also gesellschaftliche Verhältnisse, einzelne ihrer Bereiche bzw. die Positionen bestimmter Bevölkerungsgruppen? Nachfolgend wird gefragt, wie der vielbenutzte
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Begriff der Integration zu verstehen ist und wie die Medien darüber berichten. Abschließend werden Thesen formuliert.
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2 Integration und Desintegration Einer der meistbenutzten Begriffe in der Diskussion über Migranten ist der Begriff der Integration. In der Öffentlichkeit wird der Integrationsbegriff verengt debattiert. Für Politik und in öffentlichen Debatten scheint Integration vor allem eine Herausforderung für Einwanderer zu sein, Integration wird als Anpassungsleistung vorgestellt, die Migranten zu erbringen hätten. Eine umfassende Begriffsklärung von Integration lässt sich indes in der öffentlichen Diskussion selten finden. Auch Erkenntnisse aus der sozialwissenschaftlichen Grundlagenforschung zur Integration (vgl. Trebbe 2009; Collier 2013; Heckmann 2015) sucht man vergebens. Mit Integration wird ein dynamischer und auf verschiedenen sozialen Ebenen differenzierter sozialer Prozess beschrieben. Gesellschaftliche Gruppen mit unterschiedlichen Werthaltungen wachsen allmählich und langfristig zusammen. Einwanderer sind häufig ökonomisch, politisch, rechtlich und sozial in der „Aufnahmegesellschaft“ randständig. Desintegration umschreibt Prozesse und Zustände, in denen soziale Bindungen erodieren und schwächer werden. In der sozialwissenschaftlichen Forschung wird umfassend beschrieben, wie gesellschaftliche Fragmentierungsund Zerfallsprozesse beginnen und fortschreiten (vgl. Imbusch & Heitmeyer 2012). Es kommt zu Entsolidarisierung, die sich u.a. in ethnischen Spannungen, Konflikten und Feindschaften zwischen Gruppen manifestieren kann. Politische und wirtschaftliche Instabilitäten sind dabei Konfliktursache und -folge zugleich. Die Konflikte manifestieren sich nicht nur in Polemiken, sondern auch in Demonstrationen und plötzlich ausbrechenden gewaltsamen Aktionen (vgl. Giddens et al. 2009, S. 447ff). Über Konflikte berichten Medien aktuell, ereignisbezogen und kurzfristig. Spektakuläre Bilder dominieren und überdecken die zumeist fehlenden Erklärungen. Die unerwähnt bleibenden sozialen Entstehungsgründe besagen, dass viele von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen abhängige Gruppen nicht nur in einem Kontext der Armut leben, sondern diesen unter zunehmend prekären Bedingungen zwangläufig reproduzieren. In und an den Rändern der Metropolen – etwa in den USA – aber auch in Europa, Afrika und Asien ist dies zu beobachten. Menschen mit Migrationshintergrund werden von Chancen und Ressourcen – über die mehrheitlich die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft bzw. viele Menschen ohne Migrationshintergrund verfügen, ohne sie überhaupt zum Thema machen zu müssen – mehr oder weniger systematisch bzw. strukturell ausgeschlossen. (vgl. Giddens et al. 2009). Die für die strukturelle Integration relevanten Ressourcen, das heißt die materiellen Güter, die Arbeitseinkommen (Löhne) und das (vererbte) (Kapital-)Vermögen sowie Bildung entwickeln sich weltweit und auch in Deutschland zunehmend ungleich (vgl. Heckmann 2015, S. 131ff). Ein wesentlicher Integrationsaspekt ist die Beherrschung der Landessprache. Dabei geht es nicht nur um erworbene bzw. zu erwerbende Sprachkenntnisse von Menschen mit Migrationshintergrund. Es geht auch um die bisher kaum analysierte Frage „wie die Migration die deutsche Sprache verändert“ (Hinrichs 2013, S. 9), etwa durch veränderte Sprachkontakte bzw. Strukturen der „Mehrsprachigkeit und Anderssprachigkeit“ (Hinrichs 2013, S. 53). In den letzten Jahren wurden vielfältige kognitions- und sozialpsychologische Forschungen zur Rolle der Sprache bei Intergruppenbeziehungen und sozialer Diskriminierung durchgeführt (vgl. Ruhrmann & Sommer 2009, S. 422ff; van Dijk 2014, S. 139ff). Diese im politischen Integrationsdiskurs nicht immer beachteten Befunde und Erkenntnisse zur Sprache sind auch relevant, um zu verstehen, wie soziale Integration als gelingend wahrgenommen werden kann, wenn Gruppen der Aufnah-
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megesellschaft und Menschen mit Migrationshintergrund sich zunehmend wechselseitig verstehen und in ihrer „Andersartigkeit“ (Mummendey & Kessler 2008, S. 513) akzeptieren – nicht nur im beruflichen, sondern auch im privaten und familiären Bereich. Daraus können sich neue Zugehörigkeitsgefühle und Einstellungen gegenüber der Fremdgruppe sowie der eigenen Gruppe bzw. der „Eigengruppenprojektionen“ (Mummendey & Kessler 2008, S. 519) entwickeln.
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3 Befunde: Mediendarstellung von Migranten Die in politischen Diskursen umschriebenen, jedoch meistens nicht definierten „Integrationsleistungen und -wirkungen“ der Medien kommen selten zur Sprache. Eher werden Gemeinplätze über die „Rolle der Medien“ kommuniziert. Moralisierend wird etwa gefordert, „die“ Journalisten hätten „objektiv“ über Migration und Integration zu berichten. Denn es seien „die“ Journalisten, die Vorurteile gegenüber Minderheiten verursachen oder schüren würden. Dies wirft die Frage auf, welche theoretischen und empirischen Befunde dazu vorliegen. In den letzten 30 Jahren haben in der Kommunikationswissenschaft zahlreiche empirische Studien, zumeist systematische quantitative und qualitative gezeigt, wie die Medien Migranten, die mit ihnen assoziierten Themen und Probleme darstellen und bewerten. Die Studien zur Presseberichterstattung arbeiten dabei ein von Journalisten negativ gefärbtes, mit Stereotypen und Verzerrungen durchsetztes Bild von Migranten heraus. Analysen zur TV-Berichterstattung zum Thema Migration wurden indes seltener unternommen, nicht zuletzt weil sie komplexer und zeitaufwändiger sind als Presseanalysen (vgl. Sommer & Ruhrmann 2010). Die vorliegenden Untersuchungen zeigen, dass Journalisten weltweit über das Thema Migration vielfach im Zusammenhang mit Kriminalität berichten. Journalisten präferieren gerade bei diesem Thema eine personalisierende und an spektakulären Ereignissen orientierte Darstellung. Diese zeigt jeweils nur einzelne Aspekte von Desintegration. Statt Jugendkriminalität zu erklären, sieht man z.B. einzelne jugendliche Täter. Anstelle einer Erklärung von weit verbreiteter Gewalt gegen Frauen, liefern Journalisten individualisierende Berichte von betroffenen Opfern oder Verdächtigen bzw. verurteilten Tätern. Statt fundamentalistische Entwicklungen innerhalb bestimmter Gruppen einzuordnen, liefern Medien spektakuläre Schilderungen von z.B. einzelnen jungen Männern, die sich in Syrien radikalisiert hätten und nun als „Terroristen“ wieder in „unser“ Land einreisten. Solche mit dramatisierendem Bildmaterial illustrierten Berichte erzeugen und verstärken den Eindruck, dass die beschriebenen Akteure prinzipiell nicht-integrierbar seien und stattdessen von den Strafbehörden intensiver verfolgt werden müssten. Die bekannte verzerrte Nennhäufigkeit von bestimmten Nationalitäten in deutschen Medien korreliert seit Anfang der 1980er-Jahre mit negativen Bewertungen. Türkische und zunehmend als muslimisch (islamisch) markierte Akteure werden überdurchschnittlich häufig in Kontroversen und Konfliktsituationen sowie im Kontext von Gewalt gezeigt. Seit längerem ist aufgrund von empirischen Studien bekannt, dass und wie sich Journalisten in ihrer spezifischen Konkurrenzsituation und mit Blick auf ökonomische und politische Eliten am vermeintlichen vorhandenen Wissen bzw. „Mainstream“ der Medien orientieren (Ruhrmann 2014a; 2014b). Über Jahrzehnte hinweg kommen Migranten häufiger nur als Objekt (und nicht als Subjekt) von journalistischen Aussagen vor. Sie werden zum Handeln aufgefordert, sie werden bewertet oder ihr künftiges Verhalten wird prognostiziert. Dadurch verfestigt sich eine für Migranten publizistisch relevante negative Aktiv-Passiv-Bilanz, die zugleich ihre jahrzehntelange relative politische Einfluss- und Machtlosigkeit repräsentiert (vgl. Ruhrmann & Sommer 2005, S. 124ff; Eckardt 2012, S. 55ff).
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Kommunikationswissenschaft: Migration und Medien
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Journalisten berichten innerhalb eines mehr oder weniger feststehenden Deutungsrahmens, d.h. innerhalb bestimmter Frames, wobei diese „thematisch“ oder „episodisch“ strukturiert sein können (vgl. Iyengar 1996, S. 59ff). Innerhalb episodischer Frames präsentieren Journalisten konkrete Personen und Einzelhandlungen und zeigen anstelle von Konflikten sichtbare Gewalttaten einzelner individueller Akteure. Episodische Frames fokussieren auf visualisierbares Geschehen. Vorhandenes spektakuläres Bild- und Filmmaterial ist entscheidend für dieses journalistische Framing. Im Gegensatz dazu erklären thematische Frames migrationspolitisch relevante Ereignisse und Entwicklungen in einem abstrakteren Zusammenhang: Journalisten erklären die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bedingungen und Hintergründe von Ereignisursachen. Auch präsentieren sie Rede und Gegenrede strategischer Akteure. Gerade auch die Massenmedien können, wie durch kommunikations- und sozialpsychologische Studien gut belegt, durch ihre Berichterstattung einen stellvertretenden oder eine Art virtuellen Kontakt herstellen, der ähnlich wirkt wie ein realer Kontakt (vgl. Schiappa 2005, S. 92ff). Eine solche Berichterstattung kann aufklärend wirken, besonders in Regionen, in denen weniger reale Kontakte zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund vorhanden sind oder entstehen können. Sozialpsychologen haben dazu vor allem in Mittel- und Ostdeutschland, wo Kontakte zu Eingewanderten seltener sind und zugleich eine starke Heimatverbundenheit (bis hin zur Provinzialität) vorherrscht, schon vor über 15 Jahren erste empirische Untersuchungen durchgeführt (Wagner et al. 2008). Tatsächliche und gezeigte Kontakte können Vorurteile u.a. dann verringern, wenn die Mitglieder der jeweiligen Bezugsgruppen u.a. einen ungefähr gleichen Status besitzen, gemeinsame Ziele verfolgen und dabei kooperieren (vgl. Schiappa 2005; Pettigrew & Tropp 2006, S. 751ff). Die Inhalte und der Umfang der Fernsehnutzung beeinflussen Bewertungsprozesse gegenüber Fremdem bzw. Menschen mit Migrationshintergrund: Rezipienten urteilen über die im Fernsehen dargestellten Menschen mit Migrationshintergrund im Kontakt mit anderen Akteuren positiver. Die Meldungen mit gezeigtem Kontakt zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund weisen dabei auch deutlich weniger gewaltaffine oder gewaltsame Inhalte bzw. Themen auf als solche Meldungen, die eben keinen Kontakt darstellen.
4 Neun Thesen Zu den bisherigen Überlegungen lassen sich auch mit Blick auf die weitere Forschung folgende Diskussionsthesen formulieren: 1. Die politisch begründeten und (sozial)wissenschaftlich informierten Diskurse zu Migration und Integration und ihrer Repräsentationen in den Medien beginnen in Deutschland verzögert und verspätet. Zugleich präsentieren und verstärken die Medien einen rechtspopulistischen Diskurs; rassistisch motivierte Positionen gewinnen an Zulauf und Zustimmung in der Bevölkerung und in den Medien, vor allem im Netz. 2. Analysen und Erklärungen komplexerer Prozessdimensionen von Migration und Integration bleiben der sozialwissenschaftlichen Fachdiskussion unter Experten vorbehalten. Sie werden von Journalisten kaum recherchiert, in den Medien kaum berichtet und in der Öffentlichkeit kaum beachtet. Politik, Verwaltung und Journalisten verwenden und entscheiden stattdessen auf der Basis von ad-hoc Überlegungen, von Ergebnissen demoskopischer Untersuchungen oder auf der Grundlage einer mehr oder weniger umfassenden Politikberatung (vgl. Ruhrmann 2016). Integration wird meist als individuell zu erbringende Leistung und nicht als Prozess begriffen, der auch von Menschen ohne Migrationshintergrund, der auch von den
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Georg Ruhrmann
„Einheimischen“ bzw. vom jeweiligen Land mehr Engagement und Ressourcen erfordert als die kurz- oder auch mittelfristige Organisation und Gestaltung von „Willkommenskultur“. 3. Der time-lag zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und ihrer potentiellen Berücksichtigung in politischen Entscheidungen beträgt in Deutschland 20 Jahre. Es ist zunehmend auch die Wirtschaft, die die einwanderungspolitische Diskussion vorangetrieben hat. Entscheidend ist, dass und wie Migranten verstärkt in wirtschaftliche, politische, journalistische und wissenschaftliche Führungspositionen gelangen. 4. Die Medien in Deutschland haben das Thema Asyl, Flucht und Migration sowie die Perspektiven der Integration marginalisiert. Seit Jahrzehnten kamen Migranten nicht aktiv als Subjekt zu Wort, sondern es wurde über sie berichtet: Menschen mit Migrationshintergrund bewerteten nicht, sondern sie wurden und zumeist negativ bewertet; Migranten forderten nicht(s), sondern sie wurden gefordert. 5. Systematische empirische Medienanalysen zum Thema Migration und Integration haben unterschiedliche und vielfältige Typen der Berichterstattung identifiziert, die von einer tatsächlichen Beschreibung und Erklärung von Integration und Integrationspolitik über die Berichterstattung von Kriminalität bis hin zur Vermischung der Themen Asyl, Flucht und Terrorismus reichen. Diese Tendenz hat bereits nach den Anschlägen von New York im September 2011 eingesetzt. 6. Die Rolle des in den Medien gezeigten, sogenannten stellvertretenden Kontakts zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, zwischen Minderheit und Mehrheit ist erst ansatzweise systematisch untersucht worden. Angesichts rechtspopulistischer Bewegungen und rechtsextremer Anschläge gerade in Regionen mit einem sehr geringen Migrantenanteil lässt sich diskutieren, ob und inwieweit eine Berichterstattung relevant wird, die stellvertretenden Kontakt auf vielfältige Weise zeigt. 7. Internet und Social Web können hier eine entscheidende Rolle spielen. Sie bedürfen der umfassenden theoretischen und empirischen Forschung in Bezug auf neue Möglichkeiten der Interaktion und Partizipation (vgl. Fuchs 2014). 8. Form und Inhalt der Medienberichterstattung über wissenschaftliche Befunde zu Migration und Integration sind hinsichtlich mehrerer Faktoren und Dimensionen verzerrt. Zu untersuchen ist, ob Wissenschaftskommunikation über eine verwissenschaftlichte Politikberatung und/ oder durch wertgeschätzte Grundlagenforschung gelingen kann (Ruhrmann et al. 2016). Der Weg ist lang von der sozialwissenschaftlichen Grundlagenforschung zu evidenzbasierten Entscheidungen. Dies liegt nicht zuletzt auch an der weit fortgeschrittenen (Aus-)Differenzierung von psychologischer und sozialwissenschaftlicher Grundlagenforschung (vgl. Bastow, Dunleavy & Tinkler 2014). 9. Gerade der zunehmende Konkurrenz- und Zeitdruck zwingt die Journalisten der aktuellen audiovisuellen Medien sowie im Internet, auf diese aktuellen, meist spektakulär präsentierten Einzelstudien zu fokussieren und sie fälschlicherweise mit dem erreichten wissenschaftlichen Kenntnisstand gleichzusetzen. Journalisten rekonstruieren dabei gerade nicht die innerwissenschaftliche Diskussion, sondern inszenieren öffentliche Kontroversen. Demonstriert wird, wie Wissenschaftler, Gutachter und Gegengutachter sich streiten. Hintergründe der Forschung, Interessen und Motive bleiben unbegriffen und intransparent. Eine Wissenschaftskommunikation, die evidenzbasiert politische Entscheidungen orientieren kann, existiert in Deutschland erst ansatzweise (vgl. Ruhrmann, Kessler & Guenther 2016). Qualitätsjournalismus könnte diese Form der Kommunikation öffentlich machen, politisch einordnen und fördern.
Kommunikationswissenschaft: Migration und Medien
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Literatur
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Bastow, Simon; Dunleavy, Patrick & Tinkler, Jane (2014): The impact of the social science. How academics and their research make a difference. Los Angeles: Sage. – Collier, Paul (2013): Exodus. How Migration is changing our World. Oxford: Oxford University Press. – Eckardt, Stefanie (2012): Statistenrolle als Migrant zu vergeben. Konzeption einer Aktiv-Passiv-Bilanz zur medialen Repräsentation von Migranten mit netzwerkanalytischen Befunden. In: Publizistik 57, (2012), S. 55-74. – Fuchs, Christian (2014): Social Media. A critical introduction. Los Angeles: Sage. – Giddens, Anthony; Fleck, Christian & Egger de Campo, Marianne (2009): Soziologie. 3., überarb., aktual. Aufl. Graz. Wien: Hausner & Hausner, Cambridge (UK): Polity Press. – Heckmann, Friedrich (2015): Integration von Migranten. Einwanderung und neue Nationenbildung. Wiesbaden: VS Springer. – Hinrichs, Uwe (2013): Multi Kulti Deutsch. Wie Migration die deutsche Sprache verändert. München: Beck. – Imbusch, Peter & Heitmeyer, Wilhelm (2012): Dynamiken gesellschaftlicher Integration und Desintegration. In: Heitmeyer, Werner & Imbusch, Peter (Hg.): Desintegrationsdynamiken. Integrationsmechanismen auf dem Prüfstand. Wiesbaden: Springer VS, S. 9-29. – Iyengar, Shanto (1996): Framing Responsibility for Political Issues. In: Annals of the American Academy of Political and Social Science 546, S. 59-70. – Mummendey, Amelie & Kessler, Thomas (2008): Akzeptanz oder Ablehnung von Andersartigkeit. Die Beziehung zwischen Zuwanderern und Einheimischen aus einer sozialpsychologischen Perspektive. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 48 „Migration und Integration“ (Hg. von Frank Kalter). Wiesbaden: VS, S. 513-528. – Pettigrew, Thomas F. & Tropp, Linda R. (2006): A meta-analytic test of intergroup contact theory. In: Journal of Personality and Social Psychology, 90, S. 751-783. – Ruhrmann, Georg (2014a): Schwankendes Terrain. Die Risiken der Risikoberichterstattung. In: Jochen Hörisch & Uwe Kammann (Hg.): Organisierte Phantasie. Medienwelten im 21. Jahrhundert – 30 Positionen. Paderborn: Wilhelm Fink, Grimme Institut, S. 84-90. – Ruhrmann, Georg (2014b): Medien und Integration. Zwischen wissenschaftlichem Wissen und politischer Verantwortung in drei Jahrzehnten. In: Ursula Bertels (Hg.): Einwanderungsland Deutschland. Wie kann Integration aus ethnologischer Sicht gelingen? Münster: Waxmann, S. 99-120. – Ruhrmann, Georg (2016): Integration in the Media. Between Science, Policy Consulting and Journalism. In: Georg Ruhrmann; Yasemin Shooman & Peter Widmann (Hg.): Media and Minorities. Questions on Representation from an International Perspektive. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (= Schriften des Jüdischen Museums Berlin – Bd. 4), S. 177-194. – Ruhrmann, Georg & Sommer, Denise (2005): Migranten in den Medien – von der Ignoranz zum Kontakt? In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 25, 3-4, S. 123127. – Ruhrmann, Georg & Sommer, Denise (2009): Vorurteile und Diskriminierung in den Medien. In: Andreas Beelmann & Kai J. Jonas (Hg.): Diskriminierung und Toleranz. Psychologische Grundlagen und Anwendungsperspektiven. Wiesbaden: VS, S. 419-434. – Ruhrmann, Georg; Kessler, Sabrina Heike & Guenther, Lars (2016): Zwischen fragiler und konfligerender Evidenz: Wissenschaftskommunikation zwischen Risiko und (Un)sicherheit. In: Georg Ruhrmann; Sabrina Heike Kessler & Lars Guenther (Hg.) (2016): Wissenschaftskommunikation zwischen (Un)Sicherheit und Risiko. Köln: von Halem, S. 10-38. – Ruhrmann, Georg; Shooman, Yasemin & Widmann, Peter (2016): Introduction: The Media as Agents and Objects of Social Change in Immigration Societies. In: Georg Ruhrmann; Yasemin Shooman & Peter Widmann (Hg.): Media and Minorities. Questions on Representation from an International Perspektive. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (= Schriften des Jüdischen Museums Berlin – Bd. 4), S. 9-12. – Schellenberg, Britta (2013): Development within the Radical Right in Germany: Discourses, Attitudes and Actors. In: Ruth Wodak & John E. Richardson (Hg.): Right Wing Populism in Europe, Politics and Discourses. London: Bloomsbury, S. 149-162. – Schiappa, Edward; Gregg, Peter B. & Hewes, Dean E. (2005): The Parasocial Contact Hypothesis. In: Communication Monographs 72, S. 92-115. – Sommer, Denise & Ruhrmann, Georg (2010): Ought and Ideals. Framing people with migration background in TV-News. In: Conflict and Communication Online 9, 2, S. 1-15. – Trebbe, Joachim (2009): Ethnische Minderheiten, Massenmedien und Integration. Wiesbaden: Springer VS. – van Dijk, Teun A. (2014): Discourse and Knowledge. A sociocognitive approach. Cambridge (UK): Cambridge University Press. – Wagner, Ulrich; Christ, Oliver & Pettigrew, Thomas. F. (2008): Prejudice and group related behaviour in Germany. In: Journal of Social Issues, 64 (2), S. 303-320.
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Heidi Keller
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21 Psychologische Perspektiven auf Kultur Heidi Keller
Je nach theoretischer Orientierung wird die systematische Beschäftigung mit Kultur für das menschliche Erleben und Verhalten mit unterschiedlichen Begriffen belegt. Der für dieses Handbuch gewählte Begriff der Interkulturalität bezeichnet im allgemeinsten Sinn die Prozesse, die durch Kulturkontakt entstehen, also wörtlich zwischen den Kulturen angesiedelt sind. Das Konzept der Transkulturalität bezeichnet die grundsätzliche kulturelle Pluralität des Menschen, die sich nicht durch die Vorstellung geschlossener kultureller Systeme abbilden lasse. Das Konzept des Kulturvergleichs ist ein genuin psychologisches Konstrukt, das sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen in den Blick nimmt und dabei insbesondere die kulturellen Inhalte thematisiert. In diesem Kapitel wird auf die Kulturvergleichende Psychologie fokussiert, da dieses Konzept den gemeinsam angesprochenen Gegenstand bzw. Prozess – die Kultur – in den Mittelpunkt stellt, gleichzeitig aber wichtige Differenzierungen zulässt, die weiter unten behandelt werden. Dies beinhaltet zugleich eine Zentrierung auf kulturelle Inhalte.
1 Kulturvergleichende Psychologie In ihrem allgemeinsten Sinn handelt Kulturvergleichende Psychologie von der Untersuchung der Beziehungen zwischen Kultur und Verhalten, Emotion, Motivation und Kognition. Die 1972 gegründete Internationale Gesellschaft für Kulturvergleichende Psychologie (International Association for Cross-Cultural Psychology, IACCP) definiert in ihrer Satzung ihren Gegenstandsbereich als “… to further the advancement of knowledge about psychological functioning of humans in all human societies; develop and test theories about the relationships between culture and human behavior; test the generalizability of theories from all branches of psychology and related disciplines in all human societies …. “
und, was ich besonders hervorheben möchte, “encourage the incorporation of the knowledge and expertise gained by cross-cultural … psychology into the main body of psychology and develop and promote the application of psychological knowledge to social phenomena and problems in all countries” (http://www.iaccp.org/constitution_2010).
Bereits an dieser Stelle ist ein Problem impliziert, das lange Zeit sehr kontrovers diskutiert wurde: Handelt es sich bei der Kulturvergleichenden Psychologie um eine psychologische Teildisziplin oder ist Psychologie eine Kulturwissenschaft im Sinne des Wortes, wie Joan Miller (1999) formulierte, dass Psychologie grundsätzlich und immer kulturell sei. Im Wesentlichen verbirgt sich dahinter der Diskurs um Kulturpsychologie im Vergleich zu Kulturvergleichender Psychologie, zwei Konzepte, die später vorgestellt werden. Zuvor soll jedoch der Blick erst einmal in die Vergangenheit gerichtet werden.
Psychologische Perspektiven auf Kultur
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2 Ein Blick in die Vergangenheit Die Beschäftigung mit dem Einfluss von Kultur auf die Psychologie geht zurück auf Moritz (Moses) Lazarus (1824–1903). Er übertrug individuelle psychologische Zusammenhänge auf Nationen und die Menschheit insgesamt und begründete eine neue Wissensdisziplin mit der Veröffentlichung des Artikels „Über den Begriff und die Möglichkeit einer Völkerpsychologie als Wissenschaft“ (erschienen in Prutz’ „Deutsches Museum“, 1851). Er „erfand“ den Begriff der Völkerpsychologie. Einige Jahre später hat er in Zusammenarbeit mit seinem Schwager und Freund Heymann Steinthal (1823–1899) die Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft gegründet (Bde i–xx, Berlin, 1860–90; weiter geführt als Zeitschrift des Vereins für Volkskunde). Als wissenschaftliche Disziplin wurde die Völkerpsychologie allerdings erst viel später bekannt, hauptsächlich durch das gleichnamige zehnbändige Werk von Wilhelm Wundt (1832– 1920). Wilhelm Wundt war gleichzeitig der Begründer der modernen, naturwissenschaftlichen Psychologie mit der Einrichtung des ersten experimentalpsychologischen Labors an der Universität Leipzig im Jahre 1879. Auf der Grundlage der Ideen von Lazarus und Steinthals konzipierte Wundt die Völkerpsychologie als Ergänzung zur Psychologie des Individuums unter besonderer Betonung der historischen und sozialen Dimensionen des menschlichen Verhaltens und Erlebens. Insbesondere ging es um die kulturhistorische Analyse des Volksgeistes im Hinblick auf Sprache, Kunst, Mythen, Sitten und Gebräuche. Die menschliche Psychologie und die psychologische Entwicklung werden danach nicht nur durch Wahrnehmungen geformt, sondern auch durch die spirituelle und geistige Umwelt, also die Kultur. Wilhelm Wundt hat also schon die kulturelle Dimension der menschlichen Psyche betont und damit die systematische Beziehung zwischen Menschen und kulturhistorischem Kontext. Er hat außerdem festgestellt, dass die in der Psychologie gängigen, an die Naturwissenschaften angelehnten experimentellen Methoden es nicht erlauben, die menschliche Psyche angemessen und umfassend zu untersuchen. Dieses holistische Verständnis der menschlichen Psychologie verbunden mit entsprechender Methodenvielfalt ist in der Folge lange Zeit verloren gewesen und gewinnt erst allmählich wieder an Boden. Dahinter verbirgt sich ein grundsätzlicher Zwiespalt hinsichtlich des Selbstverständnisses der Psychologie als Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft. Diese Orientierungen hielt man lange Zeit für inkompatibel (Reese & Overton 1990). Im folgenden Abschnitt werden die Auswirkungen dieses „Perspektivenstreits“ diskutiert.
3 Perspektiven auf die Rolle von Kultur für die Psychologie Es können drei Perspektiven identifiziert werden, die unterschiedliche Zugangsweisen implizieren und die recht kontrovers diskutiert wurden, die Kulturvergleichende Psychologie, die Kulturpsychologie und die indigene (indigenous) Psychologie. Diese drei Perspektiven werden nun mit ihren methodischen Implikationen portraitiert. Solche kurzen Portraits sind nicht frei von Stereotypisierungen, da alle Konzepte auch Variationen aufweisen. Allerdings sind die Debatten – und das zum Teil bis heute – auch nicht frei von diesen Stereotypen, wenn z.B. kulturvergleichende Psycholog(inn)en die Kulturpsycholog(inn)en generell als hermeneutisch (gemeint als unwissenschaftlich) abqualifizieren und diese erstere für positivistische Reduktionisten halten. 3.1 Kulturvergleichende Psychologie Die Kulturvergleichende Psychologie geht in ihrer mehrheitlichen Ausrichtung, und das besonders in ihrer Anfangszeit im frühen 20. Jahrhundert, von einem Verständnis von Kultur aus,
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Heidi Keller
das außerhalb des Individuums lokalisiert ist – ein geschlossenes Ganzes, das in der Regel als unabhängige Variable in die statistische Verarbeitung von Untersuchungen einging und -geht. Der Vergleich unterschiedlicher Variablen (= Kulturen) soll Unterschiede in psychologischen Phänomenen vorhersagen oder erklären. Berühmte Beispiele sind Untersuchungen zu kulturellen Unterschieden in kognitiven Stilen (z.B. Witkin & Berry 1975), etwa die unterschiedliche Anfälligkeit für optische Täuschungen in Abhängigkeit des Lebensraumes (z.B. Eskimos, die auf weiße, weite und offene Landschaften blicken, oder Jäger und Sammler, die in komplex strukturierter Wald- und Savannengeographie unterwegs sind). Die Schwierigkeit, die verschiedenen psychologischen Perspektiven auf Kultur klar voneinander abzugrenzen, sieht man daran, dass neuerdings die Gruppe der (sich selbst so bezeichnenden) nordamerikanischen Kulturpsychologen ganz ähnliche Fragestellungen bearbeitet, wenn zum Beispiel südostasiatische mit euroamerikanischen Probanden (meist Collegestudenten) im Hinblick auf ihren Informationsverarbeitungsstil verglichen werden. Ein weiterer wichtiger Zweig der Kulturvergleichenden Psychologie betreibt Kulturvergleich – eigentlich paradoxerweise –, um Universalität zu demonstrieren, d.h. die Nichtexistenz kultureller Einflüsse auf menschliches Verhalten und Erleben. Diese auch als Absolutismus bezeichnete Orientierung (Berry et al. 2002) basiert auf der Annahme, dass alle psychologischen Phänomene und ihre Ausdrucksformen pankulturell/universell sind. Ein prominentes Beispiel dieser Richtung ist die kulturvergleichende Forschung zum 5-Faktor-Modell der Intelligenz (Big Five-Factor Model, Costa & McCrae 1992). Dieses Modell ist als eine umfassende Taxonomie von Persönlichkeitseigenschaften (traits) angelegt, die konsistente Gefühls-, Kognitions- und Handlungsmuster beschreiben sollen. Ursprünglich in den USA entwickelt, wird in unzähligen Untersuchungen versucht, die pankulturelle Gültigkeit der Faktoren Offenheit für Erfahrung, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Anpassungsbereitschaft/Verträglichkeit und Neurotizismus zu bestätigen mit der Absicht, den Nachweis für die universelle Persönlichkeitsstruktur zu erbringen, die keinen kulturellen Variationen unterliegt. Diese Untersuchungen legen sehr viel Wert auf methodische Raffinesse und verwenden ausgeklügelte statistische Designs (z.B. John 1990). Die Schlussfolgerungen sind allerdings nicht wirklich überzeugend, da die statistische Abwesenheit von Unterschieden deren logische Nichtexistenz nicht beweisen kann. Zudem schließt dieser Ansatz den Nachweis kulturspezifischer Intelligenzkonzepte aus, da diese in diesem Modell nicht vergleichend geprüft werden. In anders angelegten Studiendesigns ist mittlerweile Evidenz für die Existenz von Persönlichkeitsdimensionen, die nicht in dem 5-Faktor-Modell erfasst sind, präsentiert worden (zusammenfassend Keller 2011). Kulturvergleich zum Nachweis von Universalität wird auch von biologisch begründeten Forschungsprogrammen herangezogen, z.B. die in der Bildungsdiskussion inzwischen weit verbreitete Bindungstheorie. Das Argument ist, dass Menschen biologisch fest verankerte Prädispositionen bei Geburt mitbringen, um Bindungen zu signifikanten Anderen zu entwickeln, um zu überleben und sich gesund entwickeln zu können. Diese Annahme wird weitergeführt (zu der nicht überzeugenden Schlussfolgerung, s. dazu Otto & Keller 2014), dass Bindung unabhängig von Umgebung und Kultur in gleicher Weise definiert ist und sich in gleicher Weise entwickelt. Die dazu vorgelegten empirischen Beweise halten konzeptionellen und methodischen Erfordernissen nicht stand. Dies beeinträchtigt die breite Rezeption der Bindungstheorie auch für die frühpädagogische Praxis jedoch offensichtlich in keiner Weise, was wiederum ein interessantes Licht auf die Rezeption von wissenschaftlichen Diskursen durch Laien wirft. Die kulturvergleichende Perspektive in den hier diskutierten Ausprägungen wirft eine Menge von substantiellen methodischen Problemen auf: für die Übertragbarkeit von Untersuchungsanlagen,
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Psychologische Perspektiven auf Kultur
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(Test-)Verfahren und Messmethoden. Diese Probleme werden als verschiedene ‚Bias‘ diskutiert und es wird versucht, sie statistisch zu kontrollieren (z.B. van de Vijver & Tanzer 2004). Ein zentrales Problem ist dabei die Definition von Kultur. Sie wird hier weitgehend als gebunden an ein Land oder einen Staat verstanden. Demnach wird den Bürgern eines Staates eine gewisse Ähnlichkeit zugeschrieben, die sie von den Bewohnern eines anderen Staates unterscheiden soll (die Türken, die Deutschen). Wenn Kultur weiter differenziert wird, werden Länder durch allgemeine Dimensionen charakterisiert, wie etwa die prominenten Dimensionen des Individualismus/Kollektivismus (Hofstede 1980/2001), die trotz massiver Kritik die Kulturvergleichende Psychologie über Jahrzehnte dominiert haben. Da die Bürger eines Staates als kulturell ähnlich betrachtet werden, ist die Auswahl von Untersuchungsteilnehmern für empirische Studien weitgehend an Zweckmäßigkeit (convenience sampling) orientiert. So kommt es, dass die Mehrheit der Untersuchungsteilnehmer aus der am leichtesten zugänglichen Gruppe der Studierenden besteht. Studierende sind sich in der Tat über Ländergrenzen hinweg ähnlicher als andere Bevölkerungsgruppen. Daher sind die Befunde solcher Studien nur eingeschränkt gültig. So lassen sich möglicherweise – zumindest teilweise – auch Ähnlichkeiten in den Ergebnissen kulturvergleichender Untersuchungen aus dieser Perspektive erklären. Auf die Zentralität der Definition von Kultur für das Verständnis des Einflusses von Kultur auf menschliches Erleben und Verhalten wird im abschließenden Kapitel einzugehen sein. Allerdings gibt es auch Stimmen, die argumentieren, dass die Gemeinsamkeiten zwischen Kulturen nicht ausreichend herausgestellt werden. 3.2 Kulturpsychologie(n) Die potentielle Mehrzahl in der Überschrift soll andeuten, dass sich sehr unterschiedliche Konzeptionen als kulturpsychologisch verstehen und definieren (Überblicke geben Valsiner 2007; Boesch & Straub 2006). In einem ganz allgemeinen Sinne geht es auch hier um die Beziehung zwischen Kultur und menschlichem Verhalten und Erleben. Im Unterschied zu der kulturvergleichenden Ausrichtung wird Kultur jedoch nicht als eine außerhalb des Individuums existierende Realität verstanden. Einerseits wird Kultur als etwas dem Individuum Inhärentes konzipiert. So verstand der Begründer der deutschen Kulturpsychologie Ernst E. Boesch Kultur als menschliche Intentionalität und symbolische Handlungsfähigkeit (z.B. 1980). Die euroamerikanische Branche der Kulturpsychologie beruht eher auf einem interaktionistischen Ansatz, einer dialogischen Beziehung, so dass Kultur und Persönlichkeit/Person sich gegenseitig konstituieren (make each other up, z.B. Valsiner 2007). In jedem Fall werden Kultur, Verhalten und der menschliche Geist nicht als unterschiedliche und voneinander abgrenzbare Einheiten gesehen. Es geht um symbolische Bedeutungen, Interpretationen und/oder geteilte (Verhaltens-)Praktiken. Dies erfordert auch nicht den Vergleich von Kulturen, so dass die Mehrzahl der Kulturpsychologen sich intensiv mit einer Kultur beschäftigt. Dabei steht die Analyse von Bedeutungen und Aktivitäten in ihrem natürlichen Lebenskontext im Mittelpunkt. So soll verstanden werden, wie Bedeutungssysteme und soziale Praktiken die menschliche Psyche ausdrücken, regulieren und transformieren. In aktiven Akquisitionsprozessen wird Kultur erworben, dynamisch neu geschaffen und internalisiert. Ein Beispiel ist Patricia Greenfields Untersuchung „Weaving Generations Together“ (2004). Die Autorin hat kulturpsychologische Forschung über drei Generationen von Zinacantec Indianern in Chiapas, Mexico dokumentiert. Insbesondere interessierten sie die historischen und generationalen Veränderungen des Webenlernens der Zinacantec-Mädchen und die damit einhergehenden Veränderungen der kulturellen Produkte (Veränderungen im Design und den Mustern der
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Webstücke) mit den entsprechenden Veränderungen des kognitiven Apparates. Der Weg führte von der Reproduktion familienspezifischer Designs und Muster, die nur für den eigenen Gebrauch hergestellt wurden, zu individueller Kreativität und kommerzieller Nutzung im Verbund mit soziohistorischen Veränderungen subsistenzwirtschaftlicher Lebensweise zu Entrepreneurtum und Geldökonomie. Wie bereits angedeutet, gibt es eine relativ neue kulturpsychologische Ausrichtung in Nordamerika, in der mentale Prozesse wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Kognition, Gedächtnis, Emotionen im Mittelpunkt von vergleichenden Untersuchungen, insbesondere zwischen Euro-Amerikanern und Südostasiaten stehen. Diese Richtung ist, im Gegensatz zu den vorher genannten qualitativ orientierten, eher experimentell oder quasi experimentell in der methodologischen Ausrichtung. Obwohl hier die Untersuchungsteilnehmer länderspezifisch zusammengestellt werden, beruht doch die Basis des Vergleichs auf unterschiedlichen Selbstkonzepten, besonders der Konzeption des independenten (nordamerikanischen) und des interdependenten (südostasiatischen) Selbstkonzepts (Markus & Kitayama 1991). Diese Selbstkonzepte basieren in grundlegenden kulturellen Bedeutungssystemen des westlichen Individualismus und des ostasiatischen Konfuzianismus. Sie unterscheiden sich von den Dimensionen des Individualismus/Kollektivismus nach Hofstede (1980; 2001), werden aber häufig äquivalent verwendet. Obwohl die Forschungsansätze sich auf der Oberfläche ähneln, sind doch die philosophischen/ ideologischen Grundlagen verschieden. 3.3 Indigene Psychologie(n) Auch hier soll die Verwendung der Mehrzahl die Heterogenität der unter diesem Titel zusammengefassten Ansätze andeuten. Als Ursprung der Formulierung indigener Psychologien wird gemeinhin die Motivation genannt, den Geist zu ‚entkolonialisieren‘. Um dies zu erreichen, sollten Theorien und Forschung direkt aus der betroffenen Kultur heraus entwickelt werden, also aus einer emischen Perspektive heraus, ohne Beteiligung von außen. Indigene Psychologie kann daher nur von indigenen Forschern, ‚kulturellen Insidern‘, vertreten werden. Besonders genannt werden müssen hier die indische Psychologie, die Durganand Sinha (1996) etablierte, die philippinische Perspektive, entwickelt von Virgilio Enriquez (1993) und die mexikanische ethnopsychologische Perspektive. Während die beiden erstgenannten nicht empirisch orientiert waren, hat Díaz-Guerrero seine mexikanische Perspektive aus der Kontrastierung mit der euroamerikanischen entwickelt und dazu empirische Methoden eingesetzt. In neuerer Zeit bemüht sich insbesondere der kamerunische Psychologe A. Bame Nsamenang, eine afrizentrische Perspektive von der (mainstream) eurozentrischen abzugrenzen (s. z.B. 1992). Indigene Psychologien unterscheiden sich so von den kulturpsychologischen, deren bedeutende Vertreter und Vertreterinnen fast ausschließlich dem euroamerikanischen Kulturkreis entstammen, lange Zeit in einer anderen Kultur verbracht und die lokale Sprache gelernt haben, um am Alltagsgeschehen teilnehmen zu können. Im Anliegen und konzeptionellen Anspruch sind dagegen die Ähnlichkeiten vorherrschend, nämlich das Interesse an subjektiven Bedeutungssystemen und normativen Vorstellungen der jeweiligen kulturellen Gruppe. Indigene Psychologien sind neben der Entwicklung indigener Methodologien auch an der Erarbeitung und Formulierung indigener Konzepte und Theorien interessiert. Volks- oder Ethnotheorien sind daher nicht das Subjekt psychologischer Studien, sondern Ausgangspunkt für die Entwicklung formaler Theorien und Modelle (Greenfield & Keller 2004). Indigene Ansätze arbeiten häufig mit lokalen Elitegruppen, wie Universitätsstudenten, und sind stark an kulturellem Wandel interessiert.
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Psychologische Perspektiven auf Kultur
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Der politische Anspruch der indigenen Psychologien ist es, nicht-westlichen Perspektiven Stimme zu verleihen, diese als der westlichen Perspektive gleichwertig zu etablieren und damit zu einer wirklich internationalen Psychologie beizutragen. Dieser Anspruch wird allerdings heute von den Vertreter(inne)n aller drei Perspektiven geteilt, spätestens seit den eindringlichen Aufrufen von Arnett (2008), der die Berücksichtigung der vernachlässigten 95% der Weltbevölkerung forderte, und der Charakterisierung der Psychologie als WEIRD (White, Educated, Industrialized, Rich, Democratic) von Henrich, Heine und Norenzayan (2010) in ihrem viel beachteten Überblicksartikel in Brain und Behavioral Sciences. Bis heute gibt es jedoch auch Stimmen, die diese verschiedenen Perspektiven als unvereinbar und sich gegenseitig ausschließend betrachten, da sie auf verschiedenen wissenschaftstheoretischen Paradigmen und damit Menschenbildern beruhen. Es ist allerdings selbst eine kulturelle Sichtweise, was vereinbar oder unvereinbar ist. Konfuzianische, buddhistische oder hinduistische Weltsichten haben andere Vorstellungen von Vereinbarkeit/Unvereinbarkeit als der westliche Eklektizismus oder die neokantianische analytische Philosophie. In den letzten Jahren ist zu beobachten, dass immer mehr Forscher, die an der Beziehung zwischen Mensch und Kultur interessiert sind, sich auf keine der genannten Perspektiven festlegen lassen, sondern Konzepte und Methoden der verschiedenen Ausrichtungen miteinander verbinden (z.B. Kağitcibaşi 2007; Keller 2007). Im letzten Abschnitt soll daher ein entsprechender Ansatz vorgestellt werden.
4 Ökosoziale Perspektive auf die Interaktion von Mensch und Kultur In diesem Ansatz wird Kultur aus zwei Perspektiven konzeptionalisiert, einer evolutionären Perspektive und einer kulturpsychologisch-anthropologischen Perspektive. Obwohl beide Perspektiven auf unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Grundlagen und entsprechenden Menschenbildern beruhen, haben sie sehr viele Gemeinsamkeiten (s. dazu Keller 2011). Sowohl das Modell für psychokulturelle Forschung, das im Kontext der bedeutenden „Harvard six culture study“ enstanden ist (Whiting & Whiting 1975), als auch evolutionäre Ansätze gehen davon aus, dass die Ökologie, die Ressourcen und Einschränkungen der Lebensumwelt, eine zentrale Bedeutung für die Psychologie des Menschen haben. Während das psychokulturelle Modell mit der symbolischen Natur des Menschen endet, geht die evolutionäre Perspektive darüber hinaus und formuliert als ultimates Ziel den reproduktiven Erfolg. Kultur kann demnach als kontextuell adaptiver Prozess verstanden werden, der über Generationen hinweg entstanden ist und von jeder Generation und jedem Menschen neu erworben, transformiert und ausgehandelt wird. Kultur kann so als Natur des Menschen verstanden werden, die im Alltag gelebt wird und in geteilten Handlungen und geteilten Bedeutungssystemen besteht. Kulturelle Praktiken, Routinen und Artefakte stellen Möglichkeiten und Werkzeuge für die Bewältigung von Entwicklungsund Lebensaufgaben dar und definieren Kompetenz. Die Definition von Kultur als der Natur des Menschen zielt auf die allgemeine Kulturfähigkeit und kulturelle Kompetenz von Menschen ab mit den selbst reflexiven, intentionalen und bewussten Komponenten, die aus kulturpsychologischer Sicht Kultur ausmachen. Allerdings geht es hier auch um differentielle Aspekte, d.h. die Mechanismen und Prozesse, die die Kulturen unterschiedlicher Gruppen unterscheidbar machen. In dem Whiting-Modell führen physische Parameter der Umgebung, wie Geographie und Klima, zur Ökonomie und den sozialen Strukturen, die dann wiederum die kindliche Lernumwelt bestimmen. In der evolutionären Sichtweise ist es die Ressourcenlage, die den Verlauf der psychologischen Entwicklung beeinflusst. Auf diese Grundlagen bezogen haben wir vorgeschlagen, soziodemographische Profile zu definieren, die unterschiedliche kulturelle Muster als Anpassungen erfordern. Insbesondere das Niveau der
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Heidi Keller
formalen Bildung, verbunden mit dem Alter bei der Erstelternschaft, der Anzahl der Nachkommen und der Familienstruktur formen soziale Milieus. Menschen, die in ähnlichen sozialen Milieus leben, teilen in der Regel Normen, Werte, Einstellungen und verhalten sich ähnlich (Keller 2007). Jedes Land beherbergt so unterschiedliche kulturelle Gruppen, so dass Ländergrenzen zur Definition von Kultur obsolet sind. Die kulturellen Modelle oder Welt- und Menschenbilder werden im Wesentlichen durch zwei Dimensionen organisiert: Autonomie und Verbundenheit, die menschliche Grundbedürfnisse und zugleich kulturelle Werte darstellen. Jeder Mensch hat das Bedürfnis nach Autonomie, das heißt Selbstbestimmtheit und eigener Handlungskompetenz, ebenso wie das Bedürfnis nach Verbundenheit, d.h. nach Beziehungen und sozialem Austausch. Unterschiedliche soziodemographische Milieus sind durch unterschiedliche Konzeptionen dieser beiden Dimensionen repräsentiert, die jeweils Anpassungswert besitzen und daher gleichwertig sind (Keller 2011). Wir unterscheiden das prototypische Modell der psychologischen Autonomie und psychologischen Relationalität, das für die westliche Mittelschicht mit hoher formaler Bildung, später Erstelternschaft, wenigen Kindern und der Zwei-Generationen-Familie typisch und adaptiv ist. Autonomie wird hier als individuelle Freiheit bezüglich Wahlen, Entscheidungen, Wünschen und Intentionen verstanden, wodurch notwendigerweise auch soziale Beziehungen aus der Perspektive des unabhängigen Individuums konzipiert sind. Dieses Milieu umfasst weniger als fünf Prozent der Weltbevölkerung, dominiert aber die Wissenschaft weltweit inklusive ihrer Anwendungsmodelle. Etwa 30 bis 40 Prozent der Weltbevölkerung bestehen aus überwiegend subsistenz-wirtschaftlich lebenden Bauern in nicht-westlichen Ländern, mit eher geringem Niveau formaler Bildung, früher Erstelternschaft, vielen Kindern und einer sozialen Organisation in Mehr-Generationen-Haushalten. Autonomie ist hier als verantwortliches Handeln im Sinne der Gemeinschaft definiert (Handlungskompetenz), was Sozialbeziehungen ebenfalls in ein hie rarchisches Gefüge von Verpflichtungen und Verantwortung einordnet. Daneben gibt es eine Vielzahl von Kombinationen, z.B. für formal hoch gebildete Städter aus nicht westlichen Ländern, die hier jetzt nicht diskutiert werden können. Um sinnvolle kultursensitive Arbeit in der pädagogischen Praxis leisten zu können, ist die Kenntnis solcher kulturellen Modelle sowie ihre Berücksichtigung im pädagogischen Alltag unabdingbar. Literatur
Arnett, Jeffrey J. (2008): The neglected 95%: why American psychology needs to become less American. In: American Psychologist, 63 (7), S. 602-614. – Berry, John W.; Poortinga, Ype H.; Segall, Marshall H. & Dasen, Pierre R. (2002): Cross-cultural psychology: Research and applications. 2. Aufl. Cambridge: Cambridge University Press. – Boesch, Ernst E. (1980): Kultur und Handlung. Einführung in die Kulturpsychologie. Bern: Huber Verlag. – Boesch, Christophe (2012): From material to symbolic cultures: Culture in primates. In: Jaan Valsiner (Hg.): Oxford Handbook of Culture and psychology. Oxford, GB: Oxford University Press, S. 677-692. – Costa, Paul T. & McCrae, Robert R. (1992): Revised NEO Personality Inventory (NEO-PI-R) and NEO Five-Factor Inventory (NEO-FFI) professional manual. Odessa, FL: Psychological Assessment Resources, Inc. – Enriquez, Virgilio G. (1993): Developing a Filipino psychology. In: Uichol Kim & John W. Berry (Hg.): Indigenous psychologies: Research and experience in cultural context. Newbury Park, CA: Sage, S. 152-169. – Greenfield, Patricia M. & Keller, Heidi (2004): Cultural psychology. In: Charles Donald Spielberger (Hg.): Encyclopedia of applied psychology. Oxford, UK: Elsevier, S. 545-553. – Henrich, Joseph; Heine, Steven & Norenzayan, Ara (2010): The weirdest people in the world? In: Behavioral and Brain Sciences, 33, S. 61-135. – Hofstede, Geert (1980/2001): Culture’s consequences. International differences in work related values. Beverly Hills: Sage. – John, Oliver P. (1990): The “Big Five” factor taxonomy: Dimensions of personality in the natural languages and in questionnaires. In: Lawrence A. Pervin (Hg.): Handbook of personality: Theory and research. New York: Guilford Press, S. 66-100. – Kağitcibaşi, Cigdem (2007): Family, self, and human development across countries. Theory and applications. 2. Aufl. Mahwah, NJ: Erlbaum. – Keller, Heidi (2007): Cultures of infancy. Mahwah, NJ: Erlbaum. – Keller, Heidi (Hg.) (2011): Culture and cognition: Developmental perspectives. Special issue on Culture and Cognition of the Journal of
Mehrsprachigkeit
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22 Mehrsprachigkeit Georges Lüdi
Aufgrund der Flüchtlings- und Arbeitsmigration, der Globalisierung der Wirtschaft und der Medien sowie der zunehmenden individuellen Mobilität wächst die sprachliche und kulturelle Vielfalt in modernen Gesellschaften. Gleichzeitig sehen sich die Bildungssysteme immer stärker in die Verantwortung dafür gestellt, Beiträge zur sozialen Kohäsion in kulturell und sprachlich heterogenen Gesellschaften zu leisten, sowohl im Bereich der Integration wie auch in jenem der Respektierung der Rechte der sprachlich-kulturellen Minderheiten. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Europarat, der die Dimension des ‚interkulturellen Bewusstseins‘ in die bildungspolitische Agenda einschrieb. Zu einer interkulturellen Pädagogik nach diesen Vorstellungen gehören die Förderung der Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit und die Integration der Kompetenz zur interkulturellen Kommunikation in den Fremdsprachenunterricht.
1 Mehrsprachigkeit als Begriff Seit den 1970er Jahren werden die schulischen Schwierigkeiten von Kindern mit Migrationshintergrund zunehmend auch aus sprachwissenschaftlicher Perspektive thematisiert (Lüdi & Py 1984). Viele Probleme wurden zunächst einzig auf die mangelnde Beherrschung der Schul- bzw. Aufnahmesprache zurückgeführt. Leitbild war ‚Assimilation‘ im Sinne eines raschen Wechsels in die Aufnahmesprache. Seit etwa den 1980er Jahren ist demgegenüber eher von ‚Integration‘ die Rede. Dabei wird in der Förderung von Kompetenz in der Erst- oder Herkunftssprache nicht mehr ein Hindernis, sondern eine Chance für die schulische Entwicklung gesehen. Zwei- oder Mehrsprachigkeit wird als Gewinn sowohl für das Individuum wie auch für die Gesamtgesellschaft betrachtet (vgl. Lüdi 2009). Gleichzeitig wurde eine breite Anerkennung der individu-
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Georges Lüdi
ellen und gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit als wichtiges Kulturgut gefordert. Dabei kam es in den Sprachwissenschaften zu einer Neubeurteilung des Phänomens Mehrsprachigkeit. Zwei Ansätze sind hier von Bedeutung: (a) die Überwindung langlebiger Vorurteile, die auf der Basis einer „Ideologie der Einsprachigkeit“ in der sprachlichen Vielfalt Nachteile für die Kohäsion der Gesellschaft und für die Einheit der Persönlichkeit befürchteten (Laurie 1890, S. 15) und „Mehr- und Vielsprecherei“ aus der Schule verbannen wollten (Burger 1997 für Österreich im ausgehenden 19. Jahrhundert). Inzwischen werden soziale und kognitive Vorteile der Zwei- oder Mehrsprachigkeit betont, welche erst eine volle Ausnutzung der menschlichen Sprachfähigkeit ermöglichen (Meisel 2004). (b) der Abschied von der Vorstellung der ‚doppelten Einsprachigkeit‘. Bereits 1985 hatte Gros jean darauf hingewiesen, dass Mehrsprachigkeit nicht identisch mit der Addition von Kompetenzen in mehreren Einzelsprachen ist, sondern eine integrierte Kompetenz (Cook 2008). Auch neurobiologisch betrachtet, lassen sich mehrere Sprachen oder Varietäten im Gehirn nur unvollständig trennen; schon gar nicht sind sie in unterschiedlichen Hirnregionen zu lokalisieren (Fabbro 2001). Im praktischen Sprachgebrauch funktioniert die Trennung, weil Mehrsprachige die Fähigkeit entwickeln, jeweils die relevante Information zu wählen und andere, in der gegebenen Kommunikationssituation nicht angebrachte Sprachen zu unterdrücken (Rodriguez-Fornells et al. 2002). Mehrsprachige Repertoires sind nicht stabil, sie werden durch den Gebrauch im Alltag immer wieder neu konfiguriert. Dies geschieht im Verbund mit anderen Aktivitäten und Fähigkeiten. Die Sprachwissenschaft hat Sprachkompetenzen oft vom Anwendungskontext getrennt, betrachtete sie als isolierbaren geistigen Besitz einer Person, der in unterschiedlichen Kontexten frei verfügbar sei. Dies scheint nach neueren Erkenntnissen aber nicht der Fall zu sein. Was jemand weiß (deklaratives oder explizites Wissen) oder kann (prozedurales bzw. implizites Wissen), hängt offenbar stark von der Situation bzw. vom Verhalten der Interaktionspartner ab; Sprachwissen ist immer auch geteiltes Wissen (vgl. Pekarek Doehler 2005). Deshalb wird in der Forschung die Priorität zunehmend auf den Sprachgebrauch gelegt: In der Rede (parole) wird nicht Sprache (langue) aktualisiert; vielmehr resultiert Sprache (language) aus den Aktivitäten der Sprecher (languaging) (Thorne & Lantolf 2007; Makoni & Pennycook 2007). Sprachstrukturen werden als zeitgebunden und „emergent“ aufgefasst (Hopper 1998), die Grammatik als eine Begleiterscheinung. Dies gilt auch und besonders beim Erwerb einer Sprache. Larsen-Freeman (2006) betont, die Lernenden würden im Gebrauch eine Menge von Formen konstruieren, oft mit Elementen aus verschiedensten Sprachen und Registern, um ihre Kommunikationsbedürfnisse zu befriedigen. Sprache wird als Praxis mehr denn als Struktur aufgefasst, als etwas was wir tun, nicht als etwas, das unserem Tun vorangeht. In diesem Umfeld hat sich die Definition der individuellen Mehrsprachigkeit (inklusive des Grenzfalls der Zweisprachigkeit) nachhaltig verändert. Sie wird funktional definiert (Grosjean 1982, Lüdi & Py 1984.) als Fähigkeit, in zwei bzw. mehreren Sprachkontexten zu kommunizieren, unabhängig von den Erwerbsmodalitäten und dem Grad der Beherrschung der beteiligten Sprachen. Der sizilianische Gastarbeiter, der sich am Arbeitsplatz in der Schweiz zu seinem Dialekt und etwas italiano regionale hinzu ein rudimentäres Zürichdeutsch angeeignet hat, ist also ebenso mehrsprachig wie die Dolmetscherin bei der EU, welche ihre Dreisprachigkeit deutschenglisch-französisch professionell ausgebaut hat.
Mehrsprachigkeit
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2 Mehrsprachige Repertoires
3 Bewertung von Sprachen
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Ein mehrsprachiges Repertoire besteht aus einer Menge von sprachlichen und multimodalen Ressourcen, auf die von den Akteuren zurückgegriffen wird, um situationsbezogen Antworten auf praktische Probleme zu finden. Man denke zum Beispiel an den Besuch einer portugiesischen Patientin bei ihrem deutschsprachigen Arzt: Da deren Ressourcen nicht kompatibel sind (Patientin [P] spricht nicht deutsch, Arzt [M] nicht portugiesisch, keine gemeinsame Drittsprache), muss improvisiert werden. Die Akteure greifen dabei in ihre Ressourcen wie in eine Art Bastelkasten (Lévi-Strauss 1962, S. 27) und kombinieren Elemente aus verschiedenen Registern und Sprachen. Die daraus resultierende „Mischsprache“ ist keineswegs „chaotisch“, sondern folgt „mehrsprachigen Normen“ (Jessner 2008): sedimentierten, jedoch nie ganz stabilen, ständig neu ausgehandelten Mustern.
Eine erfüllte Mehrsprachigkeit setzt die positive Bewertung der beteiligten Sprachen voraus. Es ist kein Zufall, dass frühe Studien, welche die Zwei- oder Mehrsprachigkeit als Problem betrachteten, in der Regel die Schulsprache sprechenden Mittelschichtkinder mit Kindern aus Sprachminderheiten verglichen, deren Sprachen bezüglich ihres sozialen Status negativ konnotiert waren. Heute weiß man, dass das Risiko der Zerrissenheit zwischen zwei Sprachgemeinschaften größer ist, wenn das Ansehen der beiden Sprachen asymmetrisch ist. Dabei spiegelt das Prestige einer Sprache dasjenige, welches die soziale Gruppe genießt, die diese Sprache spricht. Zuwanderer und deren Kinder erleben ihre Mehrsprachigkeit umso positiver, je positiver die soziale Umgebung ihre Herkunftssprache einschätzt. Dies kann sich zum Beispiel darin manifestieren, dass diese von den Bildungssystemen der Aufnahmeregion gestützt wird (namentlich durch das Heranführen an die Schriftlichkeit in der Herkunftssprache). Daraus ergibt sich häufig die weitergehende Forderung nach zweisprachigem Unterricht für Kinder mit Minderheiten- oder Migrantensprachen als Erstsprache. Dessen Nutzen ist allerdings Gegenstand von Kontroversen, namentlich hinsichtlich der Frage, ob zweisprachiger Unterricht effektiver für den Erwerb der Zweitsprache und die Steigerung der Schulleistungen ist als einsprachige Unterrichtsformen. Es zeigen sich in Forschungsprojekten keine Anzeichen dafür, dass sich zweisprachige Schulprogramme negativ auf die Leistungen in der Zweitsprache auswirken. Allerdings gibt es auch keine Hinweise darauf, dass sich bilinguale Programme nicht nur neutral, sondern positiv auf die Leistungen in der Schulsprache auswirken. Die Vorteile eines in die Bildungssysteme des Aufnahmelandes integrierten Unterrichts in der Herkunftssprache liegen also anscheinend nicht bei Gewinnen für die Zweitsprache, sondern bei der Bildung zur Zwei- oder Mehrsprachigkeit, die den Ausbau lebensweltlich erworbener Sprachen auf bildungssprachliches Niveau einschließt – auch wenn die sprachlichen Kenntnisse durchaus asymmetrisch bleiben können (Esser 2006; Gogolin & Neumann 2009).
4 Mehrsprachigkeit und Kreativität Man kann darüber streiten, ob Mehrsprachigkeit an sich ein förderungswürdiges Gut ist. Forschungsergebnisse zeigen, dass harmonisch gelebte Mehrsprachigkeit für das Individuum und für die Gesellschaft Vorteile bietet. Einige Studien sind der Frage gewidmet, ob mehrsprachige Menschen kreativer oder leistungsfähiger seien als einsprachige (z.B. Furlong 2009). Dabei wird auch auf kognitive Vorteile verwiesen (Bialystok & Poarch 2014).
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Georges Lüdi
Page (2007) vertritt die Auffassung, dass eine Vielfalt von Perspektiven Innovation erzeugt. In gemischten, mehrsprachig agierenden Teams kann demnach jedes Mitglied aufgrund seiner Sprache und Denkweise zur gemeinsamen Performanz beitragen. Hier kommt eine im Team geteilte Kognition (shared cognition) zum Tragen, welche daraus resultiert, dass in einer Vielfalt von Sprachen kodierte Problemlösungsvarianten miteinander konfrontiert werden. Im Rahmen des europäischen Forschungsprojekts Dylan (Language dynamics and management of diversity, 2006-2011) wurden zahlreiche Indizien zur Untermauerung dieser Annahmen gefunden (Berthoud et al. 2013). Analysiert wurden Interaktionen in Betrieben, Bildungsinstitutionen und in der Verwaltung der EU. Es zeigte sich, dass sprachlich und kulturell gemischte Gruppen besser und effizienter arbeiten als monolingual agierende (Lüdi 2010). Vielleicht denkt man in diesem Zusammenhang eher an ‚Elite-Mehrsprachige‘, wie z.B. Akademiker. Aber die Resultate sind unter zwei Voraussetzungen auch auf andere Gruppen übertragbar: (a) gemischte Teams müssen auf Formen der interkulturellen Kommunikation vorbereitet worden sein, und (b) sie müssen gelernt haben, die Kommunikation zwischen Menschen mit asymmetrischen sprachlichen Repertoires auf effiziente Weise zu verwalten. Darunter sind fallweise, den Kompetenzen der Interaktionspartner entsprechend gewählte Kommunikationspraktiken zu verstehen, zum Beispiel: ‘Jeder spricht seine Sprache’ (receptive multilingualism; vgl. ten Thije & Zeevaert 2007), ‘Jeder spricht die Sprache des andern’, häufige Sprachwechsel (code-switching), hybride Varietäten und Mischsprachen, die Vermittlung durch mehrsprachige Laien oder professionelle Dolmetscher, aber auch die Verwendung einer lingua franca, sei dies die örtliche offizielle Sprache oder eine internationale Verkehrssprache. ‚Mehrsprachige Rede‘ ist eine alltagsprachliche Praxis in mehrsprachigen Gemeinschaften. Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass diese Sprachpraxis nicht nur zum normalen Verhalten Mehrsprachiger gehört, sondern auch regelgeleitet ist, sowohl auf der grammatikalischen wie auch auf der pragmatischen Ebene. Häufig wird solche Praxis mit Ausdrücken wie ‚Mischmasch‘ bezeichnet, die negativ belegt sind. Darin kann ein Reflex einer ‚Einsprachigkeitsideologie‘ gesehen werden, nach der ‚reine‘ Sprache der Sprachmischung vorzuziehen sei. Faktisch aber handelt es sich um Sprachformen, die unter Mehrsprachigkeitsbedingungen effizient und fair sein können, weil sie Verständigung überhaupt ermöglichen oder für die Gesprächspartner angemessen sind. Allerdings beruhen solche mehrsprachigen Strategien auf der Gleichwertigkeit der beteiligten Sprachen, die oft nicht gegeben ist. Sprachgebrauch, besonders im öffentlichen Raum, hat viel mit Macht zu tun, weil er mit dem sozialen Status der Sprecher verbunden ist. Wenn eine Sprache in den sozialen Vorstellungen oder gar gesetzeshalber als einzige „legitime Sprache“ (Bourdieu 1982) gesetzt wird, sind jene, die sie nicht oder nur ungenügend beherrschen, zur Machtlosigkeit verurteilt. Die ‚Normalisierung‘ mehrsprachiger Strategien sollte dem entgegenwirken und inklusive Beteiligungsformate schaffen, wie empirische Analysen von Interaktionen in gemischten Gruppen zeigen (Mondada & Nussbaum 2012). Vieles deutet darauf hin, dass in unterschiedlichsten Kontexten ein mehrsprachiger Kommunikationsmodus, ermöglicht und unterstützt durch ein entsprechendes Sprachenregime, eine Voraussetzung dafür darstellt, voll von Mehrsprachigkeit profitieren zu können.
5 Interkulturelle Kommunikation Mehrere Sprachen zu sprechen bedeutet, über eine entsprechende Anzahl von Werkzeugen zu verfügen, mit welchen die zugrundeliegenden Kulturen ihre Erfahrungen und Wirklichkeiten in Worte kleiden. Wenn wir von der Verwendung von mehrsprachigen Ressourcen sprechen, um
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Mehrsprachigkeit
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in einer durch asymmetrische und gleichzeitig sprachliche Diversität geprägten Situation kreativ zu kommunizieren, dann ist die interkulturelle Dimension immer mitgemeint. Die Interaktionsteilnehmer konfrontieren gleichzeitig mit ihren Sprachkompetenzen auch ihre begrifflichen Bezugspunkte, ihre Glaubensinhalte und Werte, ihre Interpretations- und Referenzrahmen, ihre Denkweisen und Problemlösungsansätze. Sich in seiner eigenen Sprache ausdrücken zu können, kann das Wohlbefinden der Sprechenden erhöhen und es ihnen erlauben, sich präziser auszudrücken. Die Sprache des anderen zu verwenden − in der direkten Interaktion oder mittels Übersetzungen − , kann nicht nur als ein Zeichen des Respekts verstanden werden, sondern auch eine emotionale Resonanz einbringen. Es geht in der Kommunikation nicht nur um die rationale Ebene, sondern auch um die der Emotionen. Dies kontrastiert mit der Forderung nach einer Einheitssprache, sei es für die globale Kommunikation (Englisch als lingua franca), sei es für die Binnenkommunikation zwischen Angehörigen von Sprachmehrheiten und Minderheiten (Verwendung der Landessprache als lingua franca). Gewiss gibt es Situationen, in welchen die Konstellation der Teilnehmenden nur eine einzige Varietät zulässt und versucht werden muss, alle anderen Teile sprachlicher Repertoires auszublenden. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn in einer gemischten Gruppe nur eine Sprache allen gemeinsam zur Verfügung steht. In der Tat wird die Form der lingua franca maßgeblich vom Kompetenzniveau der Sprecherinnen und Sprecher bestimmt und pendelt zwischen einem symmetrischen einsprachigen Modus (unter Personen, welche die lingua franca sehr gut beherrschen), einem asymmetrisch einsprachigen Modus (wenn jemand ohne ihr ausweichen zu können die gewählte Sprache nur sehr approximativ spricht) und einer Art von mehrsprachigem Modus (in welchem häufig auf Ressourcen aus anderen Sprachen zurückgegriffen wird). Im Prinzip ist Rede in einer lingua franca „interwoven with speakers’ overall linguistic repertoires“ (Hülmbauer & Seidlhofer 2013, S. 387). Man kann so weit gehen und sagen, dass die Verwendung einer lingua franca an einem ‚multilingual mode‘ orientiert ist und sich nicht prinzipiell, sondern nur graduell von mehrsprachiger Rede unterscheidet (vgl. Lüdi et al. 2013).
6 Mehrfache Schriftlichkeit In den Bildungssystemen der Aufnahmeregion lernen Migrantenkinder in der jeweiligen Haupt-Schulsprache lesen und schreiben sowie in der Regel eine oder mehrere Fremdsprachen. Manchmal kommt Unterricht zur Festigung und Erweiterung von Kompetenzen von Migranten in ihrer Herkunftssprache dazu. Auf folgende Besonderheiten mehrfacher Schriftlichkeit sei aufmerksam gemacht: (a) Mischformen im Schrifterwerb Namentlich in den ersten Erwerbsphasen der mehrfachen Schriftlichkeit ist es wahrscheinlich, dass Mischformen auftreten. Diese sind als Zeichen von Kompetenz zu interpretieren, d.h. als Indiz für die Fähigkeit der Lernenden, auch in ‚Risikosituationen‘ erfolgreich zu kommunizieren, in dem sie die Gesamtheit ihrer Ressourcen ausnutzen. Eine schwierige Gratwanderung besteht darin, ein Gleichgewicht zu finden zwischen dem Auseinanderhalten (inhibition) und der gleichzeitigen Aktivierung von (Teil-)Kompetenzen in verschiedenen Sprachen, zwischen der Ausnutzung bzw. Förderung der mehrsprachigen Lernkompetenz und dem progressiven Bemühen, die Einzelsprachen zu differenzieren. In einer ‚integrierten Didaktik‘ der Sprachvermittlung werden die Lernenden auf Sprachbrücken hingewiesen und gleichzeitig vor ‚falschen Freunden‘ gewarnt (z.B. Lüdi 2004).
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(b) ‚Bewirtschaftung‘ mehrsprachiger Ressourcen Literaten wie Julien Green, Hector Bianciotti, Rainer Maria Rilke oder Samuel Beckett haben in zwei Sprachen literarische Werke von höchstem Rang geschaffen und gleichsam ihre doppelte Einsprachigkeit bewiesen, wobei hier die Beherrschung der Literatursprache das Maß der Dinge ist. Auch wenn der ‚richtige und gute Gebrauch‘ (Sprachgebrauch) etwas Mythisches hat, funktioniert er als eine Art Lackmustest – also als ein Test, in dem sich zeigt, wie etwas ‚wirklich‘ einzuordnen ist. Diese ‚richtige und gute‘, also allseits anerkannte Varietät wird von Bourdieu (1982) als die „legitime Sprache“ bezeichnet, weil sie die Sprachform sei, welche im ‚sprachlichen Markt‘ den höchsten Wert besitzt. Für die mehrfache Schriftlichkeit – insbesondere von Migranten – ergibt sich jedoch daraus eine unrealistisch hohe Messlatte für Schriftbeherrschung. Wendet man hingegen ein Verständnis der Multikompetenz an, die in der Regel durchaus asymmetrisch ist, und nimmt man die Mehrsprachigkeit der Migrantinnen und Migranten ernst, dann erscheinen Formen des Schreibens in einem anderen Licht. Beispiele von literarischen Texten in approximativem Deutsch oder ‚gemischten‘ Schreibens können dann als interkulturelle Strategien interpretiert werden, welche zwar zunächst den Blick auf die Unterschiede zwischen zwei Sprachen bzw. Weltansichten heftet, dann aber auch und besonders den Versuch zum Brückenschlag zwischen den beiden unternimmt. Beispiele solchen Schreibens sind die Autorin Dragica Rajčić, welche ihre Migrantenidentität zur Schau stellt, indem sie bewusst ein approximatives, fehlerhaftes Deutsch schreibt, oder Emine Sevgi Özdamar. Diese sagt zu einem approximativen Deutsch: „Die sprachlichen Fehler gehören zur Identität, weil man Bilder aus der Muttersprache im Kopf hat, aber sich auf Deutsch ausdrücken muss.“ Die sprachlichen Formen, welche dabei verwendet werden, funktionieren als Identitätsmarkierungen. Nach der Theorie von Le Page und Tabouret-Keller (1985) sind Menschen keineswegs die Gefangenen ihrer Redeweise. Wir besitzen nicht nur einen beträchtlichen Handlungsspielraum, sondern auch die Fähigkeit, die Verwendung der Identitätsmarkierungen den Vorstellungen anzupassen, die man von sich selber, von den anderen und von den Normen hat, welche eine Situation prägen. Die Entscheidung, gleichzeitig auf zwei (oder mehr) Sprachen zu schrei ben, kann einen bedeutsamen Identitätsakt darstellen. Die durch mehrsprachige Literatur manifestierten Identitäten können sehr vielfältig sein, mit positiven oder negativen Erfahrungen verbunden. Zahlreiche Autor/innen der Migrantenliteratur erfahren diese doppelte sprachliche und kulturelle Zugehörigkeit als schmerzhaft (vgl. zum Folgenden Beiträge in Ackermann 1987; Kummer et al. 1991). Starke Bilder wie „Stiefmuttersprache“ (Abdolreza Madjderey), „Das verlorene Gesicht“(Birol Denizeri), „Einfremdung“ (George Adams), „zweieiige, am Rückenmark zusammengewachsene Zwillinge“ (Irena Brežná) und „Sklavensprache“ zeugen vom Gefühl der Zerrissenheit zwischen der Herkunft und der − zumindest auf der Ebene der Literatursprache − angestrebten Zugehörigkeit zur deutschen Sprache. In anderen Fällen wird Zwei- oder Mehrsprachigkeit positiv inszeniert, die mehrfache Zugehörigkeit in Form mehrsprachiger Rede markiert. Dabei wird die Antwort auf die identitäre Herausforderung, welche jede Migration beinhaltet, nicht auf eine Dichotomie ‚Bewahrung’ vs. ‚Verlust’ der Herkunft reduziert, sondern eine Restrukturierung der Identität im neuen Kontext, im Rahmen neu aufgebauter Lebensweisen vorgenommen. So entsteht im Überlappungsbereich zwischen verschiedenen Sprachen und Kulturen eine neue Form von Literatur, welche die kanonischen, einsprachigen Modelle sprengt und eine der Antworten auf die Herausforderung der ethnisch heterogenen, multikulturellen und vielsprachigen modernen Gesellschaften darstellt.
Mehrsprachigkeit
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Literatur
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Karen Schramm und Hannes Schweiger
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23 Germanistische Forschung zur Interkulturalität Karen Schramm und Hannes Schweiger
Die facettenreiche Auseinandersetzung der Germanistik mit dem Themenfeld der Interkulturalität lässt sich vereinfachend in drei Forschungslinien darstellen: einem linguistischen, einem literaturwissenschaftlichen und einem sprachunterrichtsbezogenen Zugriff. Da die linguistische Perspektive auf Interkulturalität an anderer Stelle im Handbuch ausführlich dargestellt wird, skizziert Abschnitt 1 diesen Bereich in äußerst knapper Form. Abschnitt 2 thematisiert literaturwissenschaftliche Zugänge, die insbesondere im Rahmen des (umfassenderen) Forschungsprogramms der Interkulturellen Germanistik nach dem Mehrwert eines durch kulturelle Vielfalt geprägten gemeinsamen Verstehens deutschsprachiger Literatur fragen. Abschnitt 3 zeichnet zunächst wichtige Linien der unterrichtsbezogenen Forschung zu Deutsch als Fremdsprache nach, die Interkulturalität insbesondere in Abgrenzung von kognitiver und kommunikativer Landeskunde und im Hinblick auf kulturelles Lernen als Lernziel thematisiert, aber auch Bilder von und Einstellungen zu den Zielsprachenländern sowie die kulturelle Bedingtheit von Sprachlernprozessen untersucht. Im Kontext von Deutsch als Zweitsprache sind vor allem migrationspädagogische, gesellschaftspolitische und macht- und rassismuskritische Perspektiven auf Interkulturalität forschungsleitend.
1 Linguistische Zugänge Das Spektrum von germanistischen Forschungsarbeiten zur interkulturellen und mehrsprachigen Kommunikation ist immens breit. Besonders hervorzuheben sind hier die Teildisziplinen der Pragmatik und der Textlinguistik. So werden u.a. kulturkontrastive Untersuchungen zu sprachlichen Handlungen – auch unter Berücksichtigung prosodischer oder nonverbaler Mittel – und pragmalinguistische Analysen interkultureller Kommunikation unter besonderer Berücksichtigung von Missverständnissen oder Verstehensproblemen sowie kulturspezifischer Höflichkeitskonventionen durchgeführt (als Beispiel s. Rehbein & Redder 1987). Kontrastive textlinguistische Analysen arbeiten unterschiedliche Textmuster in vergleichbaren Textsorten und kulturspezifische Konventionen von Gattungen heraus. Auch die kulturbezogenen Fremdund Selbstpositionierungen in Alltagsgesprächen und deren machttheoretische Dimensionen sind wichtiger Gegenstand aktueller germanistischer Sprachwissenschaft (z.B. Günthner 2012).
2 Literaturwissenschaftliche Zugänge Einen wichtigen Aspekt der Interkulturalität in der Literaturwissenschaft macht die Beschäftigung mit dem ‚Fremden‘ in deutschsprachiger Literatur aus. Als spezifische Beispiele ließen sich hier das Mexikobild in den Arbeiten Anna Seghers, Anna Kims Annäherungen an Grönland oder als generelleres Beispiel die Beschäftigung mit Orientbildern in der deutschsprachigen Literatur nennen. Dabei bleibt das ‚Fremde‘ nicht auf fremde Länder beschränkt, sondern betrifft ebenso Regionen und kulturelle Gruppen in den amtlich deutschsprachigen Ländern. Untersucht wird, wie kulturelle Differenzen in literarischen Texten inszeniert werden und welche Effekte dies hat
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(Mecklenburg 2008, S. 11). In zunehmendem Maße spielen bei der Analyse von Darstellungen des ‚Fremden‘ oder ‚Anderen‘ postkoloniale und rassismuskritische Ansätze eine Rolle. Einen anderen germanistischen Aspekt von Interkulturalität stellt die (fremdsprachliche) Rezeption deutschsprachiger Literatur durch Menschen dar, die außerhalb der amtlich deutschsprachigen Länder leben bzw. sozialisiert wurden. In diesem Fall bietet Literatur gewissermaßen ein Fenster in die deutschsprachige Kultur. Dieser Zugang wird aus kulturwissenschaftlicher Sicht problematisiert, denn Kultur sei grundsätzlich nur über ihre Manifestationen in Form von Texten im weitesten Sinne erfassbar. In diesem Zusammenhang ist insbesondere das Forschungsprogramm der Interkulturellen Germanistik zu nennen, die die kulturelle Vielfalt der Ausgangspositionen, Fragestellungen und Annäherungsweisen an die deutschsprachige Literatur als Chance begreift und eine ethnozentrische Isolierung überwinden helfen möchte. Dabei versteht sich die Interkulturelle Germanistik nicht als Programm für eine Begegnung der Kulturen, sondern als regionale Kulturwissenschaft, die von der Vielfalt des Interesses an der deutschsprachigen Region ausgeht und diesem vielfältigen Interesse in interkultureller Kommunikation gemeinsam nachgeht (vgl. Wierlacher 2003, S. 17). Das interkulturelle Paradigma wurde in der Literaturwissenschaft, gerade auch mit Blick auf den Deutschunterricht, im Sinne des Transkulturalitätsansatzes weiterentwickelt. Dabei spielen weniger Differenzen zwischen ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ eine Rolle, vielmehr werden im Sinne einer Überwindung dieser Gegenüberstellung kulturelle Transferprozesse und die Vermischung und Hybridisierung kultureller Phänomene in den Blick genommen. Kerngedanke transkultureller Literaturwissenschaft und einer entsprechenden Literaturdidaktik ist die Abkehr von der Nation als Trägerin kollektiver Identität. Der literarische Kanon wird um Weltliteratur, Literatur der Kontaktzonen, Literatur von Minderheiten und Literatur der Migration erweitert (Wintersteiner 2006).
3 Landeskundliche und (inter-)kulturelle Lernziele im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht Im Bereich Deutsch als Fremdsprache (DaF) spielt (inter-)kulturelles Lernen als zentrales Unterrichtsziel neben dem sprachlichen Lernen eine wichtige Rolle. In diesem Forschungsfeld wird der interkulturelle Ansatz in der Regel als dritte Phase eines vierschrittigen Entwicklungsprozesses dargestellt. Dieser ist in der ersten Phase durch eine Landeskundeorientierung charakterisiert, die sich aus der Realienkunde des späten 19. Jahrhunderts entwickelte und im DaF-Unterricht u.a. politische, geographische, historische, gesellschaftliche und andere Fakten bezüglich der deutschsprachigen Länder vermittelt. In einer zweiten Entwicklungsphase tritt eine solche deklarative Faktenvermittlung zugunsten einer kommunikativen Landeskunde und in einer dritten Entwicklungsphase zugunsten eines interkulturellen Lernens in den Hintergrund (Koreik & Pietzuch 2010). Als wichtige Lernziele interkultureller Landeskunde werden u.a. Ambiguitätstoleranz, Empathiefähigkeit und die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel betont. In der sogenannten (nicht nur auf DaF, sondern auch andere Fremdsprachen bezogenen) Didaktik des Fremdverstehens (Bredella & Christ 2007) vergleichen die Lernenden in einem kreativen Akt, der zu Identitätsveränderungen führen kann, ‚Eigenes‘ und ‚Fremdes‘ (s. Hu 2010, S. 1392). Verstehen wird dabei als Einnehmen der Innenperspektive einer als fremd verstandenen Kultur und Verständigung als Vermittlung zwischen Innen- und Außenperspektive beschrieben. Die Kritik am interkulturellen Paradigma bezieht sich auf Zugangsweisen, bei denen simplifizierende Vorstellungen vom ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ vorherrschen, sowie auf den dabei zugrun-
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deliegenden verkürzten Kulturbegriff, der tendenziell homogenisierend und essentialistisch ist. Wenn im DaF-Unterricht beispielsweise ‚typisch deutsche‘ Eigenschaften oder Verhaltensweisen herausgearbeitet und die Lernenden nach Entsprechungen in ‚ihrer Kultur‘ gefragt werden, so verbirgt sich dahinter ein national oder ethnisch geprägter Kulturbegriff und der Fremdsprachenunterricht läuft Gefahr, der Verbreitung von Stereotypen Vorschub zu leisten. Aktuellere Ansätze möchten deshalb die Gleichsetzung Kultur, Nation und Sprache aufbrechen und verstehen Kulturkompetenz als Fähigkeit zur Reflexion der Bedingungen, Prozesse und Effekte kultureller Konstruktionen. Als richtungsweisend wird derzeit der Ansatz der kulturellen Deutungsmuster diskutiert (Altmayer 2006; Koreik 2011). Dieser basiert auf der sozialkonstruktivistischen Annahme, dass das Verstehen deutschsprachiger Diskurse auf relevantem, kulturspezifischem Vorwissen beruhe. Diese kulturellen Deutungsmuster, die im Deutschen verwendet werden, blieben in der Regel implizit. Die Aufgabe bestehe darin, sie für die Zwecke des DaF-Unterrichts zu explizieren und zu didaktisieren (Altmayer & Koreik 2010, S. 1382). Fruchtbar gemacht wurde der kulturwissenschaftliche Ansatz insbesondere im Hinblick auf den Einsatz literarischer Texte im DaF-Unterricht, die als Kristallisationspunkte kulturbezogener Auseinandersetzungen und Deutungsprozesse gesehen werden. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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3.1 Bilder von und Einstellungen zu den Zielsprachenländern im Sprachunterricht Ein ebenfalls breit diskutiertes Themenfeld betrifft die Selbst- und Fremdbilder der deutschsprachigen bzw. anderer Länder, die in unterschiedlichen medialen Formaten entworfen werden. So hat Groenewold (2001) beispielsweise das niederländische Deutschlandbild im 19. und 20. Jahrhundert untersucht (s. auch Groenewold 2005 zu einer partizipatorischen Gegenwartskunde, die die Wahrnehmung Deutschlands und deutscher Lebenswelten durch jugendliche und erwachsene DaF-Lernende zum Ausgangspunkt der didaktischen Überlegungen macht). Auch das Bild der deutschsprachigen Länder in DaF- und DaZ-Lehrwerken und -Lernmaterialien und die Einstellungen von DaF-Lernenden zu den Zielsprachenländern sind wichtige Untersuchungsgegenstände. 3.2 Kritik an kulturellen Zuschreibungen in Bezug auf Sprachlernprozesse Nicht zuletzt wird Interkulturalität im Bereich Deutsch als Fremdsprache auch unter der Fragestellung kulturspezifischer Lehr- und Lerntraditionen und dem Stichwort ‚Methodenexport‘ thematisiert. Dabei wird beispielsweise die lange Zeit dominierende Annahme kritisch diskutiert, dass Menschen aufgrund nationaler, kultureller oder ethnischer Zugehörigkeiten spezifische Sprachlernstrategien bevorzugten. Im Feld Deutsch als Zweitsprache kommen wichtige Impulse aus migrationspädagogischer Perspektive: Der Kulturbegriff wird kritisch befragt, gerade auch im Hinblick auf andere Differenzdimensionen wie Geschlecht, Alter, soziale oder ökonomische Faktoren. Mit Blick auf Interkulturalität stehen Fragen der Zugehörigkeit und der Zuschreibungen im Mittelpunkt und es findet eine Analyse und Reflexion national, ethnisch oder kulturell definierter Zugehörigkeitsordnungen und der damit verbundenen Machtverhältnisse in Migrationsgesellschaften statt (vgl. Kalpaka & Mecheril 2010). Im Rahmen der soziokulturellen Zweitspracherwerbsforschung wird mit DaF- und DaZ-Bezug nach individuellen und kollektiven Identitätsentwürfen von Deutschlernenden und deren Zusammenhang mit der sprachlichen Kompetenzentwicklung gefragt.
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4 Fazit Dieser kurze Überblick macht deutlich, dass die Bezugspunkte der Germanistik zum Themenfeld der Interkulturalität sehr vielfältig sind. Sie reichen von linguistischen Fragen der interkulturellen Kommunikation über literaturwissenschaftliche Aspekte wie der literarischen Repräsentation des Fremden bis hin zu unterrichtsbezogenen Fragen des kulturellen Lernens und der kulturellen Bedingtheit von Sprachlernprozessen.
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Jochen Oltmer
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24 Historische Migrationsforschung Jochen Oltmer
Interkulturalität als Begriff und Konzept nimmt in der geschichtswissenschaftlichen Diskussion eine ausgesprochen randständige Position ein. Vergangene europäische Gesellschaften waren, insbesondere vor der Durchsetzung nationalstaatlicher Homogenitätsvorstellungen, zwar kulturell, sozial und sprachlich überaus heterogen und politisch sehr kleinteilig strukturiert. Dennoch besaßen Universalismusvorstellungen in Europa lange ein ausgesprochen hohes Gewicht. Sie erstreckten sich nicht nur auf den religiösen und kulturellen („christianitas“, „Abendland“), sondern auch auf den politischen Bereich („Reichsidee“, „Universalmonarchie“). Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund erwies sich die europäische Auseinandersetzung mit dem „Anderen“ und dem „Fremden“ vornehmlich als eine Selbstvergewisserung des „Eigenen“ und Suche nach dem abendländischen „Wir”. Berichte über „Fremde“, „Fremdheit“ und die damit einhergehende Auseinandersetzung über das „Eigene“ lassen sich für die Vormoderne in großer Zahl finden. Das gilt für antike Autoren, die auf die verschiedensten Kollektive der als „Barbaricum“ beschriebenen Räume außerhalb des Römischen Reiches Bezug nahmen. Es gilt aber auch für das Mittelalter, das Vorstellungen von den Welten außerhalb der bekannten Welt entwickelte – mochten sie auch als noch so fremd verstanden werden, galten sie dennoch als Teil der Schöpfung (und damit des „Eigenen“) sowie als Objekte der Christianisierung. Für die Frühmoderne liegen schließlich zahlreiche Reiseberichte (vor allem im Kontext von Bildungsreisen und kolonialen Erschließungsprojekten) vor, die von der intensiven Auseinandersetzung mit „dem Fremden“ und „dem Eigenen“ künden (Bitterli 1991; Gotthard 2007). Erst jüngst wird für die Früh- und Vormoderne verstärkt nach Erscheinungsformen von Transund Interkulturalität, beispielsweise im Kontext der Untersuchung von Grenzgesellschaften als Zonen der Berührung und Überlappung geforscht oder auf die Genese hybrider kultureller Muster geblickt, indem die Elemente und Einflüsse verschiedener Herkünfte eruiert werden und nach Manifestationen von Interaktionen, Begegnungen, Austausch und Transfer gefragt wird (z.B. Borgolte 2011). Für das 19. und 20. Jahrhundert lässt sich wiederum eine längere und intensivere Auseinandersetzung mit Aspekten von zwischenkultureller und weltgesellschaftlicher Verflechtung ausmachen: Zuletzt haben insbesondere die Diskussionen um das Ausmaß und die Reichweite der Globalisierung als historisches Phänomen und die deutlich verstärkte Präsenz globalhistorischer Ansätze und Arbeiten einen Beitrag geleistet, die „Verwandlung der Welt“ auch als eine Geschichte von Expansion und Vernetzung, Interaktion und Verflechtung zu verstehen (Osterhammel 2009). Die historischen Bezüge sind allerdings derart zahlreich und die Ansätze so vielfältig (und, wie gesagt, so selten auf Begriff und Konzept von Interkulturalität bezogen), dass es nicht möglich erscheint, auf knappen Raum nachvollziehbare Perspektiven zu bieten. Vor diesem Hintergrund soll der Versuch unternommen werden, die Auseinandersetzung der historischen Forschung mit Diversität und Differenz auf die Frage zu fokussieren, auf welche Weise und mit welchem Ziel sich die Geschichtswissenschaft mit dem Themenfeld Migration beschäftigt. Dazu soll zunächst nach den Beobachtungsperspektiven der Historischen Migrationsforschung gefragt werden, be-
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vor auf das Potential der Erschließung von Migrationsregimen und Aushandlungsprozessen im Kontext von Migration, Integration und Interkulturalität geblickt wird.
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1 Beobachtungsperspektiven der Historischen Migrationsforschung Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Bedingungen, Formen und Folgen von Migration hat seit Anfang des 21. Jahrhunderts einen enormen Aufschwung genommen. Die Historische Migrationsforschung nimmt Muster von wanderungsbedingter Diversität und Differenz auf Deutschland und Europa bezogen in den vergangenen Jahren vornehmlich für das 20. Jahrhundert in den Blick, deutlich geringer ist die Intensität für das 19. Jahrhundert (Oltmer 2016b) und für die Frühe Neuzeit (Bade et al. 2010). Jüngst rückt verstärkt das Mittelalter auf (zusammenführend Borgolte 2014). Die Ergebnisse der Forschung lassen deutlich werden, dass Migration in der Neuzeit weltweit ein zentrales Element weitreichender Transformationen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur bildete (Oltmer 2016a). Historische Migrationsforschung untersucht räumliche Bevölkerungsbewegungen unterschiedlichster Größenordnung auf den verschiedensten sozialen Ebenen (Bade 2004; Hoerder et al. 2010). Das gilt beispielsweise für die vor allem mit Hilfe von prozessproduzierten Massendaten und quantitativen Methoden in ihren Dimensionen, Formen und Strukturen erfassbaren europäischen überseeischen Massenabwanderungen des „langen“ 19. Jahrhunderts oder für die zwischen Land und Stadt bzw. den verschiedenen Städtetypen und -größen fluktuierenden intra- und interregionalen Arbeitswanderungen im Prozess von Industrialisierung und Urbanisierung. Es gilt aber auch für die Frage nach den Motiven sowie nach den Migrations-, Integrations- und Interaktionsstrategien einzelner Kollektive, Familien oder Individuen, wie sie sich beispielsweise für die zunehmende Beschäftigung aus anderen Staaten zugewanderter Arbeitsmigrantinnen und -migranten in den west-, mittel- und nordeuropäischen Industriestaaten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sowie mit deutlich größeren Dimensionen seit den 1950er Jahren beobachten lassen. Der Begriff Migration verweist auf räumliche Bewegungen von Menschen. Er meint jene Muster regionaler Mobilität, die weitreichende Konsequenzen für die Lebensverläufe der Wandernden hatten und aus denen Veränderungen sozialer Institutionen resultierten. Mithin wird nicht jede Form räumlicher Bewegung als Migration verstanden, das gilt insbesondere nicht für touristische Aktivitäten und andere Aufenthalte andernorts von kurzer Dauer, so zum Beispiel auch im Fall von Tages- oder Wochenpendlern. Migrant/innen überwanden in der Neuzeit zum Teil große Distanzen, etwa bei interkontinentalen Bewegungen. Migration verweist aber auch auf grundlegende Veränderungen des Lebensverlaufs und sozialer Institutionen durch intra- (Nahwanderung) oder interregionale Bewegungen. Das gilt etwa im Kontext des beschriebenen Wechsels von Wirtschaftssektoren oder Lebensformen. Migration konnte unidirektional eine Bewegung von einem Ort zu einem anderen meinen, umfasste aber nicht selten auch Zwischenziele bzw. Etappen, die häufig dem Erwerb von Mitteln zur Weiterreise dienten. Weil der Migrationsprozess grundsätzlich ergebnisoffen blieb, stellte die dauerhafte Ansiedlung andernorts nur eine der möglichen Ergebnisse von Migrationsbewegungen dar: In der Bundesrepublik wuchs der Umfang der aus dem Ausland zugewanderten Erwerbsbevölkerung von 1961 bis zum Anwerbestopp 1973, als die Ausländerbeschäftigung den Gipfelpunkt erreichte, von ca. 550.000 auf rund 2,6 Millionen an. Das Wanderungsvolumen war dabei erheblich: Vom Ende der 1950er Jahre bis 1973 kamen rund 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland, ca. 11 Millionen, also 80 Prozent, kehrten wieder zurück in ihr Herkunftsland. Fluktuation, z.B. zirkuläre Bewegung oder Rückwanderung, bildeten immer ein zentrales Kennzeichen von Migration.
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Für die Untersuchung solcher historischer Prozesse und Strukturen kann eine große Zahl unterschiedlicher Materialien herangezogen werden, die sich mit verschiedenen Methoden untersuchen lassen: Inhaltsanalytische Methoden erschließen Motive und Ziele der Migrant/innen, ihre Handlungsstrategien, Selbstkonstruktionen, identitären Verortungen und ihre Auseinandersetzung mit anderen kulturellen und gesellschaftlichen Entwürfen auf der Grundlage insbesondere von Ego-Dokumenten (Briefe, Tagebücher, Lebensbeschreibungen, Zeitungsanzeigen) oder auch, wenngleich in deutlich geringerem Umfang, von visuellem Material (Gemälde, Zeichnungen, Fotos, Filme). Für den Kontext zeithistorischer Forschungen treten insbesondere lebensgeschichtliche Interviews hinzu. Von der Mehrzahl der (potentiellen) Migrant/innen der vergangenen Jahrhunderte und Jahrzehnte sind keine Ego-Dokumente überkommen oder nur mehr in Spuren verfügbar. Deshalb entstammt ein Großteil des Materials, das unter Nutzung inhaltsanalytischer Methoden von der Historischen Migrationsforschung mit dem Ziel erschlossen wird, das Handeln von Migrant/innen sowie deren Motive und lebensgeschichtliche Verortungen zu untersuchen, Beständen, Beobachtungen und Bewertungen anderer, insbesondere institutioneller Akteure: Solche liegen schriftlich vor (zum Beispiel Protokolle von Verhören und aus Gerichtsverfahren, Pässe, Einbürgerungsurkunden, Fallakten zu Einbürgerungen, Ausweisungen, Einreisen und Aufenthaltstiteln, amtliche, ärztliche oder wissenschaftliche Berichte etc.) oder bestehen – deutlich seltener – aus mündlichen Informationen (Experten- bzw. Akteursinterviews). In aller Regel entstammen diese Überlieferungen den Diskursen und Diskurssystemen von Herrschenden und von Eliten, erfordern also spezifische hermeneutische Herangehensweisen, um beispielsweise die Aspirationen sowie die Welt- und Situationsdeutungen, die das Handeln von Migrant/innen formierte, erschließen zu können. Historische Migrationsforschung untersucht sowohl Wanderungsprozesse, die auf dauerhafte Niederlassung in einem Zielgebiet ausgerichtet waren (und entsprechender Vorbereitungen in den Herkunftsgebieten bedurften), als auch die zahlreichen Formen zeitlich befristeter Aufenthalte: von den saisonalen oder zirkulären Bewegungen über die mehrjährigen Arbeitsaufenthalte in der Ferne bis hin zu dem in der Regel über einen begrenzten Zeitraum aufrecht erhaltenen Umherziehen als ortloser Wanderarbeiter. Damit überwindet sie eine lange in der historischen Forschung dominierende Sicht, die Migration vorwiegend als einen linearen Prozess verstand, der von der Wanderungsentscheidung im Ausgangsraum über die Reise in das Zielgebiet bis zur dort vollzogenen dauerhaften Niederlassung reichte. Auch die Entwicklung von Wanderungssystemen gehört zum Gegenstandsbereich moderner Historischer Migrationsforschung. Ein Wanderungssystem wird als eine relativ stabile und lang währende migratorische Beziehung zwischen einer Herkunfts- und einer Zielregion verstanden. Die Historische Migrationsforschung fragt danach, warum und auf welche Weise sich solche zum Teil über Jahrzehnte oder Jahrhunderte existierenden inter- und transregionalen Migrationsbeziehungen etablierten und stabilisierten – und verweist in der Regel auf bereits bestehende wirtschaftliche, politische oder kulturelle Verbindungen und Beziehungen, die einen engen interregionalen Güter-, Dienstleistungs-, Informations- und Personenaustausch ermöglichten und strukturierten. Untersuchungen zu Migrantennetzwerken und zur Etablierung von Wanderungstraditionen, insbesondere im Kontext von Arbeits- und Siedlungswanderungen zeigen, mit welcher Dynamik Migration die bestehenden Austauschbeziehungen transformierte und damit auch Muster der Interkulturalität etablierte. Beiträge aus der Historischen Migrationsforschung bieten darüber hinaus Momentaufnahmen der gesamten Migrationssituation in einem Raum, wobei Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Wanderungsformen in einer spezifischen kulturellen, sozialen, ökonomischen, demographischen und politischen Konstellation ausgeleuchtet werden. Der Erschließung dienen
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Historische Migrationsforschung
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in diesem Kontext vor allem veröffentlichte und unveröffentlichte Unterlagen der amtlichen Statistik auf den verschiedenen Ebenen: Den großen räumlichen Bevölkerungsbewegungen wurde in der Regel unmittelbare statistische Aufmerksamkeit zuteil, denn sie galten als bevölkerungs-, wirtschafts-, sozial- und sicherheitspolitisch relevante Phänomene und Probleme. Kern des Aufstiegs der modernen amtlichen Statistik seit dem 17. Jahrhundert bildete die Bevölkerungsstatistik, die insbesondere wegen der Erfassung von Steuer- und Militärpflichtigkeit für die Planung und Durchführung staatlicher Aktivitäten ein hohes Gewicht hatte. In diesem Kontext bildete von Beginn an auch die Registrierung von Umfang, Dynamik, Zielrichtung und sozialer Zusammensetzung von Migrationsbewegungen ein wichtiges Element. Das gilt ebenso für Volkszählungen, mit denen zunächst sporadisch, fallweise und wenig differenziert, seit dem 19. Jahrhundert dann regelmäßig und mit hohem Aufwand die Bevölkerung vermessen wurde. Für die Historische Migrationsforschung nutzbare Daten bieten aber auch meldestatistische Angaben (Bevölkerungs-, Melderegister) auf der Ebene von Staaten oder Kommunen sowie Informationen über den Umfang von Grenzübertritten, Ausweisungen und die Ausgabe von Dokumenten (Pässe, Visa). Seit dem späten 19. Jahrhundert gewannen darüber hinaus arbeitsmarktstatistische Angaben an Gewicht. Prozess-produzierte Daten zu den verschiedensten migratorischen Phänomenen liegen für die Neuzeit in unterschiedlichster Güte und Reichweite vor. Die Bandbreite kann dabei als enorm bezeichnet werden: Sie verweisen auf relative schlichte Einschätzungen über den Umfang einzelner Bewegungen, markieren aber mit dem beschleunigten Verwaltungsausbau und mit dem Aufstieg interventionsstaatlicher Maßnahmen seit dem (späten) 19. Jahrhundert auch hochdifferenzierte Angaben, die eine detaillierte quantitative Analyse ermöglichen – von der Arbeitsmarktbeteiligung von Migrant/innen, über die soziale Zusammensetzung, demographische Kennziffern bis hin zu Heiratsverhalten, Medienkonsum und Ernährungsgewohnheiten. Verfahren der deskriptiven Statistik dominieren dabei methodisch gegenüber solchen der explorativen Statistik. Historische Migrationsforschung fragt nach 1. Migrationsaspirationen, den Hintergründen von Migrationsentscheidungen, der Entwicklung von Migrationsstrategien im Kontext individueller und kollektiver Migrationsprojekte unter je spezifischen wirtschaftlichen, sozialen, politischen, ökologischen sowie kulturellen und sprachlichen Bedingungen, 2. den vielgestaltigen Mustern räumlicher Bewegungen zwischen Herkunfts- und Zielgebieten im Kontext der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wechselbeziehungen zwischen beiden Räumen, 3. der Konstitution und der Funktionsweise von migrantischen Netzwerken, 4. den Erwartungen und Erfahrungen von Migrant/innen, 5. den Dimensionen, Formen und Folgen der Zuwanderung im Zielgebiet, die temporären Charakter haben, aber auch in einen Generationen übergreifenden Prozess dauerhafter Ansiedlung und Integration münden konnte, 6. den Lebensverhältnissen, Lebensläufen und Identitäten von Migrant/innen, 7. den Selbstkonstruktionen, Praktiken und Herausforderungen der Identitätsbildung im Prozess von Migration und Integration, 8. den Bemühungen von Obrigkeiten, Staaten und nicht-staatlichen Organisationen um Einflussnahme auf Migration und Integration, 9. der Wissensproduktion über Migration und der Genese von Migration als Medienereignis sowie
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10. den Rückwirkungen der Abwanderung auf zurückbleibende Angehörige von Familien und Kollektiven sowie wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Strukturen und Prozessen in den Ausgangsräumen.
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2 Migration, Integration und Interkulturalität als Ergebnis von Aushandlungsprozessen Migrant/innen agierten als Individuen bzw. in Netzwerken oder Kollektiven (u.a. Familien) mit unterschiedlichen Autonomiegraden vor dem Hintergrund verschiedener Erfahrungshorizonte im Gefüge von gesellschaftlichen Erwartungen und Präferenzen, Selbst- und Fremdbildern, Normen, Regeln und Gesetzen. Sie verfolgten dabei ihre eigenen Interessen und Ziele, verfügten über eine jeweils unterschiedliche Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem, sozialem, juridischem und symbolischem Kapital mit der Folge je verschieden ausgeformter Handlungsspielräume gegenüber dem Migrationsregime, das als Geflecht von Normen, Regeln, Konstruktionen, Wissensbeständen und Handlungen jener institutioneller Akteure verstanden werden kann, die Migrationsbewegungen mitprägen (Oltmer 2009). Migrantische Infrastrukturen und Interessenmanager entwickelten unter anderem Selbstbilder, die Vergemeinschaftungsprozesse von Migrant/innen identitätspolitisch steuerten. Beobachten lassen sich unterschiedliche Reichweiten und Wirkungsgrade im Wechselverhältnis von einerseits Normen, Strategien und Maßnahmen institutioneller Akteure des Migrationsregimes und andererseits Taktiken, Aktivitäten und Handlungen (potentieller) Migranten. Auf diese Weise prägten, formten, produzierten institutionelle und individuelle Akteure in Konflikt und Kooperation Migration, Integration und Interkulturalität. Mit einer solchen Perspektive kann auch der Versuch unternommen werden, der Tendenz geschichtswissenschaftlichen Arbeitens entgegenzuwirken, isolierte Einzelperspektiven zu entwickeln, die keinen erheblichen Wert darauf legen, Relationen, Hierarchien und Wechselverhältnisse offenzulegen, also das Handeln Einzelner oder das Gewicht von Mikrostrukturen in Meso- und Makrokontexte und -strukturen zu fügen (Hoerder 2005). Die Fokussierung auf einen bestimmten Ausschnitt des Migrations- und Integrationsgeschehens als integriertes Handlungsfeld von Akteuren mit ihren je spezifischen Freiheitsgraden und Relationen reduziert auf eine bestimmte Weise Komplexität, bietet damit einen komplexitätserschließenden Ansatz und hat von daher auch eine erkenntnistheoretische Funktion: Migrationsregime und Aushandlungsprozesse bezeichnen Forschungsobjekte, sie bilden Ergebnisse der Beobachtung und Beschreibung historisch arbeitender Migrationsforscher/innen. Die Grenzen des Migrationsregimes und der Arena der Aushandlung mit, gegen oder über Migrant/innen definieren Historiker vor dem Hintergrund einer problemorientierten Fragestellung. Diese legt offen, auf welche Weise, mit welchem Ziel und mit welchen Instrumenten Komplexität reduziert wird, Vorgänge erklärt und auf diese Weise Muster, Modelle und Ansätze entwickelt werden. Die problemorientierte Fokussierung auf die Erschließung von Interessen, Zielen und Handlungen als Ko-Produktion von Migration konstituiert den Forschungsgegenstand. Das vergangene Migrationsregime und die vielfältigen Aushandlungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen sind allerdings eben nicht bloße Konstruktionen der historisch arbeitenden Migrationsforschung. Sie bilden vielmehr eine fokussierende Rekonstruktion historischer Strukturen; denn nur diese Strukturen haben Überreste und Spuren hinterlassen. Informationen über das Handeln von Einzelnen, von Kollektiven und von Institutionen, deren Motive und Praktiken, sind dokumentiert worden, weil sie den jeweiligen Zeitgenossen als berichtenswert galten und deshalb Gegenstand von zeitgenössischer Wissensproduktion wurden, auf die die Historische
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Historische Migrationsforschung
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Migrationsforschung heute zurückgreifen kann (und muss). Die Überlieferungssituation des Materials ist dabei höchst selektiv, nicht nur weil die Lagerung immer mit Risiken behaftet war, sondern vor allem auch deshalb, weil in der Regel nur das Material aufbewahrt wurde, das insbesondere vor dem Hintergrund der Reproduktion von Herrschafts- und Machtstrukturen erhaltenswert schien. Daraus ergab sich eine dreifache Reduktion von Komplexität: 1. Zeitgenössische Wissensproduzenten waren weder motiviert noch in der Lage, ihre Gegenwart vollständig abzubilden. 2. Die Produzenten entstammten in der Regel höheren gesellschaftlichen Segmenten und nahmen vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen oder beruflichen Position (nicht selten als „Macht-haber“) eine spezifische und damit eingeschränkte Sicht ein. 3. Überliefert wurde vornehmlich das Material, das rechtlich oder geschäftlich relevant war und aus der Sicht von Obrigkeiten oder staatlichen Institutionen als überlieferungswürdig galt. Eine erkenntniskritische historiographische Position hat auf die Bedingungen, Formen und Folgen dieser Reduktion von Komplexität zu reagieren (Herbst 2004). Erforderlich sind dafür einerseits die Rekonstruktion der Erzeugungs- und Überlieferungsbedingungen und andererseits die möglichst weitreichende Heranziehung unterschiedlichen historischen Materials verschiedenster Herkunft und Reichweite. Dieser Kontext verweist noch einmal auf die Perspektive, mit Ansätzen zu arbeiten, die auf Akteure und ihre Handlungen zentriert sind und die die Positionierungen und Handlungen der einzelnen Akteure auch deshalb zu erschließen suchen, um die Formen der je spezifischen Wissensproduktion zu verstehen, welche fundamentale Folgen für die Erzeugung und Überlieferung jenes Materials hatte, auf das die Untersuchung der Aushandlung von Migration, Integration und Interkulturalität in der Vergangenheit aufbauen kann. Literatur
Bade, Klaus J. (2004): Sozialhistorische Migrationsforschung, Göttingen: V & R Unipress. – Bade, Klaus J.; Emmer, Pieter C.; Lucassen, Leo & Oltmer, Jochen (Hg.) (2010): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 3. Aufl. Paderborn: Schöningh. – Bitterli, Urs (1991): Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, 2. Aufl. München: C.H. Beck. – Borgolte, Michael (Hg.) (2011): Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter. Berlin: Akademie-Verlag. – Borgolte, Michael (Hg.) (2014): Migrationen im Mittelalter. Ein Handbuch. Berlin: de Gruyter. – Gotthard, Axel (2007): In der Ferne. Die Wahrnehmung des Raums in der Vormoderne. Frankfurt a.M.: Campus. – Herbst, Ludolf (2004): Komplexität und Chaos. Grundzüge einer Theorie der Geschichte. München: C.H. Beck. – Hoerder, Dirk (2005): Segmented Macro Systems and Networking Individuals: The Balancing Functions of Migration Processes. In: Jan Lucassen & Leo Lucassen (Hg.): Migration, Migration History, History. Old Paradigms and New Perspectives, 3. Aufl. Bern: Lang, S. 73-84. – Hoerder, Dirk; Lucassen, Jan & Lucassen, Leo (2010): Terminologien und Konzepte in der Migrationsforschung. In: Klaus J. Bade; Pieter C. Emmer; Leo Lucassen & Jochen Oltmer (Hg.): Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 3. Aufl. Paderborn: Schöningh, S. 28-53. – Oltmer, Jochen (2009): Einführung: Europäische Migrationsverhältnisse und Migrationsregime in der Neuzeit. In: Geschichte und Gesellschaft 35 (1), S. 5-27. – Oltmer, Jochen (2016a): Globale Migration. Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl. München: C.H. Beck. – Oltmer, Jochen (2016b): Migration vom 19. bis zum 20. Jahrhundert, 3. Aufl. München: Oldenbourg. – Osterhammel, Jürgen (2009): Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: C.H. Beck.
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Anton Escher und Elisabeth Sommerlad
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25 Interkulturelle Konzepte in der Geographie Anton Escher und Elisabeth Sommerlad
Der Begriff Interkulturalität tritt in deutschsprachigen Publikationen des Hochschulfaches Geographie seit Ende der 1970er Jahre auf. Die Mehrzahl der Publikationen wird jedoch dem Konzept Interkulturalität nur bedingt gerecht. Denn auch wenn das Wort „Interkulturalität“ in geographischen Arbeiten verwendet wird und eine Perspektivenvielfalt gegeben scheint, zeigt sich meist ein unreflektierter Umgang mit dem Begriff. Interkulturalität fungiert häufig als Deckmantelbegriff für kulturvergleichende Fragestellungen, wobei sich der sogenannte interkulturelle Vergleich auf einen nicht zeitgemäßen Vergleich von Kulturen auf Basis festgesetzter, räumlicher „Kultur-Grenzen“ beschränkt. Zahlreiche Publikationen verwenden Interkulturalität synonym mit Begriffen wie Multikulturalität und Ethnizität. Eine reflektierte, theoretische Annäherung, die der Vielschichtigkeit und Dynamik des Konzepts Interkulturalität gerecht wird, findet nur vereinzelt statt. Allerdings ist zu beobachten, dass sich seit einigen Jahren humangeographische Arbeiten vermehrt und differenziert mit interkulturellen Fragestellungen auseinandersetzen. Interkulturalität wird im Fach Geographie in der Regel als Ergebnis eines reziproken Verständigungs- bzw. Austauschprozesses zwischen Personen verstanden, die über einen differenten kulturellen Hintergrund und über unterschiedliche „Wertorientierungen, Bedeutungssysteme und Wissensbestände“ (Barmeyer 2011, S. 38) verfügen. Die Vorsilbe „inter“ weist darauf hin, dass kulturelle Prozesse mit unterschiedlich kulturell geprägter Beteiligung stets reziprok und dynamisch sind. Ihre Dynamik ist dadurch begründet, „dass die interagierenden Personen während ihrer Interaktion Kommunikations- und Verhaltensregeln neu gestalten und gegenseitig ‚aushandeln‘“ (Barmeyer 2011, S. 38). Dabei werden Praktiken, Normen und Ansichten redefiniert und mit neuen Bedeutungen belegt – es entsteht etwas Neues, etwas Inter-Kulturelles. Kulturelle Differenzen und kulturelle Praktiken werden in einem diskursiven Prozess „durch Aushandlungsprozesse oder individuelle Handlungsvollzüge und Sinnzuweisungen“ (Scheffer 2011, S. 303) geprägt. Kultur wird somit als ein von einer Gemeinschaft gemeinsam geteiltes Bedeutungsinventar interpretiert, das materielle und symbolische Elemente hervorbringt und gleichzeitig durch diese reproduziert wird. Das Interesse der Geographie liegt vor allem auf interkulturellen Räumen und interkulturellen Settings, denn die Geographie befasst sich insbesondere „mit der Gestaltung von Orten und der Konstruktion von Räumen im lebensweltlichen Maßstab“ (Escher, Lahr & Petermann 2007, S. 39). Derzeit lassen sich in der deutschsprachigen Geographie fünf Ansätze erkennen, die sich auf theoretischer, empirischer sowie normativer Ebene dem Konzept Interkulturalität aus unterschiedlichen Perspektiven konstruktiv nähern: (1) Scheffer (2006, S. 23) sieht das Potential einer „Geographie der Interkulturellen Kommunikation“ gerade in der „regionalen Erfassung und Beschreibung kultureller Gegebenheiten“. Hierzu postuliert er seinen Ansatz der selektiven Kulturräume. Dieses Konzept fußt zwar prinzipiell auf dem traditionellen Kulturraumkonzept, ist aber dennoch mit dem zeitgemäßen Kulturverständnis vereinbar. Anstatt Kultur als ein an festen Grenzen endendes Kollektiv zu sehen, wird der Fokus auf kulturelle Einzelmerkmale gelegt und nach deren räumlicher Konzentration gefragt. Kulturräume werden dabei als etwas Selektives, Dynamisches und „Gemachtes“
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Interkulturelle Konzepte in der Geographie
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betrachtet und sind in diesem Verständnis stets an interessenabhängige Repräsentationen von Kultur geknüpft (Scheffer 2006, S. 23-25). (2) Rothfuß (2009) diskutiert den Begriff der Interkulturalität im Kontext der geographischen (Entwicklungs-)Forschung. Er stellt fest, dass es bei geographischen Forschungen häufig zur Ausbildung interkultureller Beziehungen zwischen der Wissenschaftlerin/dem Wissenschaftler und den Personen, mit denen diese(r) forschend in Kontakt tritt, kommt. Diese Personen gehören meist einer Lebenswelt an, die der Forscherin/dem Forscher zunächst fremd ist – eine Tatsache, die meist in der Dichotomie des Eigenen und des Fremden mündet. Als Lösung für dieses Dilemma schlägt er vor, Intersubjektivität als eine zentrale Grundlage für Interkulturalität zu betrachten und die Möglichkeiten einer interkulturellen Hermeneutik stärker für die Geographie zu nutzen. Die Integration von Perspektiven, welche die Sichtweisen der „Beforschten“ in den Fokus stellen, ermögliche es, das kulturell Fremde in einem intersubjektiven Verhältnis zu beachten und kritisch zu würdigen. Damit ließen sich oftmals auftretende Fehlinterpretationen über das „Fremde“ und „Andere“ vermeiden (Rothfuß 2009, S. 173-177, 186). (3) Auf einer theoretisch-analytischen Ebene befasst sich Dirksmeier (2010) aus kulturgeographischer Perspektive mit dem Spannungsverhältnis zwischen dem Sozialen und Kultur. Dabei macht er das Konzept der sogenannten kulturellen Übersetzung für die Geographie fruchtbar. Dessen zentrale Annahme, dass im Moment des Kulturkontaktes ein „Dazwischen“, ein third space, produziert wird, in dem Elemente der beteiligten Kulturen zu etwas Neuem verschmelzen, könne für die geographische Interkulturalitätsdiskussion genutzt werden. Dirksmeier und Helbrecht (2010) greifen ergänzend Ansätze der in der englischsprachigen Kulturgeographie diskutierten geographies of encounter auf und entwickeln diese weiter. Dabei liegt ein Fokus auf der Performance interkultureller Interaktionssituationen in Städten. Mit dem theoretischen Konzept der situational places, welche „die räumliche Situiertheit der Performanzen von interkulturellen Begegnungen (…) in den Städten der Weltgesellschaft“ (Dirksmeier, Mackrodt & Helbrecht 2011, S. 86) beschreiben, wird ein für eine interkulturelle kulturgeographische Forschung innovativer und vielfältig anschlussfähiger Ansatz entwickelt. (4) Eine normative Möglichkeit, die interkulturellen Perspektiven in der Geographie zu schärfen, sehen Escher, Lahr und Petermann (2007, S. 40) in der Suche und Gestaltung „von Orten, wo Räume handelnd erzeugt oder diskursiv erschaffen werden können, die Menschen, welche in unterschiedlichen Kulturen sozialisiert wurden, in Theorie und Praxis gegenseitigen Anschluss bieten“. Hierzu müssten Annahmen zugelassen werden, die nicht primär nach dem Fremden, Exotischen und kultureller Differenz fragen, sondern nach (kulturellen) Gemeinsamkeiten. Erst in einem Nachschritt solle dann über Differenz gesprochen werden. Interkulturalität müsse im Kontext geographischer Forschung „als das Ergebnis gegenseitiger Bemühung gesehen werden, verbindende Elemente zu finden“ (Escher, Lahr & Petermann 2007, S. 39). Sie könne nur dann ent- und bestehen, wenn zwischen den beteiligten Personen eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe stattfindet. (5) Eine intensive Diskussion um Interkulturalität findet in der Geographiedidaktik statt. Dabei liegt ein zentraler Schwerpunkt auf dem Konzept des interkulturellen Lernens, welches als ein zentraler Aspekt des globalen Lernens definiert wird und in den nationalen Bildungsstandards für das Fach Geographie festgeschrieben ist. Ein vornehmliches Ziel interkulturellen Lernens ist es, interkulturelle Kompetenzen zu vermitteln und „das friedliche Zusammenleben in multikulturellen Gesellschaften zu fördern“ (Budke 2013, S. 161; Schrüfer 2010, S. 101f; Budke 2008, S. 16f ). Als problematisch wird jedoch angesehen, dass in der praktischen Umsetzung weder die theoretischen Grundlagen, noch die „Definitionen des zugrundeliegenden Kulturbegriffs“ (Budke 2013, S. 154) eindeutig geklärt sind. Aktuelle Ansätze und Erkenntnisse der geogra-
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Anton Escher und Elisabeth Sommerlad
Zusammenfassend wird ein wichtiges Desiderat bezüglich der Implementierung und Weiterentwicklung interkultureller Perspektiven in der Geographie deutlich: Alle genannten Ansätze zeigen, dass Interkulturalität in der geographischen Forschung ein zentrales Anliegen ist und im Rahmen unterschiedlicher Diskurse und (Forschungs-)Ansätze herangezogen wird. Es mangelt jedoch an eindeutigen Definitionen und Konzeptionen. Daher wäre es wünschenswert, dass in der Geographie ein theoretisch-analytisches Konzept der Interkulturalität entwickelt würde, das im Rahmen geographischer Fragestellungen routinemäßig herangezogen werden könnte. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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phiedidaktischen Forschung finden bislang wenig Eingang in Schulbücher, in denen weiterhin essentialistische Kulturdefinitionen dominierten. Analysen zeigen, dass im Rahmen der praktischen Umsetzung interkulturellen Lernens im Geographieunterricht drei Ziele vorherrschen: „Wissensvermittlung über fremde Kulturen, Vermittlung eines globalen Orientierungssystems im Sinne der Kulturerdteile und Information[en] über Problemursachen für Kriege und Integrationsprobleme von Migranten in Deutschland“ (Budke 2013, S. 158). Dabei wird häufig auf plakative Gegenüberstellungen von „Eigen-“ und „Fremdkulturen“ sowie Stereotype zurückgegriffen und somit eine „verkürzte Problemsicht“ (Budke 2013, S. 158) vermittelt.
Literatur
Barmeyer, Christoph (2011): Interkulturalität. In: Christoph Barmeyer; Petia Genkova & Jörg Scheffer (Hg.): Interkulturelle Kommunikation und Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Wissenschaftsdisziplinen, Kulturräume, 2. Aufl. Passau: Stutz, S. 37-77. – Budke, Alexandra (2008): Zwischen Kulturerdteilen und Kulturkonstruktionen – Historische und neue Konzepte des Interkulturellen Lernens im Geographieunterricht. In: Alexandra Budke (Hg.): Interkulturelles Lernen im Geographieunterricht. Potsdam: Univ.-Verl. Potsdam, S. 9-29. – Budke, Alexandra (2013): Interkulturelles Lernen im Geographieunterricht. In: Detlef Kanwischer (Hg.): Geographiedidaktik. Ein Arbeitsbuch zur Gestaltung des Geographieunterrichts. Stuttgart: Gebr. Borntraeger, S. 152-163. – Dirksmeier, Peter (2010): Die kulturelle Übersetzung als symbolische Gewalt. In: Soc. Geogr. 5, S. 1-10. Online verfügbar unter www.soc-geogr.net/5/1/2010/ [24.05.2016]. – Dirksmeier, Peter & Helbrecht, Ilse (2010): Intercultural interaction and „situational places“: a perspective for urban cultural geography within and beyond the performative turn. In: Soc. Geogr. 5, S. 39-48. Online verfügbar unter http://www.soc-geogr.net/5/39/2010/sg-5-39-2010.pdf [24.05.2016]. – Dirksmeier, Peter; Mackrodt, Ulrike & Helbrecht, Ilse (2011): Geographien der Begegnung. In: Geographische Zeitschrift 99 (2/3), S. 84-103. – Escher, Anton; Lahr, Matthias & Petermann, Sandra (2007): Angelegenheiten einer interkulturellen Geographie. In: Natur & Geist. Das Forschungsmagazin der Johannes Gutenberg-Universität 2007 (1), S. 39-41. – Rothfuß, Eberhard (2009): Intersubjectivity, intercultural hermeneutics and the recognition of the other – theoretical reflections on the understanding of alienness in human geography research. In: Erdkunde 63 (2), S. 173-188. – Scheffer, Jörg (2006): Europas Kulturunterschiede als Herausforderung für eine Geographie der Interkulturellen Kommunikation. In: Jörg Scheffer (Hg.): Europa und die Erweiterung der EU. Passau: Selbstverlag Fach Geographie der Univ. Passau (Passauer Kontaktstudium Erdkunde, 8), S. 23-29. – Schrüfer, Gabriele (2010): Förderung interkultureller Kompetenz im Geographieunterricht. Ein Beitrag zum Globalen Lernen. In: Gabriele Schrüfer & Ingrid Schwarz (Hg.): Globales Lernen. Ein geographischer Diskursbeitrag. Münster: Waxmann, S. 100-110.
Interkulturalität in den Wirtschaftswissenschaften
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26 Interkulturalität in den Wirtschaftswissenschaften John Siegel
Die Wirtschaftswissenschaften erforschen und lehren – heutzutage hochgradig arbeitsteilig – den Umgang mit knappen Gütern in menschlichen Gesellschaften. Dabei sind zwei Hauptdisziplinen zu unterscheiden, die recht unterschiedliche Schwerpunkte setzen. In der Volkswirtschaftslehre („Economics“) geht es um allgemeine wirtschaftliche Zusammenhänge, die oft stark aggregiert, theoretisch und mathematisch betrachtet werden. Die Betriebswirtschafts- bzw. Managementlehre („Business Administration“, „Management Science/Studies“ u.ä.) hat hingegen einen anderen Fokus. Ihr Untersuchungsobjekt sind Unternehmen (aber auch andere Organisationen) und die Akteure in ihnen, v.a. Führungskräfte bzw. Entscheidungsträger. Hinzu kommt eine Vielzahl von Teil- bzw. Interdisziplinen, die sich mit Themen an den Schnittstellen verschiedener Disziplinen beschäftigen, von denen eine den Wirtschaftswissenschaften zuzurechnen ist. Beispiele dafür sind die Wirtschaftsgeografie, -psychologie, -soziologie, -geschichte und -pädagogik.
1 Wirtschaftskulturen Interkulturalität spielt empirisch schon so lange eine Rolle, wie Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung miteinander in Wirtschaftsbeziehungen stehen, also Güter zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse untereinander austauschen und Handel treiben. Folglich ist Interkulturalität im Wirtschaftsleben eine anthropologische Konstante. Außerdem gibt es seit Jahrtausenden kontinuierlich mehr oder weniger umfassende Migrationsbewegungen, die selbstverständlich auch wirtschaftliche Folgen hatten und haben. Die Handelsbeziehungen in den frühen Hochkulturen und antiken Großreichen waren durch intensive Wirtschaftsbeziehungen zwischen unterschiedlichen Ethnien, Religionen usw. geprägt. Ein Beispiel sind die Berichte über die Reisen des Marco Polo aus der Weltliteratur – sie haben ihren Hintergrund in den globalen Handelsstrategien der Republik Venedig im Mittelalter und der frühen Neuzeit. Auch der Kolonialismus diente wirtschaftlichen Interessen und brachte vielfältige interkulturelle Herausforderungen und Erfahrungen mit sich. Die Wirtschaft der Gegenwart ist durch multinationale Unternehmen („global players“) und die Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen insgesamt geprägt – mit den entsprechenden praktischen Konsequenzen für die verschiedenen Akteure in der Wirtschaft. Trotzdem stellte der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser 2012 (S. 29f ) fest, dass kulturelle Aspekte in der Volkswirtschaftslehre eine marginale Rolle spielen: „Die Hauptströmung der Wirtschaftswissenschaften tut sich noch immer schwer mit dem Kulturbegriff. Einerseits entzieht er sich dem vorherrschenden, quantitativ-mathematischen Kalkül, ist oft nur durch dichte Beschreibungen sichtbar zu machen und lässt sich schon gar nicht in ein Akteursmodell rationaler Nutzenmaximierung integrieren. Andererseits sind Menschen kulturbegabte Wesen, die das Bedürfnis haben, neben sozialen und politischen auch wirtschaftliche Leitvorstellungen über die wesentlichen Bedingungen ihrer Existenz zu entwickeln. [...] Dabei wäre es höchste Zeit, die kul-
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turellen Bestimmungsgründe globalen wirtschaftlichen Handelns aus der exotischen Randzone herauszunehmen und sie wissenschaftlicher – gerade auch ökonomischer – Analyse zugänglich zu machen.“ Diese Einschätzung ist ebenso nachvollziehbar wie überraschend. Schließlich sind die modernen Wirtschaftswissenschaften von Anfang an mit der Prämisse entwickelt worden, dass der Außenhandel ein wesentlicher Bestandteil des Wirtschaftsgeschehens ist. Adam Smith und David Ricardo, die jeweils die Praxis des globalen Britischen Empire und die Theorien des Liberalismus vor ihrem geistigen Auge hatten, haben in ihren grundlegenden Werken vertreten, dass der Freihandel einen wichtigen Beitrag zur effizienten Ressourcenallokation und Bedürfnisbefriedigung leistet (Smith 1776) und dass Nationen unterschiedliche komparative Kostenvorteile haben (Ricardo 1817), also eine internationale Arbeitsteilung bei der Produktion von Gütern allgemein vorteilhaft sei. Diese ‚Säulenheiligen‘ waren aber auch Vertreter einer Kultur, die stark auf Individualismus, Streben nach Wohlstand und die Ideen der Aufklärung ausgerichtet war. Max Weber (1904/05) hat später mit seiner Studie zur „Protestantische[n] Ethik und de[m] ‚Geist’ des Kapitalismus“ die These aufgestellt, dass es insbesondere die religiöse Prägung der Protestanten (v.a. der Calvinisten) in England, Nordamerika und den Niederlanden war, die dem modernen Kapitalismus zum Durchbruch verholfen hat. Webers Theorie kann wohl auch als der erste einflussreiche Versuch betrachtet werden, langfristige und tiefgreifende ökonomische Entwicklungen mit kulturellen Einflussfaktoren zu erklären. Ähnliche Muster finden sich heutzutage beim Versuch, den Aufstieg Chinas zur wirtschaftlichen Weltmacht mit dem Konfuzianismus zu erklären. Stellvertretend für die Betrachtung von unterschiedlichen Wirtschaftskulturen ist hier eine beispielhafte Übersicht dargestellt, die typische Besonderheiten einzelner Länder thematisiert: Tabelle: Beispiele für idealtypische Merkmale von Wirtschaftskulturen (nach Abelshauser 2012, S. 40) Kulturelle Handlungsmuster
USA
Unternehmerischer kurzfristig Horizont
Deutschland
Japan
China
langfristig
langfristig
kurzfristig
Marktkoordination Einzelwirtschaftlich Korporationen und Große Finanzgrup- Familien und Verbände pen („Keiretsu“) Staat („Guanxi“) Finanzierung
Risikokapital
Geduldiges Kapital Geduldiges Kapital Staatskapital
Sparquote
Sehr niedrig
Hoch
Sehr hoch
Sehr hoch
Leitmärkte
„Franchising“
Nachindustrielle Maßschneiderei
Nachindustrielle Serienproduktion
Industrielle Serienproduktion
Ausstrahlung
(globaler) Standard „Rheinischer Kapitalismus“
Korea
Taiwan, Singapur, Malaysia
Abelshauser selbst weist darauf hin, dass diese typischen Zuordnungen nicht nur stark institutionell beeinflusst werden (z.B. von nationaler Gesetzgebung), sondern sich auch verändern und tendenziell annähern. Hinzu kommt, dass sich die Volkswirtschaftslehre zumindest punktuell damit beschäftigt, etwa die Auswirkungen kultureller Diversität auf die wirtschaftliche Entwicklung von Staaten, Regionen oder Städten zu untersuchen. Allerdings liegen diese Themen nicht gerade im Mainstream der Volkswirtschaftslehre, sondern sind eher an den Schnittstellen zu anderen Disziplinen zu finden (z.B. der Wirtschaftsgeografie).
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2 Interkulturalität in der Betriebswirtschaftslehre In der Betriebswirtschaftslehre bietet sich hingegen ein deutlich anderes Bild. Meissner (1997) konstatierte sogar einen „Kulturschock“ in dieser Disziplin: „Der Kulturschock hat nicht nur die Unternehmen getroffen, sondern auch die traditionelle Betriebswirtschaftslehre in ihrer Gesamtheit. Die traditionelle Entscheidungstheorie blendet kulturbezogene Anteile aus und konzentriert sich auf Kosten- und Ertragsverläufe, die unabhängig von kulturellen Einflussfaktoren messbar und optimierbar sind. Solche formalen, quantitativen Entscheidungsmodelle sind unter dem Eindruck der Europäisierung und Globalisierung, zunehmender Outside/In-Orientierung, des wechselnden Wertesystems der Verbraucher, der zunehmenden Sensibilisierung der Mitarbeiter sowie vor dem Hintergrund des Trends zu mehr Kooperation und Zusammenarbeit bei den Unternehmen zu eng und nicht hinreichend komplex, um die nachhaltigen Auswirkungen auf die betrieblichen Entscheidungsprozesse angemessen abbilden und damit gestalten zu können. An die Stelle einer eindimensionalen ökonomischen Rationalität muss eine kulturbewusste vieldimensionale Rationalität von Entscheidungsprozessen treten [...]. Die Kultur muss als ein notwendiger Systembestandteil in den Informations-, Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen der Unternehmen berücksichtigt und integriert werden. Mit dieser Einbeziehung der Kultur in die Betriebswirtschaftslehre entsteht ein deutlicher Paradigmawechsel [sic], der die Betriebswirtschaftslehre aus ihrer reduktionistischen, quasi naturwissenschaftlichen Orientierung heraus holt, um sie stattdessen einzubinden in die Komplexität, Vielfalt und auch in das Konfliktpotenzial unterschiedlicher Kultursysteme“ (Meissner 1997, S. 11). Einige Erklärungen für diese Neubewertung in der Betriebswirtschaftslehre und den damit verbundenen Bedeutungsgewinn von Interkulturalität beziehungsweise stärkeren Bewusstsein über deren Einfluss in Unternehmen liegen auf der Hand: Aufgrund der immer weiter gehenden „Internationalisierung“ der wirtschaftlichen Verflechtungen (typische Schlagworte sind „Europäische Integration“, „Globalisierung“ und „Weltwirtschaft“) ist Interkulturalität eine immer wichtiger werdende Rahmenbedingung unternehmerischen Handelns. Das wird beispielsweise in Kooperationsbeziehungen deutscher mit ausländischen Unternehmen deutlich, vor allem jedoch durch die Präsenz deutscher Unternehmen in Märkten weltweit. Dabei geht es nicht nur um Absatzmärkte, sondern auch um Beschaffung, Produktion sowie Forschung und Entwicklung. Aufgrund des demografischen Wandels in Deutschland sind Unternehmen darüber hinaus gezwungen, sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass die Bevölkerung tendenziell nicht nur „weniger“ und „älter“, sondern auch „bunter“ – also kulturell vielfältiger wird. Das wirkt sich sowohl auf die Absatzmärkte (bzw. sich verändernde Nachfrage und Kundenerwartungen) aus, als auch auf den Arbeitsmarkt, z.B. in Ballungszentren. Daraus folgt auch eine zunehmende kulturelle Diversität der Belegschaft, auf die Unternehmen reagieren müssen, vor allem – aber keineswegs ausschließlich – im Personalmanagement. Verstärkt wird diese Tendenz durch neue rechtliche Rahmenbedingungen, beispielsweise durch das seit 2007 gültige Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG), das auch für Unternehmen gilt, zu einer intensiven Beschäftigung mit der Vermeidung von Diskriminierung geführt und den Ideen des „Diversity Management“ erheblichen Auftrieb verliehen hat. Dabei darf jedoch keinesfalls übersehen werden, dass der Zweck von Unternehmen (zumindest im kapitalistischen Wirtschaftssystem) darin besteht, Erträge auf das von Investoren bereitgestellte Kapital zu generieren bzw. den Unternehmenswert zu steigern. Betriebswirtschaftlich müssen sich daher Bemühungen, interkulturelle Potentiale zu nutzen (oder auch Probleme zu lösen) daran messen lassen, ob sie einen Beitrag zum ökonomischen Erfolg des Unternehmens leisten bzw. dessen Wettbewerbsvorteile verbessern und sichern. Allerdings wird heute sehr
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deutlich sowohl in der Theorie als auch in der Praxis des Managements wahrgenommen, dass Unternehmen offene soziale Systeme sind, die erheblichen Umwelteinflüssen ausgesetzt sind (z.B. dem allgemeinen gesellschaftlichen Wertwandel) und einer Vielzahl von teilweise auch widersprüchlichen Erwartungen unterschiedlicher Anspruchs- und Interessengruppen („Stakeholder“) gerecht werden müssen. Diese Offenheit hat auch dazu beigetragen, dass Diversity im allgemeinen und kulturelle Vielfalt („cultural diversity“) im Besonderen eine höhere Aufmerksamkeit in der Unternehmensführung erlangen. Hinzu kommen aber noch ganz praktische Aspekte: Führungskräfte und Beschäftigte in Unternehmen stehen aufgrund der beschriebenen Rahmenbedingungen häufiger vor Herausforderungen, die ohne interkulturelle Kompetenz nicht erfolgreich zu bewältigen sind. Deren potentielle Bandbreite ist enorm: sie reicht von der Verhandlungsführung mit Geschäftspartnern aus anderen Kulturen über das internationale Projektmanagement bis hin zu Konflikten innerhalb kulturell vielfältiger Teams. Diese Herausforderungen gibt es tausendfach jeden Tag in ganz unterschiedlichen Konstellationen – und daraus resultiert eine enorme Nachfrage an Produkten (z.B. Ratgeberbücher) und Dienstleistungen (Weiterbildungsseminare, Coaching, Beratung usw.). Das entsprechende Angebot ist nicht nur unüberschaubar, sondern bedarf auch der wissenschaftlichen Fundierung, Analyse und Weiterentwicklung. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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3 Einflussreiche Kulturkonzepte Um die Auseinandersetzung mit Interkulturalität in den Wirtschaftswissenschaften und vor allem der Managementlehre nachvollziehen zu können, empfiehlt sich ein Blick auf die einflussreichen Kulturkonzepte und entsprechende Untersuchungen der jüngeren Vergangenheit – zumal sie Forschung und Lehre zu interkulturellen Themen in der Gegenwart maßgeblich prägen. Edward Halls (1989a,b) Konzept von Kontext, Zeit und Raum unterscheidet zunächst so genannte „high-context“- von „low-context-Kulturen“. Den ersten werden jene Kulturen zugeordnet, in denen nonverbale und indirekte Kommunikation praktiziert und ein breites Hintergrundwissen (Kontext) vorausgesetzt wird, während letztere durch direkte und explizite Kommunikation sowie die Verwendung möglichst vieler Informationen gekennzeichnet ist. In zeitlicher Hinsicht unterscheidet Hall monochronische (Dinge werden strukturiert, gut organisiert nacheinander abgearbeitet; es wird Pünktlichkeit erwartet) von polychronischen Kulturen („multitasking“, spontane Veränderungen; Unpünktlichkeit wird eher akzeptiert). Darüber hinaus wird ein mehr (häufige Berührungen und geringe räumliche Distanz) von einem weniger (Körperkontakt und Nähe werden abgelehnt bzw. als unangenehm empfunden) kontaktfreudigen Raumverständnis unterschieden (vgl. Hall 1989a,b). Sehr einflussreich waren die empirischen, auf einer sehr breiten Datenbasis beruhenden Studien von Geert Hofstede, die insbesondere in dem global tätigen Unternehmen IBM durchgeführt wurden. Er unterscheidet fünf Kulturdimensionen (vgl. Hofstede et al. 2012): • Machtdistanz (Akzeptanz ungleicher Machtverteilung), • Unsicherheitsvermeidung (Gefühl der Bedrohung in unsicheren und unbekannten Situationen), • Individualismus/Kollektivismus (Erwartungen des Individuums oder der Gruppe werden stärker beachtet, Intensität und Pflege von Beziehungen), • Maskulinität/Feminität (klare und getrennte oder homogenere, vermischte Geschlechterrollen), • Kurz-/Langfristorientierung (Gegenwartsbezug, Traditionen und Gesichtswahrung vs. Beharrlichkeit, Ausdauer und langfristiger Nutzen).
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Auch wenn die empirischen Grundlagen für diese Einteilung – insbesondere in methodischer Hinsicht – kritisiert wurden, gehören diese Dimensionen zweifellos zum Standardrepertoire der wirtschaftswissenschaftlichen Beschäftigung mit Interkulturalität. Ähnliches gilt für Alfons Trompenaars Typologie, die zwar einige Überschneidungen mit Hofstede aufweist, aber auch andere Aspekte in den Blick nimmt. Die Dimensionen Individualismus vs. Kollektivismus und Serealität vs. Parallelität ähneln den entsprechenden Kategorien von Hofstede. Darüber hinaus bzw. davon abweichend unterscheidet Trompenaars (vgl. Trompenaars & Hampden-Turner 2012): • Universalismus vs. Partikularismus: Während in universalistischen Gesellschaften Regeln und eine gleichmäßige Vorschriftenbefolgung eine hohe Relevanz haben, wird in partikularistischen Kulturen eher auf Beziehungen und deren Entwicklung Wert gelegt und bei der Regelbefolgung differenziert. • Neutralität vs. Emotionalität: Damit ist gemeint, ob Emotionen in einer Kultur öffentlich gezeigt werden dürfen oder unterdrückt werden müssen, also eher ein selbstdiszipliniertes und zurückhaltendes Verhalten erwartet wird oder Gefühle eher ausdrucksstark (v.a. nonverbal) kommuniziert werden. • Spezifität vs. Diffusion: In einigen Kulturen werden Arbeits- und Privatleben strikt getrennt, und es herrscht eine relativ hohe Präzision und Direktheit in der Kommunikation. Hingegen ist diese bei diffusen Kulturen eher indirekt und situationsabhängig; Arbeit und Privates sind deutlich weniger strikt getrennt. • Leistung vs. Herkunft: Diese Dimension stellt darauf ab, ob der Status einer Person gegeben ist oder erarbeitet werden muss bzw. kann. In leistungsorientierten Gesellschaften hängen Karrierechancen, beruflicher Erfolg und Anerkennung eher von der individuellen Leistung (etwa in der alltäglichen Aufgabenerfüllung in einem Unternehmen) ab, in herkunftsorientierten Kulturen wird der Status eher durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie oder Gruppe, die hierarchische Stellung oder auch einen höheren formalen Bildungsabschluss bestimmt und nicht (primär) durch die Leistung im Sinne von Arbeitsergebnissen. • Interne vs. externe Kontrolle: Hier geht es darum, ob ein Fokus auf die Person selbst, die Gruppe oder auf die Organisation gerichtet ist und die Umwelt als beeinflussbar betrachtet wird – oder ob eine Anpassung an die Umwelt stattfindet (auf die auch intensiv geachtet wird) sowie Harmonie und Anpassungsfähigkeit als wichtig gelten. Viel zitiert werden die Ergebnisse der auf ähnlichen Kategorien beruhenden GLOBE-Studie (House et al. 2004). Jedenfalls fällt auf, dass oft mit Klassifikationen und Typologien bezüglich unterschiedlicher Wertorientierungen und Verhaltensweisen gearbeitet wird. Die Urheber solcher Typenbildungen weisen regelmäßig darauf hin, dass es sich jeweils um Pole auf einem breiten Spektrum von möglichen Verhaltensweisen und Wertorientierungen handelt, weil die Versuchung naheliegt, unzulässig zu generalisieren. Das gilt insbesondere für die Zuordnung von Ländern zu den Typen. Die Attraktivität dieser Ansätze gerade für die Managementlehre lässt sich nicht nur mit der Komplexitätsreduktion, sondern auch mit der Möglichkeit erklären, dass für „Kulturtypen“ und Länder spezifische Handlungsempfehlungen entwickelt werden, bei deren Befolgung sich die Wahrscheinlichkeit erhöhen soll, wirtschaftlich erfolgreich in unterschiedlichen Kontexten agieren zu können. Nicht zuletzt deshalb haben sie auch in anderen Disziplinen Wirkung entfaltet und werden oft nicht als (zumindest teilweise) wirtschaftswissenschaftliche Konstrukte betrachtet.
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4 Diversity Management und Funktionen des interkulturellen Managements Interkulturalität ist eine wichtige, aber nur eine unter mehreren Facetten von Vielfalt (wie Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung, Religion, Behinderung), die seit den 2000er Jahren auch in Deutschland unter der Überschrift „Diversity Management“ integriert werden. Diese Entwicklung wurde durch das Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes befördert, dürfte seine Ursachen aber eher in der Verschärfung des Wettbewerbs am Arbeitsmarkt haben, wo entsprechende Initiativen z.B. Vorteile bei der Rekrutierung, Mitarbeiterzufriedenheit und Beschäftigtenbindung versprechen. Des Weiteren streben Unternehmen damit besseren Zugang zu bestimmten Marktsegmenten, eine höhere Kreativität und vor allem Erfolg bei internationalen Aktivitäten an, um nur einige Gründe zu nennen. Organisationstheoretisch liegen jedoch auch noch andere Erklärungshypothesen nahe: Demnach geht es beim Diversity Management im Allgemeinen und beim interkulturellen Management im Besonderen auch um die Erfüllung von Legitimationsbedürfnissen von Unternehmen gegenüber wesentlichen Anspruchsgruppen, die Anpassung an allgemeine Entwicklungen in vergleichbaren Organisationen (Isomorphismus), professionelle Standards in Personalmanagement und Führung oder die Erfüllung von rechtlichen und vertraglichen Vorgaben („Compliance“). Ansätze des „Cultural Diversity Management“ sind in der Literatur sehr ausdifferenziert, auf verschiedene Managementfunktionen und -situationen hin konzipiert und zumindest teilweise auch recht gut empirisch untersucht worden. Einen Überblick zum Zusammenhang zwischen Interkulturalität und Führung bietet beispielsweise die Metaanalyse von Silvia Schön (2013). Die Themenvielfalt im interkulturellen Management ist zu groß, um sie hier vertiefen zu können. Dazu gehören etwa interkulturelle Kommunikation, Motivation im interkulturellen Kontext, Personalauswahl, -entwicklung und -ausbildung, interkulturelle Kompetenz, interkulturelle Zusammenarbeit in Teams und Projekten, in Forschung und Entwicklung, interkulturelle Aspekte von Unternehmensfusionen und -übernahmen, Organisationskultur, -entwicklung und -strukturen in multinationalen Unternehmen und vieles mehr. Zur Vertiefung sei unter anderen auf die aktuellen Lehrbücher von Engelen (2014), Koch (2012) und Rothlauf (2013) sowie den etwas älteren, aber empfehlenswerten Sammelband von Bergemann und Sourissaux (2002) und den Reader von Dumetz et al. (2012) verwiesen.
5 Fazit Während die Volkswirtschaftslehre Interkulturalität und deren Folgen eher peripher betrachtet, hat sich die Betriebswirtschaftslehre vor allem im Zusammenhang mit interkulturellem beziehungsweise Diversity Management dieses Themas und der damit verbundenen Herausforderungen recht weit geöffnet. Dafür spricht nicht nur die Vielzahl einschlägiger Publikationen, sondern auch die Verankerung entsprechender Lehrinhalte in Studiengängen. Hier boten und bieten sich für die Interkulturelle Pädagogik interessante Anknüpfungspunkte, beispielsweise in der beruflichen Bildung, der wirtschaftswissenschaftlichen Hochschullehre, aber auch in der Fort- und Weiterbildung. Allerdings wäre es fatal, wenn Interkulturalität in der Wirtschaft auf die Vermeidung von Diskriminierung oder auf Trainings zur (vermeintlichen) Erhöhung interkultureller Kompetenz reduziert würde. Hier sind sowohl die Wirtschaftswissenschaften als auch die Praxis in Unternehmen schon deutlich weiter, von der pädagogischen Theorie und Praxis ganz zu schweigen. Tatsächlich kann man zu dem Eindruck gelangen, dass das Thema Interkulturalität Ausdruck einer gewissen Öffnung der Wirtschaftswissenschaften jenen Disziplinen gegenüber ist, die sich ebenfalls – wenn auch aus anderen Perspektiven und Gründen – damit
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beschäftigen. Gerade die Nachfrage aus der Wirtschaft nach entsprechenden Handlungsempfehlungen schafft die Möglichkeit, Ressourcen für die anwendungsorientierte Forschung und Lehre in den Wirtschaftswissenschaften, aber auch anderen Disziplinen zu generieren und den wissenschaftlichen Erkenntnissen – nicht zuletzt der Interkulturellen Pädagogik – praktische Relevanz zu verschaffen.
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Literatur
Abelshauser, Werner (2012): Ricardo neu denken. In: Werner Abelshauser; David Gilgen & Andreas Leutzsch (Hg.): Kulturen der Weltwirtschaft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 29-58. – Bergemann, Niels & Sourisseaux, Andreas (Hg.) (2002): Interkulturelles Management. 3. Aufl. Berlin: Springer. – Dumetz, Jerome; Trompenaars, Alfons; Belbin, Meredith; Covey, Stephen M. R.; Hampden-Turner, Charles; Saginova, Olga; Woolliams, Peter; Storti, Craig; Tournand, Juliette; Schmitz, Joerg & Foster, Dean (2012): Cross-cultural management textbook: Lessons from the world leading experts. Lexington: CreateSpace. – Engelen, Andreas & Tholen, Eva (2014): Interkulturelles Management. Stuttgart: Schäffer-Poeschel. – Hall, Edward T. (1989a): Beyond Culture. New York: Anchor Books. – Hall, Edward T. (1989b): The Dance of Life: The Other Dimension of Time. New York: Anchor Books. – Hofstede, Geert; Hofstede, Gert Jan & Minkov, Michael (2010): Cultures and Organizations. Software of the Mind: Intercultural Cooperation and Its Importance for Survival. 3. Aufl. New York: McGraw-Hill. – House, Robert; Hanges, Paul J. & Javidan, Mansour (2004): Culture, Leadership, and Organizations: The Globe Study of 62 Societies. Thousand Oaks CA: Sage. – Koch, Eckart (2012): Interkulturelles Management: Für Führungspraxis, Projektarbeit und Kommunikation. Konstanz: UVK Lucius (UTB). – Meissner, Hans G. (1997): Der Kulturschock in der Betriebswirtschaftslehre. In: Johann Engelhard (Hg.): Interkulturelles Management, Wiesbaden: Gabler, S. 1-14. – Ricardo, David (1817): Über die Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung. (Reprint: Metropolis, Marburg 2006). – Rothlauf, Jürgen (2012): Interkulturelles Management: Mit Beispielen aus Vietnam, China, Japan, Russland und den Golfstaaten, 4. Aufl. München: Oldenbourg. – Schön, Silvia (2013): Cultural Diversity Management und Leadership. Eine bibliometrische Analyse (1991–2010). Marburg: Tectum. – Smith, Adam (1776): Über den Wohlstand der Nationen: Eine Untersuchung über seine Natur und seine Ursachen. (Reprint: Beck Verlag, München 1974). – Trompenaars, Alfons & Hampden-Turner, Charles (2012): Riding the Waves of Culture: Understanding Cultural Diversity in Business, 3. Aufl. London: Nicholas Brealey. – Weber, Max (1904/05): Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 20 (1904), 1–54 und 21 (1905), S. 1-110.
27 Perspektiven der Philosophie(n) Franz Martin Wimmer
Als akademisches Fach ist Philosophie weltweit etabliert, aber vorwiegend in einer regionalen, nämlich in ihrer okzidental ausgebildeten Form. Wer über Ethik spricht und dabei lediglich okzidentale Denker und Begriffe anführt, muss das nicht westliche oder abendländische Ethik nennen – obwohl es sich genau darum handelt. Wenn aber jemand beim selben Thema lediglich afrikanische – oder chinesische oder islamische usw. – Denker und Begriffe anführen würde, so wäre der regionale Marker sicher zu erwarten, das wäre dann also wohl afrikanische (oder chi-
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nesische, islamische usw.) Ethik. Das kultur-regionale Adjektiv scheint im einen Fall überflüssig zu sein, in den anderen Fällen notwendig oder wenigstens zu erwarten. Berechtigt ist aber ein derartiges Sprachverhalten nur dann, wenn man voraussetzen dürfte, dass Ethik – und Philosophie im Allgemeinen – im strengen Sinn ein exklusiv okzidentales Geistesprodukt ist. Diese Voraussetzung wird bestritten, wenn von einer interkulturellen Orientierung der Philosophie die Rede ist. Es geht damit nicht nur darum, dass afrikanische, chinesische, islamische usw. Philosophie ebenso Philosophie ist wie die okzidentale, sondern letztlich darum, dass in einer globalen Welt Probleme philosophisch so zu verhandeln sind, dass in allseitig gleichberechtigten Argumentationsverfahren zwischen kulturell different geprägten Traditionen – in Polylogen – Lösungen gesucht werden.
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1 Geschichtlichkeit und Kulturalität von Philosophie(n) Eine Diskursrichtung, die sich aufgrund dieser Situation entwickelt, wird als interkulturelle Philosophie (vgl. Wimmer 2004; Schelkshorn 2011) bezeichnet, was daran denken lassen könnte, dass es sich um etwas handelt, was insbesondere mit Interkulturalität befasst sei. Dem ist nicht so. Interkulturelle Philosophie ist prinzipiell Philosophie und in diesem Sinn hat sie keine besonderen Themen oder Schwerpunkte. Sie kann und soll ethische wie erkenntnistheoretische, ontologische, logische Fragen zum Gegenstand machen. Nach ihrem allgemein philosophischen Beitrag ist sie auch zu beurteilen. Allerdings gibt es Gründe, warum gerade bestimmte Themen häufig in den Sinn kommen, wenn etwa seit den 1990er Jahren von einer interkulturellen Orientierung in der Philosophie die Rede ist und diese im universitären Raum zunehmend wahrnehmbar ist (vgl. Schirilla 2011). Da ist zuerst die Philosophiehistorie. Im Betreiben akademischer Philosophie weltweit spielen philosophiehistorische Themen und Fragen eine so große Rolle, wie das für andere Wissenschaften untypisch ist, und das gilt für beinahe alle philosophischen Schulen. Es gilt selbst als philosophische Tätigkeit, Texte von (anderen) Philosophen zu interpretieren und zu kommentieren. Das versteht sich nicht von selbst, es war oder ist auch nicht weltweit in allen historischen Stadien von Philosophie gleichermaßen der Fall. Seit der Zeit der Aufklärung – und im Zusammenhang mit Kolonialismus und Kulturimperialismus – wurde zudem ein ausschließlich okzidentaler Kanon philosophischer Autoritäten etabliert. In einem solchen Kontext ist es dann schon eine kleine Revolution, wenn Texte und Denker aus der Geschichte der Philosophie verschiedener Weltregionen wahrgenommen werden. Diese Frage nach den anderen Stimmen aus der Weltgeschichte des philosophischen Denkens ist ein Merkmal interkulturell orientierter Philosophie. Dabei ist die im 20. Jahrhundert entstandene komparative oder kulturvergleichende Philosophie weiter zu entwickeln – sofern diese bislang vor allem Vergleiche ost- und südasiatischer mit okzidentaler Philosophie praktiziert hat –, es sind prinzipiell alle Weltregionen in den Blick zu nehmen, wobei die Diskurse der letzten Jahrzehnte über afrikanische, islamische und lateinamerikanische Philosophie besonders bedeutsam sind (vgl. Dussel 2010). Über bloße Vergleiche in Richtung auf inhaltliche Auseinandersetzungen hinauszugehen, ist zudem notwendig (vgl. Wimmer 2009). Die Entwicklung von Standards der Forschung und von Lehrmaterialien in dieser Richtung steckt allerdings noch in den Kinderschuhen. Ein zweiter Themenbereich hat mit Fragen der Kulturtheorie, mit Verstehen und Differenz, Universalität und Partikularität, Identität und Fremdheit zu tun. Solche Fragen sind einerseits Gegenstand mehrerer Wissenschaften, und andererseits ist Philosophie – somit auch interkulturelle Philosophie – keineswegs darauf zu beschränken. Aber interkulturell orientierte Philosophie macht hier auf einen wesentlichen Sachverhalt aufmerksam: Philosophie ist stets (auch)
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2 Interkulturelle Hermeneutik
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kulturell disponiert. Wenn sie zugleich allgemeingültige Aussagen intendiert, steht sie in einer Situation, die als „Dilemma der Kulturalität“ zu benennen ist: Wissend, dass ihre (sprachlichen, ihre begrifflichen, sogar ihre logischen) Mittel „kulturell“ (und nicht überkulturell oder universell) geprägt sind, strebt sie doch mit solchen stets kulturell ermöglichten, aber auch kulturell begrenzten Mitteln zu Universellem. Tatsächlich ist philosophisches Denken stets kulturell geprägt, es äußert sich in bestimmten Sprachen, mit bestimmten kulturellen Mitteln, entwickelt sich in bestimmten kulturellen Situationen. Es macht daher Sinn, von griechischer, chinesischer, abendländischer, oder auch von deutscher oder französischer Philosophie zu sprechen, und damit neben der Sprache auch noch andere kulturelle Eigenheiten zu meinen. Nicht überall und jederzeit werden dieselben Fragestellungen entwickelt, gelten dieselben begrifflichen Muster als evident, sind dieselben Argumentationsformen überzeugend. Dennoch kennzeichnet es die Philosophie überall und jederzeit, Universalität ihrer Thesen anzustreben.
Es gibt theoretisch zwei Optionen, dieses Dilemma zu ignorieren. Eine läge darin, das Intendieren von Allgemeingültigkeit zu leugnen, hingegen die Kulturgebundenheit von Philosophie, damit aber zugleich deren Kulturbegrenztheit anzunehmen. Das Fatale dabei wäre, dass nur mehr „innerhalb“ von jeweils anerkannten „Kulturen“ überhaupt diskutiert, kritisiert, argumentiert werden könnte. Die andere Option, dem Dilemma zu entgehen, läge im Bestreiten oder Leugnen der Kulturalität einer Tradition und im Behaupten von deren akultureller Universalität. Dies war das bevorzugte Selbstverständnis der okzidentalen Philosophie der europäischen Neuzeit, oft explizit formuliert und noch öfter stillschweigend vorausgesetzt. In keinem der beiden Fälle findet eine ernsthafte Interaktion zwischen Philosophietraditionen unterschiedlicher kultureller Prägung statt. Das „inter-“ der interkulturellen Philosophie bedeutet hingegen, dass eine Kommunikation angestrebt wird, die „zwischen“ kulturell different geprägten Philosophien stattfindet: gegenseitige Beeinflussung, Kritik und Anregung. Wie das geschehen soll, welche Methoden und Theorien dazu nötig oder ausreichend sind, wird von einzelnen Autoren unterschiedlich formuliert. Der notwendige erste Schritt ist dabei ein gegenseitiges Verstehen, also eine angemessene Hermeneutik, auf deren Grundlage inhaltliche Dialoge oder Polyloge (Wimmer 2004) stattfinden können. Ram Adhar Mall spricht von der Notwendigkeit einer „analogischen“ Hermeneutik, die er einerseits von einem „Identitätsmodell“, andererseits von einer „Hermeneutik der totalen Differenz“ abgrenzt. Dem gegenüber sieht er die Möglichkeit einer Hermeneutik, die „von den aus vielerlei Gründen vorhandenen Überlappungen“ ausgeht und damit der starken „Identitätstendenz der Moderne“ wie der ebenso starken „Differenzthese der Postmoderne“ den Stachel nimmt (Mall 2002, S. 275f ). Konkret weiterführend sind Vorschläge, wie sie Elmar Holenstein mit seinen „Daumenregeln zur Vermeidung interkultureller Missverständnisse“, Gregor Paul unter dem Titel einer „normativen Methodologie der komparativen Philosophie“ oder Raimon Panikkar mit dem Konzept „homöomorphischer“ oder „funktionaler Äquivalente“ gemacht haben. Holenstein geht von einem „Prinzip der hermeneutischen Fairness (‚Billigkeit‘)“ aus und bezieht sich grundlegend auf das sogenannte „Rationalitätsprinzip“: Nur unter der Annahme, dass ein logischer Zusammenhang zwischen einzelnen sprachlichen Äußerungen besteht, können wir ausschließen, dass sie nichts weiter sind als bloße akustische Vorkommnisse. Ich will nur einige der „Regeln“ kurz andeuten. Die Menschlichkeitsregel besagt: „Bevor man Menschen aus einer anderen Kultur sinnloses, unnatürliches, unmenschliches oder unmündiges Verhalten und entsprechende Wertvorstellungen unterstellt, zweifelt man fürs Erste besser an der Zulänglichkeit
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des eigenen Verstandes und Wissenshorizontes.“ Dem entsprechen die „Nos-quoque-“ und die „Vos-quoque-Regel“, wobei erstere lautet: „Nicht nur die anderen, ‚auch wir‘ (nos quoque) verhalten uns der Tendenz nach unter gleichen Bedingungen gleich.“ Derartige Regeln können helfen, voreilige Stereotype zu vermeiden. Sie garantieren nicht Verstehen, sind aber geeignet, Missverstehen zu reduzieren (vgl. Holenstein 1998). In gleicher Zielsetzung formuliert Paul vierzehn methodologische Regeln für eine interkulturelle Hermeneutik, wobei er überdies auf die Vermeidung von Kategorienfehlern (‚Gleiches mit Gleichem‘ vergleichen) und auf die Notwendigkeit der Annahme universaler Prinzipien der Logik verweist (vgl. Paul 2000). Panikkars Vorschlag geht auf die ähnliche Wirkung oder Funktion von Ideen, Begriffen aus: „Die homöomorphischen Äquivalente sind nicht bloße wörtliche Übersetzungen, noch übersetzen sie einfach die Funktion, die das Wort […] auszufüllen vorgibt, sondern sie geben eine Funktion zu verstehen, die der vermeintlichen Rolle [des fraglichen Wortes, FMW] entspricht. Es handelt sich also um kein begriffliches, sondern um ein funktionales Äquivalent …“ Nicht Wort- und Begriffsentsprechungen wären hier in erster Linie zu suchen, sondern Entsprechungen zwischen den Intentionen kulturell differenter Diskurse (vgl. Panikkar 1998).
3 Aufgaben Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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In praktischer Hinsicht ergeben sich in mehreren Bereichen der Philosophie Möglichkeiten und Aufgaben. Für den Unterricht in diesem Fach wird die Erarbeitung von Materialien entscheidend sein, welche die Vermittlung von wirklich globaler Geschichte der Philosophie möglich machen. Vergleichbare Materialien gibt es auch in anderen Fächern erst in Einzelfällen (vgl. Woolf 2001), in der Philosophie sind sie aufgrund ihrer stark historischen Ausrichtung von besonderer Bedeutung. Eine zweite Aufgabe kommt interkultureller Philosophie insofern zu, als sie Methoden einer kulturell sensiblen Hermeneutik entwickeln kann, die nicht nur für fachspezifische Texte, sondern für das Verstehen von Sinnsachverhalten der eigenen wie auch anderer kultureller Traditionen eine Voraussetzung ist. Drittens sollte philosophische Bildung auch daran gemessen werden, wie sie nicht nur Verstehen, sondern „Verständigungskultur“ (Bartsch 2009) befördert und praktiziert. Sofern sich eine interkulturell orientierte Philosophie auch in der Praxis des Philosophierens grundsätzlich als dialogisch oder polylogisch versteht, kann sie dazu beitragen, solche Fähigkeiten auch in anderen Bildungsbereichen zu fördern. Literatur
Bartsch, Martin (2009): Gesellschaftlicher Dialog im Klassenzimmer: Didaktische Implikationen interkultureller Hermeneutik im Fach Praktische Philosophie. Berlin: LIT Verlag. – Dussel, Enrique (2010): Eine neue Epoche in der Geschichte der Philosophie: Der Weltdialog zwischen philosophischen Traditionen. In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, 24 (2010), S. 47-64. Online verfügbar unter http://www.polylog.net/fileadmin/ docs/polylog/24_forum_Dussel.pdf [18.07.2017]. – Holenstein, Elmar (1998): Ein Dutzend Daumenregeln zur Vermeidung interkultureller Missverständnisse. In: Elmar Holenstein: Kulturphilosophische Perspektiven. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 288-312. Online verfügbar unter http://them.polylog.org/4/ahe-de.htm [20.01.2017]. – Mall, Ram Adhar (2002): „Andersverstehen ist nicht Falschverstehen. Das Erfordernis einer interkulturellen Verständigung“. In: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): Verstehen und Verständigung. Ethnologie – Xenologie – interkulturelle Philosophie. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 273-289. – Paul, Gregor (2000): Komparative und interkulturelle Philosophie und ihr Szenario im deutschsprachigen Raum. In: Alois Wierlacher (Hg.): Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, 26. München: iudicium, S. 381-412. – Panikkar, Raimon (1998): Religion, Philosophie und Kultur. In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, (1), S. 13-37. Online verfügbar unter http://www.polylog.net/fileadmin/docs/polylog/01_thema_Panikkar.pdf [18.07.2017]. – Schelkshorn, Hans (2011): Interkulturelle Philosophie und der Diskurs der Moderne. Eine programmatische Skizze. In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren (25), S. 75-100. Online verfügbar unter http://www.polylog. net/fileadmin/docs/polylog/25_thema_schelkshorn.pdf [18.10.2017]. – Schirilla, Nausikaa (2011): Interkulturelles
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28 Interkulturalität in Medizin und Gesundheitswesen Mike Mösko Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Philosophieren im Studium der Philosophie. In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, (25), S. 3137. Online verfügbar unter http://www.polylog.net/fileadmin/docs/polylog/25_thema_schirilla.pdf [18.07.2017]. – Wimmer, Franz Martin (2004): Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung. Wien: WUV. – Wimmer, Franz Martin (2009): Interkulturelle versus komparative Philosophie – ein Methodenstreit? In: Zeitschrift für Kulturphilosophie, 3 (2), S. 305-312. – Woolf, Daniel (2001): A Global History of History. Cambridge: Cambridge University Press.
In der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurde bereits 1986 deklariert, dass die Gesundheitsversorgung sich an den kulturellen Bedürfnissen der Patienten orientieren und respektvoll gestaltet werden sollte. Wie schwer es offenbar ist, diese Zielsetzung zu erreichen, verdeutlicht eine Studie der Europäischen Kommission (Huber et al. 2008). Diese kommt zu dem Schluss, dass neben älteren Patient/innen sowohl die Patient/innengruppe der psychisch Kranken als auch die der Migrant/innen zu denjenigen Patient/innengruppen gehören, die für sich genommen die größten Barrieren im gesundheitlichen Versorgungssystem überwinden müssen. Dieser Beitrag stellt zunächst epidemiologische Grundlagen zum Thema Migration und Gesundheit dar. Daran anschließend werden relevante Aspekte der gesundheitlichen Versorgungsqualität von Patienten mit Migrationshintergrund (vgl. Definition des Statistischen Bundesamts 2009, S. 6) beleuchtet.
1 Epidemiologische Befunde zu Migration und Gesundheit Der Migrationsprozess ist mit einer Reihe spezifischer Stressoren verbunden, die sich negativ auf die Gesundheit auswirken können. Der „exhausted migrant effect“ (Bollini & Siem 1995) oder die Migration-Stress-Hypothese (Shuval 1993) besagen, dass sich der niedrigere Gesundheitsstatus von Migrant/innen gegenüber Einheimischen erklärt durch schlechtere Wohn- und prekäre Arbeitsbedingungen, das Zerbrechen familiärer und sozialer Rollen und Netzwerke im Heimatland sowie die soziale Isolation und das Gefühl der Entwurzelung im Aufnahmeland. Auf der anderen Seite finden sich Befunde, die die Theorie des Healthy-Migrant-Effekts unterstützen (Razum & Rohrmann 2002). Demnach sind Migrant/innen trotz zahlreicher Belastungsfaktoren nicht kränker, sondern gesünder als die Mehrheitsbevölkerung des Aufnahmelandes. Dies erkläre sich zum einen durch unterschiedliche Stile in der Lebensführung und durch unterschiedliche genetische und Umweltfaktoren. Darüber hinaus werden die Unterschiede erklärt
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durch selektive Migrationsprozesse, wonach Menschen mit einer guten körperlichen und psychischen Gesundheit eher migrieren bzw. aufgenommen werden, als Menschen, die unter gesundheitlichen Problemen leiden. So fanden im Zuge der Anwerbeabkommen in den 1950er und 60er Jahren beispielsweise systematische Gesundheitsuntersuchungen durch deutsche Behörden in den Heimatländern statt, die dazu führten, dass Migrant/innen bei schlechter körperlicher Gesundheit keine Arbeitserlaubnis für Deutschland erhielten. Die epidemiologische Datenlage über Gesundheitsbelastungen und -risiken von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland ist zum jetzigen Zeitpunkt sehr begrenzt. Allgemeine gesundheitliche Aussagen zu „den“ Migrant/innen bzw. zu einzelnen Herkunftsgruppen lassen sich aufgrund dessen sowie aufgrund der mangelnden Repräsentativität der untersuchten Stichproben nicht schlussfolgern. Dennoch finden sich Evidenzen, dass für bestimmte Teilgruppen (z.B. für Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit) und für bestimmte gesundheitliche Phänomene (wie z.B. Infektionserkrankungen, Übergewicht & Adipositas) ein erhöhtes Krankheitsrisiko besteht. Bei anderen Gesundheitsrisiken (z.B. Krebserkrankungen, Mütter- und Säuglingssterblichkeit) hat in den letzten Jahren eine Reduktion und Angleichung der Anzahl der Neuerkrankungen an die Mehrheitsbevölkerung stattgefunden. Für einzelne Migrant/innengruppen (z.B. Menschen mit türkischem Migrationshintergrund) finden sich bei einigen Indikationen (z.B. psychischen Störungen) erhöhte Krankheitshäufigkeiten gegenüber der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Für bedeutsame andere Erkrankungen wie koronare Herzerkrankungen oder Diabetes mellitus liegen für die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund zum jetzigen Zeitpunkt keine oder nur unzureichende Prävalenz- und Inzidenzdaten vor. Bei der Interpretation der Ergebnisse spielen sozioökonomische Faktoren eine wichtige Rolle. So konnten Hjern et al. (2004) verdeutlichen, dass bestehende gesundheitliche Ungleichheiten zwischen Migrant/innen und Nicht-Migrant/innen verschwinden, wenn der sozioökonomische Status kontrolliert wird. Der sozioökonomische Status kann eine Konsequenz des Migrationsstatus sein (z.B. durch einen geringeren Bildungsgrad im Heimatland) oder durch soziale Exklusion negativ beeinflusst werden (z.B. Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt). Bislang wird bei migrationsspezifischen Gesundheitsdaten der Einfluss solcher möglicher Hintergrundvariablen nicht ausreichend erfasst bzw. berücksichtigt.
2 Gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund Seit den 1980er Jahren arbeiten in Deutschland viele Akteure daran, die gesundheitliche Versorgung stärker auf die Bedürfnisse von Menschen mit Migrationshintergrund auszurichten. Im Rahmen des Prozesses der „Interkulturellen Öffnung“ im Gesundheitswesen wurden vielfältige Initiativen gestartet und Maßnahmen eingeleitet, um die Zugangsbarrieren für Menschen mit Migrationshintergrund und deren Angehörige zu verringern und somit eine gleiche gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Wegweisend für den Prozess der interkulturellen Öffnung der psychosozialen Versorgung waren in Deutschland die „12 Sonnenberger Leitlinien“ (Machleidt 2002), in denen u.a. Folgendes gefordert wurde: ein erleichterter Zugang zu Einrichtungen der psychosozialen Versorgung für Migrant/innen, interkulturell sensitives und kompetentes Personal mit heterogenem kulturellen Hintergrund, die Organisation und Nutzung psychologisch geschulter Dolmetscher/innen, die Bereitstellung von Informationsmaterial in verschiedenen Sprachen sowie spezifische interkulturelle Aus-, Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten.
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Um den Stand der Interkulturellen Öffnung und die empirischen Befunde zur gesundheitsbezogenen Versorgung von Migrant/innen in Deutschland übersichtlich darzustellen, orientieren sich nachfolgende Ausführungen an der in der Versorgungsforschung gebräuchlichen Einteilung in die Bereiche Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität.
Strukturelle Elemente der Interkulturellen Öffnung für Gesundheitseinrichtungen und -organisationen sind die Erstellung interkultureller Leitbilder, die Vernetzung mit Migrantenorganisationen und die Etablierung gezielter Ansprechpartner/innen (wie z.B. Integrationsbeauftragte). Ferner können Mitarbeitende mit Migrationshintergrund eingestellt, und eine Reihe von Maßnahmen angeboten werden: spezifische interkulturelle Fortbildungen, muttersprachliche Behandlungen, professionelle Dolmetscherdienstleistungen und mehrsprachige Informationsund Dokumentationsmaterialien. Einige dieser Aspekte werden hier näher betrachtet.
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2.1 Strukturqualität
Mitarbeiter/innen mit Migrationshintergrund im Gesundheitswesen Der Anteil ausländischer Erwerbstätiger auf dem deutschen Arbeitsmarkt beträgt 2012 insgesamt 9,5%. Im Gesundheitswesen liegt im Vergleichsjahr der Anteil sozialversicherungspflichtig Beschäftigter mit ausländischer Staatsangehörigkeit hingegen bei lediglich 4,2%. Die Quote schwankt bei den verschiedenen Berufsgruppen. So haben 3,6% der knapp 800 000 Pflegekräfte und Hebammen eine ausländische Staatsangehörigkeit. Bei den Krankenpflegehelfern sind dies 7,1% (Deutscher Bundestag 2012). Im Vergleich zu anderen Industrieländern hat Deutschland einen vergleichsweise niedrigen Anteil ausländischer Ärzt/innen. So liegt beispielsweise in den USA und Großbritannien der Anteil an Ärzt/innen, die im Ausland ausgebildet wurden, bei 30% bzw. 26%, in Deutschland bei ca. 9%. Die häufigsten Herkunftsländer der in Deutschland ansässigen ausländischen Ärzt/innen sind Rumänien, Griechenland, Österreich, Russland, Polen, Ungarn, Iran, Syrien und Bulgarien. Aufgrund der alternden Gesellschaft wird der bereits existierende Arbeitskräftemangel im Gesundheitssystem (Stichwörter: „Pflegenotstand“, „Landärztemangel“) in den kommenden Jahrzehnten an Bedeutung zunehmen. Neben der vereinfachten Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse versucht die Bundesagentur für Arbeit insbesondere ausländische Pflegekräfte anzuwerben, um dieser Entwicklung entgegenzutreten. Entsprechende Abkommen existieren bereits mit Kroatien, Serbien und den Philippinen. Zur Gewährleistung der sprachlichen Verständigung in der Gesundheitsversorgung gilt für ausländische Ärzt/innen, Zahnärzt/innen und Apotheker/innen als Zugangsvoraussetzung zum Versorgungssystem das allgemeine Sprachniveau „B2“ („Gutes Mittelmaß“) und ein Fachsprachenniveau der Stufe „C1“ („fortgeschrittene Kenntnisse“) nach dem Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen. Trotz der bereits vorhandenen Mitarbeiter/innen mit Migrationshintergrund im Gesundheitswesen und der genannten politischen Aktivitäten sind die regionalen Möglichkeiten für Patient/ innen mit Migrationshintergrund, eine/n Behandler/in aus dem eigenen Kultur- oder Sprachraum zu finden, noch immer sehr eingeschränkt. Verdeutlicht wird dies anhand einer flächendeckenden regionalen Versorgungsstudie bei ambulant tätigen Psychologischen Psychotherapeut/innen und Psychotherapeut/innen für Kinderund Jugendliche in Hamburg. Die fünf häufigsten Migrant/innengruppen der Psychotherapeut/ innen kamen dabei aus England, Österreich, der Schweiz, Polen und den Niederlanden, während die fünf häufigsten Migrant/innengruppen in der Bevölkerung zu der Zeit aus der Türkei, Polen, dem ehemaligen Serbien-Montenegro, Afghanistan und dem Iran kamen. Für einige
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Patient/innengruppen, die überhaupt nicht oder nicht in dem Ausmaß Deutsch sprachen, wie es für eine Psychotherapie notwendig ist, war es nicht möglich, eine/n Behandler/in ihres Sprachraumes zu finden (Mösko et al. 2013). Zu bedenken ist auch, dass die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte im Gesundheitswesen auf Seiten der Industrienationen kritische Konsequenzen für die Herkunftsländer haben kann. Durch die Abwanderung von Arbeitskräften fehlen diese Fachkräfte in ihren Heimatländern und schwächen dort die gesundheitliche Versorgung. Interkulturelle Kompetenz der Behandler/innen Bildungsmaßnahmen für Professionelle, die das Ziel verfolgen, die Arbeit mit kulturell diversen Patient/innen zu verbessern, fokussieren insbesondere in den USA das Konzept der interkulturellen Kompetenz. Eines der derzeit am weitesten verbreiteten Konzepte der interkulturellen Kompetenz im Gesundheitswesen ist das dreidimensionale Modell von Sue und Sue (1990), (siehe Abbildung 1). Dabei wird interkulturelle Kompetenz nicht als eine Eigenschaft verstanden, sondern vielmehr als ein fortwährender, aktiver, nichtlinearer Prozess. Die Inhalte und Methoden existierender interkultureller Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen für Mitarbeitende im Gesundheitswesen variieren international stark. Einige der Maßnahmen legen stärkeres Gewicht auf Selbsterfahrung und -reflexion im kulturellen Kontext, bei anderen geht es vorrangig um Wissensvermittlung. Einige Trainingskonzepte sind kulturübergreifend, einige kulturspezifisch.
Abb. 1: Komponenten Interkultureller Kompetenzen von Professionellen im Gesundheitssystem (in Anlehnung an: Mösko, M., Baschin, K., Längst, G. & von Lersner, U. (2012): Interkulturelle Trainings für die psychosoziale Versorgung – Bedarf, Konzepte und Herausforderungen. In: Psychotherapeut, 57, 15-21).
In Deutschland sind zwei Entwicklungstendenzen sichtbar: Zum einen werden interkulturelle Themen zunehmend in den Aus-, Fort- und Weiterbildungscurricula der Gesundheitsberufe integriert. Zum anderen gibt es vielfältige Bestrebungen, die Qualität dieser Angebote zu verbessern. So werden beispielsweise im Rahmen des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs
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Medizin (NKLM) Lernziele zur Interkulturellen Kompetenz für Medizinstudierende erarbeitet. In Anlehnung an eine kanadische Initiative wurden auch in Deutschland in einem sog. Konsensusverfahren Leitlinien für inter-/transkulturelle Kompetenztrainings in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Psychotherapeut/innen entwickelt (www.kultursensible-psychotherapie.de). Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen Laut dem vierten „Migrant Integration Policy Index“ (MIPEX) hat Deutschland in der Integrationspolitik in den letzten Jahren zwar Fortschritte erzielt (www.mipex.eu), beim Zugang zum Gesundheitssystem jedoch schneidet Deutschland mit Platz 22 von 38 schlecht ab. So zeigt sich beispielsweise bei der Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen von Kindern in Deutschland eine niedrigere Inanspruchnahmerate bei Familien bzw. Kindern mit Migrationshintergrund. Kinder der Allgemeinbevölkerung (in der vorliegenden Studie wurden hierunter Personen mit und ohne Migrationshintergrund gefasst) haben zu 82% die Untersuchungen U3 bis U9 vollständig durchlaufen, Kinder mit Migrationshintergrund nur zu 70,4% (Engels et al. 2011). Für den Bereich der stationären Rehabilitation von Patient/innen mit psychischen/psychosomatischen Störungen zeigt sich bei einer Studie mit insgesamt 25 066 Patient/innen von mehreren Kliniken, dass der Anteil der ausländischen Patienten (d.h. ohne deutsche Staatsbürgerschaft) bei 2,7% liegt. Vergleicht man diese Anteile mit den entsprechenden Anteilen an der erwerbstätigen Gesamtbevölkerung zum Erhebungszeitpunkt (8,2% für Ausländer/innen), so zeigte sich, dass ausländische Patient/innen in der psychosomatischen Rehabilitation deutlich unterrepräsentiert sind (Mösko et al. 2011). Angesichts der beschriebenen, mitunter erhöhten Gesundheitsrisiken und einer zum Teil erhöhten psychosozialen Belastung von Migrant/innen verdeutlichen die geringeren Inanspruchnahmeraten zumindest in einigen Bereichen der Gesundheitsversorgung das Vorhandensein substantieller Barrieren, die einer gleichberechtigten Teilhabe im Wege stehen. 2.2 Prozessqualität Die Behandlungsqualität von Menschen mit Migrationshintergrund kann durch spezifische Faktoren negativ beeinflusst werden. Im Folgenden werden exemplarisch einige dieser einschränkenden Faktoren erläutert. Kommunikationsbarrieren Sprach- und kulturbedingte Kommunikationsbarrieren führen dazu, dass der Zugang zu Leistungen des Gesundheitssystems, die Versorgungsqualität, die Patient/innenzufriedenheit und der Behandlungserfolg eingeschränkt werden. Nach einer Studie an Berliner Krankenhäusern war bei fünf Prozent der Patient/innen eine Verständigung nur sehr schwer oder gar nicht möglich. Der höchste Bedarf an Sprachmittler/innen ergab sich dabei in den Fachabteilungen mit hohem Informations- und Aufklärungsbedarf (Chirurgie, Innere Medizin, Gynäkologie/Geburtshilfe) und der Psychiatrie (Deininger 2007). Zur Überbrückung sprachlicher Barrieren kommen in der Versorgungspraxis verschiedene Hilfsmöglichkeiten zur Anwendung. So können durch mehrsprachige Behandler/innen Gesundheitsleistungen in nicht deutscher Sprache angeboten werden. Besteht kein muttersprachliches Angebot, werden häufig Familienangehörige oder Freunde sowie (fachfremdes) Personal der Gesundheitseinrichtungen als Sprachmittler/innen eingesetzt. Allerdings wird aufgrund von ethischen Bedenken sowie rechtlichen und organisationsbedingten Schwierigkeiten der Einsatz
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professioneller medizinisch und psychologisch geschulter Dolmetscher/innen u.a. von der Bundespsychotherapeutenkammer empfohlen. Jedoch haben Patient/innen, die sich nicht in dem Maße sicher fühlen, dass sie in der deutschen Sprache ein ärztliches Diagnose- oder Behandlungsgespräch führen können, derzeit in Deutschland keinen Rechtsanspruch auf eine/n Dolmetscher/in, wohingegen beispielsweise in Schweden Patient/innen einen Rechtsanspruch auf die kostenfreie Nutzung einer Dolmetscherin oder eines Dolmetschers im Gesundheitssystem haben. Diagnostik Migrant/innen sind mitunter einem höheren Risiko von Fehldiagnosen ausgesetzt. Dies kann damit zusammenhängen, dass beispielsweise die Behandler/innen die kulturspezifischen Ausdrucksmuster („Idioms of distress“) der Krankheitssymptome der Patient/innen missverstehen bzw. nicht als solche wahrnehmen (Glaesmer et al. 2012). Das „Cultural Formulation Interview“ im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM 5, American Psychiatric Association, 2013) dient im Rahmen der psychiatrischen Diagnostik als ergänzendes ethnographisches Interview, um kulturelle Missverständnisse zu vermeiden. Die Fragen umfassen die Bereiche „kulturelle Definition des Problems“, „kulturelle Wahrnehmung von Ursachen, Kontext, & Unterstützung“, „kulturelle Einflussfaktoren auf Selbsthilfe sowie aktuelles und früheres Hilfesuchverhalten“. Darüber hinaus existieren zwölf Ergänzungsmodule zu Themen wie „Erklärungsmodelle“, „Migration und Akkulturation“, „Soziales Netzwerk“, „Spiritualität, Religion und moralische Traditionen“, die die Behandler/innen bei Bedarf integrieren können. Behandlungsbarrieren aus Sicht der Behandler/innen Auf Seiten der Behandler/innen kann die Behandlung von Patient/innen mit Migrationshintergrund Gefühle wie Hilflosigkeit, Überforderung und Frustration auslösen, die den Beziehungsaufbau erschweren und den Behandlungserfolg verringern. So berichten zwei Drittel der niedergelassenen Psychotherapeut/innen in Hamburg und Berlin von substanziellen Schwierigkeiten, obgleich sie mehrheitlich mehr als 20 Jahre Berufserfahrung haben. Im Zentrum standen dabei nicht sprachliche Barrieren sondern divergierende Werte hinsichtlich der Geschlechter- und Familienrollen, unterschiedliche Vorstellungen von Krankheit und Behandlungen sowie „mangelnde“ Eigeninitiative auf Seiten der Patient/innen (Mösko et al. 2013; Odening et al. 2013) Diskriminierungserfahrungen Ausgrenzungserfahrungen und Ungleichbehandlung zeigen sich auch im Gesundheitssystem. So erhielten beispielsweise in Großbritannien Angehörige einiger ethnischer Minderheiten bei der Behandlung psychischer Störungen laut einer Studie seltener eine Psychotherapie, häufiger eine medikamentöse Behandlung und häufiger eine Zwangsbehandlung (McKenzie & Bhui 2007). Eine Studie zur Interaktion zwischen Klinikpersonal und Patient/innen mit Migrationshintergrund förderte eine mitunter herablassende Behandlung von zugewanderten Patient/ innen zu Tage, die meist durch einen eher beiläufigen Rassismus gekennzeichnet war und daher nur schwer von einer allgemeinen Beobachtung, Patienten nicht ernst zu nehmen, zu unterscheiden ist. Bei Patient/innen wiederum zeigte sich nicht selten eine Angst vor Diskriminierung, die zur Interpretation negativer Erfahrungen im Rahmen des Krankenhausaufenthaltes („Ausländerfeindlichkeit“) herangezogen wurde (Dreißig 2005).
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Die Qualität einer gesundheitlichen Behandlung lässt sich daran messen, ob Patient/innen mit Migrationshintergrund in gleicher Weise von einer Behandlung profitieren wie Patient/innen ohne Migrationshintergrund. Im Rahmen einer Sekundärdatenanalyse der Deutschen Rentenversicherung wurden die medizinischen Rehabilitand/innen des Jahres 2006 hinsichtlich ihres Behandlungsergebnisses untersucht. Insgesamt beendeten 79% der Patient/innen mit deutscher Staatsangehörigkeit die Rehabilitation voll arbeitsfähig, bei Patient/innen ausländischer Staatsangehörigkeit waren dies lediglich 70%. Bei Adjustierung soziodemographischer Merkmale und weiterer Gesundheitsvariablen ist das Behandlungsergebnis bei Patient/innen aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien signifikant schlechter als bei deutschen. Nicht schlechter hinsichtlich ihrer Arbeitsfähigkeit wurden Patient/innen aus Portugal, Spanien, Italien und Griechenland beurteilt (Brzoska et al. 2010).
3 Ausblick Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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2.3 Ergebnisqualität
Um zukünftig die Versorgungsqualität in der Behandlung von Menschen mit Migrationshintergrund zu erhöhen, muss sich der Prozess der interkulturellen Öffnung über alle Einrichtungsarten, Indikationen und Berufsgruppen erstrecken. Die (Weiter-)Entwicklung von Behandlungskonzepten, die den Anforderungen und Bedürfnissen der Patient/innen mit Migrationshintergrund gerecht werden, sowie die Implementierung interkultureller Lernziele und -inhalte in der Aus-, Fort- und Weiterbildung der Heil- und Gesundheitsfachberufe sind dabei zwei wesentliche Bausteine. Um dem prozesshaften Charakter der interkulturellen Öffnung gerecht zu werden, sollten die Maßnahmen eingebettet sein in Qualitätssicherungsinitiativen, die zum Ziel haben, die Bedarfe und Bedürfnisse auch der Patient/innen mit Migrationshintergrund langfristig zu verbessern. Ferner wäre es wünschenswert, wenn auf das Gesundheitssystem bezogene Aufklärungs-, Präventions- und Informationskampagnen und -materialien sprachlich und kulturell adaptiert und in möglichst vielen Sprachen zur Verfügung gestellt werden. Ungeachtet der Bemühungen, die Patient/innen, die das Gesundheitssystem erreichen, zukünftig besser zu behandeln, gibt es eine Reihe von Patient/innen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland entweder überhaupt keine oder nur eine sehr eingeschränkte gesundheitliche Behandlung erfahren. Dies sind zum einen nicht regulär krankenversicherte Patient/innen, Patient/innen im Asylverfahren und Patient/innen, die sich in der deutschen Sprache im medizinischen Kontext nicht hinreichend sicher fühlen. Ein wesentlicher Schritt zur Verbesserung der Versorgungsqualität dieser drei Patient/innengruppen könnte in der Überwindung der Sprachbarrieren mit Hilfe kostenloser professioneller Dolmetscherdienstleistungen und Qualifizierung der im Gesundheitsbereich Tätigen im Umgang mit diesen gesehen werden. Für den Bereich der gesundheitlichen Forschung ist in erster Linie die nicht ausreichende Datenlage kennzeichnend. Spezifische Förderprogramme sowie gezielte Forschungsaktivitäten nicht nur zu einigen wenigen Indikationsgebieten, sondern zu allen Erkrankungen und Versorgungssystemen sind zukünftig weiter auszubauen. Es sollte auch verstärkt darauf geachtet werden, zahlenmäßig kleinere Migrant/innengruppen in die Forschungsaktivitäten mit einzubeziehen. Literatur
American Psychiatric Association (2013): Diagnostic and statistical manual of mental disorders (5th ed.). Arlington, VA: American Psychiatric Publishing. – Bollini, Paola & Siem, Harald (1995): No real progress towards equity: health of migrants and ethnic minorities on the eve of the year 2000. In: Social Science and Medicine 41, S. 819828. – Brzoska, Patrick; Voigtländer, Sven; Spallek, Jacob & Razum, Oliver (2010): Utilization and effectiveness of
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medical rehabilitation in foreign nationals residing in Germany. In: European Journal of Epidemiology 25 (9), S. 651-660. – Deininger, Susanne (2007): Zur sprachlichen Verständigung in Krankenhäusern Berlins. Perspektiven der Leitung. Frankfurt a.M.: IKO-Verlag. – Deutscher Bundestag (2012): Drucksache 17/9314, 17. Wahlperiode. Antwort der Bundesregierung – Umsetzung des globalen Verhaltenskodex der Weltgesundheitsorganisation für die grenzüberschreitende Anwerbung von Gesundheitsfachkräften durch die Bundesregierung. – Dreißig, Verena (2005): Interkulturelle Kommunikation im Krankenhaus. Eine Studie zur Interaktion zwischen Klinikpersonal und Patienten mit Migrationshintergrund. Bielefeld: Transkript Verlag. – Engels, Dietrich; Köller, Regine; Koopmanns, Ruud & Höhne, Jutta (2011): Zweiter Integrationsindikatorenbericht – erstellt für die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration: Berlin. – Glaesmer, Heide; Brähler, Elmar & von Lersner, Ulrike (2012): Kultursensible Diagnostik in Forschung und Praxis – Stand des Wissens und Entwicklungspotenziale. In: Psychotherapeut 57, S. 22-28. – Hjern, Anders; Wicks, Susanne & Dahlman, Christina (2004): Social adversity contributes to high morbidity in psychoses in immigrants – a national cohort study in two generations of Swedish residents. In: Psychological Medicine 34 (6), S. 1025-1033. – Huber, Manfred; Stanciole, Anderson; Wahlbeck, Kristian; Tamsma, Nicoline; Torres, Federico; Jelfs, Elisabeth & Bremner, Jeni (2008): Quality in and equality of access to healthcare services. European Commission, Directorate-General for Employment, Social Affairs and Equal Opportunities. – Machleidt, Wielant (2002): Die 12 Sonnenberger Leitlinien zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von Migrantinnen in Deutschland. In: Nervenarzt 73 (12), S. 1208-1212. – McKenzie, Kwame & Bhui, Kamaldeep (2007): Institutional racism in mental health care. In: British Medical Journal 334 (7595), S. 649-650. – Mösko, Mike; Gil-Martinez, Fernanda & Schulz, Holger (2013): Crosscultural opening in German outpatient mental health care service - Explorative study of structural and procedural aspects. In: Journal of Psychology & Psychotherapy 20 (5), S. 434-446. – Mösko, Mike; Pradel, Simon & Schulz, Holger (2011): Die Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund in der psychosomatischen Rehabilitation. In: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 54 (4), S. 465-474. – Odening, Diana; Jeschke, Karin; Hillenbrand, Dorothee & Mösko, Mike (2013): Stand der interkulturellen Öffnung in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung in Berlin. In: Verhaltenstherapie & psychosoziale Praxis 45 (1), S. 53-72. – Razum, Oliver & Rohrmann, Sabine (2002): The healthy-migrant effect: role of selection and late entry bias. In: Gesundheitswesen 64 (2), S. 82-88. – Shuval, Judith T. (1993): Migration and stress. In: Leo Goldberger & Shlomo Breznitz (Hg.): Handbook of stress: theoretical and clinical aspects. New York: Free Press, S. 641-657. – Statistisches Bundesamt (2009): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit: Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2005, Fachserie 1 Reihe 2.2. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. – Sue, Derald Wing; Sue, David (1990): Counseling the culturally different: theory and practice. New York: Wiley.
29 Ethnologie und Interkulturalität Michael Schönhuth
Die Rolle des Interkulturalitätsbegriffes in der Ethnologie zu umreißen, bedeutet, sich ganz wesentlich auf das Beschreiben einer Nichtbeziehung einzulassen. Die Gründe für die Distanz des ethnologischen Mainstreams gegenüber Wissenschaftsfeldern, die sich über den Interkulturalitätsbegriff definieren (wie z.B. die Interkulturelle Pädagogik), bzw. in diesem Feld als Professionelle ihr Geld verdienen, sind vielfältig. Diesen Bruchlinien soll im Verlauf des Beitrages ebenso nachgegangen werden, wie den Schnittmengen, die sich bei genauerer Betrachtung in der ethnologischen Praxis ergeben. Der Blick wird auf den Teil der Ethnologie beschränkt, der sich
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traditionell mit dem Kulturell Fremden befasst. Die Europäische Ethnologie, die sich mit „interkulturellen Aspekten der Volkskultur“ beschäftigt, hat ihren eigenen Fachdiskurs zum Thema, auch wenn sich die Fächer dort, wo sie sich den Forschungsgegenstand teilen, begegnen, wie zum Beispiel im Migrationskontext. Explizit haben in Deutschland bisher Antweiler (2007), Klocke-Daffa (2007) und Moosmüller (2006) zum Thema publiziert. Außerdem widmet sich eine Ausgabe der Hamburger ethnologischen Zeitschrift Ethnoscripts (2005) der Thematik. Am Ende des Beitrages soll deshalb ein Blick auf die weitere Entwicklung im deutschsprachigen Raum nach 2007 vorgenommen werden.
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1 Anfänge Das Forschungs- und Handlungsfeld „Interkulturelle Kommunikation“ ist aufs engste mit dem Namen des amerikanischen Ethnologen/Kulturanthropologen Edward T. Hall verknüpft. Er gilt gemeinhin als Begründer der Disziplin und etablierte den Begriff in seinem Werk „The Silent Language“. Hall war allerdings nicht der erste Ethnologe, der sich interkulturellen Fragestellungen zuwandte. Er stand in der Tradition der sogenannten „Kultur- und Persönlichkeitsschule“ um Margaret Mead und Ruth Benedict, die schon in den 1930er Jahren eine kulturvergleichende Perspektive verfolgten und noch während des Zweiten Weltkriegs auch Studien zum praktischen Umgang mit anderen Kulturen für die amerikanische Regierung lieferten. Hall selbst publizierte 1947 erstmals Überlegungen zu „Rassenvorurteilen“ in der US-Armee und führte Begriffe wie „intercultural tensions“ und „intercultural problems“ in die Fachdebatte ein. War Halls Arbeit als Direktor eines Trainingsprogrammes für amerikanische Auslandsentsandte am Foreign Service Institute der amerikanischen Regierung zwischen 1950 und 1955 zu Beginn noch auf die Vermittlung sozial- und verwandtschaftsethnologischen Wissens gerichtet, so trat dieses, entsprechend des Bedarfs seiner vor allem im diplomatischen Dienst stehenden Zielgruppe, zugunsten psychologischer, pädagogischer und linguistischer Kommunikationsaspekte immer mehr in den Hintergrund. Mit seinem Postulat, dass es keines holistischen Verständnisses der Kultur eines Gesprächspartners bedürfe, um interkulturelle Verständigung zu ermöglichen, entfernte sich Hall von dem für die Ethnologie – seit dem Begründer der amerikanischen Kulturanthropologie Franz Boas – zentralen Konzept des holistischen Fremdkulturverstehens. Ziel des Hall’schen Trainings war es, Auslandsentsandte durch Sensibilisierung für eigene blinde Flecke und durch Vermittlung konkreter Techniken für die interkulturelle Begegnung handlungsfähig (kompetent) zu machen. Ethnologen vermittelt sich das Andere in der Begegnung selbst. Die fehlende Handlungskompetenz zu Beginn der Begegnung ist geradezu Voraussetzung für den Verstehensprozess, der sich oft als mühsamer und in jedem Fall langwieriger Prozess des nur allmählichen Erwerbs von „Mitspielkompetenz“ im Verlauf der Feldforschung entwickelt. Der Schlüssel zum Verstehen ist die teilnehmende Beobachtung. Das Ziel ist in erster Linie kulturelle Übersetzungsfähigkeit, nicht interkulturelle Handlungskompetenz. Hall lieferte bleibende Beiträge zum Studium der interkulturellen Kommunikation. Einige waren auch für die Ethnologie wichtig. So öffnete er die Einzelkulturperspektive der traditionellen Ethnologie hin zum Kulturvergleich und verband diese mit einer Fokussierung auf konkrete mikroanalytisch zu untersuchende kommunikative Interaktionsmuster. Auch schärfte er das Bewusstsein für die Rolle von Zeit- und Raumschemata. Insbesondere seine Studien zur Proxemik wurden im Fach stark wahrgenommen. In der linguistischen, der psychologischen und der Kognitions-Anthropologie sind seine Einflüsse nach wie vor sichtbar. In der angewandten Ethnologie wird er durch seine späteren Veröffentlichungen vor allem in den Feldern der Business Anthropology und der Ethnopädagogik rezipiert. Ein eigenes Feld zur interkulturellem
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Kommunikation hat Hall in der Ethnologie nicht begründen können. Seine Ideen wurden seit den 1960er Jahren vor allem von den Kommunikationswissenschaften aufgegriffen und weitergeführt.
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2 Kultur Halls essentialistische Kulturkonzeption mit ihren starren Grenzen, Sprachen, Kulturmustern und Kulturkontrasten (high/low context; monochron/polychron) hat in der Ethnologie längst ausgedient. Sie scheint allenfalls noch in spezifischen institutionellen Kontexten wie multinationalen Konzernen auf, und dann auch eher, um „gepredigte“, nicht aber „gelebte“ Kultur abzubilden. Die Ethnologie hat nicht nur das Konzept totalistisch aufgefasster Kulturen verabschiedet, sie hat auch ihre Feldforschungsinstrumente verfeinert und folgt ihren Forschungssubjekten in einer Welt, in der kulturelle Entwürfe und ethnische Kategorien sich nicht mehr an Grenzen halten, in der sich Identitätsentwürfe auf vielfältige Weise kreuzen und neue kulturelle Kontaktzonen entstehen. Forschungen zum Transnationalismus, zur Transmigration, zu Begegnungen an kulturellen Schnittstellen, Selbstkonzepte vorgestellter Gemeinschaften, hybrider, situationsbezogener und fluider kultureller Identitäten sind inzwischen die Regel, nicht die Ausnahme. Gegenwärtige empirische ethnologische Forschung zeigt in überwältigender Form, wie Menschen zwischen Identitätsanteilen umzuschalten und sie zu persönlichen oder politischen Zwecken zu instrumentalisieren vermögen, sie temporär aktualisieren, je nach Situation und Gelegenheitsstruktur. Sie zeigt, wie kulturelle Traditionen selektiv genutzt, neu erfunden und vermischt (blurring boundaries, travelling theories), und wie ethnische Grenzen aufgelöst und neu gezogen werden. Besonders deutlich wird dies in der Migrations- und Diasporaforschung. Nicht mehr geteilte Kultur, sondern in und zwischen Gruppen ungleich verteiltes Wissen stehen heute im Mittelpunkt ethnologischer Forschung. Es geht um die Frage, wie Wissensasymmetrien im Innern und an den Rändern von Gesellschaften jeweils produziert, repräsentiert und weitergegeben werden. Kulturelles Wissen ist Orientierungswissen, das im Alltag ausgehandelt wird. Kulturelle Gemeinsamkeit lässt sich nur noch temporär herstellen und beschreiben. Es gibt sogar Stimmen, die wegen seines Verdinglichungscharakters, seiner Diffusität und Machtblindheit für eine Verabschiedung des Kulturbegriffs plädieren (Hann 2007). Der Kulturbegriff in der Ethnologie ist heute jedenfalls vielfältig gebrochen, ausdifferenziert und in jedem Fall nur noch diskursiv zu fassen. Er eignet sich nicht mehr als Leitmetapher für ein ganzes Fach.
3 Interkultureller Vergleich Interkulturelle Vergleichsmethoden (cross-cultural comparisons) haben in der Ethnologie eine vergleichsweise lange Tradition und stellen einen eigenen Forschungszweig dar. Die 1949 begründete Systematik des US-amerikanischen Ethnologen George Peter Murdock war darauf angelegt, eine nach Kulturarealen und Kulturkategorien geordnete Volltext-Datenbank bereitzustellen, die vergangene und zukünftige Ergebnisse ethnologischer Feldforschung für einen systematischen und quantitativen Kulturvergleich erschließbar machen sollte. Ziel war es dabei nicht, Kulturunterschiede herauszuarbeiten, sondern Gemeinsamkeiten, bis hin zum Nachweis kultureller Universalien. Insofern zielt der ethnologische Kulturvergleich in die genau umgekehrte Richtung wie die zahlreichen großangelegten Untersuchungen zur Herausarbeitung national-kultureller Unterschiede, die das Feld der Interkulturalitätsforschung ansonsten bestimmen. Auch wenn weite Teile der feldforschungsbasierten Ethnologie die Entkontextualisierung von Kulturmustern zu Vergleichszwecken als zu mechanizistisch und atomistisch kritisiert, stellt
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die Datenbank, die als „e-Human Relations Area Files“ (eHRAF) inzwischen auch online verfügbar ist, einen wichtigen Fundus für systematische kulturvergleichende Fragestellungen dar.
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4 Kommunikation und interkultureller Umgang Interkulturalität bezieht sich auf das, was entsteht, wenn Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Wissenskorpora und Routinen unter reziproker Unsicherheit über die wechselseitigen Absichten und dafür herangezogener Referenzsysteme unter bestimmten strukturellen Rahmenbedingungen einander begegnen und miteinander umgehen. Insofern beschreibt der Begriff die Alltagserfahrung von Ethnologen im Feld. Hall hatte diese Erfahrung schon früh auf die Beobachtung konkreter Kommunikationsprozesse und den Austausch von Kommunikationscodes reduziert. Ethnologie interessiert sich aber auch für das Einbeziehen von Situationen, in denen einerseits kaum kommuniziert wird, und andererseits für solche, in denen mehr als nur Kommunikation eine Rolle spielt, z.B. der institutionalisierte Umgang mit Fremden als ›Ausländern‹. Hier geht es um mehr als um unterschiedliche Kommunikationscodes. Interkulturelle Kommunikation kann abgebrochen werden, interkultureller Umgang nicht (Antweiler 2007). Er wirkt sich auch jenseits von Kommunikation auf unser Verhalten und Lernverhalten aus. Interkultureller Umgang führt nicht per se zum Abbau von Fremdbildern. Dettmar (1989, S. 260ff) zeigt z.B. folgende mögliche Auswirkungen der Begegnung von Deutschen und Afrikanern in Hamburg: (i) Spannungen und Beziehungsabbruch durch Kategorisierungen; (ii) Aufrechterhaltung vorheriger Vorstellungen trotz persönlicher Beziehungen, und in Einzelfällen (iii) eine Relativierung früherer Vorstellungen über den Begegnungspartner. Entscheidend ist der Rahmen von Dominanz und Unterordnung, der die Situation der beteiligten Gruppen strukturell bestimmt und damit die Umgangssituation insgesamt formt. Die zentrale Rolle von Machtasymmetrien wird nach dem Verständnis der postmodernen Ethnologie im Feld interkultureller Begegnung und interkultureller Kompetenzvermittlung zu häufig unterschlagen.
5 Anwendungsbezug Neben den generellen Vorbehalten des Faches zur Tragfähigkeit eines immer noch vorherrschenden essentialistischen Kulturbegriffes im interkulturellen Feld, gibt es in der Ethnologie bis heute eine gewisse Reserviertheit gegenüber anwendungsorientierter Forschung („Applied Anthropology“), die sich auch auf das Verhältnis zum Feld der Interkulturellen Kommunikation und Kompetenzvermittlung auswirkt. Die Bereitschaft, ethnologisches Wissen wirtschaftlichen und politischen Auftraggebern zur Verfügung zu stellen, war in Europa mit der Verabschiedung von der Kolonialethnologie schon Anfang der 1960er Jahre gesunken. In den USA führte in der gleichen Zeit der Skandal um ein sozialwissenschaftlich-ethnologisches Projekt, das im Auftrag der CIA das Potential zur Aufstandsbekämpfung in Lateinamerika erforschen sollte, zu einem forschungsethisch begründeten Rückzug aus der von Hall initiierten Tradition. Felder, in denen sich der Anwendungsbezug hielt, waren vor allem die Organisationsethnologie, die Entwicklungs-, Medizin- und Ethnopsychologie sowie die Ethnopädagogik und als Schnittstelle zur Öffentlichkeit, die Museumsethnologie. Sie nutzen bis heute in der Regel eigene Publikations- und Kommunikationsräume und sind im Fach eindeutig als anwendungsbezogen markiert. Berufsbiografien, die akademische und anwendungsbezogene Karriere erfolgreich verbinden, stellen bis heute die Ausnahme dar. Interessanterweise wurde die Grenze zur „Regierungsberatung“ seit Bushs Krieg gegen den Terror auch von Ethnologen wieder vermehrt überschritten. Das Betätigungsfeld reicht hier von der Außenpolitikberatung im Rahmen von
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„Cultural Diplomacy“ bis zu sogenannten „embedded anthropologists“, die sich in Kriegsgebieten, oder, wie jüngst in der Bundesrepublik, als interkulturelle Einsatzberater in Stabsfunktionen der Bundeswehr betätigen. Begleitet werden solche Überschreitungen des ethnologischen Rubikons von teils scharf geführten ethischen Auseinandersetzungen mit Vertretern des Faches.
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5.1 Die Situation in Deutschland Anwendungsbezug stand in Deutschland durch eine allzu große Nähe führender Ethnologen zur Rassenideologie der Nazis stärker und früher als im angloamerikanischen Raum unter Generalverdacht. Interkulturelle Fragestellungen wurden erst in den 1980er Jahren im Rahmen entwicklungspolitischer Debatten in den Fachdiskurs eingebracht. In der Zwischenzeit gibt es mit Entwicklungsethnologie, kognitiver Anthropologie und Medical Anthropology Arbeitsgruppen in der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde (DGV), die sich interkulturellen Fragestellungen zuwenden, mit der „AG Migration, Multikulturalität und Identität“ auch eine, die dies namentlich tut. Am meisten Berührungspunkte gibt es wohl in der AG Ethnologische Bildung (vor 2007 AG Ethnopädagogik), die sich der Vermittlung der Ethnologie außerhalb der Universität verschrieben hat. Sie bündelt auch die Interessen von regionalen Interessengruppen, wie den in die ethnologische Ausbildung eingebundenen Verein ESE (Ethnologie in Schule und Erwachsenenbildung) in Münster oder studentische Initiativen in Heidelberg (Interkulturelles Lernen mit Ethnologie e.V.) und jüngst in Frankfurt (Interkulturelle Bildung und Ethnologie e.V.). Das von Alois Moosmüller 1997 gegründete „Institut für Interkulturelle Kommunikation“ in München ist bisher das einzige von einem Ethnologen geleitete Universitätsinstitut, das sich dezidiert mit Fragen des interkulturellen Handelns in Lehre und Forschung auseinandersetzt, das aber zu der im „Hochschulverband für Interkulturelle Studien“ zusammengefassten Community der linguistisch, pädagogisch oder psychologisch gewidmeten Lehrstühle in der BRD weit mehr Bezüge aufweist als zur DGV. Außer München und Münster existiert bisher keine weitere formalisierte Kooperation zwischen Ethnologie und einem Interkulturellen Studiengang. In die einschlägigen Interkulturalitätshandbücher der letzten Jahre verirrt sich kaum ein Ethnologe, und wenn, dann nur, wenn in den Berufsbiografien Praxisbezüge eine Rolle spielen (z.B. bei Antweiler; Moosmüller & Schönhuth 2009) bzw. wenn spezifische, diesseits oder jenseits nationaler Kategorien situierte Kulturen angesprochen sind. In Göttingen gibt es ein MaxPlanck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften. Mit Steven Vertovec wird es von einem Ethnologen geleitet, der inzwischen vor allem über soziale Kohäsion und neue Komplexitäten in postmodernen multi-ethnischen Gesellschaften unter dem Begriff der „Super-Diversity“ forscht und publiziert (Vertovec 2015).
6 Ausblick Moosmüllers 2006 ausgesprochene Hoffnung, dass auch die Mutterdisziplin Ethnologie in Deutschland ihre Aktivitäten in dem neuen Themenfeld Interkulturelle Kommunikation intensivieren werde, hat sich nicht erfüllt. Auch die neueste Bestandsaufnahme zu gegenwärtigen Trends im Fach (Bierschenk et al. 2013) lässt keine Annäherung erkennen. Die Zahl der Ethnologinnen und Ethnologen, die explizit zu Interkulturalität forschen, bzw. im Feld der interkulturellen Kompetenzvermittlung arbeiten, ist bis heute überschaubar geblieben. Eher werden die sogenannten „Interkulturalisten“, die sich in Organisationen wie SIETAR weltweit zusammengeschlossen haben, selbst zum Gegenstand ethnologischer Untersuchungen einer global agierenden, mit Kulturmustern handelnden Expertenkultur (Dahlen 1997) oder der Kulturbegriff wird
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im Tanz der Kulturen global hybridisiert, bzw. komplett verabschiedet. Kurse in interkultureller Kommunikation sind nach wie vor kein regulärer Teil in ethnologischen Curricula. Selbst die seit Mitte der 1990er entstehende „Cultural Diversity“-Bewegung, die den Kulturbegriff mit Prozessen der Inklusion und Exklusion jenseits nationaler oder ethnischer Kategorien verband, und die auch die Interkulturalitätsforschung wieder an die aktuellen Debatten anschloss, sieht die Ethnologie weitgehend unbeteiligt (vgl. Moosmüller & Möller-Kiero 2014 für Deutschland). Die Engführung des Interkulturalitätsbegriffs auf Kommunikationsprozesse, die fachhistorisch aber auch fachethisch begründeten Vorbehalte gegenüber einer Zuliefererrolle innerhalb institutionalisierter Machtasymmetrien, die Verabschiedung von einem einst von der Ethnologie selbst eingeführten totalistischen Kulturbegriff, die bis heute meist getrennt geführten Diskurse in anwendungsfernen und anwendungsnahen ethnologischen Arbeitsfeldern, aber auch schlicht etablierte Fachtraditionen, die das Feld der interkulturellen Kommunikation früh an andere Disziplinen gebunden hat, dürften Gründe für die auch heute noch zu konstatierende weitgehende Nichtbeziehung zwischen Interkulturalitätsforschung und Ethnologie sein. Beschäftigt man sich als Ethnologe näher mit den Diskussionen im Feld, so lässt sich rasch feststellen, dass auch dort längst ein diskursiver Kulturbegriff Einzug gehalten hat (vgl. 2012 die kontrovers geführte Diskussion um Auernheimers Plädoyer für die Fortführung des Labels „interkulturelle Pädagogik“ in der Zeitschrift EWE). Durchaus beachtete Versuche, wie jüngst von Bolten (2012), den Kulturbegriff hin zu einer „fuzzy culture“ zu öffnen, die Akteuren Zugriff auf ganz unterschiedliche lebensweltliche Sets zugesteht, zeigen, dass auch in der interkulturellen Szene ein Unbehagen an der Verwendung bisheriger Komposita wie Multikultur, Interkultur, interkultureller Dialog und interkulturelle Kompetenz herrscht. Die Crux ist, dass das Feld – zumindest nach außen – ohne seine bisherige essentialistische ‚Ausflaggung‘ nicht auszukommen scheint. Solange diese aber noch ungebrochen „Geschäftsgrundlage“ ist, bleibt auch die Kommunikation mit der Ethnologie wohl bis auf weiteres leicht gestört. Literatur
Antweiler, Christoph (2007): Grundpositionen interkultureller Ethnologie. Nordhausen: Verlag Traugott Bautz. – Auernheimer, Georg (2012): Pro Interkulturelle Pädagogik. Hauptartikel und Replik. In: Erwägen - Wissen Ethik (EWE) 21 (2), 2010, S. 121-131 u. 222-230. – Bierschenk, Thomas; Krings, Matthias & Lentz, Carola (2013) (Hg.): Ethnologie im 21. Jahrhundert. Berlin: Reimer. – Bolten, Jürgen (2012): ‘Fuzzy Diversity’ als Grundlage interkultureller Dialogfähigkeit. In: Erwägen - Wissen - Ethik 21 (2), S. 36-139. – Dahlen, Tommy (1997): Among the Interculturalists. An Emergent Profession and Its Packaging of Knowledge. Stockholm: Department of Social Anthropology. – Dettmar, Erika (1989): Rassismus, Vorurteile und Kommunikation. Afrikanisch-europäische Begegnung in Hamburg. Diss. Berlin: Reimer. – Ethnoscripts (2005): Ethnologie und interkulturelle Kommunikation. Hamburg: Institut für Ethnologie. – Hall, Edward T. (1947): Race Prejudice and Negro-White Relations in the Army. In: American Journal of Sociology 52, S. 401-409. – Hann, Chris (2007): Weder nach dem Revolver noch dem Scheckbuch, sondern nach dem Rotstift greifen: Plädoyer eines Ethnologen für die Abschaffung des Kulturbegriffs. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1, S. 125-134. – Klocke-Daffa, Sabine (2007): Interkulturelles Lernen in Deutschland aus Sicht der Ethnologie. In: Ursula Bertels; Sandra de Vries & Nina Nolte (Hg.): Fremdes Lernen. Aspekte interkulturellen Lernens im interkulturellen Diskurs. Münster: Waxmann, S. 13-30. – Moosmüller, Alois (2006): Interkulturelle Kommunikation aus ethnologischer Sicht. In: Alois Moosmüller (Hg.).: Interkulturelle Kommunikation. Konturen einer wissenschaftlichen Disziplin. Münster: Waxmann. – Moosmüller Alois & Möller-Kiero, Jana (2014) (Hg.): Interkulturalität und kulturelle Diversität. Münster: Waxmann. – Moosmüller, Alois & Schönhuth, Michael (2009): Intercultural Competence in German Discourse. In: Darla Deardorff (Hg.): The Sage Handbook of Intercultural Competence. Thousand Oaks, CA: Sage, S. 209-232. – Vertovec, Steven (2015): Super-Diversity (Key Ideas). London: Routledge Chapman & Hall.
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Stefan Neubert
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30 Cultural Studies und Postkolonialismus Stefan Neubert
Die Cultural Studies sind eine innovative Forschungsrichtung, die in den letzten Jahrzehnten zu einer zunehmend einflussreichen und Impuls gebenden Strömung innerhalb der englischsprachigen Debatten um Fragen des kulturellen Wandels, der kulturellen Vielfalt in Migrationsgesellschaften, des Multikulturalismus, des Rassismus, der kulturellen Identität und des Umgangs mit Differenz geworden ist (vgl. einführend Grossberg et al. 1992; Grossberg 1994; Hall 1999; Neubert et al. 2013). Dieser Beitrag versteht sich als Einführung in die zentralen theoretischen Positionen und Begriffe dieser Forschungsrichtung unter Berücksichtigung des Postkolonialismus. Eine ausführliche Darstellung, auf der auch dieser Artikel basiert, findet sich in Neubert (2012, insbes. S. 205ff). Die Cultural Studies wurden ursprünglich in Großbritannien in den 1960er Jahren, insbesondere durch die Arbeit des Center for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham – Zentrum einer marxistisch inspirierten Erforschung von Alltagskulturen –, ins Leben gerufen. Grundlegend sind die Abkehr vom traditionell unterstellten Gegensatz zwischen Populärkultur und Hochkultur und die Analyse von Kultur als gelebter Alltagspraxis im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Damit verbindet sich ein politisch engagiertes Verständnis von sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung, das sich z.B. in der gesellschaftlichen Intervention gegen Rassismus zeigt. Als akademische Bewegung erfuhren die Cultural Studies etwa seit den 1980er Jahren eine rasante Verbreitung und Popularisierung insbesondere in den USA und Kanada. Speziell im amerikanischen Kontext handelt es sich heute um eine oft unscharfe Sammelbezeichnung von Beiträgen, unter die fast alles und jedes fallen kann – vergleichbar mit Gender Studies oder Literary Criticism. Die mit dieser Entwicklung verbundene partielle Verflachung der ursprünglichen Theorie- und Kritikansprüche der Bewegung wird dabei durchaus selbstkritisch gesehen und problematisiert (vgl. McRobbie 1992). Gleichzeitig ist es führenden Vertreter/innen der Bewegung – wie Stuart Hall, Homi K. Bhabha, Lawrence Grossberg, Angela McRobbie, bell hooks oder Henry A. Giroux – immer wieder gelungen, die alltagskulturelle Orientierung und die interdisziplinäre Arbeitsweise der Cultural Studies in innovativen Theoriediskursen zu fundieren. Dabei gewann die kulturtheoretische Rezeption insbesondere poststrukturalistischer Autoren (wie Foucault, Lacan, Derrida, Laclau) seit den frühen 1990er Jahren zunehmend an Bedeutung. Berührungspunkte zu postmodernen, konstruktivistischen und dekonstruktivistischen Positionen sind heute unverkennbar, wodurch sich neue Formen des Nachdenkens über (post-)moderne Kultur herausgebildet haben, die auch unabhängig von ihrem Entstehungsort Relevanz beanspruchen können. Beiträge aus den Cultural Studies und dem mit ihnen eng verbundenen Postkolonialismus sind daher in den vergangenen Jahrzehnten zu zentralen Bezugspunkten und Anregungen auch deutschsprachiger Debatten über interkulturelle Pädagogik und Bildung geworden (vgl. z.B. Auernheimer 2016). Die Relevanz dieser Beiträge zeigt sich unter anderem in den folgenden Aspekten: (1) Die Cultural Studies verdeutlichen, dass das Subjekt der Bildung stets in komplexen Zusammenhängen von Kultur, Diskurs und Macht reflektiert werden muss. Subjektivierungs- und Bildungsprozesse werden dabei immer als an Diskursabläufe gebunden gesehen. Sie setzen Machtbeziehungen sowie die Möglichkeit vielfältiger und gegensätzlicher Positionierungen voraus.
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(2) Angesichts postmoderner Beobachtervielfalt und Diskurspluralität sollten in der Bildungsforschung die Kontextbezüge, die temporäre Dynamik sowie die lokale Verortung kultureller Praktiken als Medium von Bildungsprozessen in Rechnung gestellt werden. Die Cultural Studies, die sich in ihren Analysen unter anderem gezielt mit Populärkultur in ihren vielschichtigen und teils widersprüchlichen Facetten befassen, können hier wichtige Anregungen geben. (3) Eine Auseinandersetzung mit Beiträgen des Postkolonialismus fordert zu einer erhöhten Skepsis gegenüber einseitigen Vorstellungen einer abendländischen Bildungsgeschichte als globalem Fortschrittsprozess auf. Solche Vorstellungen werden durch eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die historischen Erfahrungen des Kolonialismus sowie die Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten der gegenwärtigen, postkolonialen Situation relativiert.
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1 Diskurs und Macht Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Cultural Studies war seit Ende der 1980er Jahre die kulturtheoretische Rezeption poststrukturalistischer Diskurstheorien im Anschluss an Autoren wie Foucault, Lacan oder Derrida (vgl. Hall 1992, 1997). Einige Aspekte dieses Diskursverständnisses sind für das Verständnis aller weiteren hier diskutierten Beiträge der Cultural Studies grundlegend und werden nachfolgend herausgehoben. „Ein Diskurs“, so definiert Stuart Hall, „ist eine Gruppe von Aussagen, die eine Sprache zu Verfügung stellen – d.h. eine Repräsentationsweise –, um über eine spezielle Art von Wissen über ein Thema zu reden“ (Hall 1992, S. 291; Übers. v. SN). Diskurse sind als Diskursformationen organisiert, d.h. als symbolische Ordnungen von Wissens- und Verständigungsprozessen, die Beziehungen zwischen den möglichen Aussagen innerhalb eines Diskurses festlegen und zum Beispiel eingrenzen, was Gegenstand eines Diskurses sein kann (und was nicht), welche Verfahrensweisen, Strategien, Ausdrucksformen und Stile einem Diskurs angemessen sind (und welche nicht), oder wer wann, wo und in welcher Form das Wort ergreifen kann (und wer nicht). Dabei sind solche Diskursformationen allerdings in der Regel nicht als vollständige, eindeutige und abgedichtete Gebilde aufzufassen. Sie stellen vielmehr unabgeschlossene Strukturen dar, die offene Grenzen und Übergänge zu anderen Diskursen aufweisen. Dies hängt insbesondere damit zusammen, dass Diskurse durch sogenannte „Überdeterminiertheit“ gekennzeichnet sind. Das bedeutet, dass Diskurse stets vielschichtige und vieldeutige Formationen der Bedeutungskonstruktion sind, die unterschiedliche und widersprüchliche Artikulationen ermöglichen und erlauben. Ihnen wohnt gewissermaßen ein von vornherein immer nur bedingt zu bezähmender „Bedeutungsüberschuss“ inne. Im Anschluss an strukturalistische Überlegungen (unter anderem des Linguisten Saussure) geht man von einem beweglichen und nie ganz zu stabilisierenden Verhältnis zwischen Signifikant (Bezeichnendem) und Signifikat (Bezeichnetem) aus, wodurch der Bedeutungsgehalt von Zeichen und Symbolen (Wörtern, Gesten, Bildern etc.) Prozessen der Verschiebung und Verdichtung unterliegt. Dies führt zu einem potentiell endlosen „Spiel der Differenzen“, in dem jede gegebene Artikulation im Diskurs Ausgangspunkt neuer Artikulationen werden kann, die ihren Bedeutungsgehalt wiederholen, kommentieren, neu interpretieren, aber möglicherweise auch verschieben, verfremden, ironisieren, hinterfragen oder kritisieren. Außerdem implizieren Diskurse nach diesem Verständnis immer zugleich Machtbeziehungen. Macht ist dabei aber keine einseitige Form der Beherrschung oder Dominanz (z.B. von „oben“ nach „unten“), sondern etwas, das weitgehend über den Diskurs hinweg verteilt ist. Nach Foucault wirkt Macht wie eine Kette oder wie ein Netzwerk, woran alle beteiligten Individuen durch ihre jeweiligen Interaktionen mitwirken (Foucault 1978). Gibt es daher keine Beobachterposition innerhalb eines Diskurses, die jenseits der Macht liegt, so gibt es ebenso wenig eine
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Position, in der die Machtwirkungen total und rein äußerlich sind. Beide Argumente – das der Überdeterminiertheit und das der Macht – stehen in enger Beziehung zueinander. Zusammengenommen erklären sie, warum die poststrukturalistische Auffassung, die Subjekte würden im und durch den Diskurs konstituiert, keinesfalls gleichbedeutend ist mit der Vorstellung, sie seien vollständig vom Diskurs determiniert. Einerseits bietet jede konkrete Diskursformation nur eine begrenzte Auswahl von so genannten „Subjektpositionen“ an, d.h. von Positionen, die die Subjekte aktiv besetzen können und von denen aus der Diskurs Sinn macht. Darin zeigen sich die subjektkonstituierenden Machtwirkungen des Diskurses, die die Bereiche möglicher Beobachtung, möglichen Wissens und möglicher Aussagen im Voraus begrenzen. Andererseits bringt es der überdeterminierte Charakter dominanter Diskurse mit sich, dass die Vorherrschaft hegemonialer Interpretationen niemals ganz die Möglichkeit von Neuartikulationen durch Bedeutungsverschiebung beseitigen kann. Deshalb kann kein herrschender Diskurs auf lange Sicht die Möglichkeit von Gegenstrategien verhindern, die seine etablierte Vorherrschaft in Frage stellen. Hegemonie in diesem Sinne bedeutet Kampf um kulturelle Deutungsmacht. Eben diese im Diskurs selbst angelegte Möglichkeit unterschiedlicher und widersprüchlicher Artikulationen erlaubt eine „Subjektivierung“ im Sinne konstruktiver und kritischer Bildungsarbeit und damit subjektive Wirksamkeit in Diskursen. Solch eine subjektivierende Bildungsarbeit ist aus der Sicht dieses Ansatzes von vornherein in Diskurs- und Machtbeziehungen eingeflochten, und zwar auch und gerade dort, wo sie sich von hegemonialen Deutungen zu emanzipieren trachtet. „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand“, schreibt Foucault (1999, S. 116). „Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht.“
2 Kontextualisierung Mit diesem Diskursverständnis ist ein weiteres postmodernes Charakteristikum der Cultural Studies eng verbunden: die Forderung nach einer Kontextualisierung kulturtheoretischer Analysen, die sich mit Skepsis gegenüber kulturtheoretischen Universalperspektiven und der Mahnung zur Vorsicht gegenüber vorschnellen Generalisierungen von Deutungsmustern sozialer, kultureller und politischer Zusammenhänge verbindet. Nach Lawrence Grossberg, einem der führenden Vertreter in den USA, gehört ein „radikaler Kontextualismus“ zu den entscheidenden Erkennungsmerkmalen des Ansatzes (vgl. Grossberg 1994, S. 5). Damit verbinden sich für ihn wichtige Implikationen: a) Der Status der Theorie: Die Theoriebildung wird als eine kontextbezogene Intervention verstanden. Die bloße Anwendung einer im Voraus bekannten Theorie wird dabei ebenso abgelehnt wie ein vermeintlich theoriefreier Empirismus. Die Cultural Studies fühlen sich der Theorie verpflichtet, sind aber nicht im eigentlichen Sinne theoriegeleitet. Sie verstehen die Theorie immer als eine Antwort auf einen besonderen Kontext (vgl. Grossberg 1994, S. 5), in dem sich geschichtliche und politische Bedeutungen artikulieren. Die programmatische Offenheit der Theoriebildung soll insbesondere in Rechnung stellen, dass an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Theorien ebenso wie unterschiedliche Strategien richtig sein können (vgl. ebd., S. 6). b) Die Beziehung zwischen Kultur und Macht: Für die Cultural Studies hängt die Beschaffenheit der Beziehung zwischen Kultur und Macht letztlich von dem spezifischen Kontext oder Ort ab, an dem sie zu intervenieren versuchen. Sie können sich daher nicht einfach mit einer abstrakten Ideologietheorie – z.B. zu Themen des Rassismus, Sexismus, der Fremdenfeindlichkeit oder Homophobie – zufrieden geben, die nur neu entdeckt, was sie bereits weiß. So notwendig es ist, an diese Dimensionen soziokulturellen Zusammenlebens immer wieder neu erinnert zu werden, so bedeutsam ist es zugleich, jenseits eines bloßen Wiedererkennens ideologischer Muster vor allem
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Cultural Studies und Postkolonialismus
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die komplexen Zusammenhänge darüber zu verstehen, wie sich solche Strukturen und Muster in konkreten kulturellen Auseinandersetzungen und Kämpfen auswirken. Während die Cultural Studies die einseitige Vorstellung einer kulturellen Betäubung (dope) der Individuen durch Ideologie zurückweisen, leugnen sie nicht, dass die Individuen oft durch die Kultur getäuscht (duped) werden. Die Frage der Macht muss stets in einem Feld hegemonialer Auseinandersetzungen gestellt werden, und die Forschung selbst ist Teil des beständigen Bemühens, die Balance und Organisation der Kräfte zu verändern. Zum Zweck kulturkritischer Interventionen widmen die Cultural Studies der Populärkultur so viel Aufmerksamkeit, nicht nur als einer Ansammlung von Texten, sondern als dem Terrain, auf dem politische Kämpfe ausgetragen werden müssen (vgl. ebd., S. 7). c) Der Kulturbegriff: Das Kulturkonzept selbst ist aus Sicht der Cultural Studies kontextabhängig und auf vieldeutige Weise innerhalb des Spannungsfeldes von sozialen Praktiken, Alltagserfahrungen und Diskursen lokalisierbar. Ein entscheidender Aspekt ist hierbei der relative Status von „Texten“, weil kulturelle Bedeutungen niemals eindeutig und kontextunabhängig dargestellt und festgeschrieben werden können. Vielmehr gehen die Cultural Studies von einer Realität aus, die beständig umgearbeitet und allein zugänglich gemacht wird durch kulturelle Praktiken (vgl. Grossberg 1994, S. 7). Sie argumentieren, „dass kulturelle Praktiken nicht nur die Schauplätze und die Einsätze in den Kämpfen sind, sondern zugleich auch die Waffen. Mit anderen Worten repräsentieren kulturelle Praktiken nicht nur die Macht, sondern sie setzen sie auch ein“ (ebd.; Übers. SN). d) Kulturelle Praktiken: Kulturelle Praktiken sind niemals einfach als mikrokosmisches Abbild einer gesellschaftlichen Ordnung von Verhältnissen zu verstehen. Sie werden vielmehr als ein Feld (engl. place oder location) gedacht, auf dem eine komplexe, vieldeutige, oft widersprüchliche und stets unabgeschlossene symbolische Arbeit geleistet wird. Dabei ist grundsätzlich mit der Kontingenz von Ereignissen zu rechnen, weil sich stets unterschiedliche Dinge ereignen können und sich unterschiedliche Möglichkeiten des Gebrauchs und der Wirkung kultureller Praktiken überschneiden. „Eine kulturelle Praktik ist ein komplexer und konflikthafter Ort, der nicht vom Kontext seiner Artikulation getrennt werden kann, weil er keine Existenz außerhalb dieses Kontextes hat“ (ebd., S. 8; Übers. SN).
3 Die postkoloniale Kritik Einen wichtigen Strang innerhalb der Cultural Studies stellen die so genannten „Postkolonialismus“Theorien dar. Im Mittelpunkt der postkolonialen Kritik steht die universalisierende kulturelle Erzählung der westlichen Moderne, die Stuart Hall einmal treffend mit der Formel The West and the Rest charakterisiert hat (vgl. Hall 1992). Nach Hall bietet der Postkolonialismus „eine alternative Erzählung an, die andere Zusammenhänge zentraler Geschehensabläufe hervorhebt als die, die in der klassischen Erzählung der Moderne verankert sind […] In der neu inszenierten Erzählung des Postkolonialismus nimmt die Kolonisation den Rang und die Bedeutung eines zentralen, ausgedehnten und Zusammenhänge aufsprengenden welthistorischen Ereignisses ein“ (Hall 1996, S. 249; Übers. SN). Bedeutsam an dieser Neuformulierung ist für Hall unter anderem die Einsicht, dass die Prozesse der Kolonisation und Entkolonialisierung die kolonisierenden Gesellschaften selbst nicht weniger machtvoll – wenn auch auf andere Weise – geprägt haben als die kolonisierten Gesellschaften. Auch für die Gesellschaften der imperialen Machtzentren sei die Kolonisation niemals einfach nur ein externes oder peripheres Geschehen gewesen, sondern ein Prozess, der sich in seinen Wirkungen bis heute tief in sie selbst eingeschrieben hat (vgl. ebd., S. 246ff). Für Hall drücken sich die Folgewirkungen des Kolonialismus unter anderem in Gestalt eines „doppelten Einschreibens“ (double inscription) aus (vgl. Hall 1996, S. 247), das als ausschlag-
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gebend für die Ambivalenz der (post-)kolonialen Situation erscheint (vgl. ebd.). Damit ist eine grundlegende Infragestellung der vermeintlichen Selbstgewissheit kultureller Identitäten durch die Anwesenheit des anderen, fremden Blicks gemeint, weil das Andere – selbst da, wo es, wie im Rassismus, abgewehrt wird – längst konstitutiver Teil des eigenen Selbst geworden ist (vgl. Bhabha 1996). Dadurch werden die herkömmlichen Gegensatzpaare unterwandert und in Frage gestellt, die das Weltbild des Kolonialismus lange stabilisiert und ihm Prägnanz verliehen haben. Dies gilt für die Gegensätze kolonialer Darstellungsweisen (z.B. Herr versus Knecht, Kolonisatoren versus Kolonisierte, Zivilisierte versus Wilde, „Weiße“ versus „Schwarze“) ebenso wie für die Gegensätze anti-kolonialer Darstellungen (z.B. Unterdrücker versus Unterdrückte, Fremdbestimmung versus Authentizität, Gewaltherrschaft versus Freiheitskampf ). Das „doppelte Einschreiben“ nimmt diesen binären Erklärungsmustern ihre scheinbare Eindeutigkeit und Überzeugungskraft, weil es die Auffassung von „Kultur“ nach einem einfachen Innen-AußenSchema nachhaltig verstört. Kultur ist in der postkolonialen Situation weniger als ein homogener, geordneter und überschaubarer Raum zu denken. Bildlich gesprochen, erscheint sie eher als ein vielfach in sich „gefalteter“ Raum, der Brüche, Lücken und Zwischenräume aufweist. Damit gehen vermehrte Erfahrungen kultureller Unschärfe und Mehrdeutigkeit einher, die die Ambivalenz, Singularität und Kontingenz kultureller Identitäten in postmodernen multikulturellen Gesellschaften stärker ins Bewusstsein treten lassen. Die Interkulturelle Pädagogik hat durch Beiträge der Cultural Studies und des Postkolonialismus insgesamt wichtige Anregungen erhalten, sich stärker als bisher auf die Berücksichtigung von Beobachtervielfalt im Blick auf Fragen von Kultur, Erziehung, Bildung und Identität einzulassen. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen kulturellen Codes, Erfahrungen und Sprachen impliziert, dass Lernende die Möglichkeit haben sollten, solche Codes kritisch zu lesen und die Grenzen derjenigen Codes kennen zu lernen, die sie selbst verwenden, um ihre eigenen Erfahrungen zu interpretieren und ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Die Cultural Studies verdeutlichen, dass solche Erfahrungen und Geschichten stets in komplexe Spannungsfelder von Kultur, Diskurs und Macht eingebettet sind und nur unter Berücksichtigung ihrer konkreten und oft ambivalenten Kontexte verstanden werden können. Literatur
Auernheimer, Georg (2016): Einführung in die interkulturelle Pädagogik. 8. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliches Buchgesellschaft. – Bhabha, Homi K. (1996): Culture’s In-Between. In: Stuart Hall & Paul Du Gay (Hg.): Questions of Cultural Identity. London: Sage Publications, S. 53-60. – Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve. – Foucault, Michel (1999): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd.1, 11. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – Grossberg, Lawrence (1994): Introduction: Bringin‘ It All Back Home – Pedagogy and Cultural Studies. In: Henry A. Giroux & Peter McLaren (Hg.): Between Borders. Pedagogy and the Politics of Cultural Studies. New York: Routledge, S. 1-25. – Grossberg, Lawrence; Nelson, Cary & Treichler, Paula (1992) (Hg.): Cultural Studies. New York: Routledge. – Hall, Stuart (1992): The West and the Rest – Discourse and Power. In: Stuart Hall & Bram Gieben (Hg.): Formations of Modernity. Cambridge: Polity Press, Blackwell Publishers and The Open University, S. 275-331. – Hall, Stuart (1996): When was ‚the Postcolonial‘? Thinking at the Limit. In: Iain Chambers & Lidia Curti (Hg.): The Post-colonial Question. Common Skies, Divided Horizons. London: Routledge, S. 242-260. – Hall, Stuart (1997): The Work of Representation. In: Stuart Hall (Hg.): Representation. Cultural Representations and Signifying Practices. London: Sage Publication, S. 13-74. – Hall, Stuart (1999): Cultural Studies and Its Theoretical Legacies. In: Simon During (Hg.): The Cultural Studies Reader. London: Routledge, S. 97-109. – McRobbie, Angela (1992): Post-Marxism and Cultural Studies – A Post-script. In: Lawrence Grossberg; Cary Nelson & Paula Treichler (Hg.): Cultural Studies. London: Routledge, S. 719-730. – Neubert, Stefan (2012): Kultur und Erziehung im Pragmatismus und Konstruktivismus. Beiträge zur Kölner John-Dewey-Forschung und zum interaktionistischen Konstruktivismus. Münster: Waxmann. – Neubert, Stefan; Roth, Hans-Joachim & Yildiz, Erol (2013) (Hg.): Multikulturalität in der Diskussion. Neuere Beiträge zu einem umstrittenen Konzept, 3. Aufl. Wiesbaden: Springer.
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3 Interkulturalität als Gegenstand der Erziehungswissenschaft
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3.1 Teildisziplinen
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31 Interkulturelle Pädagogik Marianne Krüger-Potratz
Die Herausbildung und Entwicklung des Fachgebiets Interkulturelle Pädagogik (IKP) in der Bundesrepublik Deutschland ist seit den 1980er Jahren Gegenstand von speziellen Darstellungen verschiedenen Zuschnitts, die als Einführung in das Fachgebiet konzipiert sind: Artikel, Lexikoneinträge, Qualifikationsarbeiten oder auch Buchpublikationen. Eine Geschichte der Erziehungswissenschaft bzw. der Pädagogik und Schule, in der auch die hier angesprochenen innerdisziplinären Entwicklungen einbezogen sind, steht noch aus. Thematisiert werden in den bisher vorliegenden Texten die Geschichte der IKP, ihr Gegenstandsfeld, ihre Stellung in der Erziehungswissenschaft, die verschiedenen Diskurse und Konzepte, Kontroversen über zentrale Begriffe wie auch über die Bezeichnung des Fachgebiets und über Vorstellungen hinsichtlich seiner zukünftigen Entwicklung. Unter Bezug auf diese Themen wird auch im Folgenden die IKP vorgestellt. Vorab drei Hinweise: Im folgenden Beitrag firmiert das Fachgebiet durchgängig unter der Bezeichnung ‚Interkulturelle Pädagogik’; auf die Kritik an dieser Bezeichnung wird in Abschnitt 3 eingegangen. In Deutschland hat sich die IKP zwar in Kontakt mit der Vergleichenden Erziehungswissenschaft, aber dennoch sozusagen neben dieser als ein eigenständiges, interdisziplinär ausgerichtetes Fachgebiet etabliert. Dass dies nur eine der möglichen disziplinären Reaktionen ist, zeigt ein Blick in andere Länder. Hingewiesen sei schließlich darauf, dass zu den meisten der hier angesprochenen Fragen spezielle Beiträge im vorliegenden Handbuch nachzulesen sind, auch zu den Forschungsmethoden.
1 Interkulturelle Pädagogik – zur Entwicklung des Gegenstandsfeldes Die Herausbildung eines neuen Forschungs- und Arbeitsgebiets ist eine wissenschaftlich-disziplinäre Reaktion auf internationale politische und gesellschaftliche Veränderungen und deren nationale Folgen. Für die Herausbildung der IKP in Deutschland sind die internationalen Migrationsbewegungen im Kontext der Globalisierung und weitere (inter)nationale resp. europäische politisch-gesellschaftliche Entwicklungen relevant: z.B. die Umsetzung verschiedener, von der BRD ratifizierter internationaler Vereinbarungen mit bildungspolitischer und pädagogischer Bedeutung (u.a. die Internationale und die Europäische Menschenrechtskonvention), die sozialen Emanzipations- und Protestbewegungen der 1960er, 1970er Jahre (u.a. die Bürgerrechts- oder die Frauenbewegung) und die Europäische Integration mit den daraus folgenden Freizügigkeitsregelungen und Mobilitätsprogrammen.
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Die IKP ist eine erziehungswissenschaftliche Reaktion auf diese Veränderungen mit spezieller Aufmerksamkeit für die Folgen der Zuwanderung für Bildung und Erziehung. Anfangs ging es um die Folgen des nach 1973, als Reaktion auf den Anwerbestopp, verstärkt einsetzenden Familiennachzugs und um die infolgedessen steigenden Zahlen ausländischer Schüler/innen. Die zur Eingliederung dieser neuen Schülergruppe getroffenen bildungspolitischen Maßnahmen lösten kontroverse Diskussionen aus, an denen sich Personen aus der Schulpraxis und aus den (sozialpädagogischen) Unterstützungsinitiativen, aus der Schuladministration und aus der Wissenschaft beteiligten. Aus diesen Diskussionen hat sich die IKP entwickelt (siehe KrügerPotratz 2005, Kap. 1.5).
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1.1 Schulpolitik, Minderheiten und Migration bis Ende des Zweiten Weltkriegs Die Geschichte der IKP als Fachgebiet oder Teildisziplin in der Erziehungswissenschaft reicht – so gesehen – in die 1960er Jahre zurück und scheint eine Folge fehlgesteuerter Zuwanderung. Doch die Frage nach dem ‚richtigen’ Umgang mit nationaler, ethnischer, sprachlicher und kultureller Heterogenität begleitet die öffentliche Schule seit ihren Anfängen im 17., 18. Jahrhundert, also seit dem Zeitpunkt, zu dem der Staat (im Folgenden dargestellt am Beispiel des preußischen Staats) begonnen hat, seinen Erzieherwillen in Form von ersten Verordnungen zur Einrichtung einer öffentlichen Elementarschule zu bekunden (Gogolin & Krüger-Potratz 2017, Kap. 2.4). Denn mit ihrer Einrichtung wurde zugleich explizit festgelegt, wer sie besuchen musste (Unterrichtspflicht), und was, wer, zu welchem Ziele in ihr lernen sollte (Lehrpläne, Schulbücher). Implizit folgte daraus, für wen sie nicht oder nur im Ausnahmefall gedacht war, und was nicht Gegenstand des Lehrens und Lernens sein sollte. Gedacht war die öffentliche Schule für alle ‚landeseigenen’ Kinder, sofern sie nicht anderweitig (z.B. durch Hauslehrer oder in Privatschulen) unterrichtet wurden. Dies galt auch für Kinder der autochthonen sprachlichen und ethnischen Minderheiten, da sie preußische Untertanen bzw. Staatsangehörige waren. Nicht konzipiert war die öffentliche Schule – und diese Regelung galt bis Mitte des 20. Jahrhunderts – für ‚landesfremde’ Kinder: Kinder fremder Staatsangehörigkeit unterlagen nicht der Unterrichts- bzw. Schulpflicht (Krüger-Potratz 1997). Dass die Kinder der sprachlichen Minderheiten in ihrer (nicht deutschen) Sprache unterrichtet wurden, ist zunächst geduldet, wenn auch von verschiedener Seite schon ab Anfang des 19. Jhdts. kritisiert worden. Stets ging es darum, die deutsche Sprache als einzige Unterrichts- bzw. Bildungssprache durchzusetzen. Ab den 1870er Jahren (Kaiserreich) gingen die Behörden zunehmend restriktiver vor, vor allem in den polnischsprachigen Gebieten, bis hin zum Verbot des Lese-, Schreib- und Religionsunterrichts in der Minderheitensprache und zu Strafmaßnahmen gegen Lehrer oder auch Schulen, die die Politik der Germanisierung nicht erfolgreich umgesetzt oder sich auch dagegen aufgelehnt haben. Nach dem Ersten Weltkrieg musste Deutschland zwar auf internationalen Druck den Minderheiten das Recht auf Unterricht in ihrer Sprache gewähren, doch die entsprechend geänderten Erlasse sind in den 1920er und frühen 1930er Jahren nur zögerlich umgesetzt worden. In der NS-Zeit war eine Berücksichtigung der Minderheitensprachen ausgeschlossen; das Bekenntnis zur Minderheitenzugehörigkeit konnte Anlass für Verfolgung sein. Zur (Vor-)Geschichte der IKP bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs gehören außer den innenpolitischen homogenisierenden Schul- und Sprachpolitiken auch die der gleichen nationalen bzw. nationalistischen Logik verpflichteten diskriminierenden, rassistischen Sprach- und Bildungspolitiken in den deutschen Kolonien (1894-1918) und deren Legitimierung im Rahmen des Unterrichts in den (preußischen) Schulen. Auch nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ver-
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lust der Kolonien unterstrich das Preußische Kultusministerium, dass es „im vaterländischen Interesse“ sei, „den kolonialen Gedanken in der heranwachsenden Jugend weiterzupflegen und das Verständnis für die Wichtigkeit des überseeischen Besitzes bei der Jugend zu wecken und zu vertiefen“ (Ministerialerlaß Okt.1919). Ein weiterer Bereich, der zur Geschichte der IKP gehört, sind die schulischen und außerschulischen Aktivitäten zur Unterstützung der deutschen Minderheiten im Ausland zwecks „Erhaltung des Bewußtseins der Kulturgemeinschaft mit den Auslanddeutschen“ (Ministerialerlass 1921) bzw. zur „Erhaltung des Deutschtums“ in den infolge des Krieges abzutretenden Gebieten (Ministerialerlass Nov. 1919; vgl. auch Gogolin & Krüger-Potratz 2017, Kap. 3.2).
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1.2 Schulpolitik, Minderheiten und Migration in der BRD (1950-1990) Nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. nach Gründung der Bundesrepublik sind die Fragen, wer unter welchen Bedingungen die Schule besuchen muss und welchen Besonderheiten Rechnung zu tragen ist, neu entschieden worden: Die dänische Minderheit, die einzige auf dem Gebiet der BRD verbliebene autochthone sprachliche Minderheit, erhielt in dem ihr ‚angestammten’ Gebiet in Südschleswig das Recht auf Unterricht und Schulen in Dänisch. Dies kann als ein Moment von Kontinuität insofern gesehen werden, als die Bundesrepublik an der rechtlichen Situation in der Weimarer Republik anknüpfte. In der Frage der Beschulung ausländischer Kinder hingegen kann man von einer schulrechtlichen Zäsur sprechen. Sie wurden erstmals und bundesweit im Verlauf der 1950er bzw. 1960er Jahre in die allgemeine Schulpflicht einbezogen, sofern sie sich rechtmäßig in der BRD aufhielten. Doch auch die zur Umsetzung der neuen rechtlichen Lage erlassenen bildungspolitischen Regelungen und etablierten Maßnahmen für den Unterricht ausländischer Kinder und Jugendlicher lassen Elemente von Kontinuität erkennen: Zum einen wurde explizit wiederum nur für den Pflichtschulbereich geregelt, welche Eingliederungshilfen bereitzustellen waren, auch wenn rechtlich alle Schulformen den zugewanderten Schüler/innen offen standen, und zum anderen waren die Eingliederungshilfen erneut als ‚Maßnahmen der Besonderung’ konzipiert, so dass der ‚Normalbetrieb’ der (deutschen) Schule davon möglichst nicht beeinträchtigt wurde. Dass Eingliederungsmaßnahmen für zugewanderte Schüler/innen auch differenzierter und integrativer gestaltet werden konnten, lässt sich an den 1980er, 1990er Jahren getroffenen Regelungen für Aussiedlerkinder und -jugendliche ablesen (Puskeppeleit & Krüger-Potratz 1999, Bd.2, S. 169ff). Hinzu kamen Regelungen für spezielle Gruppen, wie z.B. für die Kinder der Alliierten bzw. der Nato-Truppen oder internationale Schulen (vgl. Hansen & Wenning 2013, Kap. 3.9). 1.3 Schulpolitik, Migration und Minderheiten in der DDR (1950-1990) Die schulpolitischen und pädagogischen Aktivitäten im Umgang mit sprachlicher, ethnischer und nationaler Differenz in der DDR sind ebenfalls Teil der Geschichte der IKP in Deutschland. Die auf dem Gebiet der DDR lebende autochthone Minderheit der Sorben erhielt in ihrem „angestammten Gebiet“ das Recht auf Unterricht in sorbischer Sprache. Ausländische Kinder waren im Prinzip schulpflichtig, da sie in den gesetzlichen Regelungen nicht explizit von der Schulpflicht ausgenommen waren. Spezielle Regelungen zu ihrer Beschulung in der öffentlichen Schule gab es nicht – zumindest nicht offiziell. Die Zahl ausländischer Schüler/innen, die mit ihren Familien in der DDR lebten und eine Regelschule besuchten, war aufgrund der restriktiven Ausländer- und Asylpolitik der DDR sehr gering. Nur die Kinder verschiedener, von der DDR aufgenommener Flüchtlinge („Politemigranten“) sowie Kinder von Diplomaten oder
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ausländischen Experten z.B. haben zeitweise den Schulalltag mit DDR-Schüler/innen geteilt (Poutrus 2005). Andere, z.T. relativ große Gruppen, sind gesondert beschult worden: die Kinder der sowjetischen Streitkräfte sowie die im Rahmen politisch-pädagogischer Solidaritätsprojekte aufgenommenen Gruppen von Kindern (z.B. aus Vietnam, Mosambik oder Namibia). Insofern gab es in der DDR durchaus Erfahrungen mit der Beschulung von Kindern einer innerstaatlichen Minderheit und von ausländischen Kindern. Doch dies war nicht Gegenstand (fach-) öffentlicher Diskussion und öffentlich zugänglicher pädagogischer Forschung (vgl. Krüger-Potratz 1991). Insofern kann man für die DDR von einer disziplinären ‚Leerstelle’ sprechen. Zu erforschen bleibt, was dies für die Entwicklung der IKP als Fachgebiet nach 1990 bedeutet (hat).
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2 Interkulturelle Pädagogik – Entwicklung als (inter)disziplinäres Fachgebiet ab den 1960er Jahren Der Einbezug ausländischer Kinder und Jugendlicher in die allgemeine Schulpflicht in den 1950er, 1960er Jahren in den elf Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland stellt nicht nur schulpolitisch, sondern auch disziplinär eine Zäsur dar. Erstmals haben einzelne Vertreter/ innen aus der Allgemeinen und der Vergleichenden Erziehungswissenschaft oder aus der Sozialpädagogik sich systematisch mit der Frage sprachlicher, kultureller, ethnischer und nationaler Heterogenität als Ausgangslage für Bildungsprozesse in Deutschland befasst, teilweise in Kooperation mit Wissenschaftler/innen anderer disziplinärer Zugehörigkeit (insbesondere aus der Linguistik, der Germanistik resp. der Fachdidaktik Deutsch und dem Fachgebiet Deutsch als Fremdsprache, aber auch aus der Politikwissenschaft, der Soziologie oder der Ethnologie) und im Austausch mit Personen aus der Schuladministration, der Schulpraxis und den sozialpädagogischen paraschulischen Angeboten (z.B. Hausaufgabenhilfe, Nachmittagsbetreuung). In der Erziehungswissenschaft wurde die Thematik zunächst als ‚Sonderfall’ des Rechts auf Bildung wahrgenommen, ohne Relevanz für die zeitlich parallel in den 1960er, 1970er Jahren geführten Auseinandersetzungen über Chancen(un)gleichheit. Die infolge der rechtlichen Gleichstellung, aber unzureichenden Eingliederungsunterstützung geschaffene neue ‚Gruppe benachteiligter Schüler/innen’ wurde nicht in die Überlegungen einbezogen. Rückblickend wirkt die Herausbildung der IKP wie eine Arbeitsteilung in Fragen des Umgangs mit Heterogenität: Die Erziehungswissenschaft thematisiert(e) weiterhin die ‚einheimische Heterogenität’ entlang der Differenzlinien Sozialstatus, Geschlecht, regionale Herkunft und Konfession, die entstehende IKP befasst sich mit der ‚migrations- und damit fremdheitsbedingten Heterogenität’. Diese ‚Arbeitsteilung’ förderte die ‚Eigenständigkeit’ der Interkulturellen Pädagogik und isolierte sie zugleich, eine disziplinäre Schieflage, auf die schon Anfang der 1980er Jahre hingewiesen worden ist: Wie immer man auch die „Herausbildung der ‚Ausländerpädagogik’ als einer relativ eigenständigen Subdisziplin beurteilen, und wie immer sie zukünftig verlaufen mag, es [werde und könne] nie eine Subdisziplin ‚Ausländerpädagogik’ geben (...), die die Erziehungswissenschaft bzw. deren herkömmliche Subdisziplinen davon entbindet, sich mit den Folgen der internationalen (Arbeits-)Migration im Bereich von Bildung und Erziehung auseinanderzusetzen“ und damit zugleich auch „mit ihrer eigenen Geschichte und der Tatsache (...), dass sie ihre „Theorie- und Wissensbestände [vorrangig] an einheimischen Problemen mit einheimischen Kindern“ in Ausgrenzung des und der Fremden gewonnen hat (Krüger-Potratz 1983, S. 173). Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre zeichnete sich ein Perspektivwechsel ab: Betont wurde, dass die migrationsbedingte sprachliche, kulturelle, ethnische Pluralisierung der (nationalen) Gesellschaften als ein Element von Globalisierung und der damit einhergehenden tiefgreifen-
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3 Interkulturelle Pädagogik: Institutionalisierung, Sichtwechsel und Bezeichnungen Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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den und nachhaltigen Veränderungen der nationalen Gesellschaften und ihrer Bildungssysteme insgesamt zu verstehen sei. Diese Veränderungen erforderten daher nicht spezielle Pädagogiken, z.B. für Zugewanderte, sondern eine ‚Pädagogik für alle Heranwachsenden’. In diesem Sinne sind ab den 1990er Jahren verstärkt Forschungen initiiert worden, die ihren Blick stärker auf das Bildungssystem, auf Strukturen, institutionelle Routinen und auf das Zusammenwirken migrationsbedingter Heterogenität mit weiteren Differenzlinien gerichtet haben (insbesondere Sozialstatus und Geschlecht, aber auch physische und psychische Beeinträchtigungen, Weltanschauung, sexuelle Orientierung usw.), um daraus Konsequenzen für die Schulentwicklung wie auch für die Lehrerbildung zu ziehen. Auf eine Formel gebracht lautete die Aufforderung, Diversität als Ressource und nicht ‚Störfaktor’ zu begreifen. Für diese Diskussionen hat u.a. die Rezeption der unter dem Stichwort Intersektionalität geführten Diskussionen über gesellschaftliche Ungleichheit und Rassismus in den USA eine wichtige Rolle gespielt (siehe auch Abschnitt 4).
Äußere Anzeichen für die Etablierung der IKP als neues Fachgebiet waren z.B. die ab den 1980er Jahren steigende Zahl wissenschaftlicher Publikation und Tagungen, die Einrichtung spezieller Lehrangebote (u.a. Zusatzstudiengänge), das Erscheinen erster Periodika und erster Publikationen der Selbstvergewisserung, die Gründung von (interdisziplinären) Forschergruppen, z.B. ALFA – Ausbildung von Lehrern für Ausländerkinder und vor allem die Arbeiten aus dem DFG-Forschungsschwerpunktprogramm „FABER – Folgen der Arbeitsmigration für Bildung und Erziehung“ (1990 – 2005). In den 1990er Jahren erfolgte zudem schrittweise die professionspolitische Verankerung der IKP als Kommission in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE). Die hier skizzierten Entwicklungen sind nicht als Fortschrittsgeschichte zu lesen. Nachgezeichnet wird vielmehr eine disziplinäre Entwicklungslinie, herausgelöst aus einem Diskursfeld, in dem die Frage, was unter Interkultureller Pädagogik zu verstehen sei, seit den 1980er Jahren kontrovers diskutiert wird, nicht selten auch verbunden mit Vorschlägen für eine neue, für angemessener gehaltene Bezeichnung des Fachgebiets. „Ausländerpädagogik“ war die erste, in den 1960er Jahren aufgekommene Bezeichnung (parallel zu „Ausländerarbeit“ für die außerschulischen Aktivitäten und „Ausländerforschung“). Sie spiegelte die damalige Sichtweise: Der Blick war auf die zugewanderten Personen, auf deren ‚Ausländerstatus’ und den als zeitlich begrenzt angesehenen Aufenthalt in der Bundesrepublik gerichtet. Ab Ende der 1970er Jahre wurde die Bezeichnung unter verschiedenen Gesichtspunkten kritisiert, u.a. mit der Begründung, dass Ausländer keine pädagogische Kategorie und Ausländerpädagogik keine Pädagogik sei, da sie sich an Nationalitäten und nicht an Menschen orientiere. Sie sei die Bezeichnung für eine „‚Sonderpädagogik’ und ‚Rassen- und Exotenpädagogik’ (...), d.h. eine neue Form von Diskriminierung. Der einzig angemessene Begriff [sei] ‚Interkulturelle Pädagogik’ für die entsprechende Wissenschaft (...), weil er gleichermaßen eine interkulturelle Erziehung für Angehörige der ethnischen und kulturellen Majorität wie der der Minorität impliziert“ (Essinger 1984, S. 245; zu den weiteren Auseinandersetzungen vgl. Krüger-Potratz 2005, S. 24-27). Von den verschiedenen Vorschlägen für eine dem Gegenstand und der Zielsetzung angemessene Bezeichnung setzte sich mit der Zeit „interkulturelle Pädagogik“ durch, ohne dass die Suche nach einer treffenderen Bezeichnung damit endete. ‚Interkulturelle Pädagogik’, bzw. alle mit der Beifügung ‚interkulturell’ gebildeten Bezeichnungen, sind ihrerseits relativ schnell in die Kritik geraten, sowohl hinsichtlich des Wortelements ‚Kultur’ wie des Präfixes ‚inter’. Inter-kulturell,
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so die Kritik, suggeriere, dass infolge der Zuwanderung zwei in sich geschlossene ‚Kulturen’ aufeinanderträfen, da ‚Kultur’ als etwas letztlich Unveränderbares verstanden werde, nicht aber als prozesshaft, mehrdeutig und interpretationsoffen. Außerdem sei mit diesem statischen Verständnis von Kultur die Idee von Kulturdifferenz im Sinne von Kulturgefälle oder auch Kulturschock verbunden – Konstrukte, die die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die wir/sie-Hierarchie und die damit verbundenen rassistischen Diskriminierungen von Zugewanderten kaschierten. Diese Diskussion, einschließlich der Auseinandersetzungen mit dem Kulturbegriff, wird weiterhin – durchaus auch unter der Bezeichnung ‚Interkulturelle Pädagogik’ geführt, in der Regel verbunden mit der Frage, inwieweit die (historisch herausgebildeten) Strukturen von Bildung, die leitenden Theorien und Konzepte Lösungen für aktuelle Probleme der Bildung unter Heterogenitätsbedingungen bieten. Die Bezeichnung IKP steht somit inzwischen für eine Vielzahl von Forschungszugängen und pädagogischen Konzepten sowie ersten bildungspolitischen Rahmungen (z.B. KMK 1996/2013) und für ein Bildungswesen und eine Pädagogik, die die Heterogenität ihrer Adressat/innen zum Ausgangs- und Bezugspunkt ihrer Arbeit nimmt. In diesem Sinne könnte man die Bezeichnung ‚Interkulturelle Pädagogik’ als ein inzwischen vielleicht zu kleines ‚Begriffs-Dach’ sehen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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4 Interkulturelle Pädagogik – Fachgebiet und Querschnittsaufgabe in der aktuellen Diskussion Die Auseinandersetzungen über die richtige Bezeichnung dauern an. Gemeinsam ist ihnen die Vermeidung des Begriffs ‚Kultur’ und dass versucht wird, eine Bezeichnung zu finden, die auch der Diskussion über Diversity, Heterogenität, Intersektionalität, Inklusion gerecht wird. Dabei werden entweder die Aufgabenstellung und damit das Fachgebiet enger gefasst, oder es wird versucht, unter einem neuen ‚Begriffs-Dach’ verschiedene ‚Differenz-Pädagogiken’ zusammenzuführen bzw. zu einem Konzept zu verbinden. Einige Autor/innen sehen ihre Bezeichnung als Alternative zum Namen ‚Interkulturelle Pädagogik’; andere schlagen zwar eine neue Bezeichnung vor, sprechen aber auch parallel von Interkultureller Pädagogik. Sie sind sozusagen auf der Suche nach einer Bezeichnung, die eine weiterreichende Perspektive in Forschung und Praxis anzeigt, sehen aber auch die Gefahr, dass die erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung (wieder) marginalisiert werden könnte. Hierzu vier Beispiele: Paul Mecheril versteht „Migrationspädagogik“ als Alternative zur Bezeichnung ‚Interkulturelle Pädagogik‘ und als Präzisierung des Gegenstandes des Fachgebiets durch die Konzentration auf Migration. ‚Migrationspädagogik’ vermeide „die Einengung auf eine kulturelle Betrachtung der mit Wanderung verbundenen Phänomene“; stattdessen würden die migrationserzeugten „Zugehörigkeitsordnungen“ ins Zentrum der Betrachtung gerückt. „Eine zentrale Aufgabe der Migrationspädagogik besteht in der Beschäftigung mit der Frage, wie der und die Andere unter Bedingungen von Migration erzeugt wird, und welchen Beitrag pädagogische Diskurse und pädagogische Praxen dazu leisten“ (Mecheril 2004, S. 19; Hervorh. im Orig.). In dieser Perspektive hat er weitere Begriffe kreiert, wie z.B. ‚Migrationsandere“ oder „natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit“. Arnd-Michael Nohl sieht seinen Entwurf einer „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten“ als Überwindung der – wie er es formuliert – „klassischen Interkulturellen Pädagogik“. Die „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten“ sei „eine Pädagogik, die wichtige Elemente der [bisherigen] interkulturellen Pädagogik“ unter Vermeidung der jeweiligen „problematischen Aspekte“ aufgreife (Nohl 2006, S. 145). Denn es gehe „nicht nur um ethnisch konnotierte Kulturen, sondern auch um weitere – generationelle, geschlechtsspezifische, regionale und weitere kollek-
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Interkulturelle Pädagogik
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tive Einbindungen – und zwar im Plural“ (ebd.). Letztlich formuliert er unter dem Begriff der ‚Zugehörigkeit’ das, was von anderen Autor/innen unter den Bezeichnungen Diversity, Vielfalt, Heterogenität, Intersektionalität usw. thematisiert wird. Annedore Prengels „Pädagogik der Vielfalt“ (2006; 1. Aufl. 1993) war einer der ersten Versuche, ausgehend von den allen Menschen zustehenden Menschenrechten, die Gemeinsamkeiten von drei pädagogischen Fachrichtungen, die sich mit dem Verhältnis von Differenz, Gleichheit und Pluralität befassen – Feministische Pädagogik, Interkulturelle Pädagogik und Integrationspädagogik – aufzuzeigen und eine Pädagogik „der intersubjektiven Anerkennung zwischen gleichberechtigten Individuen“ zu entwickeln, die sie als „Pädagogik der Vielfalt“ bezeichnet hat (Prengel 2006, S. 62). Wolfgang Nieke, der sich seit den 1980er Jahren immer wieder mit der Entwicklung der IKP als Fachgebiet, den verschiedenen Bezeichnungen und den darunter firmierenden Konzepten auseinandergesetzt hat, hält fest, dass sich die Interkulturelle Pädagogik inzwischen auch mit dem Zusammenwirken migrationsbedingter Ungleichheit mit anderen Ungleichheitsdimensionen auseinandersetze und dass in diesem Sinne, „die bisherige Interkulturelle Pädagogik als Teilbereich einer entsprechend zu gestaltenden bildenden und erzieherischen Vorbereitung auf die Akzeptanz von Vielfalt zu konzipieren“ sei (Nieke 2010, S. 123). In diesem Sinne könne die Interkulturelle Pädagogik als ein Teilbereich unter dem ‚Dach’ der Diversity Education gesehen werden. Allerdings bestehe die Gefahr, dass „eine direkte Orientierung an der Kategorie Diversität inhaltsleer [bleibe] und keine Handlungsorientierung“ vermitteln könne. Daher gebe „der Diskurs über diversity wertvolle Anregungen für die notwendige Weiterentwicklung der Interkulturellen Pädagogik, „aber letztere könne und dürfe auch nicht ganz in der neuen diversity education aufgehen“ (Nieke 2010, S. 122; 125; Hervorh. i.Orig.). Neben dieser Suche nach einer neuen Bezeichnung für das Fachgebiet IKP gibt es in einzelnen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen (z.B. in der Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung, Pädagogik der Frühen Kindheit usw.) den Ansatz, durch Beifügungen wie z.B. diversitätssensibel, differenzsensibel, rassismussensibel, antirassistisch, vorurteilsbewusst anzuzeigen, dass die Frage nach dem Verhältnis von Differenz, Gleichheit und Pluralität eine entscheidende Rolle spielt.
5 Abschließende Anmerkungen Die hier skizzierten Auseinandersetzungen über die Konturierung des Fachgebiets IKP und der Suche nach einer ‚richtigen Bezeichnung’ sind keine Besonderheit der Interkulturellen Pädagogik. Analoge Auseinandersetzungen sind in anderen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen wie generell in den Sozialwissenschaften anzutreffen. Sie sind ein Anzeichen dafür, dass ein Fachgebiet bzw. eine (Teil-)Disziplin ‚in Bewegung’ ist und dass ihre Vertreter/innen auf Veränderungen im Gegenstandsfeld und neue Sichtweisen in den nationalen wie internationalen Fachdiskursen reagieren. Festzuhalten bleibt: Die Fragen, die die Interkulturelle Pädagogik bearbeitet, sind nicht neu, aber sie stellen sich angesichts veränderter gesellschaftlich-politischer Verhältnisse stets neu. Bezogen auf die öffentliche, staatliche Bildung sind sie eng verbunden mit der Herausbildung und Entwicklung derselben seit dem 17., 18. Jahrhundert und vor allem mit der Nationalisierung der Bildung ab Mitte des 19. Jahrhunderts und den entsprechenden national-homogenisierenden Diskursen zur Frage des Gegenstandsfeldes der Pädagogik, der Adressatengruppen von Bildung und Erziehung wie der Zielsetzungen. Ging es zunächst nur um die öffentliche Pflichtschule, so sind heute – zumindest dem Prinzip nach – alle Bildungseinrichtungen, vom Kindergarten bis
Marianne Krüger-Potratz
zur beruflichen Bildung, den Hochschulen und Erwachsenenbildungseinrichtungen wie auch die paraschulischen Lernorte und die Familie als Sozialisationsinstanz wie als Partner der (vor-) schulischen Bildungseinrichtungen einbezogen. Das Gegenstandsfeld der Interkulturellen Pädagogik ist das der Erziehungswissenschaft. Sie bearbeitet es unter ihrer Perspektive, d.h. unter besonderer Berücksichtigung der Veränderungen, die sich infolge von Globalisierung, Europäischer Integration und den damit zusammenhängenden Migrations- bzw. Mobilitätsprozessen ergeben. Diese Veränderungen tangieren zugleich die Erziehungswissenschaft insgesamt; in diesem Sinne kann man von interkultureller Bildung als Querschnittsaufgabe sprechen. Die IKP ist interdisziplinär ausgerichtet, insbesondere mit engem Bezug zur Forschung über sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit, zur sozialwissenschaftlichen Ungleichheitsforschung und Migrationsforschung, und sie ist mit sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen, die sich mit ähnlich gelagerten Problemstellungen auseinandersetzen, wie z.B. die Geschlechterforschung, eng vernetzt. Literatur
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Essinger, Helmut (1984): Pädagogische Ausbildung (für Erzieher, Sozialarbeiter und Sozialpädagogen). In: Georg Auernheimer (Hg.): Handwörterbuch Ausländerarbeit. Weinheim: Beltz, S. 244-247. – Gogolin, Ingrid & KrügerPotratz, Marianne (2017): Einführung in die Interkulturelle Pädagogik. Opladen: Barbara Budrich (UTB 8246). – Hansen, Georg & Wenning, Norbert (2003): Schulpolitik für andere Ethnien in Deutschland. Zwischen Autonomie und Unterdrückung. Münster: Waxmann. – KMK (1996/2013): Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 25.10.1996 i.d.F. vom 5.12.2013. online verfügbar unter http:// www.kmk.org/bildung-schule/allgemeine-bildung/migration-integration.html [21.10.2016]. – Krüger-Potratz, Marianne (1983): Die problematische Verkürzung der Ausländerpädagogik als Subdisziplin der Erziehungswissenschaft. In: Soziale Arbeit und Ausländerpolitik, S. 172-182. – Krüger-Potratz (1991): „Anderssein gab es nicht“. Ausländer und Minderheiten in der DDR. Mit Beiträgen von Georg Hansen und Dirk Jasper. Münster: Waxmann. – Krüger-Potratz, Marianne (1997): Ein Blick in die Geschichte der ausländischen Schülerinnen und Schüler in deutschen Schulen. In: Christoph Kodron; Botho von Kopp; Uwe Lauterbach; Ulrich Schäfer & Gerlind Schmidt (Hg.): Vergleichende Erziehungswissenschaft, Herausforderungen - Vermittlung - Praxis. Festschrift für Wolfgang Mitter zum 70. Geburtstag, Bd. 2, S. 656-672. – Krüger-Potratz, Marianne (2005): Interkulturelle Bildung. Eine Einführung. Münster: Waxmann. – Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz. – Ministerialerlaß (Okt. 1919): „ME. vom 25. Oktober 1919, betr. Weiterpflege des kolonialen Gedankens“. In: Preußisches Volksschularchiv (18), 1920, S. 325. – Ministerialerlaß (Nov. 1919): „ME. betr. Lehrkräfte für die deutschen Schulen in den an Polen abzutretenden Gebieten, vom 29. November“. In: Preußisches Volksschularchiv 18, 1920, S. 297. – Ministerialerlaß (1921) „Erhaltung des Bewußtseins der Kulturgemeinschaft mit den Auslanddeutschen und zum VDA vom 18.12.1921“. In: Pastenaci, Theodor & Ewers, Georg (Hg.): Schulrecht für die Volks-, mittleren und Privatschulen sowie für die ländlichen Fortbildungsschulen. Minden: Leonardy & Co 1927, S. 687. – Nieke, Wolfgang (2010): Von der Interkulturellen Pädagogik zu einer Diversity Education? Abschied von der Interkulturellen Pädagogik? In: Marianne Krüger-Potratz; Ursula Neumann & Hans-Heinz Reich (Hg.): ... bei Vielfalt Chancengleichheit. Münster: Waxmann, S. 117-126. – Nohl, Arnd-Michael (2006): Konzepte interkultureller Pädagogik. Eine systematische Einführung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. – Prengel, Annedore (2006): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. 3. Aufl. Wiesbaden: VS. – Poutrus, Patrice G. (2005): „Teure Genossen“. Die „politischen Emigranten“ als „Fremde“ im Alltag der DDR-Gesellschaft. In: Christian T. Müller & Patrice G. Poutrus (Hg.): Ankunft - Alltag - Ausreise. Migration und interkulturelle Begegnung in der DDR-Gesellschaft. Köln: Böhlau. – Puskeppeleit, Jürgen & Krüger-Potratz, Marianne (1999): Bildungspolitik und Migration. Texte und Dokumente zur Beschulung ausländischer und ausgesiedelter Kinder und Jugendlicher 1950 bis 1999. Münster: Arbeitsstelle Interkulturelle Pädagogik, Bd. 2 (iks – interkulturelle Studien, 32).
Vergleichende Erziehungswissenschaft
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32 Vergleichende Erziehungswissenschaft Sabine Hornberg und Hans-Georg Kotthoff
In der Literatur zur Geschichte der Vergleichenden Erziehungswissenschaft (VE) wird die von Marc-Antoine Jullien verfasste und 1817 veröffentlichte Programmschrift vielfach als erster Versuch dargestellt, eine auf überprüfbaren Fakten und Beobachtungen basierende „éducation comparée“ als eigenständiges, internationales akademisches Forschungs- und Arbeitsfeld zu etablieren. Orientiert an den Methoden der Naturwissenschaften schlug Jullien vor, nach bestimmten Kriterien Daten zu Bildung und Erziehung in verschiedenen europäischen Staaten zu sammeln und so aufzubereiten, dass aus ihnen Regeln und Gesetzmäßigkeiten für einen effektiveren Unterricht abgeleitet werden könnten. Unter Bezug auf die von ihm vorgeschlagene Methodik wird er auch „als Begründer einer modernen eigenständigen (empirischen) Erziehungswissenschaft“ gesehen (Adick 2008, S. 21). Heute wird die Frage, ob die VE eher eine wissenschaftliche ‚Disziplin‘ oder ein ‚Forschungsfeld‘ der Erziehungswissenschaft ist, kontrovers diskutiert. Während in älteren Schriften die Vertreter der VE, wie etwa Noah und Eckstein (1969), explizit von einer „science of comparative education“ sprechen, ist in neueren Veröffentlichungen zur VE eher von einem Forschungsfeld die Rede (vgl. Manzon 2011). In der Bundesrepublik Deutschland wurde zunächst zwischen VE und Internationaler Erziehungswissenschaft unterschieden; erstere wurde als forschungsbezogen, letztere als eher praxisbezogen definiert. In jüngster Zeit ist zunehmend von ‚Internationaler und Vergleichender Erziehungswissenschaft‘ (IVE) die Rede (Amos & Parreira do Amaral 2015), auch um eine Annäherung der beiden Perspektiven zum Ausdruck zu bringen.
1 Forschungs- und Gegenstandsbereiche der Vergleichenden Erziehungswissenschaft Konstitutiv für die VE ist der Bezug auf die Nation, wie sie in nationalen Bildungssystemen ihren Ausdruck findet. Das nationalstaatliche Paradigma bestimmt die etwa zweihundertjährige Geschichte der Entwicklung öffentlicher Bildung(ssysteme) im Prozess der Entstehung und Etablierung moderner Nationalstaaten. Nation wird in diesem Verständnis gleichgesetzt mit Staatsnation. Ihre legitimatorische Basis ist eine „imagined community“ (Anderson 1983), die im Zuge von Inklusions- und Exklusionsprozessen in einem abgrenzbaren Raum, dem Staatsterritorium, entsteht. Die jeweiligen Bildungssysteme sind so konzipiert, dass sie die Realisierung und Reproduktion der „imagined community“ durch den Unterricht generell und speziell durch die Erziehung zum Staatsbürger bzw. zur Staatsbürgerin fördern sollen. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Verwendung der jeweils zur Nationalsprache erklärten Sprache als Unterrichtssprache. Der nationalstaatliche Gegenstandsbezug von Bildungssystemen hat im Laufe der Zeit aufgrund von Migration, Internationalisierung und Globalisierung unübersehbar Entgrenzungen erfahren. Angesichts dieser Entwicklungen zählt Christel Adick (2008, S. 47) in ihrer Einführung in die VE nicht nur Erziehung und Bildung in fremden Ländern und Kulturen und internationale Bildungspolitik, sondern auch die Internationale Erziehung und die Interkulturelle Erziehung
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Sabine Hornberg und Hans-Georg Kotthoff
zum Forschungsbereich der VE (ebd., S. 47). Cristina Allemann-Ghionda (2004) knüpft in ihrer Einführung in die Vergleichende Erziehungswissenschaft explizit an Fragestellungen der Interkulturellen Pädagogik (IKP) an und leitet daraus ab, dass z.B. die Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit und Interkulturalität in pluralen Gesellschaften und ihren Bildungsinstitutionen bei der Beschreibung und Analyse (nationaler) Bildungssysteme zu berücksichtigen seien (ebd., S. 81-106).
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2 Zum Verhältnis von Vergleichender Erziehungswissenschaft und Interkultureller Pädagogik: historische und institutionelle Entwicklungen aus Sicht der Vergleichenden Erziehungswissenschaft An der Re-Institutionalisierung der VE als akademischer Disziplin nach dem Zweiten Weltkrieg waren zum einen Komparatisten beteiligt, die schon in der Zeit der Weimarer Republik in diesem Bereich geforscht und gelehrt hatten. Hinzu kamen jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, darunter einige, die in Osteuropa aufgewachsen waren und deren Familien in den 1920er und 1930er Jahren aus Russland, der Ukraine oder Polen nach Deutschland migriert waren. Innerdisziplinär und politisch zeitgemäß zeigte sich dies darin, dass das Interesse der (west-)deutschen VE insbesondere dem „Osten“ einschließlich der DDR bzw. dem Systemvergleich ‚Ost-West‘ galt (Stübig 1997; Kotthoff 2015; Waterkamp 2007, S. 140), wenngleich im Zuge der Bildungsreformprojekte der 1960er, 1970er Jahre, wie zum Beispiel der Gesamtschulreform, das Interesse auch auf entsprechende Reformentwicklungen in verschiedenen westlichen Staaten gerichtet war. Ab Ende der 1960er Jahre hat sich die VE in mehreren Schritten auch professionspolitisch etabliert und ab den 1970er Jahren ausdifferenziert. 1961 wurde die „Arbeitsgemeinschaft für Vergleichende Erziehungswissenschaft“ gegründet, die 1964 – nach Gründung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) die „erste satzungsgemäße DGfE-Kommission“ wurde (Adick 2008, S. 25). Im Verlauf der 1970er Jahre kam es zu ersten Ansätzen der Diversifizierung: Zum einen bildete sich 1978 auf Initiative der Komparatisten, deren Interesse sich auf die ‚Dritte Welt‘ richtete und die eine neue Forschungskultur (Bildungsforschung mit ....) anstrebten, die „Kommission Bildungsforschung mit der Dritten Welt“ (Waterkamp 2007, S. 145); zeitlich parallel gab es erste Anzeichen für eine migrationsbezogene Ausdifferenzierung (siehe Krüger-Potratz 1979, S. 46-49), verbunden mit der Aufforderung an die VE, die ‚Internationalisierung im Inneren’ (internationalization at home) als Teil ihres Gegenstandsfeldes zu begreifen (Adick 2008). Dies ist zunächst nur insoweit aufgenommen worden, als es einige wenige Untersuchungen über entsprechende Entwicklungen in anderen Ländern und erste Beiträge zum Verhältnis von VE und IKP gegeben hat (siehe z.B. VE-Informationen 1987). Als eigenständige Untergliederung in der „Kommission für Vergleichende Erziehungswissenschaft“ hat sich die Interkulturelle Pädagogik allerdings erst Anfang der 1990er Jahre etabliert, zunächst als „Arbeitsgemeinschaft auf Zeit“ und 1999 als eine von drei Kommissionen in der Sektion Internationale und Interkulturelle Vergleichende Erziehungswissenschaft (SIVE) (Wenning 2010). Seit Beginn der 2000er Jahre hat es weitere Veränderungen gegeben; vor allem aber sind die ‚Grenzen’ zwischen den Forschungsfeldern und damit zwischen den drei Kommissionen zunehmend durchlässiger geworden. Die IVE arbeitet inzwischen generell, aber auch in Fragen interkultureller Bildung, stärker mit anderen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen zusammen, insbesondere mit der Allgemeinen Erziehungswissenschaft und der Schulpädagogik und parallel hat sich die Erziehungswissenschaft insgesamt international geöffnet.
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3 Interkulturalität als Gegenstand der Vergleichenden Erziehungswissenschaft Seit den 2000er Jahren ist eine stärkere Verbindung von IVE und IKP zu beobachten. Zwar werden interkulturelle Fragestellungen in der international vergleichenden Forschung nicht systematisch berücksichtigt, aber es finden sich entsprechende Beiträge, z.B. zur Schulentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft (Gomolla 2005) oder zum Stand der Interkulturellen Pädagogik im internationalen Vergleich (Gogolin et al. 2003). Explizit werden interkulturelle Fragestellungen im internationalen Vergleich beispielsweise mit Bezug auf Europa aufgegriffen (vgl. Hornberg 1999; Allemann-Ghionda 2008). Daten zur Bildungsbeteiligung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund liefern regelmäßig Europäische Institutionen wie Eurydice und Veröffentlichungen aus dem Kontext der internationalen Schulleistungsstudien. Auch unter dem ‚Dach’ der internationalen Erziehung und im Kontext der Bildung für Nachhaltige Entwicklung werden interkulturelle Aspekte thematisiert (Wulf & Merkel 2002). Im Anschluss an Diskurse zu Bildung und Globalisierung arbeiten in jüngerer Zeit Vertreter/innen der VE wie auch der IKP zu transnationalen Bildungsräumen, Bildungsorganisationen und Bildungsbiographien (Fürstenau 2004; Hornberg 2010). Für die Forschung über transnationale Entwicklungen im Rahmen von Bildung und Erziehung spricht ein starkes Argument: “(…) the transnational movement of people, but also the transnational flow of finance, technology, media, ideas and educational reform make it necessary to broaden the narrow distinction between majority-minority and think instead in terms of transcultural and international studies. Many concepts of multicultural education still operate in a nation-state interpretive framework, albeit from a critical perspective” (Steiner-Khamsi 2009, S. 39). Die VE hat sich als erziehungswissenschaftliche Teildisziplin zur Beobachtung und Analyse der bildungspolitischen und pädagogischen Entwicklungen jenseits der (eigenen)staatlichen Grenzen herausgebildet; ein hauptsächliches Ziel ist die Verbesserung oder Legitimierung von Entscheidungen und Reforminitiativen diesseits der Grenze. Die nationale Perspektive war über lange Zeit bestimmend unter Vernachlässigung der faktischen sprachlich-kulturellen und ethnischen Heterogenität (autochthone Minderheiten) wie der migrationsbedingten Herausforderungen in den untersuchten anderen Ländern wie im eigenen Land. Die IKP hat in den 1970er Jahren an dieser Stelle angesetzt; ihr Blick ist vor allem auf die ‚Internationalisierung im eigenen Land’ gerichtet, vielfach unter Vernachlässigung der internationalen Perspektive. Doch infolge von Internationalisierung, Globalisierung und Transnationalisierung finden inzwischen beide Perspektiven nicht nur zunehmend Eingang in die jeweils andere Teildisziplin, sondern auch in weitere erziehungswissenschaftliche Teildisziplinen bzw. Fachrichtungen, zum Beispiel in die empirische Bildungsforschung oder die Schulpädagogik. Beide – die Vergleichende Erziehungswissenschaft wie die Interkulturelle – leisten mit ihrer jeweiligen Perspektive auf das Gegenstandsfeld ihren Beitrag zur Internationalisierung der Erziehungswissenschaft ebenso wie das Fachgebiet „Globales lernen“ bzw. „Bildung für nachhaltige Entwicklung“. Literatur
Adick, Christel (2008): Vergleichende Erziehungswissenschaft. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer. – Allemann-Ghionda, Cristina in cooperation with Deloitte Consulting (2008): Intercultural Education in Schools. A Comparative Study. Brussels: European Parliament. – Anderson, Benedict (1983): Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso. – Fürstenau, Sara (2004): Mehrsprachigkeit als Kapital im transnationalen Raum. Perspektiven portugiesischsprachiger Jugendlicher beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt. Münster: Waxmann. – Gogolin, Ingrid; Helmchen, Jürgen; Lutz, Helma & Schmidt, Gerlind (2003): Pluralismus unausweichlich? Blickwechsel zwischen vergleichender und interkultureller Pädagogik. Münster: Waxmann. – Gomolla, Mechtild (2005): Schulentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft. Strategien gegen institutionelle Diskriminierung in England Deutschland und in der Schweiz. Münster: Wax-
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Volker Mehringer und Leonie Herwartz-Emden
mann. – Hornberg, Sabine (1999): Europäische Gemeinschaft und multikulturelle Gesellschaft. Anspruch und Wirklichkeit europäischer Bildungspolitik und -praxis. Frankfurt a.M.: IKO-Verlag. – Hornberg, Sabine (2010): Schule im Prozess der Internationalisierung von Bildung. Münster: Waxmann. – Jullien, Marc-Antoine (1817): Esquisse et vues préliminaires d’un ouvrage sur l’éducation comparée. Paris: Colas. (Faksimile-Druck: Genève, Bureau International d’Education, 1962 bzw. 1992). – Khamsi-Steiner, Gita (2009): The Politics of Intercultural and International Comparison. In: Sabine Hornberg; İnci Dirim; Gregor Lang-Wojtasik & Paul Mecheril (Hg.): Beschreiben - Verstehen - Interpretieren. Stand und Perspektiven international und interkulturell vergleichender Erziehungswissenschaft in Deutschland. Münster: Waxmann, S. 39-61. – Kotthoff, Hans-Georg (2015): Zwischen Renaissance und Bedeutungslosigkeit: Aktueller Stand und Perspektiven der Vergleichenden Erziehungswissenschaft in Deutschland. In: Tertium Comparationes. Journal für international und interkulturelle Vergleichende Erziehungswissenschaft (21) 1, S. 6-26. – Krüger-Potratz, Marianne (1979): Vergleichende Erziehungswissenschaft und Untersuchungen der Lebens- und Sozialisationsbedingungen der Kinder ausländischer Arbeitnehmer. In: Vergleichende Erziehungswissenschaft – Informationen, Berichte, Studien. Münster, Bd. 5, S. 40-52. –Manzon, Maria (2011): Comparative Education. The Construction of a Field. University of Hong Kong: Springer. – Noah, Harold J. & Eckstein, Max A. (1969): Towards a Science of Comparative Education. London: Macmillan. – Parreira do Amaral, Marcelo & Amos, Karin S. (2015): Internationale und Vergleichende Erziehungswissenschaft. Geschichte Theorie Methode und Forschungsfelder. Münster: Waxmann. –Stübig, Heinz (1997): Die Wiederbegründung der Vergleichenden Erziehungswissenschaft in Westdeutschland nach dem zweiten Weltkrieg – Friedrich Schneider und Franz Hilker. In: Bildung und Erziehung 50 (4), S. 467-480. – Waterkamp, Dietmar (2007): The Section for International and Intercultural Comparative Education in the German Society for Education (SIIVEDGE). In: Vandra Masemann; Mark Bray &Maria Manzon (Hg.): Common Interests, Uncommon Goals. Histories of the World Council of Comparative Education Societies and its Members. Hong Kong: University of Hong Kong; Comparative Education Research Centre, S. 139-154. – Wenning, Norbert (2010): Die Institutionalisierung der Interkulturellen Bildung. In: Marianne Krüger-Potratz; Ursula Neumann & Hans-Heinz Reich (Hg.): ... bei Vielfalt Chancengleichheit. Münster. Waxmann, S. 149-158. – Wulf, Christoph & Merkel, Christine (Hg.) (2002): Globalisierung als Herausforderung der Erziehung. Theorien, Grundlagen, Fallstudien. Münster: Waxmann. – VEInformationen (1987): Themenheft: Erziehung in der multikulturellen Gesellschaft. Vergleichende Erziehungswissenschaft. Informationen, Berichte, Studien, Nr. 17. Münster.
33 Bildungsforschung Volker Mehringer und Leonie Herwartz-Emden
Während die Anfänge der Bildungsforschung in den frühen Ansätzen der empirisch pädagogischen Forschung zu sehen sind (vgl. Tippelt & Schmidt 2009), fällt eine genaue historische Festlegung erster interkulturell ausgerichteter Studien im Bereich der Bildungsforschung schwer. Abhängig davon, was unter interkultureller Bildungsforschung verstanden wird bzw. welche theoretischen und empirischen Arbeiten der interkulturellen Bildungsforschung zugerechnet werden, fällt ein Rückblick auf die Geschichte dieses Forschungsbereichs anders aus. Unstrittig erscheint allerdings deren fachliche Ausgangsbasis, zu der neben der Bildungsforschung und der Empirischen Erziehungswissenschaft auch die Vergleichende Erziehungswissenschaft zu zählen ist (vgl. Edelmann et al. 2012).
Bildungsforschung
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1 Interkulturalität als Gegenstand der Bildungsforschung – Ein historischer Abriss Das zu Beginn der 1990er Jahre ins Leben gerufene DFG-Schwerpunktprogramm FABER – Folgen der Arbeitsmigration für Bildung und Erziehung (vgl. Gogolin & Nauck 2000) stellt einen zentralen Schritt zur Etablierung interkultureller Forschungsansätze in der deutschsprachigen Bildungsforschung dar. Ziel des Programms war es, die Veränderungen nachzuzeichnen, die sich infolge von Zuwanderung für Bildung und Erziehung in der Bundesrepublik ergeben hatten (vgl. Gogolin 2000). FABER ist damit als wichtiger Teil eines kritischen Selbstreflexionsprozesses des Forschungsbereichs zu verstehen und markiert ein grundlegendes Umdenken, weg von der Ausländerpädagogik, mit ihrer Betonung von Fremdheit und (kulturellen) Defiziten, hin zu einer interkulturellen Perspektive, die sich nicht mehr nur mit einzelnen Gruppen von Migrant/innen beschäftigt, sondern die sich mit der Zunahme der innergesellschaftlichen sozialen, kulturellen, ethnischen und sprachlichen Heterogenität und deren Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft auseinandersetzt (vgl. Gogolin 2009). Mit der umfassenden und breiten Anwendung dieser Perspektive auf das deutsche Bildungs- und Erziehungssystem hat FABER das Profil der interkulturellen Bildungsforschung nachhaltig geprägt. Ein weiterer wichtiger Schritt in der Entwicklung der interkulturellen Bildungsforschung hin zu einem eigenständigen und anerkannten Forschungszweig in der Bildungsforschung waren die ab Mitte/Ende der 1990er Jahre durchgeführten international vergleichenden Schulleistungsstudien wie beispielsweise TIMSS, IGLU und insbesondere PISA. Auch wenn sie inhaltlich nur wenig neue Akzente für die interkulturelle Bildungsforschung setzten – vieles war in ähnlicher Form schon zuvor untersucht worden –, so trugen sie doch zu einer wesentlichen Popularisierung interkultureller Forschungsfragen bei. Neben Forschung und Politik führten sie auch der breiten Öffentlichkeit vor Augen, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem keine kleine, zu vernachlässigende Gruppe sind (vgl. Gogolin 2009), und welche gesellschaftliche Bedeutung deren Bildungserfolg für die gesamte Gesellschaft hat. Ein großer Teil der Aufmerksamkeit, der heute der interkulturellen Bildungsforschung zukommt, ist auf diese Entwicklung zurückzuführen.
2 Interkulturelle Bildungsforschung – Versuch einer Charakterisierung Die Anzahl der interkulturell ausgerichteten Bildungsforschungsarbeiten hat in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen, so dass mittlerweile von einem eigenständigen Forschungszweig, der interkulturellen Bildungsforschung, gesprochen werden kann. Dieser Forschungsbereich wird im Folgenden entlang verschiedener Aspekte näher charakterisiert. 2.1 Ziel, Erkenntnisinteresse und Forschungsgegenstand Der interkulturellen Bildungsforschung liegt ein primär deskriptives Erkenntnisinteresse zugrunde. Ihr vorrangiges Ziel besteht darin, die Auswirkungen der zunehmenden sozialen, kulturellen, ethnischen und sprachlichen Heterogenität auf Bildung und Erziehung zu untersuchen (vgl. Gogolin 2009). Von dieser deskriptiven erziehungswissenschaftlichen Aufgabe der interkulturellen Bildungsforschung ist die normative pädagogische Aufgabe der Vermittlung interkultureller Bildung (vgl. Krüger-Potratz 2005) zu unterscheiden, auch wenn eine Wechselbeziehung zwischen beiden Bereichen besteht – die Vermittlung kann Gegenstand der interkulturellen Bildungsforschung sein, und die Forschung kann auf der Basis ihrer Ergebnisse wichtige
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Volker Mehringer und Leonie Herwartz-Emden
Impulse für die Gestaltung der Vermittlung geben. Beide Aufgaben in eins zu setzen würde allerdings zu einer wesentlichen Einschränkung des Forschungsgegenstands der interkulturellen Bildungsforschung führen, daher gilt es, diese Unterscheidung zu betonen. In den meisten derzeit vorliegenden Untersuchungen werden die aus Migrationsbewegungen resultierende innergesellschaftliche Heterogenität und deren Folgen für Bildungs- und Erziehungsprozesse in den Blick genommen. Die Untersuchungen konzentrieren sich daher vorwiegend auf nationale Kontexte. Zunehmend rücken aber auch weitere Manifestationen soziokultureller Vielfalt und Pluralität als Untersuchungskontexte in den Fokus, wie beispielsweise die europäische Integration und die innereuropäische Mobilität oder der umfassende Prozess der Globalisierung (vgl. Allemann-Ghionda 2009). Was die untersuchten Bildungsprozesse anbelangt, so reichen diese von formalen über nonformale bis hin zu informellen Bildungsprozessen. Dementsprechend beschäftigt sich die interkulturelle Bildungsforschung mit einer Vielzahl von Bildungskontexten unterschiedlicher Lebensphasen wie beispielsweise Familie, (Vor-)Schule oder Erwachsenenbildung. Alle in Bildungsprozesse involvierten und von der soziokulturellen Heterogenität betroffenen Akteure, die Lernenden selbst, aber auch die den Bildungsprozess anleitenden und gestaltenden Akteure wie Eltern, Lehrer/innen, Pädagog/innen oder die Bildungspolitik können im Fokus des Interesses stehen. Trotz dieser Vielfalt und Breite an Untersuchungsmöglichkeiten zeichnen sich klare Schwerpunkte der bisherigen Forschungsbemühungen ab. Insbesondere den Fragen, wie Migrant/innen und einzelne Herkunftsgruppen im deutschen Bildungssystem platziert sind und welchen Einfluss die sozio-kulturelle Heterogenität auf das Bildungssystem hat, wird breit und häufig nachgegangen. Auch die Familien von zugewanderten Kindern und Jugendlichen und deren Bedeutung für den Bildungserfolg ihrer Kinder stehen sehr häufig im Forschungsfokus. Andere Bereiche hingegen finden bislang nur wenig oder keine Berücksichtigung. Zu diesen Bereichen zählen beispielsweise die interkulturell ausgerichtete Betrachtung der beruflichen Bildung oder grundlegend die Untersuchung non-formaler und informeller Bildungsprozesse. 2.2 Multi-/Interdisziplinarität Im bereits erwähnten FABER-Programm zeigt sich ein weiteres zentrales Charakteristikum dieses Forschungsbereiches: seine multi- und interdisziplinäre Ausrichtung. Neben der Erziehungswissenschaft als maßgeblicher Disziplin waren an dem Programm Sprachwissenschaft, Psychologie, Psychiatrie, Soziologie und Rechtswissenschaft beteiligt (vgl. Gogolin & Nauck 2000). Mit Blick auf den aktuellen Forschungsstand lassen sich noch weitere Disziplinen wie beispielsweise die Politikwissenschaft und die Betriebs- und Volkswirtschaftslehre ergänzen, die sich aktuell ebenfalls im Bereich der interkulturellen Bildungsforschung betätigen. Jede dieser Disziplinen verfolgt ein eigenes Interesse mit der Betrachtung interkultureller Bildungsprozesse, was einerseits zur interessanten Vielgestaltigkeit dieses Forschungsbereiches beiträgt, gleichzeitig aber einer klaren Profilbildung abträglich ist. 2.3 Forschungsmethodik Auch die in der interkulturellen Bildungsforschung eingesetzten Forschungsmethoden sind breit gefächert. Je nach untersuchtem Schwerpunkt dominieren unterschiedliche Forschungsmethoden, so beispielsweise quantitative Forschungsmethoden bei den Schulleistungsvergleichen zwischen Schüler/innen mit und ohne Migrationshintergrund, qualitative Methoden bei
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Bildungsforschung
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der Betrachtung der Bildungsbiographie von Migrant/innen und historisch-hermeneutische Methoden bei der Untersuchung des sich wandelnden Umgangs des Bildungssystems mit Migrant/innen bzw. mit Heterogenität in der Schülerschaft. Interkulturelles Forschen bringt eine Reihe zusätzlicher methodischer Herausforderungen mit sich, die sich insbesondere auf die Validität der jeweiligen Untersuchung beziehen. In der kulturvergleichenden Forschung wird seit längerem unter den Begriffen Äquivalenz und kultureller Bias über die Frage diskutiert, wie sicherzustellen ist, dass kulturübergreifend das erfasst wird, was erfasst werden soll. Wichtigste Voraussetzung hierfür ist, dass sich keine unberücksichtigten, kulturbedingten Unterschiede verzerrend auf den Forschungsprozess auswirken. In quantitativen Untersuchungen können beispielsweise sowohl auf der Ebene des Konstrukts als auch bei der Gestaltung der Untersuchungsmethodik und bei der Formulierung und Beantwortung von Items entsprechende Verzerrungseffekte auftreten (vgl. Mehringer & HerwartzEmden 2014). Für qualitative Untersuchungen, insbesondere für qualitative Interviews, nennt Herwartz-Emden (2000) beispielweise eine Reihe von Verzerrungseffekten wie Paternalismus-, Ethnisierungs-, Kultur-, Gender- und Tabuisierungseffekte, die es für eine interkulturell valide Untersuchungsgestaltung zu berücksichtigen gilt. Bezieht sich der Untersuchungsfokus auch auf zugewanderte Personen, wie es für den Großteil der Forschungsarbeiten in der interkulturellen Bildungsforschung typisch ist, wird die Gewährleistung interkultureller Validität oft zusätzlich erschwert. Besonders mit Blick auf das Maß der bereits vollzogenen Akkulturation stellt sich hier die grundlegende und weitreichende Frage, welchen kulturellen, ethnischen und nationalen Gruppen die Migrant/innen im Rahmen der Untersuchung zuzuordnen sind (vgl. Mehringer & Herwartz-Emden, 2014).
3 Künftige Entwicklungen der interkulturellen Bildungsforschung Die Entwicklung der interkulturellen Bildungsforschung in den letzten beiden Jahrzehnten lässt darauf schließen, dass das Forschungsfeld in Zukunft weiter anwachsen und sich als eigener Forschungsbereich weiter etablieren wird. Mit Blick auf die aktuellen Migrationsströme und die demographische Entwicklung in Deutschland ist eher eine Zu- als eine Abnahme der sozialen, kulturellen, ethnischen und sprachlichen Heterogenität in der Gesellschaft zu erwarten. Hinzu kommen stetig wachsende internationale, globale und transnationale Verflechtungen. Wichtige Forschungsfragen, die vermutlich noch an Bedeutung gewinnen werden, sind: Welche neuen Bildungsräume eröffnen sich in Anbetracht dieser Entwicklungen und welche interkulturelle Bildung ist notwendig, um sich als Individuum in den verändernden und neu ergebenden gesellschaftlichen, internationalen und transnationalen Räumen bewegen zu können? Daneben ist mit einer weiteren Zunahme intersektional ausgerichteter Forschungsfragen innerhalb der interkulturellen Bildungsforschung zu rechnen. Bereits heute ist es beispielsweise selbstverständlich, den Einfluss der kulturellen und ethnischen Herkunft auf den Bildungserfolg zusammen mit Einflüssen der sozialen Herkunft zu untersuchen, um entsprechende Wechselwirkungen herausstellen zu können. Um die in den verschiedenen Bildungskontexten vorzufindende Heterogenität abbilden zu können, reicht es meist nicht, einzelne Heterogenitätsdimensionen in den Blick zu nehmen. Vielmehr müssen mehrere relevante Heterogenitätsdimensionen gleichzeitig in den Blick genommen werden. Nicht zuletzt wächst mit der Etablierung und Vergrößerung des Forschungszweiges auch die Notwendigkeit, diesen in der Lehre, sowohl in der Aus- als auch in der Weiterbildung, angemessen zu verankern – sei es als Inhalt in den Curricula pädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Studien- und Ausbildungsgänge, sei es in Form eigener Studiengänge. Von besonderer
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Thilo Schmidt
Wichtigkeit ist es in diesem Zusammenhang, angehenden Bildungsforscher/innen die Methodenkompetenz zur Durchführung interkultureller und kulturvergleichender Forschungsarbeiten zu vermitteln.
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Literatur
Allemann-Ghionda, Christina (2009): Interkulturalität und interkulturelle Bildung. In: Sabine Andresen; Rita Casale; Thomas Gabriel; Rebekka Horlacher; Sabine Larcher Klee & Jürgen Oelkers (Hg.): Handwörterbuch Erziehungswissenschaft. Weinheim: Beltz Verlag, S. 424-437. – Edelmann, Doris; Schmidt, Joel; Tippelt, Rudolf (2012): Einführung in die Bildungsforschung. Stuttgart: Kohlhammer. – Gogolin, Ingrid (2009): Interkulturelle Bildungsforschung. In: Rudolf Tippelt & Bernhard Schmidt (Hg.): Handbuch Bildungsforschung, 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag, S. 297-315. – Gogolin, Ingrid & Nauck, Bernhard (2000): Migration, gesellschaftliche Differenzierung und Bildung. Resultate des Forschungsschwerpunktprogramms FABER . Opladen: Leske + Budrich. – Gogolin, Ingrid (2000): Minderheiten, Migration und Forschung. Ergebnisse des DFG-Schwerpunktprogramms FABER . In: Ingrid Gogolin & Bernhard Nauck (Hg.): Migration, gesellschaftliche Differenzierung und Bildung. Resultate des Forschungsschwerpunktprogramms FABER . Opladen: Leske + Budrich, S. 15-35. – Herwartz-Emden, Leonie (2000): Datenerhebung und Datenanalyse: das Forschungsprojekt FAFRA . In: Leonie Herwartz-Emden (Hg.): Einwandererfamilien. Geschlechterverhältnisse, Erziehung und Akkulturation. Osnabrück: Rasch, S. 53-83. – Krüger-Potratz, Marianne (2005): Interkulturelle Bildung. Eine Einführung. Lernen für Europa, Bd. 10. Münster: Waxmann. – Mehringer, Volker; Herwartz-Emden, Leonie (2014): Methodische Herausforderungen und Perspektiven in der quantitativen interkulturellen Bildungsforschung. In: Wassilios Baros & Wilhelm Kempf (Hg.): Erkenntnisinteressen, Methodologie und Methoden interkultureller Bildungsforschung, Migrationsforschung Bd. 6. Berlin: Regener, S. 224-233. – Tippelt, Rudolf & Schmidt, Bernhard (2009). Einleitung der Herausgeber. In: Rudolf Tippelt & Bernhard Schmidt (Hg.): Handbuch Bildungsforschung, 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag, S. 9-19.
34 Pädagogik der frühen Kindheit Thilo Schmidt 1 Entwicklung der Teildisziplin unter interkultureller Perspektive Die Pädagogik der frühen Kindheit (PdfK) befasst sich mit allen Fragen der Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in der Familie und in außerschulischen Institutionen von der Geburt bis zum Beginn der Grundschulzeit. Die Begriffe PdfK, Frühpädagogik, Elementarpädagogik und Vorschulpädagogik werden häufig synonym verwendet, wobei Vorschulpädagogik auch auf die letzten ein bis zwei Jahre vor der Einschulung bezogen sein kann. Die PdfK umfasst sowohl ein pädagogisches Arbeitsfeld als auch eine Teildisziplin der Erziehungswissenschaft. Die folgenden Ausführungen beziehen sich (soweit trennbar) auf die erziehungswissenschaftliche Teildisziplin. Die PdfK hat sich in den letzten Jahren dynamisch weiterentwickelt. Geprägt ist sie seit dem Jahr 2004 von einem erheblichen Ausbau an Studiengängen auf Hochschulebene, die allerdings mehrheitlich eine erweiterte Zeitspanne der Kindheit (je nach Hochschule bis zum 10., 12. oder auch 14. Lebensjahr) abdecken (vgl. WiFF o. J.). Durch bildungs- und forschungspolitische
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Initiativen wie AWiFF (Ausweitung der Weiterbildungsinitiative frühpädagogische Fachkräfte; vgl. ebd.) wurde in den letzten Jahren angeregt, die Forschungsaktivitäten in der PdfK auszubauen. Nicht zuletzt ist im deutschsprachigen Raum nach einigen Jahren der Stagnation auch eine sprunghafte Zunahme an Einführungswerken und Handbüchern zu verzeichnen. Im Zuge dieser Entwicklungen ist unter Fachvertreter/innen der PdfK eine Tendenz erkennbar, sich von der unmittelbar benachbarten Teildisziplin Sozialpädagogik stärker abzugrenzen (Sektion Sozialpädagogik und Pädagogik der frühen Kindheit 2013). Wie andere erziehungswissenschaftliche Teildisziplinen, thematisiert die PdfK Fragen und Inhalte der Interkulturellen Pädagogik als Querschnittsaufgabe sowie im Rahmen von interdisziplinären Arbeits- und Forschungszusammenhängen. Interkulturelle Perspektiven und Konzepte hatten in der PdfK bereits Anfang der 1980er Jahre einen großen Stellenwert. Über praxisorientierte Forschungs- und Entwicklungsprojekte, Fortbildungen und Fach(praxis)publikationen vermitteln seither insbesondere das Deutsche Jugendinstitut (DJI) in München und Halle, das Staatsinstitut für Frühpädagogik (IFP) in München, das Sozialpädagogische Institut (SPI) in Köln und das Institut für den Situationsansatz (ISTA) in Berlin Grundsätze, Konzepte und Methoden interkultureller Bildung und Erziehung an pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Pädagogik der frühen Kindheit
2 Forschung Frühpädagogische Forschungsaktivitäten im Kontext von kultureller Heterogenität und Migration standen Anfang der 1970er Jahre zunächst noch unter dem Einfluss der sog. kompensatorischen Erziehung. Mithilfe pädagogischer Förderprogramme sollten sprachliche Defizite (i.S.v. unzureichenden Deutschkenntnissen) und kulturelle Defizite von Kindern zugewanderter Familien möglichst noch vor Eintritt in die Schule ausgeglichen werden. Aufgrund der unzureichenden didaktischen Qualität einiger Programme, lediglich geringen kurz- und mittelfristigen Wirkungen und nicht zuletzt der einseitigen Defizitperspektive auf das Kind und seine Familie, erfuhr die kompensatorische Erziehung jedoch zunehmend Kritik (vgl. Schmidt & Smidt 2014). Mitte der 1970er Jahre setzte in der PdfK eine Wende hin zur interkulturellen Erziehung ein. Unbelastet von dem auf Homogenität gerichteten Leistungsprinzip der Schule, entwickelte eine Arbeitsgruppe um Jürgen Zimmer in Zusammenarbeit mit Fachpraktiker/innen in dieser Zeit curriculare Bausteine für die Kindergartenpraxis, in denen bereits wesentliche Elemente einer interkulturellen Bildung und Erziehung in Kindergärten Berücksichtigung fanden (Arbeitsgruppe Vorschulerziehung et al. 1976). In den Folgejahren wurden in verschiedenen Bundesländern interkulturelle Grundsätze in frühpädagogischen Ansätzen, insbesondere in den weithin rezipierten situationsorientierten Ansätzen, fest verankert. Ob und inwieweit interkulturelle Zielvorstellungen in der pädagogischen Praxis in Kindertageseinrichtungen auch umgesetzt werden, ist bisher jedoch noch unzureichend erforscht. Die wenigen verfügbaren Befunde für den deutschsprachigen Raum deuten auf eine eher geringe Umsetzung hin. In anderen Ländern scheint dies ähnlich zu sein (vgl. Schmidt 2012, S. 90ff). Ein Grund für den unzureichenden Forschungsstand ist sicherlich, dass die Interkulturelle (Früh-) Pädagogik sich nicht auf eine vergleichbare empirische Forschungstradition stützen kann, wie etwa die kompensatorische (Früh-)Erziehung. Hinzu kommt, dass die eher abstrakten Ziele interkultureller Bildung und Erziehung empirisch-systematischer Forschung grundsätzlich auch weniger zugänglich sind als kompensatorische Ziele, wie der Ausgleich von (tatsächlichen oder vermeintlichen) Defiziten von Kindern. Nicht verwunderlich ist daher auch, dass die Frage
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nach den Wirkungen interkultureller Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen auf Kinder bisher nahezu unerforscht ist (Schmidt 2012; vgl. auch Bennett 2001 und Grant et al. 2004). Auch die interkulturelle Theoriebildung ist in der PdfK noch wenig vorangeschritten (Lengyel & Ilić 2014). Unter anderem infolge des „PISA-Schocks“ im Jahre 2001 setzte in der PdfK erneut eine Förderwelle ein, die bis in die Gegenwart reicht. Neben dem kompensatorischen Motiv einer möglichst frühzeitigen Deutschförderung – (insbesondere) von Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund – berücksichtigen einige dieser Förderprojekte auch explizit interkulturelle Grundsätze (vgl. die Übersicht von Jampert et al. 2007). Zwar wurden bzw. werden mehrere dieser Förderprojekte wissenschaftlich begleitet, nur selten erfolgt(e) jedoch eine Überprüfung ihrer Wirksamkeit nach strengeren wissenschaftlichen Kriterien (Kontrollgruppen- und Längsschnittdesign; zusätzlich zu Befragungen auch systematische Beobachtungen; hinreichend große Stichproben). Im Kontext der Einführung flächendeckender Sprachstandserhebungen und verpflichtender Deutschförderkurse in Kindergärten in einigen Bundesländern wurden jedoch mehrere wissenschaftliche Studien zur Wirksamkeit additiver Deutschfördermaßnahmen im Kindergarten durchgeführt. Diese zeigen überwiegend keine oder lediglich geringe positive Effekte (vgl. die Übersicht in Roux & Kammermeyer 2011). Als mögliche Ursachen dafür werden eine zu kurze Dauer der Fördermaßnahmen und der Schulung der pädagogischen Fachkräfte sowie eine unzureichende Qualität der Umsetzung der Maßnahmen diskutiert (ebd.). Im Sinne einer effektiven Förderung benachteiligter Kinder wird die Behebung dieser Mängel von vielen der Autoren als notwendig erachtet. Um den empirischen Wissensstand über die Umsetzung und die Effektivität solcher Programme sowie über interkulturelle Bildungs- und Erziehungsprozesse in Kindertageseinrichtungen zu verbessern, erscheint ein Ausbau der Forschungsbemühungen wünschenswert.
3 Wissenschaftliche Diskurse und Kontroversen Die PdfK ist seit der Jahrtausendwende in vielerlei Hinsicht durch eine Wiederkehr alter Diskurse und Kontroversen aus der Zeit der Bildungsreform der 1960er/70er Jahre gekennzeichnet. Eine bereits damals geforderte Professionalisierung der frühpädagogischen Praxis durch die Anhebung der Erzieherausbildung auf Hochschulniveau (Derschau 1976) wird erneut diskutiert (Diller & Rauschenbach 2006) und scheint mit der Einführung von über 100 Hochschulstudiengängen im Bereich der Früh- und Kindheitspädagogik diesmal auch ansatzweise umgesetzt zu werden. Das erneute Aufkommen instruktionsorientierter Förderprogramme – meist von Psychologen entwickelt und getestet – führt heute, wie damals, zu Gegenreaktionen auf Seiten kritischer Pädagogen. Als Beispiel lässt sich die Kontroverse zwischen dem Psychologen Wolfgang Schneider und der Pädagogin Renate Valtin um das psychologische Konstrukt der phonologischen Bewusstheit anführen: Mit „phonologischer Bewusstheit“ sind schriftsprachliche Vorläuferfähigkeiten von Kindern im Kindergartenalter gemeint, welche es ermöglichen, die Lautstruktur der gesprochenen Sprache zu erkennen. Dazu gehören z.B. die Fähigkeiten korrekte Reimfolgen zu bilden oder Silben korrekt zu klatschen. Durch das Trainieren dieser Kompetenzen im letzten Kindergartenjahr, so zeigen empirische Befunde u.a. von Schneider (2012), kann späteren Lese- und Rechtschreibproblemen effektiv vorgebeugt werden. Valtin (2012) hält diesen Befunden entgegen, dass phonologische Bewusstheit linguistisch gesehen ein wenig überzeugendes und theoretisch nicht hinreichend abgesichertes Konstrukt sei. Zudem habe es, entgegen der Interpretation von Schneider, eher wenig Vorhersagekraft bezogen auf die zukünftigen Lese- und Rechtschreibkompetenzen von Kindern.
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Kontroversen um die Bedeutung interkultureller (sprachlicher) Bildung und Erziehung werden in der PdfK indes weniger stark geführt als im Kontext von Schule und Migration (z.B. Gogolin & Neumann 2009). Vor allem auf Ebene anwendungsbezogener frühpädagogischer Studien und Konzepte scheinen interkulturelle pädagogische Zielvorstellungen weitgehend etabliert zu sein. Kritischer werden in der PdfK – der historischen Logik der Entstehung beider Ansätze entsprechend – dagegen kompensatorisch ausgerichtete Ziele und Förderprogramme betrachtet. Dies kommt beispielsweise dadurch zum Ausdruck, dass der Begriff „kompensatorisch“ in frühpädagogischen Studien und Konzepten häufig gemieden wird, während er in psychologisch dominierten Studien der frühkindlichen Bildungsforschung vorbehaltloser Verwendung findet.
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Literatur
Arbeitsgruppe Vorschulerziehung und die Erzieherinnen aus Modellkindergärten der Länder Rheinland-Pfalz und Hessen (1976): Curriculum „Soziales Lernen“. 28 Didaktische Einheiten. Erprobungsfassung. Stuttgart: KlettKösel. – Bennett, Christine (2001): Genres of Research in Multicultural Education. In: Review of Educational Research, 31 (2), S. 171-217. – Derschau, Dietrich von (1976): Die Ausbildung der Erzieher für Kindergarten, Heimerziehung und Jugendarbeit an Fachschulen/Fachakademien für Sozialpädagogik. Entwicklung, Bestandsaufnahme, Reformvorschläge. Gersthofen: Maro-Verlag. – Diller, Angelika & Rauschenbach, Thomas (2006): Reform oder Ende der Erzieherinnenausbildung? Beiträge zu einer kontroversen Fachdebatte. München: DJI-Verlag. – Grant, Carl; Elsbree, Anne & Fondrie, Suzanne (2004): A Decade of Research on the changing Terrain of Multicultural Education Research. In: James Banks & Cherry McGee Banks (Hg.): Handbook of Research on Multicultural Education. San Francisco: Jossey-Bass Publishers, S. 184-207. – Gogolin, Ingrid & Neumann, Ursula (Hg.) (2009): Streitfall Zweisprachigkeit – The Bilingualism Controversy. Wiesbaden: Springer VS. – Lengyel, Drorit & Ilić, Vesna (2014): Frühkindliche Bildung. In: Britta Marschke & Heinz Ulrich Brinkmann (Hg.): Handbuch Migrationsarbeit. Wiesbaden: Springer VS, S. 109-120. – Jampert, Karin; Best, Petra; Guadatiello, Angela; Holler, Doris & Zehnbauer, Anne (2007): Schlüsselkompetenz Sprache. Sprachliche Bildung und Förderung im Kindergarten. Konzepte – Projekte – Maßnahmen. Weimar: Verlag das Netz. – Roux, Susanna & Kammermeyer, Gisela (Hg.) (2011): Sprachförderung im Blickpunkt. Empirische Pädagogik, Themenheft 4, S. 439-461. – Sektion Sozialpädagogik und Pädagogik der frühen Kindheit (Hg.) (2013): Konsens und Kontroversen. Sozialpädagogik und Pädagogik der frühen Kindheit im Dialog. Weinheim: Beltz Juventa. – Schmidt, Thilo (2012): Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund. Eine empirische Studie zu Zielen und Maßnahmen im Kindergarten. Wiesbaden: Springer VS. – Schmidt, Thilo & Smidt, Wilfried (2014): Kompensatorische Förderung benachteiligter Kinder – Entwicklungslinien, Forschungsbefunde und heutige Bedeutung für die Frühpädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik, 60 (1), S. 132-149. – Schneider, Wolfgang (2012): Die Relevanz früher phonologischer Bewusstheit für den späteren Schriftspracherwerb. In: Frühe Bildung, 1 (4), S. 220-222. – Valtin, Renate (2012): Phonologische Bewusstheit: Ein kritischer Blick auf ein modisches Konstrukt. In: Frühe Bildung, 1 (4), S. 223-225. – WiFF (Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte) (o. J.): Online verfügbar unter http://www.weiterbildungsinitiative.de [18.08.2016].
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Beate Wischer und Matthias Trautmann
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35 Schulpädagogik Beate Wischer und Matthias Trautmann
Gemessen an der Anzahl an Professuren zählt die Schulpädagogik zu einer der größten Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft. Entstanden aus den praktischen Anteilen der Seminarausbildung von Volksschullehrern im 19. Jahrhundert, ist ihre Entwicklung, in Teilen aber auch ihr Selbstverständnis bis heute eng an den Lehrerberuf und Schule als dem professionellen Handlungsfeld gebunden. Damit verknüpft ist zum einen ein breiter Gegenstandsbereich – das thematische Spektrum reicht von Fragen der Schulorganisation, der Theorie der Schule, der Didaktik und Curriculumtheorie über Lehrerprofessionsforschung, schulische Sozialisation bis hin zu Bildungspolitik und Schulentwicklung (vgl. Wittenbruch 2010). Zum anderen lassen sich angesichts ihrer unterschiedlichen Aufgaben und Funktionen die Konturen der Schulpädagogik als wissenschaftliche Disziplin – das heißt im Unterschied zu Schulpolitik, Schuladministration und Schulpraxis – alles andere als einfach bestimmen: „Während manche die Schulpädagogik in einer Kritik der Institution und didaktische, lehrplantheoretische und schultheoretische Beiträge erkennen, sehen Andere Schulpädagogik als mit praktischen Problemen des Unterrichtens und Erziehens in der Schule befasste, theoretisch reflektierende und empirisch forschende Wissenschaft an“ (Reh & Drope, 2012, S. 154). Trotz zahlreicher thematischer Schnittmengen zur Interkulturellen Pädagogik waren und sind Migration und Kultur im Prinzip weder ein eigenständiger Reflexionsanlass noch zentrale Themen der Schulpädagogik. Die Diskussionen kreisen grundsätzlicher um den Umgang mit Verschiedenheit von Schülerschaften in Massenlerninstitutionen als Herausforderung für die Schul- und Unterrichtsgestaltung (Abschnitt 1). Darin eingeschlossen sind zwar auch Auseinandersetzungen mit migrationsbedingter Heterogenität; diese berühren den Kern schulpädagogischer Diskussionen allerdings nur wenig (Abschnitt 2). Den Hintergrund dafür bilden nicht zuletzt interdisziplinäre Verflechtungen und eine Arbeitsteilung zwischen einer Schulpädagogik, verstanden als auf alle Schülerinnen und Schüler und alle Aspekte von Schule bezogener Reflexionstheorie der Schule, und einer auf Migrationsfragen und Interkulturalität spezialisierten Interkulturellen Pädagogik, die für die zukünftige Diskussion einige Fragen aufwirft (Abschnitt 3).
1 Schülerheterogenität als Fokus schulpädagogischer Reflexionen Die Entwicklung eines Problembewusstseins für Schülerverschiedenheit steht in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der Schule zu einer Massenlernanstalt und der Etablierung des Unterrichts in Gruppen. Anders als bei der häuslichen Unterrichtung Einzelner – so bereits der von Herbart 1810 notierte Hinweis – würden „die Schüler massenhaft in gewissen Stunden“ erscheinen, was in der Schule eine „Anschließung an Individuen“ verhindere (Herbart 1982, S. 229). Noch früher, 1780, hatte schon Ernst Christian die Frage aufgeworfen, wie Erziehung bei einem „Haufen Kinder, deren Anlagen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Neigungen, Bestimmungen verschieden sind“, möglich sei (Trapp 1977, S. 10). Damit hatte er ein Problem benannt, das die schulpädagogische Reflexion seitdem auf vielfältige Weise herausfordert: Schülerheterogenität ist erstens ein Querschnittsthema, das auf unterschiedlichen Ebenen und damit auch in unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Schulpädagogik – in der Allgemeinen Di-
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Schulpädagogik
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daktik, Professionstheorie oder Schulentwicklungsforschung – verhandelt wird. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen Fragen nach den Prinzipien der Schülergruppierung und dem Aufbau und der Struktur des Schulsystems wie der Einzelschule: Nach welchen Kriterien sollen Lerngruppen zusammengesetzt werden? Soll Verschiedenheit eher reduziert, zugelassen oder ausdrücklich angestrebt werden? Während sich im deutschen Bildungssystem eine Begrenzung von Heterogenität als bevorzugte Organisationsform – etwa durch das Prinzip der Jahrgangsklasse und die (leistungsbezogene) Zuweisung auf unterschiedliche Schulformen oder Niveaugruppen – historisch weitgehend durchgesetzt hat, bildet die Suche nach Alternativen einen zentralen Anlass der schulpädagogischen Reflexion. So findet man Konzepte für eine pädagogisch begründete Gruppenbildung bereits im frühen 18. Jahrhundert bei August Hermann Francke wie auch im frühen 19. Jahrhundert in der Reformpädagogik. Eine breiter angelegte Entwicklung und Erprobung unterschiedlicher Organisationsmodelle und Differenzierungsvarianten steht aber in (West)Deutschland vor allem in engem Zusammenhang mit der Einführung von Gesamtschulen in den 1970er Jahren. Im Rahmen von Begleitforschung wurden zum Beispiel die Effekte von Differenzierungsmodellen in Bezug auf äußere (Leistungs-) Differenzierung und integrative Förderung in Bezug auf kognitive Lernleistungen, soziales Lernen und Persönlichkeitsentwicklung ebenso empirisch untersucht wie Fragen der Bildungsbeteiligung und Chancengleichheit (vgl. z.B. Haenisch & Lukesch 1982). Ein anderer, ebenfalls breiter Strang der Reflexion betrifft die Ebene des Unterrichts in Lerngruppen, d.h. didaktisch-methodische Problemstellungen. Ähnlich wie für die Schulstruktur kreisen die Auseinandersetzungen hier um die Bestimmung der für Lernprozesse relevanten Lernermerkmale und um die Suche nach Konzepten und Verfahren für differenzierte resp. adaptive Lehr-Lern-Arrangements (vgl. Klafki & Stöcker 1976; aktuell z.B. Bohl 2013). Mit den unterschiedlichen Aufgaben und Traditionslinien der Schulpädagogik verknüpft sind zweitens differente Funktionen und Modi der Reflexion. Während eine eher distanziert-analytisch angelegte Beobachtung bei den multiplen Funktionen und strukturellen Prinzipien gesellschaftlich organisierter Bildungsprozesse ansetzt und aus einem schultheoretischen Blickwinkel auf Begrenzungen und widersprüchliche Anforderungen einer allein an pädagogischen Prämissen ausgerichteten Schulgestaltung verweist (vgl. z.B. Trautmann & Wischer 2011), zielen pädagogisch-normative Betrachtungen auf eine Veränderung, d.h. auf eine grundlegende Reform der Schule. In einer solchen, von den individuellen Bedürfnissen der lernenden Subjekte ausgehenden Reflexion sind dann die historisch gewachsenen Funktions- und Strukturprinzipien der herkömmlichen Schule – wie Standardisierung von Lehr-Lernprozessen, die Homogenisierung von Lerngruppen oder die kategoriale Behandlung der individuellen Schülersubjekte – Anlass einer kontinuierlichen Schulkritik (vgl. Diederich & Tenorth 1997). Zahlreiche Gegenentwürfe und Reformideen – Vorschläge zur Individualisierung des Unterrichts und zum sozialen Lernen im Lebensraum Schule, für selektionsfreie Schulen oder zur stärkenorientierten ‚individuellen’ Förderung ebenso wie komplexe Entwürfe einer Schule für alle oder für eine Entschulung der Schule – arbeiten sich an dieser „Grammatik“ der Schule ab. Im historischen Rückblick zu berücksichtigen sind schließlich drittens unterschiedliche Konjunkturen bezüglich der Aufmerksamkeit für einzelne Differenzlinien (vgl. z.B. Wischer 2009). Während dem Alter als Konstruktionsprinzip der Jahrgangsklasse, besonders aber der individuellen Leistungsfähigkeit (resp. der Begabung) schon lange (allerdings nicht durchgehend) eine zentrale Bedeutung zugeschrieben wurde, rückten andere Kategorien erst deutlich später in den schulpädagogischen Blick. Zudem hat sich die Anzahl der mit Relevanz ausgestatteten Heterogenitätsdimensionen in den letzten Jahrzehnten im Zuge der expandierenden Bildungsbeteiligung zunächst sukzessive erhöht. So waren Geschlecht und soziale Herkunft (ebenso wie die
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Beate Wischer und Matthias Trautmann
Konfession) schulgeschichtlich lange Zeit ein größtenteils unhinterfragtes Kriterium für äußere Differenzierung: Da es ‚normal’ schien, dass höhere Bildung den Jungen und den bürgerlichen Schichten vorbehalten war (vgl. Diederich & Tenorth 1997), waren diese Differenzlinien kaum Anlass einer schulpädagogischen Reflexion. Eine Problematisierung und erhöhte Aufmerksamkeit für die systematische Benachteiligung sozialer Gruppen im und durch das Bildungssystem steht hier also im Zusammenhang mit der zunehmenden Durchsetzung formaler Bildungsinklusion und erfolgte etwa ab Mitte der 1960er Jahre. Dabei rückten mit der Kunstfigur des „katholischen Arbeitermädchens vom Lande“ zwar gleich vier Differenzlinien – Konfession, Geschlecht sowie soziale und regionale Herkunft – in den Fokus. Das Hauptaugenmerk – so vor allem in der Diskussion um die Gesamtschule – galt aber der schichtenspezifischen Benachteiligung, d.h. der sozialen Herkunft als Merkmal für Verschiedenheit. Nicht zuletzt im Anschluss an die Veröffentlichung der internationalen Vergleichsstudien, allen voran der PISA-Studie(n), wurde diese Diskussion angesichts der hier erneut herausgearbeiteten ungleichen Bildungschancen in den 2000er Jahren wieder entfacht. In dieser neueren Diskussion werden zwar ebenfalls noch einzelne Merkmale oder Dimensionen diskutiert, und es gibt nach wie vor – wie etwa im Zuge der Reformen im Kontext von Inklusion seit Inkrafttreten der UN-Behindertenkonvention 2009 – besondere Konjunkturen für einzelne Differenzlinien (hier dann ‚behindert’/‚nicht behindert’). Anders als noch in den 1970er Jahren ist der Heterogenitätsbegriff aber nunmehr zu einer zentralen, nicht auf einzelne Schülergruppen beschränkten, und überdies mit positiven Wertungsoptionen verknüpften, schulpädagogischen Leitidee avanciert, die im Sinne einer generalisierten Vielfalt zahlreiche – und beliebig erweiterbare – Dimensionen von Verschiedenheit ungewichtet einschließt.
2 Migration als Thema der Schulpädagogik In der schulpädagogischen, vor allem an (zukünftige) Lehrkräfte gerichteten Literatur nach 1945 tauchen migrationsspezifische Themen etwa seit Mitte der 1970er Jahre auf: So wurde zum Beispiel 1972 eine Forschungsstelle an der PH Rheinland, Abt. Neuss etabliert, und unter dem Namen „Ausbildung von Lehrern für Ausländerkinder“ wurden erste Studien zur Unterrichtung und zum Schulerfolg ausländischer Kinder und Jugendlicher wie auch zur Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften veröffentlicht (vgl. z.B. Hohmann 1976). Allerdings entstand daraus keine breite schulpädagogische Diskussion; andere Themen (Einführung der Gesamtschule; Kollegschulversuch, didaktische Modelle usw.) beschäftigten die Schulpädagogik in den 1970er und 1980er Jahren weitaus mehr. Sichtbar wird die Zurückhaltung nicht zuletzt daran, dass die in den 1970er Jahren entwickelten allgemeindidaktischen Modelle zwar eine Berücksichtigung vielfältiger Lernvoraussetzungen vorsahen. Die Ausführungen – Klafki (1985, S. 270) sprach von der „Analyse der konkreten, soziokulturell vermittelten Ausgangsbedingungen einer Lerngruppe (Klasse)“ und Heimann et al. (1965) von „anthropogenen“ und „soziokulturellen“ Voraussetzungen – blieben aber recht allgemein und vor allem ohne Erwähnung von Migration oder Ethnie/Kultur als Dimension von Schülerverschiedenheit. Auch in der Auseinandersetzung um Differenzierungsstrategien im Kontext der Gesamtschuldiskussion oder im Strukturplan für das Bildungswesen des deutschen Bildungsrats von 1970 war die zu dieser Zeit bereits größer gewordene Gruppe von Schülern anderer Nationalitäten, Sprachen und Kulturen kein Thema – dominiert wurde die Diskussion hier von sozialer Ungleichheit im Sinne der Sozialschichtzugehörigkeit. Die Befassung der Schulpädagogik mit dem Thema Migration ist noch nicht intensiv erforscht; ähnlich wie auch für andere soziale Differenzlinien lässt sich für die Zeit nach 1945 aber ver-
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Schulpädagogik
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mutlich ein eher reaktiver Modus der Auseinandersetzung rekonstruieren (vgl. Emmerich & Hormel 2013, S. 125ff; Krüger-Potratz 2005) und lassen sich dafür zwei Erklärungen hypothetisch formulieren: –– Zum einen wird aus einer schulpädagogischen Perspektive eine Auseinandersetzung mit spezifischen Schülergruppen und interkulturellen Fragen erst dann zum Reflexionsanlass, wenn sich – wie in den 1960er Jahren durch die Einführung der Schulpflicht für die sog. Gastarbeiterkinder – schul- und gesellschaftspolitische Vorgaben verändern, wenn bisherige Routinen (durch eine immer größer werdende Gruppe von Schüler/innen ohne (hinreichende) Deutschkenntnisse) gestört und durch wissenschaftliche Befunde (zur Benachteiligung dieser Schülergruppen) irritiert werden. –– Zum anderen sind die damit einhergehenden Ausdifferenzierungen des wissenschaftlichen Feldes in Rechnung zu stellen. So hat sich mit der sog. Ausländerpädagogik bzw. mit der Interkulturellen Pädagogik ein eigenständiges Forschungs- und Lehrgebiet für den Themenbereich Migration, Ethnie, Kultur etabliert und auch professionspolitisch in der Sektion International und Interkulturell Vergleichende Erziehungswissenschaft verortet. Kooperationen mit der Schulpädagogik bzw. mit der Sektion Schulpädagogik sind zunächst nicht vorangetrieben worden, so dass die Auseinandersetzungen mit den Folgen der Migration im Bereich der Schule und damit im Gegenstandsfeld der Schulpädagogik lange Zeit der sich formierenden Spezialdisziplin überlassen geblieben ist.
3 Perspektiven und Herausforderungen Die seit den 1980er Jahren einsetzende Ausdifferenzierung des wissenschaftlichen Feldes führt zu erheblichen Herausforderungen für alle beteiligten Fachgebiete resp. Teildisziplinen, so auch für die Schulpädagogik. Mit Blick auf die weiteren Entwicklungen stellt sich vor allem die Frage nach der organisatorischen Form und inhaltlichen Ausrichtung der Schulpädagogik und der Interkulturellen Pädagogik (und weiterer zielgruppenbezogenen Teildisziplinen, wie der schulbezogenen Geschlechterforschung und der Sonderpädagogik). Diese Frage betrifft sowohl die Zusammenarbeit innerhalb verschiedener Fachgesellschaften, die Strukturen in der Lehrerbildung als auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Adressatenkreis der jeweiligen Teildisziplin; hierzu drei Anmerkungen: Die aus schulpädagogischer Perspektive auf spezifische Lerner/innen bzw. Lernermerkmale spezialisierte Interkulturelle Pädagogik produziert erstens (ebenso wie andere auf bestimmte Lernermerkmale spezialisierte Fachrichtungen) ein immer umfangreicher und komplexer werdendes Spezialwissen, auf das die Schulpädagogik schon aus Kapazitätsgründen (und weil auch andere Themen bearbeitet werden müssen) nur begrenzt zurückgreifen kann. Die Diskurse können das schulpädagogische Problembewusstsein für besondere Bedürfnisse oder schulische Benachteiligungen spezifischer Schülergruppen zwar einerseits durchaus schärfen, andererseits wird im Zuge dieser Arbeitsteilung auch das Bewusstsein für die (möglichen) problematischen Konsequenzen solcher Unterscheidungen geschärft, insofern wissenschaftliche Differenzkonstruktionen auch klassifizierend und dramatisierend wirken können. Dem damit angesprochenen – grundsätzlichen – Problem der ‚Verbesonderung’ bestimmter Schülergruppen begegnen die jeweiligen Fachrichtungen zweitens mit einer programmatischen Ausweitung ihres Auftrags. So wie einige sonderpädagogische Lehrkräfte die Zuständigkeit für
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alle Schüler/innen und zugleich für behinderte Schüler bzw. für Schüler mit besonderem Förderbedarf in besonderer Weise reklamieren, wenden sich Teile der Interkulturellen Pädagogik hin zu einer Perspektive, die sich – über die Folgen der Migration hinaus – mit der Zunahme der innergesellschaftlichen sozialen, kulturellen, ethnischen und sprachlichen Heterogenität und deren Auswirkungen auf Bildung und Erziehung auseinandersetzt. In dieser Ausweitung der Zuständigkeiten zeichnen sich durchaus Rivalitäten, aber auch Konvergenzen zu Diskussionen in der Schulpädagogik (unter dem Theorem einer ‚Pädagogik der Vielfalt’) ab, die in Teilen ihrerseits bestrebt ist, Sonderdisziplinen einzugemeinden. Drittens ist die Frage nach den Potentialen, aber auch Problemen aufzuwerfen, die mit den skizzierten Entwicklungen und mit dem, nun alle Differenzlinien einschließenden Fokus der Schulpädagogik auf Heterogenität verbunden sind. Trotz der aktuell verstärkten Migrationsbewegungen ist kaum zu erwarten, dass sich Migration zu einem eigenständigen Fokus der Schulpädagogik entwickeln wird. Sie liegt damit im Prinzip auf einer Linie mit der Interkulturellen Pädagogik, die ebenfalls davon ausgeht, dass „migrationsbedingte Heterogenität keine ‚Zusatzaufgaben’ an Schulen heran[trägt], die mit ‚Sondermaßnahmen’ zu bewältigen wären“ (Fürstenau & Gomolla 2009, S. 9), sondern eine der Aufgaben im Rahmen der Schulentwicklung (siehe KMK 2013). Auf der anderen Seite zeichnen sich bisherige Heterogenitätskonzepte durch zahlreiche Unschärfen aus. Der Begriff fungiert in der schulpädagogischen Reflexion eher als ein normativ aufgeladenes Schlagwort, das für die Diskussion um Schul- und Unterrichtsreformen leitend geworden ist. Darin spiegelt sich zwar auch der Versuch (und die Notwendigkeit), die zahlreichen Merkmale nach denen sich die Adressaten schulischer Bildungs- und Erziehungsprozesse unterscheiden können, in eine noch handhabbare Reflexionsformel zu bringen und unter der Bedingung begrenzter Ausbildungskapazität in der Lehrerbildung zu kommunizieren. Spezifische Schülerbedürfnisse, die Herstellung von Differenz und darin strukturell angelegte Benachteiligungen sozialer Gruppen im und durch das Schulsystem laufen damit aber ebenso Gefahr, außer Blick zu geraten, wie die mit den Struktur- und Funktionsmechanismen des Bildungssystems verbundenen Grenzen für tiefgreifende Veränderungen aller Bereiche von Schule und Unterricht. Literatur
Bohl, Thorsten (2013): Umgang mit Heterogenität im Unterricht. In: Thorsten Bohl & Sibylle Meissner (Hg.): Expertise Gemeinschaftsschule. Forschungsergebnisse und Handlungsempfehlungen für Baden-Württemberg. Weinheim: Beltz, S. 243-260. – Diederich, Jürgen & Tenorth, Heinz-Elmar (1997): Theorie der Schule. Ein Studienbuch zu Geschichte, Funktionen und Gestaltung. Berlin: Cornelsen Scriptor. – Emmerich, Marcus & Hormel, Ulrike (2013): Heterogenität – Diversity – Intersektionalität. Zur Logik sozialer Unterscheidungen in pädagogischen Semantiken der Differenz. Wiesbaden: Springer VS. – Fürstenau, Sara & Gomolla, Mechthild (2009): Vorwort. In: Sara Fürstenau & Mechtild Gomolla (Hg.): Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit. Wiesbaden: Springer VS, S. 7-11. – Haenisch, Hans & Lukesch, Helmut (1982): Ist die Gesamtschule besser? Gesamtschulen und Schulen des gegliederten Schulsystems im Leistungsvergleich. Weinheim: Beltz. – Heimann, Paul; Schulz, Wolfgang & Otto, Gunther (1965): Unterricht – Analyse und Planung. Hannover: Schroedel. – Herbart, Johann Friedrich (1982): Über Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung. Vorgelesen in der Deutschen Gesellschaft zu Königsberg am 5. Dezember 1810. In: Johann Friedrich Herbart: Kleinere Pädagogische Schriften. Hg. von Walter Asmus. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 143-151. – Hohmann, Manfred (Hg.) (1976): Unterricht mit ausländischen Kindern. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann. – KMK (1996/2013): Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland: Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 25.10.1996 i.d.F. vom 5.12.2013. Online verfügbar unter http://kmk.org [02.05.2016]. – Klafki, Wolfgang (1985): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik: Beiträge zur kritisch-konstruktiven Didaktik. Beltz: Weinheim. – Klafki, Wolfgang & Stöcker, Hermann (1976): Innere Differenzierung des Unterrichts. In: Zeitschrift für Pädagogik, 22, (4), S. 497-523. – Krüger-Potratz, Marianne (2005): Interkulturelle Bildung. Eine Einführung. Münster: Waxmann. – Reh, Sabine & Drope, Tilman (2012): Schulpädagogik. In: Klaus-Peter
Schulqualitätsforschung
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Horn; Heidemarie Kemnitz; Wilfried Marotzki & Uwe Sandfuchs (Hg.): Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft, Bd. 3, S. 154-156. – Trapp, Ernst Christian (1977): Versuch einer Pädagogik. Unveränd. Nachdruck der 1. Ausgabe. Berlin 1780; besorgt von Ulrich Herrmann. Paderborn: Schöningh. – Trautmann, Matthias & Wischer, Beate (2011): Heterogenität in der Schule. Eine kritische Einführung. Wiesbaden: Springer VS. – Wischer, Beate (2009): Der Diskurs um Heterogenität und Differenzierung. Beobachtungen zu einem schulpädagogischen Dauerbrenner. In: Beate Wischer & Klaus-Jürgen Tillmann (Hg.): Erziehungswissenschaft auf dem Prüfstand. Schulbezogene Forschung und Theoriebildung von den 1970er Jahren bis heute. Weinheim: Juventa, S. 69-96. – Wittenbruch, Wilhelm (2010): Grundlegung und Konstitutionsprobleme der Schulpädagogik. In: Stephanie Hellekamps; Wilfried Plöger & Wilhelm Wittenbruch (Hg.): Schule. Handbuch der Erziehungswissenschaft, Bd. 3. Paderborn: Schöningh: UTB, S. 611-623.
36 Schulqualitätsforschung Sara Fürstenau
Der Begriff Qualität (lat.: qualitas = Beschaffenheit, Zustand) kann neutral beschreibend oder normativ wertend gebraucht werden. In der Erziehungswissenschaft wird der Begriff meistens normativ wertend gebraucht. Ansätze der Schulqualitätsforschung beschränken sich also selten darauf, die Verfasstheit eines Schulsystems oder einer einzelnen Schule zu beschreiben. Vielmehr verfolgen sie meistens das Ziel, diese zu bewerten und Qualitätsurteile zu fällen. Qualität bedeutet in diesem Zusammenhang ‚Güte‘. Da ein Qualitätsurteil immer von den zugrunde gelegten Bewertungsmaßstäben abhängt, gibt es auf die Frage, was eine gute Schule auszeichnet, viele verschiedene Antworten. Die jüngere Schulqualitätsforschung wird dafür kritisiert, dass die Bewertungsmaßstäbe häufig implizit bleiben und ihre Ableitung aus normativ-theoretischen Überlegungen vernachlässigt wird; so werde Schulqualität z.B. an effektiver Vermittlung festgemacht, ohne dass die Qualitätsurteile unter Berücksichtigung der Lerninhalte und -ziele reflektiert würden (vgl. Heid 2013). Wissenschaftler/innen, die es ernstnehmen, dass Kriterien zur Bewertung einer guten Schule von Normen und Werten abhängen, müssen ihre Schulqualitätskonzepte theoretisch begründen und neben anderen Konzepten zur Diskussion stellen. Der normative Diskurs der Interkulturellen Pädagogik (verstanden als Fachrichtung der Erziehungswissenschaft) enthält, auch wenn er keineswegs einheitlich ist, deutliche Kriterien zur Bestimmung von Schulqualität. Grundlegend ist der Anspruch, dass die Schule als Institution einer demokratischen Gesellschaft niemanden aufgrund seiner Herkunft benachteiligen darf und einen Beitrag zur Schaffung von Bildungsgerechtigkeit leisten soll. Dieser Anspruch bezieht sich sowohl auf die Bildungsbeteiligung der in der Bildungsberichterstattung eigens untersuchten Gruppe von ‚Schüler/innen mit Migrationshintergrund‘ (Ergebnisqualität, Abschnitt 1) als auch auf die Berücksichtigung der unterschiedlichen Lebenswelten und Bildungsvoraussetzungen aller Schüler/innen in jeder einzelnen Schule der Migrationsgesellschaft (Prozessqualität, Abschnitt 2).
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Sara Fürstenau
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1 Ergebnisqualität und Bildungsbeteiligung von ‚Schüler/innen mit Migrationshintergrund‘ Dominante Vorstellungen von Schulqualität verändern sich über die Zeit. In Deutschland war der vorherrschende Schulqualitätsbegriff noch in den 1980er Jahren von Vorstellungen schulischer Bildung im Sinne einer umfassenden Erziehung geprägt und bezog sich auf die Gestaltung der ‚Schulkultur‘ im weitesten Sinne. Seit den 1990er Jahren hat sich der normative Horizont verschoben, und Schulqualität wird maßgeblich an den fachlichen Leistungen der Schüler/innen festgemacht. Diese Entwicklung entspricht der zunehmenden Bedeutung internationaler Leistungsvergleichsstudien. Aktuell können in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion über Schulqualität zwei dominante Bewertungskriterien ausgemacht werden: das Leistungsniveau in den fachlichen Grundfertigkeiten und die Unabhängigkeit der Leistungsergebnisse von der sozialen Herkunft der Schüler/innen. In einer guten Schule erreichen Kinder und Jugendliche demnach unabhängig von ihrer sozialen Herkunft möglichst gute Fachleistungen. Getestete Leistungen sind der Hauptindikator für Ergebnisqualität (Outcome). Seit dem Jahr 2000 (nach dem sogenannten PISA-Schock) ist eine breite Öffentlichkeit darauf aufmerksam geworden, dass Schulerfolg in deutschen Schulen stark mit der sozialen Herkunft der Schüler/innen korreliert. Schüler/innen aus Familien mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status, ‚Schüler/innen mit Migrationshintergrund‘ (wie in der Bildungsberichterstattung gemessen) und Schüler/ innen mit einer anderen Familiensprache als Deutsch haben deutliche Nachteile. Erklärungsansätze für diese Nachteile, die sich zwar abschwächen, aber prinzipiell auch mehr als ein Jahrzehnt nach dem ‚PISA-Schock‘ noch bestehen, sucht die interkulturelle Bildungsforschung u.a. in der Verfasstheit der Schule (vgl. die Beiträge in der Lehrbuchreihe Fürstenau & Gomolla 2009-2012 und im Sammelband Leiprecht & Steinbach 2015). Offensichtlich wird die Schule den Bildungsressourcen und -bedürfnissen bestimmter Schülergruppen nicht gerecht, und ihre Selektionsmechanismen wirken diskriminierend. ‚Schüler/innen mit Migrationshintergrund‘ sind z.B. in den unteren Schulformen des Bildungssystems deutlich überrepräsentiert. Die interkulturelle Bildungsforschung hinterfragt verbreitete Defizitperspektiven auf ‚Schüler/innen mit Migrationshintergrund‘ und untersucht, in welcher Weise die Strukturen des Bildungssystems und die Arbeitsweisen jeder einzelnen Schule verändert und verbessert werden müssen, um gleiche Bildungschancen für alle Schüler/innen in der Migrationsgesellschaft zu gewährleisten. Eine Grundlage für diese Forschungsperspektive ist der englischsprachige Diskurs über Schul effektivität, in dem Fragen der Bildungsgerechtigkeit ursprünglich einmal eine große Rolle spielten (vgl. zum Folgenden Gomolla 2013). Ausgehend von Daten über die Ergebnisqualität identifizierte die Schuleffektivitätsforschung ‚gute Schulen‘, an denen Schüler/innen aus Familien mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status ‚erwartungswidrig‘ erfolgreich lernten. Die Erkenntnis lautete: ‚school makes a difference‘ – die einzelne Schule hat Möglichkeiten, Benachteiligungen zu verringern. Die ‚school improvement‘-Bewegung verfolgte daraufhin das Ziel, institutionelle Ursachen für Bildungsungleichheit zu überwinden und die Schulen zu befähigen, nicht nur formale Chancengleichheit, sondern ‚equity of outcome‘ – also Schulerfolg unabhängig von der sozialen Herkunft – zu gewährleisten. Im Zuge der Aufmerksamkeit auf die Ergebnisqualität einzelner Schulen entwickelte sich ein auch bildungspolitisch forciertes Konzept von Schuleffektivität, das die Idee verfolgt, Probleme der Bildungsgerechtigkeit könnten durch einen Wettbewerb der Schulen untereinander verringert werden (vgl. Giesinger 2009): Die Qualität der einzelnen Schulen soll durch Konkurrenz auf dem Bildungsmarkt verbessert werden. Konkurrenz entsteht u.a. durch eine erweiterte Selb-
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Schulqualitätsforschung
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ständigkeit der Schulen (sog. Schulautonomie) und durch freie Schulwahl der Eltern. Die Entwicklung verschiedener Schulprofile könne dazu beitragen, unterschiedliche Bedürfnisse und Ressourcen von Schülergruppen insgesamt besser zu berücksichtigen und dadurch Bildungsungleichheiten abzubauen. Der Forschungsstand enthält jedoch deutliche Hinweise darauf, dass die Einführung eines solchen Quasi-Marktes die soziale Segregation im Bildungssystem und damit auch die Bildungsungleichheit eher verstärkt (vgl. Böttcher & Hogrebe 2008, S. 28). Das wird sowohl auf das Wahlverhalten der Eltern als auch auf Auswahlstrategien der Schulen zurückgeführt (vgl. Giesinger 2009, S. 178ff). Im Wettbewerb der Schulen gelten u.a. ‚Schüler/innen mit Migrationshintergrund‘ als ‚Belastungsfaktor‘, also als Gruppe, die das Abschneiden bei externen Leistungsvergleichen verschlechtert und die Attraktivität einer Schule für bildungsorientierte Eltern mindert. Verstärkt wird diese Entwicklung (z.B. in England) durch vergleichende ‚Qualitätskontrollen‘ der Schulen (Schulrankings), für die extern gemessene Leistungsergebnisse grundlegend sind. Vor diesem Hintergrund werden auch die jüngeren auf Schuleffektivität gerichteten Strategien der Qualitätssicherung in Deutschland dafür kritisiert, dass sie in vieler Hinsicht zur Reproduktion sozialer Hierarchien beitragen (vgl. Böttcher & Hogrebe 2008; Gomolla 2013). Die neuen Strategien der Qualitätssicherung können also zu einer Marginalisierung von Schulen mit hohen Anteilen von ‚Schüler/innen mit Migrationshintergrund‘ führen. Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen der erweiterten Schulautonomie, die Möglichkeiten für eine migrationssensible Entwicklung der Einzelschule eröffnet, und den bildungspolitischen Bestrebungen, die Ergebnisqualität aller Schulen anhand einheitlicher Standards vergleichend zu kontrollieren. Ein solches Schuleffektivitätskonzept widerspricht den Werten und Normen, die die Interkulturelle Pädagogik meistens explizit vertritt. Denn es kann einer Qualitätsentwicklung einzelner Schulen, die an den unterschiedlichen Bedürfnissen und Ressourcen der Schülerschaft in der Migrationsgesellschaft ausgerichtet ist, im Wege stehen.
2 Prozessqualität und gleichberechtigte Teilhabe aller Schüler/innen In der Vergangenheit hat die Interkulturelle Pädagogik den Blick dezidiert abgewendet von ‚Schüler/innen mit Migrationshintergrund‘ als spezielle Zielgruppe (z.B. kompensatorischer Fördermaßnahmen) und stattdessen auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen gelenkt. Dieser Perspektivenwechsel ist grundlegend für Fragen der Schulqualität, denn ein Hauptanliegen ist seitdem die Gestaltung einer Schule, die die unterschiedlichen Lebenswelten und Bildungsvoraussetzungen der Schüler/innen in einer pluralen, stark differenzierten Gesellschaft als Normalität und grundlegende Bedingung begreift und ihnen gerecht wird. Pluralität gilt als Herausforderung für das historisch bedingte nationalstaatlich geprägte Selbstverständnis der Schule, aufgrund dessen schulische Normen bis heute am Konstrukt der ethnischen und sprachlichkulturellen Homogenität ausgerichtet sind. Wenn ein inklusiver und Diskriminierung überwindender Umgang mit unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen als Querschnittsaufgabe in der Schule verstanden wird, hat das weitreichende Konsequenzen (vgl. Fürstenau & Gomolla 2009-2012). Punktuelle Fördermaßnahmen allein – in die seit Jahrzehnten viel Geld investiert wird – haben das Problem der Bildungsungleichheit in der Migrationsgesellschaft offensichtlich nicht behoben. Die Alternative sind ganzheitliche Konzepte der Schulentwicklung. Prozesse interkultureller Schulentwicklung (vgl. Bremm in diesem Handbuch) sollten langfristig angelegt sein und erfordern planvolle Interventionen in sämtlichen Organisations- und Arbeitsbereichen der Schule und des Unterrichts, ebenso wie auf der Ebene der administrativen und politischen Steuerung. Dazu gehört auch eine kritische Reflexion sozialer Hierarchien und Machtverhältnisse, die in
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Sara Fürstenau
den Schulen wirksam sind. Durch eine transformatorisch-interkulturelle Orientierung, so der Anspruch, kann jede Schule dazu beitragen, diese Hierarchien und Machtverhältnisse in der Interaktion aller an der Schule beteiligten Akteure zu überwinden (Cummins 2014, S. 14). Gerechtigkeitstheoretisch fundiert Gomolla (2010) diesen Anspruch auf der Grundlage von Nancy Frasers Konzept gleichberechtigter Teilhabe. Gerechtigkeit hängt demnach vom sozialen Status der an den Interaktionen Beteiligten ab und ist gegeben, wenn Ebenbürtigkeit hergestellt ist (vgl. ebd., S. 205). Illustriert wird diese Perspektive z.B. in Diskussionen über die Rolle von – in deutschen Schulen unterrepräsentierten – Lehrkräften ‚mit Migrationshintergrund‘ und in Kontroversen über den Status von Migrantensprachen in der Schule. Obwohl im gesellschafts- und bildungspolitischen Diskurs mitunter von migrationsbedingter Mehrsprachigkeit als ‚Ressource‘ die Rede ist, sind die strukturellen Rahmenbedingungen für den Unterricht von Migrantensprachen in deutschen Schulen ungünstig. Migrantensprachen sind meistens nicht Teil des legitimen Schulkanons, und die Forderung, diese Sprachen in der Schule zu unterrichten und dadurch auch sozial aufzuwerten, ist umstritten. In der wissenschaftlichen Disziplin Interkulturelle Pädagogik werden also theoriebasierte Vorstellungen von einer guten Schule vertreten, die politisch dominanten (und mehrheitsfähigen) Schulqualitätskriterien zum Teil widersprechen. Aber auch wissenschaftliche Kontroversen verdeutlichen Unterschiede in den Maßstäben: Während migrationsbedingte Mehrsprachigkeit in der Interkulturellen Pädagogik als Wert an sich gilt, ist ein häufig vorgebrachtes Argument gegen den schulischen Unterricht anderer Familiensprachen als Deutsch der fehlende Nachweis, dass dieser Unterricht den Schul erfolg verbessert. Normative und theoretische Diskurse der Interkulturellen Pädagogik enthalten also auf Bildungsgerechtigkeit gerichtete Kriterien zur Bestimmung von Schulqualität, die dominante Schuleffektivitäts- und -qualitätskonzepte infrage stellen. Auf der Ebene schulischer Prozesse ist Schulqualität in der interkulturellen Bildungsforschung z.B. in folgenden Studien untersucht worden: Gogolin und Neumann (1997) sind in der Fallstudie einer „Großstadtgrundschule“ der Frage nachgegangen, ob und in welcher Weise die durch Pluralität geprägten sprachlich-kulturellen Praktiken der Schüler- und Elternschaft die schulische Arbeit verändern. Blair und Bourne (1998) haben „successful multi-ethnic schools“ untersucht, also Schulen, in denen Schüler/innen aus den in England von Bildungsbenachteiligung betroffenen ethnischen Minderheiten bei Leistungsmessungen ‚erwartungswidrig‘ erfolgreich abschneiden, und gefragt, wie die Erfolge zustande kommen. Das Zürcher Schulentwicklungsprojekt „Qualität in multikulturellen Schulen“ (QUIMS), in dem Schulen u.a. durch eine besondere Ausstattung mit Ressourcen darin unterstützt werden, den Bildungsvoraussetzungen in der Migrationsgesellschaft gerecht zu werden, ist wissenschaftlich evaluiert worden (Rolff 2006) und war Gegenstand einer internationalen Vergleichsstudie über Schulqualität in Einwanderungsgesellschaften (Gomolla 2005). In meinen eigenen Untersuchungen (Fürstenau 2013, 2016) steht die Frage im Vordergrund, in welcher Weise und unter welchen Bedingungen Schulen im Umgang mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit innovative Konzepte sprachlicher Bildung entwickeln. Schulen, die sich auf Organisations-, Personal- und Unterrichtsebene an den Bedingungen der pluralen Migrationsgesellschaft auszurichten versuchen, sind aufgrund des nationalstaatlich geprägten gesellschaftlichen Selbstverständnisses und den damit verbundenen sozialen Hierarchien vor besondere Herausforderungen gestellt; das belegen die Schulstudien der interkulturellen Bildungsforschung. Aber die Studien zeigen auch, dass schulischer Wandel möglich ist, insbesondere wenn sich eine transformatorisch-interkulturelle Orientierung im Schulleitungshandeln und im Ethos der Schule wiederfindet.
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Literatur
Blair, Maud & Bourne, Jill (1998): Making the Difference: teaching and learning strategies in successful multi-ethnic schools. London: Department for Education and Employment. Online verfügbar unter http://www. researchgate.net/publication/43322902_Making_the_difference_Teaching_and_learning_strategies_in_successful_multi-ethnic_schools [20.09.2017]. – Böttcher, Wolfgang & Hogrebe, Nina (2008): Gute Schule statt guter Schulen. Wettbewerb von Schulen unter Heterogenitätsbedingungen. In: Wiebke Lohfeld (Hg.): Gute Schulen in schlechter Gesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag, S. 21-46. – Cummins, Jim (2014): Language and identity in multilingual schools: Constructing evidence-based instructional policies. In: David Little; Constant Leung & Piet Van Avermaet (Hg.): Managing diversity in education. Languages, policies, pedagogies. Bristol: Multilingual Matters, S. 3-26. – Fürstenau, Sara (2013): Schulqualität im Kontext sprachlich-kultureller Heterogenität: Eine Fallstudie durchgängiger Sprachbildung in der Grundschule. In: Ingrid Gogolin; Imke Lange; Ute Michel & Hans H. Reich (Hg.): Herausforderung Bildungssprache – und wie man sie meistert. FörMig Edition, Band 9. Münster: Waxmann, S. 220-238. – Fürstenau, Sara (2016): Multilingualism and school development in transnational educational spaces. Insights from an intervention study at German elementary schools In: Almut Küppers; Barbara Pusch & Pınar Uyan Semerci (Hg.): Bildung in transnationalen Räumen. Education in transnational spaces. Wiesbaden: VS Springer Verlag, S. 71-90. – Fürstenau, Sara & Gomolla, Mechtild (Hg.) (2009-2012): Migration und schulischer Wandel (Lehrbuchreihe, 4 Bände). Wiesbaden: VS Verlag. – Giesinger, Johannes (2009): Freie Schulwahl und Bildungsgerechtigkeit. Eine Problemskizze. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 13 (2), S. 170-187. – Gogolin, Ingrid & Neumann, Ursula (Hg.) (1997): Großstadt-Grundschule. Eine Fallstudie über sprachliche und kulturelle Pluralität als Bedingung der Grundschularbeit. Münster: Waxmann. – Gomolla, Mechtild (2005): Schulentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft. Münster: Waxmann. – Gomolla, Mechtild (2010): Differenz, Anti-Diskriminierung und Gleichstellung als Aufgabenfelder von Qualitätsentwicklung im Bildungsbereich: Konzeptionelle Überlegungen in Anlehnung an die Gerechtigkeitstheorie Nancy Frasers. In: Tertium Comparationis 16 (2), S. 200-229. – Gomolla, Mechtild (2013): Schuleffektivität und die Verschiebung von Gerechtigkeitsdiskursen im Bildungsbereich. In: Swiss Journal of Sociology 39 (2), S. 245-265. – Heid, Helmut (2013): Logik, Struktur und Prozess der Qualitätsbeurteilung von Schule und Unterricht. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 16, S. 405-431. – Leiprecht, Rudolf & Steinbach, Anja (Hg.) (2015): Schule in der Migrationsgesellschaft. Ein Handbuch. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. – Rolff, Hans-Günther (2006): Qualität in multikulturellen Schulen (QUIMS). Schulentwicklung mit System und im System. Eine evaluative Würdigung des QUIMS -Projektes. Online verfügbar unter http://www.vsa.zh.ch/dam/bildungsdirektion/vsa/schulbetrieb/quims/quims_wissen/evaluation_quims/evaluationen/schulentwicklung_mit_system_referat_rolff.pdf.spooler.download.1392631736663.pdf/ schulentwicklung_mit_system_referat_rolff.pdf [19.09.2017].
37 Schulentwicklungsforschung Nina Bremm
1 Einleitung In den letzten zwei Jahrzehnten ist eine grundlegende Änderung in der Steuerungsstruktur des deutschen Schulsystems zu beobachten. Ausgehend von Befunden der Bildungsforschung, die zeigen, dass einzelne Schulen sich in ihrer organisatorischen und pädagogischen Ausgestaltung deutlich in ihren Qualitätskriterien unterscheiden (z.B. Baumert et al. 2006), erfahren Schu-
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len erweiterte Handlungsspielräume und Gestaltungsfreiheiten (Lehrplanautonomie, finanzielle Autonomie, personelle Autonomie). Diese Dezentralisierung von Entscheidungskompetenzen rückt die Einzelschule als ‚Handlungs- und Gestaltungseinheit‘ (Fend 1986) als zentralen Ansatzpunkt der Qualitäts- und Effektivitätssteigerung ins Zentrum des Interesses der Bildungspolitik und -administration. So fordert auch die KMK in ihrer 2015 überarbeiteten Gesamtstrategie zum Bildungsmonitoring ein Umdenken – weg von ausschließlich beschreibender und analytischer Bildungsforschung hin zu ‚nutzeninspirierter Grundlagenforschung‘, die theoretisches und praktisches Wissen zu qualitäts- und effektivitätssteigernder Schulentwicklung bereitstellen soll. Schulentwicklungsforschung gewinnt so seit Beginn der 2000er Jahre – auch durch erhöhte Förderaufkommen der Bildungspolitik und privatrechtlicher Stiftungen – stark an Gewicht. In der entsprechenden Forschung konnten inzwischen Merkmale effektiver Schulen identifiziert werden, die als Ansatzpunkte für die Initiierung von Schulentwicklungsprozessen in Einzelschulen aber auch durch die Bildungsadministration (z.B. in der Fortbildungsplanung oder in institutionalisierten Förderprogrammen) genutzt werden. Forschungslücken bestehen hingegen gegenwärtig noch mit Blick auf Fragen zu Qualitäts- und Effektivitätskriterien, die auf Schulen mit herkunftsbedingt unterschiedlich zusammengesetzten Schülerschaften anwendbar sind. Im Folgenden werden Trends der Schulentwicklungsforschung mit Blick auf die Frage vorgestellt, inwieweit Herausforderungen an das Lernen und Lehren in heterogenen Gesellschaften bereits Berücksichtigung finden.
2 Kompetenzorientierung der Schulentwicklungsforschung Die Ergebnisse der großen internationalen Schulleistungsvergleichsstudien haben eine Fokussierung der Schulentwicklungsforschung auf Fragen der schulischen Wirkungen auf die Kompetenzentwicklung von Schüler/innen ausgelöst (Maag Merki & Werner 2013). Anliegen der entsprechenden Studien ist es herauszufinden, welche Merkmale die Schulen besitzen sollten, damit Schüler/innen möglichst hohe Kompetenzen entwickeln. Wichtig wird dies beispielweise vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung hin zur sog. Wissensgesellschaft, die zum einen höhere Anforderungen an die Vermittlung von Spezial- und Expertenwissen durch die Schule stellt und zum anderen als Grundlage für Prozesse des lebenslangen Lernens, die Vermittlung von Kompetenzen, die zum selbständigen Lernen befähigen, notwendig macht. Als erforderliche Kompetenzen werden in der kompetenzorientierten Schulentwicklungsforschung solche aufgefasst, die in ausgewählten Unterrichtsfächern und Lernbereichen erzielt werden – insbesondere im Lesen und im mathematischen sowie naturwissenschaftlichen Bereich. Diese Perspektive auf die „Leistungen“ der Schüler/innen wird „Outputorientierung“ genannt. Im Fokus der outputorientierten Schulentwicklungsforschung stehen Einzelmerkmale der Schulqualität, die zunächst empirisch aufgedeckt und dann in ihrem Zusammenspiel und den möglichen Wechselwirkungen analysiert werden. Auf den identifizierten Merkmalen aufbauend, können Schulentwicklungsprozesse initiiert werden, die zu einer Qualitätsoptimierung führen sollen. Ziel ist es, die Kompetenzentwicklung der Schüler/innen möglichst optimal zu fördern. Studien zu Merkmalen guter Schulen zeigen insgesamt kein einheitliches Bild (Ditton & Müller 2015), aber es gibt Merkmale, die weithin als bedeutend für die Gestaltung einer ‚kompetenzförderlichen Schule‘ anerkannt sind. Dazu gehören nach Meta-Analysen von Scheerens und Bosker (1997), Teddlie und Reynolds (2000) und Hattie (2009) eine effektive Schulleitung, die stabile und anregende Rahmenbedingungen für den Unterricht schafft; ein positives Schulklima; Konsens im Kollegium über das schulische Leitbild und die Ziele der Schulentwicklung; unterrichtsbezogene Kooperation zwischen Lehrkräften; Einbindung der Eltern; klare und an-
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spruchsvolle Leistungserwartungen der Schulleitung an das Kollegium sowie Evaluation und Datennutzung. Gängige Modelle beziehen neben solchen Prozessmerkmalen auf der Schulebene zudem Merkmale der Unterrichtsqualität und sogenannte Kontextmerkmale (z.B. Zusammensetzung der Schülerschaft) sowie Inputmerkmale (z.B. Ressourcenausstattung) ein. Wichtig ist zu bedenken, dass es sich beim Konstrukt der Schulqualität um ein komplexes und mehrdimensionales Gebilde handelt, bei dem vielfältige Wechselwirkungen in den Blick zu nehmen sind (Ditton & Müller 2015). So können sich z.B. bei unterschiedlichen Formen der sozialen Schülerzusammensetzung auch unterschiedliche Qualitätsmerkmale als relevant für die Kompetenzentwicklung der Schüler/innen erweisen.
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3 Schulentwicklungsforschung zu sozial benachteiligten Regionen Kontextsensible Schulentwicklungsforschung hat sich vor allem in den USA und Großbritannien herausgebildet, findet aber zunehmend auch in Deutschland Beachtung. Hier werden Rahmenbedingungen der Arbeit von Schulen, wie die Schülerzusammensetzung oder der Standort, genauer in den Blick genommen. Die Arbeiten konzentrieren sich auf Fragen der Bildung unter schwierigen sozialen Bedingungen. Gezeigt werden konnte, dass neben dem häufig belegten Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg auf der Individualebene auch der Anteil von Kindern aus Familien mit niedrigem sozio-ökonomischen Status in einer Schule in statistisch bedeutsamer Weise mit den Lernergebnissen der Schüler/innen zusammenhängt (z.B. Baumert et al. 2006). Zudem weisen internationale Studien darauf hin, dass in Schulen in schwierigen sozialen Lagen häufiger mangelnde Prozessqualität auf der Schul- und Unterrichtsebene zu beobachten ist (Palardy 2008). Für Schüler/innen in nachteiligen Schulumgebungen ergibt sich somit eine doppelte Benachteiligung: einerseits durch die geringe familiale Ausstattung mit schulbildungsrelevantem Kapital, andererseits – und damit verschränkt – durch schulische Kontextmerkmale und geringere Prozessqualität, die für positiv verlaufende Bildungsprozesse hinderlich sind. Erklärungen für mangelnde Qualität von Schulen mit ungünstigen Standortbedingungen bieten drei Ansätze an. Die Additivitätshypothese besagt, dass die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft den Einfluss individuell ungünstiger Vorausetzungen für den Schulerfolg zusätzlich verstärkt (Baumert et al. 2006). Dafür sprächen ein insgesamt eher niedriges Motivations- und Leistungsniveau der Schüler/innen, das wiederum hervorgerufen wird durch ein geringes Anregungspotential und das Fehlen leistungsstarker Mitschüler/innen. Hinzu komme das Risiko geringer Motivation von Lehrkräften, das durch die Fokussierung auf extern gemessene Leistungen (z.B. gemessen in zentralen Prüfungen oder Schulrankings) verstärkt werden könne und ein oftmals erhöhtes Belastungserleben hervorrufe (Racherbäumer et al. 2013). Das Kompensationsmodell geht davon aus, dass Schulen in schwieriger Umgebung besonders gefordert sind, sich auf Heterogenität ihrer Schülerschaft einzustellen und fehlende individuelle Ressourcen durch materielle, soziale und emotionale Kompensationsleistungen auszugleichen. In einer Kompensationsphase komme es zunächst darauf an, die Grundlagen für spätere Veränderungen auf Schul- und Unterrichtsebene zu schaffen. Kompensationen können z.B. für Fähigkeiten in der Schul- und Bildungssprache angeboten werden, sich in verhaltens-, lernund leistungsbezogenen Vereinbarungen niederschlagen oder die Etablierung von Strukturen der Wertschätzung und Belohnung schulischer Anstrengungsbereitschaft betreffen. Schulen in nachteiliger Lage müssen nach dem Verständnis des Kompensationsmodells somit zusätzliche Maßnahmen ergreifen, bevor ihr Kerngeschäft, der Unterricht, in den Blick rücken kann.
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Der Kontingenztheorie (Creemers 2000) liegt die Annahme zugrunde, dass die spezifische Situation einer Organisation, die Organisationsstrukturen und das Verhalten der Organisationsmitglieder maßgeblichen Einfluss auf ihren Erfolg haben. Die Organisationseinheit „Schule“ ist demnach erfolgreich, wenn eine Passung zwischen situationalen Faktoren einerseits und den Strukturen und Handlungen der Akteure sowie den Merkmalen und Fähigkeiten der Schülerschaft andererseits hergestellt wird. Die „Theorie der Lerngelegenheiten“ (van de Grift et al. 2006) postuliert zudem, dass die besten Lernerfolge für Schüler/innen erzielt werden, wenn möglichst häufig passgenaue Gelegenheitsstrukturen für den Kompetenzerwerb geschaffen werden. Voraussetzung hierfür sei z.B. eine Erweiterung der Lernzeit bzw. eine effektiver gestaltete Lernzeit durch den Einsatz von Diagnostik und darauf aufbauender fachlicher Förderung. Die empirische Forschung zu Schulen in schwieriger Lage fokussiert, ebenso wie die Schuleffektivitätsforschung im Allgemeinen, einzelne Qualitätsbereiche, die durch Personal-, Organisations- und Unterrichtsentwicklungsprozesse möglichst optimiert werden und so zu einer höheren Leistungsfähigkeit der Schule in Bezug auf die Kompetenzentwicklung der Schüler/ innen beitragen sollen. Als besonders relevant für die Effektivität von Schulen in schwierigen sozialräumlichen Lagen haben sich empirisch die Schulleitung, hier vor allem ein Führungsstil, der förderliche Bedingungen für einen möglichst qualitätsvollen Unterricht herstellt, sowie eine wertschätzende Schulkultur, interne und externe Kooperation, der Einbezug der Eltern und Arbeit in schulübergreifenden Netzwerken, ferner der Umgang mit Daten über die eigene Schule und darauf gestützte Anstrengungen zur Entwicklung der Institution und zur Steigerung der Unterrichtsqualität erwiesen (vgl. z.B. van Ackeren 2008, Racherbäumer et al. 2013).
4 Interkulturelle Schulentwicklung Der Forschungsbereich der interkulturellen Schulentwicklung (vgl. z.B. Gogolin 1998) konzentriert sich auf die schulischen Folgen der gesellschaftlichen Veränderungen, die durch Migration mitbestimmt sind. „Schulkultur“ bildet den Ausgangspunkt interkultureller Schulentwicklungsprozesse. Es werden nicht nur einzelne Bereiche der Schulqualität (wie die Kooperation im Kollegium oder das Schulleitungshandeln) in den Blick genommen. Vielmehr werden individuelle und organisationale Deutungsmuster, Kontextualisierungen und Entscheidungsprozesse in Schulen beleuchtet. Als bedeutende Voraussetzung interkultureller Schulentwicklung gilt die Anerkennung und Berücksichtigung migrationsbedingter Diversität als Querschnittsaufgabe pädagogischen Denkens und Handelns (vgl. z.B. Fürstenau 2012). Einen Ausgangspunkt dieser Betrachtungsweise bildet die Prämisse, dass die Schule kein machtfreier Raum sei, und dass sich dies in der Auswahl von anerkannten Gegenständen schulischen Lernens und in der Wertschätzung herkunftsbedingter Ressourcen von Schüler/innen manifestiere. Daraus folge eine Hierarchisierung in der Bewertung von Wissen und Fähigkeiten, die sich z.B. in den Auffassungen zeigen, die Lehrkräfte zu herkunftsbedingter Mehrsprachigkeit besitzen (vgl. z.B. Gogolin 1994). Interkulturelle Schulentwicklung verfolgt das Ziel der Sensibilisierung der Institution Schule und der in ihr verantwortlich Handelnden für soziale und herkunftsbezogene Differenz und für Mechanismen, die daraus Benachteiligungen entstehen lassen. Die ethische Grundlage der Ansätze bildet die Anerkennung gesellschaftlicher Pluralität und die Betrachtung von Migration als gesellschaftlichem Normalfall. Interkulturelle Schulentwicklung zielt folglich nicht auf die Evaluation und Effizienzsteigerung einzelner Bereiche schulischer Organisation und Praxis, sondern auf organisationsübergreifende Reflexions- und Entwicklungsprozesse, die zur Fähigkeit der einzelnen Schule beitragen, gute Leistungen für eine sprachlich, kulturell und sozial heterogene Schülerschaft zu ermöglichen.
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5 Ausblick Die Institution Schule steht seit ihrer Gründung als öffentlich verantwortete gesellschaftliche Einrichtung vor vielfältigen Aufgaben. Unter anderem soll sie gegenwärtig durch ihre qualitätsvolle pädagogische Ausgestaltung eine kompetenzorientierte Bildung von Schüler/innen unter den steigenden Anforderungen der Wissensgesellschaft realisieren. Zudem kommt ihr eine Schlüsselposition bei der Herstellung von mehr Unabhängigkeit zwischen Herkunft und Bildungschancen zu. Die Schule soll für Schüler/innen jedweder Herkunft und Ausstattung mit bildungsrelevanten Kapitalien möglichst optimale Bildungschancen zu schaffen. Die Schulentwicklungsforschung steht vor der Aufgabe, belastbare Qualitätskriterien für Schulen mit unterschiedlich zusammengesetzter Schülerschaft herauszuarbeiten, die dabei helfen können, Bildungsprozesse zukünftig für alle Schüler/innen möglichst ertragreich zu gestalten. Grundlegend dafür ist es, den Herausforderungen ebenso wie den Potentialen gesellschaftlicher Diversität gerecht zu werden. Schulentwicklungsforschung steht zudem vor der Aufgabe, neben der Qualifikationsfunktion von Schule auch ihre gesellschaftliche Integrationsfunktion in den Blick zu nehmen und so neben einer Effektivitätssteigerung in Bezug auf schulische „Outcomes“ auch Wissen über die Vermittlung sozialer und kultureller Identität als Grundlage gesellschaftlicher Kohäsion in modernen Gesellschaften zur Verfügung zu stellen. Literatur
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38 Unterrichtsforschung Svenja Vieluf, Kerstin Göbel und Markus Sauerwein
Die interkulturelle Unterrichtsforschung betrachtet Unterricht im Kontext von Pluralität kultureller Deutungsmuster, Lebensformen und Sprachen. Im Sinne allgemeiner Ziele der interkulturellen Pädagogik (Gogolin 2010) sowie interkultureller Lehr-Lern-Forschung (Göbel & Hesse 2009) will sie Merkmale oder Prozesse des Unterrichts ausfindig machen, die ein gleichberechtigtes Nebeneinander verschiedener Sicht- und Lebensweisen in heterogenen Gesellschaften befördern oder diesem entgegenstehen. Ihr liegt dabei kein einheitliches Verständnis von Unterricht zugrunde, sondern es wird – wie auch in der Unterrichtsforschung im Allgemeinen (Lüders 2014) – der jeweilige Unterrichtsbegriff maßgeblich durch den forschungstheoretischen Zugriff bestimmt: Während die pädagogische Psychologie Unterricht meist als Angebots-Nutzungs-Situation konzeptualisiert (z.B. Helmke & Klieme 2008), lassen sich in der Erziehungswissenschaft vielfältige Unterrichtsverständnisse ausmachen, welche die jeweiligen theoretischen Positionen der Autor/innen widerspiegeln (Lüders 2014). Die interkulturelle Unterrichtsforschung verbindet eine oder mehrere dieser theoretischen Blickwinkel auf Unterricht mit einer interkulturellen Perspektive. Es handelt sich dabei um ein relativ junges Forschungsfeld; die ersten systematischen empirischen Untersuchungen wurden in Deutschland in den 1990er Jahren durchgeführt, unter anderem angeregt durch den DFG-Forschungsschwerpunkt FABER – Folgen der Arbeitsmigration in Bildung und Erziehung (z.B. Bender-Szymanski et al. 2000; Gogolin 1994; Walter 2001). Einen wichtigen Schritt in eine fachspezifische Perspektive der interkulturellen Unterrichtsforschung stellen Analysen im Rahmen der Studie „Deutsch-Englisch-Schülerleistungen International (DESI)“ aus dem Schuljahr 2003/2004 dar. Im Kontext der DESI-Studie sind zwei zentrale Themen aus dem Bereich der interkulturellen Unterrichtsforschung behandelt worden, nämlich die Förderung von interkultureller Kompetenz und von Mehrsprachigkeitsorientierung im Englischunterricht (Göbel 2011; Hesse et al. 2008). Den Analysen liegt ein pädagogisch-psychologisches Unterrichtsverständnis zugrunde, das mit einer fremdsprachendidaktischen Perspektive verbunden wurde. Sie wurden unter Rückgriff auf Schülerbefragungen und Unterrichtsvideografie realisiert. Die Ergebnisse hinsichtlich der Förderung interkultureller Kompetenz im Unterricht deuten darauf hin, dass – neben allgemeinen Dimensionen der Unterrichtsqualität wie einer guten Klassenführung, einer positiven Fehlerkultur und einem Eingehen auf die Bedürfnisse der Schüler/ innen – das Realisieren eines diskursiven Unterrichtsgesprächs, in dem die Lernenden ihre kulturelle Deutungen reflektieren können, mit ihren interkulturellen Lernergebnissen (z.B. ihrer Bewusstheit über kulturelle Unterschiede und ihrer Fähigkeit zur Übernahme der Perspektive von Personen anderskultureller Herkunft) in einem deutlichen Zusammenhang steht (Göbel 2007; Göbel & Hesse 2008; Göbel & Vieluf 2015). Lehrkräften mit Auslandserfahrungen und/ oder regelmäßigen Kontakten in das englischsprachige Ausland gelang es besser, eine solche interkulturelle Qualität des Unterrichts zu realisieren (Göbel & Helmke 2010).
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In Bezug auf die Bedeutung von Mehrsprachigkeit zeigen die Ergebnisse, dass Lernende anderer Erstsprachen als Deutsch, unter Berücksichtigung ihrer kognitiven Eingangsvoraussetzungen, einen Vorteil gegenüber ihren deutscherstsprachigen Peers im Hinblick auf ihre Englischleistungen haben und dass darüber hinaus eine sprachlich heterogene Zusammensetzung der Klasse in einem positiven Zusammenhang mit dem Gesamtklassenergebnis im Englischen steht (Hesse et al. 2008). Die sprachlichen Ressourcen mehrsprachig aufgewachsener Schüler/innen begünstigen offenbar nicht nur das individuelle Lernen einer weiteren Fremdsprache, sondern auch das Lernen der gesamten Klasse. Dementsprechend hielten die im Rahmen der DESI-Studie befragten Lehrpersonen den Einbezug verschiedener Sprachen in ihren Unterricht für sinnvoll; allerdings wird diese Mehrsprachigkeitsorientierung nur selten umgesetzt (Göbel & Vieluf 2014). Trotzdem zeigte sich ein Zusammenhang zwischen einer Sprachentransferorientierung und Schülerleistungen: Je positiver Lehrkräfte der Sprachentransferunterstützung im Unterricht gegenüberstanden, desto höher war die mittlere Englischleistung ihrer Klasse (Göbel et al. 2010). An letztere Befunde schließt auch eine neuere großangelegte Untersuchung an, die „Lima Video-Study (LiViS)“, die aus einer sprachwissenschaftlichen Perspektive den Umgang mit Mehrsprachigkeit im Unterricht beschreiben und aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive ergründen will, wie bildungssprachförderlicher Unterricht gestaltet werden kann (Gogolin & Duarte 2014). Erste Analysen des Videomaterials deuten darauf hin, dass im mathematischen und sozialwissenschaftlichen Unterricht – trotz der zu erwartenden Dominanz der deutschen Sprache – durchaus Interaktionssequenzen in anderen Sprachen auftreten, vor allem in ‚privater Kommunikation‘ (d.h. in Partner- oder Gruppenarbeit), aber auch in unterrichtsbezogenen Interaktionen (Duarte et al. 2013). Eine Nutzung verschiedener Sprachen während der Partner-/ Gruppenarbeit und das Übersetzen von Texten in eine alltäglichere Nicht-Bildungssprache (egal welche) scheinen gewinnbringend für das Textverständnis zu sein (Bührig & Duarte 2013). Die Studie bestätigt vergleichbare Befunde explorativer Studien aus der Primarstufe (Dirim 1998; Fürstenau et al. 2012) und gibt Einblicke, wie ein ressourcenorientierter Umgang mit Mehrsprachigkeit im Unterricht konkret aussehen kann. Neben diesen beiden großangelegten multidisziplinären Studien haben sich mittlerweile auch kleinere erziehungswissenschaftliche Studien in Deutschland des Themas angenommen. So beleuchtete beispielsweise Geier (2011) im Rahmen einer rekonstruktiven Fallstudie das Verhältnis zwischen der „Programmatik interkulturellen Unterrichts und institutionalisierter pädagogischer Praxis auf der Handlungsebene konkreten Unterrichtsgeschehens“ (S. 110), und Huxel (2012) analysierte aus einer postkolonialen Perspektive, wie soziale Differenz und Andersheit im Unterricht diskursiv konstruiert werden. Auch international werden Forschungsfragen aufgeworfen, welche mit denjenigen des deutschsprachigen Raumes vergleichbar sind, mit teilweise ähnlichen Ergebnissen. Beispielsweise wurde auch in Hongkong ein Zusammenhang zwischen interkulturellen Erfahrungen von Lehrpersonen und der Qualität ihres Unterrichts beobachtet (Lee 2009). In Italien, Österreich und Großbritannien sind sich Lehrpersonen der kognitiven Ressourcen ihrer mehrsprachigen Lernenden offenbar ebenso wenig bewusst wie Lehrpersonen in Deutschland (de Angelis 2011). Studien aus Italien und Österreich weisen schließlich darauf hin, dass es für die Reflexion kultureller Deutungen im Unterricht förderlich ist, wenn nicht die kulturellen Differenzen der Lernenden im Vordergrund stehen, sondern das Konzept Kultur kritisch betrachtet wird und Gemeinsamkeiten in den Blick genommen werden (z.B. Baraldi 2012; Seyfried 2014). Dennoch, auch international steht die empirische Unterrichtsforschung aus interkultureller Perspektive noch am Anfang.
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Literatur
Svenja Vieluf, Kerstin Göbel und Markus Sauerwein
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In: Zeitschrift für Gruppendynamik und Organisationsberatung 44 (3), S. 245-275. – Dirim, Inci (1998): „Var mı lan Marmelade?“ – Türkisch-deutscher Sprachkontakt in einer Grundschulklasse. Münster: Waxmann. – Duarte, Joana; Gogolin, Ingrid & Siemon, Jens (2013): Mehrsprachigkeit im Fachunterricht am Übergang in die Sekundarstufe II – erste Ergebnisse einer Pilotstudie. In: Jürgen Erfurt; Tatjana Leichsering & Reseda Streb (Hg.): Mehrsprachigkeit und Mehrschriftigkeit. Sprachliches Handeln in der Schule. Duisburg: Univ.Verl. Rhein-Ruhr (Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST), 83), S. 79-94. – Fürstenau, Sara; Lange, Imke & Urspruch, Stefanie (2012): Bildungssprachförderliches Lehrerhandeln in Grundschulklassen mit hohen Anteilen migrationsbedingt mehrsprachiger Kinder. Reflexionsphasen im individualisierten Unterricht. In: Zeitschrift für Grundschulforschung 5 (2), S. 65-78. – Geier, Thomas (2011): Interkultureller Unterricht: Inszenierung der Einheit des Differenten. Wiesbaden: VS-Verlag. – Göbel, Kerstin (2007): Qualität im interkulturellen Englischunterricht. Eine Videostudie. Münster: Waxmann. – Göbel, Kerstin (2011): Qualitative und quantitative Ansätze zur Analyse der Unterrichtsqualität im interkulturellen Englischunterricht. In: Horst Bayrhuber; Ute Harms; Bernhard Muszynski; Bernd Ralle; Martin Rothgangel; Lutz-Helmut Schön; Helmut Johannes Vollmer & Hans-Georg Weigand (Hg.): Empirische Fundierung in den Fachdidaktiken – Fachdidaktische Forschungen, Bd. 1. Münster: Waxmann, S. 95-114. – Göbel, Kerstin; Helmke, Andreas (2010): Intercultural learning in English as a foreign language instruction: The importance of teachers’ intercultural experience and the usefulness of precise instructional directives. In: Teaching and Teacher Education 26 (8), S. 1571-1582. – Göbel, Kerstin & Hesse, Hermann-Günter (2008): Vermittlung interkultureller Kompetenzen im Englischunterricht. In: DESI-Konsortium unter Leitung von Eckhard Klieme (Hg.): Unterricht und Kompetenzerwerb in Deutsch und Englisch. Ergebnisse der DESI-Studie. Weinheim: Beltz, S. 398-410. – Göbel, Kerstin & Hesse, Hermann-Günter (2009): Interkulturelle Kompetenz – ist sie erlernbar oder lehrbar? Konzepte für die Lehrerbildung, die allgemeine Erwachsenenbildung und die berufliche Weiterbildung. In: Gerhard Mertens; Ursula Frost; Winfried Böhm & Volker Ladenthin (Hg.): Handbuch der Erziehungswissenschaft Band III/2. Paderborn: Schöningh Verlag, S. 1139-1152. – Göbel, Kerstin & Vieluf, Svenja (2014): The effects of language transfer promoting instruction. In: Patrick Grommes & Adelheid Hu (Hg.): Plurilingual Education: Policies – Practice – Language Development. Amsterdam: John Benjamins, S. 183-197. – Göbel, Kerstin; Vieluf, Svenja (2015): Unterrichtsqualität und Klassenzusammensetzung im Hinblick auf die interkulturellen Lernergebnisse im Englischunterricht in der 9. Klasse. Beitrag zur 3. 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Paul (2001): Schule in der kulturellen Vielfalt: Beobachtungen und Wahrnehmungen interkulturellen Unterrichts. Opladen: Leske + Budrich.
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39 Sozialpädagogik Andreas Herz und Wolfgang Schröer
Die Sozialpädagogik als wissenschaftliche Disziplin hat sich erst sehr spät mit dem interkulturellen Alltag der Menschen in Deutschland auseinandergesetzt. Sowohl in sozialpädagogischen Ansätzen, die im 19. Jahrhundert in der Pädagogik angesichts der ‚sozialen Frage‘ entwickelt worden sind als auch in den Ansätzen zur Fundierung der Sozialen Arbeit aus der bürgerlichen Frauenbewegung heraus, ist kein Zugang zu interkulturellen Alltagswelten gesucht worden. Zentraler Bezugspunkt der im 19. Jahrhundert beginnenden sozialpädagogischen Reflexionen war bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die Diagnose der „sozialpädagogischen Verlegenheit“ moderner Gesellschaften (Böhnisch et al. 2007). Gemeint war damit, dass die Menschen in der industriekapitalistischen Moderne in ihrer alltäglichen Lebensbewältigung mit einer paradoxen Situation konfrontiert sind: Einerseits seien sie freigesetzt und aufgefordert, selbstbestimmt zu handeln; andererseits würden ihnen die sozialen Voraussetzungen verweigert, sich selbstbestimmt bilden zu können. Im Vordergrund der sozialpädagogischen Entwürfe stand dabei die Sorge um die „Einheit der Kulturnation“ (Schröer 1999) und die Angst vor einer sozialen Spaltung der Gesellschaft angesichts von Klassengegensätzen. Migration bzw. die Nationalitätenfrage spielte keine Rolle, auch nicht im Kontext von Initiativen – wie z.B. der Settlementbewegung – die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin oder in Hamburg in Auseinandersetzung mit internationalen Konzepten z.B. um Jane Adams und das Hull House gebildet haben (vgl. Köngeter 2012). So schreibt z.B. Westerkamp von ihrem Aufenthalt 1913 in den Chicago Commons in einem offenen Tagebuch für die Sozial-Akademischen Monatshefte, dem publizistischen Organ der Settlements in Berlin: „Chicago Commons ist ein Settlement, nach Hull-House das älteste und größte von Chicago. […] In Deutschland gibt es nur ganz wenig ähnliches; unsere Probleme sind ja auch ganz andere wie die der Vereinigten Staaten. Hier ist das Nationalitätenproblem bestimmend für fast alle soziale Arbeit. Die große Masse der Bevölkerung – bestimmt die große Masse der Arbeiterbevölkerung – besteht aus Einwanderern, denen die Vereinigten Staaten das Land der Verheißung sind, das sie ohne jede Kenntnis seiner Lebensbedingungen, ja auch nur seiner Sprache, in blindem Vertrauen betreten. […] Deshalb begannen die Settlements – zuerst in ganz bescheidenem Umfange – mit Kursen: Näh- und Kochstunden für die Mädchen, vielleicht einem Abendkursus in Englisch für die Männer. […] Außerdem aber dienen diese Kurse auch dem anderen Zweck, den die amerikanischen Settlements verfolgen und der natürlich mit dem ersten vielfach verflochten ist: aus den Einwanderern brauchbare „American citizens“ zu machen“ (Westerkamp 1917, S. 22-23).
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Dies ist eines der wenigen Zeugnisse, dass in Deutschland in der Phase des beginnenden fachlichen sozialpädagogischen Austauschs zu Beginn des 20. Jahrhunderts Fragen von Migration und Interkulturalität thematisiert wurden. Damit ist keineswegs gesagt, dass es nicht Zeugnisse von migrationsbezogener Sozialarbeit, z.B. im Ruhrgebiet, im Rahmen kirchlicher Fürsorge oder lokaler sozialer Diensten gegeben hat. Doch diese Bemühungen sind nicht systematisch in die sich entwickelnde sozialpädagogische Fachdiskussion einbezogen worden. Migration und Interkulturalität sind über lange Zeit als Herausforderung in den sog. ‚klassischen‘ Einwanderungsländern verstanden worden, die nur insofern für die Verhältnisse in Deutschland relevant waren, wie die ‚soziale Frage‘ auch als Herausforderung kultureller Assimilation begriffen wurde.
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1 Die interkulturelle Öffnung der sozialpädagogischen Fachdiskussionen Ab den 1980er Jahren hat sich dies grundsätzlich verändert. Zunächst waren es vor allem Fachkräfte und Studierende in Berlin und an Hochschulen in anderen Ballungsräumen, die aus den Konzepten der sog. Ausländerpädagogik offene gemeinwesenorientierte Perspektiven entwickelt und die kulturalistischen Integrationskonzepte im Fachdiskurs kritisiert haben. Nach und nach hat sich der Begriff Interkulturalität in der sozialpädagogischen Fachdiskussion und Forschung durchgesetzt, als Kritik an der mit der Herausbildung des Nationalstaats entwickelten ethnischen Homogenitätsfiktion und – mit „dem Habitus einer Sozialen Bewegung“ (Hamburger 1999, S. 38) – als Forderung nach der sozialen, politischen und kulturellen Anerkennung von Migrantinnen und Migranten. Doch systematisch ist ‚Interkulturalität‘ erst in der Gegenwart Ausgangspunkt theoretischer Konzeptualisierungen und empirischer Forschungen in der Sozialpädagogik. Allerdings – so z.B. Hamburger (2009) – entkommt die Soziale Arbeit trotz der inzwischen entwickelten ‚kultursensiblen‘ oder ‚interkulturellen‘ Zugänge noch immer nicht einer national konnotierten Ethnisierung der Akteur/innen angesichts der vorherrschenden sozialen Ungleichheitsverhältnisse und gesellschaftlichen Interaktionsmuster. Adressat/innen Sozialer Arbeit werden auch weiterhin im Wesentlichen als Migrantinnen bzw. Migranten kategorisiert, die sich gegenüber einer nationalstaatlich orientierten Ethnisierungsperspektive zu behaupten haben. Hamburger (2009) plädiert deshalb für einen reflexiven Umgang mit Interkulturalität, d.h. situativ kulturelle Faktoren im Kontext der Lebenslagen zu thematisieren und dementsprechend Kultur als dynamische und diskursive Kategorie zu verstehen, so dass ihre Erscheinungsformen als situativ abgrenzbar, historisch veränderlich, in Machtbeziehungen eingeordnet und mit anderen sozialen Faktoren verbunden, analysiert werden können. Vor diesem Hintergrund ist auch eine Öffnung gegenüber transnationalen Entwicklungen und Diskursen im Anschluss an die Diskussion in den „transnational studies“ zum sog. „methodological nationalism“ zu beobachten (vgl. Wimmer & Glick-Schiller 2002). Köngeter (2009) hat dieses Konzept auf die Soziale Arbeit in Deutschland bezogen. Mit dem Konzept des „methodological nationalism“ wird auf die ‚Naturalisierung des Nationalstaats’ in der sozialwissenschaftlichen Forschung hingewiesen und die Gleichsetzung von Gesellschaft und Nationalstaat problematisiert: „Methodological nationalism is the naturalization of nation-states by the social sciences. Scholars have shared that national borders are the natural unit of study, equate society with nature state, and conflate national interest with the purpose of social sciences” (Wimmer & Glick-Schiller 2002, S. 302). Entsprechend dieser Auseinandersetzung wird gegenwärtig auch in der Sozialpädagogik gefordert, nicht mehr von den Nationalstaaten als einheitlichen Rahmen der Wohlfahrtsproduktion a priori auszugehen, sondern von transnationalen Verflechtungen in den interkulturellen Dynamiken. Sozialpädagogik ist dann als Handlungsform in sozialen
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Prozessen von „ongoing interconnection or flow of people, ideas, objects, and capital across the borders of nation-states” zu reflektieren, „in contexts in which the state shapes but does not contain such linkages and movements“ (Glick-Schiller & Levitt 2006, S. 5). Über diese Öffnung gegenüber den „transnational studies“ werden auch Diskussionen um Grenzpolitiken (vgl. u.a. Hess & Kasparek 2010) und aus der Flüchtlingsforschung in der Sozialpädagogik rezipiert. Es zeigt sich, dass die Sozialpädagogik nicht nur das lebendige Inventar des nationalen Sozialstaats ist. Vielmehr werden die interkulturellen Dynamiken in den sozialen Unterstützungsprozessen und sozialen Dienstleistungen als grenzüberschreitende Herausforderungen analysiert. Für die sozialen Dienste ist dies jedoch eine besondere Herausforderung, da sie sich – insbesondere in Deutschland – im Wesentlichen im Rahmen nationaler-sozialstaatlicher Institutionalisierungsprozesse entwickelt haben. Sie haben zwar in vielfältiger Weise auf Prozesse der Migration und die Lebenslagen von Migrant/innen reagiert und dementsprechende interkulturelle pädagogische Konzepte entwickelt, aber diese Konzepte basieren weiterhin mehrheitlich auf Interpretationsperspektiven im Ausgang von einer nationalstaatlich definierten Gesellschaft.
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Sozialpädagogik
2 Von der interkulturellen Öffnung Sozialer Dienste zur diversitätsbewussten Sozialen Arbeit Zunächst hat sich die sozialpädagogische Fachdiskussion über die ‚klassischen’ migrationsbezogenen Sozialen Dienste der Thematisierung und Erforschung von Interkulturalität genähert. Es waren insbesondere die sog. Ausländer- resp. später Migrationsberatungsstellen, die Sprachkurse und Gemeinwesenarbeit organisiert oder in Asylbewerberunterkünften gearbeitet haben und in denen sich eine interkulturelle Reflexion der Handlungsansätze entwickelt hat. Nach und nach wurde das Spektrum erweitert, so dass eine interkulturelle Öffnung in den Sozialen Diensten generell, z.B. auch in der Pflege im Alter oder in der Schuldnerberatung, als notwendig angesehen wurde. Noch kann allerdings nicht davon gesprochen werden, dass interkulturelle Zugänge und Kompetenzen durchgängig das Profil der Sozialen Arbeit, ihre theoretischen Konzepte, Forschungszugänge oder auch ihre Ausbildungsangebote bestimmen. Gleichzeitig werden gegenwärtig unter dem Stichwort ‚Diversität’ die interkulturellen Zugänge neu gerahmt. Während sich in den Sozialen Diensten erst langsam eine interkulturelle Öffnung vollzieht, wird Interkulturalität in den Fachdebatten mit Bezug auf das Konzept der „Diversität“ als Teil einer ‚Normalität der Vielfalt’ gefasst. Insgesamt geht damit ein Perspektivwechsel einher, durch den Fragen nach der sozialen Konstitution, Bedeutung und Ermöglichung von Unterschieden in den Sozialen Diensten thematisiert werden. So sollen nicht mehr die ethnischen Unterschiede, die (inter)kulturelle Besonderheit im Vordergrund der Betrachtung stehen, sondern die ‚Verschiedenheit an sich’ als Strukturelement moderner (Einwanderungs-)Gesellschaften. Hormel und Scherr (2004) weisen in diesem Zusammenhang auf die Gefahr der Trivialisierung und Reduzierung von Diversity-Konzepten hin, wenn diese lediglich in der Feststellung der Vervielfältigung von individuellen Lebensformen münden oder diese Vielfalt als abstraktes Ideal gepriesen wird. Diversität müsse theoretisch in ein Spannungsverhältnis zur Frage der sozialen Integration und praktisch zur Frage der Beteiligung gesetzt werden. Damit werde die Hintergrundvielfalt des Sozialen sichtbar: Wer kann sich Eigenwelten leisten und wer nicht, wo ist Selbstbestimmung möglich und wo herrscht eher Zwang, wem bleibt nichts anderes übrig, als sich anzupassen usw.
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Andreas Herz und Wolfgang Schröer
Zu klären ist, wie sozial bedeutsame Differenzen hergestellt werden, und ob bzw. wie diese Differenzmerkmale möglicherweise mit Ungleichheitsrelationen in Zusammenhang stehen und als Mittel sozialer Typisierungen, Benachteiligung, Ausgrenzung und ungleicher Bildungschancen verwendet werden. Diversity verlangt somit eine Auseinandersetzung mit hierarchisierenden Klassifikationen, die auf Minderwertigkeit verweisen und zur Begründung von Benachteiligung und Ungleichheit herangezogen werden und somit Prozesse der partizipatorischen Parität verhindern können (vgl. Hormel & Scherr 2004). Die politische und pädagogische Herausforderung wird also nicht mehr in den interkulturellen Dynamiken selbst gesehen, sondern es wird nach den sozialen Kontexten der Vergesellschaftung gefragt – Modernisierung, soziale Ungleichheit und Segregation – und erst in einem zweiten Schritt, wie in diesen Kontexten z.B. ‚kulturelle Ausdrucksformen‘ zu sozialer Benachteiligung führen können. Mit dem Begriff ‚Diversity‘ wird gleichzeitig in der sozialpädagogischen Diskussion über Interkulturalität ein sozialpolitischer Rahmen verbunden, auf den bezogen zivilgesellschaftliche und soziale Rechte sowie Partizipationsmöglichkeiten von Minderheiten und/oder von Menschen, die von Benachteiligungen betroffen sind, eingefordert werden können, ohne diese Menschen zu stigmatisieren. Eine „diversitätsbewusste Soziale Arbeit“ (Leiprecht 2011) verlangt deshalb nach einer Perspektive der „subjektiven Möglichkeitsräume“, in der das Wirken der Vielfalt der körperlichen, sozialen und kulturellen Selbst- wie Fremdbestimmungen, aber auch ihre in sich konflikthaften wechselseitigen Bezüge sichtbar und für sozialpädagogisches Handeln bestimmbar gemacht werden können. Dabei ist es „der jeweilige Umgang mit diesen Bedingungen und Bedeutungen, (…), der diesen Möglichkeitsraum verändert. (…) Grundlegend ist jedoch [, dass] das einzelne Subjekt (...) nicht völlig festgelegt [ist], es ist aber auch nicht völlig frei“ (ebd., S. 40). So verstanden meint Diversität auch mehr als nur das Erkennen und Anerkennen von sozialer und kultureller Vielfalt und unterschiedlichen Lebensformen und Zugehörigkeiten, die neben der herrschenden gesellschaftlichen Normalität liegen. Es verlangt z.B. gleichzeitig die Wahrnehmung sozial gespaltener Migrationspolitiken (Schröer & Sting 2003) und die Thematisierung von rassistischen sowie diskriminierenden Alltagswelten.
3 Alltagswelten im Kontext von Migration – soziale Unterstützungsforschung Für die sozialpädagogische Forschung ergibt sich mit der aufgezeigten Entwicklung auch die Herausforderung, die Alltagswelten im Kontext von Migration nicht nur aus der Perspektive Sozialer Dienste und benötigter Hilfe zu betrachten, sondern die Personen als Akteur/innen in sozialen Unterstützungsprozessen zu sehen, in die Soziale Dienste mitunter intervenieren. In der Sozialpädagogik kommt der Erforschung der Alltagswelten seit den 1970er Jahren ein zentraler Stellenwert zu. Alltag wurde dabei meist als Ereignis- und Erfahrungswelt alltäglicher Unterstützung, als jedermann verfügbare Wissensform sozialer Unterstützung verstanden und den „entsubjektivierten“ Zweckwelten von Bildungs- und Wohlfahrtsinstitutionen gegenüber gestellt (vgl. u.a. Thiersch 1986). Thematisiert wurden vor allem die Pluralisierungen sowie Widersprüchlichkeiten in den Alltagswelten, oder es wurden die Unterstützungsleistungen von „alltäglichen Helfern“ (vgl. Nestmann 1988) in unterschiedlichen Kontexten herausgestellt. Doch inzwischen ist auch eine differenzierte Erforschung von Migration und sozialer Unterstützung zu beobachten (Herz & Olivier 2012). Aus der Perspektive der ‚transnational studies’ ist davon auszugehen, dass es durch Migration in nahezu allen Fällen zu „sozialen Strukturbildungen kommt, die sich nationalstaatlichen Einteilungen entziehen“ (Bommes 2002, S. 92), und dass sich strukturierte und dauerhafte Austausch- und Unterstützungsbeziehungen über nationalstaatliche Grenzen hinweg bilden
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(Herz 2014). Bislang stehen im Hinblick auf die Frage, welche Formen und Verläufe solche transnationalen Beziehungsstrukturen in Bezug auf soziale Unterstützungsprozesse annehmen können, erst wenige Forschungsergebnisse zur Verfügung, eine Folge der Annahme, dass Personen, die im näheren geographischen Umfeld wohnen, mehr und häufiger verschiedene Arten sozialer Unterstützung leisteten. Mittlerweile werden derartige Annahmen aber differenzierter betrachtet bzw. relativiert: „[G]eographical proximity or distance do not correlate straightforwardly with how emotionally close relatives feel to one another, nor indeed with how far relatives will provide support or care for each other” (Mason 2004, S. 421). Forschungen zeigen weiterhin, dass auch über grenzüberschreitende Netzwerke unterschiedliche Formen sozialer Unterstützung geleistet werden (so etwa funktionale, ökonomische, beratend-informative oder emotionale) und dass sich soziale Beziehungen bei zunehmender geographischer Distanz nicht auflösen. Entsprechend belegt Herz (2014) für persönliche Netzwerke von deutschen Migrantinnen und Migranten in Großbritannien die hohe Bedeutung transnationaler Beziehungen und differenziert fünf unterschiedliche Muster von – mehr oder weniger transnationalen – Unterstützungsstrukturen, wobei gerade transnationale Beziehungen ein hohes Ausmaß an emotionaler Unterstützung bereitstellen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Sozialpädagogik
4 Ausblick: Interkulturelle Alltagswelten – Sozialpädagogik zwischen Nachholbedarf und Relativierung In der Sozialpädagogik ist weiterhin eine ambivalente Situation in Bezug auf die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit dem interkulturellen Alltag der Menschen zu beobachten. Es gibt einerseits noch immer einen Nachholbedarf hinsichtlich empirischer Forschung zu den interkulturellen Dynamiken, deren Ergebnisse systematisch in die theoretischen Entwürfe, professionellen und organisationalen Zugänge sowie disziplinären Positionierungen zu integrieren sind. Andererseits werden internationale sozialwissenschaftliche Ansätze rezipiert – insbesondere Konzepte transnationaler sozialer Beziehungen und Diversitätskonzepte –, so dass gleichzeitig Mobilität und Diversität als Charakteristika moderner Gesellschaften zum Ausgangs- und Bezugspunkt sozialpädagogischer Theoriebildung und Praxis gemacht werden. Literatur
Böhnisch, Lothar; Schröer, Wolfgang & Thiersch, Hans (2007): Sozialpädagogisches Denken. Weinheim: Juventa. – Bommes, Michael (2002): Migration, Raum und Netzwerke. Über den Bedarf einer gesellschaftstheoretischen Einbettung der transnationalen Migrationsforschung. In: Jochen Oltmer (Hg.): Migrationsforschung und interkulturelle Studien. Zehn Jahre IMIS. Schriften des IMIS, Bd. 11. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch, S. 91-106. – Glick-Schiller, Nina & Levitt, Peggy (2006): Haven‘t We Heard This Somewhere Before? A Substantive View of Transnational Migration Studies by Way of a Reply to Waldinger and Fitzgerald. CMD Working Paper#06-01. The Center for Migration and Development: Online verfügbar unter http://cmd.princeton.edu/papers/wp0601. pdf [26.03.2016]. – Hamburger, Franz (1999): Modernisierung, Migration und Ethnisierung. In: Marion Gemende; Wolfgang Schröer & Stephan Sting (Hg.): Zwischen den Kulturen. Pädagogische und sozialpädagogische Zugänge zur Interkulturalität. Weinheim: Juventa, S. 37-53. – Hamburger, Franz (2009): Abschied von der Interkulturellen Pädagogik. Plädoyer für einen Wandel sozial-pädagogischer Konzepte. Weinheim: Juventa. – Herz, Andreas & Olivier, Claudia (2013): Transmigration und Soziale Arbeit – ein öffnender Blick auf Alltagswelten. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. – Herz, Andreas (2014): Strukturen transnationaler sozialer Unterstützung. Eine Netzwerkanalyse von personal communities im Kontext von Migration. Wiesbaden: Springer VS. – Hess, Sabine & Kasparek, Bernd (Hg.) (2010): Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa. Berlin: Assoziation. – Hormel Ulrike & Scherr, Albert (2004): Bildung für die Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS. – Köngeter, Stefan (2012): „The immigrant problem“ – Transnationale Problemkonstruktionen in der SettlementHaus-Bewegung. In: Andreas Herz & Claudia Olivier (Hg.): Transmigration und Soziale Arbeit – theoretische Herausforderungen und gesellschaftliche Praxis. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 21-44. – Kön-
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Winfried Kronig
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geter, Stefan (2009): Der methodologische Nationalismus der Sozialen Arbeit in Deutschland. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik 7 (4), S. 340–359. – Leiprecht, Rudolf (2011): Auf dem langen Weg zu einer diversitätsbewussten und subjektorientierten Sozialpädagogik. In: Rudolf Leiprecht (Hg.): Diversitätsbewusste Soziale Arbeit. Schwalbach: Wochenschau Verlag, S. 15-44. – Mason, Jennifer (2004): Managing Kinship over Long Distances: The Significance of „The Visit“. In: Social Policy and Society 3 (4), S. 421-429. – Nestmann, Frank (1988): Die alltäglichen Helfer. Berlin: De Gruyter. – Schröer, Wolfgang (1999): Sozialpädagogik und soziale Frage. Weinheim: Juventa. – Schröer, Wolfgang & Sting, Stephan (Hg.) (2003): Gespaltene Migration. Opladen: Budrich. – Thiersch, Hans (1986): Die Erfahrung der Wirklichkeit. Weinheim: Juventa. – Westerkamp, Alix (1917): Aus amerikanischen Settlements: Briefe und Tagebuchbläter. In: Akademisch-Soziale Monatsschrift 1 (7/8), S. 120-123. – Wimmer, Andreas & Glick-Schiller, Nina (2002): Methodological nationalism and the study of migration. In: European Journal of Sociology 43 (2), S. 217-240.
40 Sonderpädagogik Winfried Kronig
Um Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien, die im Bildungssystem des Aufnahmelandes scheitern, lagert sich geradezu ein Panoptikum der Interpretationen, Ursachenvermutungen und programmatischen Entwürfe an. Den Nährboden für dieses multioptionale Erklärungsangebot bilden zahlreiche Berichte über die geringere Bildungsteilhabe von Schüler/innen aus Einwandererfamilien in Relation zu den heimischen Kindern. Festgemacht wird dieser Befund zumeist an den tieferen positiven bzw. höheren negativen Selektionsquoten. Die verschiedenen seit Jahrzehnten installierten Bündel an pädagogischen Zusatzmaßnahmen in vielen Aufnahmeländern, lassen die Persistenz der ungleichen Bildungsverteilung entlang der Zugehörigkeit zur Gruppe der Migrant/innen (z.B. Powell 2014) unüberwindbar erscheinen. Bei der sonderpädagogischen Selektion ist die Problemlage noch virulenter. Sonderklassen- bzw. Sonderschulüberweisungen sind bei Kindern aus Einwandererfamilien nicht nur häufiger, sondern haben seit den 1980er Jahren nahezu ungebrochen in einem Ausmaß zugenommen, vor dem der Anspruch individualtheoretischer Erklärungsmuster zunehmend versagt (Kronig 2007, S. 19ff). Zwar wird es immer schwieriger, die individuellen Eigenschaften der betroffenen Schüler/innen als alleinigen Faktor mit der Datenlage in einen ursächlichen Zusammenhang zu bringen. Dennoch werden kulturelle Besonderheiten, schwächere Bildungsambitionen der Eltern oder Defizite in der Unterrichtssprache mit einer gewissen Vorliebe als Ursachen für die schlingernden Bildungsbiographien herangezogen. Die Breite des verfügbaren Interpretationsspektrums illustriert, dass die institutionalisierten Selektionsrituale möglicherweise den Eigengesetzlichkeiten eines ‚racial profiling‘ folgen, bei dem die Kinder und Jugendlichen ‚fremder‘ Herkunft unter den Generalverdacht potentiellen Schulversagens gestellt werden.
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Die hier interessierende Population zeichnet sich dadurch aus, dass sie selbst oder ihre Eltern oder Großeltern zugewandert sind, und dass ihre schulischen Probleme als so gravierend wahrgenommen werden, dass sonderpädagogische Interventionen eingeleitet werden. Diese beiden Distinktionsmerkmale machten sie allerdings nur vermeintlich zu einer homogenen Population, denn mit ‚Migration‘ und ‚Behinderung‘ sind nicht nur beschreibbare quasi-natürliche Kategorien, sondern auch diskursiv entstandene Strukturen und institutionalisierten Praktiken. Grundsätzlich wären damit vorwiegend zwei Disziplinen für die besondere Situation von Kindern anderer Herkunft, die im Bildungssystem die unteren Plätze einnehmen, zuständig: Sonderpädagogik und Interkulturelle Pädagogik. Allerdings muss bedacht werden, dass diese Schüler/innen für die Disziplinen jeweils komplementär eine Art Randgruppe darstellen, die bei der Theoriebildung im günstigsten Fall einfach mitgemeint ist, im schlechtesten Fall schlicht vergessen wird. Verstärkt wird dieses Problem dadurch, dass in den beiden disziplinären Diskursen erstaunlich wenig Notiz voneinander genommen wird (Wansing & Westphal 2014, vgl. auch Kronig et al. 2007), obschon es in der jeweiligen Geschichte der Begriffsbildung einige unübersehbare Analogien gibt.
1 Konzeptualisierung der Leitkategorien Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Sonderpädagogik
Es gibt sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, was eine Behinderung, zumal im Bereich des Lernens, ist. Bereits in den 1970er Jahren veröffentlichte Bleidick (1977) eine Systematik zu vier grundlegenden Ansätzen, die er etwas überschwänglich als Paradigmen bezeichnet. Eine allgemein anerkannte Definition liegt bis heute nicht vor. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass es sich um einen psychologischen, medizinischen, pädagogischen, soziologischen, bildungspolitischen und sozialpolitischen Terminus handelt, der unterschiedliche Funktionen in den jeweiligen Kontexten zu erfüllen hat (Dederich 2009, S. 15ff). Die Begriffsgeschichte ist von Kritiken durchsetzt (vgl. zus.fassend Felkendorff 2003). Danach wirkt der Behinderungsbegriff stigmatisierend für die betroffene Population. Er ist ungerechtfertigt essentialistisch, weil er Behinderte in ihrer ganzen Person auf die Behinderung reduziert und die vermeintlichen oder tatsächlichen Defizite hervorhebt. Der Begriff ist zwar ungenau und diffus, hat aber eine segregierende Wirkung, weil er zwischen ‚Behinderung‘ und ‚Normalität‘ vorgeblich sauber trennt. Darüber hinaus wird ihm ein berufspolitisches Missbrauchspotential nachgesagt, da sich die Sonderpädagogik ihre Klienten selbst ‚zudiagnostiziert‘. Dies sind nur Beispiele für die Kritik am Behinderungsbegriff. Während soziologische Inhalte eine lange Tradition in der sonderpädagogischen Begriffsbildung haben, sind modernisierungstheoretische und explizit konstruktivistische Ansätze erst in jüngerer Vergangenheit systematischer in aufgenommen worden. So hat etwa die Ökonomisierung des Sozialen die Behindertenhilfe nachhaltig verändert. Unter dem zunächst plausiblen Ruf nach mehr Eigenverantwortung und begleitet von einer individualisierungstheoretisch legitimierten Deregulierungstendenz verschärft sich der Wettbewerb um knappe Ressourcen wie Bildung, Geld oder soziale Netze (vgl. Dederich 2009, S. 28f ). Schwächere Mitglieder der Gesellschaft, zu denen Behinderte oft gehören, sind die Verlierer dieser Entwicklung. Gleichzeitig ist es immer schwerer festzustellen, wer zu den Behinderten gezählt werden soll. Wenn soziale Kategorien tatsächlich das Resultat von lokal begrenzten Entscheidungs- und Aushandlungsprozessen sind (ebd. S. 27), geraten die ohnehin anfechtbaren ‚objektiven‘ Maßstäbe unter Legitimationszwang. Behinderung wird zum beobachtungsabhängigen Sachverhalt, wird zur Frage des Standpunktes. Greifbar werden solche Überlegungen beispielsweise in der internationalen Unterschiedlichkeit der Auffassungen darüber, wer behindert ist. So wird der Anteil der Behin-
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Winfried Kronig
derten in der Bevölkerung Rumäniens mit 5,8% beziffert, 32,2% sind es hingegen in Finnland (vgl. Eurostat 2003).
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2 Integration und Inklusion Die Diskurse in der Interkulturellen Pädagogik und in der Sonderpädagogik unterscheiden sich, aber sie weisen auch Gemeinsamkeiten auf (Wansing & Westphal 2014; Kronig et al. 2007). Die Entwicklung der Interkulturellen Pädagogik erfährt eine entscheidende Wende an dem Punkt, an dem sie nicht mehr als Spezialpädagogik auftritt, sondern allgemeinpädagogische Ansprüche erhebt – und damit zugleich ihre eigenen Kategorien zu hinterfragen beginnt. Ähnliches findet sich auch in der Geschichte der Sonderpädagogik wieder. Angezeigt ist solche disziplinäre Metamorphose in den Schlüsselbegriffen Integration und Inklusion. Ein Vorschlag von Wansing &Westphal (2014) lautet, Integration für die Migration und Inklusion für die Behinderung zu reservieren. Dies könnte Ordnung in die oft willkürlich verwendeten Begriffe bringen. Ein Problem besteht jedoch darin, dass diese Zuordnung ahistorisch erscheint, da der Begriff der Integration einheitlich in der Sonderpädagogik gebräuchlich war, bis er vom Begriff der Inklusion abgelöst worden ist. Seit den 1970er Jahren geraten die separierenden Maßnahmen der Sonderpädagogik in vielen Ländern unter Druck – teils von Elterninitiativen maßgeblich mitinitialisiert (wie in Deutschland), teils über Gerichtsentscheide erzwungen wie in den Vereinigten Staaten. Die theoretische und empirische Arbeit des Fachgebietes erreicht spätestens Mitte der 1990er Jahre ihren Höhepunkt. Eine Umfrage der UNESCO (1995) aus dieser Zeit ergibt, dass die meisten Nationen die Integration von behinderten Schüler/innen in die Klassenverbände der Regelschule sowohl an erster Stelle der sonderpädagogischen Forschungsbemühungen ihres Landes als auch als vordringlichstes Zukunftsproblem angeben. Dementsprechend stammen viele ergiebige nationale und internationale Forschungsüberblicke aus dieser Zeit (vgl. Löser & Werning 2013). Erneuten Auftrieb erhält die Forderung der Inklusion durch die UN-Behindertenrechtskonvention, die einen Systemwechsel der Bildungsinstitutionen forciert. Diese Forderung verbindet sich oft mit dem Anspruch, die bestehenden sonderpädagogischen Institutionen einzureißen. Dieser Anspruch stützt sich allerdings ebenso wenig auf empirische Evidenz für die generelle Wirksamkeit des Ansatzes, wie das zuvor bei den segregierenden Angeboten der Fall war. Für den vorliegenden Zusammenhang sind drei Aspekte aus der Integrationsdebatte wichtig. Erstens: Die empirischen Nachweise der Überlegenheit integrativer Schulsysteme gegenüber der traditionellen Separation sind in Bezug auf Lernzuwachs nahezu erdrückend. Die wenigen spezifisch auf Migration ausgerichteten Metaanalysen und Forschungsüberblicke berichten von zumindest gleichen oder signifikant besseren Lernfortschritten in integrativen Settings (exemplarisch bei Walberg 1984), die sich stärker im Sprachlichen als in mathematischen Inhalten zeigen (Schofield 1995). Die soziale Integration in die Schulklasse hingegen sind in separierenden wie auch in integrierenden Formen kaum zufriedenstellend (z.B. Hildeschmidt & Sander 1996, S. 123f ). Da die Regeln sozialer Rangordnungen in beiden Formen gültig zu sein scheinen, befinden sich Kinder, die eine Kombination von Leistungsschwäche und ‚fremder Herkunft‘ aufweisen, systematisch am Rand ihrer Schulklasse. Zweitens: Selbst die verwirklichte Integration zeigt nicht die von vielen Integrationsbefürworter/innen erhofften Zerfallserscheinungen separierender Systeme. Die Quoten der Sonderschulbesuche blieben trotz Integration weitestgehend stabil. Diese verblüffende Erfahrung hat man in den Vereinigten Staaten schon früher gemacht (Opp 1993, S. 43f [allgemein]; S. 89ff für Migration). Sie wiederholt sich in anderen Ländern. Es sieht danach aus, dass Bildungssysteme sehr schnell lernen, Integrationspostulate
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absorbierend umzusetzen ohne die bestehenden Strukturen dabei aufzugeben. Die vergleichsweise niederschwellige Zuweisung zu integrativen sonderpädagogischen Maßnahmen hat insgesamt eine signifikante Erhöhung sonderpädagogischer Diagnosen zur Folge. Ein Teil des institutionellen Bewegungsspielraums wird von Schüler/innen ’fremder‘ Herkunft getragen. Nach der stetigen Erhöhung der Sonderschulbesuchsquote bei dieser Population scheint ‚Inklusion‘ zunächst recht spurlos an den Kindern aus Zuwandererfamilien vorbeizugehen.
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3 Erfolg und Misserfolg als Erzeugnisse des lokalen Bildungsmarktes Es bleibt zu klären, weshalb Migrantenkinder nicht stärker von grundlegenden Entwicklungen im Bildungssystem profitieren. Immerhin zeigt beispielsweise eine Kohortenanalyse über 24 Länder, dass die durchschnittlichen Abstände in den sprachlichen schulischen Kompetenzen zwischen Schüler/innen mit und ohne Migrationshintergrund im Laufe der Zeit abnehmen (vgl. Verwiebe & Riederer 2013; für einen kontrollierten Längsschnitt über vier Schuljahre vgl. Kronig 2007, S. 179ff). Erwartungswidrig schlägt sich dies jedoch nicht in einer Minderung der Bildungsdisparitäten nieder. Gründe für diesen Widerspruch liegen in der mangelnden Unterscheidung zwischen zwei Wirkungen von Bildung. Nach schulpädagogischem Verständnis ist Bildung inhaltliche Qualifikation, die am Erreichen von vorgegebenen Lernzielen etwa in der Mathematik oder in der Sprache gemessen werden kann. Ziel ist das ausgebildete und gebildete Individuum. Möglichst viele Schüler/innen sollen möglichst viel lernen. Dabei kann man vom Wissen der Mitschüler/innen profitieren (z.B. Jerusalem 1997). Nach bildungssoziologischem Verständnis hingegen ist Bildung eine sozial relevante formale Qualifikation mit einem biographisch verwertbaren Nutzen. Erfolgreich in der Schule zu sein bedeutet auch, gute Noten zu bekommen oder die Aussicht auf den Besuch einer anspruchsvollen weiterführenden Schule zu steigern. In hierarchischen, gestuften Bildungssystemen ist Bildung künstlich verknappt und mit Bildungstiteln zertifiziert, die einen unterschiedlichen Wert haben. Dadurch treten Schüler/innen in einen Wettbewerb zueinander. Das Ziel bei der Vergabe von Bildungstiteln ist es, dass es Unterschiede zwischen den Individuen, dass es Gewinner und Verlierer gibt. Unterschiedliche Konsequenzen des ideellen Wertes und des instrumentellen Nutzens von Bildung lassen sich auf dem praktischen Feld beobachten. Für die inhaltliche Lernentwicklung sind gute Mitschüler/innen von Vorteil. Für die formale Zertifizierung von Leistung sind sie jedoch von Nachteil, weil es in leistungsschwächeren Klassen einfacher ist, zu guten Noten zu kommen. Die individuelle Leistungsbewertung ist faktisch die spiegelverkehrte Abbildung des Leistungsstandes der Schulklasse (Kronig 2007, S. 199ff). Was für das Klassenzimmer gilt, findet sich als Muster auch im Bildungssystem. Während die Sonderschulbesuchsquote bei den Kindern aus Zuwandererfamilien in den letzten Jahrzehnten markant zugenommen hat, geht sie bei den nichtgewanderten Schüler/innen im gleichen Zeitraum um etwa einen Viertel zurück. Die nichtgewanderten Schüler/innen machen somit Aufstiegserfahrungen, die durch Migration ausgelöst werden. Allerdings sind die Profite zu Lasten der Kinder aus Zuwandererfamilien nicht überall gleich groß. Sowohl zwischen den deutschen Bundesländern als auch zwischen den Schweizer Kantonen variieren die stark. Nur wenige Kilometer Distanz können aus einem Regelklassenschüler einen Sonderschüler machen. Eine Folge der differenten Selektionsmechanismen sind die erheblichen Leistungsüberschneidungen zwischen Sonderklassen- und Regelklassenschüler/innen. Die Kategorie ‚Sonderschüler‘ steht damit nicht zwingend für ein bestimmtes Leistungsprofil, sondern ist das Ergebnis der Umsetzung der lokalen Selektionsstruktur.
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Die Zielsetzung gesellschaftlicher Teilhabe und Demokratisierung ist schon seit ihren Anfängen in der Erwachsenenbildung/Weiterbildung (EB/WB) angelegt. Verwiesen sei hier beispielhaft auf die diesbezüglichen Bestrebungen und Leistungen der Arbeiter- und Handwerkerbildungsvereine, der Volkshochschulen (VHS) in den Anfängen der Weimarer Republik, sowie der nach 1945 aus dem Exil zurückgekehrten Erwachsenenbildner wie vor allem Fritz Borinski und Willy Strzelewicz (Olbrich 2001, S. 57-68, 141-172, 318-339, 378-383). Exemplarisch hierfür stehen
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auch die kontroversen Diskussionen der 1960er und 1970er Jahre um Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit in der Bundesrepublik. Im Zentrum stand dabei die von Dahrendorf und Peisert zur Kennzeichnung von Mehrfachbenachteiligung im Bildungssystem geprägte Formel vom „katholischen Arbeitermädchen vom Lande“. Beantwortet wurden solche Herausforderungen mit teilweise umfangreichen Reformen im Bildungswesen, z.B. mit der Etablierung von Gesamtschulen oder der Einführung neuer Lehrpläne und Unterrichtsfächer. Im gleichen Zeitraum vollzog sich für die EB/WB auch nachhaltig der Prozess der Institutionalisierung und Professionalisierung, in dem Maße wie sie durch die gesetzliche Verankerung zur „öffentlichen Aufgabe“ erklärt und zur „vierten Säule“ des Bildungssystems aufgewertet wurde (Olbrich 2001, S. 357-375). Die seither konstatierte Notwendigkeit und Bedeutung von EB/WB wird unvermindert bekräftigt durch die Globalisierung, Internationalisierung, die Migrationsbewegungen sowie die Forderung nach Lebenslangem Lernen (z.B. Europäische Union 2015). Betrachtet man den gegenwärtigen Stand der Interkulturalität in der EB/WB, dann zeigt sich einerseits, dass das Thema der Interkulturalität eine verspätete und begrenzte Aufmerksamkeit erfahren hat. Andererseits finden sich in der Interkulturellen Pädagogik kaum direkte Bezüge zur EB/WB (Sprung 2011, S. 63-68). Dies erstaunt insbesondere vor dem Hintergrund der aktiven Anwerbepolitik von Arbeitskräften aus dem Mittelmeerraum von 1955 bis 1973 und der anschließenden starken Zuwanderung von Familienangehörigen, Flüchtlingen und (Spät-) Aussiedlern (Öztürk 2014, S. 18-26; Ruhlandt 2016, S. 20-37). Ein möglicher Grund kann darin liegen, dass die Bearbeitung des Themas Interkulturalität wie auch viele gesellschaftsund sozialpolitische Themen in der EB/WB stark von finanziellen Rahmenbedingungen und politischen Zielsetzungen abhängig war und ist. Bereits ein kurzer Blick auf öffentliche Projektausschreibungen macht die unzureichende Berücksichtigung des Weiterbildungsbereichs und zugleich den förderpolitischen Fokus auf den Schul- und Ausbildungsbereich offenkundig. Zudem bleiben bei solchen Projektausschreibungen interkulturelle bzw. migrationsspezifische Aspekte häufig unberücksichtigt, wenn auch in den letzten Jahren – nicht zuletzt infolge der Fluchtzuwanderung – ein zunehmendes Interesse zu beobachten ist. Das Thema Interkulturalität – häufig verknüpft mit Anerkennung und Wertschätzung gesellschaftlicher Vielfalt – wird in der EB/WB zumeist mit dem Fokus auf Personen mit Migrationshintergrund und mit Fragen der Bildungsgerechtigkeit diskutiert. Da die teilweise hohe soziale Selektivität des Bildungswesens bislang nicht gedämpft werden konnte und sich entgegen bildungsreformerischer Erwartungen auch in der EB/WB fortsetzt, haben diese Forderungen nach einem stärkeren Engagement für Bildungsgerechtigkeit weiterhin Bestand. Denn nicht alle Bevölkerungsgruppen können in gleichem Maße von EB/WB profitieren – darunter auch ein Teil der Erwachsenen, die selbst oder deren Eltern nach Deutschland zugewandert sind (Hippel & Tippelt 2011, S. 804-808; Öztürk & Reiter 2016, S. 47-50). Unmittelbar damit verbunden ist die Forderung nach interkultureller Öffnung bzw. Diversity-Orientierung der Weiterbildungseinrichtungen auf allen Ebenen der Organisation und die Stärkung der interkulturellen bzw. Diversity Kompetenz des Weiterbildungspersonals, um dadurch allen Bevölkerungsgruppen gleiche Zugangs- und Partizipationschancen zu eröffnen und bestehenden Ungleichheiten zu begegnen (Öztürk & Reiter 2017, S. 28-40). Nach diesen einleitenden Feststellungen sollen im Folgenden der Stand und die Entwicklung von Interkulturalität in der EB/WB überblicksartig dargelegt werden. Dabei wird zunächst die Weiterbildungssituation von Erwachsenen mit Migrationshintergrund skizziert. Darauf folgt die Beschreibung der Angebotslage und des Umgangs mit Interkulturalität in Weiterbildungseinrichtungen. Allerdings darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich bei der mittlerweile gängigen Bezeichnung „Personen mit Migrationshintergrund“ um einen konstruierten Sam-
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melbegriff für alle Zugewanderten und deren Nachkommen in Deutschland handelt, wodurch die breite Vielfalt auch innerhalb dieser Bevölkerungsgruppen schnell übersehen wird. Die unreflektierte Begriffsverwendung kann zudem ein ‚Schubladendenken’ befördern (Castro Varela & Mecheril 2010, S. 35-40; SVR 2015, S. 154), sodass solche Bezeichnungen auch bei den Betroffenen auf häufige Ablehnung stoßen (Öztürk 2014, S. 18; Öztürk & Reiter 2017, S. 2829). Eine diesbezügliche selbstkritische Auseinandersetzung findet auch zunehmend in der EB/ WB statt (Öztürk 2014, S. 85-86; Öztürk & Reiter 2017, S. 35-36; Ruhlandt 2016, S. 19-20) und ist im Folgenden daher stets mitzudenken.
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1 Weiterbildungsteilnahme Erwachsener mit Migrationshintergrund Die Weiterbildungsforschung hat sich in den letzten Jahren wesentlich weiterentwickelt. So geben heute verschiedene Datenquellen wie der Adult Education Survey (AES), der Mikrozensus und das Nationale Bildungspanel (NEPS) Aufschluss über die Weiterbildungsbeteiligung von Erwachsenen mit Migrationshintergrund. Zu bedenken ist allerdings dabei, dass die Definition und Erfassung des Migrationshintergrundes in den genannten Studien teilweise unterschiedlich ausfällt. Die bisherige eindimensionale Unterscheidung entlang der Staatsangehörigkeit in ‚Deutsche’ und ‚Ausländer’ weicht vermehrt einer differenzierten und mehrdimensionalen Erfassung. Besondere Berücksichtigung finden nun auch weitere relevante Merkmale wie beispielsweise Geburtsland, Muttersprache, Zuwanderungsstatus und -alter (Öztürk 2014, S. 39-45). Empirische Befunde halten wiederkehrend fest, dass Erwachsene mit Migrationshintergrund generell seltener an Weiterbildung teilnehmen als Erwachsene ohne Migrationshintergrund. Im Jahr 2012 betrug dieser Unterschied auf Basis des AES 19 Prozentpunkte (Leven et al. 2013, S. 90-91). Zurückgeführt wird diese Differenz vor allem auf eine unterschiedlich starke Beteiligung an betrieblicher Weiterbildung. Dafür gibt es sowohl personenbezogene als auch arbeitsmarktstrukturelle Erklärungsansätze. Neben unterschiedlichen Deutschsprachkenntnissen sind Erwachsene mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich häufig auf geringqualifizierten Positionen beschäftigt (Leven et al. 2013, S. 92). Aufgrund von Kosten-Nutzen-Abwägungen seitens der Betriebe werden diese Personen besonders selten bei Maßnahmen betrieblicher Weiterbildung berücksichtigt. Hinzu kommt bei diesem Personenkreis noch die Schwierigkeit, dass ihre im Ausland erworbenen Bildungsabschlüsse und beruflichen Qualifikationen nicht oder nur bedingt anerkannt werden. Der Effekt dieser Nichtanerkennung ist die Beschäftigung in Arbeitsverhältnissen, die keine bzw. kaum Möglichkeiten zur Weiterbildung und zum Aufstieg bieten (Öztürk 2014, S. 51; Öztürk & Reiter 2016, S. 57-58). Dass Erwachsene mit Migrationshintergrund keine homogene Adressatengruppe der EB/WB darstellen, ist z.B. den Daten für die Weiterbildungsteilhabe des NEPS zu entnehmen; erste Unterschiede ergeben sich schon zwischen den Generationen: Personen aus der zweiten Zuwanderergeneration (d.h. in Deutschland Geborene bzw. vor dem siebten Lebensjahr Zugewanderte) nehmen häufiger an beruflicher Weiterbildung teil als solche aus der ersten Generation (Öztürk & Reiter 2016, S. 54-59). Wie diese und weitere differenzierte Analysen verdeutlichen, hat der Migrationshintergrund als solcher weder einen direkten Einfluss auf die Weiterbildungsbeteiligung, noch sind alle Erwachsenen mit Migrationshintergrund gleichermaßen benachteiligt (Öztürk & Reiter 2016, S. 48-50).
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2 Angebotslage im Kontext von Interkulturalität in der EB/WB Das Thema Interkulturalität spiegelt sich auf unterschiedliche Weise in den Angeboten der EB/WB. Betrachtet werden können hier einerseits Weiterbildungskurse, die sich gezielt an Erwachsene mit Migrationshintergrund richten. Zum anderen sind die Themen Interkulturalität, Diversity und Migration auch Gegenstand von Trainingsprogrammen. Die Datenlage hierzu ist unbefriedigend, so dass es bislang kaum möglich ist, das vielfältige Leistungsspektrum von Weiterbildungseinrichtungen etwa im Bereich der politischen, kulturellen oder betrieblichen Weiterbildung abzubilden (Öztürk 2014, S. 53; Öztürk & Reiter 2017, S. 23-26). Brauchbare statistische Daten über die spezifischen Kursangebote für Erwachsene mit Migrationshintergrund liefern vor allem die VHS-Statistik und die Integrationskursgeschäftsstatistik (Öztürk 2014, S. 53-57). Dabei zeigt sich Folgendes: Bei den Weiterbildungsangeboten für Erwachsene mit Migrationshintergrund handelt es sich mehrheitlich um Kurse zum Erlernen der deutschen Sprache und zur Vermittlung von Orientierungswissen im Rahmen von Integrationskursen. Die VHS-Statistik weist 96% aller im Jahr 2015 durch die VHS offerierten zielgruppenspezifischen Angebote für Menschen mit Migrationshintergrund als Deutschsprachkurse aus (Huntemann & Reichart 2016, S. 41). Die im Jahr 2016 durchgeführte Bestandsaufnahme in nordrhein-westfälischen Weiterbildungseinrichtungen bestätigt diese Befunde: 97% der befragten VHS und rund 83% der Familienbildungseinrichtungen, aber nur rund 40% der kommerziellen Einrichtungen organisieren spezifische Kurse für Erwachsene mit Migrationshintergrund. Insbesondere die VHS sind Anbieter von Integrations- und Deutschsprachkursen und decken Bedarfe in Grundbildung bzw. Alphabetisierung ab. Familienbildungseinrichtungen und sonstige gemeinnützige Einrichtungen unterschiedlicher Trägerschaft fokussieren neben der Sprache ebenfalls Themen wie Familie und Erziehung, machen Beratungsangebote für Alltag und Beruf und sind in weniger ‚besetzten’ Bereichen wie der kulturellen und politischen Bildung aktiv. Kommerzielle Einrichtungen bieten im Vergleich häufiger berufsbezogene Deutschsprachkurse sowie Angebote zur beruflichen Qualifizierung für Fachkräfte. Allerdings sind solche Angebote größtenteils projektförmig organisiert und werden nur zeitlich begrenzt finanziert (Öztürk & Reiter 2017, S. 80-83). Dies zeigt sich ebenso in den unterschiedlichen Programmen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene insbesondere zur beruflichen Integration von Erwachsenen mit Migrationshintergrund, wie beispielsweise –– dem universitären Nachqualifizierungsprogramm „ProSALAMANDER“ für Zugewanderte mit ausländischem Hochschulabschluss, –– dem Elternqualifizierungsprojekt „Bildungs-Brücken: Aufstieg!“ für Zugewanderte mit Kindern unter zwölf Jahren aus dem arabisch-, russisch- und türkischsprachigen Raum und –– der „QM-Initiative – Qualifizierungsinitiative“ für an- und ungelernte zugewanderte Beschäftigte im Handwerk bzw. Arbeitssuchende (Öztürk 2014, S. 57-58; Öztürk & Reiter 2017, S. 25). Mit den Themen Interkulturalität und interkulturelle bzw. Diversity Kompetenz erreicht die
EB/WB weitere gesellschaftliche Gruppen und verschiedene Unternehmen, insofern interkulturelle bzw. Diversity Trainings und Workshops nachgefragt sind. Hier teilt sich die EB/WB das
Feld mit den Kultur- und Wirtschaftswissenschaften sowie der Psychologie. Ein genuin pädagogisches Interesse gilt jedoch der Auseinandersetzung mit der innergesellschaftlichen Pluralität und mit Fragen nach Gelingensbedingungen für die gesamtgesellschaftliche Integration und gleichberechtigte Partizipation. Ein professioneller pädagogischer Umgang mit gesellschaftlicher
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Vielfalt umfasst zudem die kritische Wahrnehmung von Macht- und Ungleichheitsverhältnissen. Adressaten dieser Angebote sind insbesondere Mitarbeitende ohne Migrationshintergrund in Unternehmen, in öffentlichen Verwaltungen und sozialen Diensten (Öztürk 2014, S. 89106). Schon ein kurzer Blick in die regionalen oder überregionalen Datenbanken für Weiterbildungsangebote (z.B. InfoWeb Weiterbildung, Kursdatenbank der Bundesagentur für Arbeit, Weiterbildungsdatenbank Berlin) zeigt, dass sich hier auch für Weiterbildungseinrichtungen lukrative Tätigkeitsfelder insbesondere im Kontext von Personal- und Organisationsentwicklung eröffnet haben (Öztürk & Klabunde 2015, S. 247; Sprung 2011, S. 270-271, 281-283). Dies bestätigen auch verschiedene Anbieterbefragungen, so etwa das Kooperationsprojekt „wbmonitor“; ein Ergebnis des wbmonitor ist, dass Angebote zum Thema interkulturelle Kompetenz und zu ähnlichen Themen stark nachgefragt werden (z.B. Ambos et al. 2016, S. 28-29). Auch die zuvor genannte Bestandsaufnahme belegt, dass rund 53% aller in NRW befragten Weiterbildungseinrichtungen bereits Angebote zu interkulturellen Themen im Programm haben, die entweder der pädagogischen Professionalisierung (z.B. von pädagogischen Fachkräften, Führungskräften, Multiplikator/innen und Ehrenamtlichen) dienen oder Angebote, die Information und Austausch über interkulturell relevante Fragen zum Ziel haben, wie z.B. interkulturelle und interreligiöse Gesprächskreise (Öztürk & Reiter 2017, S. 96-97). Allerdings ist auch festzuhalten, dass eine Vielzahl von interkulturellen Angeboten wie auch die spezifischen Kurse für Erwachsene mit Migrationshintergrund kritisch gesehen werden: Nicht wenige der in NRW befragten Weiterbildungseinrichtungen äußerten sich dezidiert skeptisch gegenüber solchen zielgruppenspezifischen Angeboten (Öztürk & Reiter 2017, S. 85-87). Ein häufig genannter Kritikpunkt mit Blick auf die interkulturellen Kompetenztrainings z.B. ist, dass sie eine schablonenhafte Vorstellung vom ‚richtigen Umgang’ mit Menschen mit Migrationshintergrund vermitteln. Der multiperspektivische und kritische Blick etwa auf Prozesse des ‚Othering’, auf den Umgang mit dem eigenen ‚Nicht-Wissen’ und den Aspekt der Macht sind jedoch zentrale, noch zu wenig berücksichtigte Fragen in der (erwachsenen-)pädagogischen Arbeit (Öztürk 2014, S. 81-98; Sprung 2011, S. 289-291). Insofern besteht auch hier Bedarf für weitere Forschung – etwa zur Nutzung, Qualität und Wirkung solcher Weiterbildungsangebote.
3 Umgang mit Interkulturalität in Weiterbildungseinrichtungen Barrieren für eine erfolgreiche Teilhabe an Weiterbildung liegen nicht nur auf Seiten der Adressat/innen, sondern auch bei den Weiterbildungseinrichtungen selbst. Dies lässt sich an Studien ablesen, die Erklärungsansätze bezüglich der als zu gering angesehenen Weiterbildungsbeteiligung diskutieren wie auch an den organisationsbezogenen Konzepten, wie „Interkulturelle Öffnung“ oder „Diversity Management“ (Öztürk 2014, S. 61-69; Öztürk & Reiter 2017, S. 28-40). Insbesondere seit 2000 ist ein steigendes Interesse an diesen diversity-bezogenen Ansätzen festzustellen; Belege hierfür sind z.B. die Initiative „Charta der Vielfalt“ oder das „Positionspapier des Deutschen Volkshochschul-Verbands zur strategischen Neupositionierung der Volkshochschulen in der Einwanderungsgesellschaft“, in denen es insbesondere um den Abbau von Zugangsbarrieren und die Anerkennung und Wertschätzung von Vielfalt geht. Inwieweit Weiterbildungseinrichtungen im Umgang mit Interkulturalität bzw. migrationsbedingter Vielfalt auf solche Konzepte konkret zurückgreifen, ist noch sehr wenig erforscht. Führt man die bisher gewonnenen wenigen Erkenntnisse zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: In den Einrichtungen der Familienbildung, die von Fischer, Krumpholz und Schmitz im Jahr 2005 befragt wurden, haben rund 39% Interkulturelle Öffnung in ihrem Leitbild verankert. Der Anteil von Mitarbeitenden mit Migrationshintergrund ist jedoch auffällig gering; die Teilnahmequote der
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Mitarbeitenden an interkulturellen Fortbildungen hingegen ist deutlich höher (83%) (Fischer et al. 2008, S. 54-60). Eine Untersuchung der organisationalen Voraussetzungen interkultureller Offenheit in VHS weist auf mehrere Einflussfaktoren hin: Wenn migrationsbezogene EB Aufgabe aller pädagogischer Abteilungen ist, so werden auch Erwachsene mit Migrationshintergrund als Adressat/ innen aller Fachbereiche wahrgenommen. Wenn eine VHS auf mehrere Standorte in einer Stadt verteilt arbeitet, so ergibt sich ein stärkerer Kontakt zur Bevölkerung mit wie ohne Migrationshintergrund. Ein anderes Ergebnis ist, dass die VHS unterschiedlich stark in die städtische Integrationsarbeit und die damit verbundenen Aufgaben eingebunden sind (Ruhlandt 2016, S. 183-186). Im Rahmen einer in NRW durchgeführten Bestandsaufnahme mit dem Ziel, einen Überblick über die vielfältigen Konzepte und Formate zu gewinnen, gaben zwei Drittel der befragten Einrichtungen an, mindestens eines der beiden organisationsbezogenen Konzepte „Interkulturelle Öffnung“ und „Diversity Management“ zu kennen. Erwartungen, die sie mit diesen verbinden, betreffen vor allem die Wertschätzung von Vielfalt und die Gleichbehandlung aller Adressat/ innen, marktorientierte Vorteile werden hingegen nur selten erwartet. 28% der Einrichtungen haben zudem Erfahrung mit der Umsetzung eines der Konzepte. Hinderungsgründe sind hingegen vor allem fehlende personelle und finanzielle Ressourcen. Einige Einrichtungen haben auch darauf hingewiesen, dass sie die Ziele dieser Konzepte bereits in ihrer Arbeit verfolgen und daher die Einführung eines spezifischen, auf Interkulturalität ausgerichteten Konzepts nicht nötig sei. Das Thema Interkulturalität bzw. migrationsbedingte Vielfalt ist darüber hinaus bei ca. der Hälfte der Einrichtungen im Leitbild verankert und zwei Drittel der Einrichtungen bieten Fortbildungen zu den Themen Diversität, Migration und Interkulturalität für ihre Mitarbeitenden an (Öztürk & Reiter 2017, S. 62-72).
4 Fazit und Ausblick Interkulturalität bzw. Diversität ist und bleibt ein zentrales und zugleich stark diskutiertes Thema in der EB/WB. Sowohl in der Weiterbildungspraxis als auch in der Forschung wird intensiv diskutiert, wie Interkulturalität bzw. Diversität zu fassen sind und welche Konzepte und Reaktionen angemessen sind. Dabei wird übergreifend angestrebt, die Weiterbildungsteilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund zu stärken und die noch existenten Barrieren abzubauen, das heißt jene Barrieren, die den Arbeitsmarktstrukturen, der Förderpolitik sowie den institutionellen Bedingungen und Strukturen der entsprechenden Einrichtungen geschuldet sind. Gemeint sind aber auch solche, die Folge einer unzureichenden Datengrundlage sind, so dass keine hinreichend differenzierten (statistischen) Analysen möglich sind, die die breite Diversität der Personengruppe, die in dem statistischen Konstrukt ‚Personen mit Migrationshintergrund’ zusammengefasst wird, abbildet. Gerade vor dem Hintergrund der sozial-integrativen Funktion von EB/WB, auf die politische Beschlüsse wie beispielsweise die der Kultusministerkonferenz (KMK 2001) und der Europäischen Union (2015) immer wieder verweisen, erscheint es von besonderer Bedeutung, nicht nur den Themenkomplex Interkulturalität, Migration und Diversität in der notwendigen Breite und Tiefe in Praxis und Forschung der EB/WB zu bearbeiten, sondern seine Beachtung gerade auch in kommunalen, nationalen und europäischen Förderstrukturen sicherzustellen. Dadurch und im Wechselspiel mit anderen erziehungswissenschaftlichen Disziplinen werden auch die notwendigen Beiträge der EB/WB für eine interkulturelle bzw. diversitätsbewusste (Weiter-) Bildung wachsen und die ‚schlummernden’ Potentiale der EB/WB aktiviert.
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Literatur
Halit Öztürk
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Schulbuchforschung
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42 Schulbuchforschung Thomas Höhne
Die moderne Schulbuchforschung in Deutschland beginnt in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und diente vor allem der Verständigung zwischen den ehemals verfeindeten Nationen im Kontext der sich herausbildenden Nachkriegsordnung, die ihrerseits durch nationale Stereotype und die Blockspaltung gekennzeichnet war. Die Schulbuchforschung war damit primär ein politisches Projekt der Völkerverständigung, das mittels wissenschaftlicher Forschung umgesetzt werden sollte. Dementsprechend steht an ihrem Beginn die Einrichtung bilateraler Schulbuchkommissionen. 1975 folgte die Gründung des Georg Eckert Instituts für Schulbuchforschung (GEI) in Braunschweig mit finanzieller Beteiligung verschiedener Bundesländer. Diese politisch-wissenschaftliche Doppelfunktion der Schulbuchforschung, die zwischen Analyse, Revision und Empfehlungen changiert, hat sich im Grundsatz bis heute erhalten.
1 Schulbuchforschung Schulbücher sind darauf angelegt, institutionell geprüftes und politisch legitimiertes Wissen zu repräsentieren sowie Normen und Werte auf pädagogische Weise zu vermitteln (vgl. Stein 1991). An der Konstruktion von Schulbuchwissen sind daher Akteure aus verschiedenen Bereichen, aus Wissenschaft, Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Bildung mit unterschiedlichen Interessen und dementsprechend auch unterschiedlichen Vorstellungen hinsichtlich der zu vermittelnden Inhalte beteiligt (Höhne 2003). Die neuen Trends, auf die sich die Schulbuchforschung einzurichten hat, sind seit 2000 die Digitalisierung auch im Schulbuchbereich sowie die durch die internationalen Schulleistungsstudien, wie z.B. PISA (Hiller 2012), angestoßenen curricularen Reformen. Die wissenschaftliche Schulbuchdiskussion ist seit den 1970er Jahren immer auch eine Debatte über Methoden, eine Folge der Kritik des lange währenden inhaltsanalytischen Methodenmonismus (Lange 1981), die mit dem Plädoyer für eine interdisziplinäre Erforschung von Schulbüchern verbunden ist (Höhne 2003, S. 20ff; Stein 1991). Seit 2000 hat die Schulbuchforschung sich neuen Methoden und Ansätzen wie etwa der Bildtheorie, der Diskursanalyse bzw. den Ansätzen der Ethnographie oder der Textlinguistik geöffnet (MacGilgrist 2015; GEI 2011b; Höhne 2010). Zwei Desiderate werden allerdings weiterhin in der Fachdiskussion genannt: –– Kritisiert werden nach wie vor die normativ gehaltenen Wirkungsvorstellungen in der Schulbuchforschung, statt dass diese systematisch empirisch überprüft würden (vgl. Höhne 2003, S. 24f, Rauch & Wurster 1997). –– Kritisiert wird das Fehlen einer (Gegenstands-)Theorie des Schulbuchs, zu der aber erste Ansätze vorliegen: Höhne (2003) unter Rekurs auf Wissens- und Medientheorien und Hiller (2012) unter Bezug auf Gouvernementalität und Theorien der neuen Medien.
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Thomas Höhne
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2 Migrant/innen als Gegenstand der Schulbuchforschung in Deutschland Seit Ende der 1970er Jahre sind verschiedene Untersuchungen zu Migration bzw. zur Darstellung von Migrant/innen im Schulbuch durchgeführt worden. Einen Überblick über den jeweiligen Stand der deutschsprachigen Schulbuchforschung und die zum jeweils untersuchten Zeitraum relevanten Repräsentationen von Migrant/innen bieten u.a. die Arbeiten von Fritzsche (1990), Geiger (1997), Höhne et al. (2005), Matthes & Heinze (2004) und vom GEI in Kooperation mit dem Zentrum für Bildungsintegration der Universität Hildesheim (GEI/ZIB (2015). Exemplarisch werden im Folgenden einige Befunde aus diesen Studien der letzten 25 Jahren vorgestellt, um sowohl Kontinuitäten und Verschiebungen hinsichtlich der Thematisierung von Migration bzw. Migrant/innen als auch Veränderungen in der Anlage der Forschung aufzuzeigen (vgl. auch Geuenisch 2015, S. 57-64). Zunächst ist festzuhalten, dass über lange Zeit das Thema Migration, Arbeitsmigrant/innen, Geflüchtete resp. Asylsuchende usw. in den Schulbüchern kaum präsent war bzw. wenn, so nur in der Form, dass Zugewanderte als Problem oder „Störfaktor in einem immer noch als ethnisch homogenen Nationalstaat“ dargestellt wurden (Fritzsche et al. 1993, S. 235). K. Peter Fritzsche kam in seiner Untersuchung von 15 Politik- und Sozialkundebüchern aus den 1970er und 1980er Jahren unter der Frage nach der Darstellung der ‚Multikulturellen Gesellschaft’ zu dem Ergebnis, dass in diesen Schulbüchern nicht generell auf die (Arbeits-)Migration bzw. auf die Zugewanderten eingegangen werde, sondern – sozusagen stellvertretend – „auf die Türken als die Gruppe ausländischer Arbeitsmigranten, die den Deutschen am fremdesten erscheint“ (Fritzsche 1990, S. 337). Betont werde ihre „Andersartigkeit“, ihr Verhaftetsein in ihrer vormodern-religiös und agrarisch geprägten ‚Kultur’, und daraus werde ein Kulturkonflikt abgeleitet (ebd., S. 338f; 341). Klaus F. Geiger (1997) kommt in seiner Untersuchung zum „interkulturellen Lernen in Sozialkundebüchern“ aus Hessen zu einem ambivalenten Befund. Positiv sei, dass „im Gegensatz zu früheren Zeiten und Lehrwerken die Einwanderungsrealität der Bundesrepublik und die Situation der Einwanderungsminderheiten Gegenstand der Sozialkundebücher“ (ebd., S. 47) sei, und dies nicht nur im „Ghetto eines eigenen Kapitels“, sondern auch als ein Thema in anderen Kapiteln zu verschiedenen gesellschaftlich-politischen Feldern, wie z.B. Wohnen oder Arbeit. Problematisch sei jedoch, dass weiterhin „Eingewanderte primär als Opfer und als Träger schwerer sozialer Probleme“ dargestellt und „Kulturdifferenz“ als zentrales Merkmal genannt werde (ebd., S. 48). Thomas Höhne, Thomas Kunz und Frank-Olaf Radtke (2005) haben für ihre Studie nicht nur hessische und bayerische Sachkunde-/Heimatkunde- und Sozialkundebücher aus den Jahren 1970 bis 1997, sondern auch die entsprechenden Lehrpläne und Medien (Printmedien, Fernsehen) in die Analyse einbezogen. Im Ergebnis habe sich eine hohe Konvergenz der Darstellungsformen gezeigt, eine bedeutende Übereinstimmung von Bildern, Graphiken, Texten und inhaltlichen Aussagen zu Migrant/innen in Massenmedien und Schulbüchern (ebd., S. 597). Auffällig sei die Dominanz der nationalkulturellen wir/sie-Differenz, die zweifach verstärkt werde: räumlich durch die ‚hier/dort’ Differenz – vor allem bei der Thematisierung von Heimat – und zeitlich-kulturell durch die Unterscheidung von ‚vormodern/modern’: Auffällig ist die Betonung der vormodernen Herkunft (Dorf, Schafe, Subsistenzwirtschaft usw.) bzw. der religiösen Differenz (christlich-europäisch versus islamisch) ab den späten 1980er Jahren, stets ergänzt mit Hinweisen auf andere Sitten und Bräuche (Tänze, Feste). Die schon von Fritzsche kritisierte Gleichsetzung von Migrant/in mit Türke/Türkin sei weiterhin durchgehend vorhanden, und zudem werde ‚türkisch’ mit ‚islamisch’ in eins gesetzt. In den neueren Schulbüchern werden die
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Zugewanderten zunehmend als Expert/innen „ihrer eigenen Kultur“ präsentiert (Höhne et al., S. 591ff), und die Kulturdifferenz(en) würde(n) nicht mehr nur als ‚fremd’, sondern zugleich – pädagogisch wohlmeinend – als ‚Bereicherung’ thematisiert. Im Zentrum einer vergleichenden Studie des GEI (2011a, S. 4) standen zwei Fragen: zum einen wurde untersucht, inwiefern „pauschalisierende oder polarisierende Darstellungen von Islam und Muslimen transportiert und stereotype oder negative Repräsentationen zu einem Bedrohungsszenario verdichtet werden“ und zum anderen „inwieweit Schulbuchdarstellungen aktuellen Ansprüchen interkultureller Bildung gerecht werden“. Im Ergebnis zeige sich, dass die diskursive Leitdifferenz modern/vormodern als Differenzmarkierung muslimisch-außereuropäisch versus christlich-europäisch weiterhin präsent ist, so dass der Befund zu beiden Fragen negativ ist. Nach einer jüngeren Studie (GEI/ZBI 2015) zur Frage der Thematisierung von Integration in Geschichts-, Geographie- und Sozialkunde/Politikbüchern wird Migration inzwischen als globales Phänomen dargestellt, allerdings ohne dass die Vielfalt der Motive und Verläufe für die Schüler/innen erkennbar würde. Integration werde unter Bezug auf die auch weiterhin präsente Differenzmarkierung ‚modern/vormodern’ (ebd., S. 64) im sprachlichen Gestus des ‚Ja, aber’ thematisiert, d.h. als notwendig, aber real als primär schwierig umsetzbar und problembehaftet. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Schulbuchforschung
3 Spezifik der Migrantendarstellung Ein zentrales Charakteristikum der neueren Diskurse über Migration und Migrant/innen besteht in dem Versuch, die intersektionale Verflochtenheit verschiedener Differenzlinien zu beachten. Differenzlinien wie ‚Kultur’ bzw. Ethnizität, soziale Herkunft, Geschlecht, Religion, Alter usw. Sie führen zu unterschiedlichen, individuellen wie kollektiven Positionierungen und werden zur Legitimierung von Ein- und Ausschlüssen sowie Hierarchisierungen genutzt. In den Schulbüchern spiegelt sich dies als Erweiterung des dichotom gefassten Verhältnisses von ‚Einheimischen’ und ‚Zugewanderten’. Vier Hauptlinien sind dabei erkennbar: Eine Linie entlang nationalkultureller und ethnischer Unterscheidungen, eine zweite entlang religiöser Differenzierungen, teilweise unter Ineinssetzung von Religion und Ethnie, und eine dritte – die Geschlechterdifferenz –, mit der zugleich eine vierte Linie entlang der Leitdifferenz vormodern/modern ins Spiel kommt. Erkennbar wird dies z.B., wenn man die in den Schulbüchern vermittelten Familienbilder und die dort gezeichneten Geschlechterrollen miteinander vergleicht: Die Zuwandererfamilien werden als noch zum Teil traditionsverhaftete ‚Großfamilien’ vorgestellt: der Mann als Ernährer und Familienoberhaupt, die Frau als Mutter und Hausfrau. Im Unterschied dazu wird die ‚deutsche Familie’ als moderne Kleinfamilie dargestellt, und beide Elternteile werden bei Aktivitäten gezeigt, die ihre Emanzipation von den traditionellen Rollen anzeigen: die Mutter z.B. beim Autofahren, am Computer arbeitend oder Tennis spielend (Höhne 2006, S. 306-314).
4 Ausblick Die Schulbuchforschung hat die Frage, ob und wie Migration, Integration und die Migrant/ innen in den Schulbüchern thematisiert werden, seit den 1970er Jahren verschiedentlich aufgegriffen, jedoch stets als ein spezielles Thema. Der Schritt, Schulbücher daraufhin zu untersuchen, wie in diesen gesellschaftliche Pluralität insgesamt, also auch, aber nicht allein infolge von Migration, abgebildet wird, steht noch aus. Ein Blick in die Untersuchungen seit den 1970er Jahren zeigt, dass die Art und Weise, wie Migration und speziell die Zugewanderten dargestellt und ins Verhältnis zu den ‚Einheimischen’ gesetzt werden, sich in den letzten vier Jahrzehnten nicht grundsätzlich verändert hat. Grundschema der Darstellung ist weiterhin die wir/sie-
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Differenz, zunächst national-kulturell und inzwischen ethnisch-religiös bestimmt. Zu diesem Ergebnis kommen auch weitere neuere Studien zu Grundschullehrbüchern, zu Geschichts-, Geographie- und Sozialkundebüchern bzw. zum historisch-politischen Schulbuch (Grawan 2014; Lange & Rößler 2012; Schissler 2009). Dies gilt nicht nur für Deutschland, sondern zu ähnlichen Ergebnissen kommen entsprechende Untersuchungen zu österreichischen Schulbüchern (Markom & Weinhäupl 2013) und vergleichende Untersuchungen zu Schulbüchern in verschiedenen europäischen Ländern (GEI 2011). Zu beachten ist, dass die kulturalisierende Dimension des Migrationsdiskurses mit der Verschiebung zur religiösen Differenzsetzung nicht nur fortgesetzt, sondern zugleich auch geschärft bzw. verschärft wird, insofern ‚Religion’ statt ‚Kultur’ (vormodern/modern) die Grenzziehung vereindeutigt.
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43 Interkulturelle Bildung als allgemeine Aufgabe von Bildung Hans-Joachim Roth Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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3.2 Konzepte und Ansätze Interkultureller Pädagogik
In der Abstraktion wissenschaftlicher Theoriebildung besteht immer auch die Gefahr einer Dethematisierung von Heterogenität zugunsten der Formulierung einheitlicher und scheinbar konsistenter Aussagen. Theoretische Wissenschaft ist so gesehen von Haus aus diversitätsfeindlich; sie tendiert zur Einebnung von Unterschieden zum Beispiel durch die Verwendung allgemeiner Begriffe. Übertragen auf das Verhältnis von interkultureller und allgemeiner Bildung stellt sich daher die Frage nach dem Begriff von Allgemeinheit. Angesichts eines pädagogischen Ansetzens an sprachlicher, kultureller und sozialer Vielfalt, verbunden mit einer Aufmerksamkeit auf Prozesse von Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassismus, wird Interkulturelle Bildung als „Querschnittsaufgabe“ definiert, d.h. dass sie nicht als alleinige Aufgabe einer Spezialoder Teildisziplin betrachtet werden dürfe, sondern als allgemeine Aufgabe der Bildung (vgl. Krüger-Potratz 2005, S. 22f ).
1 Interkulturelle Bildung – ein interdisziplinäres Feld Für die Interkulturelle Bildung scheint die Situation allerdings noch deutlich komplizierter: Betrachtet man unterschiedliche Ebenen – programmatische Texte, das Studienangebot oder die Personalkonstellation an den verschiedenen Hochschulstandorten (vgl. Roth & Wolfgarten 2016) – so lässt sich konstatieren, dass dieses Arbeitsgebiet nicht nur eine erziehungswissenschaftliche Teildisziplin, sondern ein interdisziplinäres „Feld“ im Sinne Bourdieus (2013, S. 18) ist, das insbesondere von Seiten der Erziehungswissenschaft, der Soziologie und der Sprachdidaktik bearbeitet wird; Teilfelder sind Interkulturelle Pädagogik, Migration und Gesellschaft und sprachliche Bildung im Kontext von Zwei- und Mehrsprachigkeit als verflochtene, wenngleich teilautonome Arbeitsbereiche. Von daher geht es nicht allein um das Verhältnis des Allgemeinen zum Speziellen und Individuellen, sondern es geht um disziplinäre Hybridität. Damit sind zentrale Themen der Interkulturellen Bildung angesprochen, über die sie die allgemeine Bildung bereichert: das Verhältnis zum Anderen als soziale Konstruktion von Fremdheit, der Umgang mit Mischungen, Hetero-
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genitäten, Unreinheiten (vgl. z.B. Ha 2010) sowie die Auseinandersetzung mit Ausgrenzung, Diskriminierung und Benachteiligung. Geht es in der Erziehungswissenschaft darum, das Verstehen des Einzelnen als Grundlage pädagogischen Handelns sicherzustellen, so tritt diese Herausforderung im Kontext Interkultureller Bildung dem Denken wie dem Handeln noch einmal radikaler entgegen, da der Andere häufig als Fremder ‚erfasst‘ wird – in einer Differenz, die in jeder Kommunikation oder Begegnung von Individuen besteht (vgl. Roth 2002, S. 471ff). Interkulturelle Bildung belässt solche Überlegungen zudem nicht auf der Ebene des Individuums, sondern berücksichtigt strukturelle Kontexte und Rahmenbedingungen von Bildung und Erziehung im Zuge der Konstruktion des Anderen. Postkoloniale und rassismuskritische Perspektiven verweisen auf die Produktion der eurozentrischen Vorstellung von der Überlegenheit des ‚abendländischen‘ Denkens (vgl. z.B. Hall 2004, S. 108ff). Verstehen des Anderen kann demnach nicht ohne die Berücksichtigung der historischen Erfahrungen von Imperialismus, Sklaverei und Rassismus verstanden werden: Das gilt sowohl für kollektive Erfahrungen wie auch für die direkte Interaktion der Subjekte. Die Universalität des sog. westlichen Denkens wurde demnach sozusagen auf dem Fundament der Unterdrückung weiter Teile der Menschheit errichtet. In dieser Denktradition erscheint das Subjekt eher von seiner ursprünglichen Wortbedeutung her als Unterworfenes (‚subjicere‘). Das bedeutet aber nicht, auf Selbstbestimmung, Partizipation und Handlungsfähigkeit als Zielsetzung zu verzichten. Emanzipation erwächst nur eben nicht allein durch Aufklärung über die selbstverschuldete Unmündigkeit (Kant) des Einzelnen, sondern bedarf der Veränderung strukturell erzeugter Ungleichheit, die sich aufgrund ihrer institutionellen Verzahnung in gesellschaftlichen und staatlichen Systemen, also auch mittels des Bildungssystems, immer wieder reproduziert. Emanzipation in diesem Sinne gründet zunächst auf einer Dekonstruktion der historisch gewachsenen Verhältnisse, die ein verändertes Handeln möglich macht. Dieses Handeln mag dann individuell oder sozial sein – vor allem aber ist es immer auch politisch.
2 Interkulturelle Pädagogik in der Erziehungswissenschaft In einer Reihe von Texten wird seit den 1990er Jahren das Verhältnis von Interkultureller Bildung und Allgemeiner Erziehungswissenschaft zwar als bedeutsam herausgestellt, aber nur selten systematisch bearbeitet. Der Arbeitsbereich konstituierte sich 1994 in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (nicht nur aus organisationspolitischen Gründen) als „Arbeitsgruppe auf Zeit“. Den Mitgliedern der Arbeitsgruppe war es seinerzeit wichtig – und das gilt bis heute –, den Arbeitsbereich eben nicht aus dem Feld der Erziehungswissenschaft ausgegliedert zu sehen, sondern als allgemeinen Auftrag der Erziehungswissenschaft wie auch der pädagogischen Praxis verstanden zu wissen. Das resultiert aus der Geschichte der Teildisziplin, die sich von einer zielgruppenspezifischen Behandlung eingewanderter Bevölkerungsgruppen als „Ausländerpädagogik“ emanzipiert und programmatisch das Allgemeine ihres Bildungskonzepts und damit ein Ausgreifen auf alle im Bildungs- und Sozialwesen beteiligten Akteur/innen in den Vordergrund der eigenen Programmatik gerückt hatte (vgl. z.B. Nieke 2000). Georg Auernheimer beurteilte dementsprechend in der ersten Fassung seiner „Einführung in die Interkulturelle Erziehung“ die Ausdifferenzierung als „fragwürdige Aufgabenteilung innerhalb der Erziehungswissenschaft“ (Auernheimer 1990, S. VII) und zielte in seiner Darstellung darauf, die „Einbindung“ der Interkulturellen Bildung in die Erziehungswissenschaft durchgehend kenntlich zu machen. Der Band von 1990 konstituiert de facto das Feld der Interkulturellen Erziehung als ein primär interdisziplinäres, in das soziologische Fragestellungen eingehen wie auch ethnologische, sozialpsychologische, linguistische, sprachdidaktische u.a.m. Auernheimer
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Interkulturelle Bildung als allgemeine Aufgabe von Bildung
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plädierte auch für eine nicht zu scharfe Trennung von Deskription und Normativität in diesem Feld, um der „Gefahr der Entpolitisierung der Pädagogik“ zu entgehen (ebd., S. 3). Er öffnete das Feld konsequent zu verwandten Teilbereichen anderer Disziplinen. Dabei ist der sozialwissenschaftliche Zugang nicht nur in konkreten Teilfeldern wie der Migrations- und Rassismusforschung konstitutiv, sondern hinzu kommen insbesondere die sozialpsychologische Vorurteilsforschung, die sprachwissenschaftliche Konversationsanalyse und die selbst schon interdisziplinär aufgestellte Identitätstheorie. Das Allgemeine der Interkulturellen Bildung ist also ein hybrides Anderes, nichts Einheitliches: So wie der Andere ein komplexer ist, die Identität eine multiple, so ist die Teildisziplin eine hybride: Diversity Education wäre der besser passende Ausdruck (vgl. Roth 2010). Darin tritt eine sozialwissenschaftlich argumentierende Theorielinie in den Vordergrund, die sich in der Interkulturellen Bildung seitdem weitgehend durchgesetzt hat, wie die folgenden Beispiele zeigen: Isabell Diehm und Frank-Olaf Radtke verzichten in ihrer „Einführung“ (1999) ausdrücklich auf eine disziplinäre Bezeichnung und definieren ein thematisches Feld: „Erziehung und Migration“. Sie fassen das Allgemeine der Erziehungswissenschaft aus einem an Niklas Luhmann orientierten konstruktivistischen Prinzip, nämlich wissenschaftliche Theorien in einem wechselseitigen Beobachtungsverhältnis zueinander zu sehen. In diesem theoretischen Interaktionsfeld plädieren Diehm und Radtke dafür, das Augenmerk auf die jeweils ausgeblendeten Anteile zu legen, „mit welchen Unterscheidungen sie arbeiten, was sie nicht sehen können und was sie jeweils unbezeichnet lassen“ (ebd., S. 45). In diesem Sinne sei die Erziehungswissenschaft prinzipiell „zuständig für die Aufklärung des Erziehungssystems“ (ebd., S. 44). Diehm und Radtke (1999) ziehen für die Bestimmungen des Verhältnisses zwischen den Aufgaben einer Interkulturellen Bildung in der Erziehungswissenschaft und in der Praxis eine scharfe Linie zwischen wissenschaftlicher Analyse und Normativität. Das bedeutet nicht unbedingt, den Anspruch auf eine politische Perspektive aufzugeben, sondern verlagert die politische Wirkung in die Ausrichtung auf die zu analysierenden Phänomene, die aus den blinden Flecken theoretischer Zugänge sowie didaktischer und organisatorischer Konzepte gewonnen werden. Nicht umsonst sind Themen wie Verteilungsgerechtigkeit, Benachteiligung und institutionelle Diskriminierung in ihrem Einführungsbuch sowie auch in anderen Forschungsarbeiten zentrale Gegenstände (vgl. Gomolla & Radtke 2002). Im Verhältnis von Allgemeiner Erziehungswissenschaft und dem Feld „Erziehung und Migration“ sehen Diehm und Radtke die Aufgabenteilung nicht als grundsätzlich unterschiedlich, sondern als Spezifizierung. Danach ist es die Aufgabe der Interkulturellen Bildung – oder eben des Bereichs „Erziehung und Migration“ –, allgemeine Theorieangebote auf Einwanderung zu beziehen. Eine klare Wendung vollzieht Paul Mecheril mit seiner „Einführung in die Migrationspädagogik“ (2004). Im Vordergrund steht die Positionierung einer „Migrationspädagogik“ in Abgrenzung gegen ein Verständnis von „Interkultureller Pädagogik“, das mit dem Kulturbegriff letztlich eine Differenzlinie markiere, die von der Betrachtung gesellschaftlicher Machtbeziehungen und Ungleichheiten tendenziell wegführe (Mecheril 2004, S. 17). Auch wenn Mecheril aus ungleichheitstheoretischen Erwägungen anstelle von „Kultur“ den Bezug zur Migration in den Fokus rückt, so sieht er die Berechtigung einer Interkulturellen Pädagogik gerade darin, dass sie sich „in allgemeiner Einstellung“ mit der kulturellen Diversität in modernen Gesellschaften beschäftigt. Er plädiert dafür, „die migrationspädagogische Perspektive“ als ein ergänzendes Prinzip einzuführen: als „Verschiebung dominanter Zugehörigkeitsordnungen“ (ebd., S. 223). In ihrer „Einführung in die Interkulturelle Pädagogik“ konstatieren Ingrid Gogolin und Marianne Krüger-Potratz zu Beginn, dass die ‚Interkulturelle Pädagogik eine Fachrichtung bzw. Subdisziplin der Erziehungswissenschaft ist‘ (Gogolin & Krüger-Potratz 2017, S. 11). Auch
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Hans-Joachim Roth
3 Zusammenfassung
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sie halten an einem normativen Kern fest: „Leitende normative Prämisse der Arbeit in diesem Bereich ist es, dass die Lebens- und Bildungschancen der Heranwachsenden so weit wie möglich von den Zufällen ihrer Herkunft unabhängig sein sollten“ (ebd., S. 12). Dieses Festhalten an der Aufgabe der Überwindung von Benachteiligung aufgrund sprachlich-kultureller Herkunft ist der allgemeine Auftrag, den die Interkulturelle Bildung zu erfüllen hat, ihre Mission. Die Anbindung an die Erziehungswissenschaft wird von den Autorinnen über die historische Rekonstruktion der Erziehungswissenschaft hergestellt, in der z.B. die ansonsten gern ausgeblendete Kolonialpädagogik nicht nur als eine Vorläuferin der Interkulturellen Bildung, sondern als eine historische Schicht der Erziehungswissenschaft auftaucht. Statt Ausdifferenzierungen und Perspektivierungen disziplinär zuzuordnen, begreifen sie Interkulturelle Bildung als ein übergreifendes Konzept zur Überwindung fachlicher Zuständigkeiten und der Formulierung einer gemeinsamen Aufgabe.
Interkulturelle Bildung ist eine hybrid konstituierte Teildisziplin der Erziehungswissenschaft mit offenen Übergängen zur Sprachdidaktik und insbesondere zu den Sozialwissenschaften. Der Grund dafür liegt zum einen in der Funktion, eine (kritische) Betrachtung des Bildung-und Erziehungswesens zu liefern und dabei einen Fokus auf die Situation der von Ausgrenzung bedrohten oder betroffenen Menschen zu legen. Dazu gehört es, die Ränder und Bruchlinien in individuellen und institutionellen Bildungsprozessen in den Blick zu nehmen, ebenso nicht thematisierte oder ausgeblendete Aspekte, indem analytische Perspektiven von Migration und Diversität konsequent durchgehalten werden. Auf der Ergebnisseite geht es nicht nur um kritische Analyse, sondern auch um Verschiebungen dominanter Deutungsmuster, Zugehörigkeiten und Normalitäten mit emanzipatorischem Anspruch. Dazu gehört es auch, disziplinäre Zuständigkeiten zu überwinden. Interkulturelle Bildung benötigt hierfür interimistisch den Status einer eigenständigen Teildisziplin, auch wenn die mit Migration und Diversität verbundenen Herausforderungen für alle Bereiche (nicht nur) der Erziehungswissenschaft gelten. Sollten diese irgendwann durchgängig angenommen sein, braucht es eine eigene Teildisziplin nicht mehr – unabhängig davon ob man sie Interkulturelle Bildung, Migrationspädagogik, Diversity Education oder schlichtweg nur Erziehung und Migration nennt. Der Weg dahin ist beschritten, aber noch nicht vollendet. Literatur
Auernheimer, Georg (1990): Einführung in die interkulturelle Erziehung, 5. erg. Aufl. 2007. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. – Bourdieu, Pierre (2013): Manet. Une révolution symbolique. Paris: Seuil. – Diehm, Isabell & Radtke, Frank-Olaf (1999): Erziehung und Migration. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer. – Gogolin, Ingrid & Krüger-Potratz, Marianne (2017): Einführung in die Interkulturelle Pädagogik. 3. überarb. u. erg. Aufl. Opladen: Barbara Budrich, UTB. – Gomolla, Mechtild & Radtke, Frank-Olaf (2002): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen: Leske + Budrich. – Ha, Kien Nghi (2010): Unrein und vermischt. Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und der kolonialen „Rassenbastarde“. Bielefeld: transcript. – Hall, Stuart (2004): Das Spektakel des ‚Anderen‘. In: Stuart Hall: Ausgewählte Schriften, Bd. 4. Hamburg: Argument, S. 108-166. – Krüger-Potratz, Marianne (2005): Interkulturelle Bildung. Eine Einführung. Münster: Waxmann. – Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz. – Nieke, Wolfgang (2000): Interkulturelle Erziehung und Bildung. Wertorientierungen im Alltag. Opladen: Leske + Budrich. – Roth, Hans-Joachim (2002): Kultur und Kommunikation. Systematische und theoriegeschichtliche Umrisse Interkultureller Pädagogik. Opladen: Leske + Budrich. – Roth, Hans-Joachim (2010): Vom Suchhorizont zur Querschnittsaufgabe. Überlegungen zur Positionierung Interkultureller Bildung im Übergang zur Diversity Education. In: Marianne Krüger-Potratz; Ursula Neumann & Hans-Heinz Reich: Bei Vielfalt Chancengleichheit. Interkulturelle Pädagogik und Durchgängige Sprachbildung. Münster: Waxmann, S.
Interkulturelles Lernen in der politischen Bildung
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44 Interkulturelles Lernen in der politischen Bildung Sabine Achour Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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90-99. – Roth, Hans-Joachim & Wolfgarten, Tim (2016): Interkulturelle Bildung als Hochschulangebot. In: Aysun Doğmuş; Yasemin Karakașoğlu & Paul Mecheril (Hg): Pädagogisches Können in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS, S. 107-140.
Interkulturelles Lernen und Politische Bildung sind in heterogenen, demokratischen Gesellschaften auf das gleiche Ziel ausgerichtet: Individuen zum kompetenten Umgang mit Vielfalt in ihrem sozialen Umfeld und in den gesellschaftlichen Teilsystemen, z.B. Bildung, Wirtschaft, Politik und Arbeit, zu befähigen und somit einen Beitrag leisten zu können zum Abbau ungleicher gesellschaftlicher Teilhabemöglichkeiten, Diskriminierungen oder Rassismen aufgrund von Diversitätsmerkmalen wie Migrationsbezügen, Geschlecht, sozio-ökonomischer Herkunft, sexueller Orientierung, religiöser Zugehörigkeit, körperlicher und geistiger Handicaps, Alter sowie sprachlicher Herkunft. Interkulturelle Kompetenz in der politischen Bildung ist somit die Fähigkeit zur Anerkennung und Berücksichtigung unterschiedlicher politischer Orientierungen, Einstellungen, Werte und Interessen im Rahmen demokratischer Auseinandersetzungen in den Grenzen der Grund- und Menschenrechte.
1 Gegenstand und Zielsetzungen politischer Bildung Gegenstand politischer Bildung ist die Politik, d.h. die Regelung der Angelegenheiten eines Gemeinwesens durch verbindliche Entscheidungen (vgl. Fuchs & Roller 2009). Ziel politischer Bildung ist es, die politische Mündigkeit der Individuen zu fördern, um an diesen Entscheidungen teilzunehmen und teilzuhaben. Politikkompetenz umfasst nach Detjen et al. (2012) neben politischem Wissen politische Analyse-, Urteils- und Handlungskompetenz. Die Analysekompetenz ist z.B. bei der Rezeption verschiedener Medien (Zeitung, Fernsehen, Internet) gefragt, die Urteilskompetenz hinsichtlich der jeweils aktuellen wie auch gewünschten zukünftigen Politik vor allem nach der Schulzeit, z.B. bei Wahlen und Volksentscheiden. Die Handlungskompetenz befähigt zur Partizipation, z.B. in Form der Mitarbeit in Initiativen, Verbänden und Parteien, durch die Teilnahme an öffentlichen politischen Aktionen, wie z.B. Demonstrationen; entscheidend ist immer auch kommunikatives politisches Handeln: Positionen und Argumente werden artikuliert und diskutiert, Entscheidungen werden getroffen und begründet. Diese domänenspezifischen Kompetenzen benötigen eine Wissensbasis, die im Rahmen politischer Bildung vermittelt wird. Ziel ist die Vermittlung von Wissen über und die Internalisierung
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Sabine Achour
politikwissenschaftliche(r) Konzepte, die in politischen Prozessen eine Rolle spielen: z.B. Demokratie, Parteien, Grund- und Menschenrechte. Schließlich sucht die politische Bildung, positiv auf Dispositionen und Einstellungen zur Demokratie und ihren Verfahrensweisen zu wirken.
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2 Politikkompetenz und interkulturelle Kompetenz Politikkompetenz ist in einer durch Vielfalt geprägten, offenen Gesellschaft ohne interkulturelle Kompetenz, d.h. ohne Wissen über Diversität und ohne interkulturelle Kommunikations- und Handlungsfähigkeit nicht denkbar (Auernheimer 2008). Bei der Analyse von Politik geht es um Antworten auf generelle Schlüsselfragen, wie z.B.: Worin besteht das Problem, das gelöst werden soll? Welche Akteure (Gruppen, Parteien, Verbände) sind am politischen Prozess beteiligt? Geschärft wird dies durch interkulturelle Schlüsselfragen im weitesten Sinne, wie z.B. die Frage nach ungleichen Teilhabechancen bzw. besonderen Benachteiligungen von Gruppen; gefragt wird z.B.: Kommen Minderheiteninteressen ausreichend zum Tragen? Werden Disparitäten abgebaut oder verschärft? Ein politisches, interkulturell sensibles Urteil berücksichtigt ferner hinsichtlich der Bewertungskategorien Effizienz (Kosten, Leistungsfähigkeit etc.) und Legitimität (Gerechtigkeit, Solidarität, Nachhaltigkeit etc.) auch Kriterien wie z.B. Minderheitenschutz, Gleichstellung und den Abbau von Disparitäten. Dies führt zu einer differenzierten Bewertung von Politik, indem nicht nur allgemein die Perspektiven von Bürger/innen, Parteien und Verbänden einbezogen werden, sondern bewusst nach Minderheitsperspektiven gefragt wird: von Menschen mit Migrationsbezügen, von Religionsgemeinschaften oder anderen benachteiligten Gruppen. Politische Bildung in interkultureller Perspektive ist darauf ausgerichtet, das Konzeptwissen (z.B. zur Rolle von Geschlecht, Kultur, Religion, differenten Rechtsvorstellungen usw.) zu erweitern und Stereotype sowie problematische, mit den Grundrechten nicht oder nur schwer vereinbare Konzepte zu hinterfragen. Politikkompetenz ist sprachintensiv, so dass die politische Bildung in einer auch sprachlich immer heterogener werdenden Gesellschaft vermehrt sprachsensible Angebote berücksichtigen muss, um nicht Personen bzw. Personengruppen aufgrund geringerer Sprachkompetenz von der gesellschaftspolitischen Teilhabe auszuschließen.
3 Pluralismus und (interkulturelle) Vielfalt Politischer Bildung liegt ein partizipationsorientiertes Demokratiekonzept zugrunde. Daraus folgt, dass Politik dann als besonders legitim und transparent gilt, wenn nicht nur wenige Eliten am politischen Entscheidungs- und Kommunikationsprozess beteiligt sind, sondern die Interessen vieler unterschiedlicher Akteur/innen einbezogen werden: Neben den Parteien und den Politiker/innen sind dies z.B. die Verbände, die Medien, die unterschiedlichen Interessensgruppen und Initiativen, die die Interessen von Individuen aggregieren und in den politischen Entscheidungsprozess einbringen. Die Vielfalt der Interessen ist nicht nur eine Folge politischer Überzeugungen (z.B. konservativ, liberal, links), sondern auch der jeweiligen Lebenslagen, der sie kennzeichnenden Diversitätsmerkmale und der sich daraus ergebenden gesellschaftspolitischen Forderungen. Mit ihrer Berücksichtigung im politischen Entscheidungsprozess soll im politischen System der gesellschaftliche Pluralismus, die konstruktive Koexistenz von Interessen und Lebensstilen der Individuen eine breite Anerkennung erfahren und somit zur Legitimität politischer Entscheidungen beitragen. Die Demokratieforschung sieht hier einen zentralen Aspekt der Stabilisierung des politischen Systems (z.B. Fraenkel 2007).
Interkulturelles Lernen in der politischen Bildung
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4 Interkultureller Wandel: Demokratie und Gesellschaft Vielfalt und damit auch gesellschaftlicher Pluralismus nehmen durch Prozesse wie Migration, Globalisierung, Transnationalisierung, Individualisierung und Digitalisierung zu, so dass Politikkompetenz verstärkt auf interkulturelle Kompetenz angewiesen ist. Politische Entscheidungsprozesse, z.B. in den Feldern Migration und Religion, sind stets auch mit expliziten wie impliziten ‚interkulturellen Entscheidungen’ verbunden; die Debatten über das Kopftuch, über Beschneidung, Gebetsräume in Schulen oder über den staatlich verantworteten islamischen Religionsunterricht zeigen dies. In den letzten Jahren ist – neben schon länger bestehenden Interessenvertretungen von Minderheiten, wie z.B. dem „Zentralrat der Sinti und Roma“ oder den minderheitsbezogenen Arbeitsgruppen in den etablierten Parteien (z.B. „Muslime in der SPD“ oder „Migranten in der CDU“) – eine Vielzahl von Organisationen von denen gegründet worden, die sich als „neue Deutsche“ verstehen, um als Partner in politischen Entscheidungsprozessen agieren zu können. Zu den Organisationen, die sich im Dachverband „Neue Deutsche Organisationen“ zusammengeschlossen haben, gehören z.B. die „Junge Islamkonferenz“ und „Deutschplus e.V.“ Die Existenz solcher Gruppen- und Organisationsbildungen zeigen, dass es um mehr als um Anerkennung von Minderheiteninteressen geht, sondern um die direkte Einforderung der Teilhabe als Bürger/innen, wie es die „Neuen Deutschen Organisationen “ 2015 in ihrem Positionspapier formuliert haben: „Wir wollen keine Integrationspolitik, sondern eine Gesellschaftspolitik, die sich an alle Bevölkerungsgruppen richtet“ (Bundeskongress/Forderungen 2015). Diese Gründungen stehen für den – auch interkulturellen – Wandel von Gesellschaft und Demokratie sowie für die interkulturelle Kompetenz von politischen Akteur/innen und Bürger/innen – wie auch umgekehrt. Das Aushandeln politischer Interessen ist in der Regel ein konfliktreicher Prozess, insbesondere wenn neue (Interessen-)Gruppen hinzukommen: Dass dies kein neues Phänomen und keineswegs nur eine Folge von Zuwanderung ist, zeigt das Beispiel der Studentenbewegung der 1960er Jahre und der in diesen politischen Auseinandersetzungen herausgebildeten Frauenbewegung oder der Anti-Atom- bzw. der Umweltbewegung. Politik wird daher häufig mit Konflikt und Streit gleichgesetzt, obwohl Politik in demokratischen Gesellschaften darauf zielt, Konflikte durch Verfahren diskursiven Austragens und durch rechtliche Vorgaben zu regeln. Dass dies – wenn auch nach längeren Auseinandersetzungen – gelingen kann, und dass bei konstruktiven Aushandlungsprozessen sogar aus sozialen Bewegungen, wie z.B. der Frauen- und Umweltbewegung, neue Parteien entstehen können („Die Grünen“), wird von der Politikwissenschaft – der Bezugswissenschaft der politischen Bildung – als Zeichen für die Funktionsfähigkeit von Demokratie gewertet. Diese Zusammenhänge zu verstehen und unterschiedliche Interessen und Perspektiven anerkennen zu können, muss gelernt werden. Dementsprechend sind weitere Zielsetzungen der politischen Bildung die Förderung von Konfliktfähigkeit, Empathie und Perspektivenübernahme, vergleichbar mit den Zielsetzungen des interkulturellen Lernens (Straub 2009). Im sog. „Beutelsbacher Konsens“, dem einzigen Konsens in der politischen Bildung, wird daher gefordert, die Lernenden nicht nur dazu zu befähigen, ihre Interessen artikulieren und durchsetzen zu können, sondern sie auch mit der gesellschaftlichen Komplexität und mit der z.T. unauflösbaren Kontroversität gesellschaftlich-politischer Interessen zu konfrontieren. Darauf beziehen sich zwei der drei Abschnitte des „Beutelsbacher Konsens“: Der Abschnitt zu Kontroversität ist mit dem Satz überschrieben: „Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.“ Der andere, hier relevante Konsenspunkt betrifft das „Überwältigungsverbot“, mit dem eine scharfe Grenze zwischen politischer Bildung und Indoktrination gezogen wird (Wehling 1977, S. 179).
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Sabine Achour
Befragungen im Rahmen der empirischen Sozialforschung lassen seit geraumer Zeit einen Anstieg ausgrenzender Einstellungen (und darauf bezogener Handlungen) – Antisemitismus, Rechtsextremismus, antimuslimische Einstellungen, Antiziganismus und Rassismus – erkennen. Gemeinsam ist ihnen, dass Vielfalt als Bedrohung gesehen wird und sie sich in Demokratiedistanz, Nationalismus oder Einstellungen äußern, die sich gegen sexuelle Vielfalt, Menschen mit Behinderungen oder (politisch) Andersdenkende richten. Sie lassen sich nicht nur in rechten und rechtspopulistischen Milieus finden, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft. Politische Bildung steht damit immer vor der Aufgabe, jegliche ausgrenzenden, defizitorientierten, kulturalisierenden, diskriminierenden Zuschreibungen zu thematisieren, entsprechende Konflikte aufzugreifen und zur Bearbeitung sowohl Wissen wie Kompetenzen zu vermitteln (Achour 2013).
6 Politische Bildung und der Kulturbegriff Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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5 Ausgrenzende Einstellungen als Herausforderung politischer Bildung
Ausgrenzende, kulturalisierende Zuschreibungen lassen sich häufig auf einen Kulturbegriff zurückführen, der als Differenzbegriff verstanden und genutzt wird. Für Konzepte politischer Bildung ist er ungeeignet, denn damit lassen sich Phänomene wie Transnationalisierung, Migration, Mobilität, Hybridität, Diversität und ihr Einfluss auf Politik und Gesellschaft innerhalb und außerhalb nationalstaatlicher Grenzen nicht fassen. ‚Kulturen’ entwickeln sich innerhalb von Nationalstaaten wie auch immer über deren Grenzen hinweg. Die Bildung zu politischer Mündigkeit im Sinne globaler Verantwortung wie auch staatlicher politischer Problemlösungsfähigkeit sind vor dem Hintergrund internationaler Konflikte sowie globaler Schlüsselprobleme wie Hunger, Armut, Ressourcenknappheit im nationalstaatlichen Rahmen und entsprechenden national-beschränkten Konzepten nicht denkbar. Daher weist eine interkulturelle politische Bildung viele Überschneidungen mit Menschenrechtsbildung, Globalem Lernen und Bildung für nachhaltige Entwicklung auf (Holzbrecher 2014). Für Politische Bildung sind Konzepte geeignet, in denen „Kultur als Praxis“ verstanden und die Pluralität der Praxen, Herkünfte und Zugehörigkeiten angemessen berücksichtigt wird. Übertragen lässt sich dies auf das Konzept der politischen Kultur, welche als „stilvoller Umgang“ miteinander im politischen Aushandlungsprozess beschrieben werden kann. „Stilvoll“ bedeutet, dass Merkmale von Demokratie wie die Anerkennung von Grundrechten und damit von Minderheiten, Vielfalt, Pluralität im gesellschaftlichen Miteinander des Interessenausgleichs berücksichtigt und wertgeschätzt werden. Politische Bildung zielt auf die Befähigung zur Teilhabe an der so definierten politischen Kultur und ist stets gefordert, sich in dieser Perspektive auch mit ausgrenzenden Einstellungen und Handlungen auseinanderzusetzen. Literatur
Achour, Sabine (2013): Bürger muslimischen Glaubens. Politische Bildung im Kontext von Migration, Integration und Islam. Schwalbach: Wochenschau Verlag. – Auernheimer, Georg (2008): Interkulturelle Bildung als eine Dimension politischer Bildung. In: Bettina Gruber & Kathrin Hämmerle (Hg.): Demokratie lernen heute. Politische Bildung am Wendepunkt. Wien: Böhlau, S. 145-160. – Bundeskongress/Forderungen (2015): Forderungen der Neuen Deutschen Organisationen vom Bundeskongress „Deutschland neu denken“ (Februar 2015). Online verfügbar unter http://neue-deutsche-organisationen.de/de/ueber-uns/positionen/ [9.10.2016]. – Detjen, Joachim; Massing, Peter; Richter, Dagmar & Weißeno, Georg (2012): Politikkompetenz - ein Modell. Wiesbaden: Springer VS. – Fraenkel, Ernst (2007): Demokratie und Pluralismus. Gesammelte Schriften. Bd. 5, Hg. von Alexander v. Brünneck. Baden-Baden: Nomos. – Fuchs, Dieter & Roller, Edeltraud (2009): Politik. In: Dieter Fuchs & Edeltraut Roller (Hg.): Lexikon Politik. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart: Reclam, S. 205-209. – Holzbrecher, Alfred
Menschenrechtsbildung
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45 Menschenrechtsbildung Claudia Lohrenscheit Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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(2014): Interkulturelles Lernen. In: Wolfgang Sander (Hg.): Handbuch Politische Bildung. 4. vollst. überarb. Aufl. Schwalbach: Wochenschau Verlag, S. 351-359. – Straub, Jürgen (2009): Interkulturelle Kompetenz – eine humanistische Perspektive. In: Jörn Rüsen & Henner Laass (Hg.): Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen. Schwalbach: Wochenschau Verlag, S. 300-333. – Wehling, Hans-Georg (1977): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. In: Siegfried Schiele & Herbert Schneider (Hg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart: Klett, S. 179-180.
Für das Lernen und Lehren in pluralen, durch Migration geprägten Gesellschaften kommt der Menschenrechtsbildung aufgrund ihrer völkerrechtlichen Verankerung und ihres expliziten Rechtsbezugs eine wichtige Rolle zu. Die Menschenrechte sind als universelle Rechte formuliert worden, die jedem Menschen unabhängig von Staatsangehörigkeit, sozialem Status, Geschlecht, Alter, Behinderung usw. allein aufgrund seines Menschseins zustehen. Sie dienen als international gültige Rechtsnormen dazu, die Praxis der Staaten weltweit an dem durch sie bestimmten Maßstab zu messen. Menschenrechte schützen nicht partikulare Ausdrucksformen einer bestimmten Kultur, sondern die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die kulturelle Selbstbestimmung jedes Menschen, solange diese nicht die Rechte anderer verletzen. Somit stehen die Menschenrechte für die Freisetzung und den Ausdruck von kultureller Diversität und Pluralität. In ihrer emanzipatorischen Ausrichtung ist der Blick immer auch auf die Durchsetzung der Menschenrechte für benachteiligte gesellschaftliche Gruppen und für solche, die „aus der Norm fallen“ gerichtet. Ihre Durchsetzung gilt als Gradmesser für die Realisierung des Freiheits- und Gleichheitsanspruchs der Menschen (Bielefeldt 2007). Menschenrechtsbildung dient vor allem dem Ziel, die eigenen Rechte zu kennen sowie Wissen und Kompetenzen für die solidarische Durchsetzung der Menschenrechte zu erwerben (vgl. Lohrenscheit 2004). Das grundlegende Dokument ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (AEMR) von 1948. In der Präambel der AEMR wird betont, dass mit der Menschenrechtserklärung das „zu erreichende gemeinsame Ideal“ formuliert sei, „damit jeder Einzelne und alle Organe der Gesellschaft sich diese Erklärung stets gegenwärtig halten und sich bemühen, durch Unterricht und Erziehung die Achtung dieser Rechte und Freiheiten zu fördern“. Artikel 26 behandelt das Recht auf Bildung: „Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung. (…) Die Ausbildung soll die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Ziele haben. Sie soll Verständnis, Duldsamkeit und Freundschaft (…) fördern und die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Aufrechterhaltung des Friedens begünstigen“ (UNO Resolution 217A [III]).
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Claudia Lohrenscheit
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1 Politische Rahmung der Menschenrechtsbildung Das von den Vereinten Nationen bestärkte Recht auf Bildung fordert staatliche Pflichten zur Realisierung eines (im Bereich der Grundbildung unentgeltlichen) Zugangs zu einem allgemein verfügbaren, öffentlichen Bildungssystem ein und drängt auf eine starke inhaltliche und qualitative Ausrichtung auf die Menschenrechte. In diesem Sinne ist Menschenrechtsbildung selbst ein Menschenrecht. Sie wird seit der Verabschiedung der AEMR durch alle zentralen internationalen Menschenrechtsverträge und ihre jeweiligen Überwachungsorgane stetig weiter entwickelt und von den jeweils zuständigen Regierungsorganen der Staaten eingefordert. Hierbei kommt den internationalen Fachausschüssen zu Menschen- und Kinderrechten, Gender- bzw. Frauenrechten, Antirassismus, Behinderung und dem Schutz vor Folter eine zentrale Rolle zu, die ihre Empfehlungen je nach Kontext auf ihre jeweiligen Adressat/innen zugeschneiden müssen (z.B. für das pädagogische Personal im Bildungsbereich, für Heil- und Pflegeberufe oder für Polizei und Strafvollzug). Darüber hinaus gibt die weitere Ausdifferenzierung und Auslegung des Menschenrechts auf Bildung wertvolle Hinweise für die Gestaltung einer entsprechenden Bildungspraxis. Leitend für die Operationalisierung der Menschenrechte sind vier zentrale Strukturelemente: Verfügbarkeit (Availability), Zugang (Acessibility), menschenrechtsbasierte Angemessenheit (Acceptability) und Adaptierbarkeit (Adaptability) – das sogen. 4-A-Schema, wie es die ehemalige UN-Sonderberichterstatterin Katarina Tomaševski 1999 in dem von ihr mit verfassten Kommentar zum Recht auf Bildung formuliert hat (Deutsches Institut für Menschenrechte 2005). Das Recht auf Bildung ist eng mit allen anderen Rechten verbunden, z.B. mit den Rechten, die in der Kinderrechtskonvention (u.a. Kindeswohl, Diskriminierungsfreiheit, Recht auf Gehör und Teilhabe) festgelegt sind, in der Frauenrechtskonvention (z.B. sexuelle Selbstbestimmungsrechte, Diskriminierungsverbot aufgrund der geschlechtlichen Identität und der sexuellen Orientierung) oder in der Behindertenrechtskonvention (z.B. Recht auf inklusive Bildung, Barrierefreiheit, assistierte Autonomie). Verschiedene multilaterale internationale Organisationen haben in den letzten Jahren Initiativen und Kampagnen zur stärkeren Förderung und Verankerung der Menschenrechtsbildung in den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen durchgeführt bzw. entsprechende politische wie rechtliche Dokumente verabschiedet. Hierzu gehören z.B. die Erklärung der Vereinten Nationen über Menschenrechtsbildung und -training; Resolution A/RES/66/137 2012 (Erklärung 2011) und die Charta des Europarats (2010). Diese Dokumente sind das Ergebnis langjähriger Bemühungen und Aktivitäten zur Förderung und weltweiten Verbreitung der Menschenrechtsbildung, konzentriert auf ausgewählte Sektoren und bestimmte Zielgruppen. Zu nennen sind hier z.B. das Weltaktionsprogramm der Vereinten Nationen, das sich in der ersten Phase (20052009) auf die Primar- und Sekundarschulen bezog, in der zweiten Phase (2010-2014) auf die Aus- und Fortbildung im tertiären Bereich (Lehrkräfte, Verwaltung, Polizei und Strafvollzug sowie militärisches Personal) und in der aktuellen Dekade (2015-2019) auf Journalisten und Medienfachleute (siehe World Programme 2005-ongoing). Informationen zur Umsetzung dieser und weiterer Initiativen zur Menschenrechtsbildung in Deutschland finden sich beispielsweise in den Menschenrechtsberichten der Bundesregierung (Auswärtiges Amt 2015).
2 Menschenrechtsbildung: zivilgesellschaftliche Dimension Menschenrechtsbildung hat zugleich eine zivilgesellschaftliche Dimension. Sie ist in sozialen, politischen und emanzipatorischen Bewegungen stark verwurzelt, auch wenn dort nur zum Teil explizit von Menschenrechtsbildung gesprochen wird. Im Vordergrund steht hier nicht
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die Frage der Definition, sondern praktisches Empowerment, also Aktivitäten mit dem Ziel, sich die eigenen Lebensverhältnisse machtvoll anzueignen und sie zu verbessern. In diesem Sinne hat es schon immer eine Praxis der Menschenrechtsbildung gegeben, auch ohne formale oder völkerrechtliche Vorgaben, und zwar überall dort, wo Menschen sich zusammenfinden und lernen, Unrechtserfahrungen zu artikulieren und sich für ihre grundlegenden (Menschen-) Rechte einzusetzen. Hier finden sich Schnittstellen zum Lernen in sozialen Bewegungen und zu anderen emanzipatorischen Bildungskonzepten wie etwa der Befreiungspädagogik Paulo Freires oder des daran angelehnten Theaters der Unterdrückten von Augusto Boal (vgl. Lohrenscheit 2006). Akteure in diesem Feld sind verschiedene NGO, wie z.B. Amnesty International, die sich kontinuierlich in der Menschenrechtsbildungsarbeit engagieren.
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3 Menschenrechtsbildung: pädagogische und bildungspolitische Umsetzung Der Professionalisierungsgrad der Menschenrechtsbildung ist trotz aller internationalen Bemühungen noch gering. So gibt es neben den internationalen Organen kaum fest etablierte Strukturen oder Institutionen, die sich der Theorie- und Praxisentwicklung widmen. Dessen ungeachtet ist aber ein reichhaltiger Fundus an Materialien und Handbüchern verfügbar, die meist auch umfassende theoretische und rechtliche Erwägungen enthalten sowie Hinweise zur Methodik und Didaktik. Der didaktische Ansatz bezieht sich auf drei miteinander verzahnte Lernfelder: Lernen über, für und durch die Menschenrechte: –– Lernen über Menschenrechte bezieht sich auf die Vermittlung von Kenntnissen über Normen und Prinzipien der Menschenrechte – historisch wie aktuell – und über die wichtigsten Akteur/innen sowie auf weiteres notwendiges Sachwissen; –– Lernen durch Menschenrechte bezieht sich auf die Reflexion von Werten, Haltungen und Einstellungen: Ziel ist es u.a. zu lernen, Menschenrechtsverletzungen und Chancen zu ihrer Überwindung zu erkennen sowie die eigenen Möglichkeiten, den Schutz der Menschenrechte in der Praxis um- und durchzusetzen; –– Lernen für Menschenrechte zielt auf den Erwerb von Handlungs- und Kommunikationskompetenzen, um aktiv für Menschenrechte eintreten zu können bzw. Menschen darin zu stärken, für ihre Rechte einzutreten und die anderer zu achten (vgl. Erklärung 2011; Lohrenscheit 2004, S. 279-282). Menschenrechtsbildung bedeutet, dass die Lehr-/Lerninhalte im Lernprozess selbst zur Anwendung gebracht werden müssen. Dies bezieht sich auch auf die Lernumgebung, die menschenrechtsbasierten Normen und Prinzipien entsprechen sollte: z.B. Schutz vor jeglicher Form von Diskriminierung, barrierefreie Lernräume oder die Achtung von Selbstbestimmung und Teilhabe der Lehrenden und Lernenden. Die Umsetzung entsprechender Lehr-/Lernangebote erfordert eine einschlägige Qualifizierung, methodisch-didaktisch aber auch inhaltlich. So ist es beispielsweise nicht ratsam, ohne fundierte Kenntnisse über Themen wie Schutz vor Folter oder Verbot der Todesstrafe zu unterrichten. Besondere Vorbereitung und Sensibilität erfordert auch der Umgang mit von Menschrechtsverletzungen betroffenen Personen. Menschenrechtsbildung ist in Deutschland als eigenständiger Bereich in der Forschung und pädagogischen Praxis kaum etabliert. Zwar gibt es einige Studien zu verschiedenen Aspekten der Menschenrechtsbildung in Deutschland bzw. international (u.a. zu Menschenrechten im Schulbuch, zur schulischen Kinderrechtsbildung oder zu Menschenrechten in der Einwanderungsgesellschaft) wie auch eine Zusammenstellung von Befunden und Empfehlungen für die Bildungspolitik (Reitz & Rudolf 2014). Doch bislang werden Themen der Menschenrechtsbildung vorwiegend im Rahmen anderer fachlicher Spezialisierungen, insbesondere im Rahmen
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Claudia Lohrenscheit
Literatur
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der Demokratieerziehung und der interkulturellen Bildung behandelt. Für die pädagogische Praxis hingegen gibt es zahlreiche Materialien und Lehrbücher; zwei Beispiele seien genannt: das Kompass-Handbuch zur Menschenrechtsbildung für Erwachsene (2005) bzw. Compasito dessen Version für Kinder (Flowers 2009) und das Onlinehandbuch zu Inklusion als Menschenrecht (Onlinehandbuch o.J.). Die Kompass-/Compasito-Bücher sind vom Jugenddirektorat des Europarats entwickelt und in fast alle europäischen Sprachen übersetzt worden. Sie enthalten neben einem Informations- und Theorieteil vor allem praktische Übungen und Methoden, Hintergrundmaterialien und einen an die jeweiligen Landessprachen und Adressat/innen angepassten Serviceteil. Das Onlinehandbuch wurde vom Deutschen Institut für Menschenrechte in Zusammenarbeit mit der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ) entwickelt. Im Zentrum stehen die Themen Inklusion, Behinderung und Diskriminierungsschutz. Auswärtiges Amt (2015): 11. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik (Berichtszeitraum 1. März 2012 bis 28. Februar 2014). Berlin. – Bielefeldt, Heiner (2007): Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft. Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus. Bielefeld: transcript. – Charta des Europarats (2010): Charta des Europarats zur Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung (Empfehlung CM/Rec(2010)7 des Ministerkomitees des Europarats, verabschiedet vom Ministerkomitee am 11. Mai 2010 anlässlich der 120. Versammlung). Online verfügbar unter http://www.coe.int/en/web/edc/charter-on-education-for-democraticcitizenship-and-human-rights-education (englisch) oder https://edoc.coe.int/en/human-rights-education/6840charter-on-education-for-democratic-citizenship-and-human-rights-education-democracy-and-human-rightsstart-with-us.html (deutsch) [23.08.2016]. – Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg.) (2005): Die General Comments zu den VN-Menschenrechtsverträgen. Deutsche Übersetzung und Kurzeinführung: Allgemeine Bemerkung Nr. 13 – Das Recht auf Bildung (Artikel 13), S. 263-285. – Erklärung (2011): Erklärung der Vereinten Nationen über Menschenrechtsbildung und -training. Online verfügbar unter http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/UN-Dokumente/Erklaerung_der_Vereinten_Nationen_ueber_ Menschenrechtsbildung_und_training.pdf [03.03.2016]. – Flowers, Nancy & Brederode Santos, Maria Emilia (Hg.) (2009): Compasito – Handbuch zur Menschenrechtsbildung mit Kindern. Hg. Bundeszentrale für politische Bildung, Deutsches Institut für Menschenrechte, Europarat. Aus dem Englischen übersetzt von Marion Schweizer. Online verfügbar unter http://www.compasito-zmrb.ch/startseite/ [04.03.2016]. – Kompasshandbuch zur Menschenrechtsbildung (2005): Kompass. Handbuch zur Menschenrechtsbildung für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit. Bundeszentrale für politische Bildung; Deutsches Institut für Menschenrechte. Hg. vom Europarat. Aus dem Englischen übersetzt von Marion Schweizer. Online verfügbar unter http://kompass.humanrights. ch/cms/front_content.php [04.03.2016]. – Lohrenscheit, Claudia (2004): Das Recht auf Menschenrechtsbildung. Grundlagen und Ansätze einer Pädagogik der Menschenrechte. Frankfurt a.M.: IKO. Online verfügbar unter http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Externe_Publikationen_von_ DIMR_Mitarb/dissertation_recht_auf_menschenrechtsbildung_lohrenscheit.pdf [04.03.2016]. – Lohrenscheit, Claudia (2006): Dialogue and Dignity – Linking Human Rights Education with Paulo Freire’s Education for Liberation. In: Journal for Social Science Education 5 (I), S. 126-134. Online verfügbar unter http://www.jsse.org/ index.php/jsse/article/view/1006/909 [04.03.2016]. – Online Handbuch (o.J.): Inklusion als Menschenrecht. Hg. vom Deutschen Institut für Menschenrechte. Online verfügbar unter http://www.inklusion-als-menschenrecht.de/ inhalt/ [04.03.2016]. – Reitz, Sandra & Rudolf, Beate (2014): Menschenrechtsbildung für Kinder und Jugendliche. Befunde und Empfehlungen für die deutsche Bildungspolitik. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte. Online verfügbar unter http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/Studie_Menschenrechtsbildung_fuer_Kinder_und_Jugendliche_barrierefrei.pdf [02.03.2016]. – UNO Resolution 217A (III): Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. UNO Resolution 217A (III) vom 10. Dezember 1948. Online verfügbar unter http://quellen.geschichte-schweiz.ch/allgemeine-erklarung-menschenrechte-uno-1948.html [04.03.2016]. – World Programme (2005-ongoing): World Programme on Human Rights Education 2005-ongoing. Online verfügbar unter: http://www.ohchr.org/EN/Issues/Education/Training/Pages/Programme.aspx [02.03.2016].
Globales Lernen und Bildung für nachhaltige Entwicklung
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46 Globales Lernen und Bildung für nachhaltige Entwicklung Bernd Overwien
Erste Konzepte und Ansätze, um unter verschiedenen Perspektiven bildungsrelevante komplexe globale Fragen bearbeiten zu können, wurden in den 1960er Jahren entwickelt. Seit Anfang der 1990er Jahre ist „Globales Lernen“ ein Sammelbegriff für verschiedene ältere wie auch jüngere fachliche Ausdifferenzierungen innerhalb der Erziehungswissenschaft, hervorgegangen aus der Dritte-Welt-Pädagogik und der entwicklungspolitischen Bildung, mit Bezügen zur Ökopädagogik, zur Menschenrechtsbildung, zum ökumenischen Lernen oder auch zur Interkulturellen Pädagogik. „Globales Lernen versteht sich als die pädagogische Antwort auf die Erfordernisse einer nachhaltigen Entwicklung der Weltgesellschaft, als die notwendige Transformation pädagogischen Denkens und Handelns im Kontext einer sich globalisierenden Gesellschaft“ (Forghani 2004). Globales Lernen greift Probleme der Globalisierung im weltweiten Zusammenhang auf und im Vordergrund steht die Auslotung von Chancen für gemeinsame Handlungsperspektiven von ‚Süd und Nord’, bzw. in der traditionellen Begrifflichkeit: von Entwicklungs- und Industrieländern (vgl. Asbrand & Scheunpflug 2014, S. 401f ). Im Rahmen der Aktivitäten des Schweizer Forums „Schule für eine Welt“ sind 1994 vier Leitideen zur Charakterisierung „Globalen Lernens“ festgehalten worden, die weiterhin Geltung haben: –– Bildung als Möglichkeit, weltweit gemeinsame Perspektiven zu entwickeln; –– Förderung der Fähigkeit zur Reflexion eigener Identität, um auf dieser Grundlage einen Perspektivenwechsel vornehmen zu können; –– Den eigenen Lebensstil in seinen sozialen und ökologischen Folgen zu überdenken lernen; –– Fähigkeit, ein Leben zwischen globaler und lokaler Ebene gestalten zu können (vgl. Forum Schule für eine Welt 1994).
1 Unterschiedliche Definitionen und Zugänge Die in die Diskussion eingebrachten unterschiedlichen Definitionen von Globalem Lernen unterscheiden sich nicht grundsätzlich, wohl aber in der Reichweite und Perspektive: Christel Adick (2002, S. 397) versteht Globales Lernen als Oberbegriff für Ansätze „mit weltbürgerlichen Perspektiven“. Andere Autoren fassen ihren Ansatz spezifischer: Klaus Seitz z.B. führt Linien der Entwicklung einer weltgesellschaftlich fundierten Bildungstheorie zusammen. Aus seiner Sicht ist eine der zentralen Fragen, „welche sozialwissenschaftlichen Theorien und gesellschaftstheoretischen Modelle zur Verfügung stehen, um den globalen sozialen Wandel zu interpretieren und inwieweit dergleichen Globalisierungs- und Weltgesellschaftsmodelle in dieser Phase des Umbruchs Eckdaten und Hilfestellungen für eine überfällige pädagogische Auseinandersetzung zu geben vermögen“ (Seitz 2002, S. 453). Er diskutiert systemtheoretische Herangehensweisen im Zusammenhang mit handlungstheoretischen Sichtweisen und analysiert – bezogen auf die Komplexität weltgesellschaftlicher Herausforderungen – verschiedene Kompetenzmodelle. Seine Überlegungen zum Kompetenzerwerb weisen deutliche Bezüge zu Konzepten der außerschulischen politischen Bildung auf.
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Bernd Overwien
Asbrand und Scheunpflug (2014) betonen vor allem das Thema der globalen Gerechtigkeit und verbinden dies mit global-räumlichen Dimensionen und zu erwerbenden Kompetenzen. Die damit angesprochenen Themenfelder förderten die Fähigkeit der Lernenden, mit Komplexität umzugehen, dies schließe die in der Bildungsarbeit notwendige Reduktion von Komplexität ein. Sie unterscheiden evolutions- und systemtheoretisch fundierte Zugänge von handlungstheoretischen Zugängen zum Globalen Lernen mit einem eher holistischen Weltbild. Letztere, so ihre Kritik, seien zu normativ; die mit ihrer Betonung globaler Gerechtigkeit einhergehende eigene Normativität hingegen reflektieren sie nicht. Selby und Rathenow (2003) nehmen Überlegungen aus den Diskussionen in Großbritannien und Kanada auf und fassen Globales Lernen als ganzheitliches, ökologisches und systemisches Paradigma. Sie stellen eine ökozentrische Perspektive einer anthropozentrischen gegenüber und definieren als Ziele Globalen Lernens den Erwerb von Systembewusstsein, Perspektivbewusstsein und der „Bereitschaft, Verantwortung für die Erhaltung des Planeten zu übernehmen“ (ebd., S. 26); vor allem gehe es aber um Handlungsorientierung und -fähigkeit und um die Förderung des „Bewusstseins universellen Beteiligtseins (Overwien & Rathenow 2009, S. 122f ). Gemeinsam ist allen Ansätzen, dass sie die Wechselwirkungen globaler Abhängigkeiten und Verantwortung ins Zentrum stellen; Unterschiede bestehen hinsichtlich der Folgerungen für die konkrete Bildungsarbeit. Globales Lernen – so kann man festhalten – setzt sich mit Fragen globaler Gerechtigkeit und mit dem Erwerb der Fähigkeit zum Perspektivwechsel auseinander insbesondere, wenn auch nicht ausschließlich, in Bezug auf die Situation von Menschen in den sogenannten Ländern des Südens. In allen Ansätzen geht es – mit jeweils unterschiedlicher Akzentsetzung – um die Sensibilisierung für die im Sinne nachhaltiger Entwicklung notwendigen weltweiten Veränderungsprozesse, um „transformatorische Bildung“, wie es Selby und Rathenow (2003) nennen, bzw. um eine gesellschaftlich breit verankerte „große Transformation“, wie sie in der gutachterlichen Stellungnahme des „Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen“ gefordert wird (WBGU 2011). Ansätze Globalen Lernens, so ein in der Diskussion immer wieder vorgebrachter Kritikpunkt, beachte zu wenig die inzwischen auch in einigen Ländern des globalen Südens zu Fragen nachhaltiger Entwicklung geführten Debatten. Doch es gibt inzwischen erste Ansätze, diese Diskussionen zusammenzuführen, z.B. im Rahmen der „Global Citizenship Education“ (im Rahmen der Unesco Initiative 2014-2021; siehe auch Wintersteiner et al. 2014). Allerdings, so Vanessa Andreotti (2006) in Kritik einer, wie sie es nennt, „soft global citizenship education“, bedarf es noch einer stärkeren Beachtung (post-)kolonialer Strukturen.
2 Globales Lernen und Bildung für Nachhaltige Entwicklung Globales Lernen wird heute vielfach der fachlichen, interdisziplinär ausgerichteten Spezialisierung „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ (BNE) zugeordnet, die in Deutschland vor allem aus der Umweltbildung hervorgegangen ist (vgl. Overwien 2014). Die mit ihr verbundenen Zielvorstellungen entsprechen weitgehend denen, die im Kontext der OECD-Debatten (2003) um „persönliches, soziales und ökonomisches Wohlergehen“ entwickelt worden sind. Dementsprechend soll BNE den Erwerb von „Gestaltungskompetenzen“ fördern die eine aktivere, reflektierte und kooperative Teilhabe an der Realisierung der Ziele einer nachhaltigen Entwicklung ermöglichen. Es geht nicht nur um bloße Reaktion auf Problemlagen, sondern um die Fähigkeit, „Zukunft selbstbestimmt gestalten zu können“ (De Haan & Seitz 2001, S. 60). Gestaltungskompetenz wird dabei sowohl aus dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung als auch bildungstheoretisch begründet.
Globales Lernen und Bildung für nachhaltige Entwicklung
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BNE hat in den letzten Jahren zunehmend Eingang in die schulischen Curricula gefunden.
Grundlage ist u.a. der von der Kultusministerkonferenz mit Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung erarbeitete „Orientierungsrahmen für den Lernbereich globale Entwicklung“, erstmals 2007 veröffentlicht und 2015 aktualisiert. Mit diesem „Orientierungsrahmen“ und dem dort vorgeschlagenen Kompetenzmodell schließt die KMK an die Diskussionen im Bereich „Globales Lernen“ und Bildung für Nachhaltige Entwicklung an (siehe z.B. KMK & BMZ 2015, S. 93ff). Während die erste, 2007 veröffentlichte Fassung des Orientierungsrahmens curriculare Vorschläge für die Grundschule, einige Fächer der Sek.I und die berufliche Bildung enthielt, bezieht die zweite, aktualisierte Fassung fast das gesamte Fächerspektrum der Sek. I ein; wurden zuvor nur Schulfächer wie Religion, Politik, Wirtschaft und Biologie angesprochen, geht es jetzt auch um Geschichte, Deutsch, die Fremdsprachen, Mathematik, die Naturwissenschaften, Sport und Kunst. Globales Lernen wird zu einer der Querschnittsaufgaben, d.h. zur Aufgabe aller Fächer wie auch der Schule insgesamt und der außerunterrichtlichen wie paraschulischen Handlungsfelder (ebd., S. 456ff) und der Lehramtsausbildung. Alle hier angesprochenen Ansätze enthalten normative Vorannahmen, die vor allem zunächst in den Industrieländern entwickelt worden sind. Dies ist zu beachten, muss aber nicht als Problem bzw. Hindernis für die Möglichkeit einer weltweiten Akzeptanz gesehen werden. Das Leitbild nachhaltiger Entwicklung ist weltweit zumindest anerkannt. Es gibt Beschlüsse und grundsätzliche Abkommen verschiedener Weltorganisationen – etwa der UN oder der UNESCO – hinsichtlich der Erarbeitung der notwendigen integrierten und integrierenden Bildungsansätze. In Deutschland hat der Deutsche Bundestag 2004 einstimmig den Beschluss zur „UN-Weltdekade Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ gefasst und in 1992 den Artikel 20a zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Tiere eingefügt.
3 Bildung für Nachhaltige Entwicklung und politische Bildung Die von Asbrand und Scheunpflug (2014) mit Blick auf die Schule geäußerte Sorge, der Beutelsbacher Konsens werde durch zu viel Normativität verletzt, trifft nicht den Sachverhalt (Overwien 2016). Die im Beutelsbacher Konsens – einer Vereinbarung der politischen Bildung mit Blick auf die politische Mündigkeit der (zukünftigen) Bürger/innen in Deutschland – festgehaltenen drei Grundsätze: das Überwältigungsverbot (d.h. das Indoktrinationsverbot), das Kontroversitätsgebot (die Beachtung unterschiedlicher Positionen) werden nicht verletzt, ebenso wenig wie der dritte Grundsatz, die geforderte Schülerorientierung. Die Normativität in den Konzepten Globales Lernen und BNE ist mit der Normativität des Grundgesetzes bzw. den durch die Menschenrechtserklärung gesetzten Maßstäben vereinbar, und gerade hinsichtlich der geforderten Schülerorientierung ist „eine ernst zu nehmende Analyse der Situation und möglicher Veränderungsstrategien ohne globalen Bezug“ heute nicht mehr denkbar (Boeser 2012, S. 210). Kritisiert werden Globales Lernen und BNE in letzter Zeit auch aus postkolonialer Perspektive. Weltweite Ungleichheit werde nicht hinreichend in Frage gestellt, und vor allem werde keine Kritik an rassistischen Denkweisen und Strukturen geübt (z.B. Danielzik 2013). Setzt man sich jedoch mit den Grundlagen Globalen Lernens auseinander, so ist unübersehbar, dass globale Gerechtigkeit in allen Ansätzen von BNE seit langem Beachtung findet (z.B. Bühler 1996). Allerdings sollte diese Kritik zum Anlass genommen werden, sich wieder stärker mit den Auswirkungen von Kolonialismus und Rassismus zu befassen (Overwien 2013); die aktualisierte Fassung des KMK-Orientierungsrahmen bietet hierzu eine Reihe von Ansatzpunkten und Anregungen (KMK/BMZ 2015).
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Literatur
Bernd Overwien
Adick, Christel (2002): Ein Modell zur didaktischen Strukturierung des Globalen Lernens. In: Bildung und Erziehung 55 (4), S. 397-416. – Andreotti, Vanessa (2006): Soft versus critical global citizenship education. In: Policy and Practice: A Development Education Review, Vol. 3, Autumn, S. 40-51. – Asbrand, Barbara & Scheunpflug, Annette (2014): Globales Lernen. In: Wolfgang Sander (Hg.): Handbuch politische Bildung. 4. vollst. überarb. Aufl. Schwalbach: Wochenschau Verlag, S. 401-412. – Boeser, Christian (2012): Politikdidaktik. In: Gregor LangWojtasik & Ulrich Klemm (Hg.): Handlexikon Globales Lernen. Münster: Klemmm & Oelschläger, S. 209-212. – Bühler, Hans (1996): Perspektivenwechsel – unterwegs zu globalem Lernen. Frankfurt a.M.: IKO -Verlag. – Danielzik, Chandra-Milena (2013): Postkoloniale Perspektiven auf Globales Lernen und Bildung für nachhaltige Entwicklung. In: Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik – ZEP 36 (1), S. 26-33. – De Haan, Gerhard & Seitz, Klaus (2001): Kriterien für die Umsetzung eines internationalen Bildungsauftrages. Bildung für eine nachhaltige Entwicklung (Teil 1) In: Zeitschrift „Transfer 21 – Das Leben gestalten lernen“ 1, S. 58-62. – Forghani-Arani, Neda (2004): Was ist Globales Lernen? ... und was ist es nicht? Online verfügbar unter http://doku.globaleducation.at/forghani1.pdf [17.08.2016]. – Forum „Schule für eine Welt“ (1994): Globales Lernen/Apprentissage global. Bericht des Internationalen Seminars vom 16.-18. Mai 1993 in Muttenz (Basel). Jona: Schule für eine Welt. – KMK/BMZ (2015): Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung. Ein Beitrag zum Weltaktionsprogramm „Bildung für nachhaltige Entwicklung“. 2. aktual. und erw. Auflage. Bonn. Online verfügbar unter http://www.kmk.org/fileadmin/ Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2007/2007_06_00_Orientierungsrahmen_Globale_Entwicklung.pdf [17.08.2016]. – OECD (2003): OECD Studie identifiziert Schlüsselkompetenzen für persönliches, soziales und ökonomisches Wohlergehen. Online verfügbar unter http://www.oecd.org/innovation/research/oecdstudieidentifiziertschlusselkompetenzenfurpersonlichessozialesundokonomischeswohlergehen.htm [17.08.2016]. – Overwien, Bernd & Rathenow, Hans-Fred (2009): Globales Lernen in Deutschland. In: Bernd Overwien & Hans-Fred Rathenow (Hg.): Globalisierung fordert politische Bildung. Opladen: Leske + Budrich, S. 107-131. – Overwien, Bernd (2013): Falsche Polarisierung. Die Critical Whiteness-Kritik am Globalen Lernen wird ihrem Gegenstand nicht gerecht. In: Blätter des IZW 8, S. 38-41. – Overwien, Bernd (2014): Umweltbildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung. In: Wolfgang Sander (Hg.): Handbuch politische Bildung, Schwalbach: Wochenschau Verlag, S. 375-382. – Overwien, Bernd (2016): Globales Lernen & Bildung für nachhaltige Entwicklung. Behindert der Beutelsbacher Konsens thematische und methodische Innovation? In: Benedikt Widmaier & Peter Zorn (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Bonn: BPB, S. 260-268. – Seitz, Klaus (2002): Bildung in der Weltgesellschaft. Gesellschaftstheoretische Grundlagen Globalen Lernens. Frankfurt a.M.: Bandes & Apsel. – Selby, David & Rathenow, Hanns-Fred (2003): Globales Lernen: Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen. – UNESCO 2014-2021: Global Citizenship Education. Online verfügbar unter http://en.unesco.org/ gced [17.08.2016]. – WGBU (Hrsg.) (2011): Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen: Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. Hauptgutachten 2011. Berlin. Online verfügbar unter http://www.wbgu.de/hauptgutachten/hg-2011-transformation/ [17.08.2016]. – Wintersteiner, Werner; Grobbauer, Heidi; Diendorfer, Gertraud & Reitmair-Juarez, Susanne (2014): Global Citizenship Education. Politische Bildung für die Weltgesellschaft. Wien: Österreichische UNESCO -Kommission. Online verfügbar unter http://www.unesco-schulen.at/sites/default/files/files/Brosch%C3%BCre%20Global%20Citizenship%20Education.pdf [17.08.2016].
Rassismuskritische Ansätze in der Bildungsarbeit
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Antirassistische bzw. rassismuskritische Ansätze werden in Deutschland oft mit Anti-Faschismus assoziiert, beide wiederum mit politisch mehr oder weniger extrem linken Positionierungen. Ebenso wird die Wahrnehmung von Rassismus vielfach auf seine offen gewalttätigen Formen und auf Rechtsextremismus beschränkt. Solche Verengungen führen dazu, die Breite und Vielfältigkeit der Problematik wie der Reaktionen darauf zu übersehen. Im Folgenden stehen nicht politische Auseinandersetzungen und soziale Bewegungen im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern ein spezifisches Handlungsfeld: die antirassistische Bildungsarbeit in Deutschland. Ihrer Darstellung voran geht ein Abschnitt zu den verschiedenen Definitionen von Rassismus und den Bereichen sowie historisch-politischen Entwicklungen, die damit in den Blick kommen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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47 Rassismuskritische Ansätze in der Bildungsarbeit Rudolf Leiprecht
1 Zum Stand der Diskussion Rassismus allein als Folge individueller falscher Einstellungen, ggf. in Verbindung mit fehlender Bildung zu sehen, entspricht nicht mehr dem Stand der erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Fachdebatte. Rassismus ist kein individuelles Problem benachteiligter oder ungebildeter Personen, das sich durch eine angemessene pädagogische Bearbeitung behandeln ließe. Rassismus ist ein „machtvolles System von Diskursen und Praxen der Unterscheidung“, von Strukturen und Repräsentationen, „mit welchen Ungleichbehandlung und hegemoniale Machtverhältnisse legitimiert werden sollen“ (Scharathow 2009, S. 13). Die Unterscheidung erfolgt nach sozialen Gruppen, die infolge historischer politisch-gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse als ‚Rassen‘, ‚Ethnien‘ bzw. ‚Völker‘, ‚Stämme‘, ‚Nationen‘ oder ‚Kulturen‘ markiert und zueinander in ein hierarchisches Verhältnis gesetzt werden. Ihnen werden jeweils bestimmte unveränderliche Eigenschaften zugeschrieben, Wesensmerkmale, die zugleich als soziale Platzanweiser fungieren (vgl. für viele andere Kalpaka & Räthzel 1990). Antirassismus ist vor diesem Hintergrund als Versuch zu verstehen, den benachteiligenden, herabwürdigenden und ausgrenzenden Folgen solcher Unterscheidungspraxen entgegen zu wirken und Formen des Zusammenlebens zu entwickeln, in denen diese Praxen als hierarchische Prinzipien sozialer Ordnung keine Wirkungen mehr entfalten können. Seit Mitte der 1990er Jahre haben sich auch in Deutschland verschiedene Formen antirassistischer bzw. rassismuskritischer Bildungsarbeit herausgebildet: zum einen Trainings, Workshops, Projekttage, Stadtteilerkundungen oder theaterpädagogische Initiativen sowie Analysen von didaktischen Ansätzen, Materialien und Sprachformen in Bezug auf rassistische und ausgrenzende Elemente und zum anderen eine Entwicklung antirassistischer Gegenbeispiele sowie Konzepte für eine rassismuskritische Organisationsentwicklung von Bildungseinrichtungen.
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Rudolf Leiprecht
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2 Kulturalisierung und Individualisierung Inhaltlich und konzeptionell sind Ansätze und Konzepte antirassistischer Bildungsarbeit meist in Auseinandersetzung mit bzw. Abgrenzung zu interkulturellen Ansätzen entwickelt worden. Die Kritik richtet sich ab den 1980er Jahren gegen Konzepte, die – die eigentlichen diskursiven, institutionellen und strukturellen Probleme verschleiernd – von ‚Kulturdifferenzen‘ oder ‚Kulturkonflikten‘ ausgehen (Hamburger 1990), was Tsiakalos schon 1983 als „Kulturrassismus“ bezeichnet hat. Unter Bezug auf die internationale Diskussion ist die Kritik an der Kulturalisierung von Konflikten weitergeführt und gezeigt worden, dass und wie ‚Kultur‘ als „Sprachversteck“ (Leiprecht 1992) für ‚Rasse‘ genutzt wird. Speziell in Deutschland wird nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung das Wort ‚Rasse‘ meist vermieden (vornehmlich angesichts der schrecklichen Erfahrungen mit Faschismus und Shoah in Deutschland). Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass unter Verweis auf die ‚andere Kultur‘ ähnlich wie bei ‚Rasse‘ einer als homogen imaginierten Großgruppe eine unveränderbare und somit vererbbare Essenz zugeschrieben wird. Diejenigen, die in dieser Weise als ‚kulturell anders‘ markiert werden, werden zugleich mit allen ihren Lebensäußerungen auf diese ‚Kultur‘ reduziert. In diese Kritik einzubeziehen sind auch die antirassistischen Ansätze, die von einem individualisierenden Vorurteilsbegriff ausgehen und somit die diskursiven, institutionellen und strukturellen Faktoren dethematisieren bzw. ignorieren. Rassismus wird in diesem Fall „Personen attribuiert“, statt als Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und somit als gemeinsames Lernfeld verstanden zu werden (Holzkamp 1997, S. 284). Deutlich wird dies z.B., wenn in antirassistischen Trainings oder Bildungsveranstaltungen die jeweiligen Seminarleiter/innen, Teamer/innen, Pädagog/innen usw. die Teilnehmenden mehr oder weniger explizit als problematische (da des Rassismus verdächtige) Personen adressieren, die es aufzuklären, zu belehren und zu einem Besseren zu ‚bekehren‘ gelte. Implizit definieren sie sich selbst zugleich – wie bewusst auch immer – als nicht in Rassismen Verstrickte. Eine solche Konstellation erlaubt weder eine dialogische Auseinandersetzung noch eine gemeinsame Untersuchung von rassistisch wirkenden Strukturen, in die letztlich – wenn auch in unterschiedlicher Weise – alle verstrickt sind.
3 Aktuelle Ansätze Bei den Konzepten antirassistischer Bildungspraxis, die zunehmend in der Fachdebatte eine Rolle spielen, wird davon ausgegangen, dass Rassismus in die (transnational verflochtenen) gesellschaftlichen Verhältnisse und institutionellen Strukturen eingewoben ist und daher niemand sich diesen vollständig entziehen kann. Ziel entsprechender Analysen bzw. Workshops zum Thema Rassismus im Bildungsbereich ist es daher, die Strukturen und Angebote der eigenen Institution bzw. Organisation sowie die Gestaltung und Rahmung der Arbeit, die Materialien usw. auf rassistische Effekte hin zu überprüfen und Möglichkeiten zu entwickeln, diesen Rassismen entgegenzuwirken, um eine (immer wieder zu überprüfende) nicht-rassistische Bildungsarbeit zu etablieren (Bürgin & Weckel 2000; siehe auch Kalpaka 2009). Rassismuserfahrungen gehen u.a. mit einer Bedrohung durch Stereotype einher (stereotype threat), die die soziale Verletzbarkeit (vulnerability) erhöhen und nach der ‚Logik‘ von Zuweisung und Abweisung von Zugehörigkeit (belonging) wirken. Das Sprechen über Rassismuserfahrungen kann für diejenigen, gegen die Rassismen gerichtet sind, risikoreich sein, da oft mit Abwehr und Vorwürfen reagiert wird. Hier gilt es darauf zu achten, dass geschützte Räume für das Sprechen über und Reflektieren von Rassismuserfahrungen gegeben sind (Scharathow 2014)
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Rassismuskritische Ansätze in der Bildungsarbeit
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und dass diese Erfahrungen nicht bagatellisiert, individualisiert oder gar pathologisiert werden (Melter 2006). Ein weiterer Ansatz bezieht sich auf das Sichtbar-Machen von privilegierten Positionen: Rassismen, so der Ausgangspunkt, fungieren u.a. als soziale Platzanweiser und erzeugen scheinbar unhinterfragbare Normalitätsverständnisse von den Positionen, die man einnimmt. Aus einer rassismuskritischen Perspektive wird dabei auch deutlich, dass Privilegierte die mit der Privilegierung verbundene soziale Positionierung (z.B. als ‚weiß‘, ‚männlich‘, ‚heterosexuell‘) als selbstverständlich wahrnehmen, dass sie nicht einmal mehr thematisiert wird. Begriffe und Konzepte wie Dominanzkultur (Rommelspacher 2006) oder Critical Whiteness (Wollrad 2005) setzten mit ihrer Kritik an diesem Punkt an und versuchen, privilegierte Positionen und diskursive und strukturelle Machtverhältnisse in der (weißen) Mehrheitsgesellschaft sichtbar zu machen und zur Einnahme einer (selbst-)kritischen Perspektive anzuregen. Letztlich weisen rassismuskritische Ansätze – bei allen Unterschieden im Detail – auf die Notwendigkeit der Thematisierung des dominierenden Eigenen hin, so auch z.B. in den Debatten über Othering. Mit diesem Begriff wird auf historische und gesellschaftliche Prozesse der Besonderung aufmerksam gemacht, in denen Großgruppen im Kontext rassialisierender und kulturalisierender Vorstellungen und Praxisformen als ‚Andere‘ oder ‚Fremde‘ konstruiert werden. Dabei bestimmt das jeweils Eigene zwar den Blick und die Konstruktionsweise, bleibt jedoch eher im Verborgenen. Im impliziten Umkehrschluss scheint somit all das, was für die Anderen und Fremden als negativ, problematisch, defizitär oder auch ‚nur anders‘ behauptet wird, für das Eigene nicht zu gelten. Im Othering findet somit (unausgesprochen) eine Selbstaufwertung statt. Diesen Mechanismus gilt es bewusst, d.h. den Standort des dominierenden Blicks kenntlich zu machen. Othering ist zwar eines der Kernelemente von Rassismus, aber auch positive Aktionen, wie z.B. die Unterstützung Geflüchteter oder Eingewanderter können (ungewollt) Prozesse des Othering unterstützen. Seit den 2000er Jahren wird auch im Bildungsbereich verstärkt das aus der Geschlechter- und Rassismusforschung in den USA kommende Konzept Intersektionalität diskutiert: Gefordert wird, verschiedene Differenzlinien, die diskursiv entlang von sozial konstruierten Großgruppen gebildet werden (Geschlecht, Sozialstatus/Klasse, Ethnizität, Gesundheitsstatus, wie auch Nationalität, Religion Sprache), in ihrem Zusammenwirken, ihren wechselseitigen Beeinflussungen und hinsichtlich ihrer Wirkungen in der gesellschaftlichen Praxis zu untersuchen (Leiprecht & Lutz 2015). In dieser Perspektive wird Diversität (Diversity) als intersektionelle Herausforderung gelesen, um in pädagogischen Handlungsfeldern Verbindungen und Überschneidungen zwischen Rassismus, Sexismus, Klassismus, Ableism etc. identifizieren und bearbeiten zu können. All diesen Formen von Zuschreibung, Hierarchisierung, Negativbewertung, Ausgrenzung, Benachteiligung und Unterdrückung soll mit einer umfassenden Gesamtperspektive der AntiDiskriminierung entgegen gewirkt werden (Leiprecht 2011; Eggers 2012). Hier ergeben sich Ähnlichkeiten zum Anti-Bias-Ansatz: Ausgangspunkt der Analyse und Reflexion sind Zuschreibungs-, Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen aller z.B. an einer Lehrveranstaltung oder einem Workshop Teilnehmenden; thematisiert werden diskursive und strukturelle Verhältnisse genauso wie Machtfragen. Ziel ist es, unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen in ihren subjektiven und gesellschaftlichen Bedeutungen und in ihrer Überschneidung zu thematisieren und zur Überwindung von statischen und auf Dichotomien reduzierten Täter/Opfer-Konzepten beizutragen (Schmidt 2015).
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Rudolf Leiprecht
In jüngerer Zeit spielt die Auseinandersetzung mit transnationalen Formen von Rassismus (z.B. antimuslimischen, antiziganistischen, antislawischen oder antijüdischen Rassismen) in den verschiedenen pädagogischen Handlungsfeldern wie auch in den Fachdebatten eine wichtige Rolle. Deutlich wird, dass die mit ihnen verbundenen Zuschreibungen wie Folgen weit über Regionen und Ländergrenzen hinaus wirken. Rassismus zeigt sich in vielfältiger Form. Rassismuskritische Bildungsarbeit muss diese Vielfältigkeit in den Blick nehmen und darauf achten, dass antirassistische Ansätze nicht in Konkurrenz zueinander gesehen und/oder eine Hierarchisierung von Opfern erfolgt. Stattdessen gilt es, auf die letztlich immer gleichen Pseudo-Logiken, Mechanismen und Funktionen von Rassismen hinzuweisen, Bündnisse in der rassismuskritischen pädagogischen Praxis anzustreben und sich gemeinsam mit den gesellschaftlich-politischen Voraussetzungen von Rassismen und der Art und Weise, wie sie in die Strukturen, Routinen und Konzepte von Bildungseinrichtungen eingeschrieben sind, auseinanderzusetzen. Literatur Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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4 Ausblick
Bürgin, Julika & Weckel, Erik (2000): Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit. Konzeptionelle Idee und Praxiserfahrungen. In: kursiv. Journal für politische Bildung 3, S. 26-30. – Eggers, Maureen Maisha (2012): Diversität und Intersektionalität – Thematisierungen von Gleichheit und Differenz in der rassismuskritischen Jugend- und Bildungsarbeit. In: Karima Benbrahim (Hg.): Diversität bewusst wahrnehmen und mitdenken. Reader. Düsseldorf: IDA NRW e.V., S. 28-36. – Hamburger, Franz (1990): Der Kulturkonflikt und seine pädagogische Kompensation. In: Eckhard Dittrich & Frank-Olaf Radtke (Hg.): Ethnizität. Wissenschaft und Minderheiten. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 311-327. – Holzkamp, Klaus (1997): Antirassistische Erziehung als Änderung rassistischer ‚Einstellungen‘? In: Klaus Holzkamp: Schriften 1. Normierung – Ausgrenzung – Widerstand. Berlin: Argument, S. 279-299. – Kalpaka, Annita & Räthzel, Nora (Hg.) (1990): Über die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein. 3. Aufl. Leer: Mundo. – Kalpaka, Annita (2009): Institutionelle Diskriminierung im Blick – Von der Notwendigkeit Ausblendung und Verstrickungen in rassismuskritischer Bildungsarbeit zu thematisieren. In: Wiebke Scharathow & Rudolf Leiprecht (Hg.): Rassismuskritik. Bd. II: Rassismuskritische Bildungsarbeit. Schwalbach: Wochenschau, S. 25-40. – Leiprecht, Rudolf (2011): Diversitätsbewusste Soziale Arbeit. Schwalbach: Wochenschau. – Leiprecht, Rudolf & Lutz, Helma (2015): Intersektionalität im Klassenzimmer: Ethnizität, Klasse und Geschlecht. In: Rudolf Leiprecht & Anja Steinbach (Hg.): Schule in der Migrationsgesellschaft. Bd. I. Schwalbach: Debus, S. 283-304. – Melter, Claus (2006): Rassismuserfahrungen in der Jugendhilfe. Eine empirische Studie zu Kommunikationspraxen in der Sozialen Arbeit. Münster: Waxmann. – Rommelspacher, Birgit (2006): Dominanzkultur: Texte zu Fremdheit und Macht. 2. Aufl. Berlin: Orlanda Frauenverlag. – Scharathow, Wiebke (2009): Zwischen Verstrickung und Handlungsfähigkeit. Zur Komplexität rassismuskritischer Bildungsarbeit. In: Wiebke Scharathow & Rudolf Leiprecht (Hg.): Rassismuskritik. Bd. II: Rassismuskritische Bildungsarbeit. Schwalbach: Wochenschau, S. 12-22. – Scharathow, Wiebke (2014): Risiken des Widerstandes. Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen. Bielefeld: transcript. – Schmidt, Bettina (2015): Der Anti-Bias-Ansatz – Bildungsarbeit zwischen Rassismuskritik und Diversity. In: Rudolf Leiprecht & Anja Steinbach (Hg.): Schule in der Migrationsgesellschaft. Bd. II. Schwalbach: Debus. S. 207-247. – Tsiakalos, Georgios (1983): Ausländerfeindlichkeit – Tatsachen und Erklärungsversuche. München: Beck. – Wollrad, Eske (2005): Weißsein im Widerspruch. Feministische Perspektiven auf Rassismus, Kultur und Religion. Königstein i.Ts.: Ulrike Helmer.
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4 Interkulturelle Fragestellungen in Politik und Recht
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48 Auswirkungen der Einwanderungs- und Integrationspolitik auf Bildung und Erziehung Ellen Kollender und Uwe Hunger
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4.1 Politik
Die Ausgestaltung der Einwanderungs- und Integrationspolitik hat immer auch Auswirkungen auf das System von Bildung und Erziehung. Wie Migration politisch und pädagogisch Rechnung getragen wird, hängt auch davon ab, welche Integrationsvorstellungen die Gesellschaft insgesamt hegt (z.B. eine eher assimilatorische, multikulturelle oder inklusive). Im Folgenden möchten wir an verschiedenen Beispielen aufzeigen, welche Auswirkungen verschiedene einwanderungs- und integrationspolitische Konzepte auf den Umgang mit Schüler/innen mit Migrationsgeschichte im Bildungs- und Erziehungssystem der Bundesrepublik Deutschland jeweils hatten bzw. haben (für einen DDR-spezifischen Überblick vgl. Krüger-Potratz 1991). Dabei unterscheiden wir fünf Phasen der deutschen Einwanderungs- und Integrationspolitik (vor 1945, 1945 bis 1970, 1971 bis 1990, 1991 bis 1999, 2000 bis heute). Wir gehen hier allerdings weder von einer linearen Fortschrittsgeschichte noch von einem eindimensionalen Ursache-WirkungsVerhältnis aus, bei dem sich die Migrationspolitik – wie im Titel impliziert – einseitig auf das Handeln in der Schule auswirkt. Vielmehr handelt es sich hier um ein gegenseitiges Einflussverhältnis, bei dem die Diskursstränge in Bildung und Erziehung ihrerseits auch auf die Migrations- und Integrationspolitik einwirken.
1 Vor 1945: Der politische und pädagogische Umgang mit nationaler und sprachlich-kultureller Heterogenität im Spiegel von Kolonialpolitik und Nationalsozialismus Rekonstruktionen der Auseinandersetzung mit Migration in der Bundesrepublik Deutschland setzen häufig bei der Anwerbung von Arbeitsmigrant/innen in den 1950er Jahren an. Vor 1950 herrschende pädagogische Konzepte und Erziehungstheorien zum Umgang mit nationaler Identität und Differenz sowie Maßnahmen, die im Kontext von Kolonialismus und Nationalsozialismus darauf ausgerichtet waren, „Heterogenität zum Verschwinden zu bringen“ (Lamparter 1999), werden dabei häufig nicht als Geschichte des politischen wie pädagogischen Umgangs mit ‚Migrationsphänomenen‘ verstanden und deshalb in der Darstellung meistens ausgeblendet (vgl. Mecheril et al. 2013, S. 11). Marianne Krüger-Potratz und Ingrid Gogolin zeigen jedoch auf, dass heutige Denk- und Handlungsmuster der Interkulturellen Pädagogik bereits zur Zeit
Ellen Kollender und Uwe Hunger
des Deutschen Reichs geprägt wurden (2010, S. 79ff). So zielte eine auch nach Verlust der deutschen Kolonien noch in den Schulen unterrichtete ‚Kolonialpädagogik‘ (1884 bis 1918) auf die Förderung eines Kolonialgedankens ab, über die bestimmte patriarchale und rassistische Vorstellungen über ‚die Anderen‘ bei der deutschen Schülerschaft geprägt und aufrechterhalten wurden (vgl. a.a.O., S. 80ff). Es bildete sich in der Zeit des Deutschen Reichs auch bereits ein politischer Umgang mit nationalen Minderheiten in Deutschland heraus. Den dänischen, sorbischen und polnischen Bevölkerungsgruppen wurde offiziell ab 1919 Minderheitenschutz gewährt. Allerdings blieben Kinder und Jugendliche dieser Gruppen weitgehend vom deutschen Schulsystem ausgegrenzt (vgl. Krüger-Potratz et al. 1998, S. 151ff). Auch schrieben sich Vorstellungen von den ‚nicht-deutschen Anderen‘ und dem ‚deutschen Selbst‘ damals schon über das Staatsangehörigkeitsrecht in die Pädagogik ein. So schlug sich das Abstammungsprinzip, nach dem die ‚Volkszugehörigkeit‘ in Preußen von der Staatsangehörigkeit des Vaters abhängig war, im preußischen Schulpflichtgesetz (1927) insofern nieder, als dass die nach dieser Definition ‚nichtreichsangehörigen‘ Kinder und Jugendlichen nicht der Schulpflicht unterlagen und lediglich als ‚Gäste‘ des nationalstaatlich-organisierten Schulsystems verstanden wurden (vgl. Gogolin & Krüger-Potratz 2010, S. 90ff). Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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2 1945 bis 1970: Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen sowie Anwerbung von temporären Arbeitsmigrant/innen Während es in den Nachkriegsjahren vor allem die Flüchtlinge und Vertriebenen waren, die sich kriegsbedingt in der neugegründeten Bundesrepublik aufhielten bzw. hierher zurückkehrten und deren Kinder weitgehend in die allgemeine Schulpflicht einbezogen wurden, führte der anhaltende Bedarf an Arbeitskräften im Jahr 1955 zur Unterzeichnung des ersten Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Italien. Damit begann die erste Phase einer aktiven Anwerbung von Arbeitsmigrant/innen in die Bundesrepublik. Ab 1960 wurden weitere Verträge mit Griechenland und Spanien, der Türkei (1961), Marokko (1963), Süd-Korea (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968) geschlossen. Da die Anwerbung der Arbeitsmigrant/innen nicht auf Dauer angelegt war, sondern auf dem sog. Rotationsprinzip beruhte, nach dem Arbeitskräfte nach wenigen Jahren wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren und dann durch neue ersetzt werden sollten, waren auch die Arbeitsverträge zunächst nur zeitlich befristet. Zudem war der Familiennachzug stark eingeschränkt und u.a. vom Nachweis ausreichender finanzieller Mittel sowie einer hinreichend großen Wohnung abhängig. Dies hatte zur Folge, dass sich die Schulverwaltungen lange Zeit nicht zu besonderen Integrationsmaßnahmen veranlasst sahen. Erst neun Jahre nach Abschluss des ersten Anwerbeabkommens forderte die Kultusministerkonferenz (KMK) die Bundesländer auf, Maßnahmen zu ergreifen, um die ‚ausländischen‘ Kinder in die deutsche Schule einzugliedern (vgl. KMK 1964). Damit galt auch erst seit dem Jahr 1964 eine allgemeine Schulpflicht für Schüler/innen ‚ausländischer‘ Herkunft, die im übrigen nur Kinder „mit gesichertem Aufenthalt“ betraf (vgl. ebd.). Dabei wurden die ‚ausländischen‘ Schüler/innen zunächst in separaten Klassen, sog. ‚Ausländer‘- oder ‚Nationalklassen‘, unterrichtet. Sie blieben vom Regelschulsystem somit weitgehend ausgeschlossen – nach Franz Hamburger „Ausdruck einer Apartheidpolitik“ der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Hamburger 1983, S. 98). Ausgenommen von dieser Regelung waren Schüler/innen aus den ‚deutschstämmigen‘ Aussiedlerfamilien (Gogolin & Krüger-Potratz 2010, S. 101), deren Einbezug in die Regelklassen von Beginn an forciert wurde. Ein Grund für diese unterschiedliche Behandlung lag in den unterschiedlichen Aufenthaltsperspektiven. Der unterschiedliche politische Umgang mit den Kindern von Aussiedler/innen und Arbeitsmig-
Auswirkungen der Einwanderungs- und Integrationspolitik
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rant/innen schloss damit an Traditionen des Deutschen Reichs im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert an, bei der zwischen ‚reichsausländischen‘ (Kinder der Arbeitsmigrant/innen) und ‚deutschstämmigen‘ Schüler/innen (Aussiedlerkindern) unterschieden wurde (ebd.).
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3 1970er und 1980er Jahre: Migrationspolitische Doppelstrategie und widersprüchliche pädagogische Ausrichtung Im November 1973 wurde der Arbeitsmigration angesichts einer steigenden Arbeitslosigkeit durch den sog. ‚Anwerbestopp‘ plötzlich ein Ende gesetzt. Allerdings hatte dies nicht ein Ende von Zuwanderung bzw. die Abwanderung der im Land lebenden Migrant/innen zufolge, vielmehr hielten viele Migrant/innen an ihrem Aufenthalt in Deutschland fest und ließen ihre Familienmitglieder nachziehen (vgl. Herbert 2003, S. 223f ). Dies hatte zur Folge, dass die Zahl der schulpflichtigen ‚ausländischen‘ Kinder von 242.000 im Jahr 1970 auf 675.000 im Jahr 1979 stark anstieg (vgl. Hoff 1996). Auch angesichts der zunehmend ablehnenden Haltung gegenüber Arbeitsmigrant/innen innerhalb der Bevölkerung (vgl. Herbert 2003, S. 239f ) verfolgte die Bundesregierung in dieser Zeit ausländerpolitisch eine Doppelstrategie: Auf der einen Seite war ihre Politik davon bestimmt, den Zuzug von Migrant/innen zu begrenzen und die Rückwanderung in die Herkunftsländer zu forcieren. Auf der anderen Seite konnte die Politik aber die Notwendigkeit einer Anerkennung und Integration der in Deutschland lebenden Arbeitsmigrant/innen und ihrer Familien auch nicht völlig ausblenden (vgl. a.a.O., S. 244ff). Sie richtete deshalb 1978 die Stelle eines „Beauftragten für Ausländerfragen“ ein, die vom Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens, Heinz Kühn (SPD), besetzt wurde. Kühns Forderungen nach einer Anerkennung der faktischen Einwanderungssituation in der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere einer verstärkten Integration der ‚ausländischen‘ Kinder und Jugendlichen gerade im schulischen Bereich (vgl. das sog. Kühn-Memorandum 1979), führte dazu, dass in vielen (aber nicht in allen) Bundesländern die separierende Beschulung von ‚ausländischen‘ Kindern aufgegeben und sie in die Regelklassen integriert wurden. Außerdem rebellierten zunehmend migrantische Elternvereine gegen die bestehende ‚Ausländerschulpolitik‘ und forderten die gleichberechtige ‚Integration‘ ihrer Kinder ins deutsche Schulsystem. In einigen Bundesländern hatte die separierende Beschulung, wie etwa in Bayern, dennoch bis in die 1990er Jahre hinein Bestand, offiziell mit der Begründung die ‚Rückkehrfähigkeit‘ der ‚ausländischen‘ Schüler/innen aufrechtzuerhalten (vgl. Hunger 2001). Auch auf Bundesebene wurde die faktische Einwanderungssituation noch längere Zeit verleugnet. So wurde mit dem Regierungswechsel 1982 von der sozial-liberalen zur christlich-liberalen Koalition unter Helmut Kohl (CDU) eine erneute „restriktive Wende in der Ausländerpolitik“ eingeleitet (Meinhardt 2006, S. 38). Auf schulpädagogischer Ebene schlug sich diese Haltung in einer paradoxen Ausrichtung nieder: „Auf der einen Seite stand das Ziel der schulischen Integration der ‚Ausländerkinder‘ durch Regelunterricht und durch spezielle Förderungen insbesondere in eigens für ‚Ausländerkinder‘ eingerichteten Vorbereitungsklassen. Auf der anderen Seite sollte die ‚Rückkehrfähigkeit der Ausländerkinder‘ durch zumeist am Nachmittag stattfindenden ‚muttersprachlichen Ergänzungsunterricht‘ bewahrt bleiben“ (Mecheril 2010, S. 56). Parallel zu diesem Vorgehen entwickelte sich im Verlauf der 1980er Jahre in der Erziehungswissenschaft eine (selbst-)kritische Debatte über die Grenzen des pädagogischen Handelns heraus, die mit der Einsicht in die „Unmöglichkeit, Politik durch Pädagogik zu ersetzen“ (vgl. Hamburger et al. 1984) verbunden war und eine Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Ursachen des ‚Ausländerproblems‘ in den Vordergrund stellte.
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Ellen Kollender und Uwe Hunger
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4 1990er Jahre: Gesellschaftlich-eskalierender Rassismus und ‚pragmatischer‘ Umgang mit Migration Durch den Fall der Berliner Mauer und die Grenzöffnung in den ehemaligen Ostblockstaaten nahm die Migration in die Bundesrepublik Deutschland erneut erheblich zu. Zudem brachten der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien sowie zahlreiche andere internationale Konflikte im Nachgang des Kalten Krieges Hunderttausende Schutzsuchende ins wiedervereinigte Deutschland und stellten auch die Schulen, Kindergärten und andere Erziehungseinrichtungen vor neue Herausforderungen. So wie sich auf gesellschaftlicher Ebene die Debatte um Zuwanderung immer weiter aufschaukelte und in rassistisch motivierten Übergriffen gegen Menschen mit Migrationsgeschichte, wie in Hoyerswerda (1991), Mölln (1992), Mannheim (1992), Rostock (1992), Solingen (1993) und an anderen Orten, eskalierte, wurde eine verstärkte Auseinandersetzung mit Themen wie Diskriminierung und Rassismus auch in die Schulen getragen (z.B. durch das 1992 vom Bündnis Aktion Courage gegründete Projekt „Schule ohne Rassismus“). Zudem bildete sich trotz der weiterhin fehlenden integrationspolitischen Gesamtkonzeption im weiteren Verlauf der 1990er Jahre in den Ländern und Kommunen eine „pragmatische, zunehmend kontinuierliche Integrationspolitik“ für bereits in Deutschland lebende Migrant/innen mit gesichertem Aufenthaltsstatus heraus (vgl. Butterwegge 2004). Diese brachte insbesondere im schulischen Bereich einige strukturelle Veränderungen mit sich. Hierzu gehörte beispielsweise der bundesweite Ausbau der sog. RAAs („Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie“), die mit dem Ziel der Herstellung von mehr Chancengleichheit für Kinder und Jugendliche mit und ohne Migrationsgeschichte schulische Maßnahmen bündeln, regional koordinieren und weiterentwickeln sollten. Zudem wurden nach und nach weitgehend alle sprach- bzw. nationalhomogenen Formen von Vorbereitungsklassen in den Bundesländern aufgehoben und Fragen interkultureller Bildung zunehmend in der grundständigen Lehrerausbildung berücksichtigt. Zudem wurden Ansätze einer Pluralisierung der Schulsprachenangebote, unter Berücksichtigung des muttersprachlichen Unterrichts, entwickelt (vgl. Gogolin et al. 2001). Der sich hier ausdrückende pädagogische Haltungswandel in Bezug auf den Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität in der Schule wurde schließlich auch von der Kultusministerkonferenz unterstützt und im Beschluss zu „Interkultureller Bildung und Erziehung“ aus dem Jahr 1996 explizit gefordert (vgl. KMK 1996).
5 2000 bis heute: Anerkennung der Einwanderungsrealität, PISA-Schock und neue Heterogenität Durch die 1998 eingerichtete „Unabhängige Kommission Zuwanderung“ hat sich kurz vor der Jahrhundertwende auch auf gesamtpolitischer Ebene ein Bewusstseinswandel in der Migrationspolitik angebahnt. So machte die Kommission in ihrem Bericht deutlich, dass die „jahrzehntelang vertretene politische und normative Festlegung ‚Deutschland sei kein Einwanderungsland‘ [...] aus heutiger Sicht [...] unhaltbar“ sei (BMI 2001, S. 12f ). Damit begann die Bundesregierung 20 Jahre nach dem Kühn-Memorandum eine am Faktum der Einwanderung orientierte Politik zu entwickeln, die im Jahr 2000 zunächst eine Veränderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes zur Konsequenz hatte, bei dem sich Deutschland als „eines der letzten Länder der Erde“ (Mecheril 2010, S. 58) vom völkischen Abstammungsrecht (‚ius sanguinis‘) distanzierte und Elemente des Territorialrechts (‚ius soli‘) in die Gesetzgebung aufnahm. Trotz der signalisierten Entschlossenheit, Migration und Integration künftig nicht mehr reaktiv, sondern aktiv zu gestalten, dauerte es vier Jahre, bis sich die politischen Parteien auf ein neues
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Auswirkungen der Einwanderungs- und Integrationspolitik
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Zuwanderungsgesetz einigen konnten, das die Zuwanderung gezielt steuern soll. In dem neuen Gesetz wurde erstmals eine Reihe von ‚Integrationsmaßnahmen‘ in die Gesetzgebung aufgenommen, in dessen Zentrum das Erlernen der deutschen Sprache durch die Teilnahme an sog. Integrationskursen für Neuzugewanderte aus sog. Drittstaaten stand. Auch für den Bereich der Schule sind Sprachfördermaßnahmen zu einem integralen Bestandteil integrationspolitischer Programme und Empfehlungen geworden, die 2002 erstmals von Seiten der KMK (vgl. 2002) und 2007 von der Bundesregierung veröffentlicht wurden. Diese Maßnahmen können allerdings auch als Reaktion auf die in den sog. PISA-Vergleichsstudien zu Beginn der 2000er Jahre zu Tage getretene Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationsgeschichte verstanden werden. Die Studien legten offen, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, ‚Migrationshintergrund‘ und Schulerfolg in keinem anderen OECD-Land so ausgeprägt war wie in Deutschland (vgl. Artelt et al. 2001). Dies löste eine intensive Debatte über Selektionsprozesse im deutschen Schulsystem aus, die sich häufig mit Integrationsfragen in Bezug auf Schüler/innen ‚mit Migrationshintergrund‘ vermischte. Ein geringerer schulischer Erfolg wurde in diesem Zusammenhang häufig über eine vermeintlich ‚herkunftsbedingte Bildungsferne‘ erklärt (vgl. ‚Sarrazin-Debatte‘ im Jahr 2010), während in das Schulsystem eingeschriebene Diskriminierungsmechanismen in der Debatte häufig außen vor blieben (vgl. Gomolla & Radtke 2009). In diesem Zusammenhang spielte auch das erlassene „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“ eine wichtige Rolle, mit dem Benachteiligungen u.a. aus rassistischen Gründen bzw. Diskriminierungen aufgrund der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung „verhindert und beseitigt“ werden sollten (vgl. BMJV 2006). Damit wurde auch für den Bereich der Schule erstmals ein Verbot von rassistischem und diskriminierendem Verhalten gesetzlich verankert und Betroffenen besondere Klagerechte eingeräumt. Allerdings wurde das Diskriminierungsverbot noch nicht in alle Landesschulgesetze aufgenommen. Eine Sonderrolle nehmen insbesondere seit dem 11. September 2001 muslimische Schüler/ innen ein. Die seitdem verstärkt unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten geführte Debatte hat dazu geführt, dass in der pädagogischen Diskussion neben dem Thema ‚Sprache‘ auch das Thema ‚Religion‘ bedeutsam geworden ist (vgl. Mecheril 2010, S. 58). So wurde insbesondere der islamische Religionsunterricht an deutschen Schulen ausgebaut und die Ausbildung islamischer Religionslehrer/innen forciert. Allerdings ist in den letzten Jahren die Integrationspolitik der Bundesrepublik Deutschland zunehmend in die Kritik geraten. Diese äußert sich darin, dass ‚Integration‘ nach wie vor primär als Anpassungsleistung verstanden wird, die von ‚den Migrant/innen‘ erbracht werden muss, während Strategien zur Bewältigung struktureller Hürden und Ausschlüsse auf dem Arbeitsmarkt, in Politik, Verwaltung und Bildung ins Hintertreffen geraten. Insbesondere auf schulischer Ebene wird deshalb vermehrt ein breites gesellschaftliches Umdenken in Richtung einer inklusiven Bildung gefordert, die bei der Anerkennung der Teilhaberechte aller ansetzt (vgl. KMK 2013). Literatur
Artelt, Cordula; Baumert, Jürgen; Klieme, Eckhard; Neubrand, Michael; Prenzel, Manfred; Schiefele, Ulrich; Schneider, Wolfgang; Schümer, Gundel; Stanat, Petra; Tilmann, Klaus-Jürgen & Weiß, Manfred (Hg.) (2001): PISA 2000. Zusammenfassung zentraler Befunde. Berlin. – Butterwegge, Carolin (2004): Von der „Gastarbeiter“Anwerbung zum Zuwanderungsgesetz. Migrationsgeschehen und Zuwanderungspolitik in der Bundesrepublik. In: Bade, Klaus J. & Oltmer, Jochen (Hg.): Normalfall Migration. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 127-132. – Bundesministerium des Innern (BMI) (2001): Zuwanderung gestalten. Integration fördern. Bericht der Unabhängigen Kommission „Zuwanderung“, 4. Juli 2001. Berlin. – Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV ) (2006): Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG). 14.08.2006. – Bundesregierung
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Ellen Kollender und Uwe Hunger
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Einwanderungspolitik und Integrationspolitik
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49 Einwanderungspolitik und Integrationspolitik im internationalen Vergleich Sabine Klotz
Migration ist ein globales Phänomen. Eine internationale Perspektive auf Migration und ihre Folgen ermöglicht ein verbessertes Verständnis der verschiedenen Einwanderungspolitiken und der globalen Zuwanderungstrends. Im Jahr 2015 waren laut UNHCR weltweit 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht aufgrund von Verfolgung, Konflikten, allgemeiner Gewalt oder Menschenrechtsverletzungen. 86% davon stammen aus Entwicklungsregionen und 26% des weltweiten Flüchtlingsstroms werden von den am wenigsten entwickelten Ländern getragen (UNHCR 2016, S. 2). Die Europäische Union hingegen hatte im Jahr 2015 insgesamt rund 1,2 Millionen Asylsuchende zu verzeichnen (EUROSTAT 2016, S. 1). Flucht ist aber nur eine Form von Migration. Menschen migrieren auch aus anderen Gründen, z.B. zum Zwecke der Erwerbstätigkeit (Arbeitsmigration). Die klassischen Einwanderungsländer wie Kanada und die USA weisen dabei eine Zuwanderungsquote von 7,4 (Kanada) und 2,3 (USA) Zuwanderern netto pro 1.000 Einwohner auf, so der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2015, S. 27ff). Politische Steuerung und Gestaltung dieser vielfältigen Zuwanderungsformen erfolgen durch die Einwanderungs- und die Integrationspolitik. Bei einem Blick auf die regionale, nationalstaatliche und internationale Ebene wird sichtbar, dass diese beiden Politikfelder entweder sehr unterschiedlich oder rudimentär bzw. gar nicht gestaltet werden. Auf internationaler Ebene gibt es zum einen Staaten (wie z.B. die EU-Mitgliedstaaten und Kanada) mit einer umfassenden Einwanderungspolitik, die die verschiedenen Zuwanderungsformen auf unterschiedliche Art und Weise zu steuern versuchen und darin auch Gemeinsamkeiten aufweisen. Auf der anderen Seite existieren in Ländern in Entwicklungsregionen nur „rudimentäre“ einwanderungspolitische Steuerungsinstrumente. Das hängt damit zusammen, dass diese Länder so viele Flüchtlinge aufnehmen, dass die Anzahl die Gestaltung einer Zuwanderungspolitik stark beeinträchtigt bis unmöglich macht. Zum Beispiel verzeichnet das UNHCR im Libanon 1,1 Millionen Flüchtlinge bei einer Bevölkerungszahl von rund 4,8 Millionen registrierten Einwohnern (2016, S. 2). In dem vorliegenden Artikel wird der internationale Vergleich exemplarisch anhand eines Überblicks über die Einwanderungs- und Integrationspolitik Kanadas und der Europäischen Union gezogen. Die Auswahl beider Fälle ist insofern relevant, da die kanadische Gestaltung der Arbeitsmigration – insbesondere das Punktesystem – in den europäischen Einwanderungsdebatten als ein Vorbild dient. Auf der anderen Seite orientiert sich Kanada an der Europäischen Union und führt europäische Elemente in die kanadische Flüchtlings- und Asylpolitik ein, wie z.B. das Konzept der sicheren Dritt- und Herkunftsstaaten.
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Seit dem Beginn der Vergemeinschaftung durch den Amsterdamer Vertrag (1999) zeigt sich eine zunehmende gemeinsame Politik in den Bereichen Inneres und Justiz. Arbeitsmigration und Integrationspolitik bleiben – auch nach dem Vertrag von Lissabon (2009) – hingegen nationalstaatliche Kompetenz. Nicht alle Bereiche der Einwanderungs- und Integrationspolitik weisen demnach den gleichen Grad an Harmonisierung auf. Gemeinsame Politiken und deren Entstehung sind u.a. von nationalstaatlichen (Souveränitäts-)Interessen und einer gewissen Interessenkongruenz abhängig (Bendel 2011, S. 189ff). Dies offenbart sich u.a. auch in der sog. „Flüchtlingskrise“, dem starken Anstieg der Zahl Schutzsuchender in der Europäischen Union und den damit verbundenen Entwicklungen seit 2015. Richtungsweisend ist hier die Europäische Migrationsagenda der Europäischen Kommission, die im Mai 2015 in Reaktion auf den Anstieg der Zahl Schutzsuchender und für eine mittel- und langfristig bessere Steuerung der Migration vorgelegt wurde (Europäische Kommission 2015b). Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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1 Die Europäische Union
1.1 Asyl – Ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) Die Etablierung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) lässt sich in zwei Phasen einteilen. In der ersten Phase (1999-2005) erfolgte die Festlegung gemeinsamer Standards für das Verfahren (Asylverfahrensrichtlinie), die Aufnahme (Aufnahmerichtlinie), die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. des subsidiären Schutzstatus (Qualifikationsrichtlinie) und die Regelung der Zuständigkeit des Asylverfahrens (Dublin-Verordnung) sowie die Einrichtung einer computergestützten Datenbank für Fingerabdrücke zur Identifizierung von Asylsuchenden (EURODAC). Insgesamt wurden hierbei lediglich Mindestnormen eher restriktiver Natur festgelegt – wie z.B. das Konzept der sicheren Dritt- und Herkunftsstaaten. Die gemeinsamen Regelungen wurden in den Mitgliedstaaten unterschiedlich implementiert, was in stark schwankenden Anerkennungsquoten bei Asylanträgen in den verschiedenen Mitgliedstaaten sichtbar wurde („Schutzlotterie“) (vgl. Bendel 2013, S. 4ff). In der zweiten Phase (2005-2013) sollte dann die gemeinsame Gesetzgebung stärker angeglichen sowie höhere Schutzstandards und ein solidarisches System geschaffen werden (ebd., S. 5ff). Folglich wurden die bestehenden Richtlinien und Verordnungen neu verhandelt und bis zum Jahr 2013 verabschiedet. Positiv zu bewerten ist hierbei z.B. die Angleichung der Rechte von subsidiär Geschützten an die Rechte der Flüchtlinge (vgl. Münch 2013, S. 12). Kritisch zu bewerten ist hingegen die vage Formulierung der Inhaftierungsgründe in der Aufnahmerichtlinie (vgl. Hager 2013, S. 19ff). Trotz der positiven Änderungen bleibt das GEAS insgesamt weit hinter seinen Erwartungen zurück. Zudem kann aufgrund der vielen optionalen Regelungen und Ausnahmetatbestände nicht von einer stärkeren Harmonisierung der gemeinsamen Flüchtlings- und Asylpolitik ausgegangen werden (vgl. Vilmar 2013, S. 28). In Reaktion auf den Anstieg der Schutzsuchenden wurden 2015 zahlreiche Maßnahmen durch die Europäische Kommission auf den Weg gebracht z.B. der (Notfall-)Umsiedlungsmechanismus zur Entlastung der Mitgliedstaaten mit einem hohen Migrationsdruck (Council of the European Union 2015b, 2015a) und ein Neuansiedlungsprogramm (Europäische Kommission 2016c) sowie das Hotspot-Konzept zur Steuerung der „außergewöhnlichen“ Migrationsströme (Europäische Kommission 2015a). Zudem brachte die Kommission weitere Gesetzesinitiativen auf den Weg: eine verstärkte Sicherung der Außengrenzen, z.B. durch die Einrichtung eines
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europäischen Grenz- und Küstenschutzes (Europäische Kommission 2016a), eine stärkere Harmonisierung des GEAS u.a. mit der Dublin-Reform (European Commission 2016b) sowie eine verstärkte Zusammenarbeit mit Drittstaaten z.B. die EU-Türkei-Vereinbarung vom 18. März 2016. Die derzeitige Situation offenbart „erhebliche strukturelle Schwächen und Mängel“ (Europäische Kommission 2015b, S. 3) der gemeinsamen Standards und Regelungen sowie eine „Krise der Solidarität“ der Mitgliedstaaten. Die nationalen Alleingänge (z.B. durchgeführte Grenzschließungen in Ungarn und Österreich) und konfligierende Interessen der Mitgliedstaaten erschweren eine Einigung auf einen kohärenten europäischen Ansatz zur Steuerung der Migration. So klagt z.B. Ungarn vor dem Europäischen Gerichtshof gegen den vom Rat der Europäischen Union beschlossenen Umsiedlungsmechanismus (Bendiek & Neyer 2016). Auch wird die bestehende Situation für die Asylsuchenden in den Mitgliedstaaten (z.B. Griechenland) – insbesondere die unzureichende Versorgung und die Aufnahmebedingungen – kritisch bewertet (Amnesty International 2016). Zudem werden Maßnahmen – wie z.B. die EU-Türkei-Vereinbarung und die Umsetzung des Hotspot-Konzepts – als problematisch bzw. als nicht vereinbar mit bestehenden menschen- und flüchtlingsrechtlichen Verpflichtungen eingestuft (Deutsches Institut für Menschenrechte 2016; Markard und Heuser 2016) Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Einwanderungspolitik und Integrationspolitik
1.2 Arbeitsmigration – Nationale Souveränitätsansprüche Seit 1999 zeigt sich das Bestreben, die Arbeitsmigration der Drittstaatsangehörigen zu harmonisieren. Dabei stieß sie zumeist auf Vorbehalte der Mitgliedstaaten, die u.a. auf eine fehlende gemeinsame Arbeitsmarktpolitik verweisen. Dennoch unternahm die Kommission im Jahr 2001 einen ersten Versuch, die Arbeitsmigration durch eine Richtlinie umfassend zu regulieren. Dies scheiterte jedoch am Widerstand der Mitgliedstaaten. Im Zuge dessen wurden einzelne Richtlinien zu verschiedenen Personengruppen (z.B. Forscher/innen und Saisonarbeiter/innen) verabschiedet (vgl. Bendel 2011, S. 198ff). Mit der Blue Card versuchte die Kommission, durch die Erarbeitung gemeinsamer Standards, einen Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt für (hochqualifizierte) Drittstaatsangehörige zu schaffen, um weltweit im Wettbewerb um die „besten Köpfe“ konkurrieren zu können. Die verabschiedete Richtlinie im Jahr 2009 scheiterte am Widerstand der Mitgliedstaaten: Zwar erachten die Mitgliedstaaten die Anwerbung von Hochqualifizierten als notwendig, nur sind sie dafür nicht bereit, eine einheitliche gemeinsame europäische Politik zu akzeptieren (vgl. Cerna 2014, S. 80). Arbeitsmigration bleibt damit nationalstaatliche Kompetenz (vgl. Angenendt & Parkes 2010, S. 1-4). Neben der geplanten Neuauflage der Blue Card – ein entsprechender Gesetzesvorschlag liegt vor (Europäische Kommission 2016b) – werden in der Europäischen Migrationsagenda verschiedene Maßnahmen aufgeführt. Dabei wird die Notwendigkeit eines klaren gemeinsamen Systems betont, um damit die Attraktivität Europas für (hochqualifizierte) Zuwanderer/innen zu erhalten (Europäische Kommission 2015b, S. 17-19). 1.3 Integrationspolitik – kein kohärentes europäisches Konzept In der Integrationspolitik liegt die Hauptzuständigkeit bei den Mitgliedstaaten. Demnach ist die Kompetenz der EU in diesem Bereich begrenzt – auch wenn die EU an Einfluss gewonnen hat. Bereits schon das Tampere-Programm (1999) sah vor, die Integration von Drittstaatsangehörigen zu fördern. Auf europäischer Ebene hat sich ein Verständnis von Integration als ein wechselseitiger Prozess herausgebildet – d.h. einerseits die wirtschaftliche, soziokulturelle und
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politische Teilhabe der Zuwanderer/innen und anderseits die Akzeptanz der bestehenden Werte und Normen der jeweiligen Aufnahmegesellschaft durch die Zuwanderer/innen. Es wurden seit 1999 eine ganze Reihe an integrationsrelevanten Richtlinien (z.B. Antirassismusrichtlinie) verabschiedet sowie mehrere (rechtlich nicht-bindende) unterstützende Mechanismen und Instrumente zur Förderung der Integration entworfen, wie z.B. die Gemeinsamen Grundprinzipien für Integration vom Rat für Justiz und Inneres. Die bisherigen Richtlinien werden als restriktiv eingestuft und dafür kritisiert, dass sie weder die Integration der Drittstaatsangehörigen, noch eine gemeinsame Integrationspolitik in ausreichendem Maße gefördert hätten (vgl. Bendel & Haase 2008). Insgesamt zeigt sich, dass die Gestaltung der Integrationspolitik in den einzelnen Mitgliedstaaten recht unterschiedlich ausfällt. Ein einheitliches kohärentes EU-Konzept der Integration hat sich bislang nicht herausgebildet, auch wenn sich eine zunehmende Koordination bis hin zu einer Kohärenz unter den Mitgliedstaaten durch die EU-Initiativen abzeichnet (vgl. Bendel 2010, S. 7ff). In der neuen Europäischen Migrationsagenda wird betont, dass zwar die Zuständigkeit bei den Mitgliedstaaten liege, die Europäische Union aber durch Maßnahmen in diesem Bereich unterstützend agieren könne (Europäische Kommission 2015b, S. 19). So stellt der Aktionsplan zur Integration Drittstaatsangehöriger einen umfassenden Rahmen dar, der die Mitgliedstaaten durch die Benennung konkreter Maßnahmen bei der Entwicklung und Stärkung der Integrationspolitik unterstützt (European Commission 2016a).
2 Einwanderungspolitik und Integrationspolitik in Kanada 2.1 Das neue kanadische Asylsystem Der zentrale Rechtsakt, der maßgeblich die Einwanderungs- und Integrationspolitik Kanadas gestaltet, ist der Immigration and Refugee Protection Act (2002). Das kanadische Asylsystem basiert auf zwei Schutzformen: Inland Protection (dieselben Formen des Schutzes wie das GEAS) und Overseas Protection (vor allem Resettlement- und Neuansiedlungsprogramme). Lange wurde die Asylpolitik Kanadas als liberal eingestuft mit einer zugrundeliegenden positiven Grundeinstellung zu Zuwanderung in der Gesellschaft und u.a. einer weiten Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) (Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration 2015, S. 61-62) – d.h. Kanada hat mit 40 bis 50% eine der höchsten GFK-Anerkennungsquoten unter den Industriestaaten (vgl. Soennecken 2014, S. 110). Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 orientiert sich Kanada zunehmend stärker an restriktiven Prinzipien, die u.a. auch im neuen Asylsystem sichtbar werden (Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration 2015, S. 61). Im Jahr 2012 implementierte Kanada ein neues Asylsystem (Balanced Refugee Reform Act (2010) und Protecting Canada‘s Immigration System Act (2012) mit den Zielen, das Asylverfahren zu beschleunigen und einem Systemmissbrauch entgegenzuwirken. Damit wurde z.B. die Asylverfahrensdauer verkürzt. Des Weiteren wurde eine Liste sicherer Herkunftsstaaten (Designated Countries of Orgin (DCO) erstellt und neue Regelungen für den (Tat-)Bestand der irregulären Einreise (Government of Canada 2013) getroffen. Das neue System wird insgesamt eher kritisch bewertet. Die Kritik richtet sich z.B. gegen die obligatorische Inhaftierung irregulärer Einwanderer ab dem Lebensalter von 16 Jahren. Die Inhaftierung gefährde nicht nur die Gesundheit – insbesondere die psychische (Wales 2013, S. 609) – sondern sei auch mit der Canada Charter of Rights and Freedom und der UN-Kinderrechtskonvention unvereinbar. Ähnlich wie beim EU-Konzept der sicheren Herkunfts- und
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Drittstaaten wird beim DCO ebenfalls befürchtet, dass die verkürzten Verfahren und die pauschale Einstufung eines Landes als „sicher“ dazu führen könnten, dass individuelle Fluchtgründe nur unzureichend vorgebracht werden könnten und Flüchtlinge in Länder abgeschoben würden, in denen ihnen kein ausreichender Schutz gewährt werden würde (vgl. Alboim & Cohl 2012, S. 609ff).
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2.2 Arbeitsmigration – Erfolgsmodell Punktesystem? Kanada gilt mit seinem Punktesystem als Vorbild im Wettbewerb um die „besten Köpfe“. Es galt lange als klassisches Modell der humankapitalorientierten Zuwanderungssteuerung, das primär auf langfristige Einwanderung von Arbeitskräften ausgelegt ist und die Auswahl der Zuwanderer nach dem größtmöglichen ökonomischen Nutzen für die eigene Volkswirtschaft ausrichtet. Seit 2008 ist allerdings eine Abkehr von einer „rein“ humankapitalorientierten Ausrichtung zu beobachten (Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2012, S. 35ff). Die Auswahl nach dem Punktesystem erfolgte nach den allgemeinen Fähigkeiten und Erfahrungen der Zuwanderer/innen, die unterschiedlich gewichtet werden. Punktetechnisch präferiert werden dabei die Kategorien „Sprache“ (20 Maximalpunkte) und „Bildung“ (28 Maximalpunkte). Neben dem Punktesystem existieren noch weitere Zuwanderungskanäle wie z.B. das Provincal Nomination Program (PNP), bei dem die Auswahl der Zuwanderer/innen über die eigenen Kriterien der Provinzen erfolgt, und das Temporary Foreign Worker Program (TFWP), das sich an einem sehr kurzfristigen Arbeitskräftebedarf in bestimmten Regionen bzw. Sektoren (z.B. Saisonarbeiter/innen) orientiert. In den letzten Jahren ist die kanadische Einwanderungspolitik mit Problemen und Herausforderungen konfrontiert, wie z.B. eine hohe Arbeitslosenquote unter den Zuwanderer/innen, ein sogenannter brain waste, d.h. die Zuwanderer/innen arbeiten unter ihrer eigentlichen beruflichen Qualifikation (vgl. Thränhardt 2014, S. 4). In Reaktion darauf erfolgte eine Reihe von Reformen und Initiativen, die die Politik zunehmend nach den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes ausrichtete. Im Jahr 2008 wurde dem Punktesystem eine Zulassungsbeschränkung vorgeschaltet. Es können sich demnach nur Personen für das Punktesystem qualifizieren, die eine Qualifikation in einem der 29 Mangelberufe (z.B. Handwerksberufe) vorweisen können, Personen mit einem konkreten Arbeitsplatzangebot oder Personen mit einem abgeschlossenen kanadischen Promotionsstudium. Die Reform des Punktesystems zeigt eine leichte Abkehr von der humankapitalorientierten Steuerung, da der Zugang über Arbeitsvertrags- bzw. Steuerungsinstrumente quasi vorreguliert wird (Sachverständigenrat 2015, S. 36). Insgesamt weist Kanada heute ein migrationspolitisches Mischsystem auf, das auf der einen Seite den langfristigen Arbeitskräftebedarf an Hochqualifizierten über das Punktesystem steuert und auf der anderen Seite auch auf akute Engpässe am Arbeitsmarkt durch Programme reagiert wie das Beispiel der gezielten Anwerbung von Pflegekräften im Rahmen Live-in Caregiver Program zeigt (Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2012, S. 35ff). 2.3 Integrationspolitik – Konzept des Multikulturalismus Der kanadischen Integrationspolitik liegt das Konzept des Multikulturalismus zu Grunde. Das Konzept wird insbesondere im sog. Ethnic Mosaic deutlich: Darin stellt jeder Einzelne ein wertvolles Steinchen für das Gesamtbild einer bunten und multikulturellen Gesellschaft dar (Geißler 2013, S. 19). Ergänzend dazu erfreuen sich neuere Konzepte von Diversity und Diversity
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3 Schlussfolgerungen
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Management in stadtpolitischen Debatten einer zunehmenden Beliebtheit. Diesem Verständnis folgend ist eine Vielzahl an Initiativen und Programmen auf verschiedenen Ebenen (Bund, Provinzen und Städte) entstanden, die unter dem Namen Settlement Services zusammengefasst werden können (Allahwala 2008, S. 6). Die Settlement Services sollen die Integration für neue Zuwanderer/innen vor Ort und auch schon vor der Einreise erleichtern. Flankiert wird dies über Settlement Organizations, die integrationsspezifische soziale Dienstleistungen (z.B. Unterstützung bei der Arbeitssuche) und Programme anbieten, an denen verschiedene Netzwerkpartner beteiligt sind wie z.B. das Canadian Immigrant Integration Program, das den potentiellen Zuwanderer/innen vor der Einreise Orientierungs- und Informationshilfe bietet. Eines der zentralen Merkmale der Einwanderungspolitik ist die enge Verbindung zwischen der Steuerung der Arbeitsmigration und der Integrationspolitik. Eine erfolgreiche Integration wird demnach an der Eingliederung in den Arbeitsmarkt gemessen (vgl. Ugland 2014, S. 6).
Aus dem Vergleich der beiden Fälle Kanada und Europäische Union lassen sich u.a. folgende Schlussfolgerungen ziehen: In der Asylpolitik zeigt sich ein doppelter und zeitlich versetzter Konvergenzprozess. Es ist eine sukzessive Erweiterung des Schutzanspruches in Europa erkennbar, wofür Kanada als Orientierungspunkt herangezogen werden kann. Auf der anderen Seite orientiert sich Kanada in seiner restriktiven Ausrichtung der Asylpolitik zunehmend an der Europäischen Union. Ein wesentlicher Unterschied ist auch eine steigende Aufnahmezahl von Flüchtlingen über ResettlementVerfahren in Kanada im Vergleich zur Europäischen Union. Dies lässt sich u.a. durch die unterschiedliche geografische Lage beider Vergleichsgebiete erklären (Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration 2015, S. 66). Mit Blick auf die Einwanderungspolitik zeigt sich, dass Kanada – trotz der Herausforderungen – im Vergleich mit der Europäischen Union für Zuwanderer/innen attraktiver ist. Die Intention, mit der Blue Card gemeinsame Regelungen zu schaffen, scheiterte bisher am Widerstand der Mitgliedstaaten, so dass jeder einzelne EU-Mitgliedstaat mit den klassischen Einwanderungsländern wie Kanada und den USA konkurriert, anstatt sich als gemeinsamer europäischer Arbeitsmarkt zu präsentieren. Im Bereich der Integrationspolitik liegt der Unterschied im Selbstverständnis von Kanada und der Europäischen Union (Multikulturalismus vs. Integration als ein wechselseitiger Prozess). Insgesamt kann der internationale Vergleich der Einwanderungs- und Integrationspolitik nicht nur als Grundlage zur Generierung von Hypothesen über das Phänomen Einwanderung und Integration und deren Politikgestaltung, sondern auch im Bereich der Politikberatung angewandt werden. Literatur
Alboim, Naomi & Cohl, Karen (2012): Shaping the future: Canada‘s rapidly changing immigration policies. Maytree. Online verfügbar unter http://maytree.com/policy-and-insights/publications/shaping-the-future-canadas-rapidly-changing-immigration-policies.html [05.08.2015]. – Allahwala, Ahmed (2008): Politik der Vielfalt in Toronto. In: Heinrich Böll Stiftung, Politics of Diversity. Dossier, S. 6-8. Online verfügbar unter https://heimatkunde. boell.de/sites/default/files/dossier_politics_of_diversity.pdf [05.08.2015]. – Amnesty International (2016): Trapped in Greece. A Avoidable Refugee Crisis. London: Amnesty International Publications. – Angenendt, Steffen & Parkes, Roderick (2010): Blue Card – (noch) kein Erfolg? Perspektiven der EU-Migrationspolitik für Hochqualifizierte. In: SWP-Aktuell 34, S. 1-4. – Bendel, Petra (2010): Integrationspolitik der Europäischen Union. FES WISO Diskurs. Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts-und Sozialpolitik. Bonn. – Bendel, Petra (2011): Wohin bewegt sich die europäische Einwanderungspolitik? Perspektiven nach dem Lissabon-Vertrag und dem Stock-
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Einwanderungspolitik und Integrationspolitik
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holm-Programm. In: Manfred E. Streit (Hg.): Quo vadis Europa? Beiträge zur europäischen Integrationspolitik. 1. Aufl. Baden-Baden: Nomos, S. 189-204. – Bendel, Petra (2013): Nach Lampedusa: das neue Gemeinsame Europäische Asylsystem auf dem Prüfstand. Studie im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der FriedrichEbert-Stiftung. Bonn. – Bendel, Petra & Haase, Marianne (2008): Integrationspolitik der Europäischen Union. Bpb. Online verfügbar unter http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration/56571/integrationspolitik-der-eu?p=all [05.08.2015]. – Bendiek, Annegret & Neyer, Jürgen (2016): Europäische Solidarität - die Flüchtlingskrise als Realitätstest. In: SWP-Aktuell 20, S. 1-4. – Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2012): Nach Punkten vorn. Was Deutschland von der Zuwanderungs- und Integrationspolitik Kanadas lernen kann. 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Straßburg, den 7.6.2016. – Europäische Kommission (2016c): Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Neuansiedlungsrahmens der Union und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 516/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates. COM(2016) 468 final. Brüssel, den 13.7.2016. – European Commission (2016a): Communication from the Commission to the European Parliament, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions. Action Plan on the Integration of Third Country Nationals. COM(2016) 377 final. Brussels, 7.6.2016. – European Commission (2016b): The Common European Asylum System (CEAS). Online verfügbar unter http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/what-we-do/policies/european-agenda-migration/backgroundinformation/docs/20160713/factsheet_the_common_european_asylum_system_en.pdf [14.11.2016]. – EUROSTAT (2016): EUROSTAT Pressemitteilung 44/2016. Asyl in den EU-Mitgliedstaaten. 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Online verfügbar unter https://www.jura.uni-hamburg.de/media/ueber-die-fakultaet/personen/ markard-nora/markard-heuser-hotspots-2016.pdf [14.11.2016]. – Münch, Berthold (2013): Zur Änderung der Qualifikationsrichtlinie. In: Asylmagazin 7-8, S. 7-12. – Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2015): Unter Einwanderungsländern: Deutschland im internationalen Vergleich. Jahresgutachten 2015, Online verfügbar unter: https://www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2015/07/SVR_JG_2015_WEB.
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Peter Becker
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pdf [03.03.2017]. – Soennecken, Dagmar (2014): Shifting Up and Back. The European Turn in Canadian Refugee Policy. In: Comparative Migration Studies 2 (1), S. 101-122. – Thränhardt, Dietrich (2014): Steps toward Universalism in Immigration Policies: Canada and Germany. RCIS (Working Paper No. 2014/2). Online verfügbar unter http://w w w.ryerson.ca/content/dam/rcis/documents/ RCIS_W P_Thraenhardt_No_2014_2%281%29.pdf [05.08.2015]. – Ugland, Trygve (2014): Canada as an Inspirational Model. Reforming Scandinavian Immigration and Integration Policies. In: Nordic Journal of Migration Research 4 (3), S. 144-152. – UNHCR (2016): UNHCR Global Trends. Forced Displacement in 2015. Online verfügbar unter http://www.unhcr.org/576408cd7.pdf [14.11.2016]. – Vilmar, Franziska (2013): Die Neufassung der Asylverfahrensrichtlinie. In: Asylmagazin 7-8, S. 21-28. – Wales, Josuah (2013): No Longer a Place of Refugee. Health Consequences of Mandatory Detention for Refugees. In: Canadian Family Physician 59 (6), S. 609-611.
50 Bildungspolitik der Europäischen Union Peter Becker
Die Europäische Union „trägt zur Entwicklung einer qualitativ hoch stehenden Bildung dadurch bei, dass sie die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten fördert (...)“. Zugleich verpflichtet sie sich, „die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungssystems sowie die Vielfalt ihrer Kulturen und Sprachen (...)“ (Art. 165, Abs. 1 AEUV) strikt zu beachten. Mit der Aufnahme der Europäischen Grundrechtecharta in den Vertrag von Lissabon wurde 2009 darüber hinaus erstmals ein europäisches Grundrecht auf Bildung postuliert. In Artikel 14 der Grundrechtecharta wird das Recht auf Bildung, der Zugang zur beruflichen Bildung und Weiterbildung sowie zu einem unentgeltlichen Pflichtschulunterricht festgeschrieben. Grundsätzlich gehört die Bildungspolitik der EU aber noch immer zu denjenigen Politikbereichen, bei denen die Handlungs- und Entscheidungskompetenzen bei den Mitgliedstaaten der EU liegen. Die EU selbst verfügt lediglich über ergänzende Zuständigkeiten und übernimmt eine Koordinierungs- und Unterstützungsfunktion. Eine Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten ist explizit ausgeschlossen. Trotz dieser begrenzten bildungspolitischen Zuständigkeiten der Europäischen Union hat sich seit den 1960er Jahren die Bildungspolitik zu einem dynamischen Feld der europäischen Politik mit „expansionistischer Natur“ (Walkenhorst 2008, S. 573) entwickelt. Heute umfasst die europäische Bildungspolitik das gesamte Spektrum der Bildungspolitik – von der Vorschulbildung bis hin zur universitären Bildung – und folgt der Leitidee des lebenslangen Lernens und des Aufbaus einer europäischen Wissensgesellschaft.
1 Etappen der europäischen Bildungspolitik Die Entwicklung der europäischen Bildungspolitik kann grob in vier Etappen eingeteilt werden:
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Erste bildungspolitische Schritte (1951-1973): Die Wurzeln der europäischen Bildungspolitik liegen im Vertrag der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) von 1951 und dem Vertrag zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag) aus dem Jahr 1957. Ziel dieser ersten Schritte war die Erleichterung der Niederlassungsfreiheit und der Arbeitnehmerfreizügigkeit im europäischen Binnenmarkt. Der EGKS-Vertrag sah als erste bildungspolitische Kompetenzübertragung die Möglichkeit zur Finanzierung von Umschulungsmaßnahmen vor. Der EWG-Vertrag erweiterte diese bildungspolitische Rumpfzuständigkeit um allgemeine Grundsätze zur Durchführung einer gemeinsamen Berufsbildungspolitik, „die zu einer harmonischen Entwicklung sowohl der einzelnen Volkswirtschaften als auch des Gemeinsamen Marktes beitragen kann“ (Art. 128, EWG-V). Hinzu kam die Zuständigkeit für den Erlass von Richtlinien zur gegenseitigen Anerkennung von Diplomen und Zeugnissen. Erste weiterreichende bildungspolitische Ziele und Vorhaben wurden dann im April 1963 verabschiedet.
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Bildungspolitik der Europäischen Union
Erste Bildungsprogramme (1973-1992): Diese bildungspolitischen Grundsätze wurden 1976 weiter konkretisiert. Die Mitgliedstaaten verständigten sich auf eine gemeinschaftliche Zusammenarbeit im Bildungsbereich und legten den Grundstein für ein erstes Aktionsprogramm, in dem sechs Maßnahmen mit insgesamt 22 Aktionen zusammengestellt wurden. Das Programm sollte die Entwicklung der Bildungspolitik bis in die 1990er Jahre prägen. Es reichte von einer intensivierten bildungspolitischen Zusammenarbeit bis zu europäischen Maßnahmen zur Förderung des Fremdsprachenunterrichts und der Chancengleichheit beim Zugang zu Bildungseinrichtungen. Mit diesem Programm wurde die Bildungspolitik nicht mehr nur als Teil der wirtschaftlichen Integration und des Binnenmarkts wahrgenommen, sondern zugleich als eine Quelle der sozialen Entwicklung, des gesellschaftlichen Fortschritts und der Kultur in Europa. Bildungspolitik wurde als eigenständiger Politikbereich der europäischen Politik etabliert und die Bedeutung der Bildung als kultureller und gesellschaftlicher Faktor in Europa anerkannt. Aber es war auch der zunehmende ökonomische Druck, der eine Erweiterung der bildungspolitischen Maßnahmen der Gemeinschaft und ein neues Verhältnis von allgemeiner und beruflicher Bildung notwendig machte (Ertl 2006, S. 8). Vertragliche Verankerung (1992-2000): Mit dem Vertrag von Maastricht wurde 1992 zum ersten Mal die europäische Bildungspolitik im europäischen Vertragsrecht verankert. Zwar behielten die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeiten im Bildungsbereich; der EU wurde jedoch eine Unterstützungsfunktion übertragen. In der Folge konkretisierte die EU-Kommission die neuen vertraglichen Bestimmungen und versuchte die europäische Bildungspolitik für die Entwicklung eines europäischen Staatsbürgerschaftsbewusstseins zu nutzen. Seit Ende der 1980er Jahre förderte sie deshalb mit Austauschprogrammen und Fremdsprachenförderung auch die Vermittlung des Wissens über den europäischen Integrationsprozess. Europäische Bildungsprogramme sollten nicht nur als Instrument zur Verbesserung der Bildungsqualität und der Beschäftigungschancen verstanden werden, sondern auch zur beruflichen und sozialen Eingliederung sowie zur Schaffung eines „Europas der Bürger“ und einer europäischen Identität genutzt werden (Theiler 1999, S. 324). Die Ökonomisierung der Bildungspolitik (2000-heute): Zu Beginn des neuen Jahrtausends wurde die europäische Bildungspolitik stärker ökonomischen Erwägungen untergeordnet und in den Dienst der Wettbewerbsfähigkeit und des wirtschaftlichen Erfolgs Europas gestellt. Die EU hatte sich im März 2000 das Ziel gesetzt, bis zum
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Peter Becker
2 Triebkräfte und Instrumente der europäischen Bildungspolitik
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Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu werden. Den europäischen Initiativen und Maßnahmen im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung wuchs eine entscheidende Rolle für die erfolgreiche Entwicklung einer wissensbasierten Wirtschaft zu und die EU-Bildungspolitik wurde zum Instrument zur Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und zur Erhöhung der Beschäftigungsquoten in der EU. Im Kontext dieser Politik wurden detaillierte bildungspolitische Arbeitsprogramme mit strategischen Leitzielen und Unterzielen verabschiedet. Um die Fortschritte der Mitgliedstaaten überprüfen und messen zu können, wurden darüber hinaus europäische Benchmarks und eine Vielzahl von quantitativen Indikatoren vereinbart, wie die Schulabbrecher-Quote, der Anteil der jungen Menschen mit Hochschul- oder vergleichbarem Abschluss, die Förderung der frühkindlichen Bildung und Erziehung sowie der Förderung der Lesekompetenz oder der MINT-Fächer.
Bis zum Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages blieben die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof (EuGH) die maßgeblichen europäischen Triebkräfte auf dem Weg einer „schleichenden Vergemeinschaftung bildungspolitischer Zuständigkeiten“ (Martens/Wolf 2006, S. 153). Die ersten bildungspolitischen Initiativen gingen auf die Europäische Kommission zurück. Dabei spielten zwei entschieden pro-europäische Politiker eine wichtige Rolle: Kommissar Altiero Spinelli initiierte 1971 das erste Treffen der europäischen Bildungsminister und 1973 wurde unter Leitung des deutschen Kommissars Ralf Dahrendorf eine eigene Generaldirektion für Forschung, Wissenschaft und Bildung gegründet. Die Kommission versuchte ihre begrenzten Möglichkeiten zur europäischen Rechtssetzung stetig auf alle bildungspolitischen Bereichen auszuweiten, d.h. neben der beruflichen Bildung auch in der schulischen, der universitären und der Weiterbildung (Brunner 1979). Sie plädierte für eine starke europäische Dimension in der allgemeinen Bildung und wurde dabei vom Europäischen Parlament unterstützt und zu mehr Aktivität gedrängt. Auch der EuGH nutzte in seiner Rechtsprechung zur Bildungspolitik den Binnenmarktbezug und erweiterte die bildungspolitischen Zuständigkeiten sukzessive von der beruflichen Bildung auf die Hochschul- und die schulische Bildung. Um die Freizügigkeit von Arbeitnehmer/innen, Unternehmen und von Dienstleistungen im Binnenmarkt garantieren zu können, müssten wichtige bildungspolitische Voraussetzungen gewährleistet werden, wie der gleichberechtigte Zugang zu Schulen, Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen oder wichtige Bildungsdienstleistungen, wie die gegenseitige Anerkennung von Diplomen, Prüfungszeugnissen und anderen Befähigungsnachweisen, so die Rechtsprechung. Dennoch stehen der EU nur begrenzt legislative Instrumente zur Verfügung, wie bei der Anerkennung von Berufs- oder Hochschulabschlüssen. Ihre Maßnahmen konzentrieren sich deshalb auf die Unterstützung und Ergänzung der nationalen Politiken, auf den Informations- und Erfahrungsaustausch und insbesondere auf mehrjährige Aktionsprogramme. Seit 2007 sind beinahe sämtliche Bildungsprogramme der EU unter dem Dach des „Aktionsprogramms für lebenslanges Lernen“ zusammengefasst. Hierzu gehören die Programme zur Förderung der Mobilität im Bereich der Hochschulbildung über das Erasmus-Programm, im Bereich der beruflichen Bildung durch das Programm Leonardo da Vinci, im Bereich der Erwachsenenbildung durch das Grundtvig-Programm und für die schulische Bildung durch das Comenius-Programm. Das Rahmenprogramm umfasst zudem Maßnahmen im Bereich der Bildungsforschung und des Bildungsvergleichs, das Jean-Monnet-Programm für Lehre und Forschung über die europäische
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3 Fazit – Europäisierung und Ökonomisierung
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Integration, sowie Schwerpunktaktivitäten z.B. im Bereich Sprachen und Informations- und Kommunikationstechnologien. Daneben bestehen weiterhin Programme für die internationale bildungspolitische Zusammenarbeit der EU mit Drittstaaten, wie das Tempus-Programm oder das Erasmus Mundus-Programm. Die Fördermittel für die Programme steigen seit einigen Jahren an. Für den Zeitraum 2014-2020 sind rd. 15 Mrd. Euro für bildungspolitische Aktivitäten eingeplant. Die Umsetzung der Aktionsprogramme wird von europäischen Agenturen unterstützt, wie dem Europäischen Zentrum für die Förderung der Berufsbildung (CEDEFOP), der Exekutivagentur Bildung, Audiovisuelles und Kultur (EACEA) oder der Europäischen Stiftung für Berufsbildung (ETF). Hinzu kommen die Förderprogramme des Europäischen Sozialfonds (ESF) wie zum Beispiel zu Qualifizierung von arbeitslosen Jugendlichen oder Bildungsmaßnahmen zum Wiedereinstieg ins Berufsleben.
Die europäische Bildungspolitik hat sich im Verlauf ihrer Entwicklung von einem peripheren Politikbereich zu einer auch im EU-Haushalt ablesbaren Priorität entfaltet. Zunächst gestützt durch die Rechtsprechung des EuGH nutzte die Europäische Kommission die rechtlichen Unschärfen, um erste bildungspolitische Programme zu etablieren. Mit dem Drängen der Kommission und der Rechtsprechung des EuGH ist es zu einer schrittweisen Europäisierung der Bildungspolitik durch die „Hintertür“ der europäischen Entscheidungsprozesse gekommen. Heute eröffnet die ökonomische Ausrichtung der europäischen Bildungspolitik neue Spielräume. Die Bedeutung einer „wissenden“ und gut ausgebildeten Bevölkerung als wirtschaftspolitischer Standortfaktor und die Nutzung von „Humanressourcen“ im Kontext der Globalisierung verdrängte das Leitbild, eine europäische Identität durch europapolitische Bildung zu schaffen. Aus dem heutigen Blickwinkel sind die Schaffung eines gut funktionierenden „Wissensdreiecks“ aus Bildung, Forschung und Innovation und die Förderung des lebenslangen Lernens entscheidende Faktoren für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, von Wachstum und Beschäftigung. Diese Ökonomisierung der Bildungspolitik ist seither die eigentliche Triebfeder der fortgesetzten Europäisierung des Politikfeldes. Allerdings wird diese Tendenz zu einer rein an ökonomischen Kriterien orientierten Bildungspolitik zunehmend kritisiert (Bache 2006). Literatur
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Frank Gesemann
51 Kommunale Integrationspolitik Frank Gesemann
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1 Kommunale Integrationspolitik Für die soziale Integration von Migrant/innen kommt der lokalen Ebene eine Schlüsselbedeutung zu. In Städten und Gemeinden, Stadtvierteln und Quartieren erfolgt die Einbeziehung in die zentralen Funktionssysteme der Gesellschaft, in Arbeitsmarkt und Bildung. In der Nachbarschaft und im Wohnumfeld finden die alltäglichen Begegnungen von Alteingesessenen und Zuwander/innen statt. Hier werden die Grundlagen für Anerkennung, Vertrauen und sozialen Zusammenhalt gelegt, aber auch Konflikte z.B. um die Nutzung des öffentlichen Raumes ausgetragen. Chancen von Zuwanderung, Integrationserfolge, aber auch Barrieren und Folgen einer mangelnden Integration von Zugewanderten zeigen sich vor allem auf lokaler Ebene. Die Kommunen haben daher ein besonderes Interesse an einer gelingenden Integration von Menschen mit Migrationshintergrund. Die Neuausrichtung der Integrationspolitik von Bund und Ländern seit Mitte des letzten Jahrzehnts hat in Städten, Gemeinden und Landkreisen zu einer bemerkenswerten Aufwertung und (Re-) Vitalisierung der kommunalen Integrationspolitik beigetragen. Mit Dialogformaten und Strategiedokumenten wie Integrationsgipfeln, Deutsche Islam Konferenz (seit 2006), Nationaler Integrationsplan (2007) und Nationaler Aktionsplan Integration (2012) wird Integrationspolitik auf Bundesebene als Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern und Kommunen, Migrant/innen sowie einer Vielzahl zivilgesellschaftlicher Akteure präsentiert. Auf kommunaler Ebene wird dieser Prozess zeitgleich durch die kommunalen Spitzenverbände sowie (inter-) nationale Städtenetzwerke (Kommunaler Qualitätszirkel für Integrationspolitik, Europäisches Städtenetzwerk zur Integrationspolitik, Cities of Migration) mitgestaltet.
2 Integrationsanstrengungen von Städten, Gemeinden und Kreisen Viele Kommunen unternehmen seit Jahrzehnten erhebliche Anstrengungen zur Förderung der Integration von Zuwander/innen. Konkret setzt kommunale Integrationspolitik sehr unterschiedlich an und umfasst oft eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungsfelder. Hierzu gehören beispielsweise Sprachförderung und Bildung, berufliche Integration, sozialräumliche Integration, Förderung von politischer Partizipation und bürgerschaftlichem Engagement, Erschließung der wirtschaftlichen Potenziale von Migrant/innenunternehmen, Engagement für Vielfalt und Toleranz sowie interkulturelle Öffnung von Verwaltung und Vereinen und Weiterentwicklung einer lokalen Willkommenskultur. Die Kommunen unterstützen die Integrationsarbeit von Wohlfahrtsverbänden und Kirchen, von Migrantenorganisationen und religiösen Gemeinden. Viele Städte fördern zudem zivilgesellschaftliche Initiativen, die Migrant/innen und Flüchtlinge unterstützen oder sich für interkulturelle Begegnungen einsetzen. Entwicklung und Ausrichtung der kommunalen Integrationspolitik werden vor allem durch lokale Faktoren wie Bevölkerungsgröße und -struktur, Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund, Wirtschafts- und
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Unternehmensstruktur, politische Akteur/innen und Konstellationen, Aufbau und Organisation der Verwaltung, Geschichte und Struktur der lokalen Integrationsarbeit sowie den Initiativen und dem Zusammenwirken verschiedener Akteur/innen vor Ort beeinflusst. Die mangelnde Klarheit und Widersprüchlichkeit der migrations- und integrationspolitischen Rahmensetzungen von Bund und Ländern in einem lange Zeit unerklärten Einwanderungsland hat zudem die Herausbildung verschiedener Pfade kommunaler Integrationspolitik und vielfach auch eine mangelnde Kontinuität lokaler Integrationsbemühungen in den vergangenen Jahrzehnten begünstigt. Die Möglichkeiten der kommunalen Integrationspolitik sollten weder über- noch unterbewertet werden. Die Handlungsspielräume der Kommunen werden überschätzt, wenn nicht berücksichtigt wird, dass die Rahmenbedingungen der Integration von Zuwander/innen in vielfacher Hinsicht durch nationale, europäische und globale Entwicklungen geprägt werden, die sich der Reichweite der lokalen Politik entziehen und Kommunen von Entscheidungen, Finanzzuweisungen, Förderprogrammen und Vorgaben übergeordneter Akteure (Bund, Länder, Europäische Union) abhängig sind. Die Handlungsmöglichkeiten von Städten, Gemeinden und Kreisen werden allerdings unterschätzt, wenn übersehen wird, dass die Kommunen nicht nur bei der eigenverantwortlichen Regelung von Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, sondern auch bei der Erledigung der ihnen von Bund und Ländern übertragenen Aufgaben über Handlungsspielräume verfügen, die sie unterschiedlich nutzen können. Im Rahmen des Nationalen Integrationsplans hat sich die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände (Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände 2007, S. 31ff) verpflichtet, einen Beitrag für die Weiterentwicklung und die Nachhaltigkeit der Integrationsbemühungen zu leisten. Die Handlungsempfehlungen der kommunalen Spitzenverbände an ihre Mitgliedsverbände beziehen sich auf zehn Handlungsfelder, die jeweils mit zwei bis drei konkreten Empfehlungen unterlegt wurden, von der Verankerung der Integrationspolitik als kommunale Querschnittsaufgabe und der Unterstützung lokaler Netzwerke über interkulturelle Öffnung der Verwaltung, Integration durch Partizipation und bürgerschaftliches Engagement, Sprache und Bildung, berufliche Integration, sozialräumliche Integration, Förderung lokaler ethnischer Ökonomie, Stärkung des Engagements gegen Fremdenfeindlichkeit bis hin zur Verbesserung von Information und Evaluation. Die Ergebnisse einer repräsentativ angelegten Studie zum Stand der kommunalen Integrationspolitik in Deutschland zeigen, dass 71,5% der befragten Städte, Gemeinden und Landkreise der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund eine sehr hohe oder hohe Bedeutung beimessen. Die hohe Bedeutung von Integrationspolitik wird vor allem mit ressourcenorientierten Gründen wie der demografischen Entwicklung oder unausgeschöpften Potenzialen von Zugewanderten in Verbindung gebracht und deutlich seltener mit eher problembezogenen Faktoren wie z.B. Kosten mangelnder Integration oder sozialräumlichen Problemlagen. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass der Umsetzungsgrad der Empfehlungen zwar insgesamt hoch ist, dass aber es deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Handlungsfeldern gibt. Zudem werden die integrationspolitischen Anstrengungen von Städten, Gemeinden und Kreisen stark von der Größe der Kommune und dem Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund beeinflusst (vgl. Gesemann et al. 2012).
3 Strategische Ausrichtung kommunaler Integrationspolitik Weithin anerkannt ist inzwischen, dass der strategischen Ausrichtung der kommunalen Integrationspolitik eine zentrale Bedeutung zukommt. Ein hoher Stellenwert der kommunalen Integ-
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Frank Gesemann
rationspolitik, die Verankerung von Integration als ressortübergreifende Querschnittsaufgabe in der Kommunalverwaltung, die Vernetzung zentraler Akteur/innen und die Entwicklung einer eigenen, an die lokalen Bedingungen angepassten Strategie in einem breit angelegten partizipativen Prozess gelten dabei als grundlegende Bausteine einer strategischen Orientierung. Das spiegelt sich nicht nur in den Empfehlungen von Fachverbänden, Stiftungen und kommunalen Spitzenverbänden wider, sondern zeigt sich auch in wissenschaftlichen Studien (vgl. Gesemann et al. 2012; Gesemann 2013). Zahlreiche Städte, Gemeinden und Landkreise verfügen inzwischen über Grundelemente einer strategischen Steuerung der kommunalen Integrationsarbeit: 39,5% der im Rahmen der bereits erwähnten Studie befragten Kommunen messen der Integrationspolitik eine sehr hohe oder hohe Bedeutung bei, haben Integration als ressortübergreifende Querschnittsaufgabe in der Kommunalverwaltung verankert und verfügen über eine eigene kommunale Gesamtstrategie zur Integration von Migrant/innen. Viele Kommunen vernetzen die für das Integrationsgeschehen zentralen Akteur/innen, bemühen sich um eine aktive Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund und treiben die interkulturelle Öffnung der Verwaltung voran (vgl. Gesemann et al. 2012). Bei den Kommunen, die grundlegende Elemente einer strategischen Steuerung in der Integrationspolitik verankert haben, zeigen sich deutlich höhere Aktivitätswerte in Bezug auf die Umsetzung zentraler Empfehlungen in allen Handlungsfeldern der kommunalen Integrationspolitik, insbesondere aber in Bezug auf die Förderung von politischer Partizipation und bürgerschaftlichem Engagement. Eine strategische Ausrichtung der kommunalen Integrationspolitik ist daher von zentraler Bedeutung, wenn es darum geht, Integration als Schlüsselaufgabe in der Kommune zu gestalten, Barrieren zu überwinden sowie Chancen und Herausforderungen in einem breit angelegten, beteiligungsorientierten Prozess vor Ort zu entwickeln (Gesemann et al. 2012, S. 119ff).
4 Chancen und Herausforderungen einer kommunalen Integrations- und Diversitätspolitik Kommunale Integrationspolitik als strategisches Handlungsfeld weiterentwickeln: Integrationspolitik erfordert lokal fortzuschreibende Gesamtkonzepte, die über Leitbilder und Strategien, lokale Bedarfe, Potenziale und Herausforderungen, Aufgaben und Handlungsfelder, Ergebnisse und Wirkungen Auskunft geben und dafür die entsprechenden Akteurskonstellationen und Instrumente (Integrationsforen und -konferenzen, Netzwerke innerhalb und außerhalb der Verwaltung, Umsetzungsberichte, Monitoringsysteme) schaffen. Die Ergebnisse solcher Konzepte gewinnen ihre besondere Qualität und Legitimation durch kooperative Diskussions- und Planungsprozesse sowie durch das Ausmaß der Mitwirkung der lokalen Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund. Die Bemühungen von Kommunen zur Gewinnung qualifizierter Zuwander/innen sowie zur Aufnahme und Integration von Flüchtlingen erweitern das Akteursund Aufgabenspektrum einer kommunalen Integrationspolitik und unterstreichen die Bedeutung einer strategischen Weiterentwicklung von Integrationspolitik als zentrales Handlungsfeld in der Kommune. Migration, Integration und Teilhabe als Querschnittsaufgabe in der Kommunalverwaltung verankern: Die Förderung von Integration und Teilhabe von Zugewanderten ist nicht nur eine Angelegenheit von Integrationsbeauftragten oder -fachstellen, sondern findet in allen Lebensbereichen und Handlungsfeldern der Kommune statt. Entsprechend geht es darum, Angebote und Maßnahmen zu entwickeln, die auf die Bedarfe von Zugewanderten abgestimmt sind, die
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Kommunale Integrationspolitik
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kommunalen Dienstleistungen für alle Bevölkerungsgruppen zu öffnen und Zugangsbarrieren für Migrant/innen abzubauen. Die interkulturelle Öffnung der Kommunalverwaltung ist dabei ein zentrales, aber auch schwieriges Handlungsfeld, insbesondere angesichts der problematischen Haushaltslage vieler Kommunen, die eine Einstellung von Beschäftigten mit Migrationshintergrund nur begrenzt zulässt. Zu den Herausforderungen gehört zudem, die verschiedenen Gleichstellungspolitiken vor Ort stärker miteinander zu verknüpfen und in ein übergreifendes Konzept einzubinden, das sich auf die Frage konzentriert, wie das Zusammenleben in einer „Gesellschaft der Vielfalt“ gestaltet werden kann, so dass es für alle Einwohner/innen in einer Kommune als Chance, Gewinn und gemeinsame Zukunftsaufgabe erfahrbar ist. Potenziale der Bevölkerung mit Migrationshintergrund stärker in den Blick nehmen und nutzen: Viele Kommunen haben sich von einem auf Probleme fokussierten Defizitansatz gelöst und versuchen die Chancen von Zuwanderung stärker in den Blick zu nehmen. Migrant/innen werden dabei mit ihren spezifischen Potenzialen und Ressourcen als Gewinn und Chance für das Gemeinwesen betrachtet und auch so behandelt. Der erwartete Nutzen kann dabei in verschiedenen Dimensionen liegen: demografisch als dynamisches Element angesichts des prognostizierten Bevölkerungsrückgangs in einer alternden Gesellschaft, ökonomisch als sprachlich-kulturelle Ressource in einer sich globalisierenden Ökonomie, kulturell als Zugewinn an kreativer Vielfalt. Diese potenzial- und ressourcenorientierte Sicht blendet Problemlagen und Konflikte nicht aus, wendet sich jedoch gegen überwiegend problem- und belastungsorientierte Sichtweisen auf Zuwanderung und Integration. Anerkennung- und Willkommenskultur in der Kommune weiterentwickeln: Die Entwicklung einer lokalen Anerkennungs- und Willkommenskultur gehört zu den Handlungsfeldern, in denen Städte, Gemeinden und Kreise auch mit begrenzten Mitteln nachhaltige Wirkungen entfalten können. Anerkennungs- und Willkommenskultur sind dabei zwei Seiten einer Medaille: Während eine Anerkennungskultur den Beitrag der bereits in der Kommune lebenden Migrant/innen zum Gemeinwesen sichtbar macht und würdigt (z.B. durch Ausstellungen, interkulturelle Wochen, internationale Feste), zielt Willkommenskultur auf die Öffnung der lokalen Gesellschaft für Neuzuwander/innen. Zentrale Elemente sind dabei die Einrichtung von mehrsprachigen Integrationsportalen und Willkommensaktionen, die Schaffung zentraler Servicestellen für Zuwander/innen, die interkulturelle Öffnung von Vereinen und die Einbindung von Integrationslots/innen. Die Weiterentwicklung einer lokalen Anerkennungs- und Willkommenskultur sollte mit der Entwicklung eines neuen vielfältigen Verständnisses von örtlicher Gemeinschaft einhergehen. Mit einem „Leitbild Vielfalt“, das die Zuwanderung von Menschen unterschiedlicher Herkunft, die Pluralisierung von Lebensläufen und Lebenswelten als Bereicherung anerkennt und wertschätzt, können Kommunen in einem partizipativen Prozess ein neues Selbstverständnis entwickeln, das die Potenziale aller Bevölkerungsgruppen für eine aktive Zukunftsgestaltung erschließt und das Miteinander im Gemeinwesen stärkt. Aufnahme und Integration von Asylbewerber/innen und Flüchtlingen in der Kommune aktiv gestalten: Die enorme Zuwanderung von Asylbewerber/innen und Flüchtlingen ist seit 2015 in vielen Städten, Gemeinden und Kreisen zur zentralen kommunalpolitischen Aufgabe geworden. Anfangs standen Unterbringung und Versorgung im Vordergrund. Zumindest auf mittlere Sicht aber wird es darum gehen, die vielfältigen Integrationsaufgaben in den Kommunen erfolgreich zu bewältigen. Viele Kommunen können dabei auf das bewährte Instrumentarium einer strategisch ausgerichteten Integrationspolitik, ein beispielhaftes Engagement der lokalen Bevölkerung für Flüchtlinge sowie gute Kooperationsbeziehungen zwischen Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft zurückgreifen.
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Literatur
Frank Gesemann
Bertelsmann Stiftung (Hg.) (2011): Diversität gestalten. Erfolgreiche Integration in Kommunen. Handlungsempfehlungen und Praxisbeispiele. Gütersloh: Bertelsmann. – Bertelsmann Stiftung; Bundesministerium des Innern (Hg.) (2005): Erfolgreiche Integration ist kein Zufall. Strategien kommunaler Integrationspolitik. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung. – Bommes, Michael (2008): „Integration findet vor Ort statt“ – über die Neugestaltung kommunaler Integrationspolitik. In: Michael Bommes & Marianne Krüger-Potratz (Hg.): Migrationsreport 2008. Frankfurt a.M.: Campus, S. 159-194. – Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände (2007): Beitrag der kommunalen Spitzenverbände. In: Die Bundesregierung (Hg.): Der Nationale Integrationsplan. Neue Wege - Neue Chancen. Berlin: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung; Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, S. 31-33. – Gesemann, Frank & Roth, Roland (Hg.) (2009): Lokale Integrationspolitik in der Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. – Gesemann, Frank; Roth, Roland & Aumüller, Jutta (2012): Stand der kommunalen Integrationspolitik in Deutschland. Berlin: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung; Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Online verfügbar unter: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/ IB/2012-05-04-kommunalstudie.pdf?__blob=publicationFile [30.01.2016]. – Gesemann, Frank (2013): Von der pragmatischen Reaktion zur strategischen Steuerung – Stand und Entwicklungsperspektiven der kommunalen Integrationspolitik in Deutschland. In: Migration und Soziale Arbeit 35 (1), S. 51-58. – Gesemann, Frank (2015): Migration und Vielfalt: Chance und Herausforderung für ländliche Regionen. In: Migration und Soziale Arbeit 37 (3), S. 265-273. – SVR (2012): Integration im föderalen System: Bund, Länder und die Rolle der Kommunen. Jahresgutachten 2012 mit Integrationsbarometer. Berlin: Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR).
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4.2 Recht
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52 Migranten als Träger von Grundrechten Reinhard Marx
Träger von Grundrechten ist jedermann. Die menschliche Würde (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz ) ist universell. Der Schutz der menschlichen Würde ist jedoch auf die Geltungskraft konkreter Grundrechte angewiesen, sei es, dass die Grundrechtsträger/innen mittels positivrechtlich normierter Ansprüche staatliche oder gesellschaftliche Angriffe auf ihre Würde abwehren können, sei es, dass der Staat verpflichtet ist, die erforderlichen Voraussetzungen für die Ausübung von Grundrechten zu schaffen. Es sind also die konkreten Grundrechte, welche dem Achtungsanspruch der universellen Garantie der Menschenwürde zur praktischen Wirksamkeit verhelfen. Wird dieser Zusammenhang bedacht, darf eine konkrete Rechtsordnung die Grundrechte nicht aufspalten in solche, die nur für die Angehörigen dieser Rechtsordnung, also für die Staatsangehörigen, gelten, und in andere, die auch für Menschen gelten, die nicht die Staatsangehörigkeit dieser Ordnung besitzen, aufgrund ihres Aufenthalts im Geltungsbereich dieser Ordnung aber deren Normen unterworfen sind. Bekanntlich beruht der Grundrechtskatalog aber gerade auf dieser Spaltung. Sogenannte Deutschenrechte sind etwa die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG), die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und das Freizügigkeitsrecht (Art. 11 Abs. 1 GG). Migrant/innen sind grundrechtsdogmatisch also weniger stark als Deutsche ausgestattet, wenn sie für ihre menschliche Würde kämpfen wollen. Sie sind zwar als natürliche Personen grundrechtsfähig, insbesondere Träger der Menschenwürde. Die Trägerschaft von Grundrechten (BVerfGE 41, 126 (183) BVerfGE 118, 168 (203)) ist jedoch jeweils sachlich auf die einzelnen Grundrechte bezogen. „Ausländer/innen“ steht nach der herrschenden Meinung lediglich das schwächste Grundrecht, die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG zu (BVerfGE 35, 382 ; BVerfGE 78, 179 ). Kritisch wird hiergegen eingewandt, dass diese Position die differenzierte Systematik der Grundrechte, die besonderen Tatbestandsvoraussetzungen der einzelnen Grundrechte sowie die in der Differenzierung zwischen Deutschen- und Jedermann-Grundrechten deutlich werdende Entscheidung des Verfassungsgebers ausblendet. Ausländer/innen und Staatenlose hätten unter dem Grundgesetz vielmehr in der Regel den gleichen Grundrechtsstatus wie Deutsche, weil Grundrechte konstitutionalisierte Menschenrechte sind (Müller-Franken 2014, Vor Art. 1 Rn 34). Auch die Europäische Union unterscheidet in Grundrechte, die nur Unionsbürger/innen zustehen, und in jene, die jeder Person garantiert werden. Allerdings geht die Charta wesentlich sparsamer mit exklusiven Rechten um als das deutsche Grundgesetz. Es gibt nur wenige exklusi-
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Reinhard Marx
ve Rechte für Unionsbürger/innen in der Charta, etwa die Freiheit, in anderen Mitgliedstaaten einen Beruf auszuüben (Art. 12 Abs. 2 GRCh). Die klassischen politischen Rechte etwa der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit wie auch die Berufsfreiheit (Art. 15 Abs. 1) werden dagegen anders als in Deutschland jeder Person gewährleistet (Art. 12 GRCh). Für einen interkulturellen Ansatz ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 1950 hingegen besser ausgestattet worden. Bezieht sich die Grundrechtscharta auf die Europäische Union und ihre 28 Mitgliedstaaten, umfasst der Geltungsbereich der EMRK alle 47 Vertragsstaaten des Europarates. Den Grundrechten der Konvention wie auch den universellen Abkommen zum Schutze der Menschenrechte ist eine Aufspaltung in Grundrechte für „Inländer/innen“ einerseits und für „Ausländer/innen“ andererseits wesensfremd. Vielmehr können sich alle Menschen, die der Herrschaft (jurisdiction) eines Vertragsstaates unterworfen sind, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit gegenüber diesen auf die Schutznormen der Konvention berufen (Frowein & Peukert 1995, S. 18f ) und nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges eine Beschwerde gegen diesen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg richten. Ein Beitrag zu Migranten als Träger von Grundrechten muss daher seinen Ausgang bei der Konvention nehmen. Diese ist ihrerseits integraler Bestandteil der Verfassung der Union (Art. 6 Abs. 3 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union ) und beeinflusst die Auslegung der Grundrechte der Charta (EuGH, InfAuslR 2010, 221 (Rn 44 – Chakroun). Ein mit diesem Inhalt aufgeladenes Unionsrecht seinerseits hat wiederum Anwendungsvorrang vor den deutschen Grundrechten und beeinflusst damit deren Auslegung und Wirkungskraft. Die Konvention hat dementsprechend in den letzten Jahren für das Ausländer- und Asylrecht eine zunehmend stärkere Bedeutung erlangt. So können sich Migrant/innen insbesondere auf Art. 3 und 8 EMRK berufen. Andere Konventionsrechte haben bei weitem nicht die Bedeutung wie diese beiden Rechte im interkulturellen Diskurs. Droht im Falle der Abschiebung im Herkunftsland Folter oder unmenschliche Behandlung, gewährleistet die Konvention zwar kein Asylrecht. Sie verstärkt das nach der Verfassung und dem Unionsrecht gewährte Grundrecht auf Asyl aber dadurch, dass sie eine wesentliche Komponente dieses Grundrechts, nämlich den Schutz vor Abschiebung, Ausweisung und Zurückweisung, konventionsrechtlich absolut schützt. Für den allgemeinen migrationspolitischen Kontext hat hingegen der Schutz des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK weitreichende Bedeutung, etwa bei der Familienzusammenführung und dem Schutz vor Ausweisung langjährig hier lebender Migrant/innen und inzwischen auch als Grundlage für die Gewährung eines Aufenthaltsrechts bei nachhaltiger Integration im Bundesgebiet.
1 Schutz vor Verfolgung und unmenschlicher Behandlung Im Ausgangspunkt können sich politisch verfolgte Ausländer/innen auf das Asylrecht nach Art. 16a Abs. 1 GG berufen. Freilich ist das ursprüngliche Asylrecht nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG 1949 im Jahre 1993 abgeschafft worden. Das Grundrecht nach Art. 16a Abs. 1 GG ist nur noch ein Torso des früheren Rechts und wird darüber hinaus durch Art. 18 GRCh überlagert. Dementsprechend wird heute in der Verwaltungspraxis und Rechtsprechung der Schutz vor Verfolgung nach Rechtsakten der Union gewährt, die ihrerseits das Grundrecht auf Asyl nach Art. 18 GRCh verwirklichen. Zu nennen sind hier insbesondere die Qualifikationsrichtlinie 2011/95/ EU, die auf dem Flüchtlingsbegriff nach Art. 1 Abs. 1 A Nr. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) beruht und dessen einzelne Elemente verbindlich für die 28 Mitgliedstaaten und deren nationales Recht interpretiert, sowie die Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU, die die nationalen Asylverfahren nach einheitlichen Regeln gestaltet. Die EMRK kennt zwar kein Asylrecht. Art. 3
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Migranten als Träger von Grundrechten
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EMRK enthält jedoch ein absolutes Verbot der Abschiebung und Zurückweisung bei drohender Folter und unmenschlicher Behandlung. Für die Anerkennung des Flüchtlingsstatus und dessen Ausgestaltung können der Konvention daher keine unmittelbaren Aussagen entnommen werden. Allerdings beruht der subsidiäre Schutz des Rechts der Union (Art. 15 RL 2011/95/EU) maßgeblich auf Art. 2 und 3 EMRK und dem 6. und 13. Zusatzprotokoll zur EMRK. Durch das 13. Zusatzprotokoll wurde die Todesstrafe für die Vertragsstaaten des Europarates vollständig abgeschafft (Marx 2012, S. 502f ). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat seit 1989 den Schutz des Art. 3 EMRK vor Auslieferung und Abschiebung beständig fortentwickelt und verstärkt. Er begründet dies damit, dass bei der Interpretation der Konvention ihr besonderer Charakter als Vertrag für die kollektive Durchsetzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten berücksichtigt werden muss. Ziel und Zweck der Konvention als ein Instrument zum Schutz des Individuums erfordern deshalb, dass ihre Vorschriften als Schutzvorschriften praktisch wirksam und effektiv gestaltet, verstanden und angewandt werden. Es wäre mit den der Konvention zugrunde liegenden Werten kaum vereinbar, auch nicht mit dem »gemeinsamen Erbe an geistigen Gütern, politischen Überlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes«, auf die die Präambel hinweist, wenn ein Vertragsstaat wissentlich einen Flüchtling an einen anderen Staat ausliefert, obwohl es begründete Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Flüchtling dort Gefahr läuft, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt zu werden, gleichgültig, welchen schrecklichen Verbrechens er dort beschuldigt wird (EGMR, EZAR 933 Nr. 1, Rn 88 = EuGRZ 1989, 319 = NJW 1990, 2183 – Soering). Das Unionsrecht bezieht sich in Art. 21 RL 2011/95/EU und in RL 2008/115/EG auf den Schutz nach Art. 3 EMRK. Dies ist angesichts der zunehmenden Tendenzen in der Staatenpraxis, den Abschiebungsschutz zu Lasten von Personen einzuschränken, die terroristischer Unterstützungshandlungen verdächtigt werden, von kaum zu unterschätzender Bedeutung. Während nämlich nach Art. 33 Abs. 1 GFK der Schutz gegen die Abschiebung von Flüchtlingen in ihr Herkunftsland eingeschränkt werden kann, wirkt der Schutz von Art. 3 EMRK absolut. Dabei hebt der EGMR ausdrücklich die »immensen Schwierigkeiten« hervor, mit denen »sich Staaten in modernen Zeiten beim Schutz ihrer Gemeinschaften vor terroristischer Gewalt konfrontiert sehen«. Allerdings verbiete selbst unter diesen Umständen die »Konvention in absoluten Begriffen Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, unabhängig vom Verhalten des Opfers« (EGMR, InfAuslR 1997, 97 (98) – Chahal; EGMR, InfAuslR 1997, 279 (281) – Ahmed). Der EGMR hat in diesem Zusammenhang ausdrücklich und wiederholt festgestellt, dass der in Art. 3 EMRK gewährleistete Schutz vor Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung ausnahmslos gilt, sodass der in Art. 3 EMRK gewährte Refoulementschutz umfassender als jener in Art. 33 GFK ist (EGMR, EZAR 933 Nr. 4 = InfAuslR 1997, 97 = NVwZ 1997, 1093 – Chahal; EGMR, InfAuslR 1997, 279 (281) = NVwZ 1997, 1100 = EZAR 933 Nr. 5 – Ahmed). Der Refoulementschutz nach Art. 3 EMRK hat absoluten Charakter und steht nicht unter Terrorismusvorbehalt (EGMR, NVwZ 1992, 869 (870) – Vilvarajah; EGMR, InfAuslR 1997, 97 (101) = NVwZ 1997, 1093 – Chahal; EGMR, InfAuslR 1997, 279 (281) = NVwZ 1997, 1100 – Ahmed). Vielmehr hat der EGMR insbesondere in seiner ausländerrechtlichen Rechtsprechung an seine traditionelle, bereits 1978 entwickelte Auffassung vom notstandsfesten Charakter des Folterverbots (EGMR, EuGRZ 1979, 149 (155) – Nordirland) angeknüpft und in inzwischen gefestigter Rechtsprechung festgestellt, dass der Abschiebungsschutz ein absoluter ist. Ebenso wie es Versuche in der deutschen Verfassungsliteratur gibt, den abwägungsfesten Charakter der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG zu relativieren und sie wie die anderen
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Reinhard Marx
Grundrechte zu einem bloßen Abwägungsbelang herabzustufen (so Herdegen, Stand Mai 2013, Art. 1 Abs. 1 Rn 21ff), gibt es derartige Tendenzen in der Staatenpraxis. Derartigen Relativierungen ist die Große (Berufungs-)Kammer des EGMR mit deutlichen Worten entgegen getreten. Sie hat den Versuch der britischen Regierung zurückgewiesen, den Schutz von Art. 3 EMRK gegen die staatlichen Sicherheitsinteressen abzuwägen. Der Schutz gegen Folter und unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung sei absolut. Art. 3 EMRK begründe deshalb einen absoluten, durch keine Ausnahme durchbrochenen Schutz gegen Auslieferung und Abschiebung. Die Auffassung, die Risiken, die dem Betroffenen im Zielstaat drohten, könnten gegen seine Gefährlichkeit abgewogen werden, beruhe auf einem unzutreffenden Verständnis von Art. 3 EMRK. Die Begriffe »Gefahr« (für den Betroffenen) und »Gefährlichkeit« (für die Bevölkerung) könnten nicht gegeneinander abgewogen werden, weil beide unabhängig voneinander festgestellt werden müssten. Die Gefahr, dass der Betroffene/die Betroffene eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle, reduziere nicht in irgendeiner Weise das ihm/ihr drohende Risiko im Zielstaat. Ebenso wenig hat der Gerichtshof den Einwand der britischen Regierung akzeptiert, dass bei Gefährdungen der Allgemeinheit die Prüfung des konkreten Risikos, nach der Abschiebung einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung ausgesetzt zu werden, weniger streng ausfallen könnte, wenn die Allgemeinheit durch den Betroffenen gefährdet sei. Eine derartige Verfahrensweise sei unvereinbar mit der absoluten Schutzwirkung von Art. 3 EMRK. Deshalb erklärte die große Kammer des Gerichtshofes ausdrücklich, dass sie keinen Grund dafür sehe, den maßgeblichen Beweisstandard zu ändern (EGMR, NVwZ 2008, 1330 (1332) Rn 138 bis 140 – Saadi).
2 Schutzwirkung des Art. 8 EMRK im Ausländerrecht Von kaum zu überschätzender Bedeutung ist die Schutzwirkung von Art. 8 EMRK für das deutsche Ausländerrecht, und zwar im Ausweisungsrecht wie auch bei der Integration langjährig hier lebender Migrant/innen ohne rechtmäßigen Aufenthalt. Im Ausweisungsrecht fällt die Gleichzeitigkeit der gegensätzlichen Entwicklung beider Rechtssysteme ins Auge. Während der EGMR seit 1991 den Ausweisungsschutz der Angehörigen der Zweiten Generation zunehmend verstärkt hat, hatte der deutsche Gesetzgeber seit diesem Zeitpunkt das Ausweisungsrecht zunehmend verschärft und insbesondere starre mechanistische Prüfsysteme entwickelt, die die Praxis blind machten gegenüber den konkreten Umständen des Einzelfalles. Ob sich dieses mit dem seit 2015 geltenden Ausweisungsrecht ändern wird, bleibt abzuwarten. Demgegenüber prägt die Rechtsprechung des EGMR im Blick auf die Begründung eines rechtmäßigen Aufenthalts, also der rechtlichen Integration von bislang nicht rechtmäßig, aber langjährig hier lebender Migrant/innen traditionell eine eher zurückhaltende Tendenz. Hier will er ganz offensichtlich, um die Akzeptanz des Straßburger Systems nicht zu gefährden, zu starke Einflussnahmen auf die einwanderungspolitische Steuerungskompetenz der Vertragsstaaten vermeiden. Bei der Beendigung eines rechtmäßigen Aufenthaltes hat er diese Scheu jedoch nicht. Vielmehr hält er hier die Vertragsstaaten an, dem Umstand, dass Migrant/innen im Gebiet der Vertragsstaaten sozialisiert wurden und faktisch deren Angehörige sind, gebührenden Respekt zu zollen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen und aus dieser für die Integration hier lebender Migrant/innen wichtige Schlussfolgerungen gezogen. Das Recht auf Achtung des Privatlebens schließe die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen ein, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv seien und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeu-
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Migranten als Träger von Grundrechten
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tung zukomme (BVerfG (Kammer) InfAuslR 2007, 275 (277) = NVwZ 2007, 946 = EZAR NF 42 Nr. 5; BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, 1300 (1301) = InfAuslR 2007, 443= EZAR NF 42 Nr. 6; BVerfG (Kammer), NVwZ-RR 2011, 420 (421) =InfAuslR 2011, 236). Hieraus hat der deutsche Gesetzgeber 2011 Konsequenzen für geduldete Jugendliche gezogen. 2015 sind darüber hinaus gesetzliche Bestimmungen in Kraft getreten, die den aufenthaltsrechtlichen Status der Jugendlichen wie auch von Erwachsenen, die langjährig im Bundesgebiet leben und sich integriert haben, erheblich verbessert. Im Ausgangspunkt betont der EGMR das im Völkerrecht begründete Recht der Staaten, Einreise und Aufenthalt von Ausländer/innen zu kontrollieren und dazu auch das Mittel der Ausweisung einzusetzen. Wenn jedoch die entsprechende Entscheidung einen Eingriff in die durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Rechte darstellen, muss nachgewiesen werden, dass dieser in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, d.h. durch eine dringende soziale Notwendigkeit gerechtfertigt und insbesondere im Hinblick auf ihr legitimes Ziel verhältnismäßig ist. Es muss also ein gerechter Ausgleich zwischen den durch Art. 8 EMRK geschützten Interessen einerseits und den Interessen der öffentlichen Sicherheit und der Verhinderung von Straftaten andererseits gefunden werden (EGMR, InfAuslR 1991, 149 (150) = EZAR 935 Nr. 3 – Mostaquim; EGMR, InfAuslR 1997, 185 (186) – C gegen Belgien). Im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung ist daher eine Abwägung zwischen den gegenläufigen Belangen erforderlich. In die Abwägung einzustellen sind die Natur und die Schwere der Straftat (EGMR, InfAuslR 2010, 89 (90) – Grant; EGMR, InfAuslR 2010, 178 (179) – Omojudi). Dem werden die Dauer des Aufenthaltes im Vertragsstaat, die Zeit, die seit der Begehung der Straftat vergangen ist, wie auch das Verhalten des Betroffenen in dieser Zeit gegenüber gestellt. Auch die Staatsangehörigkeit der durch die Ausweisung in Mitleidenschaft gezogenen Angehörigen, die Familiensituation des Betroffenen, wie z.B. die Dauer der Ehe und andere Faktoren sind zu berücksichtigen (EGMR, InfAuslR 2004, 180 (181) – Amrollahi). In die Abwägung ist auch einzustellen, ob der ausländischen Ehefrau die Rückkehr in den gemeinsamen Herkunftsstaat zumutbar ist (EGMR, InfAuslR 2004, 180 (181) – Amrollahi). In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof festgestellt, dass es dem ausländischen Kind mit verfestigtem Aufenthaltsrecht nicht zuzumuten ist, dem anderen Elternteil in das Herkunftsland zu folgen (EGMR, InfAuslR 2006, 255 (256) – Sezen). Ferner ist auch der Grad der Entwurzelung, also der Loslösung vom Herkunftsland in Erwägung zu ziehen. Insbesondere die fehlende Beherrschung der Sprache des Herkunftsstaates ist hierfür ein wesentliches Kriterium (EGMR, InfAuslR 1991, 149 (150) = EZAR 935 Nr. 3 – Moustaquim; EGMR, InfAuslR 1996, 1 (3) = EZAR 935 Nr. 5 – Nasri; EGMR, InfAuslR 2003, 126 (128) – Yildiz; EGMR, InfAuslR 2006, 3 (4) – Keles, EGMR, InfAuslR 2006, 255 (256) – Sezen; EGMR, InfAuslR 2010, 325 – Mutlag).
3 Fazit Grundrechte sind konstitutionalisierte Menschenrechte und stehen allen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, Rasse, Religion, Geschlecht oder politischen Anschauung zu. Gleichwohl werden Staatsangehörige in vielen Rechtsbereichen gegenüber Migrant/innen bevorzugt. Erst der Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung führt aus rechtlicher Sicht zu einer Gleichstellung von Migrant/innen mit alteingesessenen Staatsbürger/innen. Den „Makel“ ihrer Einwanderungsgeschichte werden sie aber insbesondere in Deutschland gleichwohl nicht los, wie bereits das Wortungetüm „Menschen mit Migrationshintergrund“ erweist. Solange der gesellschaftliche Diskurs auf derartige Abgrenzungsbegriffe angewiesen bleibt, kann man kaum von gelungener Integration sprechen. Universelle und regionale Menschenrechtsabkommen
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Reinhard Marx
können insoweit kaum wirksame Abhilfe leisten. Sie sichern die bürgerlichen und politischen wie auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der Einwanderer/innen, können aber nicht ihre vollständige rechtliche Gleichstellung mit den Staatsangehörigen sicherstellen. Für den Vollgenuss der Grundrechte bleiben Migrant/innen daher auf die Einbürgerung angewiesen. Wer diese aus emotionalen oder anderen legitimen Gründen nicht will, bleibt auf den Migrantenstatus beschränkt. Wer sie will, geriet in Deutschland bis 2014 in Loyalitätskonflikte, weil er sich gegen die Staatsangehörigkeit seiner Eltern entscheiden musste. Eine derartige Entscheidung wird nunmehr nur noch in Ausnahmefällen gefordert. Während der Schutz vor Abschiebung und die Gewährleistung aufenthaltsrechtlicher Sicherheit sich insbesondere in Europa in den letzten zwei Jahrzehnten kontinuierlich fortentwickelt hat, konnte das Souveränitätsdogma hinsichtlich der Staatsangehörigkeit nur unzulänglich eingeschränkt werden. Die völkerrechtlichen Bemühungen zielen hier insbesondere darauf, Staatenlosigkeit wirksam zu bekämpfen. Staatenlosigkeit ist der sichtbarste Ausdruck von Rechtlosigkeit und läuft dem universellen Recht, als Rechtsperson anerkannt zu werden (Art. 6 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948; Art. 16 Abs. 1 Bürgerrechtspakt von 1966) diametral zuwider. Bei der Frage, nach welchen Grundsätzen die Staatsangehörigkeit verliehen wird, haben die Staaten aber unverändert einen weiten Ermessensspielraum. Angesichts dessen bleibt die Leistungskraft des Rechts hinsichtlich der vollständigen Integration von Migrant/innen in die Gesellschafts- und Rechtsordnung begrenzt. Allerdings kann ein dynamischer gesellschaftlicher Diskurs dazu beitragen, dass Hürden gegen die Einbürgerung abgebaut werden. Das stärkste Hindernis gegen eine rechtliche Gleichstellung von Migrant/innen und Autochtonen in Deutschland ist das exklusive Verständnis der Staatsangehörigkeit. Dieses 1870 entwickelte und 1914 erneut bekräftigte und seitdem unbeirrbar gepflegte Staatsverständnis findet noch immer seinen wirksamsten Ausdruck in der „Übeldoktrin“, also dem Dogma der Vermeidung von mehrfacher Staatsangehörigkeit, die als „Übel“ verstanden wird (BverfGE 37, 217 ; BVerwGE 64, 7 ; BVerwG, InfAuslR 1989, 48). Nur unzulänglich wurden ihr durch § 12 des Staatsangehörigkeitsgesetzes einige der schärfsten Zähne gezogen. Für hier geborene Kinder hat sie zwar seit 2000 an Bedeutung verloren. Der Zwang, sich mit 21 Jahren für die Staatsangehörigkeit des Heimatlandes oder des Herkunftslandes der Eltern entscheiden zu müssen, wurde aber erst mit Gesetz vom 13. November 2014 (BGBl I S. 1714) für den Regelfall aufgehoben. Wie sehr das konservative Lager die alten Mythen pflegt, wird aber daraus ersichtlich, dass ein zwischenzeitlicher Aufenthalt im Herkunftsland der Eltern oder sonstwie außerhalb von Deutschland über längere Zeit zur Folge hat, dass der Zwang bestehen bleibt. Zu „uns“ gehören soll offensichtlich nur, wer sich mit Haut und Haaren dem deutschen Volksgeist unterwirft. Literatur
Frowein, Jochen Abr. & Peukert, Wolfgang (1995): Europäische Menschenrechtskonvention. EMRK-Kommentar, 2. Aufl. Kehl, Straßburg, Arlington: N. P. Engel. – Marx, Reinhard (2012): Handbuch zum Flüchtlingsschutz. 2. Aufl., Neuwied: Luchterhand. – Müller-Franken, Sebastian: Vorbemerkung vor Art. 1 Allgemeine Grundrechtslehren. In: Bruno Schmidt-Bleibtreu; Franz Kléin; Hans Hofmann & Hans-Günter Hennecke (2014): GG Kommentar zum Grundgesetz, 13. Aufl. Köln: Carl Heymanns Verlag, S. 101-125.
EU-Freizügigkeit
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53 EU-Freizügigkeit Roman Lehner
1 Die Unionsbürgerschaft als Grundlage der Freizügigkeit
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1.1 Das europäische Bürgerschaftsmodell Die Unionsbürgerschaft bezeichnet den bürgerschaftlichen Status der EU. Als eigenständige Rechtsposition der Bürger/innen der Mitgliedstaaten, geschaffen durch den Vertrag von Maastricht (1992), markierte ihre Einführung den Übergang vom wirtschaftsbezogenen Konzept der Marktbürgerschaft hin zu einem individualbezogenen Modell politischer Bürgerschaft (ausführlich Schönberger 2005, S. 2ff). Die allgemeine Freizügigkeit (Art. 21 AEUV) stellt die Essentiale der europäischen Bürgerschaft dar. Die zuvor allein bestehenden, aus den Grundfreiheiten folgenden (z.B. Arbeitnehmerfreizügigkeit, heute Art. 45 AEUV) und insofern wirtschaftliche Aktivitäten voraussetzenden (Kluth 2011, Rn 1) Freizügigkeitsrechte, existieren fort und dienen als spezielle Bestimmungen. Bereits vor Geltung des Maastrichter Vertrags waren Freizügigkeitsberechtigungen unabhängig von wirtschaftlicher Aktivität infolge diverser Ausweitungen der grundfreiheitlichen Freizügigkeitsrechte auf andere Personen (ausführlich Kluth 2011, Rn 1) geschaffen worden, insbesondere auf Angehörige von Wirtschaftsteilnehmern (z.B. RL 68/360/ EWG zur Aufhebung von Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer/innen der Mitgliedstaaten und ihre Angehörigen), auf Rentner/innen (z.B. VO Nr. 1251/70 über das Recht der Arbeitnehmer/innen, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates zu verbleiben; RL 90/365/EWG über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer/innen und selbständig Erwerbstätigen) oder Studierende (z.B. RL 90/366/EWG über das Aufenthaltsrecht von Student/innen). 1.2 Akzessorietät und „Kernbereich“ Das Freizügigkeitsrecht wird als subjektive Berechtigung über den Unionsbürger/innenstatus vermittelt. Letzterer wird seinerseits durch die Innehabung der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats begründet (Art. 20 I 1 AEUV), hat mit anderen Worten akzessorischen Charakter (Niedobitek 2014, Rn 153) und tritt ergänzend an deren Seite, nicht aber verdrängend an ihre Stelle (Art. 20 I 2 AEUV). Folge der Akzessorietät ist, dass es im Grunde allein die Mitgliedstaaten sind, „die durch ihre staatsangehörigkeitsrechtlichen Regelungen [...] bestimmen wer Unionsbürger ist“ (Schönberger 2005, S. 275f ) und wer nicht, wenngleich der Europäische Gerichtshof (EuGH) hier gewisse unionsrechtliche Bindungen annimmt und etwa den Widerruf einer Einbürgerung – der neben dem Verlust der nationalen Staatsangehörigkeit eben auch jenen der Unionsbürgerrechte mit sich zieht – einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzieht (EuGH, Rs. C-135/08, Rn 55ff – Rottmann). Ungeachtet der Anknüpfung an den Besitz der nationalen Staatsangehörigkeit und somit das mitgliedstaatliche Staatsangehörigkeitsrecht lässt sich von einem „eigenständige[n] Status“ sprechen (Schönberger 2005, S. 274). Der EuGH erkennt sogar einen „Kernbereich“ der Unionsbürgerschaft an (EuGH, Rs. C-34/09, Rn 42 – Ruiz Zambrano), welcher unabhängig vom Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts
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(Lehner 2014, Rn 74) greifen und den Schutz der Unionsrechtsordnung aktivieren soll. Insofern kann man von gewissen Verselbständigungs- bzw. Emanzipationstendenzen sprechen (Lehner ebd.; ders. 2015), deren Ausmaße und Grenzen freilich noch nicht absehbar sind. Die Frage stellt sich aktuell bei dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU.
2 Die Regelungen über die Freizügigkeit
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2.1 Grundzüge Nach Art. 21 I AEUV genießen alle Unionsbürger/innen das Recht zum freien Zug, haben also die Berechtigung, „sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten“. Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon (2009) wird das Freizügigkeitsrecht zudem als Grundrecht gem. Art. 45 I der Grundrechtecharta der EU (GRCh) verbürgt, wobei nach Maßgabe der Transferklausel aus Art. 52 II GRCh die „in den Verträgen festgelegten Bedingungen und Grenzen“, also insbesondere die in Art. 21 I AEUV genannten „Beschränkungen und Bedingungen“, auch hier gelten. „Durchführungsbedingungen“ in diesem Sinne finden sich vor allem in der Richtlinie 2004/38/EG, der sog. FreizügigkeitsRL, innerhalb derer die zuvor bestehenden „bereichsspezifischen und fragmentarischen“ sekundärrechtlichen Regelungen für einzelne Personengruppen (Arbeitnehmer/innen, Rentner/innen, Student/innen etc.) in „einen einheitlichen Rechtsakt“ gefasst wurden (Kluth 2011, Rn 1). Die „Ur“-Bestimmung im Freizügigkeitsrecht, die VO Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer/innen, wurde 2011 novelliert (VO Nr. 492/2011) und fungiert neben der FreizügigkeitsRL als zentrales Vorschriftenwerk (SVR 2013, S. 68). Gegenstand der FreizügigkeitsRL sind ausweislich ihres Art. 1 die Freizügigkeits- und Aufenthaltsbedingungen (lit. a) einschließlich des Rechts zum Daueraufenthalt (lit. b) sowie diesbezügliche Beschränkungsmöglichkeiten aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (lit. c), bezogen jeweils auf die Unionsbürger/innen selbst sowie auf ihre Familienangehörigen, sofern diese Unionsbürger/ innen begleiten oder ihnen nachziehen (Art. 3 iVm 2). Ihre Umsetzung hat die FreizügigkeitsRL in Deutschland durch das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürger/innen gefunden (FreizügG/EU). FreizügigkeitsRL und -gesetz differenzieren aufenthaltsrechtlich nach drei „Zeitstufen“ (Kluth 2011, Rn 12 a): bis drei Monate ab Einreise (Art. 6 FreizügigkeitsRL, § 2 V FreizügG/EU), zwischen drei Monaten und fünf Jahren (Art. 7ff FreizügigkeitsRL, §§ 2-4 FreizügG/EU) sowie länger als fünf Jahre (Art. 16ff FreizügigkeitsRL, § 4 a FreizügG/EU). Flankierend wird auch das Recht auf freien Reiseverkehr zwischen den Mitgliedstaaten garantiert, also das Recht auf Aus- (Art. 4 FreizügigkeitsRL) und Einreise (Art. 5 FreizügigkeitsRL, § 1 I FreizügG/EU). Eine Ausnahme gilt zur Zeit für kroatische Staatsangehörige. Da Deutschland auf Grundlage von Art. 18 des Beitrittsvertrags (BGBl. 2013 II, S. 586) iVm Anh. V, Ziff. 2 (Abl. EU L 112/6) die Arbeitnehmerfreizügigkeit zunächst für zwei Jahre (also bis zum 30.6.2015) eingeschränkt hat, bestimmt § 13 FreizügG/EU, dass die Beschäftigungsaufnahme als Voraussetzung der Freizügigkeit von der Genehmigung der Bundesagentur für Arbeit (BA) abhängt. Die Übergangsregelung kann nach Maßgabe des Beitrittsvertrags noch bis max. zum 30.6.2020 verlängert werden. Die ebenfalls durch Deutschland voll ausgeschöpfte Übergangsfrist von sieben Jahren für Rumänien und Bulgarien lief zum 1.1.2014 aus (Lehner 2014, Rn 21, Fn. 119). Im Unterschied zu sog. Drittstaatsangehörigen, für die das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) gilt und die stets eines konstitutiven Aufenthaltstitels (§ 4 AufenthG) in Form einer ausländerbe-
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hördlichen Erlaubnis bedürfen, genießen Unionsbürger/innen die ihnen zustehenden Rechte kraft Gesetzes. Dies war nicht immer so. Nach dem bis zum 31.12.2004 geltenden AufenthG/ EWG wurde erwerbstätigen Unionsbürger/innen eine Aufenthaltserlaubnis-EG erteilt, ebenso unter gewissen Voraussetzungen nichterwerbstätigen Unionsbürger/innen nach Maßgabe der damaligen Freizügigkeitsverordnung. Durch das Zuwanderungsgesetz (2005) wurde das heutige FreizügigG/EU geschaffen, wonach kein Aufenthaltstitel mehr erforderlich ist (§ 2 IV 1 FreizügG/EU). Gleichwohl wurde bis zu ihrer Abschaffung 2013 nach § 5 I FreizügG/EU allen freizügigkeitsberechtigten Unionsbürger/innen von Amts wegen eine (deklaratorische) Freizügigkeitsbescheinigung ausgestellt. Allerdings kann nach Art. 8 I FreizügigkeitsRL jeder Mitgliedstaat für Aufenthalte von über drei Monaten eine behördliche Anmeldung verlangen. Einige Mitgliedstaaten sehen die Ausstellung einer besonderen Anmeldebescheinigung für EU/ EWR-Bürger/innen und Schweizer/innen vor (z.B. Österreich). In Deutschland wird lediglich die Meldebescheinigung ausgestellt, die auch Inländer/innen bei den Meldebehörden erhalten (Dienelt 2013, Rn 8). 2.2 Freizügigkeit innerhalb der ersten drei Monate Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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EU-Freizügigkeit
Das Aufenthaltsrecht für die ersten drei Monate ist voraussetzungslos, nur der Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses wird verlangt (Art. 6 FreizügigkeitsRL, § 2 V FreizügG/ EU). Das kurzeitige Aufenthaltsrecht steht Unionsbürger/innen (Art. 6 I FreizügigkeitsRL, § 2 V 1 FreizügG/EU) und den sie begleitenden oder ihnen nachziehenden Familienangehörigen (Art. 6 II FreizügigkeitsRL, § 2 V 2 FreizügG/EU) zu. 2.3 Freizügigkeit über drei Monate hinaus Der Aufenthalt für mehr als drei Monate weist in jedem Fall ein ökonomisches Erfordernis auf, die Freizügigkeitsberechtigung fußt in erster Linie entweder auf der Eigenschaft als Arbeitnehmer/in bzw. Selbständige/r (Art. 7 I lit. a FreizügigkeitsRL, § 2 Nrn. 1-3 FreizügG/EU) oder auf dem (aus anderen Gründen gegebenen) Vorhandensein ausreichender Existenzmittel für sich und die (dann auch freizügigkeitsberechtigten, vgl lit. d, § 2 Nr. 6 iVm § 4 S. 1 FreizügG/EU) Familienangehörigen, einschließlich des Krankenversicherungsschutzes (lit. b, § § 2 Nr. 5 iVm § 4 S. 1 FreizügigkeitsRL). Das über drei Monate hinaus reichende Freizügigkeitsrecht weist also (weiterhin) eine ökonomische Dimension auf, eine vollständige Entkopplung vom Konzept der „Marktbürgerschaft“ ist mithin (noch) nicht erfolgt. Allerdings sieht Art. 7 II FreizügigkeitsRL den Erhalt der freizügigkeitskonstitutiven „Erwerbstätigeneigenschaft“ (I) vor, u.a. wenn eine krankheitsbedingte vorübergehende Arbeitsunfähigkeit eintritt (lit. a, § 2 III 1 Nr. 1 FreizügG/EU) oder wenn nach mindestens einjähriger Beschäftigung der/die betroffene Unionsbürger/in unfreiwillig arbeitslos wird und sich dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellt (lit. b, § 2 III S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU). Mit anderen Worten: Wer ein Jahr der Beschäftigung als Arbeitnehmer/in (oder Selbständige/r) „schafft“, behält sein Aufenthaltsrecht, welches dann nach weiteren drei Jahren und neun Monaten, also nach insgesamt fünf Jahren legalen Aufenthalts, über Art. 16 I FreizügigkeitsRL in ein Daueraufenthaltsrecht übergeht. Der Verlust der Arbeitsstelle führt also nicht unweigerlich zum Ende des Freizügigkeitsrechts (Brinkmann 2010, Rn 42). Bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit vor Ablauf eines Jahres sieht die FreizügigkeitsRL den Erhalt der Erwerbstätigeneigenschaft – und somit des Aufenthaltsrechts (Art. 7 I lit. a) – für mindestens
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sechs Monate vor. Der deutsche Gesetzgeber ist hierüber auch nicht hinausgegangen und hat das Freizügigkeitsrecht in § 2 III 2 FreizügG für ebendiese Dauer angeordnet.
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2.4 Sozialleistungen für Unionsbürger/innen ohne Daueraufenthaltsrecht An den Erhalt der erwerbsbezogenen Freizügigkeitsberechtigung im Sinne des Art. 7 II FreizügigkeitsRL schließt auch die Leistungsberechtigung nach dem SGB II (ALG II = „Hartz IV“) an: Nach § 7 I 2 Nr. 1 SGB II sind diejenigen von Leistungen ausgeschlossen, „die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind“, und das auch nur „für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts“. Für die ersten drei Aufenthaltsmonate besteht ohnehin das voraussetzungslose Aufenthaltsrecht nach § 2 V FreizügG/EU, so dass die Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 III FreizügG/EU selbst im Falle einer untereinjährigen Beschäftigungs- und somit auch Aufenthaltsdauer frühestens nach drei Monaten greifen kann. Der diesem Freizügigkeitstitel zugrunde liegende Art. 7 FreizügigkeitsRL ist daher auch mit „Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate“ überschrieben. Die etwas unglücklich formulierte Bestimmung des § 7 I 2 Nr. 1 SGB II kann also nur bedeuten, dass für diejenigen, die nach § 2 III FreizügG/EU aufenthaltsberechtigt sind, von vornherein kein Leistungsausschluss greifen kann und soll. Vor diesem Hintergrund ist klargestellt, dass jene, deren Erwerbstätigeneigenschaft trotz Arbeitslosigkeit erhalten bleibt, vollen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose haben. Die Schwelle der einjährigen Beschäftigungsdauer zum Erhalt eines längerfristigen Aufenthaltsrechts und zum Eintritt in das Grundsicherungssystem erscheint auf den ersten Blick höher als sie tatsächlich ist. Denn Unionsbürger/innen, die in Deutschland eine abhängige Beschäftigung aufnehmen, haben von Anfang an gem. Art. 24 I 1 FreizügigkeitsRL Anspruch auf Gleichbehandlung mit deutschen Arbeitnehmer/innen und sind dementsprechend vom Leistungsausschluss des § 7 I 2 Nr. 1 SGB II wiederum ausgenommen („weder [...] Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer“). Soweit sie nur geringfügig beschäftigt sind, können sie daher ohne jede Einschränkung als „Aufstocker“ Leistungen nach dem SGB II beziehen. Dies entspricht auch dem Arbeitnehmerbegriff, den der EuGH für die Arbeitnehmerfreizügigkeit aus Art. 45 AEUV, eine der Grundfreiheiten des Unionsrechts, zugrunde legt. Arbeitnehmer/innen sind danach all jene, „die eine tatsächliche und echte Tätigkeit im Lohn- und Gehaltsverhältnis ausüben“ (Brechmann 2011, Rn 12). Hierzu sind geringfügige Beschäftigungen zu zählen (EuGH, Rs. 22/08 u.a. – Vatsouras u. Koupatantze, Rn 26ff). Soweit der Verdienst dann unterhalb des Existenzminimums liegt, greift das Diskriminierungsverbot aus Art. 24 I FreizügigkeitsRL, so dass ein Anspruch auf ALG II in Höhe der Einkommensdifferenz besteht. Anders ist die Lage zu beurteilen, wenn ein/e Unionsbürger/in einzig zu dem Zweck einreist, Sozialleistungen zu beziehen und von vornherein gar nicht an der Suche einer Arbeitsstelle interessiert ist. Das SG Leipzig nahm in einem solchen Fall an, dass der zweite Ausschlusstatbestand für Ausländer/innen nach § 7 I 2 Nr. 2 SGB II hier eingreifen müsste. Danach sind Unionsbürger/innen, „deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt“ nicht leistungsberechtigt. Das SG nahm an, dass dieser – für sich genommen umstrittene Ausschlussgrund (dazu sogleich) – erst recht auf Personen anzuwenden sei, die von vornherein gar keine Arbeit suchten (SG Leipzig, Beschl. v. 3.6.2013, Az.: S 17 AS 2198/12, Rn 58), hegte aber Zweifel an der Unionsrechtskonformität dieser Regelung und legte die Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. Im Fokus stand nun auch das Diskriminierungsverbot aus Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Koordinie-
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rungsVO). Der EuGH stellte fest, dass innerhalb der ersten drei Monate generell kein Anspruch auf Erhalt von Sozialleistungen besteht und „nicht erwerbstätigen Unionsbürgern, die von ihrer Freizügigkeit allein mit dem Ziel Gebrauch machen, in den Genuss der Sozialhilfe eines anderen Mitgliedstaates zu kommen“ Sozialleistungen versagt werden dürfen (EuGH, Rs. C-333/13, Rn 78 – Dano). In diesem Sinn stellt Art. 24 II FreizügigkeitsRL klar, dass das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 24 I, welches als spezifische Ausprägung des allgemeinen Diskriminierungsverbots aus Art. 18 AEUV jede Diskriminierung von Unionsbürger/innen durch den Aufenthaltsstaat verbietet, keine Verpflichtung beinhaltet, „anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts [...] einen Anspruch auf Sozialhilfe [...] zu gewähren.“ Noch nicht abschließend geklärt ist, ob der pauschale Leistungsausschluss für tatsächlich arbeitssuchende Unionsbürger/innen in § 7 I 2 Nr. 2 SGB II mit den verschiedenen Diskriminierungsverboten sowie mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit vereinbar ist. Aus letzterer folgt zunächst, dass zum Zweck der Arbeitssuche für einen angemessenen Zeitraum ein Aufenthaltsrecht zu gewähren (EuGH, Rs. C-292/89, Rn 21f – Antonissen: sechs Monate) und dieses im Einzelfall zu verlängern ist, wenn der/die Betroffene nachweisen kann, „dass er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht“ (EuGH, Rs. C-138/02, Rn 37 – Collins). Demgemäß eröffnet § 2 II Nr. 1 a FreizügG/EU arbeitssuchenden Unionsbürger/innen ein sechsmonatiges und nach den genannten Kriterien verlängerbares Aufenthaltsrecht. Umstritten ist nun, ob für diese Zeit der Bezug von ALG-II-Leistungen, so wie § 7 I 2 Nr. 2 SGB II es vorsieht, pauschal ausgeschlossen werden darf. Denn als sog. „beitragsunabhängige Leistung“ im Sinne des Art. 70 KoordinierungsVO ist das ALG II, das hat der EuGH unlängst festgestellt (EuGH, Rs. C-333/13, Rn 47ff – Dano), grundsätzlich vom Diskriminierungsverbot des Art. 4 dieser VO erfasst. Verschiedene Landessozialgerichte haben nun wegen massiver Zweifel an der Unionsrechtskonformität des Pauschalausschlusses im einstweiligen Rechtsschutz – d.h. unter dem Vorbehalt der Hauptsacheentscheidung – arbeitssuchenden Unionsbürger/innen SGB IILeistungen zugesprochen (vgl. d. Überblick bei Brandmeyer 2014, Rn 9a). Das BSG hat die Frage dem EuGH vorgelegt (BSG, Beschl. v. 12.12.2013, Az.: B 4 AS 9/13 R). Dieser (Rs. C-67/14 – Alimanovic) hat den Leistungsausschluss bestätigt und somit die ‚Dano‘-Linie gefestigt. Das BSG hat anschließend anstelle des ALG II auf Gewährung von Sozialhilfe (SGB XII) wegen Aufenthaltsverfestigung im Bundesgebiet entschieden (BSG, Urt. v. 3.12.2015, Az. B 4 AS 43/15 R, vgl. Terminbericht 54/15). Diese Entscheidung ist hochumstritten und es wird erwartet, dass der Gesetzgeber auch hier eine Klarstellung zum Leistungsausschluss vornehmen wird. Nicht minder umstritten ist die Frage, ob der Ausschluss mit dem Gleichbehandlungsanspruch aus Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) vereinbar ist, zu dessen Vertragsstaaten die Türkei gehört. Das BSG hat entschieden, dass der Ausschluss nach § 7 I 2 Nr. 2 SGB II nicht greift, wenn der/die Betroffene vom Schutzbereich des EFA erfasst ist (BSG, Urt. v. 19.10.2010, Az.: B 14 AS 23/10 R), woraufhin die Bundesregierung einen nachträglichen Vorbehalt anbrachte, nach welchem die kritische Vorschrift vom Diskriminierungsverbot nicht erfasst sein soll. Dieser Vorbehalt kann allerdings keine Wirkungen für EU-Bürger/innen entfalten, da die unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote hierdurch nicht suspendiert werden können (Steffen & Keßler 2012, S. 245ff). Bezogen auf Angehörige von EFA-Staaten, die nicht zur EU gehören (Türkei und Island), ist die völkerrechtliche Wirksamkeit umstritten (Steffen & Keßler 2012; Brandmayer 2014, Rn 9).
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2.5 Daueraufenthaltsrecht Nach fünf Jahren rechtmäßigen Aufenthalts erwerben Unionsbürger/innen gem. § 4 a I FreizügG/EU das Daueraufenthaltsrecht. Dies entspricht Art. 16 I FreizügigkeitsRL. Die allgemeinen Freizügigkeitsvorgaben aus § 2 II FreizügG/EU kommen nun nicht mehr zur Anwendung, weder müssen also erwerbsspezifische Eigenschaften (z.B. Arbeitnehmereigenschaft, Nr. 1) noch die den Lebensunterhalt betreffenden Voraussetzungen (Nr. 5 iVm § 4 FreizügG/EU) vorliegen. Unter Umständen kann bereits nach drei Jahren das Daueraufenthaltsrecht erworben werden, z.B. wenn mit oder nach Erreichen des 65. Lebensjahres aus dem Erwerbsleben ausgeschieden wird (§ 4 II Nr. 1 a FreizügG/EU).
Eine Beendigung kommt im Wesentlichen in Betracht, wenn Voraussetzungen des FreizügG/ EU entfallen (§§ 2 VII, 5 IV) oder wenn eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit ( § 6) erfolgen darf. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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2.6 Beendigung des Freizügigkeitsrechts
Literatur
Brandmayer, Simone (2014): § 7 SGB II. In: Christian Rolfs; Richard Giesen; Ralf Kreikebohm & Peter Udsching: Beck‘scher Online-Kommentar Sozialrecht. Edition 36. München: C. H. Beck. – Brinkmann, Gisbert (2010): § 2 FreizügG/EU. In: Bertold Huber (Hg.): Kommentar zum Aufenthaltsgesetz. München: C. H. Beck. – Brechmann, Winfried (2011): Art. 45 AEUV. In: Christian Calliess & Matthias Ruffert: Kommentar zum EUV/AEUV. 4. Aufl. München: C. H. Beck. – Dienelt, Klaus (2013): § 5 FreizügG/EU. In: Günter Renner; Jan Bergmann & Klaus Dienelt (Hg.): Kommentar zum Ausländerrecht. 10. Aufl. München: C. H. Beck. – Kluth, Winfried (2011): Art. 21 AEUV. In: Christian Calliess & Matthias Ruffert: Kommentar zum EUV/AEUV. 4. Aufl. München: C. H. Beck. – Lehner, Roman (2014): Mitgliedschaft in der Union – Bedeutung, Begründung, Beendigung. In: Matthias Niedobitek (Hg.): Europarecht – Grundlagen der Union. Berlin: De Gruyter. – Lehner, Roman (2015): Tausche Britannien gegen Schottland, oder: Volkssouveränität mal ganz anders. VerfBlog, 2015/8/13. Online verfügbar unter http:// verfassungsblog.de/tausche-britannien-gegen-schottland-oder-volkssouveraenitaet-mal-ganz-anders/ [20.07.2016]. – Niedobitek, Matthias (2014): Vertragliche Grundlagen, rechtliche Gestalt, Institutionen der Union. In: Matthias Niedobitek (Hg.): Europarecht – Grundlagen der Union. Berlin: De Gruyter. – Schönberger, Christoph (2005): Unionsbürger – Europas föderales Bürgerrecht in vergleichender Sicht. Tübingen: Mohr Siebeck. – Steffen, Eva & Keßler, Stefan: Pacta sunt servanda – Ist der deutsche Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen wirksam?. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 2014, S. 245-248.
Einwanderungsmöglichkeiten von Drittstaatsangehörigen
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54 Einwanderungsmöglichkeiten von Drittstaatsangehörigen Roman Lehner
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1 Allgemeines Drittstaatsangehörige sind Personen, „die nicht Unionsbürger, d.h. Staatsangehörige eines der Mitgliedstaaten [...] sind“ (Magiera 2014, Rn 26). Ihre Zuwanderung erfolgt nach dem Aufenthaltsgesetz (AufenthG), welches nach § 1 I 1 „der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs“ von Ausländer/innen dient. Keine Anwendung findet es nach seinem § 1 II Nr. 1 auf Ausländer/ innen, „deren Rechtsstellung von dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern geregelt ist“. Das Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) regelt in § 1 „die Einreise und den Aufenthalt von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Unionsbürger) und ihrer Familienangehörigen.“ Erfasst werden auch die Angehörigen der Staaten des europäischen Wirtschaftsraums (Island, Norwegen, Liechtenstein), § 12 FreizügG/EU. Mit Austritt des Vereinigten Königreichs „verwandeln“ sich britische Staatsangehörige wieder in Drittstaatsangehörige, so dass eine Erweiterung des § 12 FreizügG/EU zu erwägen wäre. Infolge bilateraler Vereinbarungen zwischen der EU und der Schweiz sind auch Schweizer/innen in Hinblick auf die Freizügigkeit weitestgehend gleichgestellt; wie EU-/EWR-Bürger/innen bedürfen diese keines konstitutiven Aufenthaltstitels. Auch hier ist abzuwarten, wie lange dies der Fall sein wird, nachdem ein Volksentscheid die Freizügigkeit in Frage gestellt hat. Schließlich kommt eine Verdrängung des AufenthG durch das europäisch-türkische Assoziationsrecht in Betracht. Zu nennen ist vor allem der nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei (1963) und dem ZP (1970) erlassene und als Teil der Unionsrechtsordnung unmittelbar geltende Beschluss des Assoziationsrates Nr. 1/80, der in Art. 6 ein zeitlich gestuftes System vorsieht, nach welchem türkischen Arbeitnehmer/innen nach einem Zeitraum von ein bis vier Jahren ordnungsgemäßer und ununterbrochener Beschäftigung bestimmte Beschäftigungsrechte zukommen, bis hin zum freien Zugang zu jedweder Beschäftigungsart nach vier Jahren. Aufgrund der vom EuGH verfochtenen „These des ‚impliziten Aufenthaltsrechts‘“ folgen aus den Beschäftigungsrechten die entsprechenden Aufenthaltsberechtigungen (Hailbronner 2013, Rn 1470). Nach § 4 I 1 AufenthG bedürfen die assoziationsrechtlich Berechtigten zwar keines konstitutiven Aufenthaltstitels, gleichwohl verpflichtet § 4 V AufenthG, das Aufenthaltsrecht durch Aufenthaltserlaubnis nachzuweisen (Hailbronner 2013, Rn 1472). § 1 I 5 AufenthG ordnet an, dass andere Regelungen für Drittstaatsangehörige unberührt bleiben, was vor allem Asylbewerber/innen anbelangt, bei denen die Gestattung der Einreise und des Aufenthalts zum Zweck der Stellung eines Asylantrags nach dem Asylverfahrensgesetz (AsylG, § 55) erfolgt (Hoffmann 2008, Rn 24). Daher kann nach § 10 I AufenthG „vor dem bestandskräftigen Abschluss des Asylverfahrens“ kein Aufenthaltstitel erteilt werden (Huber 2010, § 10 AufenthG, Rn 2). Bei Anerkennung als Asylberechtigte/r im Sinne des Art. 16a GG ergeht eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 I AufenthG. Für Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und für den subsidiären Schutz gilt § 25 II AufenthG, beides sind Formen des sog. internationalen Schutzes nach Maßgabe des EU-Rechts. Sie werden ebenso im Rahmen eines Asylverfahrens (§§ 1, 13 AsylG) gewährt.
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2 Arbeitsmigration 2.1 Entwicklung
2.2 Erwerbstätigkeit
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„Deutschlands Wandel zum modernen Einwanderungsland“ (SVR 2014) hat bei der Arbeitsmigration viele Zuwanderungsmöglichkeiten eröffnet. Ab 2000 wurden sukzessiv verschiedene rechtliche Instrumente zur Öffnung des Arbeitsmarktes für Drittstaatsangehörige eingeführt (Verordnung über die Arbeitsgenehmigung für hoch qualifizierte ausländische Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologie, IT-ArgV = „Green Card“, 2000, inzw. aufgehoben; Zuwanderungsgesetz, 2005; Gesetz zur Umsetzung der EU-ForscherRL 2005/71/EG, 2007; Gesetz zur Umsetzung der EU-HochqualifiziertenRL 2009/50/EG = „Blue Card“, 2012; Novelle zur Beschäftigungsverordnung in Bezug auf nicht-akademische „Mangelberufe“, 2013) und implementiert (vgl. SVR 2014, 72ff).
In den §§ 18ff AufenthG finden sich Aufenthaltstitel für qualifizierte Arbeitskräfte, die zum Zweck der Arbeitsaufnahme zuwandern. Der Titel wird von der Ausländerbehörde erteilt, die allerdings intern die Bundesanstalt für Arbeit (BA) beteiligen muss, sofern für die Aufnahme einer Beschäftigung deren Zustimmung erforderlich ist. Wann dies im Einzelnen der Fall ist, ist in der Beschäftigungsverordnung (BeschV) geregelt, wo in vielen Fällen die Zustimmungserteilung für generell entbehrlich erklärt (z.B. nach § 2 I BeschV für Hochqualifizierte bzw. Inhaber einer Blue Card, §§ 19, 19a I AufenthG) oder auf eine Vorrangprüfung verzichtet wird (z.B. für „Mangelberufe“, § 2 II BeschV), welche ansonsten nach § 39 II 1 Nr. 1b AufenthG eine vorrangige Berücksichtigung „bevorrechtigte[r] Arbeitnehmer“ (vor allem Deutsche, EU/EWRBürger, Schweizer) verlangt (Göbel-Zimmermann 2010, § 39 AufenthG, Rn 5f ). Hervorzuheben ist der 2013 eingeführte § 6 II BeschV, mit dem „der deutsche Arbeitsmarkt erstmals auch für Fachkräfte ohne akademischen Abschluss geöffnet“ (SVR 2014, 76f ) wurde. Dies betrifft Berufe, bei denen die BA „festgestellt hat, dass die Besetzung der offenen Stellen mit ausländischen Bewerber/innen arbeitsmarkt- und integrationspolitisch verantwortbar ist.“ Hierzu wurde eine „Positivliste“ erstellt, die vor allem technische, handwerkliche und gesundheitsbezogene Berufsfelder mit Angabe des jeweils geforderten Anforderungsniveaus (Fachkraft/ Spezialist) erfasst. Die Anerkennung einer ausländischen Berufsqualifikation erfolgt auf Grundlage des 2012 in Kraft getretenen Anerkennungsgesetzes des Bundes (für Berufe im Zuständigkeitsbereich des Bundes) sowie der Länder-Anerkennungsgesetze. 2013 wurden über 13.000 Anerkennungsanträge gestellt, deren Großteil positiv beschieden wurde. Im Jahr 2015 wurde durch das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung (BGBl. I, S. 1386) die Vorschrift des § 17a AufenthG eingeführt, wonach zum Zweck der Anerkennung einer im Ausland erworbenen Berufsqualifikation eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, wenn eine Bildungsmaßnahme mit Prüfung ansteht, um die Gleichwertigkeit nachweisen zu können. Entscheidend für die Stoßkraft der Öffnung des Arbeitsmarktes in Bezug auf Ausbildungsberufe ist auch hier der Verzicht auf die Vorrangprüfung (§ 6 III BeschV). Die Verordnung zum Integrationsgesetz sieht vor, bei Asylbewerber/innen und Geduldeten für alle Berufe, indes befristet auf drei Jahre, die Vorrangprüfung auszusetzen. Nach § 18 V AufenthG ist der Aufenthalt für Drittstaatsangehörige mit Berufsausbildung stets an ein „konkretes Arbeitsplatzangebot“ gekoppelt. Dies ist Ausdruck der das deutsche Zuwanderungsrecht grundsätzlich (noch) kennzeichnenden Nachfrageorientierung, welche die Zulassung ausländischer Arbeitskräfte an die reale Arbeitskräftenachfrage anzubinden sucht (zu den Gegenpolen von nachfrage- und an-
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gebotsorientierten Modellen vgl. SVR 2014, 76). Im Gefolge der sog. Flüchtlingskrise wurden weitere Westbalkan-Staaten zu sicheren Herkunftsstaaten im Sinne des § 29a AsylG erklärt (s.u. Ziff. 4.1). Zum „Ausgleich“ dafür wurde in § 26 II BeschV eine (bis 2020 befristete) Regelung geschaffen, nach der Personen aus diesen Staaten ohne jede weitere Voraussetzung und qualifikationsunabhängig eine Beschäftigungserlaubnis zu erteilen ist. Diese Regelung kann durchaus als Experimentierklausel für den Bereich geringqualifizierter Erwerbsmigration betrachtet werden.
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2.3 Arbeitssuche Die Nachfrageanbindung ist für qualifizierte Fachkräfte, die über einen akademischen Abschluss verfügen, bei Gelegenheit der Umsetzung der HochqualifiziertenRL durch die Einfügung des § 18c AufenthG (2012), partiell aufgebrochen worden und dies in „Abkehr von einem seit Jahrzehnten geltenden Prinzips“ ([sic]; Griesbeck 2014, 182). Für dieses Segment greift nun ein am „Humankapital“ orientiertes Modell (Thym 2012, 5; vgl. SVR 2014, 76), dessen Übertragung auf nicht-akademische Berufe gefordert wird (so SVR 2014, 76). Die Entkopplung vom Arbeitsvertragserfordernis erfolgt nach § 18c I 1 AufenthG über die Möglichkeit, einem Drittstaatsangehörigen mit einem deutschen oder hier anerkannten Hochschulabschluss einen sechsmonatigen Aufenthalt zur Beschäftigungssuche zu gewähren. Faktisch handelt es sich um ein „kleines Punktesystem“ (vgl. zum Charakter eines Punktesystems SVR 2014, 76). Allerdings berechtigt die Erlaubnis nicht dazu, in dieser Zeit einer anderen Erwerbstätigkeit nachzugehen (I 2), etwa um sich den Aufenthalt finanzieren zu können, was kritisch bewertet werden kann (so SVR 2014, 76). Zudem ist eine Verlängerung grundsätzlich nicht möglich (II). Eine Ausweitung dieser Regelung auf (bestimmte) Ausbildungsberufe wird seit langem gefordert (SVR 2014, ebd.). Eine strukturgleiche Regel besteht für Personen, die einen deutschen Hochschulabschluss erworben haben und nun in Deutschland eine adäquate Stelle suchen wollen (s.u. Ziff. 3.1). 2.4 „Blaue Karte EU“ Erfolgte die Einfügung von § 18c AufenthG in das AufenthG iRd 2012 des erlassenen Umsetzungsgesetzes (BGBl. I, 1224) zur EU-HochqualifiziertenRL (RL 2009/50/EG, „Blue Card“), ohne dass dies unionsrechtlich gefordert war, so wurde § 19a AufenthG durch die Richtlinie direkt determiniert. Danach ist vor allem Drittstaatsangehörigen mit Hochschulabschluss (z. Anerkennung Herzog-Schmidt, 2014, 125ff) eine „Blaue Karte EU“ zu erteilen, wenn sie ein „konkretes Arbeitsplatzangebot“ (§ 18 V iVm § 19a AufenthG, vgl. Herzog-Schmidt, 2014, 97f ) mit einem Mindestgehalt in Höhe von „mindestens zwei Dritteln der jährlichen Beitragsbemessungsgrenze in der allgemeinen Rentenversicherung“ (§ 19a I Nr. 3, II Nr. 1 AufenthG iVm § 2 I Nr. 2a BeschV) – für das Jahr 2016 entsprach dies einem Bruttogehalt von 49.600 Euro – vorweisen können. Eine Zustimmung der BA ist nicht erforderlich, § 2 I Nr. 2 BeschV. Für bestimmte „Mangelberufe“ – vor allem „Ingenieure, Akademiker u. vergleichbare Fachkräfte der Informations- u. Kommunikationstechnologie sowie Ärzte“ (Sußmann 2013, Rn 30) – genügt nach § 2 II BeschV ein Gehalt in Höhe von „mindestens 52 Prozent der jährlichen Beitragsbemessungsgrenze in der allgemeinen Rentenversicherung“, also brutto 36.688 Euro im Jahr 2016. Die Zustimmung der BA wird ohne Vorrangprüfung erteilt, § 2 II 2 BeschV. Die Mindestgehälter wurden im Vergleich zu den europarechtlichen Mindestvorgaben, aber auch zum Zuwanderungsgesetz, bewusst niedrig angesiedelt (SVR 2014, 74f; ausführlich HerzogSchmidt, 2014, S. 129ff). Nach 33 Monaten besteht gem. § 19a VI 1 AufenthG ein Anspruch auf eine Niederlassungserlaubnis – „ein unbefristeter Aufenthaltstitel“ (§ 9 Abs. 1 S. 1 AufenthG) – , „sofern das Arbeitsverhältnis fortbesteht u. in eine Altersversorgung eingezahlt wird.“
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(Sußmann 2013, § 19a AufenthG, Rn 38). Die wesentlichen Voraussetzungen für eine Niederlassungserlaubnis gelten auch hier, vor allem sind „ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache“ (§ 9 II Nr. 7 AufenthG) und „Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ (Nr.8) erforderlich, die auf Grundlage der Integrationsverordnung nachzuweisen sind. Hinreichende Deutschkenntnisse (Stufe B 1) führen nach § 19a VI 3 AufenthG zu einer Fristverkürzung von 33 auf 21 Monate (dazu Griesbeck 2014, 182; Sußmann 2013, Rn 39). Von vornherein vorgesehen war der unbeschränkte Arbeitsmarktzugang von Familienangehörigen Hochqualifizierter (SVR 2014, 75; Herzog-Schmidt 2014, 257f ), daher sah schon § 29 V AufenthG aF für Angehörige von nach § 19a – sowie nach § 20 (Forscher) – AufenthG Aufenthaltsberechtigten eine Erwerbsberechtigung vor. Durch Gesetz vom 29.8.2013 (BGBl. I, 3484) wurde mit § 27 V AufenthG „allen ausländischen Familienangehörigen, die eine Aufenthaltserlaubnis besitzen, ein unbeschränkter Arbeitsmarktzugang eingeräumt“ (Entwurfsbegründung, BT-Drs. 17/13022, 20), also nicht nur jenen von Hochqualifizierten. Es soll allen Familienangehörigen unabhängig vom Aufenthaltsgrund des „Stammberechtigten“ die Möglichkeit eröffnet werden, „durch eigene Beschäftigung zur Sicherung des Lebensunterhaltes beitragen zu können“ (Entwurfsbegründung, ebd.). Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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2.5 Qualifizierte „Geduldete“ Als Reaktion auf den Fachkräftemangel wurde 2008 § 18a AufenthG neu geschaffen, vor allem um den bereits in Deutschland lebenden Drittstaatsangehörigen den Arbeitsmarktzugang zu erleichtern (Dienelt 2013, § 18a AufenthG, Rn 2). Nach § 18a I AufenthG kann einem „geduldeten“ Ausländer mit einer inländischen qualifizierten Berufsausbildung (Nr. 1a), einem im Ausland erworbenen Hochschulabschlusses (Nr. 1b) oder einer dort erworbenen Berufsausbildung, sofern eine entsprechende durchgängige Beschäftigung über drei Jahre vorgelegen hat, eine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer adäquaten Beschäftigung erteilt werden, wenn die BA ihre Zustimmung erteilt hat. Auf eine Vorrangprüfung wird verzichtet (§ 18a II 1 AufenthG). Der Wechsel „in einen rechtmäßigen Aufenthalt“ (Göbel-Zimmermann, in: Huber, 2010, § 18a AufenthG, Rn 1) ist eine Art Prämie für die Geduldeten, die im Bundesgebiet eine Qualifikation erworben haben oder mit einer solchen eingereist waren. Dies ist umso bedeutsamer, weil die Duldung nach § 60a AufenthG nur die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung beinhaltet und an der grundsätzlichen Ausreiseverpflichtung nach § 50 AufenthG nichts ändert, also keinen Aufenthaltstitel darstellt. Durch das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung wurde § 60a II AufenthG um eine Regelung ergänzt, wonach die Aufnahme einer Berufsausbildung bei unter 21-Jährigen selbst ein Grund für eine Duldung sein kann, ausgenommen hiervon sind aber Personen aus sicheren Herkunftsstaaten (s.u. Ziff. 4.1). Mit dem neuen Integrationsgesetz (2016) wird diese Altersgrenze aufgehoben und zudem Rechtssicherheit für den Ausbildungsbetrieb geschaffen: Nach § 60a II5 AufenthG n.F. wird die Duldung jetzt für die gesamte Ausbildungsdauer erteilt. Schließt der Geduldete die Ausbildung erfolgreich ab, wird er aber gleichwohl vom Ausbildungsbetrieb nicht übernommen, wird die Duldung zur Arbeitsplatzsuche für sechs Monate verlängert (S. 11). 2.6 Verbleib von Absolvent/innen deutscher Hochschulen Der Erwerb eines deutschen Hochschulabschlusses begründet noch keinen Aufenthaltstitel. Soweit einem Drittstaatsangehörigen eine Aufenthaltserlaubnis zum Zweck eines Studiums an einer deutschen Hochschule auf Grundlage von § 16 I AufenthG erteilt wurde, besteht nach Abschluss gem. § 16 IV AufenthG die Möglichkeit der Verlängerung (max. 18 Monate) zur
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3 Bildungsmigration Damit ist die Bildungsmigration angesprochen. § 16 AufenthG normiert Aufenthaltstatbestände in Hinblick auf Studium, die Absolvierung von Sprachkursen und den Schulbesuch. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Suche einer qualifikationsadäquaten Beschäftigung. Während dieser „Suchphase“ kann uneingeschränkt einer Beschäftigung nachgegangen werden. Ist sie von Erfolg gekrönt, kann nach den o.g. Grundsätzen z.B. eine Arbeitserlaubnis nach § 18 AufenthG oder eine „Blaue Karte EU“ nach § 19a AufenthG erlangt werden. In keinem Fall ist eine Zustimmung der BA erforderlich, § 2 I Nr. 3 BeschV. Der Übergang in einen unbefristeten Aufenthaltstitel würde sich im Fall des § 18 AufenthG nach § 9 AufenthG (nach fünf Jahren), im Fall des § 19a AufenthG nach dessen VI (nach 33 bzw. 21 Monaten) richten. Zur Erhöhung der Attraktivität des Studienstandorts Deutschland wurde mit der Einfügung des § 18b AufenthG ein Weg zur schnelleren Erlangung einer Niederlassungserlaubnis geschaffen. § 21 IIa AufenthG erlaubt schließlich die Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit für Absolvent/innen deutscher Hochschulen bzw. aufenthaltsberechtigte Forscher/innen.
3.1 Studium Nach § 16 I 1 AufenthG kann zum Hochschulstudium eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Sie wird zunächst und in jedem weiteren Verlängerungsfall für mindestens ein Jahr erteilt, wobei die Geltungsdauer einer Erlaubnis zwei Jahre nicht überschreiten soll (§ 16 I 5 AufenthG). Im Fall der Verlängerung ist in der Regel ein zweijähriger Aufenthalt zu gewähren, wenn die/der Betreffende über hinreichende Mittel zum Lebensunterhalt verfügt (z.B. Stipendium, Bankbürgschaft) und ein Abschluss in angemessener Zeit zu erwarten ist (Nr. 16.1.1.6 der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften-AufenthG; hierzu Huber 2010, § 16 AufenthG, Rn 7). BAföG kann nicht bezogen werden, da § 16 AufenthG in § 8 BAföG nicht aufgeführt ist (Röseler 2013, Rn 42). Längstens kann die Erlaubnis über mehrere Verlängerungen auf einen Zeitraum, welcher der Regelstudienzeit plus max. drei Semester entspricht (Huber 2010, § 16 AufenthG, Rn 8), erstreckt werden. Zu berücksichtigen ist, dass zeitlich auch „nach vorne“ gestreckt werden kann, indem bereits eine Aufenthaltserlaubnis für studienvorbereitende Maßnahmen (z.B. Sprachkurse) nach § 16 I 2 AufenthG erteilt wird. Eine vorgängige Aufenthaltszeit zur Studienbewerbung sieht § 16 Ia 1 AufenthG vor, allerdings begrenzt auf neun Monate (S. 2). Berechtigte nach § 16 I AufenthG dürfen, schon um Gewähr für die Sicherung des Lebensunterhalts geben zu können, einer Beschäftigung nachgehen (III), zwar in beschränktem Umfang (120 volle Tage im Jahr, bei studentischen Nebentätigkeiten ohne Beschränkung), dafür aber ohne Zustimmung der BA (Röseler 2013, Rn 15). Die Beschränkung auf 120 volle (bzw. 240 halbe) Tage soll sicherstellen, dass der eigentliche Aufenthaltszweck nicht aus dem Auge verloren wird. Die Anhebung des ursprünglichen Maximalbeschäftigungsumfangs von 90 vollen (bzw. 180 halben) Tagen wurde 2012 bei Gelegenheit der Umsetzung der HochqualifiziertenRL auf den Weg gebracht. Ebenfalls hierbei wurde die Suchphase nach § 16 IV AufenthG, die bis dahin nur 12 Monate betrug, auf 18 Monate angehoben und für diese Zeit ein unbeschränkter Beschäftigungszugang eröffnet. 3.2 Sprachkurse und Schulbesuch Daneben besteht nach § 16 V AufenthG die Möglichkeit zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für sonstige Sprachkurse, Schüleraustausche und – ausnahmsweise – den Schulbesuch. Letzteres soll nicht den Regelfall darstellen um andere, restriktivere Regelungen – vor allem zum
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Familiennachzug – nicht zu unterlaufen (Huber 2010, § 16 AufenthG, Rn 20). Ein Ausnahmefall liegt etwa vor, wenn Angehörigen bestimmter Staaten Aufenthalte ermöglicht werden sollen (Röseler 2013, Rn 41), so nach § 41 I 1 der Aufenthaltsverordnung (Australien, Israel, Japan, Kanada, Südkorea, Neuseeland, USA). Bei der Umsetzung der HochqualifiziertenRL wurden mit § 16 Va AufenthG Berufs- und Fachschüler/innen, deren Schulbesuch einer Berufsausbildung dient, Beschäftigungsmöglichkeiten neben der Ausbildung (10 Std./Woche) eingeräumt. Dem Qualifikationserwerb schließt sich eine einjährige Arbeitsplatzsuchphase mit uneingeschränkter Beschäftigungsberechtigung an (V).
Eine große Rolle spielen humanitäre Aufenthaltsgründe. Zu nennen sind vor allem der Aufenthalt von Asylberechtigten, von Flüchtlingen im Sinne der GFK (Konventionsflüchtlinge), von sog. subsidiär Geschützten sowie aus sonstigen humanitären oder politischen Gründen. 4.1 Asylberechtigte Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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4 Fluchtmigration
Nach § 25 I 1 AufenthG ist einem Asylberechtigten, d.h. einem politisch Verfolgten iSd Art. 16a GG (Hailbronner 2013, Rn 503), durch die Ausländerbehörde eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen (§ 26 I 1 AufenthG). Die Anerkennungsentscheidung trifft hingegen das Bundesamt für Flüchtlinge und Migration (BAMF). Bis zuletzt war sodann nach drei Jahren eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn das BAMF nach § 73 IIa AsylG nicht zuvor mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf der Anerkennung nach § 73 I AsylG (bei Wegfall der Verfolgung) oder für deren Rücknahme nach § 73 II AsylG (wenn sich nachträglich ergibt, dass von Anfang an die Asylvoraussetzungen nicht erfüllt waren) vorliegen. Wird dem/ der Asylberechtigten das Recht auf einen dauerhaften Aufenthalt eingeräumt, bleibt dieses zumeist auch dann bestehen, wenn die Verfolgungsgefahr im Heimatstaat später wieder entfällt, was zur Unabhängigkeit des/der Betroffenen von der (ursprünglichen) Verfolgungsgefahr führt (Hailbronner 2013, Rn 503). Durch das neue Integrationsgesetz wird die Niederlassungserlaubnis allerdings erst nach fünf Jahren und auch nicht mehr voraussetzungslos erteilt, vielmehr gelten nun hier (größtenteils) die allgemeinen Anforderungen des § 9 AufenthG, insbesondere ist eine überwiegend eigenständige Lebensunterhaltssicherung erforderlich. Für die Aufenthaltserlaubnis müssen die nach § 5 AufenthG erforderlichen allgemeinen Voraussetzungen (insb. Sicherung des Lebensunterhalts, I Nr. 1) hingegen nicht vorliegen (§ 5 III AufenthG). Überdies vermögen nur schwerwiegende Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder der freiheitlich demokratischen Grundordnung den Erteilungsanspruch des Asylbewerbers auszuschließen (§§ 25 I 2, 5 IV 1 iVm § 53 III AufenthG). Im Gefolge der Silvesterereignisse von Köln 2016 ist indes das Ausweisungsrecht, das mit dem Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung erst neugefasst worden war, verschärft worden (vgl. BGBl. 2016 I, 394) und auch die Anerkennung als GFK-Flüchtling (s.u. Ziff. 4.2) kann nun eher versagt werden (vgl. § 60 VIII AufenthG). Im Rahmen der im Juli beschlossenen Gesetzesänderung zur Verschärfung des Sexualstrafrechts wurden beide Regelungskomplexe weiter verschärft. Die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 I 1 AufenthG berechtigt zur uneingeschränkten Erwerbstätigkeit (§ 25 I 4 AufenthG). Mit dem Integrationsgesetz wurden erstmals Wohnsitzpflichten auch für anerkannte Asylberechtigte u.a. eingeführt (§ 12a AufenthG n.F.). Im Asylverfahren, also vor Anerkennung, besitzt der/die Asylbewerber/in keinen Aufenthaltstitel, vielmehr wird sein Aufenthalt nach § 55 I 1 AsylG nur gestattet. Da der Asylantrag in der
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Regel bei einer Außenstelle des BAMF, welcher jeweils einer Aufnahmeeinrichtung zugeordnet ist, zu stellen ist (§ 14 I 1 AsylG), besteht für die erste Zeit (max. drei Monate) die Pflicht, dort zu wohnen (§ 47 I 1 AsylG), die Höchstdauer von drei Monaten wurde durch das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz (‚Asylpaket I‘) im Jahr 2015 (BGBl. I, 1722) von drei auf sechs Monate heraufgesetzt, mit dem Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren (‚Asylpaket II‘) im Jahr 2016 (BGBl. I, 390) wurde diese Pflicht für alle Personen, die einem beschleunigten Verfahren unterliegen (§ 33a AsylG), auf die gesamte Verfahrensdauer ausgedehnt. In Abweichung von § 4 III AufenthG, wonach die Erwerbsberechtigung an einen (zur Erwerbstätigkeit berechtigenden) Titel gebunden ist, ermöglicht § 61 II AsylG eine Beschäftigungserlaubnis nach drei Monaten der Aufenthaltsgestattung (Sperrfrist), soweit die BA zustimmt oder die Beschäftigung durch die BeschV für zustimmungsfrei erklärt worden ist. Mit Gesetz vom 31.10.2014 (mit dem im Übrigen auch der Kreis der sog. sicheren Herkunftsstaaten erweitert wurde, s. sogleich) ist die Sperrfrist erheblich, nämlich von einem Jahr auf drei Monate abgesenkt worden (BGBl. I, 1649), um den Betroffenen rasch die Möglichkeit zu eröffnen, „durch Aufnahme einer Beschäftigung ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, anstatt auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz [AsylBlG; Anm. d. Verf.] angewiesen zu sein.“ (Entwurfsbegründung, BT-Drs. 18/1528, 9). Leistungen nach dem AsylBlG können als Sachleistungen oder – für außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen wohnende Asylbewerber/innen – als Geldleistungen gewährt werden. Die hierfür ursprünglich im Gesetz vorgesehenen – noch in DM ausgewiesenen – Beträge, wurden durch das BVerfG 2012 wegen des aus der Menschenwürde (Art. 1 I GG) folgenden Anspruchs auf ein (auch sozio-kulturelles) Existenzminimum zum Teil für unzureichend befunden und für verfassungswidrig erklärt (BVerfG, Urt. v. 18.7.2012, 1 BvL 10/10, 2/11). Bis zur Neuregelung waren auf Anordnung des Gerichts die Bedarfstatbestände aus dem für die Sozialhilfe (§ 28 SGB XII) und Grundsicherung für Arbeitslose (ALG II; § 20 V 1 SGB II iVm § 28 SGB XII) maßgeblichen Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) entsprechend anzuwenden. De facto lief dies auf eine weitgehende Gleichstellung zum allgemeinen Fürsorgerecht hinaus (Lehner 2012). Die gesetzliche Angleichung (BGBl. I 2014, 2187) ist nunmehr mit Wirkung zum 1.3.2015 erfolgt. Umgekehrt wurden mit dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz zahlreiche Verschärfungen in Gestalt von Leistungskürzungen eingeführt. Diese betreffen u.a. Personen, die nicht abgeschoben werden können und die Gründe hierfür zu vertreten haben (vgl. § 1a II,III AsylBlG), diese erhalten nur noch physische Subsistenzmittel. Das gleiche gilt seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren für Asylbewerber/innen, denen kein Ankunftsnachweis (§ 63a AsylG) ausgestellt werden konnte, weil sie sich nicht bei der ihnen zugeordneten Aufnahmeeinrichtung eingefunden haben (§ 11 IIa AsylBlG). Die Asylberechtigung setzt nach § 26a AsylG iVm Art. 16a II 1 GG voraus, dass keine Einreise über einen sicheren Drittstaat (EU-Mitgliedstaaten sowie Norwegen/Schweiz, § 26a II AsylG iVm Anl. I) erfolgt ist. § 18 II Nr. 1 AsylG erlaubt bei Einreise aus einem solchen Staat an sich die Zurückweisung an der Grenze, allerdings ist diese Möglichkeit durch EU-Recht in Bezug auf GFK-Flüchtlinge (4.1) und subsidiär Schutzberechtigte (4.3) überlagert. Der Gesetzgeber hat diese Überlagerung auch für Asylberechtigte angeordnet (vgl. §§ 18 IV Nr. 1, 26 I Nr. 2 AsylG), sie gilt also umfänglich. Hier ist Deutschland nach der Dublin-III-Verordnung (Nr. 604/2013) originär zwar nur in Ausnahmefällen zuständig, infolge des faktischen Zusammenbruchs des Dublin-Systems im Rahmen der Flüchtlingskrise hat sich jedoch eine deutsche Zuständigkeit dadurch ergeben, dass Überstellungen in die eigentlich zuständigen Staaten regelmäßig scheitern; dann kommt es auch rechtlich zu einer deutschen Asylzuständigkeit (Lehner 2016). Von vornherein nicht möglich ist eine Asylantragstellung in einer deutschen Auslandsvertretung. Ne-
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ben dem nationalen Drittstaatsprinzip spielt seit kurzem auch das europäische Äquivalent eine Rolle: Auf Grundlage der EU-AsylverfahrensRL 2013/32/EU und im Rahmen einer Übereinkunft zwischen der EU und der Türkei konnte Griechenland die Türkei zum sicheren Drittstaat erklären mit der Folge, dass Asylanträge durch griechische Behörden für unzulässig befunden werden können. Die gleichwohl notwendige Prüfung in jedem Einzelfall findet seit kurzem in von der EU betriebenen Aufnahmezentren („hot spots“) statt. Asylanträge in Deutschland sind nach § 29a AsylG offensichtlich unbegründet, wenn der Heimatstaat als sicherer Herkunftsstaat im Sinne von Art. 16 a III 1 GG gilt; dies sind Albanien, Bosnien-Herzegowina, Ghana, Mazedonien, Montenegro, Kosovo, der Senegal und Serbien (§ 29a II AsylG iVm Anl. II), wobei die Westbalkan-Staaten erst 2015 und 2016 im Rahmen der Asylpakete hinzugekommen sind.
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4.2 Konventionsflüchtlinge Während Art. 16a GG ein Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte enthält, definiert Art. 1.A.Nr.2 GFK Flüchtlinge als Verfolgte wegen der „Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ (sog. „kleines Asyl“, Hailbronner 2013, Rn 510). Sie werden nach § 3 AsylG als Konventionsflüchtlinge durch das BAMF anerkannt, nach § 25 II 1. Alt. AufenthG ist eine Aufenthaltserlaubnis durch die Ausländerbehörde zu erteilen. Für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gilt das zur Asylberechtigung Gesagte. Infolge der sog. QualifikationsRL 2004/83/EG, die Mindestnormen für drittstaatsangehörige (oder staatenlose) Flüchtlinge oder andere internationalen Schutzes Bedürfende festlegt, bestehen kaum mehr Unterschiede zwischen Asylberechtigten und Flüchtlingen in Hinblick auf Verfahren und Aufenthalt. Zahlenmäßig spielt die Asylberechtigung kaum noch eine Rolle, Verfolgungsschutz wird heute ganz überwiegend über die GFK gewährt. 4.3 Subsidiär Geschützte und sonstige humanitäre Aufenthaltsrechte Im Sinne von Art. 2 QualifikationsRL haben Personen Anspruch auf subsidiären Schutz, die die GFK-Voraussetzungen nicht erfüllen, gleichwohl bei Rückkehr Gefahr laufen, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Art. 15 dieser RL (z.B. Todesstrafe, besondere Gefährdungslage in Bürgerkriegsgebieten) zu erleiden. Nach § 60 II, III AufenthG gelten hier Abschiebungsverbote. Den Betroffenen ist nach § 25 II 2. Alt. AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, die mit einem unbeschränkten Arbeitsmarktzugang verbunden ist. Daneben steht der nationale subsidiäre Schutz, der über die Vorgaben der QualifikationsRL hinaus gewährt wird, etwa wenn eine lebensgefährliche Erkrankung im Heimatstaat nicht behandelt werden kann. Die Anforderungen an medizinisch indizierte Abschiebungsverbote wurden indes durch das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren erheblich verschärft. Bei Bestehen entsprechender Abschiebungsverbote (§ 60 V, VII AufenthG) soll nach § 25 III 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Für die Feststellung des Vorliegens eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots ist das BAMF zuständig, ansonsten die Ausländerbehörde. Daneben eröffnet das AufenthG weitere Möglichkeiten zum Aufenthalt aus humanitären/politischen Gründen. § 22 AufenthG sieht die Aufnahme einzelner Personen aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen vor, ohne dass damit ein Rechtsanspruch einherginge (Dienelt 2013, § 22 AufenthG, Rn 6). Nach § 23 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen Deutschlands (I) oder das Bundesministerium für Inneres (BMI) im Benehmen mit den obersten Landesbehörden (II), die Aufenthaltsgewährung bezüglich bestimmter Personengruppen
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Einwanderungsmöglichkeiten von Drittstaatsangehörigen
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(z.B. Bürgerkriegsflüchtlinge aus einem bestimmten Land) anordnen. Bedeutsam sind auch die Aufenthaltsgewährung in Härtefällen nach § 23a AufenthG, in deren Rahmen die Härtefallkommissionen bestellt werden, die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an Ausreisepflichtige zum vorübergehenden Aufenthalt (z.B. wegen einer medizinischen Behandlung) nach § 25 IV 1 AufenthG, die Verlängerung einer solchen Erlaubnis bei außergewöhnlicher Härte (§ 25 IV 2 AufenthG), die Aufenthaltserlaubnis für vollziehbar Ausreisepflichtige im Falle zielstaats- oder inlandsbezogener (Hailbronner 2013, Rn 570) Abschiebungshindernisse tatsächlicher oder rechtlicher Art nach § 25 V AufenthG (z.B. fehlende Transportfähigkeit) oder schließlich die (vorübergehende) Aufenthaltserlaubnis für Opfer von Menschenhandel (§ 25 IVa AufenthG) oder für illegal Beschäftigte (IV b) zur Zeugenaussage für die Dauer des Strafverfahrens. Bei Opfern von Menschenhandel kann eine Verlängerung bei Unzumutbarkeit der Ausreise, z.B. wegen der Notwendigkeit psychologischer Behandlung (Hailbronner 2013, Rn 558), wegen außergewöhnlicher Härte (§ 25 IV 2 AufenthG) greifen. Illegal Beschäftigten, die ausstehende Löhne einfordern, kann nach § 25 IVb 3 AufenthG eine Verlängerung gewährt werden, wenn die Geltendmachung aus dem Ausland eine besondere Härte darstellen würde. Kein Aufenthaltsrecht stellt die bereits angesprochene Duldung dar. Geduldete halten sich nicht legal auf, sind vollziehbar ausreisepflichtig und an sich abzuschieben; die Abschiebung kann aber aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht durchgeführt werden und wird temporär ausgesetzt, was zur Aufenthaltsduldung führt (§ 60a AufenthG). Betroffen sind Fälle, in denen trotz der Abschiebungshindernisse keine humanitäre Aufenthaltserlaubnis nach § 25 AufenthG erteilt werden kann, etwa weil der/die Betreffende eine Straftat nach § 25 III 2 AufenthG begangen oder nach § 25 V 3-4 AufenthG gegen seine Mitwirkungspflichten (z.B. Vernichtung von Passpapieren) verstoßen hat. Nicht wenige Geduldete sind schon seit vielen Jahren, zum Teil seit ihrer Geburt in Deutschland aufhältig. Dies ist in Hinblick auf Art. 8 EMRK, wonach das Privat- und Familienleben geschützt ist, nicht unproblematisch bei sog. faktischen Inländern, also hierzulande besonders Verwurzelten (Dienelt 2013, § 25 AufenthG, Rn 11ff). Vor diesem Hintergrund waren die – allerdings mittlerweile wegen Ablaufs der Stichtage bedeutungslos gewordenen – Regelungen aus § 104a (Altfallregelung) und § 104b AufenthG (integrierte Kinder) wichtig. Sie sind durch Erlasse der Innenministerkonferenz zweimal verlängert worden. Durch das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung wurde in § 25b AufenthG-E eine Möglichkeit dafür geschaffen, dass gut integrierte Geduldete stichtagsunabhängig ein Aufenthaltsrecht erlangen können.
5 Familiennachzug Aufenthaltsrechte können schließlich aus dem Recht auf Familiennachzug folgen. Die hierfür maßgeblichen §§ 27ff AufenthG spiegeln die grund- und menschenrechtlichen Gewährleistungen aus Art. 6 GG und 8 EMRK und berücksichtigen die Vorgaben der EU-FamiliennachzugsRL 2003/86/EG. Das Gesetz unterscheidet den Nachzug zu Deutschen (§ 28 AufenthG) und zu Ausländer/innen (§§ 29ff AufenthG). Im Jahr 2007 (BGBl. I, 1970) wurde für den Ehegattennachzug zu Ausländer/innen ein Spracherfordernis eingeführt, d.h. es müssen einfache Deutschkenntnisse noch im Heimatstaat erworben werden (§ 30 I 1 Nr. 2 AufenthG). Nach einem Urteil des EuGH (Rs. C-138/13) hat der Gesetzgeber eine Härtefallregel für Fälle eingeführt, in denen dies im Einzelfall unzumutbar ist (§ 30 I 3 Nr. 6 AufenthG; vgl. dazu Lehner 2015). Der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten (s. o. Ziff. 4.3) wurde durch das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren für zwei Jahre komplett ausgesetzt (§ 104 XIII AufenthG).
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Hendrik Cremer
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Literatur
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55 Flucht und Asyl Hendrik Cremer
Nach Angaben des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) befinden sich gegenwärtig etwa 65,3 Millionen Männer, Frauen und Kinder auf der Flucht (UNHCR 2016). Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren es nicht mehr so viele Menschen wie in den letzten Jahren. Dieser Anstieg ist zu einem großen Teil auf die hohe Zahl syrischer Flüchtlinge zurückzuführen, die vor dem Krieg in ihrem Land fliehen (UNHCR 2015). In der europäischen und deutschen Asylpolitik spielt die gestiegene Anzahl von Menschen, die Schutz in Europa beziehungsweise Deutschland suchen, eine zentrale Rolle. So wurden zahlreiche Gesetzesänderungen, die in jüngster Vergangenheit zu massiven Einschnitten in die Rechte nach Deutschland fliehender Menschen führten, mit der hohen Anzahl Asyl suchender Menschen begründet. Die EU und ihre Mitgliedstaaten begründen damit ebenso ihre zunehmende Abschottung an den EU-Außengrenzen gegenüber Menschen, die in der EU Schutz suchen wollen. Die hierbei zugrunde liegende und weit verbreitete Einschätzung, dass Menschen auf
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der Flucht vor allem nach Europa fliehen würden, erscheint indes fragwürdig und resultiert offenbar aus einem zu engen Blickwinkel. Um die steigende Anzahl von Menschen, die in Europa – und Deutschland – Schutz suchen, besser einordnen zu können, lohnt sich daher ein Blick auf Statistiken und Zahlen zu weltweiten Fluchtbewegungen. Bei den meisten Flüchtlingen handelt es sich demnach um Binnenflüchtlinge, die innerhalb ihres eigenen Landes verbleiben (UNHCR 2016). Ein Großteil der Geflohenen verbleibt zudem in Nachbarländern. Dies lässt sich zum einen darauf zurückführen, dass die Menschen dort eventuell soziale, kulturelle und sprachliche Gegebenheiten vorfinden, die denen in ihren Heimatorten ähneln. Zum anderen, weil kürzere Fluchtwege häufig weniger gefährlich sind und die Möglichkeit bieten, schnell wieder in die Heimat zurückzukehren, wenn sich dort die Bedingungen wieder ändern. Außerdem haben viele Menschen nicht genug finanzielle Mittel für eine längere Flucht. Deshalb nehmen die Länder der EU auch insgesamt relativ wenig Geflüchtete auf. Die weitaus größte Anzahl von Flüchtlingen – nach Angaben von UNHCR waren es im Jahr 2015 86% aller Flüchtlinge weltweit (UNHCR 2016) – werden von Ländern des Globalen Südens aufgenommen. Von den syrischen Flüchtlingen etwa, die vor dem Krieg in ihrem Land fliehen, nehmen aktuell allein Jordanien, Libanon und die Türkei deutlich mehr auf als die gesamte EU. Kein Land hat in absoluten Zahlen so viele Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen wie die Türkei, weit über zwei Millionen Menschen; der Libanon, Jordanien und die Türkei zusammen deutlich mehr als vier Millionen. Im Libanon mit vier Millionen Einwohner/innen leben gegenwärtig mindestens eine Million aus Syrien Geflüchtete, hinzukommen zahlreiche palästinensische Flüchtlinge. In Relation zur Bevölkerungszahl hat aktuell weltweit kein Land mehr Menschen aufgenommen als der Libanon (UNHCR 2015). Legt man zurückhaltende Schätzungen zugrunde wäre das Verhältnis der Anzahl allein von syrischen Flüchtlingen zur Bevölkerungszahl im Libanon mit dem in Deutschland etwa dann vergleichbar, wenn Deutschland seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 15 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hätte (vgl. dazu auch Konrad-Adenauer-Stiftung 2015).
1 Grundlagen des Asylrechts Die Grundlagen für das internationale und europäische Flüchtlingsrecht, das individuelle, durchsetzbare Rechtspositionen beinhaltet, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen. Die Weltgemeinschaft antwortete damit auf die Verfolgung von Millionen von Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus und das Leid der Flüchtlinge: Am 10. Dezember 1948 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), in der auch das Recht auf Asyl Aufnahme gefunden hat. In Art. 14 AEMR heißt es: „Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.“ Die Garantie der Menschenrechte durch völkerrechtliche Verpflichtungen der Staaten entwickelte sich in der Folgezeit zu einem der zentralen Aspekte des modernen Völkerrechts. Sowohl auf internationaler wie auch auf regionaler Ebene wurden zahlreiche Menschenrechtsverträge geschaffen, die darauf abzielen, jeden Menschen im Hoheitsbereich aller Vertragsparteien zu schützen und individuelle, durchsetzbare Rechte garantieren, in Europa etwa die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950. Die hohe Anzahl von Flüchtlingen in Europa infolge von Flucht, Vertreibung und Zwangsarbeit über das Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1945 hinaus, führten im Dezember 1950 ebenso zur Einsetzung des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen. Im Juli 1951 wurde zudem das „Abkommen
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über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ geschaffen, das gewöhnlich als Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) bezeichnet wird und die Grundlage des internationalen Flüchtlingsrechts bildet. Die GFK verpflichtet die Vertragsstaaten, Flüchtlingen im Sinne der Konvention ein Aufenthaltsrecht und weitere Rechte zu gewähren. Die Konvention galt zunächst nur für Personen, die aufgrund von Ereignissen zu Flüchtlingen geworden sind, die in Europa vor 1951 eingetreten sind. Um die geografische und zeitliche Beschränkung der GFK aufzuheben, wurde 1967 von der Staatengemeinschaft schließlich das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge geschaffen. Nach dem Protokoll gelten die Verpflichtungen der GFK ohne zeitliche oder geografische Begrenzungen; 146 Staaten sind dem Protokoll bis heute beigetreten. Zentrale Bestimmung der GFK ist das in Art. 33 verankerte Gebot der Nicht-Zurückweisung (Refoulement-Verbot). Danach werden die Staaten zur Zufluchtgewährung vor dem Zugriff eines Verfolgerstaates verpflichtet. Die Staaten müssen demnach dafür Sorge tragen, dass kein Mensch an der Grenze zurückgewiesen oder abgeschoben wird, so dass er gezwungen wäre, sich in einem Staat aufzuhalten, in dem er aus rassistischen Gründen, aufgrund seiner Religion, seiner Staatszugehörigkeit oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Einstellung von Verfolgung bedroht ist. Überdies verstößt eine Zurückweisung oder Abschiebung in einen anderen Staat auch dann gegen Art. 33 GFK, wenn nicht gewährleistet ist, dass die Schutzsuchenden von dort aus nicht weiter in den Verfolgerstaat abgeschoben werden („Kettenabschiebung“) (vgl. etwa Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 14.5.1996, Aktenzeichen 1938/93; 2315/93). Die EU, die mittlerweile über weitreichende Kompetenzen im Bereich der Asylgesetzgebung verfügt, hat das Recht auf Asyl im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention explizit in die EUGrundrechte-Charta (Artikel 18) aus dem Jahr 2000 aufgenommen. Damit bekennt sich die EU zu einem menschenrechtlich begründeten Flüchtlingsschutz. Zu den Grundlagen des Europäischen Asylsystems zählen neben der Genfer Flüchtlingskonvention weitere menschenrechtliche Garantien, die in der EU-Grundrechte-Charta und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankert sind. So ergibt sich nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) das Verbot einer Zurückweisung an der Grenze oder einer Abschiebung aus Art. 3 EMRK, wenn die betroffene Person dadurch dem Risiko einer unmenschlichen Behandlung oder Folter ausgesetzt wird oder eine „Kettenabschiebung“ droht (vgl. etwa EGMR, Urteil vom 23.2.2012, Hirsi und andere gegen Italien). Die Bestimmungen der EMRK garantieren jedem Menschen, der Schutz vor schweren Menschenrechtsverletzungen sucht, das Recht auf Zugang zu einem Verfahren, in dem sein Antrag auf Schutz individuell geprüft wird. Personen, denen bei Zurückweisung oder Abschiebung im konkreten Einzelfall Menschenrechtsverletzungen wie unmenschliche Behandlung oder Folter drohen, haben ein Recht auf Schutz. Zudem müssen den Betroffenen im Falle einer Ablehnung ihres Schutzantrages gemäß Art. 13 EMRK (Recht auf einen effektiven Rechtsbehelf ) effektive Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfügung stehen (dazu genauer Cremer 2012). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR (Große Kammer), Urteil vom 21.1.2011, M.S.S. gegen Belgien und Griechenland) und des Gerichtshofs der EU (EuGH, Urteil vom 21.12.2011, C-411/10 und C-493/10) dürfen die EU-Mitgliedstaaten in ihrem nationalen Recht auch nicht von der unwiderleglichen Vermutung der Sicherheit anderer EU-Mitgliedstaaten ausgehen. Demzufolge können systemische Mängel bei der Durchführung von Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende Grund zu der Annahme geben, dass die Asylsuchenden Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK beziehungsweise Art. 4 EU-Grundrechte-
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Charta ausgesetzt zu werden. Es ist mit der EMRK und der EU-Grundrechte-Charta danach also nicht vereinbar, wenn die EU-Mitgliedstaaten Menschen in andere EU-Mitgliedstaaten zurückweisen, ohne dass effektive Rechtschutzmöglichkeiten hiergegen bestehen.
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2 Zur aktuellen Situation Eine der zentralen Herausforderungen auf EU-Ebene besteht darin, ein solidarisches und funktionierendes System bei der Aufnahme von Flüchtlingen zu schaffen. Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten ist einer der Grundwerte der Europäischen Union (Artikel 3 Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union) und eines der Grundprinzipien der gemeinsamen europäischen Asylpolitik (Art. 80 des Vertrags über die Arbeitsweise der Union). Damit dieser Grundsatz in der Europäischen Union verwirklicht werden kann, müsste insbesondere das „Dublin-System“ abgelöst werden, nach dem in erster Linie derjenige Staat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, in dem eine Person erstmals das europäische Territorium betreten hat. Dies hat zur Folge, dass einige EU-Staaten im Vergleich zu anderen EU-Staaten mehr Flüchtlinge aufnehmen. Davon betroffen sind etwa EU-Außenstaaten wie Griechenland oder Italien, die eine solidarische Verteilung der Schutz suchenden Menschen innerhalb der EU fordern. Für einen von einigen Mitgliedstaaten angestrebten permanenten Verteilungsmechanismus der Flüchtlinge innerhalb Europas gibt es bisher aber keinen Konsens, zumal sich andere Mitgliedstaaten dagegen zur Wehr setzen, (mehr) Flüchtlinge aufzunehmen. Während vor diesem Hintergrund die EU vor allem das Ziel verfolgt, die „Sicherung der Außengrenzen“ zu intensivieren, gibt es in Deutschland etliche Stimmen, die eine sog. Obergrenze beim Recht auf Asyl verlangen und damit die in Deutschland Schutz suchenden Menschen, die Zugang zu einem Asylverfahren erhalten, auf eine feste Zahl pro Jahr begrenzen wollen. Beide Ansätze, die Sicherung der EU-Außengrenzen genauso wie nationale Obergrenzen beim Recht auf Asyl, laufen auf systematische Menschenrechtsverletzungen bei der Abwehr von Flüchtlingen hinaus, indem Schutzsuchende an der jeweiligen Grenze zurückgewiesen und der Zugang zu einem Asylverfahren verweigert wird. Einige Mitgliedstaaten der EU wie auch Nachbarstaaten haben zu diesem Zweck Grenzvorrichtungen, insbesondere Zäune, errichtet, die zusätzlich durch den Einsatz von staatlicher Gewalt abgesichert werden. Die verantwortlichen Staaten nehmen dabei in Kauf, dass Frauen, Männer und Kinder im Zuge von Zurückweisungen an der Grenze in ihrem Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzt werden. Eine solche Praxis steht überdies deutlich im Widerspruch zu dem Recht, unter Achtung von Art. 33 GFK nicht zurückgewiesen und gegebenenfalls auch als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt zu werden. Es ist nicht zulässig, dass die Mitgliedstaaten der EU – oder auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex – Schutz suchende Menschen an den EU-Außengrenzen oder Binnengrenzen zurückweisen, ohne dass im Einzelfall geprüft wird, ob die Menschen nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder der Europäischen Menschenrechtskonvention Schutz erhalten müssten. Überdies sind Zurückweisungen von unbegleiteten Minderjährigen, also Minderjährige, die auf sich allein gestellt ohne elterliche Begleitung Schutz suchen, auch nicht mit der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) vereinbar. Sie verstoßen gegen Art. 20 KRK, der für Kinder, die sich außerhalb ihrer familiären Umgebung befinden, ein Recht auf den „besonderen Schutz und Beistand des Staates“ begründet (Cremer 2016). Mit den flüchtlings- und menschenrechtlichen Verpflichtungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten ebenfalls nicht vereinbar ist die Vereinbarung, die die EU im März 2016 mit der Türkei getroffen hat. Danach sollen Menschen, die die Türkei auf ihrer Flucht als Transitland genutzt
Hendrik Cremer
haben und Schutz in der EU (Griechenland) suchen, in der Regel wieder zurückgeführt, sprich, in die Türkei abgeschoben werden. Zuvor sollen sie die Möglichkeit erhalten, in Griechenland ein Asylverfahren zu durchlaufen, um insbesondere Gefahren geltend machen zu können, die im Einzelfall unmittelbar in der Türkei drohen könnten. Die Vereinbarung, die auf der Annahme basiert, dass es sich bei der Türkei um einen „sicheren Drittstaat“ handelt, ist aus menschen- und flüchtlingsrechtlicher Perspektive nicht haltbar. Dies ergibt sich daraus, dass die rechtlichen und tatsächlichen Defizite, die in der Türkei existieren, zu gravierend sind, zumal die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention nur für Flüchtlinge anerkannt hat, die aus Europa kommen. Insbesondere ist nicht ausreichend gewährleistet, dass Geflohene in der Türkei Schutz vor Abschiebung in ihre Herkunftsländer erhalten. Amnesty International hat dementsprechend etwa menschenrechtswidrige Abschiebungen aus der Türkei in den Irak oder nach Afghanistan dokumentiert (Amnesty International 2015 und 2016). Es ist mit den flüchtlings- und menschenrechtlichen Verpflichtungen der EU mithin nicht vereinbar, Menschen, die in der EU (Griechenland) Schutz suchen, in die Türkei abzuschieben, da bei ihnen die Gefahr besteht, dass sie von dort aus weiter in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden (Deutsches Institut für Menschenrechte 2016). Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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3 Fazit Um ihren eigenen Ansprüchen im Umgang mit Schutz suchenden Menschen gerecht zu werden, müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten ihre menschen- und flüchtlingsrechtlichen Verpflichtungen in den Vordergrund rücken und zum Maßstab ihres tatsächlichen Handelns machen. Dass dies momentan nicht der Fall ist, wird auch daran deutlich, dass die EU durch die Vereinbarung mit der Türkei das Ziel verfolgt, die Verantwortung für Schutz suchende Menschen ausgerechnet auf jenen Staat abzuschieben, der in den vergangenen Jahren bereits weltweit die meisten Flüchtlinge, insbesondere aus Syrien, aufgenommen hat – also mehr Geflohene als jeder einzelne EU-Mitgliedstaat. Solange Kriege und gewalttätige Konflikte – gegenwärtig insbesondere in Syrien, Irak und Afghanistan – anhalten, solange die Weltgemeinschaft keine Fortschritte erzielt, die Situation in diesen Ländern zu entschärfen, werden sich zahlreiche Menschen von dort auf den Weg machen, um ihr Leben und das ihrer Kinder zu retten. Weil Kriege nicht einfach auf Knopfdruck aufhören, Diktatoren nicht einfach abdanken, haben das Recht auf Asyl und der internationale Flüchtlingsschutz zur Konsequenz, dass die migrationspolitische Steuerung der Aufnahmestaaten Grenzen hat. Das Flüchtlingsrecht schränkt die staatliche Hoheitsgewalt ein. Dies bedeutet auch, dass die jeweiligen Aufnahmestaaten auf steigende Zahlen von Schutzsuchenden reagieren können müssen. Einer offenen, das internationale Recht und die Menschenrechte achtenden Gesellschaft kann und wird es nicht gelingen, die Anzahl aufzunehmender Flüchtlinge auf einem kontinuierlichen Niveau zu regulieren oder gar ständig abzusenken. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse der Aufnahmestaaten, Migration zu steuern und den Schutzinteressen der Flüchtlinge kann nicht einfach aufgelöst werden. Auf diese besondere Herausforderung ist das internationale Flüchtlingsrecht von Beginn an ausgelegt. Literatur
Amnesty International (16.12. 2015): Europe‘s Gatekeeper. Unlawful Detention and Deportation of refugees from Turkey. Online verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/eur44/3022/2015/en/ [07.06.2016]. – Amnesty International (23.3.2016): Turkey ‘safe country‘ sham revealed as dozens of Afghans forcibly returned hours after EU refugee deal. Online verfügbar unter https://www.amnesty.org/en/latest/news/2016/03/
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turkey-safe-country-sham-revealed-dozens-of-afghans-returned/ [07.06.2016]. – Cremer, Hendrik (2012): Den europäischen Flüchtlingsschutz neu regeln, aktuell, Deutsches Institut für Menschenrechte. Online verfügbar unter http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/aktuell_1_2012_fluechtlingsschutz.pdf [05.07.2016]. – Cremer, Hendrik (2016): Das Recht eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings auf Betreuung und Unterbringung nach Art. 20 der UN-Kinderrechtskonvention. In: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe 1/2016. Online verfügbar unter http://www.dvjj.de/sites/default/files/medien/imce/documente/ veroeffentlichungen/download/schwerpunktartikel_kostenlos.pdf [06.08.2016]. – Deutsches Institut für Menschenrechte (2016): Stellungnahme, Die EU-Türkei-Vereinbarung vom 18. März 2016: Umsetzung und Konsequenzen aus menschen- und flüchtlingsrechtlicher Perspektive. Empfehlungen an die Bundesregierung, Berlin, 20. Juni. Online verfügbar unter http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/ Stellungnahmen/DIMR_Stellungnahme_Menschenrechtliche_Bewertung_EU-Tuerkei-Vereinbarung_in_ihrer_ Umsetzung_20_06_2016.pdf [05.07.2016]. – Human Rights Watch (23.11.2015): Turkey: Syrians Pushed Back at the Border. Online verfügbar unter https://www.hrw.org/news/2015/11/23/turkey-syrians-pushed-back-border [07.06.2016]. – Konrad-Adenauer-Stiftung (2015): Lage.Bericht//NaherOsten. Online verfügbar unter http:// www.kas.de/wf/de/71.15046/ [07.06.2016]. – UNHCR (2015): Mid-Year Trends 2015. Genf. – UNHCR (2016): Global Trends 2015. Genf.
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Aufenthaltsstatus: Verfestigung, Beendigung, Einbürgerung
56 Aufenthaltsstatus: Verfestigung, Beendigung, Einbürgerung Stefan Oeter
Steuerung der Zuwanderung und Kontrolle der ‚Fremden‘ war traditionell das Kernanliegen des Ausländerrechts, das als Sondermaterie des Polizeirechts begriffen wurde. Das klassische Ausländerrecht war mithin auf Segregation und ausländerpolizeiliche Kontrolle der ‚Fremden‘ orientiert und dachte nicht – wie das moderne Migrationsrecht – in Kategorien einer zunehmenden Teilhabe und Einbeziehung zuziehender Migrant/innen in die Gesellschaft (Bast 2011, S. 24ff; Gusy & Müller 2013, S. 266). Es spiegelte die Engführungen des klassischen völkerrechtlichen Fremdenrechts, das den Sonderstatus des ‚Fremden‘ betonte (Farahat 2014, S. 98ff). Erst mit dem Bedeutungszuwachs des Menschenrechtsschutzes und dem Wechsel des Selbstverständnisses vom homogenen Nationalstaat zur Einwanderungsgesellschaft hat das Migrationsrecht begonnen, Regelungen zum Aufenthaltsstatus von Zuwanderern in Kategorien ‚progressiver Inklusion‘ zu denken (Farahat 2014, S. 104ff, 343ff). Gemeint ist damit ein Verständnis der allmählichen Integration von Zuwanderern, in deren Verlauf – parallel zur gedachten Inklusion in die Umgebungsgesellschaft – auch der Aufenthaltsstatus Schritt für Schritt rechtliche Verfestigungen erfährt (Kluth 2013, § 72 Rn. 99). Angefangen mit relativ kurzfristigen Befristungen der Aufenthaltserlaubnisse steigt der Zeitraum der Befristung immer weiter an, bis hin zur unbefristeten Niederlassungserlaubnis (Farahat 2014, S. 172ff). Endpunkt eines solchen Prozesses ‚progressiver Inklusion‘ ist dann idealiter die Einbürgerung, die den Statusunterschied zu den Einheimischen
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Stefan Oeter
aufhebt und den Zuwanderer vom Rechtsstatus her zum vollberechtigten Mitglied der Bürgergesellschaft werden lässt (Farahat 2014, S. 153ff). Natürlich bleibt auch in einem derartigen System noch Raum für Formen der (ausländer-)polizeilichen Kontrolle und der Gefahrenabwehr, wie an den Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung erkennbar ist (Kluth 2013, § 72 Rn.274ff). Doch können sich selbst diese Restbestände der ‚Fremdenpolizei‘ dem Sog der Menschenrechte nicht entziehen, wie an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu den menschenrechtlich bedingten Ausweisungshindernissen sichtbar wird (Hailbronner 2014, S. 65ff; Farahat 2014, S. 194ff).
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1 Steuerung der Zuwanderung/Einreise Die Zulassung der Migrant/innen auf dem eigenen Staatsgebiet, ist zunächst ein Hoheitsakt, der im politischen Ermessen des jeweiligen Staates steht (Kluth 2013, § 72 Rn. 73ff). Das Völkerrecht beschränkt den Staat in dieser Entscheidung nur am Rande (Hailbronner 2014, S. 64ff). Hauptinstrument der Zuwanderungssteuerung ist die Visapolitik. Die Erteilung von Visa steht typischerweise im Ermessen der Ausländerbehörden (Kluth 2013, § 72 Rn. 74). Zwar können sich Staaten in der Ausübung ihrer Visapolitik rechtlich binden, bis hin zur vertraglichen Gewährung der visafreien Einreise – eine rechtliche Gestaltung, die heute weitgehend in der gemeinsamen Visapolitik der EU vergemeinschaftet ist (Hailbronner 2014, S. 28ff; Keicher 2012, S. 29ff, 71ff; Kugelmann 2015, S. 2550ff); doch bleiben diese Gestaltungen im Kern Ausfluss politischer Steuerung. Etwas anders sieht dies bei im Inland geborenen Kindern ausländischer Staatsangehöriger aus – hier ist das politische Ermessen unter dem Einfluss der Menschenrechte stark zurückgedrängt. Engmaschigen rechtlichen Bindungen unterliegen Staaten wie die Bundesrepublik auch im Kontext der Gewährung von Asyl für politisch Verfolgte und von subsidiärem Schutz für Bürgerkriegsflüchtlinge (Hailbronner 2014, S. 373ff, 407ff). Sowohl die Standards der Anerkennung wie die Grundzüge des Verfahrens sind hier längst unionsrechtlich geregelt (Kugelmann 2015, S. 2555ff; Bast 2011, S. 155ff; Thym 2010, S. 93ff; Tohidipur 2011, S. 1157). Hat der Staat über die Erteilung eines Visums (oder über Regelungen der visafreien Einreise) Fremden vorübergehend den Aufenthalt in seinem Territorium erlaubt, so müssen diese regelmäßig nach Ablauf einer Frist (in der Regel drei Monate) wieder ausreisen, soweit nicht über Sonderformen des Visums längere Aufenthaltsfristen vorgesehen sind (Hailbronner 2014, S. 312f ). Die Gestattung eines längerfristigen Aufenthalts bedarf in der Regel einer besonderen Entscheidung, die typischerweise über die Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis erfolgt (Kluth 2013, § 72 Rn. 85ff). Steuerungskriterien bei der Erteilung dieser Erlaubnisse sind primär arbeitsmarktpolitische Erwägungen (Mangelberufe) oder humanitäre Kriterien (Familienzusammenführung). Als Merksatz lässt sich jedenfalls festhalten, dass – jenseits der Freizügigkeitsrechte für Unionsbürger und bestimmte privilegierte Kategorien von Drittstaatsangehörigen – der erste Aufenthaltsstatus der einer befristeten Aufenthaltserlaubnis ist (s. zum gestuften System der Aufenthaltstitel Kluth 2013, § 72 Rn. 99ff).
2 System der Aufenthaltstitel Die zentralen Regelungen zu Einreise und Aufenthalt von Migrant/innen finden sich im Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG). Das Gesetz wurde 2004 verabschiedet, als Ergebnis der Bemühungen um eine grundlegende Reform des Ausländergesetzes von 1990. Schon der Titel lässt
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Aufenthaltsstatus: Verfestigung, Beendigung, Einbürgerung
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klar hervortreten, dass Migrationssteuerung über ein System gestufter Aufenthaltstitel primäres Anliegen des Gesetzes ist. So bestimmt Satz 1 des § 1 Abs.1 AufenthG: „Das Gesetz dient der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland.“ Erster Aufenthaltstitel für eine/n neu Zugewanderte/n ist gem. § 7 AufenthG die (befristete) Aufenthaltserlaubnis, die nach Ablauf der gesetzten Frist jeweils verlängerbar ist, wenn nicht bestimmte Versagungsgründe dem entgegenstehen (Kluth 2013, § 72 Rn. 119ff; Hailbronner 2014, S. 112ff). Erst nach Ablauf von mindestens fünf Jahren Aufenthalt auf der Basis einer Aufenthaltserlaubnis ist die Erteilung einer (unbefristeten) Niederlassungserlaubnis gem. § 9 AufenthG möglich (Hailbronner 2014, S. 98ff; Kluth/Heusch 2015, § 9 Rn. 1f ). Diese ist an eine Reihe von Bedingungen gekoppelt (Kluth/Heusch 2015, § 9 Rn. 3ff; Marx 2015, S. 134ff). So muss der/die Antragsteller/in dafür – neben dem mindestens fünfjährigen legalen Aufenthalt – seine/ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können (einschließlich der für die Beschäftigung bzw. Erwerbstätigkeit nötigen Erlaubnisse), muss eine bestimmte Mindestzeit von Beiträgen in die Rentenversicherung gezahlt haben, über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen, Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet nachweisen und über ausreichenden Wohnraum für sich und seine Familienangehörigen verfügen. Zudem dürfen keine Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung dem fortgesetzten Aufenthalt entgegenstehen (Hailbronner 2014, S. 94f; Kluth/Heusch 2015, § 9 Rn. 13; Marx 2015, S. 76ff). Neben dem Regeltatbestand des § 9 AufenthG gibt es noch Sonderregelungen für „langfristig Aufenthaltsberechtigte“ nach EU-Recht, für die eine spezifische Erlaubnis zum Daueraufenthalt erteilt wird, § 9a AufenthG (Hailbronner 2014, S. 105ff). Unionsbürger/innen können im Grundsatz legal einreisen und sich rechtmäßig im Gebiet der anderen Mitgliedstaaten aufhalten (Kluth 2013, § 72 Rn. 264ff). Hinzu kommen Sonderaufenthaltstitel für Asylbewerber/innen, die sich im Rahmen der sogen. Aufenthaltsgestattung gem. § 55 AsylVfG legal im Bundesgebiet aufhalten, und vergleichbare Regelungen für Bürgerkriegsflüchtlinge, die ‚subsidiären Schutz‘ erhalten (Hailbronner 2014, S. 166ff; Kluth/Heusch 2015, § 25 Rn. 5ff, 21ff, 29ff). Diese Sondertitel wandeln sich in der Regel erst mit bestandskräftigem Abschluss eines Asylverfahrens (bei Asylgewährung) in reguläre Aufenthaltstitel um. Die Erteilung der genannten Aufenthaltstitel ist im Grundsatz an einen Katalog im Gesetz bestimmter Aufenthaltszwecke gebunden. Systematischer Regelfall ist gem. § 18 AufenthG der Aufenthalt zum Zweck der Erwerbstätigkeit, soweit der Aufenthalt zur Ausübung einer Beschäftigung (bzw. selbstständigen Erwerbstätigkeit) gestattet wurde (Hailbronner 2014, S. 121ff; Huber 2010, AufenthG § 18 Rn. 3ff). Daneben stehen Regelungen des Aufenthalts zum Zweck des Studiums, Schulbesuchs und Spracherwerbs (§ 16 AufenthG), Spezialregelungen für Forscher/ innen (§ 20 AufenthG), die Aufenthaltsgewährung nach Ermessen und zum vorübergehenden Schutz (Härtefallregelung gem. §§ 22 bis 24 AufenthG), die verschiedenen Fälle des Aufenthalts aus völkerrechtlichen, humanitären und politischen Gründen gem. § 25 AufenthG (Asylberechtigte, Konventionsflüchtlinge, subsidiär Schutzbedürfte und Personen mit Abschiebungshindernissen), ferner der Aufenthalt aus familiären Gründen nach §§ 27ff AufenthG (s. dazu Hailbronner 2014, S. 203ff; Huber 2010, AufenthG § 27 Rn. 1ff). Kein echter Aufenthaltstitel ist die ‚Duldung‘ gem. § 60a AufenthG, die im Gesetz als „vorübergehende Aussetzung der Abschiebung“ bezeichnet wird (Hailbronner 2014, S. 367ff; Huber 2010, AufenthG § 60a Rn. 6ff; Kluth 2013, § 72 Rn.255ff). Adressat/innen einer solchen Duldung halten sich zwar realiter oft über viele Jahre im Bundesgebiet auf, ohne jedoch über einen Titel legalen Aufenthalts zu verfügen – mit dementsprechenden Schwierigkeiten beim Zugang zu Arbeitsmarkt und Bildungsangeboten, und ohne Chance der Erlangung einer Niederlassungserlaubnis (mit Ausnahme der durch Altfallregelungen legalisierten Adressat/innen einer Duldung).
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Stefan Oeter
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3 Aufenthaltsbeendigung Auch bei verfestigtem Aufenthaltstitel steht dem Staat als Notfallmechanismus die Befugnis zu, den legalen Aufenthalt zu beenden (Ausweisung) und den/die damit ausreisepflichtig gestellten Ausländer/in zwangsweise aus dem Staatsgebiet zu entfernen (Abschiebung). Diese Grundregeln für aufenthaltsbeendigende Maßnahmen sind grundsätzlich anwendbar für Fälle des legalen Aufenthalts. Illegal Eingereiste und Zuwanderer, deren Aufenthaltstitel abgelaufen ist, sind de jure zur Ausreise verpflichtet (Kluth 2013, § 72 Rn. 93ff; Hailbronner 2014, S. 87ff). Der Katalog der Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung, deren praktisch bedeutsamsten Fall die Ausweisung gem. § 53ff AufenthG darstellt, ist in zweierlei Hinsicht nach Kriterien der Verhältnismäßigkeit abgestuft (Kluth 2013, § 72 Rn. 298ff). Zum einen differenziert der Gesetzgeber nach der Schwere der Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit, die vom Adressaten der Maßnahme ausgeht (s. dazu im Detail Hailbronner 2014, S. 318ff). Das Gesetz unterscheidet insoweit zwischen einer gebundenen Entscheidung (§ 53), bei der vom Gesetz zwingend die Ausweisung vorgesehen wird, einer dirigierten Ermessensentscheidung (§ 54), und einer pflichtgemäßen Ermessensentscheidung (§ 55), ergänzt durch eine Regelung, die die Berücksichtigung der individuellen Lebensumstände ermöglicht (dazu Hailbronner 2014, S. 331ff). Entgegen dem Wortlaut des Gesetzes hat eine einzelfallbezogene Verhältnisprüfung jedoch auch in den anderen Fällen stattzufinden. So hat der europäische Gerichtshof für Menschenrechte, gestützt auf den Schutz des Privat- und Familienlebens gem. Art. 8 EMRK, selbst für den Fall der zwingenden Ausweisung eine einzelfallbezogene Prüfung im Blick auf den Maßstab der Verwurzelung gefordert (Kluth 2009, S. 381ff). Die Skala der aufenthaltsbeendigenden Maßnahmen ist insoweit – gekoppelt an Erwägungen der Verhältnismäßigkeit – auch im Blick auf Verfestigungen des Aufenthalts und die Tiefe der sozialen Verwurzelung abzustufen (Kluth 2013, § 72 Rn. 299). Die Vorschriften zur zwingenden Ausweisung, die an die vorsätzliche Begehung schwerer Straftaten anknüpfen, sind damit in einen (wenn auch eng gefassten) Ermessenstatbestand mutiert (Kluth 2013, § 72 Rn. 299). In allen anderen Kategorien der Ausweisung sind im Kontext der Ermessensausübung sowieso die persönlichen Umstände des/der Betroffenen zu berücksichtigen. Die praktische Umsetzung der Aufenthaltsbeendigung erfolgt – soweit der/die Betroffene nicht der Ausreisepflicht nachkommt – durch den eigenständigen Folgeakt der physischen Verbringung aus dem Bundesgebiet (Abschiebung). Die Abschiebung stellt eine eigenständig geregelte Maßnahme der Verwaltungsvollstreckung dar und ist gesondert anzuordnen (s. zu den Einzelheiten der Regelung zur Abschiebung Kluth 2013, § 72 Rn. 332ff; Hailbronner 2014, S. 343ff; Hocks 2016, AufenthG § 58 Rn. 1ff). Voraussetzung ist eine vollziehbare Ausreisepflicht und eine vorherige Androhung mit Fristsetzung (Hailbronner 2014, S. 344ff; Kluth 2013, § 72 Rn. 336ff). Abschiebungshindernisse bzw. Abschiebungsverbote sind vom Betroffenen geltend zu machen und berühren nicht direkt die Wirksamkeit der Abschiebungsandrohung (s. zu den Abschiebungshindernissen Kluth 2013, § 72 Rn. 385ff). Um zu verhindern, dass sich die ausreisepflichtige Person der Abschiebung entzieht, kann unter bestimmten Umständen auch Abschiebungshaft angeordnet werden (Hailbronner 2014, S. 355ff; Keßler 2016, AufenthG § 62 Rn. 1ff; Kluth 2013, § 72 Rn. 395ff).
4 Einbürgerung Folgerichtiger Abschluss des Prozesses ‚progressiver Inklusion‘ ist die Einbürgerung, als einzelfallbezogene Verleihung der Staatsangehörigkeit. Unter bestimmten, im Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) näher normierten Umständen, steht Zuwanderern ein Anspruch auf Einbürgerung zu (Farahat 2014, S. 153ff). Hauptvoraussetzung ist dabei das Erfordernis, dass der/die Einbür-
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gerungsbewerber/in seit mindestens acht Jahren seinen/ihren rechtmäßigen und gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat und über ein unbefristetes Aufenthaltsrecht verfügt (Hofmann 2016, StAG § 10 Rn. 7ff, 12ff). Zudem muss er/sie sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen, über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache und der Rechts- und Gesellschaftsordnung wie der Lebensverhältnisse in Deutschland verfügen, außerdem den Lebensunterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen ohne Inanspruchnahme staatlicher Leistungen bestreiten können (s. zu den Einzelheiten Hofmann 2016, StAG § 10 Rn. 10f, 17ff, 23ff). Im Regelfall muss er ferner seine bisherige Staatsangehörigkeit aufgeben, wobei im Einzelfall eine Ausnahmegenehmigung zur Beibehaltung der ursprünglichen Staatsangehörigkeit möglich ist (Geyer 2016, StAG § 10 Rn. 20). Ähnlich verhält es sich bei der Staatsangehörigkeit, die von Kindern ausländischer Eltern bei Geburt im Inland nach § 4 Abs. 3 StAG erworben wird. Diese müssen nach Vollendung des 18. Lebensjahres entscheiden, ob sie in Zukunft die deutsche Staatsangehörigkeit oder die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern behalten wollen. Diese Optionspflicht wird vielfach als gravierendes Integrationshindernis beklagt (Farahat 2014, S. 345ff). Ergänzend existiert nach § 8 StAG die Möglichkeit der Ermessenseinbürgerung (Hofmann 2016, StAG § 8 Rn. 1ff). Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Aufenthaltsstatus: Verfestigung, Beendigung, Einbürgerung
5 Aufenthaltsstatus und ‚progressive Inklusion‘ Die skizzierte Stufenfolge der graduellen Verfestigung des Aufenthaltsstatus, umgekehrt aber auch des zunehmenden Schutzes vor Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung ist Ausdruck eines den Regelungen des Migrationsrechts zugrundeliegenden Grundsatzes der ‚progressiven Inklusion‘. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer und wachsender Integration in die deutsche Gesellschaft sollen Zuwanderer auch statusmäßig eine Verfestigung ihrer Statusregelungen erfahren. Nach dem Gesetz ist krönender Abschluss dieses Prozesses die Einbürgerung. Mit der Verleihung der Staatsangehörigkeit wird der Zuwanderer Teil der Bürgergemeinschaft. Statusrechtlich besteht in der Folge kein Unterschied mehr zu den eingeborenen Deutschen. Alles weitere ist Teil der sozialen Dynamik gesellschaftlicher Integration – statusrechtlich handelt es sich ab diesem Zeitpunkt bei Zuwanderern um Deutsche, also Glieder des deutschen Staatsvolkes. Literatur
Bast, Jürgen (2011): Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung. Tübingen: Mohr Siebeck (Jus publicum, 207). – Farahat, Anuscheh (2014). Progressive Inklusion. Zugehörigkeit und Teilhabe im Migrationsrecht. Heidelberg: Springer. – Gusy, Christoph & Müller, Sebastian (2013): Leitbilder im Migrationsrecht. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik - ZAR 33 (8), S. 265-272. – Hailbronner, Kay (2014): Asyl- und Ausländerrecht. 3. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer. – Hofmann, Rainer M., Hg. (2016): Ausländerrecht. 2. Aufl. Baden-Baden: Nomos. – Huber, Berthold, Hg. (2010): Aufenthaltsgesetz. Kommentar. München: C.H. Beck. – Keicher, Martin (2012): Das europäische Visumrecht – von den Ursprüngen im Schengener Regime, seiner Entwicklung in der Europäischen Union und den Auswirkungen auf das deutsche Ausländerrecht. Hamburg: Kovač. – Kluth, Winfried (2013): § 72 Ausländerrecht. In: Dirk Ehlers; Michael Fehling & Hermann Pünder (Hg.): Besonderes Verwaltungsrecht Bd. 3. 3. Aufl. Heidelberg: C.F. Müller, S. 607-706. – Kluth, Winfried (2009): Anwesenheit und Zugehörigkeit. Zur grundrechtsdogmatischen Verortung von Verwurzelung als neuem Topos des Aufenthaltsrechts. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik - ZAR 26 (11/12), S. 381-386. – Kluth, Winfried; Heusch, Andreas (Hg.) (2015): Beck‘scher Online-Kommentar Ausländerrecht. 9. Edition. München: C.H. Beck. – Kugelmann, Dieter (2015): § 41 Einwanderungs- und Asylrecht. In: Reiner Schulze; Manfred Zuleeg & Stefan Kadelbach (Hg.): Europarecht – Handbuch für die deutsche Rechtspraxis. 3. Aufl. Baden-Baden: Nomos, S. 2500-2585. – Marx, Reinhard (2015): Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht. Handbuch. 5. Aufl. Baden-Baden: Nomos. – Thym, Daniel (2010): Migrationsverwaltungsrecht. Tübingen: Mohr Siebeck. – Tohidipur, Timo (2011): § 33 Europäisches Migrationsverwaltungsrecht. In: Jörg Philipp Terhechte (Hg.): Verwaltungsrecht der Europäischen Union. Baden-Baden: Nomos, S. 1143-1188.
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Esther Weizsäcker
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57 Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen Esther Weizsäcker
Die Anerkennung im Ausland erworbener Bildungs- und Berufsabschlüsse ist in sehr unterschiedlichen rechtlichen Kontexten relevant. Eine Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse (allgemeinbildende Schulabschlüsse, Hochschulabschlüsse ohne Bezug zu einem gesetzlich geregelten Beruf ) ist in der Regel erforderlich, wenn Migrant/innen im Inland eine Ausbildung oder ein (weiterführendes) Studium beginnen wollen. Die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse ist teilweise zwingende Voraussetzung für die Berufsausübung im Inland (z.B. im Bereich der Gesundheitsberufe), teilweise beschränken sich die rechtlichen Wirkungen auf den Zugang zu Weiterbildungen und eine angemessene tarifliche Eingruppierung. Außerdem setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels (Visum, Blue Card, Aufenthaltserlaubnis) an Zuwanderer/ innen aus Drittstaaten in bestimmten Fällen die Anerkennung im Ausland erworbener Bildungs- oder Berufsabschlüsse voraus. In anderen Fällen ist eine Anerkennung ausländischer Abschlüsse rechtlich nicht erforderlich, kann aber dennoch die Bildungs- und Berufschancen im Inland erhöhen (Brücker & Liebau et al. 2014; Brussig, Mill & Zink 2013). Die Anerkennung ausländischer Abschlüsse ist zu unterscheiden von der Anrechnung ausländischer Ausbildungszeiten beim Erwerb inländischer Abschlüsse. Die rechtlichen Regelungen zur Anerkennung im Ausland erworbener Bildungs- und Berufsabschlüsse waren bis in die jüngste Zeit sehr fragmentiert und lückenhaft (und sind dies zum Teil noch immer). In den vergangenen Jahren hat jedoch eine Reihe von Rechtsänderungen zu einer größeren Einheitlichkeit und Transparenz der entsprechenden Regelungen und zu Verbesserungen der Anerkennungsmöglichkeiten geführt. Unter anderem hat Deutschland im Jahr 2007 das „Übereinkommen über die Anerkennung von Qualifikationen im Hochschulbereich in der europäischen Region“ (Lissabonner Anerkennungsübereinkommen) ratifiziert. Im gleichen Jahr lief die Frist für die Umsetzung der Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (RL 2005/36/EG) der Europäischen Union ab (vgl. http://ec.europa.eu/internal_market/ > Leben und Arbeiten im Binnenmarkt). Im Jahr 2012 trat zudem das „Gesetz zur Verbesserung der Anerkennung und Feststellung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen“ (Anerkennungsgesetz) des Bundes in Kraft und in den Jahren 2012 bis 2014 wurden auch in allen Bundesländern entsprechende Gesetze verabschiedet (vgl. http://www.anerkennung-in-deutschland.de > Berufliche Anerkennung > Rechtliche Grundlagen). Eine sinnvolle Ausgestaltung der Regelungen zur Anerkennung im Ausland erworbener Bildungs- und Berufsabschlüsse ist mit hohen Herausforderungen verbunden. Zum einen müssen die Regelungen der internationalen Vielfalt der Bildungssysteme und Berufsbilder Rechnung tragen und verhindern, dass Qualifikationen von Migrant/innen wegen mangelnder Anerkennungsmöglichkeiten im Inland brachliegen. Zum anderen müssen sie gewährleisten, dass im Inland geltende Qualitätsstandards und öffentliche Interessen wie der Verbraucher- und Patientenschutz hinreichend berücksichtigt werden. Außerdem müssen sich die Regelungen zur Anerkennung ausländischer Bildungs- und Berufsabschlüsse in die spezifischen rechtlichen Kontexte
Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen
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(z.B. Hochschulzulassung, Berufszulassungsverfahren) sowie das föderale System in Deutschland einfügen und dennoch möglichst einheitliche und transparente Kriterien vorsehen.
1 Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse
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1.1 Allgemeinbildende Schulabschlüsse Die Anerkennung allgemeinbildender Schulabschlüsse (z.B. Mittlerer Schulabschluss, Fachhochschulreife) ist in Deutschland rechtliche Voraussetzung für den Zugang zu bestimmten (fachschulischen) Berufsausbildungen. So muss etwa für die Zulassung zu einer Ausbildung an Fachschulen für Erzieher/innen nach den jeweiligen Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen der Länder in der Regel die Fachhochschulreife oder ein mittlerer Schulabschluss und eine berufliche Vorbildung nachgewiesen werden. Für die Aufnahme einer Berufsausbildung nach dem Berufsbildungsgesetz oder der Handwerksordnung des Bundes (duale Berufsausbildung) ist formal kein bestimmter Schulabschluss erforderlich. Allerdings stellen die Ausbildungsbetriebe in vielen Fällen nur Bewerber/innen mit einem erfolgreichen Schulabschluss ein. Die Anerkennung allgemeinbildender Schulabschlüsse kann in der Regel bei den Zeugnisanerkennungsstellen der Bildungsverwaltungen der jeweiligen Bundesländer beantragt werden (vgl. hierzu die Informationen auf www.anabin.kmk.org > Anerkennungs- und Beratungsstellen in Deutschland). Wenn sich Migrant/innen mit im Ausland erworbenen Schulabschlüssen um einen Studienplatz in Deutschland bewerben, wird die Gleichwertigkeit des Schulabschlusses im Rahmen der Zulassung durch die Hochschulen geprüft. Die relevanten Regelungen der Länder und Hochschulen folgen meist der von der Kultusministerkonferenz (KMK) beschlossenen „Rahmenordnung für den Hochschulzugang mit ausländischen Bildungsnachweisen, für die Ausbildung an den Studienkollegs und für die Feststellungsprüfung“ (Beschluss der KMK vom 15.04.1994 i.d.F. vom 21.09.2006). Danach setzt die Zulassung zum Studium in aller Regel die Vorlage von Bildungsnachweisen voraus, die im Herkunftsland der Zeugnisse ein Hochschulstudium ermöglichen und nach den in der Datenbank www.anabin.kmk.org veröffentlichten Bewertungsvorschlägen (BV) der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen zum Hochschulzugang in Deutschland berechtigen (vgl. Ziff 1.1 Beschl. der KMK v. 15.04.1994 i.d.F. v. 21.09.2006). In vielen Fällen ist für die Zulassung nicht nur ein Schulabschluss, sondern auch eine bestimmte Anzahl von Studiensemestern oder sogar ein Hochschulabschluss im Herkunftsland erforderlich. Wenn die Vorbildung für einen direkten Zugang zum Hochschulstudium nicht ausreicht bzw. die vorgelegten Bildungsnachweise nicht anerkannt werden, ist ggf. eine Zulassung nach dem Besuch eines Studienkollegs oder einer sog. Feststellungsprüfung möglich (Ziff. 1.2 u. 4.3 Beschl. der KMK v. 15.04.1994 i.d.F. v. 21.09.2006). 1.2 Hochschulabschlüsse Migrant/innen mit im Ausland erworbenen Hochschulabschlüssen können bei der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen der KMK eine sog. Zeugnisbewertung beantragen (vgl. www. kmk.org/zab/ > Zeugnisbewertungen). Durch das Verfahren werden die Vorgaben in Art. III u. VI des Lissabonner Anerkennungsübereinkommens umgesetzt, wonach Hochschulabsolvent/ innen einen generellen Anspruch auf eine Bewertung ihrer Qualifikationen haben. In Deutschland steht das Verfahren nicht nur Hochschulabsolvent/innen aus den Vertragsstaaten, sondern allen Personen mit ausländischen Hochschulabschlüssen offen. Eine Zeugnisbewertung hat v. a. für Inhaber/innen von Hochschulabschlüssen Bedeutung, die zu keinem gesetzlich geregelten
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Esther Weizsäcker
Beruf hinführen und für die daher kein berufliches Anerkennungsverfahren besteht (z.B. Wirtschaftswissenschaftler/innen, Geisteswissenschaftler/innen). Wenn der jeweilige Hochschulabschluss in der Datenbank www.anabin.kmk.org nicht aufgeführt ist, kann eine individuelle Zeugnisbewertung auch für die Erteilung eines Aufenthaltstitels erforderlich sein.
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2 Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse In den rechtlichen Regelungen zur Anerkennung von Berufsabschlüssen wird grundsätzlich zwischen „reglementierten“ und „nicht reglementierten“ Berufen unterschieden. Nach der Definition in Art. 3 Abs. 1 lit. a RL 2005/36/EG ist unter einem reglementierten Beruf eine berufliche Tätigkeit zu verstehen, deren Aufnahme oder Ausübung durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften an bestimmte Berufsqualifikationen gebunden ist; hierunter fällt auch die Führung einer Berufsbezeichnung, die durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften auf Personen mit bestimmten Berufsqualifikationen beschränkt ist. Diese Definition wurde in das Anerkennungsgesetz des Bundes und die Anerkennungsgesetze der Länder übernommen (Maier & Rupprecht 2011; SVR 2014). Eine genaue Abgrenzung reglementierter und nicht reglementierter Berufe ist allerdings nicht immer möglich, da rechtliche Beschränkungen teilweise von Faktoren abhängen, die nicht berufsspezifisch sind (z.B. selbständige Tätigkeit/unselbständige Tätigkeit, Finanzierung aus privaten/öffentlichen Mitteln, wettbewerbsrechtliche Regelungen). 2.1 Reglementierte Berufe Zu den reglementierten Berufen gehören u.a. die Gesundheitsberufe (akademische Heilberufe, Gesundheitsfachberufe), viele pädagogische Berufe (staatlich anerkannte Erzieher/innen, Lehrer/innen im öffentlichen Schuldienst) und die selbständige Ausübung zulassungspflichtiger Handwerke (z.B. Friseure oder Klempner). Für diese Berufe bestehen auf Bundes- oder Landesebene spezielle Berufsgesetze, die detaillierte Regelungen über die Ausbildung und die Voraussetzungen zur Berufszulassung oder Führung der jeweiligen Berufsbezeichnungen enthalten. Hinsichtlich der Anerkennung ausländischer Abschlüsse enthalten die Berufsgesetze teilweise berufsspezifische Regelungen (z.B. Gesundheitsberufe, Lehrer/innen in den meisten Bundesländern), teilweise verweisen sie auf die allgemeinen Regelungen und Verfahrensvorgaben in den Berufsqualifikationsfeststellungsgesetzen des Bundes und der Länder, die durch die Anerkennungsgesetze neu eingeführt wurden (Maier & Rupprecht 2011; SVR 2014). Voraussetzung für die Anerkennung im Rahmen der Berufszulassungsverfahren ist grundsätzlich, dass zwischen den Ausbildungen keine „wesentlichen Unterschiede“ bestehen; einschlägige Berufserfahrung muss berücksichtigt werden. Wenn Unterschiede bestehen, können die Antragsteller/ innen durch sog. Ausgleichsmaßnahmen (Anpassungslehrgang oder Prüfung) den Berufszugang erlangen. Zuständig sind die Behörden, die auch in sonstigen Fällen über die Berufszulassung entscheiden (vgl. hierzu die Informationen auf www.anerkennung-in-deutschland.de). 2.2 Nicht reglementierte Berufe Zu den nicht reglementierten Berufen gehören u.a. die dualen Ausbildungsberufe nach dem Berufsbildungsgesetz des Bundes (z.B. Mechatroniker, Industriekaufleute, medizinische Fachangestellte) und auf Landesebene geregelte Assistentenberufe (z.B. Sozialassistent/innen, technische oder kaufmännische Assistent/innen). Für diese Berufe existieren zwar gesetzliche Vorgaben für die Ausbildung, die Ausübung oder Führung der Berufsbezeichnungen ist jedoch nicht auf
Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen
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3 Anrechnung von Ausbildungszeiten im Ausland und Erwerb inländischer Berufsabschlüsse
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Personen mit dem jeweiligen Abschluss beschränkt. Rechtsgrundlage für die Anerkennung ausländischer Abschlüsse für diese Berufe sind die 2011 bis 2014 neu eingeführten Berufsqualifikationsfeststellungsgesetze des Bundes und der Länder. Mit diesen Gesetzen wurde erstmals ein genereller Anspruch auf Durchführung von Anerkennungsverfahren im nicht reglementierten Bereich geschaffen; davor hatten nur Aussiedler/innen einen entsprechenden Anspruch. Die Kriterien für eine Anerkennung bzw. Feststellung der Gleichwertigkeit im Ausland erworbener Abschlüsse entsprechen im Wesentlichen den Kriterien bei reglementierten Berufen. Allerdings sind keine Ausgleichsmaßnahmen vorgesehen. Für die Verfahren im Bereich der dualen Ausbildungsberufe sind die Berufskammern zuständig (z.B. IHK, Handwerkskammer, Ärztekammer), für die Assistentenberufe die Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen (ZAB) oder Länderbehörden.
Für Migrant/innen mit ausländischen Abschlüssen besteht neben der Anerkennung in der Regel auch die Möglichkeit, nach einer verkürzten Ausbildung einen inländischen Abschluss zu erwerben. Rechtliche Vorgaben zur Anrechnung auf die im Inland vorgeschriebenen Studienleistungen oder Ausbildungszeiten finden sich in den Berufs- oder Schulgesetzen und den Ausbildungs- und Prüfungsordnungen für die jeweiligen Ausbildungsgänge. Der Erwerb eines inländischen Abschlusses kommt z.B. als Alternative in Betracht, wenn für die Anerkennung eines ausländischen Abschlusses ohnehin ein Anpassungslehrgang und/oder eine Prüfung erforderlich ist (z.B. in den Gesundheitsberufen oder den pädagogischen Berufen). Der Abschluss einer Ausbildung im Inland ist zudem in bestimmten Fällen mit migrationsrechtlichen Vorteilen verbunden (Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Arbeitssuche, Wegfall der Vorrangprüfung, schnellere „Verfestigung“ des Aufenthalts). Einige Berufsgesetze sehen auch die Möglichkeit einer „Externenprüfung“ oder „Nichtschülerprüfung“ vor (z.B. duale Ausbildungsberufe, Erzieher/innen). Durch eine solche Prüfung können Personen mit einschlägiger Berufserfahrung und/oder Vorbildung den Abschluss in dem jeweiligen Beruf ohne vorherige (formale) Ausbildung erlangen. Diese Möglichkeit ist nicht nur für Migrant/innen, sondern für alle Personen ohne formale Ausbildung relevant.
4 Ausblick In den vergangenen Jahren sind (auf europäischer und auf nationaler Ebene) viele Regelungen in Kraft getreten, die eine Anerkennung ausländischer Bildungs- und Berufsabschlüsse erleichtern. Dennoch bleibt noch viel zu tun, um möglichst einheitliche und transparente Kriterien und effektive Verfahren zu schaffen. Neben einer Verbesserung der relevanten rechtlichen Regelungen hat v.a. die weitere Verbesserung von Informationsangeboten für die Anerkennungssuchenden und für die zuständigen Behörden Bedeutung. Da eine Zentralisierung von Anerkennungsverfahren aufgrund des föderalen Systems in Deutschland an enge Grenzen stößt, müssen ausreichende Informationsangebote über die unterschiedlichen Zuständigkeiten und Verfahren und ein effektives Wissensmanagement der zuständigen Behörde gewährleistet sein (Fohrbeck 2012; Brussig, Mill & Zink 2013). Darüber hinaus müssen für Migrant/innen, deren Abschlüsse zunächst nicht anerkannt werden, hinreichende Möglichkeiten für eine Nachqualifizierung bestehen (BMBF 2014).
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Stefan Oeter
In einem größeren rechts- und bildungspolitischen Kontext stellt sich die Frage, wie eine Fortentwicklung der Anerkennungsmöglichkeiten für ausländische Abschlüsse in sinnvoller Weise mit den generellen Bemühungen um eine größere Durchlässigkeit des Bildungssystems in Deutschland und um eine größere Wertschätzung informell erworbener Qualifikationen verbunden werden kann. Bislang steht in Deutschland die Bewertung ausländischer Qualifikationen in Bezug auf formale Ausbildungsinhalte und Abschlüsse im Vordergrund (Eberhardt & Annen 2012). Eine generell größere Offenheit des Bildungssystems wird möglicherweise dazu führen, dass Regelungen zur Anerkennung ausländischer Abschlüsse künftig an eigenständiger Bedeutung verlieren.
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Literatur
Brücker, Herbert; Liebau, Elisabeth; Romiti, Agnese & Vallizadeh, Ehsan (2014): Anerkannte Abschlüsse und Deutschkenntnisse lohnen sich. In: IAB -Kurzbericht 21 Spezial, S. 21-28. Online verfügbar unter http://www. iab.de/de/publikationen.aspx [04.12.2014]. – Brussig, Martin; Mill, Ulrich & Zink, Lina (2013): Wege zur Anerkennung – Wege zur Integration? IAQ -Report 2013-05. Online verfügbar unter www.iaq.uni-due.de/iaq-report [04.12.2014]. – BMBF (2014): Bundesministerium für Bildung und Forschung. Bericht zum Anerkennungsgesetz. Online verfügbar unter www.anerkennung-in-deutschland.de > Daten und Berichte [04.12.2014]. – Eberhardt, Christiane & Annen, Silvia (2012): Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsabschlüssen – ein Blick über den nationalen Tellerrand. In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis 5, S. 44-45. Online verfügbar unter www. bibb.de > Veröffentlichungen [04.12.2014]. – Fohrbeck, Dorothea (2012): Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen. Das neue Anerkennungsgesetz des Bundes. In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis 5, S. 6-10. Online verfügbar unter www.bibb.de > Veröffentlichungen [04.12.2014]. – Maier, Ralf W. & Rupprecht, Bernd (2011): Der Regierungsentwurf des Anerkennungsgesetzes. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 7, S. 201-205. Online verfügbar unter www.zar.nomos.de/archiv [04.12.2014]. – Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration: Deutschlands Wandel zum modernen Einwanderungsland. Jahresgutachten 2014 mit Integrationsbarometer. Online verfügbar unter www.svr-migration.de [04.12.2014]. – Weizsäcker, Esther (2010): Freedom of movement of workers and recognition of professional qualifications in the case law of the European Court of Justice. In: FMW – Online journal on free movement of workers within the European Union 1, S. 6-14. Online verfügbar unter http://ec.europa.eu/social/main.jsp [04.12.2014].
58 Integration als Rechtsbegriff Stefan Oeter
Der Begriff der Integration ist von den Rechtswissenschaften ursprünglich aus der Soziologie entlehnt, hat im juristischen Sprachgebrauch aber schon eine längere begriffliche Karriere hinter sich (Droege 2006, Sp. 1017ff; Gusy & Müller 2013, S. 269ff). Die erste prominente Übernahme erfolgte mit der ‚Integrationslehre‘ von Rudolf Smend, einer der wichtigsten Theoriestränge des Weimarer Methodenstreits in der Staatsrechtslehre der 1920er Jahre, der in der Frühphase der Bundesrepublik erheblichen Einfluss auf das verfassungstheoretische Denken hatte (Droe-
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Integration als Rechtsbegriff
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ge 2006, Sp. 1019f ). Wichtigster Kontext der Verwendung in der juristischen Debatte nach 1945 war der Prozess der europäischen Integration im Gefolge der Römischen Verträge, mit der Gründung und dem Ausbau der EWG, dann EG und schließlich EU (Droege 2006, Sp. 1021f ). In der Debatte des Ausländer- und Migrationsrechts ist der Begriff dagegen erst relativ spät angekommen (Gusy & Müller 2013, S. 270). Das klassische Ausländerrecht war auf Segregation und ausländerpolizeiliche Kontrolle der ‚Fremden‘ orientiert und dachte nicht in Kategorien einer zunehmenden Teilhabe und Einbeziehung zuziehender Migrant/innen in die Gesellschaft (Bast 2011, S. 24ff; Gusy & Müller 2013, S. 266). Es spiegelte die Engführungen des klassischen völkerrechtlichen Fremdenrechts, das den Sonderstatus des ‚Fremden‘, als eines nicht regulär zur Gesellschaft Gehörenden, betonte (Farahat 2014, S. 98ff). Erst mit dem Bedeutungszuwachs des modernen Menschenrechtsschutzes (Farahat 2014, S. 308ff; Bast 2011, S. 176ff) und dem Wechsel des Selbstverständnisses in Deutschland ab den Neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts (Bade 2007, S. 307ff), in dessen Gefolge die deutsche Gesellschaft zunehmend als eine Einwanderungsgesellschaft begriffen wurde, fand der Begriff Eingang in die Terminologie des – nun mehr und mehr als ‚Migrationsrecht‘ bezeichneten – Teilgebiets des Rechts, das sich mit den rechtlichen Rahmenbedingungen der Einreise, des Aufenthalts und der Integration von Migrant/innen befasst. Für das Migrationsrecht handelt es sich beim Konzept der Integration mithin um eine noch relativ junge Kategorie, was sich auch in dem bislang eher spärlichen Normenbestand zu Fragen der Integration ausdrückt – wenn auch unbestreitbar ist, das das Konzept der Integration von einem normativen Leitbild zu einem Rechtsbegriff mutiert ist (Eichenhofer 2013, S. 110ff).
1 Verwendung im Gesetzesrecht Die zentralen Regelungen zu Fragen der Integration finden sich im Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG). Das Gesetz wurde 2004 verabschiedet, als Ergebnis der Bemühungen um eine grundlegende Reform des alten Ausländergesetzes von 1990. Schon im Titel ist der Begriff der Integration in einer programmatischen Form enthalten, wenn auch aus der Zielbestimmung des § 1 Abs.1 des Gesetzes erkennbar wird, dass Integration nicht im Vordergrund der Regelungen steht, bestimmt Satz 1 des § 1 Abs.1 doch: „Das Gesetz dient der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland.“ Erst in Satz 2 wird dies präzisiert durch die Formel: „Es ermöglicht und gestaltet Zuwanderung unter Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit sowie der wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland.“ Das AufenthG enthält in einem dritten Kapitel (§§ 43-45) sodann einige wenige, in ihrem Gehalt eher rudimentäre Vorschriften zu Fragen der Integration von Ausländer/innen. Das zentrale Instrument dieses Kapitels ist der in § 43 geregelte Integrationskurs, ergänzt durch das Institut des Integrationsprogramms in § 45. Man mag dies für eine noch recht schwache gesetzliche Ausprägung des Gedankens der Integration halten, doch wurde mit dem AufenthG erstmals überhaupt ein staatlicher Integrationsauftrag und ein Anspruch von Migrant/innen auf Erwerb gesellschaftlicher Basiskompetenz durch Teilnahme an Integrations- und Orientierungskursen gesetzlich abgesichert (Huber 2010, AufenthG § 43 Rn. 1). Mit der Aufnahme des Begriffes in den Gesetzestitel betont der Gesetzgeber den hohen Stellenwert der Integration im Rahmen des Aufenthaltsrechts. Endlich wird – wie es in einem der führenden Kommentare zum Gesetz heißt – „durch staatliche Integrationsangebote, die leider für viele Migranten zu spät kommen, der Tatsache Rechnung getragen, dass Deutschland faktisch zum Einwanderungsland geworden ist“ (Huber 2010, AufenthG § 43 Rn. 1). In einem
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Stefan Oeter
späteren Änderungsgesetz, das der Umsetzung einer Serie von EU-Richtlinien diente, wurde zusätzlich der Grundsatz des Forderns eingeführt, der die Erforderlichkeit auch eigener Integrationsbemühungen der Zugewanderten betont. Das RL-Umsetzungsgesetz ist insofern symptomatisch für den Hybridcharakter des aktuellen Migrationsrechts, als diese Materie inzwischen in starkem Maße durch Sekundärrecht der EU überformt ist (s. Bast 2011, S. 140ff, aber auch Kluth/Heusch 2015, § 43 Rn. 4.1) Im Gesetz wird der Begriff der Integration nicht weiter definiert (Kluth/Heusch 2015, § 43 Rn.3). Allerdings finden sich an verschiedenen Stellen positive und negative Elemente einer Begriffsbestimmung, wie Sprachkompetenz, Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung, die Verfassungs- und Rechtstreue des Migranten und die Fähigkeit, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten (Groß ZAR 2007, S. 315). § 43 Abs.1 bezieht sich ausdrücklich auf Integration „in das wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben“. Integration ist dabei nach dem Verständnis des Gesetzes kein einseitiger, sondern ein beiderseitiger Prozess des Aufeinanderzugehens. Integration beschreibt in diesem Sinne einen dynamischen, lang andauernden und differenzierten Prozess des Zusammenfügens und Zusammenwachsens (Huber 2010, AufenthG § 43 Rn. 3). Dieser Prozess besteht aus Annäherung, gegenseitiger Auseinandersetzung, dem Finden von Gemeinsamkeiten, aber auch dem Feststellen von Unterschieden und der Übernahme gemeinschaftlicher Verantwortung zwischen Zugewanderten und Aufnahmegesellschaft (Huber 2010, AufenthG § 43 Rn. 3). Voraussetzung der Integration ist nach der Vorstellung des Gesetzes der Erwerb von sprachlichen Fähigkeiten im Deutschen und von Kenntnissen über soziale Regeln Deutschlands als des Zuwanderungslandes (sowie deren nachfolgende Beachtung). In diesem Sinne definiert § 43 Abs. 2 AufenthG als Ziel des Integrationskurses, Ausländer/ innen die Sprache, die Rechtsordnung, die Kultur und die Geschichte Deutschlands erfolgreich zu vermitteln.
2 Instrumente der Integration Zentrales Instrument staatlicher Integrationsförderung ist nach der Konzeption des Aufenthaltsgesetzes folglich das System der Integrationskurse. Ziel der Neuregelung durch das Zuwanderungsgesetz 2004 war es, ein staatlich organisiertes Angebot an Integrationskursen einzuführen, Migrant/innen ein Recht auf Teilnahme einzuräumen und die Zuständigkeiten auf Bundesebene zu bündeln, und zwar beim neugeschaffenen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, abgekürzt BAMF (Kluth/Heusch 2015, § 43 Rn. 1; Groß 2007, S. 315ff). Das Aufenthaltsgesetz bestimmt dazu in § 43 Abs.2, „Eingliederungsbemühungen von Ausländern werden durch ein Grundangebot zur Integration (Integrationskurs) unterstützt. Ziel des Integrationskurses ist, den Ausländern die Sprache, die Rechtsordnung, die Kultur und die Geschichte in Deutschland erfolgreich zu vermitteln. Ausländer sollen dadurch mit den Lebensverhältnissen im Bundesgebiet so weit vertraut werden, dass sie ohne die Hilfe oder Vermittlung Dritter in allen Angelegenheiten des täglichen Lebens selbständig handeln können.“ Die näheren Details zur Struktur des Angebots sowie zu den organisatorischen Einzelheiten werden in § 43 Abs.3 AufenthG sowie in einer auf Grundlage des Abs.4 erlassenen Rechtsverordnung geregelt, der Integrationskursverordnung v. 12.12. 2004 (s. zu den Einzelheiten von Organisation und Kostentragung Kluth/ Heusch 2015, § 43 Rn. 6ff; Huber 2010, AufenthG § 43 Rn. 7ff). § 44 AufenthG regelt die Voraussetzungen der Berechtigung zur Teilnahme am Integrationskurs (s. Kluth/Heusch 2015, § 44 Rn. 4ff; Hofmann 2016, § 44 Rn. 2ff). In § 44a AufenthG ist für bestimmte Personengruppen – insbes. Migrant/innen, die Leistungen nach dem Zweiten Buch des SGB erhalten – eine Pflicht zur Teilnahme an Integrationskursen vorgesehen (zu den Einzelheiten Kluth/Heusch
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Integration als Rechtsbegriff
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2015, § 44a Rn. 4ff; Huber 2010, AufenthG § 44a Rn. 2ff), die auch durch Verwaltungszwang durchgesetzt werden kann (Huber 2010, AufenthG § 44a Rn. 11ff). Die (ursprünglich vorgesehene) Möglichkeit der Leistungskürzung bei Asylbewerber/innen im Falle der Nichtteilnahme an Integrationskursen ist dagegen 2007 gestrichen worden; deren erneute Aufnahme in das Gesetz wird aber aktuell wieder diskutiert. Auch bleibt die Qualitätssicherung im System der Integrationskurse ein immerwährendes Problem (Schroeder & Zakharova 2015, S. 257ff). § 45 AufenthG ergänzt das Kernprogramm des Integrationskurses durch eine Öffnungsklausel für „weitere Integrationsangebote des Bundes und der Länder“. Gemeint sind damit insbes. sozialpädagogische und migrationsspezifische Beratungsangebote ( Kluth/Heusch2015, § 45 Rn. 3). Hierunter fallen auch Instrumente wie die sogen. ‚Integrationsvereinbarungen‘ (Thym 2012, 46ff), die in Modellversuchen auf kommunaler Ebene erprobt wurden (Hank 2012, S. 57ff) sowie der ‚Nationale Integrationsplan‘ der Bundesregierung, über den die Aktivitäten des Bundes, der Länder, Kommunen und Arbeitsgeberverbände über ein System freiwilliger Selbstverpflichtungen miteinander verzahnt werden sollen (Hofmann 2016, § 45 Rn. 2). In § 45 S. 2 bis 4 wird ferner ein Gebot zur Entwicklung eines ‚bundesweiten Integrationsprogramms‘ normiert, über das die Integrationsaktivitäten von Bund, Ländern und Gemeinden besser koordiniert werden sollen. Dieser gesetzlichen Verpflichtung ist das BAMF mit der Vorlage des Integrationsprogramms im Herbst 2010 nachgekommen (Kluth/Heusch 2015, § 45 Rn. 5). Der Kern des im dritten Kapitel des Aufenthaltsgesetzes angelegten Instrumentariums der Integration, das Instrument der Integrationskurse, ist relativ eng in seiner Anlage. Zwar ist unbestritten, dass zureichende Sprachkenntnisse der Umgebungssprache eine zentrale Bedeutung für die Chance der sozialen und wirtschaftlichen Integration haben (Kluth/Heusch2011, S. 145ff; Bade 2007, S. 314). Doch handelt es sich dabei um eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung der Integration. Die politische wie wissenschaftliche Debatte um Integration von Migrant/innen ist sich zunehmend dessen bewusst geworden, dass Integration bei erwachsenen Zuwanderern primär über Eingliederung in den Arbeitsmarkt erfolgt, bei Migrantenkindern über Teilhabe und Eingliederung in das deutsche Bildungssystem (Kluth/Heusch 2015, § 43 Rn. 5). Beide Stränge einer erfolgreichen Integration sind deshalb mittelfristig zu stärken. Gesetzgeberisch sind bislang Fragen des Arbeitsmarktzugangs sowie der effektiven Teilhabe von Migrantenkindern am Bildungssystem unzureichend geregelt. Die Gesetzgebung befindet sich in diesen Bereichen noch in einer eher experimentellen Phase und wird in den nächsten Jahren daher erhebliche Umbrüche erfahren.
3 Rechtspolitische Debatte Obwohl der Gedanke einer ‚Integrationsverpflichtung‘ im Ansatz bereits seit 1965 das Ausländergesetz durchzieht (Kluth/Heusch 2015, § 43 Rn. 1), sind Grundfragen einer wirksamen Integrationspolitik erst seit wenigen Jahren Gegenstand intensiver rechtspolitischer Debatte. Der Fokus des alten Ausländerrechts lag zu stark auf den Aspekten der Kontrolle und Begrenzung der Zuwanderung, um Fragen der Integration angemessen diskutieren zu können. Erst mit der politischen Fokusverschiebung der letzten Jahre, als Konsequenz der Einsicht, dass Deutschland längst ein Einwanderungsland darstellt, wurde eine offenere Debatte möglich (Bade 2007, S. 307). Ausdruck dieser Akzentverschiebung ist auf Landesebene die Vorlage mehrerer Entwürfe zu ‚Integrationsfördergesetzen‘. Auch die intensivierte Debatte um das Instrument der ‚Integrationsvereinbarungen‘, deren breiter Einsatz auf Landesebene erwogen wird, um den Konnex von Fördern und Fordern (s. dazu Kluth/Heusch 2015, § 43 Rn. 11; Groß 2007, S. 315ff) besser zu institutionalisieren, ist Ausdruck der Akzentverschiebung.
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Stefan Oeter
Literaturverzeichnis
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In der rechtswissenschaftlichen Debatte ist das Augenmerk auf Fragen der Integration schon etwas älter. Schon um die Jahrtausendwende erschienen grundlegende Werke zu Problemen der Integration im Bildungswesen (Langenfeld 2001, S. 319ff, 370ff). Das erneut erwachte Interesse der Rechtswissenschaft an Fragen des Migrationsrechts hat in den letzten Jahren auch die juristische Debatte um Integration stimuliert (Schneider 2011, S. 8ff; Isensee 2010, S. 31ff). Jüngst hat das Konzept der ‚progressiven Inklusion‘ eine gewisse Prominenz in der rechtswissenschaftlichen Debatte erlangt (Farahat 2014, S. 98ff, 343ff). Doch viele Fragen bleiben offen, wie etwa die nach dem Verhältnis von deutscher Umgebungssprache und Herkunftssprachen im Bildungssystem (Gogolin & Oeter 2011, S. 30ff; Langenfeld 2001, S. 294ff). Die Unsicherheiten der juristischen Debatte um Integration spiegeln im Ergebnis dabei die Zerrissenheit der sozialwissenschaftlichen Diskurse um angemessene Wege und Instrumente einer zielführenden Integrationspolitik. Bade, Klaus J. (2007): Nationaler Integrationsplan und Aktionsplan Integration NRW: Aus Erfahrung klug geworden?. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik - ZAR 27 (9), S. 307-315. – Bast, Jürgen (2011): Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung. Tübingen: Mohr Siebeck (Jus publicum, 207). – Droege, Michael (2006): Integration. In: Werner Heun et al. (Hg.): Evangelisches Staatslexikon. Stuttgart: Kohlhammer, Spalte 1017-1023. Eichenhofer, Johannes (2013): Begriff und Konzept der Integration im Aufenthaltsgesetz. Baden-Baden: Nomos (Schriften zum Migrationsrecht, 11). – Eichenhofer, Johannes (2011): Aufenthaltsrecht und Spracherwerb. In: Eva Dick et al. (Hg.): Sprache und Integration: ein interdisziplinärer Beitrag zum aktuellen Integrationsdiskurs. BadenBaden: Nomos, S. 145-158. – Farahat, Anuscheh (2014). Progressive Inklusion. Zugehörigkeit und Teilhabe im Migrationsrecht. Heidelberg: Springer. – Gogolin, Ingrid; Oeter, Stefan (2011): Sprachenrechte und Sprachminderheiten – Übertragbarkeit des internationalen Sprachenregimes auf Migrant(inn)en: Recht der Jugend und des Bildungswesens - RdJB 59 (1), S. 30-45. – Groß, Thomas (2007): Das deutsche Integrationskonzept – vom Fördern zum Fordern?. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik - ZAR 27 (9), S. 315-320. – Gusy, Christoph & Müller, Sebastian (2013): Leitbilder im Migrationsrecht. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik - ZAR 33 (8), S. 265-272. – Hank, Stefan (2012): Integrationsvereinbarungen als Instrument individueller Zielplanung und einzelfallübergreifender Zusammenarbeit – Überblick über das Modellvorhaben in Deutschland. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik - ZAR 32 (3), S. 57-60. – Hofmann, Rainer M., Hg. (2016): Ausländerrecht. 2. Aufl. Baden-Baden: Nomos. – Huber, Berthold (Hg.) (2010): Aufenthaltsgesetz. Kommentar. München: C.H. Beck. – Isensee, Josef (2010): Integration als Konzept. In: Integration in Freiheit – 53. Bitburger Gespräche 2010. München: C.H. Beck, S. 31-42. – Kluth, Winfried & Heusch, Andreas (Hg.) (2015). Beck‘scher Online-Kommentar Ausländerrecht. 9. Edition. München: C.H. Beck. – Langenfeld, Christine (2001): Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten. Eine Untersuchung am Beispiel des allgemeinbildenden Schulwesens in der Bundesrepublik Deutschland. Tübingen: Mohr Siebeck (Jus publicum, 80). – Schneider, Katja (2011): Assimilation und Integration – eine Begriffsanalyse aus der Perspektive der Rechtswissenschaft. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik - ZAR 31 (1), S. 8-15. – Schroeder, Christoph & Zakharova, Natalia (2015): Sind die Integrationskurse ein Erfolgsmodell? Kritische Bilanz und Ausblick. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik - ZAR 35 (8), S. 257-262. – Thym, Daniel (2012): Integration durch Unterschrift? Vorzüge einer konsensualen Integrationssteuerung durch den Abschluss von Integrationsvereinbarungen. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik - ZAR 32 (3), S. 46-51.
Minderheitenschutz
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59 Minderheitenschutz Christine Langenfeld und Roman Lehner
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1 Völkerrecht Im internationalen Recht ist zunächst der universelle – unter dem Dach der Vereinten Nationen organisierte, weltweite – Minderheitenschutz bedeutsam. Seine Entwicklungsgeschichte verlief in „Wellenbewegungen“, beginnend mit den Minderheitenschutzverträgen nach dem Ersten Weltkrieg, über die individual-menschenrechtlichen Verbürgungen nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur „Renaissance des Minderheitenschutzes“ infolge des Umbruchs in Mittel- und Osteuropa nach 1990 (Langenfeld 2009, Rn 3ff; ähnlich Boysen 2011, Rn 4ff; vgl. zur Lage bis 1990 auch Pan 1999, S. 6ff). Hervorzuheben ist hier Art. 27 IPBürgR, wonach „in Staaten mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten […] Angehörigen solcher Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden [darf ], gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen“. Die Einhaltung wird durch den Menschenrechtsausschuss der UN überwacht. Nach Art. 1 des Ersten Fakultativprotokolls ist die Individualbeschwerde zugelassen, auch Einzelne können eine Verletzung rügen. Schon dies zeigt, zusammen mit dem Wortlaut des Art. 27 („Angehörige“), dass der universelle Minderheitenschutz als Individual-, und nicht als Gruppenrecht ausgestaltet ist, wobei daneben eine kollektive Dimension besteht (Langenfeld 2009, Rn 34f; Rüdiger 2002, S. 79-81; Heintze 1994, S. 142ff). Probleme bereitet die Definition der Minderheit. Eine feststehender Begriff existiert nicht, zumeist wird die Definition des früheren Sonderberichterstatters der Menschenrechtskommission Capotorti genannt: „[…] eine Gruppe, die zahlenmäßig kleiner ist als die übrige Bevölkerung eines Staates, sich in einer nicht-dominanten Position befindet, deren Angehörige – als Bürger dieses Staates – ethnische, religiöse oder sprachliche Eigenheiten besitzen, die von jenen der übrigen Bevölkerung verschieden sind […].“ (zit. n. Pan 1999, S. 18). Obgleich die Staatsangehörigkeit des jeweiligen Staates heute überwiegend nicht mehr vorausgesetzt wird, ist damit die Frage nach der Ansässigkeit der betroffenen Gruppe aufgeworfen. So wird auch heute überwiegend gefordert, dass nur über mehrere Generationen ansässige Gruppen Minderheiten darstellen können, insbesondere Migrant/innen fallen so nicht unter den Minderheitenschutz. Eine Einbeziehung würde auch die reale Umsetzung von Art. 27 IPbürgR weltweit gefährden und widerspräche zudem dessen spezifischem Zweck, der gerade in der „Aufrechterhaltung der Differenz“ gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu sehen ist, wohingegen die Bedürfnisse und Erwartungen von und gegenüber Einwanderer/innen in Richtung ihrer Integration gehen (Langenfeld 2009, Rn 21f; Rüdiger 2002, S. 57ff; Siegert 1999, S. 37f ) Dies schließt die Bewahrung von Differenz in Form einer von der Aufnahmegesellschaft unterschiedlichen sprachlichen, religiösen etc. Identität keineswegs aus (vielleicht sogar im Gegenteil). Integration ist aber in erster Linie auf Partizipation ausgerichtet (SVR 2010, S. 13f/17f/21ff/ausf. S. 137ff) und nicht auf den expliziten Erhalt von Differenz. Zudem schützen die allgemeinen Individualrechte aus dem Pakt (z.B. Religionsfreiheit, Art. 18 IPBürgR) hinreichend vor übergroßem Assimilationsdruck (Langenfeld 2009, Rn 22) und gewährleisten eine identitätsschonende Integration. Schließlich
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Christine Langenfeld und Roman Lehner
ist nicht ausgeschlossen, dass eine eingewanderte Gruppe, die über einen sehr langen Zeitraum ihre kulturelle Eigenart bewahrt, zu einer (neuen) angestammten Minderheit wird (Krugmann 2004, S. 77; ähnlich Heintze 1994, S. 127). Die Vorschläge für das „Zeitkriterium“ rangieren hier zwischen einigen Jahrzehnten oder rund 90 Jahren, was etwa drei Generationen entspräche (Krugmann 2004, S. 77f; Siegert 1999, S. 50ff). In der Literatur umstritten ist die Frage, ob die Paktgarantie nur abwehrend gegenüber staatlichem Handeln wirkt oder vielmehr auch im Einzelfall ein staatliches Tätigwerden, wie die Einrichtung oder finanzielle Unterstützung von Minderheitenschulen, erforderlich machen kann. Für letzteres ließe sich allenfalls eine Bemerkung des Menschenrechtssauschusses ins Feld führen, wonach positive Schutzmaßnahmen im Einzelfall verlangt sein sollen (Boysen 2012, Rn 141 mVw auf General Comment No. 23, Nrn. 6.1 u. 6.2.). Im Ergebnis ist dies aber wohl abzulehnen. Entscheidet sich ein Staat allerdings für eine Förderung, so ist er an das Diskriminierungsverbot gebunden. Und selbst wenn man eine positive Gewährleistungspflicht bejahte, bestünde ein weiter Ermessensspielraum, der Staat könnte etwa im Schulbereich selbst entscheiden, ob die Förderung durch entsprechende Angebote an staatlichen Schulen oder durch die Zulassung (und finanzielle Unterstützung) von Privatschulen erfolgen soll (Langenfeld 2009, Rn 40). Und auch wenn sich Förderungen nicht als obligatorisch erweisen, sind sie selbstverständlich zulässig und stellen per se noch keine verbotene Bevorzugung etwa wegen der Sprache dar. Anknüpfungspunkt für die Zulassung privater Minderheitenschulen ist insoweit Art. 7 IV, V GG, wonach die Errichtung von Privatschulen jedermann frei steht und diese als Ersatzschulen – nämlich zum Ersatz öffentlicher, d.h. staatlicher Schulen – genehmigt werden müssen, „wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird“. Private Minderheitenschulen bestehen z.B. in Schleswig-Holstein für die dänische Minderheit. Unter dem Dach des Europarates zustande gekommen ist das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten, das von 39 der 47 Mitgliedstaaten des Europarats ratifiziert worden ist. Als nationale Minderheiten anerkannt sind in Deutschland „die […] der Dänen, des sorbischen Volkes, der deutschen Sinti und Roma sowie die Volksgruppe der Friesen“ (Erster Staatenbericht 1999, S. 3). Nach Art. 24 I des Übereinkommens wird seine Einhaltung durch das Ministerkomitee des Europarates überwacht, die Staaten sind gem. Art. 25 I, II zur regelmäßigen Übermittlung aller relevanten Informationen über die Durchführung des Übereinkommens verpflichtet. Deutschland hat bislang vier Staatenberichte abgegeben, zuletzt 2014. Die Berichte werden beim Europarat durch den Beratenden Ausschuss des Ministerkomitees geprüft, wobei Empfehlungen ausgesprochen werden können. So monierte der Ausschuss in seinem letzten Prüfbericht z.B., dass Kinder von Sinti und Roma weiterhin überproportional häufig sonderbeschult werden (Dritte Stellungnahme zu Deutschland 2010, S. 30f ). Ein weiteres relevantes Europaratsabkommen ist die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Sie kann als Reaktion auf das seit den 1970er Jahren in Europa entstandene Bewusstsein um die Schutzwürdigkeit solcher Sprachen vor dem Hintergrund einer über viele Jahrzehnte praktizierten „Sprachenvernichtungspolitik“ gesehen werden (Neumann 2009, S. 161). Für den Bereich der Bildung enthält die Charta auf den verschiedenen Ebenen (vorschulische Erziehung, Grundschule, Sekundarbereich etc.) „abgestufte Verpflichtungen für die Verwendung der Regional- oder Minderheitensprache“ (Langenfeld 2011, Rn 21ff; ähnlich Neumann 2009, S. 151). Zu beachten ist, dass nach Art. 1 nur Gruppen mit „historische[r] Verankerung der Sprache im jeweiligen Vertragsstaat“ (Boysen 2011, Rn 13) erfasst werden, die zudem „Angehörige[n] dieses Staates“ sein müssen. Die Sprachen von Zuwanderer/innen
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werden explizit vom Anwendungsbereich der Charta ausgeschlossen. Minderheitensprachlicher Schulunterricht existiert in Südschleswig für die Dänen, in Sachsen und Brandenburg für die Sorben und in Nordfriesland sowie im niedersächsischen Saterland für die Friesen (Pfeil 2006, S. 118ff). Staatlicher Romanes-Unterricht findet hingegen i.d.R, dem wohl überwiegenden Elternwunsch entsprechend, nicht statt (Pfeil 2006, S. 120). Eine Unterrichtung gegen den Willen der Minderheitsangehörigen widerspräche auch Sinn und Zweck des Art. 8 der Charta (Langenfeld 2011, Rn 10). Im Übrigen gilt, dass es den Staaten frei steht, minderheitensprachlichen Unterricht an staatlichen Schulen anzubieten oder die Errichtung privater Schulen zuzulassen und zu fördern, was auch ausreichende finanzielle Unterstützung einschließt (Langenfeld 2013, Rn 9). Hochgradig problematisch sind dabei die üblichen Regelungen, wonach Privatschulen ihre Kosten nur in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes der öffentlichen Schülerkostensätze erstattet bekommen (Langenfeld 2013, Rn 9).
Im Recht der Europäischen Union ist der Minderheitenschutz in der EU-Grundrechtecharta (GRCh) zweifach angesprochen. Nach Art. 21 I GRCh sind Diskriminierungen wegen der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit verboten. Unzulässig sind danach jedenfalls unmittelbare Ungleichbehandlungen, wenn sie allein aufgrund dieser Zugehörigkeit erfolgen und sich auch keine Gründe für eine „objektive und angemessene Rechtfertigung“ finden lassen (Jarass 2013, Rn 26). Wie auch bei Art. 27 IPBürgR (vgl. Langenfeld 2009, Rn 42f ) können aus dem Diskriminierungsverbot Schutzpflichten abgeleitet werden, die ein hoheitliches Einschreiten z.B. gegenüber Diskriminierungen durch Privatpersonen einfordern (Jarass 2013, Rn 4, 18). Nach Art. 22 GRCh achtet die Union zudem die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.
3 Nationales Recht 3.1 Bundesrecht Der Minderheitenschutz genießt auf Bundesebene keinen Verfassungsrang. Von der Gemeinsamen Verfassungskommission, die auf Grundlage des Einigungsvertrags mit der Erarbeitung einer Grundgesetzreform beauftragt war, wurde seine Implementierung als Staatsziel zwar angeregt, in Bundestag und Bundesrat fand die Einfügung eines entsprechenden Art. 20 b GG aber keine Mehrheit (Ermisch 2000, S. 157ff, insb. S. 178f/209ff; Pastor 1997, S. 63ff; Siegert 1999, S. 134ff). Ob sich aus Art. 3 III 1 GG, wonach Diskriminierungen aufgrund der „Rasse“, der Abstammung und der Sprache verboten sind, ein Förderauftrag zugunsten ethnischer oder sprachlicher Minderheiten ableiten lässt (so etwa Marten-Gotthold, S. 166f; Rüdiger 2002, S. 206ff), erscheint mehr als fraglich. Staatliche Ungleichbehandlungen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Minderheit stellen aber einen Verstoß gegen Art. 3 III 1 GG dar. Die Festlegung des Deutschen als Gerichts- und Amtssprache (z.B. §§ 184 S. 1 GVG, 23 I VwVfG) und somit auch als Schulsprache, stellt indes keine Benachteiligung wegen der Sprache dar, weil hierdurch keine Unterscheidung, sondern eine allgemeine Regelung für alle getroffen wird (Boysen 2012, Rn 13). Für die Sorben sieht eine Anlage zum Einigungsvertrag das Recht vor, in den Heimatkreisen vor Gericht Sorbisch zu sprechen (vgl. auch § 184 S. 2 GVG), wobei dies in der Praxis nur teilweise umgesetzt wird (Pastor 1997, S. 85; Pfeil 2006, S. 117). Keinen Verstoß gegen Art. 3 III 1 GG stellen (finanzielle) Förderungen minderheitensprachlicher Einrichtungen (vor allem
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von Schulen) dar: Diese betreffen nicht die Rechtsstellung Einzelner, was aber nach Art. 3 III 1 GG in Hinblick auf den Wortlaut („wegen […] seiner Sprache“) und auch mit Rücksicht auf den Schutzzweck – Verbot bestimmter Differenzierungen – zu verlangen wäre (Boysen 2012, Rn 136). Niemand wird aber als Individuum wegen „seiner“ Sprache benachteiligt, wenn eine Sprache allgemein gefördert wird und eine andere nicht. Überdies ließe sich auch eine Rechtfertigung finden, nämlich in Hinblick auf den Schutz der kulturellen Identität der Betroffenen (Krugmann 2004, S. 245; Langenfeld 2011, Rn 12). Den völkerrechtlichen Bestimmungen zum Minderheitenschutz kommt nach Art. 59 II GG infolge der Umsetzung durch ein Zustimmungsgesetz der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu. Im Bundesrecht finden sich darüber hinaus verschiedene gesetzliche Normen zum Minderheitenschutz. Nach § 6 III 2 BWahlG finden die 5-Prozent-Klausel sowie die Grundmandatsklausel für „Parteien nationaler Minderheiten keine Anwendung.“ Dies ist vom BVerfG gebilligt worden (BVerfG, Urt. v. 23.1.1957, 2 BvE 2/56, LS 4; hierzu Boysen 2012, Rn 135). Minderheiten, die, wie die Dänen, über einen angrenzenden „konnationalen [sic] Staat“ verfügen (Pfeil 2006, S. 111), werden insoweit privilegiert, als ihre Parteien aus diesem Staat stammende Auslandsspenden annehmen dürfen (§ 25 II Nr. 3 b PartG). Bei der staatlichen Parteienfinanzierung finden die Mindestquoten für den Erhalt staatlicher Mittel keine Anwendung (§ 18 IV 3 PartG). Mit dem Beauftragten für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten ist seit 2002 ein direkter Ansprechpartner vorhanden (Pfeil 2006, S. 125). 3.2 Landesrecht Einzelne Landesverfassungen enthalten Bestimmungen über den Schutz der im jeweiligen Land ansässigen Minderheiten, namentlich in Schleswig-Holstein (Art. 6 für Dänen, Sinti und Roma sowie Friesen), Brandenburg (Art. 25 für die Sorben) und Sachsen (Art. 6 für die Sorben). Dies betrifft insgesamt etwas mehr als 190.000 Menschen in Deutschland (Kirchhof 2004, Rn 79). Aus der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 I GG folgt, dass es das Recht eines Jeden ist, sich zu einer nationalen Minderheit zu bekennen (Pfeil 2006, S. 112f ). Dementsprechend legt § 1 S. 1 des Sächsischen Sorbengesetzes fest, dass zum sorbischen Volk gehört, wer sich zu diesem bekennt. In Schleswig-Holstein werden zahlreiche Ersatzschulen (Art. 7 IV 2 GG) durch den Dänischen Schulverein für Südschleswig gehalten, wobei eine finanzielle Förderung sowohl durch den dänischen Staat als auch durch Schleswig-Holstein erfolgt (Pfeil 2006, S. 118). Weniger ausgeprägt sind das sorbische und das friesische Schulwesen (Pfeil 2006, S. 119f ). Abstützen lassen sich staatliche (d.h. hier die für den schulischen Bereich zuständigen Länder betreffende) Förderpflichten auf die genannten Landesverfassungsbestimmungen (Köster 2009, S. 165ff) sowie auf Art. 8 der Sprachencharta (Langenfeld 2011, Rn 9, 11). Ob derartige Verpflichtungen auch aus Art. 27 IPBürgR folgen, ist dagegen umstritten und im Ergebnis wohl zu verneinen (Langenfeld 2009, Rn 36ff). Im Bereich des Rundfunks, für den auch die Länder zuständig sind, stellt sich die Frage nach der Repräsentanz von Minderheiten in den für die Programmkontrolle zuständigen Aufsichtsgremien, also in den Rundfunkräten im Bereich des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und in den Versammlungen der Landesmedienanstalten für den privaten Rundfunk, in denen jeweils die wichtigsten gesellschaftlich relevanten Gruppen vertreten sein sollen. Während den Verbänden der Sorben nach § 14 I Nr. 20 des RBB-Staatsvertrags ein Sitz im Rundfunkrat zusteht, fehlt eine Entsendungsbefugnis zugunsten der Dänen und Friesen für den Rundfunkrat des NDR. Die Sinti und Roma sind in gar keinem Rundfunkrat vertreten, dem Verband Deutscher Sinti
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kommt indes ein Sitz in der Versammlung der rheinland-pfälzischen Landeszentrale für Medien und Kommunikation zu (§ 40 I Nr. 25 LMG RhPf ).
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Literatur
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60 Rechtsprobleme von Migrantenkindern in der Schule Christine Langenfeld und Roman Lehner
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1 Ausgangspunkt Rechtsprobleme von Migrantenkindern, also von Kindern mit „Migrationshintergrund“, können vor allem Schulpflicht, Schulzugang, die Ausübung religiöser und sprachlicher Rechte in der Schule, das Privatschulwesen sowie die Anerkennung im Ausland erworbener Schulabschlüsse betreffen. Obgleich diese Fragen im Grunde für alle Schüler/innen gleich welcher Herkunft von Bedeutung sind, ergeben sich zum Teil besondere Problemlagen in Hinblick auf den Schutz vor Ausgrenzung, auf von der Mehrheitsgesellschaft abweichende religiöse Bedürfnisse oder auf sprachliche Barrieren.
2 Schulpflicht und -zugang 2.1 Schulpflicht Die Schulgesetze stellen in der Regel vor allem auf den Wohnsitz ab (z.B. § 63 I 1 NdsSchulG). Dies betrifft alle Kinder, die über einen Aufenthaltstitel verfügen. Dabei wird die Schulpflicht meist auch auf jene erstreckt, denen der Aufenthalt infolge der Stellung eines Asylantrags nach § 55 I 1 AsylVfG gestattet ist (z.B. Art. 35 I 2 Nr. 1 BayEUG, § 41 II Var. 1 SchulG Bln), die aufenthaltsrechtlich geduldet sind (z.B. Art. 35 I 2 Nr. 3 BayEUG, § 41 II Var. 2 SchulG Bln), mitunter sogar auf jene, die vollziehbar ausreisepflichtig sind (Art. 35 I 2 Nr. 4 BayEUG) und abgeschoben werden können, oder die über einen (vorübergehenden) humanitären Aufenthaltstitel verfügen (Art. 35 I 2 Nr. 2 BayEUG). Zum Teil beginnt die Schulpflicht für Asylbewerber/ innen erst, wenn die nach dem AsylVfG vorgesehene – längstens sechs Monate währende – Pflicht (§ 47 I 1 AsylVfG), in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, nicht mehr besteht (z.B. §§ 34 VI 1 SchulG NRW; 56 II 1 SchulG Rh.-Pf.). All dies betrifft die Pflicht zum Schulbesuch und nicht das Recht auf Beschulung, welches die Länder frühestmöglich und ohne Rücksicht auf den aufenthaltsrechtlichen Status zu erfüllen haben. Daher ist es zu begrüßen, dass einige Regelungen Schulpflicht und Schulbesuchsrecht parallelisieren und von dem jeweiligen Aufenthaltsstatus lösen (z.B. § 37 I 1 HmbSG iVmd RL der Behörde für Schule und Berufsbildung für den Umgang mit Schulpflichtverletzungen v. 23.4.2013 – V 3/184-15.01/03, MBlSchul HA 2013, 28, A, Ziff 1). Zum Teil besteht für Asylbewerberkinder eine Zugangsberechtigung schon vor Schulpflichtbeginn (Ziff 3.4 d. Bestimmungen zur Eingliederung und zum Schulbesuch von Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache in Schulen Mecklenburg-Vorpommerns v. 1.8.2011, Mittl.bl. BM M-V 417). In Sachsen-Anhalt waren diese Kinder von der Schulpflicht ausgenommen und auf Antrag schulzugangsberechtigt (Ziff 2.1/2.2. d. RdErl. d. MK vom 26.7.2001 – 32.3-8313, SVBl. LSA S. 250). Dies wurde inzwischen geändert, d.h. auch hier besteht nun eine Schulpflicht ab Zuweisung zu einer Kommune (Ziff. 2.1 des RdErl. zur Aufnahme von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund an allgemeinbildenden und berufsbildenden
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Rechtsprobleme von Migrantenkindern in der Schule
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Schulen des Landes Sachsen-Anhalt vom 1.8.2012, SVBl. LSA 2012, S. 226). In Thüringen und Bayern beginnt die Schulpflicht generell erst drei Monate nach Zuzug aus dem Ausland (§ 17 I 2 HS 2 ThürSchulG, Art. 35 I 2 letzter Hs. BayEUG), in Baden-Württemberg nach sechs Monaten (§ 72 I 3 letzter HS SchulG BaWü). Aus verfassungsrechtlicher Sicht greift die Schulpflicht in das Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6 I 1 GG) ein und ist daher rechtfertigungsbedürftig (Langenfeld 2010, S. 94f ). Widersprechen die schulischen Erziehungsinhalte religiösen Überzeugungen der Eltern, liegt zudem ein Eingriff in die Glaubensfreiheit (Art. 4 I, II GG) vor, welche das religiöse Erziehungsrecht umfasst, also das Recht, den eigenen Kindern seine „Glaubensüberzeugungen zu vermitteln und sie von für falsch oder schädlich gehaltenen Glaubensüberzeugungen fern zu halten“ (BVerfG (K), Beschl. v. 29.4.2003, 1 BvR 436/03, Rn 6 – Heimunterricht). Daneben besteht das „Recht der Kinder, entsprechend erzogen zu werden“ (BVerfG, ebd.). Relevant kann dies im Zusammenhang mit Schüler/innen muslimischen Glaubens sein, die zugleich über einen Migrationshintergrund verfügen, aber nicht nur. Gerade das sog. „Homeschooling“ wird von christlich-evangelikalen Eltern praktiziert. Das BVerfG hat die mit der Schulpflicht einhergehende grundrechtliche Belastung mit dem staatlichen Erziehungsauftrag (Art. 7 I GG) gerechtfertigt und betont, dass dieser auch die „Vermittlung sozialer und staatsbürgerlicher Kompetenz“ umfasse und der Gesetzgeber annehmen dürfe, dass dies durch Heimunterricht nicht hinreichend abgesichert sei (BVerfG, ebd., Rn 7). Es besteht ein allgemeines, legitimes Interesse, „der Entstehung von […] ‚Parallelgesellschaften‘ entgegenzuwirken und Minderheiten […] zu integrieren.“ (BVerfG, ebd., Rn 8). Die Konfrontation mit „Auffassungen und Wertvorstellungen einer zunehmend säkular geprägten pluralistischen Gesellschaft“ ist somit grundsätzlich zumutbar (BVerfG, ebd., Rn 9). Wie das BVerfG unlängst entschieden hat, kann die Pflicht der Eltern, ihre Kinder am Unterricht teilnehmen zu lassen, vom Schulgesetzgeber strafbewehrt werden (BVerfG (K), Beschl. v. 15.10.2014, 2 BvR 920/14, Rn 22ff). Religiöse Motive können ausnahmsweise eine Unterrichtsbefreiung begründen, was sich aus der Glaubensfreiheit (Art. 4 I, II GG) ableiten lässt (Langenfeld 2001, S. 420ff). Ein relevantes Beispiel sind Befreiungen an hohen religiösen Feiertagen. In der Verwaltungspraxis der Länder werden diese in der Regel gewährt. Zum Teil finden sich explizite gesetzliche Grundlagen, allerdings meist in Hinblick auf die kirchlichen Feiertage, soweit diese nicht im jeweiligen Land ohnehin gesetzliche Feiertage darstellen. So besteht in Niedersachsen nach § 11 S. 1 iVm § 7 I NFeiertagsG ein Befreiungsanspruch zu Fronleichnam etc. Für muslimische Feiertage relevant sind ministerielle Runderlässe. Der RdErl. d. Nds. MK v. 1.11.2012 (33-82013, SVBl. S. 597) regelt unter Ziff 2.1, dass Schüler/innen hier auf Antrag Gelegenheit zu geben ist, an einer religiösen Veranstaltung teilzunehmen. Für das Schuljahr 2014/15 legt die Bekanntmachung d. Nds. MK vom 13.2.2014 (36.1-82013, SVBl. 4/2014 S.161) hierfür die Termine des Opferfests, des 1. Ramadans und des Fastenbrechenfests fest. Vergleichbare Bestimmungen finden sich in allen Ländern, wobei regelmäßig auf Gesetzes- oder Verordnungsebene eine allgemeine Regelung besteht, die durch Verwaltungsvorschriften oder Runderlässe vor allem für muslimische Feiertage konkretisiert werden (z.B. in Berlin: § 46 V 1 SchulG iVm Ziff I.2.d Ausführungsvorschriften „Schulbesuchspflicht“
v. 19.11.2014, ABl. S. 2235). Eine gesetzliche Regelung für Muslime findet sich neuerdings in § 3 a des Hamburger Feiertagsgesetzes, wo für Schüler/innen islamischen (I) und alevitischen Glaubens (II) für bestimmte hohe Feiertage Befreiungsansprüche normiert werden. Das bremische Recht enthält in § 10 iVm § 8 BRE FTG Befreiungsansprüche für christliche und jüdische Feiertage. In Art. 10 I des „Vertrages zwischen der Freien Hansestadt Bremen und den Islamischen Religionsgemeinschaften im Lande Bremen“ werden die §§ 8-10 BRE FTG dahingehend konkretisiert, dass das Opferfest, das Ramadanfest und
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Aschura als Feiertage gelten. Auch die hamburgische Regelung ist im Zusammenhang mit einem „Staatsvertrag“, dem „Vertrag zwischen der Freien und Hansestadt Hamburg, dem DiTiBLandesverband Hamburg, SCHURA – Rat der Islamischen Gemeinschaften in Hamburg und dem Verband der Islamischen Kulturzentren“, zu sehen. Rechtlich handelt es sich allerdings nicht um Staatsverträge, da die islamischen Institutionen nicht über einen öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus verfügen. Solche Übereinkünfte können als politisch-symbolische Handlungen Relevanz entfalten und darüber zu einer gesetzlichen Maßnahme führen. So sieht Art. 3 des hamburgischen Vertrags vor, dass bestimmte islamische Feiertage als „kirchliche Feiertage im Sinne des Hamburger Feiertagsgesetzes mit den Rechten aus § 3 des Feiertagsgesetzes für islamische Religionsangehörige“ gelten. Diese (Opferfest, Ramadanfest, Aschura) sind in § 3 a hbg. FeiertagsG den „kirchlichen Feiertagen staatlich anerkannter Religionsgemeinschaften“ gleichgestellt worden. Religiös begründete Befreiungsbegehren schlagen meist nicht durch (Heinig 2014, S. 333). Die Anforderungen an das Vorliegen eines „wichtigen Grundes“, aus dem eine Einzelbefreiung gewährt werden kann (z.B. § 43 III 1 SchulG NRW), sind hoch. Dies wird deutlich an der Burkini-Entscheidung des BVerwG. Nur im Fall einer „besonders gravierende[n] Intensität der Beeinträchtigung der Glaubensfreiheit“ und dann auch nur, wenn im Wege einer „weitergehenden Abwägung“ die Unterrichtsteilnahme nicht mehr zumutbar ist, können Schüler/innen mit ihrem Begehren durchdringen (BVerwG, Urt. v. 11.9.2013, 6 C 25.12, Rn 21). Das BVerwG hat die „Integrationsfunktion“ der Schule hervorgehoben und klargestellt, dass gewisse Belastungen der Glaubensfreiheit eine „von der Verfassung von vornherein einberechnete Begleiterscheinung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags“ darstellen (Ebd., Rn 13, 17). Deshalb darf die Befreiung nicht als „routinemäßige Option der Konfliktlösung“ dienen (Ebd., Rn 17). Das Tragen eines Burkini (Ganzkörperbadeanzug) ist einer muslimischen Schülerin, die eine Verhüllung ihres Körpers als Glaubensgebot erachtet, daher zuzumuten. Der Anblick von Jungen in Badebekleidung ist hinzunehmen, weil derartige Anblicke zur sozialen Wirklichkeit gehören, deren Ausblendung dem integrativen Bildungsauftrag widerspräche (Ebd. Rn 30). Noch 1993 hatte das BVerwG einer muslimischen Schülerin einen „Anspruch auf Befreiung vom Sportunterricht, solange dieser nicht nach Geschlechtern getrennt angeboten wird“, zugesprochen (BVerwG, Urt. v. 25.8.1993, 6 C 8/91, Leitsatz). Insofern kann man eine stärkere Betonung des staatlichen Erziehungsauftrags konstatieren. Eine restriktive Sicht kommt auch in der KrabatEntscheidung zum Ausdruck, in welcher eine Verpflichtung der Schule zur Gewährung einer Unterrichtsbefreiung für einen der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas angehörigen Schüler für eine Filmvorführung verneint wurde (BVerwG, Urt. v. 11.9.2013, 6 C 12/12). Indes verweist das Urteil darauf, dass es den Schulen selbstverständlich nicht verboten ist, „unter Orientierung rein an Maßgaben praktischer Klugheit in bestimmten weiteren Fällen Befreiungen auszusprechen.“ (Ebd., Rn 36). 2.2 Schulzugang Daneben ist das Recht auf Beschulung und damit auf Zugang zur Schule von elementarer Bedeutung. Art. 2 S. 1 des (Ersten) ZP zur EMRK verbürgt ein umfassendes Recht auf Bildung. Die Idee eines solchen Rechts ist eng mit der Anerkennung der staatlichen Verantwortung für das Schulwesen verknüpft (Langenfeld 2013, Rn 2). Das Grundgesetz kennt, im Gegensatz zu einigen Landesverfassungen (z.B. Art. 8 I 1 Verf NRW), kein Grundrecht auf Bildung, was mit der generellen Zurückhaltung bei sozialen Grundrechten zusammenhängt (Langenfeld 2013, Rn 3). Individuelle Bildungsrechte haben auf völkerrechtlicher Ebene weitgehende Anerken-
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Rechtsprobleme von Migrantenkindern in der Schule
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nung gefunden; zu nennen sind Art. 13 IPwksR sowie Art. 28 I der Kinderrechtskonvention. Auch die Grundrechtecharta der EU normiert in Art. 14 ein solches Recht. Die Schulpflicht verstößt nicht gegen das (negative) Recht auf Bildung aus Art. 2 S. 1 ZP, sondern liegt im Ermessen der Staaten (Langenfeld 2013, Rn 19). In Art. 13 IPwksR und Art. 28 I der Kinderrechtskonvention wird die Grundschulpflicht, welche die Staaten gewährleisten müssen, gar als Instrument zur „Verwirklichung“ dieses Rechts anerkannt (Cremer 2009, S. 6; ausf. Beiter 2006, S. 475ff). Die Verbürgungen verpflichten die Staaten im Übrigen zur Unentgeltlichkeit des Grundschulbesuchs. Insofern kann man von einem „Kernanspruch auf Grundschulunterricht“ sprechen (Kälin & Künzli 2008, S. 459). Relevant kann das Verhältnis von Bildungsrechten und dem Aufenthaltsrecht sein. Es gilt, dass sich aus dem Recht auf Bildung nach Art. 2 S. 1 ZP kein Aufenthaltsrecht ableiten lässt, und umgekehrt, dass, wenn Kinder sich irregulär in Deutschland aufhalten, ein Schulzugangsrecht aus dem Recht auf chancengleiche Bildung folgt (Martínez Soria 2005, S. 89f; Krieger 2007, S. 169ff; insbesondere zur Kinderrechtskonvention Cremer 2009, S. 7f ), wiewohl die Behörden entweder eine Legalisierung oder eine Beendigung des Aufenthalts anstreben sollten (Langenfeld 2013, Rn 25). Nachdem Streit darüber bestand, ob Schulen als öffentliche Stellen bei Kenntnis von der Illegalität zur Meldung an die Ausländerbehörde verpflichtet waren, hat der Gesetzgeber inzwischen Schulen von dieser Pflicht (vgl. § 87 AufenthG) explizit ausgenommen (Langenfeld 2013, Rn 25; vgl. auch Cremer 2009, S. 10f ).
3 Diskriminierungs- und Segregationsverbote Sowohl dem Grundgesetz als auch dem Völkerrecht lässt sich ein Segregationsverbot entnehmen. Verfassungsrechtlich folgt dies aus dem Diskriminierungsverbot (Art. 3 III 1 GG), welches u.a. vor Ungleichbehandlungen wegen der „Rasse“ oder Sprache schützt. Daneben bestehen Verbote in Art. 3 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung, Art. 2 der Kinderrechtskonvention, Art. 2 II IPwksR sowie Art. 3 lit. e des Übereinkommens gegen die Diskriminierung im Unterrichtswesen (zu alledem Langenfeld 2013, Rn 28, Fn. 133; dies. 2001, S. 428ff, 433ff). Für türkische Kinder greift Art. 9 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei, wonach sie „unter Zugrundelegung derselben Qualifikationen wie die Kinder von Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates zum allgemeinen Schulunterricht, zur Lehrlingsausbildung und zur beruflichen Bildung“ zuzulassen sind (vgl. Langenfeld 2001, S. 231f ). Ein Diskriminierungsverbot in Bezug auf den Grundschulbesuch von Flüchtlingen ist in Art. 22 GFK enthalten. Auch Art. 2 S. 1 ZP ist in Verbindung mit dem akzessorischen Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK), wonach der Genuss aller Konventionsrechte ohne Diskriminierung zu gewährleisten ist, einschlägig. In Bezug auf die Staatsangehörigkeit greifen Art. 18 AEUV und Art. 3 I GG. Art. 2 S. 1 ZP umfasst „das Recht [...], von den vorhandenen Bildungseinrichtungen bei Vorliegen der Zulassungsvoraussetzungen Gebrauch zu machen“ (Langenfeld 2013, Rn 13), mithin einen „Anspruch auf freien und gleichen Zugang zu vorhandenen Bildungsinstitutionen“ (Kälin & Künzli 2008, S. 461). Probleme können aber in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot aus Art. 14 EMRK – wonach u.a. Unterscheidungen wegen der „Rasse“, der Sprache, der nationalen Herkunft oder der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit verboten sind – entstehen, wenn gerade die Zulassungsvoraussetzungen in ihrer konkreten Anwendung dazu führen, dass Angehörige einer ethnischen Gruppe diese übermäßig häufig nicht erfüllen. In der Ostrava-Entscheidung hat der EGMR eine mittelbare Diskriminierung von Roma-Kindern angenommen, da infolge der Durchführung von „Tests zur Feststellung der intellektuellen Kapa-
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zität“ in der tschechischen Stadt Ostrava weit überdurchschnittlich viele Kinder aus Roma-Familien nicht zur Regelschule zugelassen, sondern auf Sonderschulen verwiesen wurden (EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Bsw. 57325/00 – D.H. u.a. gegen Tschechien). Obgleich hier keine Unterscheidung vorgenommen wurde – denn es wurden alle Kinder gleichermaßen den umstrittenen Tests unterzogen –, stellte der EGMR das Vorliegen einer „unterschiedliche[n] Behandlung [...] in Form von unverhältnismäßig nachteiligen Auswirkungen einer allgemeinen Politik oder Maßnahme“ und somit eine Diskriminierung fest (Ebd., Ziff 2). Es handele sich um eine mittelbare Diskriminierung, die „[k]eine diskriminatorische Absicht voraussetzt.“ (ebd.). Verfassungsrechtlich würde man (zumindest nach herrschender Meinung) nicht von einer Diskriminierung, auch nicht von einer mittelbaren, ausgehen, da Art. 3 III 1 GG nur Ungleichbehandlungen verbietet und eine „Diskriminierung durch Gleichbehandlung“ (Rieder 2003, S. 212) nicht umfasst ist. Der EGMR sah die Diskriminierung darin, dass bei der Überprüfung der Schulfähigkeit keine „Lösung für Schüler mit besonderen Bedürfnissen“ gefunden worden sei (EGMR, a.a.O., Ziff 2.b.). Im Schrifttum ist dies kritisch rezipiert worden (z.B. Heyden & von UngernSternberg 2009, S. 82ff). In der Tat ist vor einer Überdehnung des Diskriminierungsbegriffs zu warnen und für eine Verortung des Problems im Recht auf Bildung und im Sozialstaatsprinzip zu plädieren; in beiden Bereichen kommt dem Staat ein weitgehender Beurteilungsspielraum zu (Langenfeld 2013, Rn 37). Abzuwarten bleibt, ob die Sicht des EGMR Auswirkungen auf Deutschland haben wird, wo der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund auf Sonderschulen überproportional hoch ist; genauso könnten die Regelungen zu den Lehrerempfehlungen zum Besuch weiterführender Schulen auf den Prüfstand geraten (Langenfeld 2013, Rn 37). Die Festlegung des Deutschen als Unterrichtssprache ist keine Diskriminierung. Der EGMR entschied im Belgischen Sprachenfall, dass für Kinder, die im flämischen Sprachgebiet zu französischen Minderheit zählen, kein Anspruch auf Unterrichtung in französischer Sprache besteht (EGMR, Urt. v. 23.7.1968, Bsw. 1474/62). Aus dem „sprachliche[n] Territorialitätsprinzip“ folgt, dass, wenn sogar angestammte Minderheiten an die Unterrichtssprache gebunden sind, dies erst recht für Migrant/innen gelten muss (Langenfeld 2013, Rn 26). Es darf grundsätzlich Sprachanpassung verlangt werden (Kirchhof 2004, Rn 121f ). Zudem hat die Unterrichtssprache integrative Funktion (Kirchhof 2004, Rn 95). Vieles spricht dafür, bei mangelnden Sprachkenntnissen aus dem Recht auf Bildung einen „Anspruch auf Unterweisung in der Landessprache zu folgern“ (Langenfeld 2013, Rn 26). Ohne Förderung der Sprachfähigkeit wäre die in der Schulpflicht liegende Grundrechtsbeeinträchtigung, unter Umständen auch für die deutschsprachigen Mitschüler/innen, nicht mehr zu rechtfertigen (Langenfeld 2013, Rn 27; dies. 2001, S. 443f ). In der Praxis bestehen Regelungen zur Sprachstandsfeststellung, die, bei Besuch einer Kindertageseinrichtung, begleitend durch diese selbst (in der Regel anhand von Sprachtagebüchern) oder ein Jahr vor Beginn der Schulpflicht durch die Schulämter (anhand von Tests) durchgeführt werden (z.B. § 55 I SchulG Bln). Werden Defizite festgestellt, können die Kinder zu vorschulischer Sprachförderung verpflichtet werden (§ 55 II SchulG Bln). Darüber hinaus ist Förderung in den ersten Schuljahren wegen des in der Schulpflicht liegenden Grundrechtseingriffs verfassungsrechtlich geboten (wenn die Sprachfähigkeit nicht hinreicht, um dem Unterricht zu folgen). Fraglich ist, ob dies in segregierender Form erfolgen darf, also in Hinblick auf eine Trennung nach letztlich sprachlich-ethnischen Kriterien. Dies wird man für eine Übergangszeit hinnehmen können, solange das Ziel der Übergang in eine Regelklasse ist. In der Orsus-Entscheidung hat der EGMR festgestellt, dass eine zeitweise Unterrichtung in separaten Klassen zur Verbesserung der Sprachkenntnisse zulässig sein kann (EGMR, Urt. v. 16.3.2010, Bsw. 15766/03). In dem Fall wurden in zwei kroatischen Grundschulen reine Roma-Klassen eingerichtet. Der EGMR bemängelte das Fehlen eines auf das Ziel der späteren Eingliederung
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in die Regelklassen gerichteten pädagogischen Konzepts – u.a. wurden keine Sprachtests durchgeführt und kaum Kurse zum Erlernen der kroatischen Sprache angeboten (Ebd., Rn 156ff) –, betonte aber, dass unter gewissen Voraussetzungen eine gesonderte Beschulung gerade der Erfüllung der Bildungsansprüche dienen kann, sofern auf die besonderen Bedürfnisse der Kinder eingegangen wird (ebd., Rn 157). Dies spielt heute eine große Rolle bei den sog. Sprachlernklassen, die auf Landesebene eingerichtet worden sind und auf einen frühestmöglichen Übergang in das Regelsystem zielen. Jede dauerhafte und „systematische Segregation“ muss aber unterbleiben (Langenfeld 2013, Rn 28). Anspruch auf muttersprachliche Beschulung besteht für Kinder mit Migrationshintergrund wohl nicht, zumal es keine klaren Hinweise darauf gibt, dass dies den Zweitspracherwerb (also den der deutschen Sprache) signifikant erleichtere (hierzu Langenfeld 2001, S. 457ff, 471ff). Derartige Hinweise konnten bislang nicht erhärtet werden. Die Förderung des Erwerbs der Zweitsprache Deutsch kann daher nicht als verfassungsrechtlicher Grund für einen Anspruch auf muttersprachlichen Unterricht herangezogen werden. Überdies dürfte oft fraglich sein, welches die Muttersprache von in Deutschland geborenen Kindern ausländischer Eltern (möglicherweise ihrerseits unterschiedlicher Herkunft) überhaupt ist. Letztlich stößt die Sprachenfreiheit, also das Recht auf selbstbestimmten Gebrauch der Muttersprache, auch an die Grenzen des legitimen öffentlichen Interesses an gesellschaftlicher Sprachhomogenität (Kirchhof 2004, Rn 114f, 118). In der Praxis können und sollten freilich Angebote für muttersprachlichen Unterricht vorgesehen, unter Umständen sogar muttersprachliche Prüfungsfächer angeboten werden. Allerdings steht all dies unter einem Ressourcenvorbehalt. Die Angebote dürfen auch nicht auf Kosten des Erlernens des Deutschen sowie des Englischen als der global maßgeblichen lingua franca erfolgen.
4 Religiöse Rechte in der Schule 4.1 Religionsausübung Das gemeinsame Schulgebet ist zulässig, wenn die Teilnahme freiwillig erfolgt (BVerfG, Beschl. v. 16.10.1979, 1 BvR 647/70 u. 7/74). Umgekehrt darf das Beten einzelner Schüler/innen durch die Schulleitung untersagt werden, um konkrete Gefahren für den Schulfrieden abzuwenden (BVerwG, Urt. v. 30.11.2011, 6 C 20/10, Rn 41ff). Richtigerweise wird man dies in Hinblick auf die Religionsfreiheit nur als ultima ratio begründen können (Heinig 2014, S. 336: „Argumentationsfiguren des Notstandsrechts“). Umgekehrt muss Überforderungen der Schule als Institution, gerade in Hinblick auf die Integrationsaufgabe, vorgebeugt werden können (Langenfeld 2010, S. 96). Ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen bedarf in jedem Fall einer gesetzlichen Grundlage, die im Fall der vom BVerfG zu beurteilenden Entscheidung des Oberschulamts Stuttgart, einer Lehrerin wegen der Weigerung, das Kopftuch im Unterricht abzunehmen, die Einstellung in den Schuldienst zu verweigern, noch fehlte (BVerfG, Urt. v. 24.9.2003, 2 BvR 1436/02). Soweit das Tragen religiöser Symbole für Lehrer/innen gesetzlich untersagt wird, lässt sich dies nicht pauschal mit Verweis auf die staatliche Neutralität begründen. Das BVerfG hat kürzlich den Verfassungsbeschwerden zweier Pädagoginnen stattgegeben, die sich durch das Verbot aus § 57 IV SchulG NRW in ihrer Religionsfreiheit verletzt sahen (Beschl. v. 27.1.2015, 1 BvR 471/10 u. 1 BvR 1181/10). Das BVerfG erachtete die Regelung insoweit für verfassungswidrig, als sie zum einen das „äußere Erscheinungsbild schon wegen der bloß abstrakten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität“ in bestimmter Weise reglementierte und dies zum zweiten nicht „grundsätzlich unterschiedslos“ geschah (Leitsätze 2 und 4). Sofern ein Verbot noch verhältnismäßig wäre (bei
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nachweisbaren konkreten Störungen durch die Schulleitung im Einzelfall, Leitsatz 2, bzw. gesetzgeberisch vorbeugend z.B. in besonders konfliktreichen Bezirken, Leitsatz 3) müsste es also auch für christliche Symbole gelten. Die für nichtig erklärte Vorschrift des § 57 IV 3 SchulG NRW, in der dies mit Blick auf die „Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen“ relativiert wurde, konnte vor Art. 3 III 1 GG keinen Bestand haben (ebd., Rn 123ff), das Gleiche muss dann auch für Art. 59 II BayEUG gelten. Die bayerische Bestimmung war noch vom Bayerischen Verfassungsgerichtshof (Entsch. v. 15.1.2007, Vf. 11VII-05), allerdings mit sehr fragwürdiger Argumentation, für mit der Verfassung des Freistaats Bayern vereinbar befunden worden. In jedem Fall unverhältnismäßig wäre eine Regelung, die Schülerinnen das Tragen eines Kopftuches verböte.
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4.2 Islamischer Religionsunterricht Bei der Einführung islamischen Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach stellt sich das rechtliche Problem, dass Art. 7 III GG eine „notwendige Kooperation“ (Germann 2004, Rn 57) zwischen dem (neutralen) Staat und einer Religionsgemeinschaft vorsieht, um die Bekenntnisorientierung des Unterrichts sicherzustellen. Zwar wird nicht der öffentlich-rechtliche Körperschaftsstatus verlangt, es bedarf gleichwohl eines einheitlichen Ansprechpartners (Langenfeld 2010, S. 96f; dies. 2005, S. 17, 19ff), was bis heute das „Hauptproblem“ islamischen Religionsunterrichts darstellt (Heinig 2014, S. 344). In Nordrhein-Westfalen (§ 132 a IV ff SchulG NRW) und in Niedersachsen versucht man die Pluralität der muslimischen Gemeinschaft mit dem Beiratsmodell aufzufangen, was allenfalls in der Einführungsphase verfassungsrechtlich akzeptabel erscheint. In Hessen hat man mit dem DİTİB Landesverband Hessen e.V. und mit Ahmadiyya Muslim Jamaat in der Bundesrepublik Deutschland e.V. zwei Partner ausgemacht und bietet seit dem Schuljahr 2013/14 bekenntnisorientierten Unterricht an (Hess. KM, https://kultusministerium.hessen.de/schule/weitere-themen/bekenntnisorientierter-islamischer-religionsunterricht). Art. 6 des hamburgischen „Staatsvertrags“ (s. unter 2.1) sieht die Einführung eines gemischt-konfessionellen Unterrichts im Rahmen einer „Weiterentwicklung“ von Art. 7 III GG und unter Schaffung einer gemeinsamen „Verantwortungsstruktur“ vor. Dergleichen ist mit der in Art. 7 III GG vorausgesetzten Konfessionsorientierung nicht vereinbar (Langenfeld 2005, S. 17, 18f, 27f ). Schließlich muss der Unterricht inhaltlich den Vorgaben der freiheitlichen Verfassungsordnung genügen (Langenfeld 2010, S. 97; Heun 2007, S. 339, 352). Nicht unter Art. 7 III GG fiele ein rein islamkundlicher Unterricht, wobei dann jede Bekenntnisorientierung zu unterbleiben hätte (kritisch daher Kreß 2010, S. 14, 15f; zur Lage Heinig 2014, S. 344).
5 Privatschulen Auf Grundlage der Privatschulfreiheit (Art. 7 IV GG), können Schulen errichtet werden, die sich speziell an Kinder aus bestimmten ethnischen, religiösen oder sprachlichen Gruppen richten. Wenn sie als Ersatz für staatliche Schulen dienen sollen, muss gem. Art. 7 IV 2 GG sichergestellt sein, dass sie „in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird.“ Ferner müssen die Lehrinhalte mit den Grundwerten der Verfassung übereinstimmen, wozu auch die Orientierung auf Integration gehört. In Berlin existiert eine staatlich anerkannte islamische Grundschule, die vom „Islam Kolleg Berlin e.V.“ gehalten wird. Ein islamisches Gymnasium gibt es
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in Deutschland derzeit nicht, für den deutschsprachigen Raum singulär steht das Islamische Realgymnasium in Wien. Neben Grund- und Realbeschulung bieten die sog. BIL-Schulen, die sich allerdings nicht als islamische Schulen definieren, auch eine staatlich anerkannte gymnasiale Beschulung an. Deren Trägerverein wird der sog. Gülen-Bewegung zugerechnet.
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6 Anerkennung von Schulabschlüssen aus dem Ausland Große Bedeutung kann die Anerkennung im Ausland erworbener Bildungsabschlüsse entfalten. Die Regelungen hierfür unterfallen der Zuständigkeit der Länder, so dass das schulische Berechtigungswesen in jedem Land anders ausgestaltet werden kann (Avenarius 2000, S. 86). Die Länder haben indes gleichartige Regelungen erlassen, die über die KMK koordiniert werden. Sie bestimmen eine jeweils zuständige Behörde, in der Regel die Kultusministerien, für die Anerkennung ausländischer Abschlüsse und Berechtigungen. Die Überprüfung der Gleichwertigkeit erfolgt auf Grundlage von Verordnungen oder Verwaltungsvorschriften (z.B. §§ 7ff GleichwertigkeitsVO NRW, GV. NRW 2014, S. 407). Während sie in den meisten Ländern positiv festgestellt werden muss (z.B. § 48 S. 2 HmbSG), erweist sich die hessische Regelung als besonders anerkennungsfreundlich: Nach § 80 S. 3 HSchulG darf die Anerkennung nur versagt werden, „wenn die Anforderungen an den Erwerb der Abschlüsse und Berechtigungen offensichtlich ungleichwertig sind“. 1953 wurde durch die KMK die Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen (ZAB) gegründet. Zentrales Instrument ist die Datenbank „Anabin“ mit Informationen über Bildungsinstitutionen und Abschlüsse aus über 180 Staaten, an denen sich die Länder orientieren (zu alledem Glaser 2010, S. 160). Die Bewertungen der ZAB sind nicht verbindlich, werden aber von den Gerichten regelmäßig als sog. antizipierte Sachverständigengutachten eingestuft, denen nur dann nicht zu folgen ist, wenn sie offenkundig fehlerhaft sind (VG Hamburg, Urt. v. 24.2.2010, 15 K 3097/09). Literatur
Avenarius, Hermann (2000): Schulrechtskunde – ein Handbuch für Praxis, Rechtsprechung und Wissenschaft. 7. Aufl. Neuwied: Luchterhand. – Beiter, Klaus Dieter (2006): The Protection of the Right to Education by International Law – Including a Systematic Analysis of Article 13 of the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights. Leiden/Boston: Martinus Nijhoff. – Cremer, Hendrik (2009): Das Recht auf Bildung für Kinder ohne Papiere – Empfehlungen zur Umsetzung (Policy Paper No. 14, Deutsches Institut für Menschenrechte). Berlin. – Glaser, Markus A. (2010): Internationale Verwaltungsbeziehungen. Tübingen: Mohr Siebeck. – Germann, Michael: Kommentierung zu Art. 7 Abs. 3 GG. In: Volker Epping & Christian Hillgruber (Hg.): Beck‘scher Online-Kommentar zum Grundgesetz, Edition 23, München Stand 1.4.2014. – Heinig, Hans Michael (2014): Die Verfassung der Religion – Beiträge zum Religionsverfassungsrecht. Tübingen: Mohr Siebeck. – Heun, Werner (2007): Integration des Islam. In: Hans Michael Heinig & Christian Walter (Hg.): Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?. Tübingen: Mohr Siebeck. S. 339-356. – Heyden, Kira & von Ungern-Sternberg, Antje (2009): Ein Diskriminierungsverbot ist kein Fördergebot – Wider die neue Rechtsprechung des EGMR zu Art. 14 EMRK. In: Europäische Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ) 36. S. 82-89. – Kälin, Walter & Künzli, Jörg (2008): Universeller Menschenrechtsschutz – der Schutz des Individuums auf globaler und regionaler Ebene. 2. Aufl. Basel: Helbing Lichtenhahn. – Kirchhof, Paul (2004): Deutsche Sprache. In: Josef Isensee & Paul Kirchhof: Handbuch des Staatsrechts Band II § 20. Heidelberg: C. F. Müller. – Krieger, Heike (2007): Der grundrechtliche Anspruch von Kindern irregulärer Migranten auf chancengleiche Bildung.
Ein Vergleich zwischen Deutschland und den USA. In: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ). S. 165-170. – Langenfeld, Christine (2001): Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten – Eine Untersuchung am Beispiel des allgemeinbildenden Schulwesens in der Bundesrepublik Deutschland. Tübingen. – Langenfeld, Christine: Die rechtlichen Voraussetzungen für islamischen Religionsunterricht. In: Christine Langenfeld; Volker Lipp & Irene Schneider (Hg.): Islamische Religionsgemeinschaften und islamischer Religionsunterricht: Probleme und Perspektiven; Ergebnisse des Workshops an der Georg-August-Universität Göttingen, 2. Juni 2005. S. 17-36. Göttingen. – Langenfeld, Christine (2010): Religiöse Freiheit – Gefahr oder Hilfe für die Integration?. In: Stiftung Gesellschaft für Rechts-
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politik, Trier/Institut für Rechtspolitik an der Universität Trier (Hg.): Bitburger Gespräche. Jahrbuch 2010/I. S. 83-98, München. – Langenfeld, Christine (2013): Das Recht auf Bildung. In: Oliver Dörr; Rainer Grote & Thilo Marauhn (Hg.): EMRK/GG: Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz. Kap. 23. Band 2, 2. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck. – Martínez Soria, José (2005): Illegalität und Schulbesuch – Der Zugang illegal im Bundesgebiet sich aufhaltender Minderjähriger zur Schule. In: Recht der Jugend und der Bildung (RdJB). S. 82-94. – Rieder, Andreas (2003): Form oder Effekt? Art. 8 Abs. 2 BV und die ungleichen Auswirkungen staatlichen Handelns. Bern: Stämpfli.
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5 Räume und Institutionen interkultureller Bildung und Erziehung
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5.1 Bildungsinstitutionen
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61 Kindertagesbetreuung Peter Cloos
1 Formen und rechtliche Grundlagen Tageseinrichtungen für Kinder und Kindertagespflege sind öffentlich verantwortete Angebote der Kinder- und Jugendhilfe für Kinder und ihre Familien im Krippen-, Kindergarten- und Hortalter mit unterschiedlichen Formen der Altersmischung. Neben den klassischen Einrichtungsformen Krippe, Kindergarten und Hort haben sich in den letzten Jahren neue Einrichtungstypen wie z.B. Familienzentren herausgebildet, die Kindertagesbetreuung u.a. mit Familienbildung und -beratung verbinden. Nachfolgend wird das hier genannte Angebotsspektrum unter dem Begriff der Kindertagesbetreuung gefasst. Die Institutionalisierung von Kindertagesbetreuung speist sich wesentlich aus einem Doppelmotiv: Zum einen war sie als familienbezogene Maßnahme im Sinne von Fürsorge zur Verhinderung von Armut und Verwahrlosung angelegt. Zum anderen spielten kindbezogene, auf Bildung und Erziehung ausgerichtete Motive eine Rolle. Die Kindertagespflege wurde in Deutschland erst ab 1973 durch einen Aufruf der Frauenzeitschrift ‚Brigitte‘ öffentlich zur Kenntnis genommen. Durch die rechtliche Gleichstellung mit Kindertageseinrichtungen hat sich diese von einem eher informellen zu einem stärker regulierten und qualitativ besser abgesicherten Angebot gewandelt. Die Tagesbetreuung von Kindern basiert sowohl auf dem in § 20 (1) des Grundgesetzes (GG) festgeschriebenen Sozialstaatsgebot, wonach Deutschland ein sozialer Staat ist, als auch auf dem in § 6 (1) GG formulierten besonderen Schutz von Ehe, Familie und Kindern durch die staatliche Ordnung. Hier wird das Recht wie auch die Pflicht zur Pflege und Erziehung der Kinder ausdrücklich den Eltern zugewiesen; über die Einhaltung dessen wacht die staatliche Gemeinschaft, so § 6 (2) GG. Diese verfassungsrechtlichen Grundprinzipien werden im SGB VIII hinsichtlich ihrer Ausgestaltung konkretisiert. Kinderbetreuung in Tageseinrichtungen und in der Tagespflege haben nach § 22 SGB VIII den Auftrag, die Erziehung und Bildung in der Familie zu ergänzen und nicht zu ersetzen. Die rechtliche Rahmung der Kindertagesbetreuung wurde 1996 durch die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz und 2013 durch den Rechtsanspruch ab dem vollendeten ersten Lebensjahr erheblich verändert. Mittlerweile hat sich Kindertagesbetreuung insbesondere im Kindergartenalter als Normalangebot in der Biografie von Kindern etabliert, zumal bundesweit 94,1% der Kinder im Kindergartenalter und 29,3% unter drei Jahren Kindertagesbetreuung nutzen (Autorengruppe Bildungsberichter-
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stattung 2014). Mit den gesetzlichen Veränderungen und der Einführung von Bildungsplänen in allen Bundesländern im Bereich Kindertagesbetreuung bleibt zwar der sozialpädagogische Auftrag der sozialen Integration bestehen, das Aufgabenprofil verändert sich jedoch stärker in Richtung eines universellen, für alle Kinder gültigen Bildungsauftrags.
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2 Aufgabenprofil der Kindertagesbetreuung Aktuell umfasst das Aufgabenprofil von Kindertagesbetreuung die individuelle Förderung und Begleitung von Kindern in einer für sie förderlichen Umgebung auf der Basis verlässlicher Beziehungen und systematischer Beobachtung in Richtung der in den Bildungsplänen formulierten Bildungsthemen und pädagogischen Grundsätze. Die Bildungsförderung soll im Sozialraum vernetzt sein und schließt die partnerschaftliche Begleitung von Eltern ein. Dabei soll ein Fokus auf Diversität gelegt werden. Hierüber sollen die Grundlagen für spätere Bildungserfolge gelegt werden. Wenn Kindertagesbetreuung zunehmend als ein universelles Angebot für Kinder und ihre Familien konzipiert wird, dann kann diese grundsätzlich als Ort interkulturellen Miteinanders und interkultureller Bildung (Otayakmaz & Karakaşoğlu 2015; Prengel 2010; Sulzer 2013; Wagner 2008) und auch als Ort der Kompensation herkunftsbedingter Ungleichheiten aufgefasst werden (Betz 2010). 2.1 Institutionelle Ebene Die Daten zur Bildungsbeteiligung an Kindertagesbetreuung zeigen, dass Familien mit Migrationshintergrund das Betreuungsangebot insgesamt etwas seltener als Familien ohne Migrationshintergrund nutzen, die Nutzungsquoten sich bei den Migrationsgruppen erheblich unterscheiden und der Platzausbau zu einer Verringerung der Nutzungsquoten von Familien mit Migrationshintergrund insbesondere im Krippenalter geführt hat. Auch lassen sich aufgrund der Kleinräumigkeit der Einzugsgebiete erhebliche Segregationstendenzen feststellen, sodass z.B. ein großer Anteil an Kindern, deren Eltern nicht hauptsächlich Deutsch sprechen, Einrichtungen besuchen, in denen über die Hälfte der Kinder mit nicht-deutscher Familiensprache betreut werden (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014). Hinzu kommt, dass Professionalisierungsbemühungen in den letzten Jahren kaum das Thema interkultureller Pädagogik aufgegriffen haben (Kuhn 2013) und dies zwar in der frühpädagogischen Ausbildung verankert ist, allerdings in geringem Ausmaß (Haude & Volk 2015). Im Zusammenspiel von politischer Diskussion und pädagogischem Handeln wird der Migrationshintergrund häufig als problematisierende Differenzkategorie entworfen (Stamm 2013). Dies ist möglicherweise auch eine Erklärung dafür, dass für die Kindertagebetreuung insgesamt kaum Kompensationseffekte nachgewiesen werden können (Betz 2010). Neben dieser institutionellen Ebene lässt sich Kindertagesbetreuung entlang des oben beschriebenen Auftrages nach Annedore Prengel (2014) auf der professionellen, didaktischen und der Beziehungsebene als Ort interkultureller Bildung und Erziehung exemplarisch beschreiben. Dabei werden auf der einen Seite die Potentiale des Bildungsortes Kindertagesbetreuung, andererseits aber auch kritische Einwände gegenüber der aktuellen pädagogischen Praxis hervorgehoben. Nicht näher eingegangen wird auf bilinguale Kindertagesbetreuungsangebote. Diese scheinen aufgrund ihres institutionalisierten Sprachmodells, ein möglichst gleichwertiges und ausgeglichenes Angebot in einer Partnersprache und dem Deutschen bereitzustellen, besonders geeignet, um Kindern interkulturelles Lernen zu ermöglichen. Allerdings konzentrieren sich die vorliegenden (fast ausschließlich linguistischen) Untersuchungen auf den Spracherwerb von
Kindertagesbetreuung
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Kindern, die diese Einrichtungen besuchen und geben keine Auskunft über die Umsetzung und Erträge des Modells mit Blick auf interkulturelles Lernen.
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2.2 Professionelle Ebene Innerhalb der Frühpädagogik stehen auf professioneller Ebene die Möglichkeiten der individuellen Förderung von Kindern und insbesondere die sprachliche Bildung im Mittelpunkt der Diskussion. Fast alle Bundesländer haben Verfahren zur Sprachstandfeststellung und Sprachförderprogramme aufgelegt, allerdings berücksichtigen die Verfahren hier nur selten Mehrsprachigkeit (Lengyel 2012). Auch lassen sich bislang keine Effekte der Sprachförderprogramme nachweisen. Test- und Diagnoseverfahren können daneben auch ganz allgemein genutzt werden, herkunftsbezogene Unterschiede abzubauen und individuelle Stärken zu unterstützen. Allerdings kann auch hier eine nicht hinreichende Berücksichtigung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt bei der Konstruktion der Tests zu Normierungen führen, die Ungleichheiten verstärken. Prozessorientierte Beobachtungsverfahren können dafür genutzt werden, im Sinne einer interkulturellen Pädagogik die unterschiedlichen Interessen von Kindern wahrzunehmen und als Ausgangspunkt einer individuellen Förderung zu nehmen. Dennoch werden Dimensionen interkultureller Pädagogik wie bspw. Differenzsensibilität in den Beobachtungsverfahren aktuell kaum berücksichtigt, sodass eher von einer problematischen Nivellierung von Unterschieden auszugehen ist oder eine Überschätzung der kindlichen Potentiale zu einer Verfestigung von soziokulturellen Unterschieden führt (Stamm 2013). 2.3 Didaktische Ebene Auf der didaktischen Ebene finden sich in der Frühpädagogik pädagogische Ansätze, die entweder die Selbstbildungsprozesse von Kindern unterstützen wollen, aus sozialpädagogischer Perspektive auf die Bewältigung heterogener Lebenssituationen setzen, oder Bildung sozialkonstruktivistisch begreifen (Stieve 2013). Während der Selbstbildungsansatz die Selbsttätigkeit des Kindes als unverfügbares, das heißt, nicht direkt erziehbares und zu bildendes Subjekt betont und somit auch Fragen der interkulturellen Bildung weitgehend ausklammert, betrachten sozialpädagogische Ansätze, insbesondere der Situationsansatz, das Kind in seinen Lebenszusammenhängen. Lernen in der Kindertagesbetreuung geschieht somit in sozialen Erfahrungszusammenhängen. Kindern soll entlang der Prinzipien von Partizipation und Solidarität die Möglichkeit gegeben werden, auf die Welt, in der sie leben, Einfluss zu nehmen. In diesem Sinne lässt sich der Situationsansatz sehr gut mit Ansätzen interkultureller Pädagogik verknüpfen. Dies geschieht z.B. im Projekt „Kinderwelten“, das sich für eine vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung einsetzt. Sozialkonstruktivistische Ansätze betonen hingegen die gesellschaftliche Konstruktion des Bildes vom Kind und die an das Kind herangetragenen Normierungen. Demgegenüber stellen sie eine ethisch begründete Frühpädagogik, die auf Komplexität, Vielfalt und Multiperspektivität setzt und daran anknüpfend Respekt und Begegnung als Grundlage zur Verwirklichung einer demokratischen und experimentellen Praxis einfordert (Stieve 2013, S. 62f ). Hieran anknüpfend lässt sich fragen, ob das frühpädagogische Leitbild einer vorbereiteten Umgebung, das die Selbsttätigkeit des Kindes unterstützen soll, in der Kindertagesbetreuung mit den dort geschaffenen Arrangements und bereitgestellten Materialien einen Bildungs- und Begegnungsort im Sinne interkultureller Pädagogik schafft. Projekte wie „Kinderwelten“ machen darauf aufmerksam, dass die Bildungsorte der Kindertagesbetreuung sich eher an westeuropäischen Entwicklungs- und Bindungsvorstellungen orientieren und die Materialien wie Bücher
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und Spiele Vielfalt kaum anerkennen. Sie bringen damit eher spezifische Normierungen von Kindheit hervor, als dass sie diese im Sinne einer experimentell-demokratischen Praxis dekonstruieren.
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2.4 Beziehungsebene Auf der Ebene der Beziehungen wird Kindertagesbetreuung als non-formaler Bildungsort konzipiert, der auf Grundlage verlässlicher Beziehungen die Selbstständigkeit der Kinder und das soziale Miteinander unterstützt, dabei einen besonderen Wert auf die gegenseitige Anerkennung, den Dialog und die Partizipation legt und die Bedeutung der Peers für non-formale Bildungsprozesse betont. Allerdings muss herausgestrichen werden, dass dieser Anspruch einer sensiblen Begleitung durch Erwachsene bedarf, soll die Interaktion in heterogenen Gruppen nicht in gegenseitige Ausgrenzung umschlagen (Prengel 2014). Der familienergänzende Charakter der Kindertagebetreuung fordert zu einer verstärkten Zusammenarbeit mit den Erziehungsberechtigten auf. Das in den Bildungsplänen verankerte Konzept der Erziehungs- und Bildungspartnerschaft, das durch Familienzentren vorangebracht wird und in der Kindertagespflege besonders gute Bedingungen vorfindet, wird dabei als professioneller Standard der Kindertagesbetreuung angesehen. Auch hier lässt sich kritisch anfragen, ob die Praxis der Zusammenarbeit Leitbilder hervorbringt, die andere Vorstellungen guter Elternschaft und Kindheit ausgrenzt (Lengyel & Salem 2016). Prinzipiell ist auch der Anspruch an Kindertageseinrichtungen gestiegen sich im Sozialraum zu vernetzen. Konzepte der Sozialraumorientierung und der Öffnung nach außen unterstützen dies. Allerdings liegen hierzu keine Befunde vor, die jenseits einzelner Projekte aufzeigen können, wie sich eine solche Sozialraumorientierung im Sinne interkultureller Begegnung und Verständigung in der Kindertagesbetreuung realisiert.
3 Ausblick – Potentiale für interkulturelle Bildung Zusammengefasst können die großen Potentiale der Kindertagesbetreuung im Sinne einer interkulturellen Pädagogik hervorgehoben werden. Diese Potentiale liegen in ihrer Konzeption als Orte der Bildung und der sozialen Integration begründet, auch weil sie durch die Betonung des familienergänzenden Charakters die Partizipation von Familien erfordern und in Orientierung an das Sozialstaatsgebot einen Beitrag zum sozialen und sozialgerechten Zusammenleben in der Gesellschaft zu leisten haben. Diese Ansprüche kann Kindertagesbetreuung vor dem Hintergrund der Ausweitung eines universalisierten Bildungs- und Betreuungsanspruchs, der Ausdifferenzierung der Angebotspalette, wie z.B. von bilingualen Modellen, und der zunehmenden Vernetzung im Sozialraum einlösen. Es zeigt sich aber auch, dass Kindertagesbetreuung die vorhandenen Potentiale im Sinne einer interkulturellen Bildung nicht immer nutzt. Hieran haben Professionalisierungsbemühungen anzuknüpfen, die die Potentiale des gesamten Betreuungssystems auf allen Professionalisierungsebenen von der individuellen Professionsentwicklung über Aus- und Weiterbildung, bis zur Leitung, Trägerschaft und Fachberatung in Richtung einer interkulturellen Bildung und Erziehung nutzen. Literatur
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2014): Bildung in Deutschland 2014. Bielefeld: Bertelsmann. – Betz, Tanja (2010): Kompensation ungleicher Startchancen. In: Peter Cloos & Britta Karner (Hg.): Erziehung und Bildung von Kindern als gemeinsames Projekt. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 113-134. – Haude, Christin & Volk, Sabrina (Hg.) (2015): Diversity Education in der Ausbildung frühpädagogischer Fachkräfte. Weinheim: Beltz Juventa. – Kuhn, Melanie (2013): Professionalität im Kindergarten. Wiesbaden: Springer VS.
Schule und Schulmodelle in der Migrationsgesellschaft
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– Lengyel, Drorit (2012): Sprachstandfeststellung bei mehrsprachigen Kindern im Elementarbereich. München: DJI. – Lengyel, Drorit & Salem, Tanja (2016): Zusammenarbeit von Kita und Elternhaus – interkulturelle Perspektiven. In: Bärbel Kracke & Peter Noack (Hg.): Handbuch Entwicklungs- und Erziehungspsychologie. Wiesbaden: Springer VS, S. 1-19, Doi: 10.1007/978-3-642-54061-5_6-1. – Otyakmaz, Berrin Özlem & Karakaşoğlu, Yasemin (Hg.) (2015): Frühe Kindheit in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS. – Prengel, Annedore (2014): Inklusion in der Frühpädagogik. München: DJI. – Stamm, Margrit (2013): Soziale Mobilität durch frühkindliche Bildung? In: Margrit Stamm & Doris Edelmann (Hg.): Handbuch frühkindliche Bildungsforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 681-694. – Stieve, Claus (2013): Anfänge der Bildung. In: Margrit Stamm & Doris Edelmann (Hg.): Handbuch frühkindliche Bildungsforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 52-70. – Sulzer, Annika (2013): Kulturelle Heterogenität in Kitas. München: DJI. – Wagner, Petra (Hg.) (2008): Handbuch Kinderwelten. Freiburg i. Br.: Herder.
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Spätestens seit den internationalen Schulleistungsvergleichen wie IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) und PISA (Programme for International Student Assessment) ist auch in der Öffentlichkeit bekannt, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund geringere Erfolge in der Schule erzielen als Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund. Abzulesen ist dies etwa an ihrer Überrepräsentation an Haupt- und Förderschulen und ihrer geringeren Gymnasialschulbesuchsquote, ihren schwächeren Schulleistungen bzw. Kompetenzen sowie an ihrem geringeren Bildungserfolg im Hinblick auf die erworbenen Schulabschlüsse (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, S. 161ff). Dabei können diese Unterschiede nicht den Schüler/innen selbst oder ihren Eltern angelastet werden. Vielmehr werden Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund systematisch in der deutschen Schule benachteiligt, das zeigt der internationale Vergleich: Den Bildungssystemen anderer – mit Deutschland vergleichbaren – Migrationsgesellschaften gelingt es besser, Chancengleichheit herzustellen. Doch bereits vor den genannten Schulleistungsvergleichsstudien war in Fachkreisen, und hier insbesondere in der interkulturellen Bildungsforschung, die Notwendigkeit erkannt worden, die Bildungssituation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu verbessern. Davon zeugen die vielfältigen Projekte und Schulmodelle seit den 1970er Jahren. Diese waren allerdings, wie die damalige Forschungsperspektive, vorwiegend ausländerpädagogisch, d.h. kompensatorisch angelegt und in der Regel ausschließlich individualisierend auf die Zielgruppe der ausländischen Schüler/innen fokussiert. Insbesondere haben die frühen Arbeiten eher pragmatisch die aus der Praxis heraus formulierten Fragen aufgegriffen mit dem Ziel, kurzfristig greifende Lösungen anzubieten (vgl. Gogolin & Krüger-Potratz 2010, S. 166). Spätestens seit den 1990er Jahren ist die wissenschaftliche Begleitforschung von Schulmodellen und Projekten
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stärker theoriegeleitet angelegt und arbeitet mit einem verbesserten empirischen Instrumentarium. Im Folgenden werden exemplarisch Schulmodelle und -projekte sowie Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Begleitforschung vorgestellt, die den Weg hin zu einer chancengerechten Schule in der Migrationsgesellschaft ebnen sollen. Die Darstellung ist nicht auf Vollständigkeit hin angelegt, sondern es werden jeweils ausgewählte Projektbereiche in den Blick genommen, mit dem Ziel, ein breites Spektrum an Interventionsmaßnahmen vorzustellen. Die oft großen Überschneidungen in den Modellkonzeptionen bleiben durch diese Präsentationsform allerdings unbeleuchtet. Beispiel 1: In Anlehnung an das Konzept der ,Community Education‘ in Großbritannien, wurde in den 1980er Jahren in Gelsenkirchen (NRW) das Projekt „Türkische Kinder und Mütter“ entwickelt, um zielgruppenspezifisch den Übergang von der Familie bzw. dem vorschulischen Bereich in die Grundschule zu begleiten und zu erleichtern. Gefördert von der Freudenberg Stiftung und der Bernard van Leer Stiftung und entwickelt in Zusammenarbeit mit der damaligen ortsansässigen RAA („Regionale Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien“, heute KI „Kommunale Integrationszentren NRW“), wurde das Projekt als Reaktion auf den Mangel an Kindergartenplätzen insgesamt, an nicht konfessionell gebundenen Vorschuleinrichtungen sowie wegen der (auch daraus resultierenden) geringeren Kindergartenbesuchsquote von Kindern türkischer Herkunft ins Leben gerufen. Das Angebot richtete sich an fünfjährige Kinder und ihre Mütter. Für neun Monate wurden vormittags Spielgruppen kombiniert mit Sprachförderung für die Kinder angeboten und nachmittags für ihre Mütter ein Deutschkurs sowie – bei Bedarf – Hilfe bei offiziellen Amtsgängen usw. (vgl. Freudenberg Stiftung 2004, S. 19; Fischer et al. 1996, S. 73). Die Begleitung reichte bis in das erste Schuljahr, bis zu den Herbstferien, hinein und umfasste Maßnahmen wie die Betreuung von Kindern, die nicht den Kindergarten besucht hatten, in sog. Einschulungsgruppen sowie die stundenweise Unterstützung der Lehrkräfte durch die Erzieherin, die den Kindern aus der vorschulischen Phase vertraut war. Hinzu kamen im Rahmen des Projekts Übersetzungshilfen, Möglichkeiten der Buchausleihe, Hausbesuche bei den Familien sowie die Vermittlung bei Konflikten und Problemen (vgl. Fischer et al. 1996, S. 74). Beispiel 2: Deutlich breiter angelegt war der von der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK) 1991-1994 geförderte nordrhein-westfälische Modellversuch „Lernen für Europa“ (LEFEU). Programmträger und -koordinator war das Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (LSW Soest). Ziel des Modellversuchs war es zu erproben, wie Schüler/innen besser auf „eine mehrsprachige und multikulturelle Zukunft“ vorbereitet werden könnten (LSW 1995, S. 5). Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitforschung ist die Durchführung von pädagogischen Maßnahmen in den folgenden vier Bereichen in der Praxis untersucht worden: „Spracherwerb/Fremdsprachliches Lernen (LEFEU I), Spracherhalt/Natürliche Mehrsprachigkeit (LEFEU II), Interkulturelles Lernen (LEFEU III) und ‚Eine Schule bereitet sich auf Europa vor’ (LEFEU IV)“ (ebd.). Innovativ war beispielsweise im Bereich LEFEU II, dass Mehrsprachigkeit in erster Linie nicht als Kenntnis mehrerer Sprachen verstanden wurde. Vielmehr wurde als Lernziel formuliert, dass sich die Kinder und Jugendlichen von der historisch überkommenen, falschen Ineinssetzung von Sprache und Territorium bzw. Volk lösen und lernen sollten, sich in mehrsprachigen Kontexten im Sinne von ‚language awareness‘ zu orientieren (vgl. Bausch et al. 1995, S. 118). Ein Ergebnis des Modellversuchs war der Nachweis, dass Schüler/innen in der Lage sind, Kulturen und Sprachen nicht als starre und voneinander abgrenzbare Gebilde wahrzunehmen und dass sie darüber hinaus Mehrsprachigkeit als Chance bewerten (vgl. ebd.). Insgesamt wurden aus dem Modellversuch sieben Empfehlungen abgelei-
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tet. Mit Blick auf Mehrsprachigkeit wurde die nach wie vor aktuelle Forderung entwickelt, dass mehrsprachige Bildung in alle Unterrichtsfächer und Schulstufen sowie schulformübergreifend in den Lehrplänen und im Schulalltag zu implementieren sei. Zur Umsetzung dessen wurden vielfältige Maßnahmen zur Förderung von Mehrsprachigkeit vorgeschlagen, zum Beispiel sollte ein Expert/innen-Forum zur Entwicklung von methodisch-didaktischen Konzepten eingerichtet werden und mit Blick auf die Professionalisierung von angehenden Lehrkräften sollte Mehrsprachigkeit als obligatorisches Querschnittsthema in der Lehrkräfteausbildung verankert werden (vgl. LSW 1995, 119ff). Beispiel 3: Offen für jede Schule ist das Projekt „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Es hat zum Ziel, allen Arten von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und von Mobbing an Schulen entgegenzuwirken. Das Projekt besteht seit 1995, und bis März 2016 sind 2000 Schulen diesem Netzwerk beigetreten. Die Schulen werden vom Trägerverein „Aktion Courage e. V.“ darin unterstützt, die Selbstverpflichtung, die Voraussetzung der Mitgliedschaft ist, einzuhalten, z.B. durch Vermittlung von Materialien und Expert/innen. Um als Schule teilzunehmen müssen mindestens 70 % der jeweiligen Akteure einer Schule sich per Unterschrift dazu verpflichten, „sich künftig gegen jede Form von Diskriminierung an ihrer Schule aktiv einzusetzen“ (SOR-SMC 2016). Wenn in einer Schule dieses Quorum durch Unterschriftensammlung erreicht und ein Pate oder eine Patin durch die Schülerschaft bestimmt sind, wird der Schule der Titel „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ in einem Festakt verliehen (vgl. ebd., o. S.). Weiterhin muss mindestens ein Projekt pro Jahr durchgeführt werden, das die aktive Bearbeitung der Selbstverpflichtung unterstützt, um diesen Titel weiter führen zu dürfen. Das Projekt misst der Kommunikation unter allen Beteiligten einen hohen Stellenwert bei, daher ist auch die Förderung der Akzeptanz und die Normalisierung von Mehrsprachigkeit an den Schulen ein Ziel (vgl. Kleff 2016, S. 32). Von den Initiator/innen wird selbstkritisch eingeräumt, dass der in der Schule vorherrschende Prüfungs- und Konkurrenzdruck kontraproduktiv für die Förderung inklusiver Werte sei (ebd., S. 11). Die Paradoxie bestehe darin, dass in der Schule demokratiefeindlichen Ideologien und Weltanschauungen sowie jeglicher Diskriminierung entgegengewirkt werden soll, während die Bildungseinrichtung aufgrund ihrer institutionellen Verfasstheit gleichzeitig ‚institutionell diskriminiert’ (vgl. Kleff 2016, S. 1f ). Darüber hinaus wird von Guthmann (2011, S. 32) in seiner Untersuchung des Projektes problematisiert, dass die Interventionen auf den Sozialraum der Schule begrenzt sind. Die von ihm geforderte Öffnung der Schule hin zur Umgebung bzw. zum Stadtteil steht im folgenden Beispiel konzeptionell im Vordergrund. Beispiel 4: Der Aufbau von lokalen Bildungsnetzwerken im Stadtteil ist Ziel des Projektes „Ein Quadratkilometer Bildung“, das 2006 durch die Freudenberg Stiftung und die Karl-Konradund-Ria-Groeben-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft sowie dem Bezirk Neukölln gegründet wurde (vgl. Lock 2016, S. 1). Zehn Jahre später ist das Projekt auf insgesamt zehn Standorte in der Bundesrepublik mit je unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen ausgeweitet worden. Trägerin ist die „Campus Bildung im Quadrat GmbH“. Die bis 2016 gebildeten Netzwerke sind in Berlin-Moabit, Berlin-Neukölln, Bernsdorf, Dortmund, Fürstenwalde, Herten, Hoyerswerda, Mannheim, Neubrandenburg und Wuppertal; ihre Akteure arbeiten unter dem Label „Ein Quadratkilometer Bildung“ an der Minimierung von Bildungsungleichheiten. Je nach Standort liegen die Schwerpunkte auf inklusiver Bildung, Sprachbildung, Elternarbeit, Demokratieerziehung usw. In Gestalt eines Kriterienkataloges wird den teilnehmenden Bildungseinrichtungen ein Instrument zur Verfügung gestellt, mit dem sie die spezifischen Schwerpunkte evaluieren sowie bestehende Selek-
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tionsmechanismen in der eigenen Institution überprüfen können. Der Kriterienkatalog dient außerdem dazu Ziele für das jeweils nächste Jahr zu formulieren. Diese Ziele werden nach einem Jahr mit externen Expert/innen überprüft. Letztere nehmen eine beratende, keine belehrende Funktion ein (vgl. Kohorst 2009, S. 199ff). Bei den Vorhaben handelt es sich jeweils um langfristig angelegte Entwicklungsprozesse, daher ist die Unterstützung durch die Stiftungen auf zehn Jahre angesetzt. Dem Projekt wird zum Beispiel am Standort Berlin-Neukölln bescheinigt, wichtige Arbeit zu leisten: Entstanden sei eine sozialräumlich vernetzte Bildungslandschaft, die die Stärken des Stadtteils aufgreife, sich an den bildungsbiografischen Perspektiven der Kinder und Jugendlichen orientiere, auf gemeinsame Verantwortung setze, Förderlücken wahrnehme und schließe, einen Dialog über die pädagogische Qualität mit allen an Bildung interessierten Einrichtungen führe und die vor allem ein hohes Maß an sozialem Vertrauen erzeuge (vgl. Kohorst 2009, S. 194). Beispiel 5: Die durchgängige Sprachbildung in der sogenannten Bildungssprache ist ein zentraler Baustein des BLK-Modellprogramms „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ (FörMig). Auch wenn hier der Fokus auf Sprache als Medium des Lernens und damit als Voraussetzung von Bildungserfolg liegt, wird eine Sichtweise überwunden, bei der Sprachförderung vor allem und fast ausschließlich als Vermittlung grundlegender Deutschkenntnisse und Korrektur formaler Unsicherheiten verstanden worden ist. Im FörMig-Konzept ist vorgesehen, dass Brüche an den bildungsbiographischen Übergängen der Schüler/innen vermieden werden, indem in einer komplexen Kooperationsstruktur schulische und außerschulische Bildungsorte der sprachlichen Sozialisation in Sprachbildungsnetzwerken zusammenarbeiten und ihre Aktivitäten aufeinander abstimmen (vgl. Gogolin et al. 2011). Den verschiedenen Einzelprojekten in den zehn beteiligten Bundesländern ist gemeinsam, dass sie gezielt an den institutionellen Schnittstellen ansetzen: sowohl an den Übergängen in der Schule wie zwischen den Schulformen und -stufen als auch in den Überschneidungsbereichen von verschiedenen beteiligten Institutionen und Sozialisationsinstanzen einschließlich der Familien. Ziel ist die Verstetigung der internen Kooperation regionaler Verbünde, zum Beispiel bestehend aus einer Kindertagesstätte, einer Schule, einem Elternverein und einer örtlichen Bibliothek, die ein gemeinsames und konzeptionell aufeinander abgestimmtes Förderprogramm (weiter)entwickeln. Einen Hintergrund für diese komplexe Kooperationsstruktur bilden Ergebnisse der Spracherwerbsforschung, die aufzeigen, dass für die Aneignung schul- und bildungsrelevanter Sprachfähigkeiten eines Kindes, das in zwei Sprachen lebt, ein längerer Zeitraum anzusetzen ist als die in der Regel vierjährige Grundschulzeit. Daher, aber auch mit Blick auf einsprachig aufwachsende Kinder, ist es wichtig, dass Maßnahmen der sprachlichen Bildung beim Wechsel von einer Bildungsinstitution zur nächsten aufeinander abgestimmt weitergeführt werden. Das Ziel dieser durchgängigen Sprachbildung ist die Förderung schul- und bildungsrelevanter sprachlicher Fähigkeiten im Kontext von Mehrsprachigkeit: zum einen geht es um den Aufbau „bildungssprachlicher Fähigkeiten entlang der Bildungsbiographie“ (bildungsbiographische Dimension), um den „koordinierten systematischen Zugang zu bildungssprachlichem Können und Wissen über die Lernfelder“ bzw. „Gegenstandsbereiche und Fächer des Unterrichts hinweg“ (thematische Dimension) und um die „Berücksichtigung der sprachlichen Bildungsvoraussetzungen, die Mehrsprachigkeit als Lebensbedingung für die Aneignung bildungssprachlicher Fähigkeiten bedeutet, und (...) um die Erschließung von Mehrsprachigkeit als Ressource bei der Aneignung bildungssprachlicher Kompetenz“ (Mehrsprachigkeitsdimension) (FörMig-Kompetenzzentrum 2015). Dies erfordert, dass nicht nur Einzelpersonen und Expert/innen einbezogen sind, sondern möglichst viele der am Bildungsprozess Beteiligten. Insofern wird eine Kooperation und
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Abstimmung der sprachlichen Bildung nicht nur im Nacheinander der Bildungsinstitutionen, sondern auch in ihrem Neben- oder vielmehr Miteinander als notwendig erachtet (vgl. Gogolin 2010). Mit FörMig sind Erkenntnisse und zentrale Elemente früherer Modellversuche und Projekte aufgegriffen und weiter entwickelt worden, neben den hier schon genannten war z.B. auch der 1999 begonnene Züricher Modellversuch „Qualität in multikulturellen Schulen – QUIMS“ von Bedeutung (vgl. Mächler et al. 2000). Mit FörMig ist ein anderer Weg beschritten worden als in der sonst gängigen Schulpraxis der Sprachförderung von mehrsprachigen Schüler/innen, die eher punktuell, additiv und kompensatorisch angelegt ist. Die Evaluationsergebnisse zeigen auf, dass sich additive Sprachfördermaßnahmen als wenig erfolgreich erwiesen haben (vgl. Gogolin et al. 2011, S. 83). Fazit: Von den zahlreichen mehr oder weniger groß angelegten Modellversuchen und -projekten der 1970er bis 1990er Jahre haben nur wenige Wirkungen über die Förderphase hinaus entfalten können; es fehlte an Zeit, Mitteln und Möglichkeiten für den Transfer in die Praxis. Der systematische Ertrag der wissenschaftlichen Begleitungen ist auch eher bescheiden geblieben: Vielfach wurden selbst die entsprechenden Publikationen außerhalb von Fachkreisen kaum verbreitet. In manchen Fällen haben die unmittelbar beteiligten Schulen das erfolgreich erprobte Modell beibehalten, aber von einer Dissemination in die weitere Schullandschaft kann keine Rede sein (vgl. Gogolin & Krüger-Potratz 2006, S. 167). Zu betonen ist, dass dies nicht mit der Qualität der Schulmodelle und -projekte und ihrer pädagogischen Umsetzung zusammenhängt, sondern damit, dass eine nachhaltige Veränderung von Schule der bildungspolitischen Unterstützung nicht nur in finanzieller Hinsicht bedarf, sondern auch deutlich langfristiger als nur eine Legislaturperiode angelegt sein muss. Diese Problematik wurde schon vor rund 20 Jahren aus Sicht der Bildungsforschung thematisiert, so z.B. im Abschlussbericht von „Lernen für Europa“, in dem es heißt, dass angesichts der Zeiträume, die erforderlich sind, um Innovationen in die Alltagspraxis zu integrieren, nicht erwartet werden kann, dass der Impuls des Modellversuches ohne weitere geeignete Stützmaßnahmen dauerhafte Veränderungen in der Schullandschaft insgesamt zur Folge haben werde (vgl. Bausch et al. 1995, S. 120). Bis schulische Modellversuche zu wissenschaftlich abgesicherten Ergebnissen wie im Beispiel von FörMig kommen, sind viele Anstrengungen zu unternehmen, die mit dem Wunsch nach schnellen Lösungen und Patentrezepten nicht in Einklang zu bringen sind. Zeit wird außerdem benötigt, um die Schulmodelle in der Fläche der deutschen Bildungslandschaft umzusetzen, zu adaptieren und letztlich bildungspolitisch abzusichern. Zudem werden Modellversuche und Projekte in ihrer Umsetzung und Nachhaltigkeit durch die trotz verschiedener Veränderungen immer noch hochselektive Struktur des deutschen Bildungssystems begrenzt. D.h. eine Einzelschule kann auf schulorganisatorischer Ebene, der Ebene der Unterrichtsgestaltung oder auch bei der Gestaltung des Schullebens im weiteren Sinne (z.B. Zusammenarbeit mit Eltern) erfolgreich ‚migrationspädagogisch’ arbeiten, dennoch bleibt sie Bestandteil eines Systems, dass sich im internationalen Vergleich durch viele und auch frühe Übergangsentscheidungen auszeichnet. Durch diese Struktur sind negativ verlaufende Bildungskarrieren wahrscheinlicher als in inklusiven Bildungssystemen, in denen Schüler/innen unterschiedlicher Leistungsstärke länger gemeinsam lernen. Diese inklusiven Schulsysteme mit heterogenen Lerngruppen sind hinsichtlich des Bildungserfolgs überlegen und dies nicht nur mit Blick auf Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund. Das deutsche gegliederte Schulsystem begünstigt die „institutionelle Diskriminierung“ (Gomolla & Radtke 2009) von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Mit dem Begriff
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‚institutionelle Diskriminierung’ wird das schlechtere Abschneiden von Schüler/innen mit Migrationshintergrund nicht als absichtsvolle Benachteiligung durch das Lehrpersonal interpretiert, sondern als Folge der Funktionalität der Schule als Organisation, z.B. ihrer Strategien zur Bestandserhaltung, zur Auslastung, zum Erhalt ihres ‚guten’ Rufs etc. Ein konkretes Beispiel hierfür wäre, dass die Schließung einer lokalen Sonderschule wegen rückläufiger Schüler/innenzahlen durch eine Steigerung der Sonderschulaufnahmeverfahren abgewendet wird. Zur Legitimation dieser Entscheidungen werden nachträglich Begründungen herangezogen, z.B. wird die Mehrsprachigkeit der Schüler/innen als Lerndefizit bewertet oder die familiäre Sozialisation und das familiäre Unterstützungspotenzial werden als schulisch nicht adäquat bzw. unzureichend mit Blick etwa auf den Übergang an ein Gymnasium eingeschätzt. Ein erster, zentraler Schritt zum Abbau institutioneller Diskriminierung auf der Ebene der Einzelschule besteht darin, die eigene Vergabepraxis von Schulabschlüssen, Übergangsempfehlungen etc. systematisch entlang der Indikatoren ethnische Herkunft, soziale Schicht und Geschlecht zu erfassen und auf Disparitäten hin zu befragen (ethnic monitoring). Nicht nur die frühe Trennung der Bildungswege im deutschen Schulsystem mindert die Chancen für Schüler/innen mit ungünstigeren Eingangsvoraussetzungen, den Rückstand gegenüber Altersgleichen aufzuholen, die eine bessere Passung an die Erwartungen der monolingualen und mittelschichtsorientierten Schule mitbringen. Auch ein Ganztagsschulsystem dürfte speziell für Kinder mit nicht-deutschen Familiensprachen von großem Vorteil sein, da sich der Zeitraum für den Erwerb des Deutschen in der Schule vergrößert. Literatur
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2016): Bildung in Deutschland 2016. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Online verfügbar unter http://www.bildungsbericht.de/de/ bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2016/pdf-bildungsbericht-2016/bildungsbericht-2016 [30.09.2016]. – Bausch, Karl-Richard; Hansen, Georg; Krüger-Potratz, Marianne & Nieke, Wolfgang (1995): Abschließende Überlegungen und bildungspolitische Empfehlungen der Wissenschaftlichen Begleitung/Beratung zum Modellversuch „Lernen für Europa 1991-1994“. In: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hg.): Lernen für Europa. Abschlußbericht eines Modellversuchs. Soest: Verlag für Schule und Weiterbildung DruckVerlag Kettler GmbH, S. 115-120. – Fischer, Dietlind; Schreiner, Peter; Doyé, Götz & Scheilke, Christoph Th. (1996): Auf dem Weg zur Interkulturellen Schule. Fallstudien zur Situation interkulturellen und interreligiösen Lernens. Münster: Waxmann. – FörMig-Kompetenzzentrum (2015): Konzeption Durchgängige Sprachbildung. Online verfügbar unter https://www.foermig.uni-hamburg.de/bildungssprache/durchgaengige-sprachbildung.html [13.01.2017]. – Freudenberg Stiftung (2004): 20 Jahre Freudenberg Stiftung 1984 – 2004. Online verfügbar unter http://www. freudenbergstiftung.de/files/stiftungsbericht_20jahre.pdf [30.09.2016]. – Gogolin, Ingrid (2010): Interkulturelle Bildungsforschung. In: Rudolf Tippelt & Bernhard Schmidt (Hg.): Handbuch Bildungsforschung, 3. durchges. Aufl. Wiesbaden: Springer VS, S. 297-315. – Gogolin, Ingrid; Dirim, İnci; Klinger, Thorsten; Lange, Imke; Lengyel, Drorit; Michel, Ute; Neumann, Ursula; Reich, Hans H.; Roth, Hans-Joachim & Schwippert, Knut (2011): Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund FörMig. Bilanz und Perspektiven eines Modellprogramms. Münster: Waxmann. – Gogolin, Ingrid & Krüger-Potratz, Marianne (2010): Einführung in die Interkulturelle Pädagogik. Opladen: Barbara Budrich. – Gomolla, Mechtild & Radtke, Frank-Olaf (2009): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule, 3. Aufl. Wiesbaden: Springer VS. – Guthmann, Thomas & Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (Hg.) (2011): Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage. Theoretische Reflexionen über einen zivilgesellschaftlichen Ansatz zur Stärkung demokratischer Kultur an Schulen. Frankfurt a.M. Online verfügbar unter http://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/ document/23846/ssoar-2011-guthmann-schule_ohne_rassismus__schule.pdf?sequence=1 [30.09.2016]. – Kleff, Sanem (2016): Der Präventionsansatz von Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage. Bausteine 1. Berlin: Aktion Courage e. V. – Kohorst, Josef (2009): Ein modernes Laboratorium in Berlin-Neukölln. Der Lokale Bildungsverbund Reuterkiez in Kooperation mit dem Projekt „Ein Quadratkilometer Bildung“. In: Peter Bleckmann & Anja Durdel (Hg.): Lokale Bildungslandschaften. Perspektiven für Ganztagsschulen und Kommunen. Wiesbaden: Springer VS, S. 193-200. – LSW (Hg.) (1995): Landesinstitut für Schule und Weiterbildung, Lernen für Europa. Abschlußbericht eines Modellversuchs. Soest: Verlag für Schule und Weiterbildung DruckVerlag Kettler GmbH.
Bilinguale Schulen
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63 Bilinguale Schulen Joana Duarte und Ursula Neumann Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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– Lock, Silke (2016): Ein Quadratkilometer Bildung Berlin-Neukölln von 2007 bis 2016 und darüber hinaus. Tagung am 21. April 2016 in der Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin. Dokumentation. Online verfügbar unter http:// www.ein-quadratkilometer-bildung.org/file/231/download?token=dzenNfrn [30.09.2016]. – Mächler, Stefan und Autor/innenteam (2000): Schulerfolg: kein Zufall. Ein Ideenbuch zur Schulentwicklung im multikulturellen Umfeld. Zürich: Lehrmittelverlag des Kantons Zürich. – SOR – SMC (Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage) (2016): Start-Info. Online verfügbar unter http://www.schule-ohne-rassismus.org/fileadmin/Benutzerordner/ PDF/Courage_Schulen/mitmachen/Start-Info_05-2016-2.pdf [30.09.2016].
1 Einführung Unter bilingualen Schulen werden Schulen verstanden, in denen Fach- und Sprachunterricht in mehr als einer Sprache erteilt wird. Der Terminus ‚bilinguale Schule‘ fungiert als Sammelbegriff für alle Schulmodelle, in denen Fremdsprachen oder Minderheits- bzw. Migrantensprachen neben der/n Umgebungssprache/n unterrichtet werden (Kroon & Vallen 2000). Bilinguale Grundschulen sind vergleichsweise selten; häufiger wird das bilinguale Unterrichtsangebot in der Sekundarstufe I und II angeboten. Einige bilinguale Modelle sind als binationale Züge an Regelschulen angelegt. In ihnen können Doppelabschlüsse auf der Grundlage bilateraler Vereinbarungen zwischen Deutschland und anderen Staaten erworben werden (z.B. Dänisch, Italienisch, Polnisch, Tschechisch, KMK 2013, S. 9). Bilinguale Schulen können als die intensivste Umsetzungsform bilingualen Unterrichts bezeichnet werden, da sie strukturierte Modelle darstellen, in denen sprachliche Bildung in mehreren Fächern und über mehrere Jahre erteilt wird. Ziele des Unterrichts sind das Erreichen der Zweisprachigkeit der Lernenden in Verbindung mit fachlichen Fähigkeiten sowie eine erhöhte metasprachliche und interkulturelle Kompetenz. Der folgende Beitrag enthält einen kurzen historischen Abriss zur Entstehung bilingualer Schulen und die Darstellung verschiedener Modelle sowie Hinweise auf ihre Vor- und Nachteile.
2 Entstehungsgeschichte und zugrundeliegende Spracherwerbs- und Sprachlernmodelle Während in Deutschland eine starke Orientierung an Einsprachigkeit in der Unterrichtssprache Deutsch, ergänzt um klassische und moderne Fremdsprachen, bis in die 1980er Jahre festgehalten wurde, entwickelte sich in Kanada in den 1960er Jahren ein Konzept des bilingualen Unterrichts, das auch für Deutschland richtungsweisend war. Die ersten bilingualen Schulen gehen auf einen deutsch-französischen Kooperationsvertrag von 1963 zurück. Eine Variante von Schulmodellen mit der Bezeichnung bilingual ist in den 1970er Jahren vor allem in Bayern
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zu finden. Diese hatten die Funktion der Maßnahmen zum sog. Spracherhalt als Vorkehrung für die Reintegration der Kinder von ‚Gastarbeitern‘ in ihre Heimatländer. Die Konzepte und Realisierungsformen solcher Modelle veränderten sich schnell über die Zeit und nach lokalen Gegebenheiten (Söhn 2005). Zu unterscheiden sind bilinguale Modelle, die sich auf das Lernen üblicher Schulfremdsprachen richten, und solche, in denen es um die Berücksichtigung und Förderung von Familiensprachen von Schüler/innen und die Förderung der umgebenden Verständigungssprache geht. Die Letzteren richten sich entweder auf Lernende aus sog. altansässigen Minderheiten – wie etwa die der Sorben in Deutschland – oder auf Lernende aus Migrantenfamilien. Bilinguale Modelle für die letzteren Zielgruppen wurden seit den 1980er Jahren verstärkt unter Berufung auf eine pädagogische Grundüberzeugung für das Unterrichten der Familiensprachen eingeführt, die neben sprachlichen Begründungen im engeren Sinne auf die Zusammenhänge zwischen sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten verwies (Reid & Reich 1992). Die zugrundeliegende theoretische Annahme bezüglich des Spracherwerbs Mehrsprachiger und einer darauf resultierenden Förderung der Zweisprachigkeit wurde von Cummins Interdependenzhypothese (1979) angeregt. Diese besagt, dass zwei- oder mehrsprachige Sprachentwicklung zu einer allgemeinen kognitiven Basis der Sprachkompetenz führe. Cummins nennt diese „common underlying proficiency“, die übergeordnete Sprachkompetenzen umfasst, welche zwischen den Sprachen Mehrsprachiger transferiert werden können. Somit bilden die Familiensprachen eine Grundlage für die weitere sprachliche Entwicklung sowie für ein erfolgreiches Lernen insgesamt. Empirische Untersuchungen zur Interdependenzhypothese, obgleich z.T. aus methodischen Gründen umstritten, liefern Hinweise zugunsten der Transferannahme. So zeigten sich in Forschung zur Lesefähigkeit zweisprachiger Kinder mäßige, aber signifikante Beziehungen zwischen den Lesekompetenzen in beiden Sprachen (Droop & Verhoeven 2003; Van Gelderen et al. 2007). Eine Metaanalyse (Genessee et al. 2006) kommt zu dem Schluss, dass metasprachliche Fähigkeiten, beispielsweise phonologische Bewusstheit, zwischen Sprachen übertragen werden. In einer systematischen Untersuchung der Leistungen eines bilingualen Schulmodells im Land Berlin (Staatliche Europaschulen Berlin (SESB)) wurden ebenfalls Hinweise darauf gefunden, dass Lernende von Transfereffekten zwischen den Sprachen bei einer Förderung der Zweisprachigkeit profitieren (Möller et al. 2017). Diese Untersuchung ergab außerdem, dass die Schüler/innen in den bilingualen Modellen mindestens gleiche, teilweise sogar bessere Leistungen in Sachfächern wie Mathematik, aber auch im Fach Deutsch erzielten wie die Gleichaltrigen, die in üblichen Regelklassen unterrichtet werden. Beim fremdsprachlichen Lernen (im Fach Englisch) erwiesen sich die Lernenden im bilingualen Modell als überlegen (Möller et al. 2017). Es zeigte sich mithin, dass die Schüler/innen in derselben Lernzeit ebenso gute oder sogar bessere Ergebnisse erzielten wie die einsprachig unterrichteten Gleichaltrigen, dabei aber substanzielle Kenntnisse in einer weiteren Sprache erwerben konnten.
3 Schulmodelle Drei Hauptformen bilingualer Schulmodelle sind zu unterscheiden, die sich z.T. unabhängig voneinander entwickelt haben. In didaktischer Hinsicht sind die Anforderungen und Lösungen jedoch ähnlich (Neumann 2009).
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3.1 Immersionsmodelle Den sog. Immersionsmodellen liegt die Annahme zugrunde, dass Sprachen schneller, intensiver und nachhaltiger gelernt werden, wenn sie nicht nur Lerngegenstand sind, sondern auch Bedeutung für die Beschäftigung mit einer Sache, einem Lerngegenstand haben. Das englische Wort immersion bedeutet eintauchen, untertauchen. Die zu lernende(n) Sprache(n) im bilingualen Modell fungieren im Unterricht auch als „Arbeitssprache(n)“. Es wird davon ausgegangen, dass dabei nicht nur das zeitliche Maß („exposure“) des Sprachkontakts erhöht wird, sondern auch die Motivation der Lernenden sowie die inhaltliche Breite des angebotenen sprachlichen Materials. Setzen die Modelle in der Sekundarstufe ein, werden sie als late immersion bezeichnet. Early immersion bezeichnet hingegen Konzepte im Elementar- und Grundschulbereich. Immersionsmodelle gibt es in einsprachiger Form – die Lernenden werden komplett in der fremden Sprache unterrichtet – und in zweisprachiger Form. Einsprachige Modelle finden sich z.B. in Kanada, wo Kinder im französischsprachigen Teil des Landes nach und nach komplett auf Englisch unterrichtet werden. Es handelt sich dabei in der Regel um Schulen für Kinder aus wohlgestellten Familien. Untersuchungen haben gezeigt, dass diese Kinder in der Regel von solchen Modellen profitieren. Kinder aus weniger wohlgestellten Familien hingegen erleiden eher Nachteile. Während die genannten Modelle nur wegen des Umstands als zweisprachig bezeichnet werden, dass die Schüler/innen, die sie besuchen, eine zweite Sprache in die Schule mitbringen, werden in anderen Modellen beide Sprachen systematisch als Unterrichtssprachen benutzt. Hier handelt es sich um sog. two-way-immersion-Modelle oder Dual Language-Programs (Torres-Guzmán 2002). In Deutschland folgen einige bilinguale Grund- und Sekundarschulen diesem Gedanken, u.a. das oben erwähnte Modell der Staatlichen Europaschulen Berlin. In diesen Schulen werden Schüler/innen mit einer nicht deutschen Erstsprache gemeinsam mit deutschsprachigen Kindern in den beiden ausgewählten Sprachen alphabetisiert und unterrichtet (Gogolin & Neumann 2008; Möller et al. 2017). 3.2 Bilingualer Sachfachunterricht Gegenüber Modellen, die in der Regel die gesamte Gestaltung einer Schule betreffen, gibt es solche, die sich nur auf ein einzelnes Unterrichtsfach beziehen. Die Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) definiert bilingualen Unterricht als „Unterricht mit Teilen des Fachunterrichts in der Fremdsprache“ (KMK 2006, S. 7). Im europäischen Kontext wird er als CLIL (Content and Language Integrated Learning) bezeichnet. Die Unterrichtsprache ist gleichzeitig Ziel- und Arbeitssprache. Inhalt des Unterrichts ist aber ein Fach. Die unterrichtende Lehrperson ist deshalb auch die Fachlehrkraft. Der zeitliche Umfang, die Zahl der beteiligten Sachfächer und der Aufbau der Programme unterscheiden sich zwischen den Schulen. Ein Bericht der KMK von 2013 listet 13 verschiedene Fächer auf, die an CLIL-Programmen beteiligt sind (KMK 2013, Tabelle 4). Während anfangs nur Gymnasien beteiligt waren, bieten inzwischen auch Realschulen, Schulen mit mehreren Bildungsgängen und solche im berufsbildenden Bereich den Unterricht an (KMK 2013, S. 10). Didaktische Anforderungen bestehen in jedem immersiven Unterricht darin, fachliche und sprachliche Ziele gleichzeitig zu verfolgen, ohne „doppelt“ zu unterrichten (Butzkamm 2010, S. 95). Ein Problem besteht darin, die Lücke zwischen den kognitiven Fähigkeiten und dem meist geringeren sprachlichen Ausdrucksvermögen zu überbrücken.
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3.3 Herkunftssprachenunterricht Die KMK schließt in Anlehnung an europäische Definitionen (EURYDICE 2006) Angebote für Lernende, die aufgrund ihres Migrationshintergrunds eine andere Erst- oder Familiensprache haben, begrifflich aus dem Spektrum bilingualer Angebote aus. Der Unterricht in diesen „mitgebrachten Sprachen“ wird nicht dem bilingualen Unterricht zugerechnet. Gleichwohl handelt es sich beim „Herkunftssprachenunterricht“ häufig um ein Lernangebot, das sich seit seiner Einführung im Zuge der Arbeitsmigration von einem monolingual ausgerichteten Unterricht der Amtssprachen der „Anwerbeländer“ – in Verbindung mit Religion und Geschichte/Geographie dieser Länder – zu einem Angebot entwickelt hat, in dem die Bilingualität der Schüler/innen gefördert werden soll. Der Unterricht wird unter vielfältigen Bezeichnungen geführt, z.B. Muttersprachlicher [Ergänzungs-] Unterricht; Unterricht in der heimatlichen Sprache und Kultur. Die Angebote sind in einigen – eher wenigen – Regionen integriert in den ‚regulären‘ Schultag, oder sie werden additiv gemacht. Träger der Angebote sind vielfach private Initiativen, Kirchen oder andere religiöse Gemeinschaften oder die Konsulate der Herkunftsländer von Migrant/ innen. Schulorganisatorisch kann der Herkunftssprachenunterricht an die Stelle der ersten oder zweiten Fremdsprache treten oder auch als zweite oder dritte Fremdsprache belegt werden. Im Falle der letztgenannten Anbieter ist die Zielgruppe des Unterrichts in der Regel an die Nationalität bzw. die Herkunftssprache der Familie gebunden. Wenn die Angebote im regulären Schulsystem verankert sind, werden sie allmählich auch für Lernende anderer Herkunft geöffnet und nehmen den Charakter von Two-way-immersion-Programmen an.
4 Neuere Entwicklungen und Ausblick Die Migrationsbewegungen, die sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa ereigneten und deutlich von den Nachkriegsmustern unterscheiden lassen, wurden mit dem Begriff Superdiversität betitelt (Vertovec 2007). Während sich zwischen 1945 und 1990 eine große Anzahl an Migrant/innen aus einer relativ kleinen Anzahl von Ländern in industrialisierte nordeuropäische Nationen bewegte, kommen die Migrant/innen inzwischen aus einer viel größeren Anzahl verschiedener Länder. Zudem sind sie im Hinblick auf Hintergrundmerkmale wie Religion, soziale Herkunft, Sprachkompetenzen, Aufenthaltsstatus, Arbeit und Wohnen zunehmend heterogen. Diese Veränderungen haben Konsequenzen für die Schulen insgesamt, aber insbesondere für bilinguale Modelle. Illustriert werden kann dies am Beispiel der Untersuchung einer portugiesisch-deutschen Klasse in Hamburg (Duarte & Gogolin 2013). Dieses bilinguale Modell war ursprünglich konzipiert nach dem für two-way-immersion typischen Muster, dass die Hälfte der Kinder die ‚Partnersprache‘ Portugiesisch aus der Familie mitbringen. In der besagten Klasse aber waren zusätzlich zum Portugiesischen und Deutschen noch Polnisch, Spanisch und Italienisch als Herkunftssprachen vertreten. Zudem brachten die Kinder verschiedene Varianten des Portugiesischen (aus Brasilien, Portugal, Angola, den Kapverdischen Inseln, Guinea-Bissau) sowie die dazu gehörigen Kreolformen in den Unterricht mit. Der Grad der Beherrschung dieser Sprachen variierte ebenfalls, insbesondere bezüglich produktiver Kompetenzen im Lesen und Schreiben. Ähnliche Beobachtungen einer wachsenden sprachlichen Vielfalt der Schülerschaft wurden in anderen zweisprachigen Modellen beobachtet. Purkarthofer und Mossakowski (2011) z.B. berichten über die wachsende Zahl von Kindern mit anderen Sprachen als Deutsch und Slowenisch an zweisprachigen Schulen in Kärnten, Österreich. In ihrer ethnographischen Fallstudie identifizierten sie mehrere Adaptionen von dualen Programmen, mit denen versucht wird, sich
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auf die heterogenen Bedingungen der Lernenden einzustellen. Berichtet wird von der Nutzung aller anderen Sprachen als Instruktionssprachen durch den Einbezug von Materialien (z.B. Wörterbücher) oder durch Anregungen zu Sprachvergleichen. Bilinguale Schulen können dazu beitragen, die sprachlichen Kompetenzen von Schüler/innen zu verbessern. Transfereffekte zwischen den beteiligten Sprachen können Zuwächse in allen Kompetenzbereichen, auch der Erstsprache, fördern. Bei bilingual aufwachsenden (Minderheiten-) Kindern wird der Erwerb der Verkehrssprache nicht beeinträchtigt; auch die fachlichen Lernprozesse sind durch den Gebrauch einer weiteren Sprache nicht behindert. Trotz dieser positiven Aspekte werden bilinguale Schulen dem Bedarf sprachlicher Bildung in den mehrsprachigen Gesellschaften nicht gerecht, weil sie lokal nur für die „großen“ Sprachen mit einer ausreichenden Zahl an Lerner/innen organisierbar sind, eine den didaktischen Anforderungen adäquate Lehrkräfteausbildung kaum existiert und die curricularen Voraussetzungen (Lehrpläne, Medien) rar sind. Angesichts der Tendenz zu Mehrsprachigkeit und Transkulturalität sind Konzepte von translanguaging (García & Kano 2014) zukunftsweisend. Bilinguale Modelle bleiben jedoch vorerst eher die Ausnahme. Literatur Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Bilinguale Schulen
Butzkamm, Wolfgang (2010): Über die planvolle Mitnutzung der Muttersprache im bilingualen Sachfachunterricht. In: Gerhardt Bach & Susanne Niemeier (Hg.): Bilingualer Unterricht. Grundlagen, Methoden, Praxis, Perspektiven, 5. bearb. und erw. Auflage. Frankfurt a.M.: Peter Lang. – Cummins, Jim (1979): Linguistic interdependence and the development of bilingual children. In: Review of Educational Research 49, S. 222-251. – Droop, Mienke & Verhoeven, Ludo (2003): Language proficiency and reading ability in first- and second-language learners. In: Reading Research Quarterly 38, S. 78-103. – Duarte, Joana & Gogolin, Ingrid (2013): Super diversity in educational institutions. In: Joana Duarte & Ingrid Gogolin (Hg.): Linguistic Super-Diversity in Urban Areas – Research Approaches. Amsterdam: John Benjamins, S. 1-24. – Eurydice (2006): Content and Language Integrated Learning (CLIL) at School in Europe. Brüssel. – García, Ofelia & Kano, Naomi (2004): Translanguaging as Process and Pedagogy: Developing the English Writing of Japanese Students in the US. In: Jean Conteh & Gabriela Meier (Hg.): The Multilingual Turn in Languages Education. Opportunities and Challenges. Bristol: Multilingual Matters, S. 258-277. – Genessee, F.; Geva, E.; Dressler, D. & Kamil, M. (2006): Synthesis: Crosslinguistic relationships. In: Diane August & Timothy Shanahan (Hg.): Developing literacy in second-language learners: Report of the National Literacy Panel on Language-Minority Children and Youth. Mahwah: Lawrence Erlbaum, S. 153-174. – Gogolin, Ingrid & Neumann, Ursula (2008): Bilinguale Grundschulen in Hamburg – ein erfolgreicher Schulversuch. In: Gabriele Budach; Jürgen Erfurt & Melanie Kunkel (Hg.): Écoles plurilingues – multilingual schools: Konzepte, Institutionen und Akteure. Internationale Perspektiven. Frankfurt a.M.: Peter Lang, S. 395-409. – KMK (Hg.) (2013): Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. Bericht „Konzepte für den bilingualen Unterricht - Erfahrungsbericht und Vorschläge zur Weiterentwicklung“. Bonn. – Kroon, Sjaak & Vallen, Ton (2000): Immigrant languages. In: Margie Berns (Hg.): Concise Encyclopedia of Applied Linguistics. Amsterdam: Elsevier, S. 130-133. – Möller, Jens; Hohenstein, Friederike; Fleckenstein, Johanna; Köller, Olaf & Baumert, Jürgen (Hg.) (2017): Erfolgreich integrieren – die Staatliche Europa-Schule Berlin. Münster: Waxmann. – Neumann, Ursula (2009): Der Beitrag bilingualer Schulmodelle zur Curriculuminnovation. In: Ingrid Gogolin & Ursula Neumann (Hg.): Streitfall Zweisprachigkeit – The Bilingualism Controversy. Münster: Waxmann, S. 317-331. – Purkarthofer, Judith & Mossakowski, Jan (2011): Bilingual teaching for multilingual students? Innovative dual-medium models in Slovene-German schools in Austria. In: International Review of Education 57, S. 551-565. – Reid, Euan & Reich, Hans (1992): Breaking the boundaries. Migrant workers’ children in the EC. Clevedon: Multilingual Matters. – Söhn, Janina (Hg.) (2005): The effectiveness of bilingual school programs for immigrant children. Berlin: Arbeitsstelle Interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration (AKI). – Torres-Guzmán, Maria (2002): Dual Language Programs. Key Features and Results. In: National Clearhouse for Bilingual Education: Directions in Language and Education 14. Online verfügbar unter http://www.ncela.gwu.edu/pubs/directions/14.pdf [27.12.2015]. – Van Gelderen, Amos; Schoonen, Rob; Stoel, Reinoud; de Glopper, Kees & Hulstijn, Jan (2007): Development of adolescent reading comprehension in language 1 and language 2: A longitudinal analysis of constituent components. In: Journal of Educational Psychology 99, S. 477-491. – Vertovec, Steven (2007): Super-diversity and its implications. In: Ethnic and Racial Studies 30 (6), S. 1024-1054.
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64 Interkulturelles Lernen in der beruflichen Bildung Susanne Weber
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1 Interkulturalität als ‚berufliche Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts‘ Berufliche Bildung fokussiert auf Lehr-, Lern- und Entwicklungsprozesse, die auf eine aktuelle sowie eine spätere „Berufsausübung“ bzw. auf einen (deutlich) erkennbaren Erwerbskontext hin ausgerichtet sind. Dabei wird Lernen verstanden als eine sich im Kontext von Arbeit (wie Erwerbsarbeit i.e.S., aber auch in anderen Formen wie Hausarbeit, Pflegearbeit, ehrenamtliche Arbeit) vollziehende Tätigkeit. Ziel der beruflichen Bildung ist es, (1) individuelle „Kompetenzen“ der Lernenden aufzubauen, zu erhalten und weiterzuentwickeln, um diese zu befähigen, berufliche und private Herausforderungen bewältigen und eine angemessene Arbeitsleistung erbringen zu können, (2) die Wirtschaft mit notwendigen Humanressourcen zu versorgen und (3) gesellschaftliche Partizipation zu ermöglichen (Baethge et al. 2006). In einer globalisierten Welt sind Arbeitnehmer/innen in ihren Arbeitskontexten über alle Hierarchieebenen hinweg zunehmend mit Interkulturalität konfrontiert: Nicht nur von Führungskräften wird erwartet, dass sie im direkten Kontakt mit Kunden oder Partnern aus fremden kulturellen Kontexten sicher verhandeln und Konflikte lösen können. Auch dual ausgebildete Fachkräfte müssen (a) über Kenntnisse von ausländischen branchenbezogenen gesetzlichen Grundlagen, geographischen Verortungen, technischen Regelwerken, Marktstrukturen, Zahlungsverkehrsbedingungen etc. verfügen (internationale Fachkompetenz), (b) Beschreibungen, Informationen und Texte in der Fremdsprache auswerten und verfassen sowie grundlegende Kundengespräche und Beratungen in der Fremdsprache durchführen können (Fremdsprachenkompetenz), (c) in internationalen Teams erfolgreich arbeiten sowie adäquat mit Personen mit fremdkulturellem Hintergrund, mit Personen ohne Ausweispapiere, Asylbewerber/innen etc. interagieren können (interkulturelle Kompetenz i.e.S.) sowie (d) zusätzliche Ressourcen beispielsweise durch „Networking“ mittels Datenbanken und weltweiten Netzwerken generieren und effizient nutzen können (Netzkompetenz) (vgl. Wordelmann 2009). Vor diesem Hintergrund haben die Verantwortlichen der beruflichen Bildung (die sogenannten „Vier Bänke“: Bund, Länder, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften) auf der Grundlage des „Gemeinsamen Ergebnisprotokolls“ (1972) die aufgeführten notwendigen (interkulturellen) Kompetenz-Domänen in die Curricula (Lehrpläne für die Berufsschulen und Ausbildungsordnungen für die betriebliche Ausbildung) explizit aufgenommen. Darüber hinaus wurde in die Neufassung des Berufsbildungsgesetzes (BBiG v. 23.03.2005) – das alle anerkannten Ausbildungen regelt – im § 2 Abs. 3 explizit aufgenommen, dass Teile der Berufsausbildung im Ausland durchgeführt werden können, um zusätzlich Mobilität, Persönlichkeit und eine „europäische Staatsbürgerschaft“ zu fördern. Deutschland gehört zu den Spitzenreitern bei der Durchführung dieser transnationalen Praktika – primär unterstützt durch das „Leonardo da Vinci“-Programm der EU (so nahmen aus Deutschland in 2012 12.361 Auszubildende und 1.269 Fachkräfte der Berufsbildung teil; bei den Auszubildenden entspricht das einem Anteil
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von 41,4% am Gesamtprogramm) (Statistics for All 2014: Leonardo da Vinci Mobilität. http:// de.statisticsforall.eu/maps-leonardo-mobility-destinations.php). Damit die Auslandsaufenthalte auch zum gewünschten Erfolg führen, ist ihre Durchführung gemäß § 76 BBiG ebenfalls geregelt: Hiernach müssen bilaterale Zielvereinbarungen über Ziele, Inhalte, Maßnahmen, aber auch über Anforderungen an den Praktikumsbetrieb – wie z.B. Beratung, Unterstützung etc. – schriftlich dokumentiert und beidseitig unterschrieben werden. Instrumente und Kriterien zur Qualitätssicherung liegen als Checklisten und Ablaufpläne vor: Leonardo da Vinci; Europäische Qualitätscharta für Mobilität.
2 Modellierung einer interkulturellen beruflichen Handlungskompetenz
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2.1 Theoretische Ansätze Die theoretische Modellierung von interkultureller Kompetenz steckt trotz jahrzehntelanger Bemühungen auch derzeit noch in den Kinderschuhen (Bolten 2001; Spitzberg & Changnon 2009; Van de Vijver & Leung 2009). Eine erste Systematisierung – die kompatibel ist mit der aktuellen Kompetenzdiskussion in Anlehnung an die internationalen Vergleichsstudien wie z.B. TIMSS, PISA, PIAAC – wurde im „Sage Handbook of Intercultural Competence“ vorgenommen (Deardorff 2009). Hierin arbeiten Spitzberg und Changnon (2009, S. 7) in ihrem systematischen Überblick die folgenden Grundelemente zur Konzeptualisierung einer interkulturellen Kompetenz heraus: Motivation (affektives Verhalten, Emotion), Wissen (Kognition), Skills (Verhalten, Handlung), Kontext (Situation, Umgebung, Kultur, personale Beziehungen, funktionale Zusammenhänge) und Ergebnisse/Outcomes (z.B. wahrgenommene Angemessenheit und Effektivität, Zufriedenheit, gemeinsam geteiltes Verständnis, Anpassung, Ziel-/Aufgabenerreichung). Dabei werden die einzelnen Kompetenzfacetten in unterschiedlichen Modellierungen mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen hervorgehoben: (a) In kompositionalen Modellen werden einzelne Facetten interkultureller Kompetenz kategorial nach Inhaltsbereichen zusammengestellt; (b) in Modellen der Ko-Orientierung steht eine interaktionistische kommunikative Beziehung zur Herausarbeitung eines gemeinsam geteilten Verständnisses im Fokus; (c) in Entwicklungsmodellen werden Entwicklungs- und Reifestufen spezifiziert; (d) in Adaptationsmodellen wird schwerpunktmäßig die gegenseitige Anpassung kulturell verschiedener Personen analysiert; (e) in Kausalen Pfadmodellen werden die zuvor theoretisch begründeten Zusammenhänge bzw. kausalen Wirkungsketten von interkulturellen Facetten (Variablen) statistisch überprüft. 2.2 Definition interkultureller beruflicher Handlungskompetenz Interkulturelle berufliche Handlungskompetenz wird hier in Anlehnung an den Mindful Identity Negotiation-Ansatz von Ting-Toomey (1999) definiert, da dieser eine sehr umfassende, evidenz-basierte Konzeptualisierung des latenten Konstrukts „interkulturelle Kompetenz“ bereitstellt. Danach wird interkulturelle berufliche Handlungskompetenz verstanden als individuelles und/oder kollektives, erlernbares Potential (Knowledge, Skills and Attitudes), um interkulturelle Überschneidungssituationen, die situationsspezifische Merkmale und Kontextfaktoren aufweisen können (familiarity, degree of cultural distance, institutional support, political conditions), durch Interaktion und Kommunikation erfolgreich und verantwortungsvoll zu gestalten. Dabei geht es darum, durch den Einsatz von „mindful identity negotiation“-Strategien (z.B. mindful listening, face-work) Beziehungen herzustellen, aber auch Kulturschocks zu bewältigen oder Identitätsbildungsprozesse anzuregen, um individuelle sowie gemeinsam geteilte Outputs und Outcomes (auf verschiedenen Systemebenen) zu erarbeiten. Eine interkulturell kompetente
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Handlung/Aktivität liegt dann vor, wenn sich alle an der Situation Beteiligten verstanden, respektiert und unterstützt fühlen und das Interaktionsergebnis als angemessen, effektiv und zufriedenstellend beurteilt wird (vgl. Weber 2005, S. 116). Danach sehen sich Individuen und/oder Gruppen in einer interkulturellen Clash-Situation (bedingt durch kulturell unterschiedliche Ziele; Mindsets; Artefakte; Rollen, die Personen einnehmen; Regeln des Umgangs miteinander) mit Herausforderungen unterschiedlicher Schwierigkeit (z.B. kulturelle Nähe oder Distanz; Vertrautheit vs. Neuheit) und unterschiedlichen funktionalen Inhalten (z.B. Umgang mit Eigentum; Wahrnehmung von Zeit; Aufbau von Beziehungen) konfrontiert. Sollen die Aufgaben und Probleme solcher Clash-Situationen interkulturell kompetent bewältigt werden, dann ist ein Bündel von korrespondierendem relevanten Wissen (u.a. Kulturdimensionen, Stereotype, Kommunikation), Fertigkeiten und Skills (z.B. mindful listening, negotiation of power, building trust) sowie Einstellungen (z.B. Offenheit gegenüber Fremden; Reaktionstypen) zu aktivieren und in Handlungsstrategien umzusetzen (Mindful Identity Negotiation: Selbstreflexion, Präsentieren, Facework etc.). Je nach Güte der Performanz wird ein Output/Outcome erzielt, das anhand von objektiven und subjektiven Kriterien bewertet werden kann (z.B. Angemessenheit, Effektivität, Zufriedenheit). Deutlich wird damit, dass weder ein Wissen über fremde Kulturen, der Erwerb von Fremdsprachen oder das Einüben von isolierten Handlungen („Kiss, Bow or Shake Hands“; Morrison et al. 1994) noch das Absolvieren von Auslandspraktika allein reichen, um in wechselnden Situationen interkulturell kompetent handeln zu können (vgl. Deardorff 2009, S. Xiii). Vielversprechender scheint mit Blick auf die internationale Kompetenzdiskussion ein multi-dimensionaler, holistischer und integrativer Ansatz zu sein (Weinert 2001; Winterton 2009) (siehe Abbildung 1).
Abb. 1: Modell der interkulturellen beruflichen Handlungskompetenz. Eigene Darstellung in Anlehnung an Weinert (2001), Winterton (2009), Ting-Toomey (1999) und Weber (2005).
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3 Vermittlung einer interkulturellen beruflichen Handlungskompetenz Ganzheitliche Lern- und Trainingsprogramme zur Vermittlung einer interkulturellen (beruflichen) Handlungskompetenz sind noch rar gesät (Van de Vijver & Leung 2009, S. 404f ). Zwar finden sich in der einschlägigen Literatur die Unterscheidungen nach „on the job“ (in der interkulturellen Clash-Situation mit Hilfe von Coaching) vs. „off the job“ (in systematischen Kursen und/oder Simulationen), kulturübergreifend vs. kulturspezifisch oder kognitiv vs. erfahrungsorientiert. Diese Kategorisierungen greifen jedoch zu kurz, da sie nicht nach den vielfältigen möglichen Bildungszielen eines Trainings differenzieren und damit nicht den notwendigen engen Zusammenhang von Curriculum-Instruktion-Assessment lehr-lern-theoretisch begründen. Zudem differenzieren sie nicht hinreichend nach der Vertrautheit mit der Situation bzw. der Entwicklungsphase der Lernenden: Wenn es darum geht, Auszubildende mit interkulturellen Clash-Situationen erst einmal vertraut zu machen und eine entsprechende Offenheit für den Umgang mit Fremdheit zu erreichen, dann mögen Sensibilisierungskurse mit abstrakten Informationen zu interkulturellen Konzepten, Exkursionen in fremde Kulturen etc. ausreichen. Wenn jedoch konkrete Auslandsaufenthalte oder Geschäftsverhandlungen geplant sind, dann stehen kulturspezifische Handlungsstrategien für domänenspezifische, typische Clash-Situationen im Vordergrund. Für bereits interkulturell Fortgeschrittene können aufgaben- und kulturspezifische Einzellösungen in Workshops oder Coaching-Prozessen on the job erarbeitet werden. Eine Methode ist nicht per se gut oder schlecht, sondern nur so gut, inwieweit sie hilft, die intendierten Ziele zu erreichen. Diese sind normativ bzw. als Interpretation der Lehrpläne und Ausbildungsordnungen der Ausbildungsberufe explizit zu definieren. Um die verschiedenen Facetten interkultureller Kompetenz, wie sie im Modell zur interkulturellen beruflichen Handlungskompetenz zum Ausdruck kommen, fachdidaktisch aufzugreifen, werden diese nachstehend entsprechend der Curriculum-Instruktion-Assessment-Triade (Pellegrino 2010) und der vier Hauptrichtungen der Curriculumtheorie (Schiro 2008) exemplarisch vorgestellt. 3.1 Formulierung curricularer Ziele Nach dem Scholar Academic-Ansatz (1) (Schiro 2008, S. 4) geht es darum, ein grundständiges (disziplinorientiertes) Wissen über z.B. Interkulturalität, kulturelle Unterschiede und Eigenheiten oder Clash-Situationen zu vermitteln, z.B.: „die Auszubildenden verfügen über Kenntnisse ausländischer, branchenbezogener gesetzlicher Grundlagen, haben Kenntnisse über internationale Märkte und deren Zahlungsverkehr“. (2) Im Hinblick auf den Social Efficiency-Ansatz (Schiro 2008, S. 4f ) geht es um den Auf- und Ausbau konkreter, relevanter Handlungsstrategien: „die Auszubildenden werten Beschreibungen, Informationen aus und verfassen Texte in der Fremdsprache“ oder „Auszubildende unterstützen Personen aus anderen Kulturen in ihren Identitäten, um positive Geschäftsbeziehungen aufzubauen“. (3) Vor dem Hintergrund des Learner Centered-Ansatzes (Schiro 2008, S. 5f ) ist die Entwicklung von Einstellungen zu interkulturellen Situationen und interkulturellem Handeln angesprochen, so z.B.: „die Auszubildenden respektieren Personen mit fremdkulturellem Hintergrund und unterschiedlichen Sichtweisen, Interessen, Problemlösestrategien“, „die Auszubildenden bewahren oder erarbeiten sich eine ‚kulturelle Neugierde‘ und Offenheit“. (4) Ausgehend vom Social Reconstruction-Ansatz (Schiro 2008, S. 6) steht eine aktive Veränderung und Gestaltung interkultureller Situationen im Vordergrund, wie u.a.: „die Auszubildenden analysieren die Clash-Situation vor dem gesellschaftlichen Hintergrund im Hinblick auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ oder „die Auszubildenden verpflichten sich, aktiv auf ein soziales Problem zu reagieren“.
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3.2 Gestaltung der Instruktion Um die jeweils gesetzten curricularen Lehr- und Lernziele zu erreichen und die dafür notwendigen Lern- und Entwicklungsprozesse anzuregen, müssen korrespondierend zu den vier „Curriculum-Ansätzen“ Schiros instruktionale Arrangements gewählt werden, die von der Komplexität her auf die Ziele abgestimmt sind: (ad 1) Lehr-lern-theoretische Studien zeigen, dass sich mentale Modelle und kognitive Strukturen für ein domänen- und disziplinspezifisches Fachwissen (hier: das Konzept Kultur, Bildung von Stereotypen, Umgang mit Eigentum, Merkmale einer spezifischen Kultur etc.) (Schiro 2008, S. 186) mit Hilfe akkurater und systematischer Präsentationen auf- und ausbauen lassen, die dialoggesteuert vertieft und flexibilisiert werden können (u.a. Hattie 2009). (ad 2) Zur Aneignung von interkulturellen Handlungsstrategien müssen Gelegenheiten zum Ausprobieren und systematischen Üben von interkulturellen Interaktionsstrategien (wie z.B. mindful listening, face-work) geschaffen werden (Schiro 2008, S. 186). Studien zum Aufbau von Handlungsabläufen zeigen, „that ‘probing‘ has still its effects“ (vgl. Mayer 2008, S. 285–291; Hattie 2009). (ad 3) Zur Förderung der Persönlichkeitsentwicklung müssen Anstöße und Erfahrungsräume (häufig in der Form von Kulturschocks; Praktika etc.) gegeben werden, wobei die Ausbilder/innen bzw. Lehrpersonen individuelle Unterstützung leisten (Schiro 2008, S. 186). Studien zeigen, dass derartige Räume zum Erwerb von Erfahrungswissen und zum Aufbau von Identitäten führen (vgl. Hattie 2009). (ad 4) Zur Vermittlung der Vision einer aktiv interkulturell kompetent agierenden Person sind gruppendynamische Prozesse anzulegen, in denen mit kulturell verschiedenen Personen Aufgaben und Probleme gemeinsam gelöst werden (hier: auch die Erarbeitung einer gemeinsam geteilten Vision). Wichtig ist dabei, dass diese Prozesse reflektiert und systematisiert sowie als hilfreich erlebt (Schiro 2008, S. 186) und zur sozialkonstruktivistischen Erarbeitung eines neuen, bisher nicht existierenden Wissens („third space“) (vgl. u.a. Byram 1997; Ting-Toomey 1999, S. 258; Bolten 2001) genutzt werden (vgl. zur konstruktiven Veränderung von Umwelt u.a. den „developmental work research“-Ansatz von Engeström [1999]). 3.3 Konzeption des Assessments In welchem Maße die curricularen Lehr- und Lernziele mit Hilfe der gewählten instruktionalen Maßnahmen erreicht werden, lässt sich ebenfalls nur korrespondierend zu den vier Curriculum-Ansätzen mit den folgenden Fragen evaluieren (Schiro 2008, S. 182; 188): (ad 1) Können die Lernenden einen schwierigen Zusammenhang der Domäne in „einfacher“ Weise erklären (z.B. den Ablauf des internationalen Zahlungsverkehrs) – als Nachweis dafür, ob Elemente und Strukturen einer Disziplin im mentalen Modell aufgebaut und verstanden wurden? (ad 2) Wenden die Auszubildenden in der praktischen Abschlussprüfung Facework-Strategien in Kundengesprächen an – als Nachweis, ob die notwendigen Handlungsstrategien erworben wurden? (ad 3) Gibt es Hinweise auf eine Reflexion bezüglich der gemachten Lernfortschritte als Nachweis für Entwicklungsstufen (z.B. werden noch ethnozentrische Witze erzählt oder werden schon eigene kulturelle Referenzsysteme kritisch in Frage gestellt? (ad 4) Werden nach der Intervention eigene Werte, Vorstellungen und Visionen expliziert oder eine Veränderung in der sozialen Umwelt als Nachweis für erfolgreiches interkulturelles Handeln sichtbar? Zurzeit existiert kaum Evidenz darüber, wie interkulturelle Kompetenz zu evaluieren wäre (Van de Vijver & Leung 2009, S. 404f ). Viele Assessments verbleiben auf der ersten Stufe der Reaktion nach Kirkpatrick (1979), indem die Teilnehmenden ganz allgemein nach ihren subjektiven Eindrücken und ihrem subjektiven Lernzuwachs befragt werden (Kinast 2003, S. 206). In As-
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sessments, die weitergehende Stufen wie Lern- und Verhaltensänderungen sowie Handlungsresultate evaluieren, finden sich methodisch neben diskurs- und inhaltsanalytischen Zugängen vor allem korrelative und faktoranalytische Studien, aber nur wenig Strukturgleichungs- oder regressionsanalytische Zugänge, da viele interkulturelle Trainingskurse nur für ein bis zwei Tage angelegt, die Teilnehmerzahlen begrenzt und die Teilnehmer/innen nicht per Zufall ausgewählt sind (Van de Vijver & Leung 2009, S. 407-412). Zudem fehlen in der Regel adäquate Outputgrößen: Es werden zumeist nur subjektive Einschätzungen bzgl. einer effektiven, angemessenen und zufriedenstellenden Kommunikation, zur Erreichung des individuellen Verhandlungsziels, zum Grad der Adaptation und Integration etc. herangezogen (vgl. Spitzberg & Changnon 2009, S. 42). Jedoch bleibt dabei offen, ob die Teilnehmenden aus der beteiligten fremden Kultur zu derselben Einschätzung kommen (vgl. Deardorff 2009, S. Xii) oder ob die Lernenden ihre erworbenen Kompetenz(-facetten) tatsächlich in reale Situationen einbringen und damit erfolgreich sind. Zudem wird der Handlungsaspekt in den Evaluationen zumeist vernachlässigt, so dass sich der Ernstcharakter der benötigten Handlungen häufig erst viel später in der Realität zeigt.
4 Beispiele aus der Berufsbildungspraxis Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Interkulturelles Lernen in der beruflichen Bildung
Vergleichbar wie in anderen Bereichen gibt es auch in der beruflichen Bildung bisher kaum überzeugende forschungs- und evidenzbasierte Ergebnisse für eine ganzheitliche, effiziente und effektive interkulturelle Intervention (Van de Vijver & Leung 2009, S. 404f ). Daher wurde in der Studie von Weber (2005) für den kaufmännischen Bereich ein Vorschlag entwickelt, bei dem auf der Basis eines Design Experiments (Weber 2006) curriculare Ziele vorab definiert, didaktische Arrangements zur Initiierung und Förderung der fokussierten Ziele evidenzbasiert gestaltet und ein entsprechend komplexes Assessment zur Evaluation der übergreifenden Intervention durchgeführt wurden: (a) Inwieweit wurden die komplexen Interventionsmaßnahmen von den Lernenden aufgenommen? (b) Inwiefern haben sich die intendierten Ziele und die zu entwickelnden Verhaltensweisen im Zeitverlauf verändert? (c) Welche Rahmenbedingungen haben besonders förderlich gewirkt? – In einer Re-Analyse wurden die zu entwickelnden „Mindful Identity Negotiation-Strategien“ in Anlehnung an die internationale Kompetenzdiskussion als interkulturelle Kompetenz modelliert und mittels Verfahren der probabilistischen Testtheorie (Item Response Theorie, IRT) überprüft. Dabei zeigte sich eine hohe Stabilität und Reproduktionsfähigkeit sowohl der vorgenommenen Modellierung als auch der Messungen von Anfangs- und Endzustand (Weber & Achtenhagen 2014). Zudem wurde die Tragfähigkeit des von Weber (2005) entwickelten interkulturellen Rahmens am Beispiel der Rekonstruktion von interkultureller Interaktion an Produktionsarbeitsplätzen gezeigt (Weber 2007). Im gewerblich-technischen Bereich sind die Arbeiten von Kenner (2007; 2012) hervorzuheben, die mit Hilfe von Interventionsstudien versuchen, Wissen, Einstellungen/Haltungen und moralisches Urteilsvermögen in interkulturellen Kontexten zu fördern und ethnische Vorurteile abzubauen. Zudem wird interkulturelles Lernen an beruflichen Schulen als Förderpotential für Schüler/innen mit Migrationshintergrund initiiert (Kenner 2011). Im Hinblick auf den personen-bezogenen Bereich für Gesundheit und Pflege, in dem sich ein hoher Anteil an weiblichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund befindet, wurden vom Bundesinstitut für Berufsbildung Analysen zur interkulturellen Kompetenz von medizinischen Fachangestellten mit Migrationshintergrund durchgeführt (Settelmeyer 2009). Zudem wurden Maßnahmen identifiziert, mit deren Hilfe bei Jugendlichen eine kultur- und migrationssensible
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Beratung für berufliche Zusammenhänge vorgenommen wird (Settelmeyer 2010), um sie für eine entsprechende berufliche Karriere zu gewinnen (Merbach 2012). Schwerpunktmäßig beziehen sich die Arbeiten für den kaufmännischen Bereich auf Verhandlungssituationen, für den gewerblich-technischen Bereich auf die Herstellung von harmonischen Arbeitsgruppen und für den Gesundheitsbereich auf eine kultursensible Beratung im Hinblick auf eigenständige Berufskarrieren sowie den Umgang mit Patient/innen aus verschiedenen Kulturen. Als übergreifender Beitrag zur beruflichen Bildung wurde vom Bundesinstitut für Berufsbildung die Schrift „Migration als Chance“ herausgegeben (Granato, Münk & Weiß 2011).
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5 Resümee Die theoretische Ausarbeitung eines Modells zur Bestimmung von interkultureller (beruflicher) Kompetenz steckt trotz jahrzehntelanger Bemühungen auch derzeit noch in den Kinderschuhen – selbst wenn diese Kompetenz angesichts der Megatrends, wie der Internationalisierung und Globalisierung wirtschaftlichen Handelns oder der zu beobachtenden Migrationsprozesse, eine immer größere Bedeutung erlangt. Zukunftsweisend sind integrierte, theoriegeleitete und evidenz-basierte Interventionen, die der Idee der Curriculum-Instruktion-Assessment-Triade folgen und ganzheitliche Konzepte der Evaluation von Interventionen anwenden. Darüber hinaus scheinen Modellierungen einer interkulturellen Kompetenz in Anlehnung an die internationalen Large-Scale Assessments als hilfreich, um mit Hilfe von Output-Größen des interventionalen Handelns auf ein Konzept latenter interkultureller Handlungskompetenz rückschließen zu können (vgl. die entsprechende kompetenztheoretische Argumentation in der ASCOT-Initiative des BMBF: http://www.ascot-vet.net/). Literatur
Baethge, Martin; Achtenhagen, Frank; Arends, Lena; Babic, Edvin; Baethge-Kinsky, Volker & Weber, Susanne (2006): Berufsbildungs-PISA - Machbarkeitsstudie. Stuttgart: Steiner. – Bolten, Jürgen (2001): Interkulturelle Kompetenz. Erfurt: Landeszentrale für politische Bildung Thüringen. – Byram, Michael (1997): Teaching and Assessing Intercultural Communication Competence. New York: Multilingual Matters. – Deardorff, Darla K. (Hg.) (2009): The SAGE Handbook of Intercultural Competence. Los Angeles: Sage. – Engeström, Yrjö (1999): Activity theory and individual and social transformation. In: Yrjö Engeström; Reijo Miettinen & Raija-Leena Punamäki (Hg.): Perspectives on Activity Theory. Cambridge: Cambridge University Press, S. 19-38. – Granato, Mona; Münk, Dieter & Weiß, Reinhold (Hg.) (2011): Migration als Chance. Ein Beitrag der beruflichen Bildung. Bielefeld: Bertelsmann. – Hattie, John A. C. (2009): Visible Learning: A Synthesis of over 800 Meta-Analyses relating to achievement. Milton Park, New York: Routledge. – Kenner, Martin (2007): Zum Stand interkulturellen Lernens an beruflichen Schulen in gewerblichen-technischen Berufsfeldern. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik 103 (4), S. 538-559. – Kenner, Martin (2011): Interkulturelles Lernen an beruflichen Schulen. Förderpotential für Schüler mit Migrationshintergrund. In: Mona Granato; Dieter Münk & Reinhold Weiß (Hg.): Migration als Chance. Ein Beitrag der beruflichen Bildung. Bielefeld: Bertelsmann, S. 225-236. – Kenner, Martin (2012): Zu ethnischen Vorurteilen und deren Entwicklung in Klassen beruflicher Schulen. In: Albert Biesinger; Friedrich Schweitzer; Matthias Gronover & Joachim Ruopp (Hg.): Intergration durch religiöse Bildung. Münster: Waxmann, S. 69-83. – Kinast, Eva-Ulrike (2003): Evaluation interkultureller Trainings. In: Alexander Thomas; Eva-Ulrike Kinast & Sylvia Schroll-Machl (Hg.): Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Bd. 1. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 204-216. – Kirkpatrick, Donald L. (1979): Techniques of evaluating training programs. Training and Development Journal 33(6), S. 78-92. – Mayer, Richard E. (2008): Learning and Instruction. Upper Saddle River, NJ: Pearson. – Merbach, Martin (2012): Kompetent beraten – Aspekte einer kultur- und migrationssensiblen Beratung von Jugendlichen. Unsere Jugend 64 (3), S. 108-117. – Morrison, Terry; Conaway, Wayne A. & Borden, George A. (1994): Kiss, Bow, or Shake Hands: How to Do Business in Sixty Countries. Holbrook, MA: Adams Media Corporation. – Pellegrino, James W. (2010): The Design of an Assessment System for the Race to the Top: A Learning Sciences Perspective on Issues of Growth and Measurement. Princeton:
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Interkulturelle Bildung in Volkshochschulen
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Educational Testing Service. – Schiro, Michael S. (2008): Curriculum Theory. Conflicting Visions and Enduring Concerns. Thousand Oaks: Sage. – Settelmeyer, Anke (2009): Interkulturelle Kompetenz von Medizinischen Fachangestellten mit Migrationsgeschichte. In: Migration und Soziale Arbeit 31 (3/4), S. 244-251. – Settelmeyer, Anke (2010): Interkulturelle Kompetenz von Personen mit Migrationshintergrund für berufliche Zusammenhänge gewinnen! In: Berufsbildung 64, S. 26-28. – Spitzberg, Brian H. & Changnon, Gabrielle (2009): Conceptualizing Intercultural Competence. In: Darla K. Deardorff (Hg.): The SAGE Handbook of Intercultural Competence. Los Angeles: Sage, S. 2-52. – Ting-Toomey, Stella (1999): Communicating Across Cultures. New York, London: Guilford. – Van de Vijver, Fons J. R.; Leung, Kwok (2009): Methodological Issues in Researching Intercultural Competence . In: Darla K. Deardorff (Hg.): The SAGE Handbook of Intercultural Competence. Los Angeles: Sage, S. 404-418. – Weber, Susanne (2005): Intercultural Learning as Identity Negotiation. Frankfurt a.M.: Lang. – Weber, Susanne (2006): Design Experiment. In: Franz-Josef Kaiser & Günter Pätzold (Hg.): Wörterbuch Berufs- und Wirtschaftspädagogik. 2. Aufl. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 211-213. – Weber, Susanne (2007): Mindful Identity Negotiation and Intercultural Learning at Work. Lifelong Learning in Europe, XII (3), S. 142-152. – Weber, Susanne & Achtenhagen, Frank (2014): Fachdidaktisch gesteuerte Modellierung und Messung von Kompetenzen im Bereich der beruflichen Bildung. In: Esther Winther & Manfred Prenzel (Hg.): Perspektiven der empirischen Berufsbildungsforschung. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Sonderheft 22. Wiesbaden: Springer VS, S. 3358. – Weinert, Franz E. (2001): Concept of Competence: A Conceptual Clarification. In: Dominique S. Rychen & Laura H. Salganik (Hg.): Defining and Selecting Key Competencies. Seattle: Hogrefe, S. 45-65. – Winterton, Jonathan (2009): Competence across Europe: Highest common factor or lowest common denominator? Journal of European Industrial Training, 33, S. 681-700. – Wordelmann, Peter (2009): Berufliches Lernen im Ausland – Stand der Forschung und Desiderata an die Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Online verfügbar unter: bwpat.de/ profil2 [03.02.2016].
65 Interkulturelle Bildung in Volkshochschulen Hartwig Kemmerer und Margitta Rudolph
Die Praxis der Erwachsenenbildung wurde mit der ersten Anwerbephase von „Gastarbeiter/ innen“ erstmals mit interkulturellen Fragestellungen konfrontiert. Seither gewinnt die theoretische und praktische Auseinandersetzung in dem breit gefächerten Feld der Interkulturellen Pädagogik für die Einrichtungen der Erwachsenenbildung ständig an Bedeutung. In der Erwachsenenbildung ist die Interkulturelle Bildung weit verbreitet. Sie umfasst sowohl Bildungsprozesse im Kontext von Migrationsarbeit als auch Weiterbildungsaktivitäten im Rahmen internationaler Kommunikation und Kooperationen. Interkulturelle Kompetenzen werden als bedeutsame Fähigkeiten in einer globalisierten Arbeits- und Lebenswelt angesehen. Ziel ist es, Dimensionen der Thematik wie z.B. Gender, Alter, sexuelle Orientierung oder migrationsbedingte Unterschiede so einzubeziehen, dass sie für die allgemeine wie auch für die berufliche Erwachsenenbildung relevant sind (vgl. Auernheimer 2013). Interkulturelles Lernen im Erwachsenenalter findet aber auch als informelles, selbstgesteuertes Lernen statt, da in einer multikulturellen Gesellschaft jeden Tag die Auseinandersetzung mit sowie das Lernen von und mit Angehörigen anderer Kulturen geschieht.
Hartwig Kemmerer und Margitta Rudolph
Somit stellt die interkulturelle Bildung für öffentliche Erwachsenenbildungseinrichtungen, z.B. Volkshochschulen, sowohl eine Querschnittsaufgabe als auch einen bedeutenden eigenständigen Programmbereich dar. In diesem Verständnis ist die Volkshochschule selbst ein unverwechselbarer interkultureller Lernort. Die Herausforderungen des kulturellen Wandels haben viele Facetten: Neben den Einflüssen durch das Verständnis als Migrationsgesellschaft, sind es etwa eine veränderte Realitätswahrnehmung durch digitale Medien, die Ästhetisierung weiter Lebensbereiche oder die zunehmende Vielfalt sich unterschiedlich begründender kultureller Angebote. Die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen verlangt nach Respekt und Offenheit gegenüber dem kulturell Fremden und Neuen. Dieser Auseinandersetzung wechselseitig Raum zu geben oder gar zu entwickeln, sind wesentliche Aufgaben der interkulturellen Erwachsenenbildung. Interkulturelle Bildung mit dem Ziel der Stärkung interkultureller Kompetenz ist ein Schlüssel zum erfolgreichen Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft und zwischen den Kulturen der Welt.
1 Bildungsangebote und Zielgruppen Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Bildungsangebote mit interkultureller Zielsetzung sprechen unterschiedliche Zielgruppen an. So werden unter der Zielsetzung Integration Maßnahmen der allgemeinen und beruflichen Bildung für Menschen mit Migrationsgeschichte realisiert. Deutschkurse sind hier das größte Angebotssegment. Zum Teil wird auf verpflichtender Basis (Integrationsvereinbarungen) der Erwerb der deutschen Sprache in Zusammenarbeit mit dem BAMF (BAMF 2015) gefördert. Darüber hinaus bieten die Erwachsenbildungseinrichtungen ein breites Spektrum an Deutsch-, Alphabetisierungs-und Basisbildungskursen, die auf freiwilliger Basis in Anspruch genommen werden können. Einen hohen Stellenwert für die Orientierung im deutschen Bildungssystem nehmen zunehmend Beratungsleistungen ein. Das Format „Lebenslanges Lernen“ in der Weiterbildung scheint besonders geeignet zu sein, Integration zu fördern und zu unterstützen. Daneben ist die Akzeptanz, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, aktuell eine wesentliche Aufgabe im Bildungsangebot für ältere Menschen. Sie fühlen sich vor dem Hintergrund aktueller technischer und gesellschaftlicher Entwicklungen und aufgrund ihres Alters teilweise diskriminiert und erleben Ausgrenzung. Die emotionale Basis für ein positives Verständnis neuer Entwicklungen nimmt damit deutlich ab. Interkulturelles Lernen ist z.B. für ältere Migrant/innen besonders dann notwendig, wenn die sozialen Kontakte mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben auf innerethnische Kontakte zurückfallen. Hier gilt es durch pädagogisches Handeln zu intervenieren und gesellschaftliche Kontakte zu stabilisieren. Dazu eignen sich insbesondere interkulturelle Kurse (z.B. Voneinander lernen), der Aufbau „Runder Tische“ in den Gemeinden, Kooperationen mit Verbänden und Vereinen. Erwachsenenbildungseinrichtungen haben zudem die Aufgabe, allen Bürger/innen durch Weiterbildung den Erwerb interkultureller Kompetenzen zu ermöglichen und zu erleichtern. Im Rahmen der politischen Bildung sollen Bewusstseinsbildung sowie die Entwicklung von Problemlösungskompetenz zum Abbau von rassistischem Verhalten und Diskriminierung beitragen. Eine Aufgabe politischer Bildung besteht in diesem Kontext unter anderem darin, Migration als konstitutiven Bestandteil der deutschen Geschichte sichtbar zu machen – etwa durch museale Aufarbeitungen wie Migrationsarchive, Migrationsmuseen o.ä. Politische Bildung soll ferner einen Beitrag zur Erhöhung der politischen Partizipation von Migrant/innen an der Gesellschaft und ihrem demokratischen Leben leisten. Interkulturelle Bildungsarbeit fokussiert des Weiteren die Sensibilisierung der Teilnehmenden für globale bzw. entwicklungspolitische Themen wie z.B. Armut, Klima, weltweite wirtschaftliche Ungleichheit. Bildungsveranstaltungen in diesem Bereich werden häufig unter der Zielsetzung Globales Lernen angeboten.
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Interkulturelle Kompetenzen sind weiterhin Teil aktueller beruflicher Bildung. Zunehmend werden von Mitarbeiter/innen in international tätigen Unternehmen bzw. Organisationen (z.B. globale Konzerne, EU-Institutionen und -projekte, UNO) interkulturelle Kompetenzen erwartet. Auch für die Berufstätigkeit in der Migrationsgesellschaft selbst gelten interkulturelle Kompetenzen mittlerweile als Schlüsselqualifikation. Unternehmen und Einrichtungen, in denen verstärkt Menschen mit Einwanderungsbiografie arbeiten oder viele Kundenkontakte mit Migrant/innen bestehen (z.B. psychosoziale Dienste, Gesundheits- und Bildungswesen, öffentliche Verwaltung), benötigen kompetente Personen und geeignete Strukturen zur Sicherung ihrer Ziele und Aufgaben (Elverich et al. 2006).
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2 Herausforderungen für die Weiterbildungspraxis Für erfolgreiche Bildungsarbeit in den Einrichtungen des lebensbegleitenden Lernens gibt es keine schnellen Lösungen und eindeutigen Wege. Grundvoraussetzungen des gelingenden gesellschaftlichen Miteinanders bleiben Heterogenität und Autonomie der unterschiedlichen Kulturen, kulturelle Gleichberechtigung unabhängig von Mehrheiten und Minderheiten, die Bereitschaft, alle Mitglieder der Gesellschaft anzuerkennen und anzunehmen, sie als persönliche oder gesellschaftliche Bereicherung zu erfahren und eine bewusste Form der Begegnung zu entwickeln, die Konflikte lösen hilft, Konsens ermöglicht, und von Toleranz und wechselseitigem Verständnis geprägt wird. Gelingende Interaktion und die interkulturelle Begegnung bilden die Voraussetzung interkulturellen Lernens, gesellschaftlich und für jeden Einzelnen (vgl. nbeb 2014, S. 7ff). Gelingen kann das nur, wenn Individuen offen und neugierig sind. Die persönliche Begegnung muss mit dem Interesse verbunden sein, den anderen kennen lernen zu wollen. Zur Umsetzung interkulturellen Lernens werden vielfältige Ansätze und Methoden vorgeschlagen. Interaktion und persönliche Kontakte auf der einen Seite stehen den indirekten Erfahrungen durch Bücher, Filme, Bilder, Vorträge und Diskussionen gegenüber. Die Arbeitsansätze sind abhängig vom jeweiligen Gegenstand und seiner Bedeutung für die Lernenden. Kulturuniversalistische Konzepte betonen Gemeinsamkeiten. Das Gemeinsame der Kulturen ist die Grundlage des Miteinanders. Die Vermeidung großer normativer Diskrepanzen soll Exotik und Ethnozentrismus begrenzen. Universelle Werte und Normen der Menschen liefern Orientierung und Standards. Besonders geeignet sind Situationen, in denen eigene (auch unbewusste) Vorurteile, Abneigungen und Stereotype aufgedeckt werden. Damit wird der eigene Standpunkt hinterfragt und aufgelöst zugunsten universalistischer Prinzipien. Offene Lernformen wie Projekte und das Medium Spiel sind dafür geeignet. Das vorurteilsfreie Verständnis soll nach diesen Maßstäben gesichert werden. In diesem Sinne wären Projekte der Begegnung zu planen. Dort, wo z.B. Migrant/innen in der Beteiligung an Weiterbildung unterrepräsentiert sind, gilt es Zugangsbarrieren abzubauen, indem Informations- und Unterstützungsangebote vorgehalten und in Bildungs- und Wirtschaftsnetzwerken Anerkennungsverfahren verabredet werden (vgl. Sprung 2011). Dort, wo sie bereits als Teilnehmer/innen partizipieren, stehen Weiterbildungseinrichtungen vor weiteren organisatorischen und didaktischen Herausforderungen. Relevante Fragen lauten beispielsweise: Können bestehende Konzepte und Rahmenbedingungen eine Lernumgebung gewährleisten, die der Diversität angemessen ist – u.a. in sprachlicher Hinsicht? Werden Bedürfnisse der Teilnehmenden ausreichend berücksichtigt? Wie lassen sich Diskriminierungen vermeiden? Werden neue Kompetenzen in der Institution benötigt? Welche strukturellen Anpassungen sind erforderlich? Migrant/innen besuchen derzeit am häufigsten Deutschkurse, EDV-Schulungen und Angebote der beruflichen Weiterbildung (Berufsorientierungskurse u.ä.). Angebote für höher qualifizierte
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Einwanderer/innen sind zur Zeit noch unzureichend entwickelt. Interkulturelle Öffnung berücksichtigt insbesondere (nur) den Migrationshintergrund der Zielgruppe. Der Ansatz des Diversity Management ist hingegen für mehrere Dimensionen von Vielfalt (Gender, Alter, sexuelle Orientierung etc.) offen. Rechtliche Rahmenbedingungen, z.B. die Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse, beeinflussen allerdings die Handlungsmöglichkeiten zum Teil erheblich.
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3 Beispiele für neue Konzepte Über eine Million Menschen nehmen jährlich im Bereich „Kunst, Kultur und kreative Gestaltung“ Angebote der Volkshochschulen wahr. Diese Angebote erreichen bisher besonders bildungserfahrene Teilnehmer/innen. In jüngster Zeit sind daher neue Formate entwickelt worden, die andere Teilnehmergruppen erschließen sollen. Der talentCAMPus (DVV 2015) ist ein ganztägiges Ferienbildungsprogramm für Jugendliche zwischen zehn und 18 Jahren, die aufgrund ihrer finanziellen, familiären und sonstigen Situation Bildungsbarrieren erfahren. Das kostenfreie Angebot wird mindestens ein- oder mehrwöchig angeboten und ist eine Kombination von Workshops u.a. zur Sprachförderung, zum Umgang mit Informationstechnologien und zur Persönlichkeitsentwicklung mit weiteren Angeboten der interkulturellen Bildung. Junge Menschen werden in ihren kulturellen, interkulturellen, sprachlichen und sozialen Kompetenzen gefördert und erhalten gleichzeitig Raum für die Entfaltung ihrer expressiven Bedürfnisse und ihres Ideenreichtums. Der Deutsche Volkshochschul-Verband e.V. (DVV) ist mit diesem Programm einer von 34 Verbänden und Initiativen, die das Förderprogramm des BMBF – „Kultur macht stark“ realisieren. Das Bildungskonzept Xpert Interkulturelle Kompetenz (DVV 2015) umfasst 40 Unterrichtseinheiten und ist in vier Module aufgeteilt: Kultur und Kommunikation, Rollen in der interkulturellen Kommunikation, Kultur und Identität, Streit und Konflikt: Verhalten in interkulturellen Konflikten. Durch „Xpert Interkulturelle Kompetenz. Kulturen verstehen“ erwerben die Lernenden folgende Kompetenzen: • Wissen über Kulturen und kulturelle Unterschiede • Kenntnisse über verschiedene Kommunikationsstile, nonverbale Kommunikationssignale und Kommunikationstabus und interkulturelle Unterschiede (BDB-Technik) und Wertschätzung von Mehrsprachigkeit in der Schule • Umgang mit Vorurteilen und Stereotypen über kulturelle Identitäten • Identitätsmanagement: Umgang mit Mehrheits- und Minderheitskulturen; Integration von verschiedenen Kulturen • Aufbau eines interkulturellen Kompetenzklimas • Wahrnehmung von Rollenbildern sowie Umgang mit und Lösung von Konfliktsituationen. Literatur
Auernheimer, Georg (Hg.) (2013): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. 4. durchg. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. – BAMF: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Deutsch lernen. Online verfügbar unter http://www.bamf.de/DE/Willkommen/DeutschLernen/deutschlernen-node.html (05.01.2015) – Elverich, Gabi; Kalpaka, Annita & Reindlmeier, Karin (Hg.) (2006): Spurensicherung. Reflexion von Bildungsarbeit in der Einwanderungsgesellschaft. Frankfurt a.M.: IKO -Verlag für Interkulturelle Kommunikation. – DVV (2015): Deutscher Volkshochschul-Verband. Talent CAMPus. Online verfügbar unter http:// www.talentcampus.de/startseite.html (07.01.2015). – DVV (2015): Deutscher Volkshochschul-Verband. Xpert. Culture Communication Skills. Online verfügbar unter https://www.xpert-ccs.de/info/Default.aspx (07.01.2015). – Heinemann, Alisha M. B. & Robak, Steffi (2012): Interkulturelle Erwachsenenbildung. In: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online. Fachgebiet: Interkulturelle Bildung, Didaktik und Methodik interkultureller Bildung. Online verfügbar unter http://www.beltz.de/fachmedien/erziehungs_und_sozialwissenschaften/enzyklopaedie_
Hochschulen: Internationalisierung und Diversity
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erziehungswissenschaft_online_eeo.html?tx_beltz_educationencyclopedia%5Barticle%5D=11928&tx_beltz_edu cationencyclopedia%5BarticleSet%5D=1&tx_beltz_educationencyclopedia%5BpublisherArticleSubject%5D=& tx_beltz_educationencyclopedia%5Baction%5D=article&tx_beltz_educationencyclopedia%5Bcontroller%5D=E ducationEncyclopedia&cHash=3461baca13e4e48995346daac7526cb0 (09.03.2016). – nbeb (2014): Niedersächsischer Bund für freie Erwachsenenbildung. Erlebnis Kultur. Kulturelle Bildung in der Niedersächsischen Erwachsenenbildung. Positionspapier des nbeb. Hannover. – Sprung, Annette (2011): Zwischen Diskriminierung und Anerkennung. Weiterbildung in der Migrationsgesellschaft. Münster: Waxmann.
66 Hochschulen: Internationalisierung und Diversity Uta Klein
Die Internationalisierung der Hochschulen zielt darauf ab, globale, interkulturelle und internationale Aspekte in die Hochschulbildung zu integrieren. Die Wissensgesellschaft, worunter ganz allgemein die wachsende Bedeutung von Wissen in fast allen gesellschaftlichen Lebensbereichen verstanden wird, ist ohne internationale Verbindungen nicht mehr denkbar und entsprechend haben internationale Aktivitäten von Hochschulen deutlich zugenommen. Auch betreiben die EU und internationale Organisationen wie die UNESCO oder die OECD in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten verstärkt die Koordinierung der Bildungssysteme, wie u.a. durch die Vorgaben zu vergleichbaren Bachelor- und Master-Abschlüssen. Wie stark die Forderung nach Internationalisierung der Hochschulen ist, zeigen nicht zuletzt auch Entscheidungen und Programme der großen Wissenschaftsorganisationen. So bietet die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) seit 2009 das Audit „Internationalisierung der Hochschulen“ an. Während Internationalisierung sowohl in der Praxis an den Hochschulen lange etabliert ist und auch ein lebendiges Forschungsfeld darstellt, ist die Hinwendung zu Diversity (Vielfalt) an den deutschen Hochschulen eine recht neue Erscheinung. Bei Diversity rücken – über kulturelle Aspekte hinaus – weitere Formen von Heterogenität der Hochschulmitglieder in den Blick, etwa Geschlecht, Behinderung, Alter oder Familienpflichten. Sowohl Internationalisierung als auch Diversity-Orientierung beinhalten eine interkulturelle Ausrichtung der Hochschulen.
1 Internationalisierung Unter Internationalisierung ist nach einer frühen Definition von Knight (1999) der Prozess der Integration einer internationalen/interkulturellen Dimension in die Lehre, Forschung und die Servicefunktionen zu verstehen. In der Lehre geht es zum einen um den internationalen Austausch von Studierenden und den Einsatz von Lehrenden mit internationaler Erfahrung – um
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Uta Klein
die personenbezogene Mobilität –, zum anderen aber auch um die Verankerung internationaler Studieninhalte in die Curricula, sei es in Form einzelner Themen oder aber in Form von ganzen Studiengängen, die länderübergreifend durchgeführt werden (Hahn 2004). Letzteres ist als Element einer so genannten „internationalization at home“, der Aufnahme internationaler Komponenten in die Studiengänge, inzwischen ebenso relevant wie der traditionelle Fokus auf Mobilität (Beelens 2007). In der Forschung geht es ebenso auf der einen Seite um personenbezogene Mobilität, auf der anderen Seite aber auch um die Beforschung internationaler Themen. Mit Servicefunktionen sind in der Regel verwaltungsbezogene Unterstützungen gemeint, wie die Anrechnung von im Ausland absolvierten Studienleistungen oder aber Maßnahmen der Begleitung internationaler Studierender und der Aufbau einer so genannten Willkommenskultur. Nachdem mehrere Jahrzehnte vor allem eine Vielzahl an einzelnen Maßnahmen und Aktivitäten zur Internationalisierung vorangetrieben wurde, richtet sich die Aufmerksamkeit heute auf den Aufbau einer Internationalisierungsstrategie. Gemeint ist damit die aktive Integration einer internationalen Orientierung in jeden Bereich der Hochschule im Sinne einer Querschnittsaufgabe: „the process of integrating an international, intercultural or global dimension into the purpose, functions and delivery of postsecondary education“ (Knight 2004, S. 11). So hängt Internationalisierung mit zentralen anderen Fragen der Hochschulsteuerung wie Finanzierung, Management oder Strukturen zusammen (Grothus & Maschke 2013). Es wird auch deutlich, dass Internationalisierung nicht ein Prozess einer einzelnen Hochschule ist, sondern sämtliche Akteure im Wissenschafts- und Hochschulbereich, von Regierungen über Wissenschaftsorganisationen bis zu Unternehmen involviert sind. Die tertiären Bildungsinstitutionen stehen zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor großen Herausforderungen. Im Zuge der Globalisierung, d.h. des grenzüberschreitenden Transfers von Technologie, Wirtschaft, Wissen, Menschen und Ideen, ist Bildung zum Produkt auf dem Weltmarkt geworden. Es ist ein internationaler Bildungsmarkt entstanden, in dem die Hochschulen untereinander und mit anderen Anbietern im Wettbewerb um Talente und Wissen stehen, erkennbar nicht zuletzt an den weltweiten Rankings der Hochschulen, in denen auch Internationalisierung eine Rolle spielt. So wird die Abwanderung von Spitzenforscher/innen befürchtet (brain drain), so dass Programme zur Rückgewinnung installiert wurden. Eine (strategische) Internationalisierung, früher ein „added value“, wird als Profilelement betrachtet, ohne das die Hochschule nicht mehr als wettbewerbsfähig gilt. Diskutiert wird ein damit befürchteter verbundener Wertewandel, eine Verdrängung der traditionellen Idee von Kooperationen und Partnerschaften durch eine Kommerzialisierung der tertiären Bildung (De Wit 2011, S. 242) bzw. eine Verdrängung einer ethisch-politischen Ausrichtung der Bildungspolitik durch markt- und wettbewerbliche Interessen. Die neue Entwicklung spiegelt sich auch in den wissenschaftlichen Untersuchungen zu Internationalisierung wieder. Während „traditionell“ die Mobilität von Studierenden und Wissenschaftler/innen im Vordergrund steht, etwa zur quantitativen Entwicklung oder zu Auswirkungen von Auslandsaufenthalten auf den späteren Berufsweg, geht es zunehmend um Wettbewerb und Kooperation zwischen Bildungsinstitutionen als Folge von Internationalisierung, um Fragen der strategischen Ausrichtung und um die Rolle von Nationalstaaten bei der Internationalisierung (Grothus & Maschke 2013). Im Bereich der Hochschulsteuerung, also mehr anwendungsorientiert, wird an Indikatoren (Kennzahlen) gearbeitet, mit denen die Ausprägung der Internationalisierung gemessen werden kann (Brandenburg & Federkeil 2007). Die Aussagekraft häufig verwendeter Kennzahlen wie die Anzahl der Partnerschaftsverträge, wie sie meist auch in den Zielvorgaben der Ministerien für die Hochschulen verwendet werden, wird in Frage gestellt, da sie über die Qualität der Beziehungen keine Auskunft geben könnten und allenfalls den
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momentanen Ist-Zustand, also die Internationalität, und nicht den Prozess, die Internationalisierung, abbildeten (Brandenburg & Federkeil 2007).
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2 Diversity Frauenförderung und Gleichstellung von Frauen und Männern im Wissenschaftsbetrieb ist ein inzwischen etablierter Bereich. Eine Hinwendung zu einer expliziten Diversityorientierung und entsprechenden Maßnahmen ist an deutschen Hochschulen erst seit wenigen Jahren zu beobachten, dafür aber mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit. Etliche Prorektorate bzw. Vizepräsidentschaften sind eingerichtet, Stabsstellen aufgebaut, Beauftragte eingestellt worden. Dabei lassen sich idealtypisch zwei Zugangsweisen unterscheiden. Wie auch bei der Internationalisierung gibt es erstens die ökonomische ‚Lesart‘: Diversityprogramme sind erforderlich, um im internationalen Wettbewerb der Hochschulen ‚die besten Köpfe‘ zu gewinnen, sie zielen als Managementkonzepte auf solche Aspekte der Heterogenität, die als Ressourcen einen Gewinn für die Organisation bedeuten. Zweitens reagieren die Thematisierung von Heterogenität und die Forderung nach Diversitätssensibilität auf die zahlreichen empirischen Erkenntnisse der Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit im Bildungssystem. So sind etwa Studierende mit Migrationshintergrund und Studierende aus Nicht-Akademiker-Haushalten an Hochschulen unterrepräsentiert und in wissenschaftlichen Führungspositionen neben diesen Gruppen auch Frauen (BMBF 2013). Zu denken gibt auch gerade in Hinblick auf internationale Mobilität, dass Studierende mit hoher Bildungsherkunft anteilig mehr als doppelt so häufig wie Studierende mit niedriger Bildungsherkunft studienbezogene Auslandserfahrung gesammelt haben (BMBF 2013). Auch von der Gewährleistung eines gleichberechtigten und diskriminierungsfreien Zugangs von Menschen mit Behinderungen sind die Hochschulen noch weit entfernt (Klein 2016). Aus einer solchen Perspektive wird auf den öffentlichen Bildungsauftrag der Hochschulen verwiesen und Forderungen nach Chancengleichheit und Abbau von Diskriminierungen mit Diversity verbunden (Klein & Heitzmann 2012). In der Praxis vermischen sich dabei durchaus beide Zugänge (Bender et al. 2013). Der größte Teil der Maßnahmen konzentriert sich (noch) auf die Studierenden und den Bereich der Lehre (Wild & Esdar 2014), etwa auf die Berücksichtigung der Vielfalt der Studierenden in der Hochschuldidaktik. Zugleich sind die Hochschulen gefordert, Diversity-Kompetenzen und -themen in die Lehrpläne aufzunehmen, besonders in Hinblick auf interkulturelle und inklusionspädagogische Qualifizierung künftiger Lehrkräfte. Erst spät haben die Hochschulen Interkulturalität als handlungsrelevante Lern- und Bildungsdimension auch auf die binnengesellschaftliche Pluralisierung bezogen, sondern lange nur auf internationale Mobilität (Otten 2012). Insgesamt ist deutlich, dass zwar eine Vielzahl von Projekten durchgeführt wird, es an einer Konzeption und einer klar umrissenen Strategie jedoch mangelt (Wild & Esdar 2014). Als Handlungsfelder einer Strategie können Lehre, Studiengänge, Forschung, Personalmanagement, Öffentlichkeitsarbeit und Gebäudemanagement betrachtet werden. Neben konkreten, von strategischen Zielen geleiteten Maßnahmen wie beispielsweise die Einführung von Teilzeitstudium, die Förderung der Vereinbarkeit von Studium bzw. Beruf und Familie, die Umsetzung von Barrierefreiheit und Inklusion, sieht ein strategisches Management auch die Erfolgsmessung durch ein Monitoring vor. Über die dafür geeigneten Kennzahlen wird bislang erst vereinzelt nachgedacht. In der wissenschaftlichen Diskussion um Diversity an der Hochschule wird die reine Zielgruppenorientierung kritisiert und die Erforschung der Exklusionsmechanismen im Wissenschafts-
Uta Klein
betrieb angemahnt, wie sie in der Geschlechterforschung weit fortgeschritten ist. Auch befasst sich die Diskussion mit der Gefahr eines kategorialen Zugangs. In der Regel werden als Differenzkategorien diejenigen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) berücksichtigt: Geschlecht, Alter, Ethnizität, Religion/Weltanschauung, Behinderung, sexuelle Orientierung. Vereinzelt wird soziale Herkunft hinzugenommen. Dieser Zugang ist nachvollziehbar, aber ambivalent. Einerseits zeigen sich statistisch soziale Unterschiede und konkrete Benachteiligungen aufgrund solcher Zugehörigkeiten, weshalb die Verwendung in Antidiskriminierungsprojekten oder -gesetzen Sinn macht. Auch eine Förderung, wie beispielsweise „affirmative action“, eine Art Quotenpolitik zur Förderung von Minderheiten, die – kontrovers diskutiert – etwa in den USA und in Südafrika praktiziert wird, kann nur an Gruppenzugehörigkeiten ansetzen. Andererseits, im Sinne einer erkenntnistheoretischen Argumentation, besteht dabei die Gefahr, „Differenzwissen“ zu produzieren und Unterschiede zu- und fest zu schreiben. Insofern sollten strukturelle Gründe für Exklusionsrisiken, wie etwa die wissenschaftliche Organisationskultur, jeweils mit bedacht werden. Literatur Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Beelen, Jos (Hg.) (2007): Implementing Internationalization at Home. Amsterdam: European Association of International Education Administrators. – Bender, Saskia-Fee; Schmidbaur, Marianne & Wolde, Anja (Hg.) (2013): Diversity entdecken. Reichweiten und Grenzen von Diversity Policies an Hochschulen. Weinheim: Beltz Juventa. – Brandenburg, Uwe & Federkeil, Gero (2007): Wie misst man Internationalität und Internationalisierung von Hochschulen? Indikatoren- und Kennzahlenbildung. CHE-Arbeitspapier Nr. 83. Gütersloh. – BMBF (2013): Bundesministerium für Bildung und Forschung. Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2012. 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch HISHochschul-Informations-System. Berlin. – De Wit, Hans (2011): Globalisation and internationalisation of Higher Education. In: RUSC (Universities and Knowledge Society Journal) 8 (2), S. 241-248. – Grothus, Ulrich & Maschke, Katharina (2013): Internationalisierung - eine Einführung. In: Deutscher Akademischer Austauschdienst (Hg.): Die Internationale Hochschule. Strategien anderer Länder. Bielefeld: Bertelsmann, S. 6-14. – Hahn, Karola (2004): Die Internationalisierung der deutschen Hochschulen. Kontext, Kernprozesse, Konzepte und Strategien. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. – Klein, Uta (2016): Inklusive Hochschule. Neue Perspektiven für Praxis und Forschung. Basel: Beltz Juventa. In Zusammenarbeit mit der Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung (IBS) des Deutschen Studentenwerks. – Klein, Uta & Heitzmann, Daniela (Hg.) (2012): Hochschule und Diversity. Theoretische Zugänge und empirische Bestandsaufnahme. Weinheim: Juventa. – Knight, Jane (1999): Internationalization of higher education. In: Hans de Wit & Jane Knight (Hg.): Quality and internationalisation in higher education. Paris: Organisation for Economic Cooperation and Development, S. 13-23. – Knight, Jane (2004): Internationalization remodeled: definition, approaches and rationales. In: Journal of Studies in International Education 8 (1), S. 5-31. – Otten, Matthias (2012): Interkulturelle Lernund Bildungspotenziale im Hochschulstudium. In: die hochschule (1), S. 116-129. – Wild, Elke; Esdar, Wibke (2014): Eine heterogenitätsorientierte Lehr-/Lernkultur für eine Hochschule der Zukunft. Fachgutachten. Hg. v. HRK Hochschulrektorenkonferenz. Online verfügbar unter http://www.hrk-nexus.de/fileadmin/redaktion/hrknexus/07-Downloads/07-02-Publikationen/Fachgutachten_Heterogenitaet.pdf [20.3.2015].
Kommunale Bildungslandschaften und regionale Bildungsnetzwerke
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67 Kommunale Bildungslandschaften und regionale Bildungsnetzwerke Tanja Salem
Dieser Beitrag behandelt lokale Bildungslandschaften und regionale Bildungsnetzwerke aus interkultureller Perspektive. Es wird zunächst geklärt, was lokale Bildungslandschaften und regionale Bildungsnetzwerke sind. Hiernach werden Grundzüge der Vernetzung und Kooperation als wesentliche Merkmale von lokalen Bildungslandschaften und regionalen Bildungsnetzwerken aus interkultureller Perspektive dargestellt. Danach wird exemplarisch das Modell der Sprachbildungsnetzwerke vorgestellt, das im Rahmen des Modellprogramms „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund – FörMig“ entwickelt und in verschiedenen Bundesländern umgesetzt wurde bzw. wird. Abschließend wird der Forschungsstand skizziert und ein Ausblick auf Entwicklungspotentiale in Praxis und Forschung gegeben.
1 Lokale Bildungslandschaften und regionale Bildungsnetzwerke: Begriffsbestimmung und Diskurse „Bildungslandschaften“ tauchen nach Niemann (2014) zumindest begrifflich erstmals Mitte der 1990er Jahre in der bildungspolitischen Diskussion auf, und zwar mit Blick auf die Schule der Zukunft in Nordrhein-Westfalen (vgl. Niemann 2014, S. 21). Spies (2013) spricht davon, dass der Begriff sich spätestens mit der Aachener Erklärung des Deutschen Städtetags etabliert hat. Ein Ausgangspunkt für die Entwicklung von Bildungslandschaften ist die Bedeutung von Vernetzung und Kooperation von Schulen mit weiteren (Bildungs-) Einrichtungen für den Bildungserfolg von jungen Menschen. Rolff (2013) fasst auf der Basis von Meta-Analysen von PISA-Daten zusammen, dass Kooperation innerhalb von Schulen sowie von Schulen mit anderen Bildungs- und Erziehungsinstanzen ein Merkmal „guter Schulen“ ist – gemessen am Leistungsstand von Schüler/innen. Diese Analysen stellen ebenfalls heraus, dass beispielsweise Kooperation allein noch keine „gute Schule“ ausmacht, sondern dass es ein Bündel an Merkmalen ist, das zu guten Leistungen von Schüler/innen beiträgt: „Zwei bis vier starke Ziele, die politisch gewollt und getragen sind, dichte Kooperation auf allen und mit allen Ebenen, mehr Unterstützung, sogar viel mehr Unterstützung, Selbstständigkeit und verlässliche wie flexible organisatorische Rahmung“ (Rolff 2013, S. 7). In den letzten Jahren wurde in Deutschland eine Reihe von Programmen und Projekten realisiert, die den Aufbau von Bildungslandschaften unterstützen, z.B. „Lernen vor Ort“, „Lernende Region“ und „Ganztägig lernen“; auch das Programm „Ein Quadratkilometer Bildung“ der Freudenberg Stiftung (vgl. Wenzel 2014) ist unter dem begrifflichen Dach Bildungslandschaft anzusiedeln. Regionale Bildungsnetzwerke sind eine spezifische Form von Bildungslandschaften, die in Nordrhein-Westfalen realisiert werden (vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2014). International lassen sich ebenfalls Formen von Bildungslandschaften finden (vgl. Warsewa & Baumheier 2009; Karakaşoğlu et al. 2011; Huber 2014).
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Eine einheitliche Definition dessen, was sich hinter der Metapher Bildungslandschaft verbirgt, existiert nicht (vgl. Eisnach 2011). So finden sich im Diskurs weit gefasste Definitionen, die Bildungslandschaften als ein Konzept der Jugend- und Bildungspolitik fassen, die das Ziel verfolgen, Bildungsbedingungen durch Vernetzung und Kooperation von Schulen und außerschulischen Bildungseinrichtungen zu verbessern. Diese Vernetzung findet in der Praxis auf verschiedenen räumlichen Ebenen statt, so dass sich regionale, kommunale und lokale Bildungslandschaften unterscheiden lassen. Engere Definitionen beschreiben Bildungslandschaften ergänzend als „langfristige, professionell gestaltete, auf gemeinsames, planvolles Handeln abzielende, kommunalpolitisch gewollte Netzwerke zum Thema Bildung“ (Bleckmann & Durdel 2009, S. 12). Für diese Netzwerke sei überdies typisch, dass sie das lernende Subjekt in den Mittelpunkt stellen (vgl. ebd.). Über diese Konzeptbestimmung hinaus werden unterschiedliche Typen von Bildungslandschaften ins Feld geführt. Eisnach (2011) identifiziert die Typen Schulzentrierung, Kooperationszentrierung, Qua1ifizierungslandschaften und multidimensionale Bildungslandschaften (vgl. Eisnach 2011, S. 39f ). Coelen (2009) stellt einem schulzentrierten Modell ein dezentrales gegenüber, in dem im Gegensatz zum ersteren eine Schule eine Einrichtung unter anderen in einer Bildungslandschaft ist (vgl. ebd., S. 90). Diese Typen machen u.a. auf das im Fachdiskurs als spannungsreich beschriebene Verhältnis von Schule und Kinder- und Jugendhilfe sowie insbesondere Schule und Schulsozialarbeit aufmerksam. In diesem Zusammenhang werden auch Herausforderungen diskutiert, die sich besonders auf die Kooperation von Fachkräften unterschiedlicher professioneller Herkunft beziehen. Nicht selten wird die Kooperation von Kinder- und Jugendhilfe und Schule in kommunalen Kontexten im bildungspolitischen Diskurs zum Allheilmittel für Probleme des Bildungssystems stilisiert. Hierbei wird jedoch übersehen, dass Kooperation in Netzwerken ein voraussetzungsvolles Verfahren ist, für dessen Gestaltung nicht zuletzt spezifische Entwicklungen in den an einer Bildungslandschaft beteiligten Einrichtungen angestoßen werden müssen. Auch wenn keine einheitliche Bestimmung des Konzepts Bildungslandschaft im Fachdiskurs vorzufinden ist, so besteht doch Einigkeit hinsichtlich des Ziels: Bildungslandschaften sollen zur Verwirklichung gleicher Bildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen beitragen. Einen wichtigen Bezugspunkt für die Begründung und Realisierung von Bildungslandschaften sowie die Zielsetzung bildet der 12. Kinder- und Jugendbericht und das dort vertretene, ganzheitliche Bildungsverständnis (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2006).
2 Vernetzung und Kooperation aus interkultureller Perspektive Ausgehend von der Einsicht, dass sich junge Menschen in der Schule, in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch außerhalb dieser Institutionen in der Familie und im Sozialraum bilden, sind Vernetzung und Kooperation mit weiteren Institutionen im Sozialraum zentrale Bestandteile des (gesetzlichen) Auftrags der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch von Schule (vgl. Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland [KMK] 2013; Krüger & Stange 2009, S. 17). Ziel von Vernetzung und Kooperation ist es, Bildungsmöglichkeiten von jungen Menschen zu erweitern und gegebenenfalls verschlossene Bildungswege zu öffnen. Erkenntnisse der (interkulturellen) Bildungsforschung fördern zutage, dass familiäre Bedingungen und Lebenslagen sowie individuelle Voraussetzungen von jungen Menschen eine entscheidende Rolle für den Bildungserfolg spielen. Aufgrund von Migrationsprozessen sind diese Bedingungen und Voraussetzungen in vielerlei Hinsicht verschieden. Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und Familien unterscheiden sich je nach ethnischer, sozialer, sprachlich-kultureller,
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Kommunale Bildungslandschaften und regionale Bildungsnetzwerke
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religiöser Herkunft; sie sind verschieden in Bezug auf das Alter, Formen des Zusammenlebens, Lebensstile und Lebenslagen, ihren Aufenthaltsstatus, ihre Migrationsgeschichte, die weltanschaulichen Orientierungen und Einbindungen in Communities sowie Werte und Diskriminierungserfahrungen. Auch die etwaige Einbindung in transnationale soziale Räume ist mitzudenken. Vor diesem Hintergrund wird die interkulturelle Öffnung von Erziehungs- und Bildungseinrichtungen als notwendig erachtet (vgl. Karakaşoğlu et al. 2011). Vernetzung und Kooperation ermöglichen dabei den heterogenen Lebenslagen und Bildungsvoraussetzungen von jungen Menschen gerecht zu werden und diese zum Ausgangspunkt von Bildung und Erziehung zu machen. Dabei stehen Netzwerke und die daran beteiligten Einrichtungen und (pädagogischen) Fachkräfte, die einen professionellen Umgang mit Heterogenität entwickeln, vor der Herausforderung, einerseits all ihre Zielgruppen in den Blick zu nehmen, andererseits den jeweiligen individuell-biographischen Besonderheiten Rechnung zu tragen, sofern es für die Erziehungsund Bildungssituation der jeweiligen Person erforderlich ist. Aus dieser Perspektive ergibt sich, dass Bildungs- und Erziehungseinrichtungen die Lebenslagen ihrer Klientel kennen sollten und daran anknüpfend Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Vernetzung und Kooperation mit sozialen Einrichtungen und Projekten, aber auch mit Migrantenorganisationen, Elterninitiativen und Dolmetscherdiensten prüfen, die im Sozialraum ansässig sind, um Bildungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen zu erweitern. Diese Öffnung nach außen macht gleichzeitig eine interne Entwicklung notwendig. Diese zielt auf weitere Aspekte der Organisations-, Angebots- bzw. Unterrichtsentwicklung sowie der Personal- und Teamentwicklung von Bildungsund Erziehungseinrichtungen (vgl. Salem 2013).
3 Sprachbildungsnetzwerke – Der FörMig-Ansatz Exemplarisch für Netzwerke, die von der Struktur her als eine Form von Bildungslandschaft bezeichnet werden können und denen die beschriebenen interkulturellen Prämissen zugrundliegen, wird an dieser Stelle ein sog. Sprachbildungsnetzwerk vorgestellt, das in Berlin gegründet wurde. Sprachbildungsnetzwerke wurden im Rahmen des Modellprogramms FörMig (2004 bis 2009) zur Verwirklichung einer durchgängigen Sprachbildung in zehn Bundesländern entwickelt, realisiert und in weiteren fünf Bundesländern in einem Transferprogramm (2009/10 bis 2013) weiterentwickelt (vgl. Gogolin et al. 2011; Dobutowitsch et al. 2013). Ein Beispiel für ein Sprachbildungsnetzwerk ist die „Bildungsinitiative Mariannenplatz“ in Berlin. Dieses Netzwerk setzte sich aus vier sog. Basiseinheiten zusammen, die aus jeweils einer Schule und Kindertageseinrichtungen bestanden, die mit weiteren Partnern wie einer Lernwerkstatt und Stadtteilmüttern zusammenarbeiteten. Die inhaltlichen Schwerpunkte des Netzwerks waren Elternpartizipation und die Kooperation zwischen Kindertageseinrichtungen und Grundschulen unter besonderer Berücksichtigung sprachlicher Bildung. Gestaltet wurde das Netzwerk durch zwei- bis dreimal jährlich stattfindende Arbeitsgruppentreffen, in denen Austausch über Bedingungen und Entwicklungen im Sozialraum sowie über die Arbeit in der Lernwerkstatt stattfand. Überdies trafen sich pädagogische Fach- und Lehrkräfte der vier Basiseinheiten bis zu fünfmal im Jahr, um ihre Kooperationsstrukturen und -inhalte weiter zu entwickeln. Auch bildeten sich die Beteiligten gemeinsam fort. In einer Fortbildung zur Frage, wie das Sprachlernen mit der Lernwerkstattarbeit verbunden werden kann, wurden beispielsweise Materialien entwickelt, die die Arbeit der Lernwerkstatt unterstützen sollten. Diese Form der Zusammenarbeit führte zu weiteren gemeinsamen Zielen der beteiligten Partner und stärkte den Zusammenhalt der einzelnen Netzwerkmitglieder (vgl. Carls & Enzinger 2013). In diesem
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Tanja Salem
Sprachbildungsnetzwerk wurden somit gemeinsame Strategien der Zusammenarbeit mit Eltern und der durchgängigen Sprachbildung am Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Grundschule erarbeitet und umgesetzt.
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4 Forschungstand und Ausblick aus interkultureller Perspektive Es liegt eine Reihe von Evaluationsberichten und Untersuchungen zu Bildungslandschaften vor, die insbesondere Steuerungs-, Vernetzungs- und Kooperationsstrukturen und -prozesse erforschen (vgl. Kap. 1; vgl. einen aktuellen Überblick über Projekte und Evaluationen Huber a.a.O.). Beispiele und Auswertungen von Sprachbildungsnetzwerken sowie zur sprachlichen Entwicklung von Kindern existieren ebenfalls (vgl. Gogolin et al. a.a.O.). Bezüglich weiterer interkultureller Aspekte führten Fortmann et al. (2010) eine Literaturstudie durch. Es wurden online-Dokumente analysiert, in denen Bildungslandschaften über sich informieren. Diese Untersuchung ergab, dass das Thema der Erhöhung von Bildungschancen von sozial benachteiligten jungen Menschen zentral erscheint und hierbei auch auf den Zusammenhang von Migrationshintergrund und sozialer Lage hingewiesen wird. Über diesen Befund hinaus konnten die Autor/innen kaum Hinweise auf die Berücksichtigung von Diversität und Heterogenität finden. Es fehlt in der Gesamtschau an Untersuchungen, die Aufschluss darüber geben, 1) mit welchen Kooperationspartnern und welchen Kooperationsaktivitäten den heterogenen Lebenslagen und Bildungsvoraussetzungen von Kindern und Jugendlichen in Bildungslandschaften begegnet wird; 2) wie es gelingt, dass sich Institutionen in Bildungslandschaften entsprechend weiterentwickeln und schließlich 3) welchen Beitrag Bildungslandschaften dazu leisten, allen Kindern und Jugendlichen gleiche Bildungschancen zu eröffnen. Gewinnbringend erscheint der Ansatz des kommunalen Bildungsmonitorings (vgl. Egger & Tegge 2014). Hier können „erfolgreiche“ Bildungslandschaften identifiziert und interkulturelle Herausforderungen innerhalb der Netzwerke und Kooperationen ausgelotet werden. Literatur
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Kommunale Bildungslandschaften und regionale Bildungsnetzwerke
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mit System. Kronach: Link. – Karakaşoğlu, Yasemin; Gruhn, Mirja; Wojciechowicz, Anna (2011): Interkulturelle Schulentwicklung unter der Lupe. (Inter-)Nationale Impulse und Herausforderungen für Steuerungsstrategien am Beispiel Bremen. Münster: Waxmann. – KMK (2013): Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule, vom Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 25.10.1996 i. d. F. vom 05.12.2013. Online verfügbar unter http://www.kmk.org/fileadmin/ veroeffentlichungen_beschluesse/1996/1996_10_25-Interkulturelle-Bildung.pdf [16.09.2014]. – Krüger, Rolf; Stange, Waldemar (2009): Kooperation von Schule und Jugendhilfe: die Gesamtstruktur. In: Angelika Henschel; Rolf Krüger; Christof Schmitt & Waldemar Stange (Hg.): Jugendhilfe und Schule. Handbuch für eine gelingende Kooperation. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 13-22. – Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2014): Regionale Bildungsnetzwerke. Online verfügbar unter http://www.regionale.bildungsnetzwerke.nrw.de/ [03.02.2016]. – Niemann, Lars (2014): Steuerung lokaler Bildungslandschaften. Räumliche und pädagogische Entwicklung am Beispiel des Projektes Altstadt Nord Köln. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. – Rolff, Hans-Günter (2013): Auswertung der Evaluation und Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Regionalen Bildungsnetzwerke in NRW. Online verfügbar unter http:// www.regionale.bildungsnetzwerke.nrw.de/ [15.12.2014]. – Salem, Tanja (2013): Voraussetzungen für den Aufbau von Sprachbildungsnetzwerken. In: Tanja Salem; Ursula Neumann; Ute Michel & Friederike Dobutowitsch (Hg.): Netzwerke für durchgängige Sprachbildung 1. Grundlagen und Fallbeispiele. Münster: Waxmann, S. 13-32. – Spies, Anke (Hg.) (2013): Schulsozialarbeit in der Bildungslandschaft. Möglichkeiten und Grenzen des Reformpotentials. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. – Warsewa, Günter; Baumheier, Ulrike (2009): Vernetzte Bildungslandschaften: Internationale Erfahrungen und Stand der deutschen Entwicklung. In: Bleckmann, Peter; Durdel, Anja (Hg.): Lokale Bildungslandschaften. Perspektiven für Ganztagsschulen und Kommunen. 1. Aufl. Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissenschaften, S. 19-36. Online verfügbar unter http://www.springerlink.com/ content/j137606242m24w5q/fulltext.pdf [03.02.2016]. – Wenzel, Sascha (2014): Ein Quadratkilometer Bildung Berlin-Neukölln. Zur Diskussion über Magnetschulen am Beispiel des Campus Rütli. In: SchulVerwaltung 16 (1), S. 39-42.
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68 Familie als Sozialisationsinstanz Britta Klopsch, Anne Sliwka und Aleksandra Maksimovic Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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5.2 Sozialisationsinstanzen und Handlungsfelder
Sozialisation ist ein komplexer Prozess, in dem Personen sich Werte, Normen und Traditionen der sie umgebenden Kultur oder Subkulturen aneignen. Der Prozess der Sozialisation ist vielschichtig: Die Werte, Normen und Traditionen bestimmen das Verhalten der betroffenen Personen, aber nicht vollständig. Zwischen kulturellen Einflüssen und individuellen Entwicklungsmustern besteht eine Wechselwirkung über die gesamte Lebensspanne. Wirkungsräume dieser Prozesse sind neben der Begegnung mit kulturellen Aspekten insbesondere Familien sowie formale Organisationen wie Kindergärten und Schulen (vgl. Husen & Postlethwaite 1985, S. 5586). Die Familie als Lebensgemeinschaft von mindestens zwei Generationen, die auf verwandtschaftlichen, sozialen sowie juristischen Beziehungen aufbaut, gilt als primäre Sozialisationsinstanz. Unterschiedliche Autor/innen betonen diese Vorrangstellung aufgrund der vertrauten, intensiven und andauernden Beziehung innerhalb einer Familie (vgl. Husen & Postlethwaite 1985, S. 5588). Die Einflüsse familialer Strukturen, Rollen, Beziehungen und Einstellungen besitzen für die Entwicklung von Werthaltungen, Kompetenzen und Handlungspotenzialen nachwachsender Generationen ausschlaggebende Wirkung.
1 Familiale Merkmale, Strukturen und Funktionen Seit die Familie als Kernfamilie, d.h. einer Zwei-Generationen-Familie mit einer geschlechts typischen Rollenverteilung, in den 1950er und 1960er Jahren eine Blütezeit erfuhr, steigt zunehmend die Anzahl „nicht konventioneller familiärer Verhältnisse“ (Huinink 2009), wie die Vielzahl unterschiedlicher Bezeichnungen eines generationenübergreifenden Zusammenlebens zeigt. Patchworkfamilien, Stieffamilien, Ein-Eltern-Familien, Regenbogenfamilien und Familien unverheirateter Elternpaare sind heute vielfach zu finden. Wenngleich der Anteil an „Kernfamilien“ in Deutschland stetig sinkt und neue Konstellationen hinzukommen, leben dennoch die meisten Familien (2013: 70%) in „verheirateten Kernfamilien“ (vgl. Statistisches Bundesamt 2014). 10% der Eltern (auch gleichgeschlechtlich) sind unverheiratet und 20% der Eltern sind alleinerziehend.
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Britta Klopsch, Anne Sliwka und Aleksandra Maksimovic
Auch die Binnenstruktur sowie das normative Grundverständnis einer Familie haben sich verändert. Das traditionelle Machtgefüge einer Familie, das den Vater als Familienvorstand hervorhob und die Ehefrau sowie die Kinder von seinen Entscheidungen abhängig machte, verschob sich deutlich in Richtung einer gemeinsamen Verantwortung und Entscheidungsfindung, in die häufig auch die Kinder einbezogen werden (vgl. Schneider 2012). Zudem ist das normative Grundverständnis der Familie heute offener, flexibler und individueller: Was als Familie verstanden und gelebt wird, obliegt weitestgehend den Familienmitgliedern (vgl. ebd.). Stetige Wandlungsprozesse und kulturelle Variationen können demnach als charakteristisch für die Lebensform Familie angesehen werden. Trotz der verschiedenen gegenwärtigen Ausprägungen von Familien lassen sich kulturübergreifend drei wesentliche Aspekte nachzeichnen. Dies betrifft zunächst die biologisch-soziale Doppelnatur der Familie, die die Reproduktionsfunktion mit der kulturell variablen Sozialisationsfunktion verbindet. Darüber hinaus ist einer Familie ein besonderes Kooperations- und Solidaritätsverhältnis (vgl. Walper 2007) zwischen den engeren und weiteren Familienangehörigen, d.h. unterschiedlichen Geschlechtern und Generationen eigen. Drittes Merkmal einer Familie besteht in der Generationendifferenzierung (vgl. Nave-Herz 2007), die den gemeinsamen Haushalt als Bezugspunkt aber nicht als Voraussetzung für familiale Kooperationen oder Generationenbeziehungen ausweist. Neben der bereits angesprochenen Reproduktions- und Sozialisationsfunktion werden der Familie vier weitere Funktionen zugeschrieben, die teilweise kultur- und zeitabhängig sind. Dazu zählt (a) die Existenzsicherungs- und Produktionsfunktion, (b) die Regenerations- und Freizeitfunktion, (c) die Erziehungsfunktion sowie (d) die Platzierungsfunktion, die eine Statussicherung, insbesondere durch Bildungsprozesse, verfolgt. Letztere Funktion zeigt sich in Deutschland im internationalen Vergleich als besonders bedeutsam. Der sozioökonomische Status der Eltern, ihr Erziehungsverhalten sowie die Bildungsaspirationen für die Kinder beeinflussen deren Bildungskarrieren im internationalen Vergleich noch immer sehr deutlich, wie sich unten zeigen wird. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund interessant, dass in Deutschland mehr als 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben, was ca. 19% der Bevölkerung entspricht (vgl. Sinus Sociovision 2007, S. 8). Eine Sensibilisierung gegenüber den unterschiedlichen Charakteristika von Familien mit Migrationshintergrund und deren Sozialisationsbesonderheiten ist damit für Schulen, neben der generellen Auseinandersetzung mit Sozialisationsprozessen, von besonderer Bedeutung.
2 Die Familie im Spiegel aktueller empirischer Perspektiven Die Auseinandersetzung mit Familien findet innerhalb der Forschungstraditionen hauptsächlich in der Soziologie und der Psychologie statt. Auf einer übergeordneten Ebene steht die Auseinandersetzung von Soziobiologie, Strukturfunktionalismus und Austauschtheorien, die Familien insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Eltern betrachten. Erstere befasst sich mit der Partnerwahl, Formen des Zusammenlebens, wie Monogamie oder Polygamie, der Reproduktion und Ehescheidungen – immer mit dem evolutionsbiologischen Blickwinkel der Arterhaltung. Der Strukturfunktionalismus geht davon aus, dass Familien in ihren Funktionen, ihrer Stabilität und Organisation gesellschaftlich bestimmt werden – Bezugspunkt ist hierbei oft die Rollenverteilung der Partner. Austauschtheorien legen demgegenüber einen Schwerpunkt auf die „Balancierung von individuellen Gewinnen und Investitionen […] als entscheidenden Faktor für die Partnerschaft“ (Walper 2007, S. 240).
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Familie als Sozialisationsinstanz
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Weitere theoretische Ansätze gehen über die Partnerschaft hinaus und befassen sich mit allen Mitgliedern von Familien. Die Familiensystemtheorie blickt generell auf die Komplexität und Binnenstruktur von Familien, wobei die jüngsten Forschungsansätze insbesondere die Verbindung der elterlichen Partnerschaftsqualität und Eltern-Kind-Interaktionen betrachten (vgl. Walper 2007). Die Bindungstheorie beschäftigt sich mit Beziehungen zwischen Eltern, Kindern und Partner/ innen, wobei die gesamte Lebensspanne, von einer frühen Eltern-Kind-Verbindung bis hin zu generellen Generationenbeziehungen, betroffen ist. Etwas weniger auf Emotionen fokussiert ist demgegenüber die Rational Choice Theorie. Sie analysiert das Verhalten innerhalb der Familien im Sinne der individuellen Bedürfnisbefriedigung und deren Zielverfolgung (vgl. ebd.). Die Lerntheorie setzt sich mit dem Aufbau von positiven wie negativen Verhaltensweisen und typischen Interaktionsabläufen in Familien auseinander, wobei das Modelllernen sowie der Einsatz von Verstärkungen besonders im Vordergrund stehen (vgl. ebd.). Normative entwicklungsabhängige sowie nicht normative Stressoren und deren Wirkungen auf Familie liegen im Mittelpunkt der Familienstresstheorie. Schwerpunkt bildet dabei die Auseinandersetzung mit den Ressourcen zur Stressbewältigung sowie Situationsbeurteilungen durch Familienmitglieder (vgl. ebd.). Die Familienentwicklungstheorie beschäftigt sich mit „charakteristischen Veränderungen familialer Beziehungen und Interaktionen im Verlauf des Familienzyklus“ (Walper 2007, S. 241), d.h. von dem Beginn einer Partnerschaft bis ins hohe Alter, wobei auch Trennungen und neue Familiengründungen berücksichtigt werden.
3 Die Bedeutung der Familie für den Bildungserfolg der Kinder Bildung, als biographische Grunderfahrung, prägt das kindliche Leben von Anfang an und begleitet es als „lebenslaufbezogener individueller und kollektiver sozialer Herstellungsprozess“ (Büchner 2015, S. 50) über seine gesamte Lebensspanne. Die anfänglich exklusive familiale Bildungswelt wird dabei später durch institutionalisierte Formen der Bildung erweitert, die weitere Personenkreise (bspw. Erzieher/innen, Lehrer/innen, Gleichaltrige) zur Erziehung und Bildung der Kinder hinzuziehen. Die Schule hat somit ebenfalls eine explizite Sozialisationsfunktion. Ihr Einfluss in kognitiver wie affektiver Hinsicht ist dabei unbestritten, wobei die Reichweite des Einflusses der Schule auf die Sozialisation individueller Kinder und Jugendlicher nicht eindeutig definiert ist und einer konstanten Veränderung unterliegt. Die Sozialisation in der Schule berührt einerseits Bereiche, die mit anderen Sozialisationseinheiten, insbesondere der Familie eng verknüpft sind. Andererseits erwartet die Gesellschaft inzwischen von der Schule Verantwortung in Bereichen, die weit über ihr ursprüngliches Mandat zur Wissensvermittlung und zum Kompetenzaufbau hinausreichen und damit den Einflussbereich der Familie beschneiden. Ein Beispiel dafür ist die Tendenz zur Entwicklung von Ganztagsschulen, die neben der Bildung auch die Erziehung und die Freizeitgestaltung eines Kindes oder Jugendlichen beeinflussen. Dass dies nicht nur negativ behaftet sein kann, sondern auch Vorteile bietet, wird insbesondere durch den Blick auf Schüler/ innen mit Migrationshintergrund deutlich, deren Integration in das deutsche Schulsystem auf diese Weise signifikant unterstützt werden kann. Eltern mit Migrationshintergrund, die einen höheren Bildungsabschluss besitzen, betonen in diesem Zusammenhang, dass mehr Ganztagsschulen dazu beitragen können, die im Bildungswesen vorhandenen, von ihnen erlebten, Chancenungleichheiten abzubauen (Barz et al. 2013, S. 6).
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Britta Klopsch, Anne Sliwka und Aleksandra Maksimovic
Obgleich die Schule häufig als zentrale gesellschaftliche Bildungsinstanz wahrgenommen wird, werden Bildungsprozesse in einem erheblichen Maße außerhalb der Schule, insbesondere in der Familie, beeinflusst. Unterschiedliche Studien, allen voran der Coleman Report in den Vereinigten Staaten (vgl. Husen & Postlethwaite 1985; Schneider et al. 2010; Putnam 2015), weisen in diesem Zusammenhang nach, dass institutionalisierte Formen der Bildung die familienabhängigen und lebensweltbezogenen Einflüsse nicht bzw. nur unzureichend kompensieren können – die Herkunftsfamilie bleibt die primäre Instanz für den Bildungserfolg der Kinder. Dabei scheinen insbesondere die mütterliche Sensibilität und Feinfühligkeit, das Bildungsniveau der Mutter, die Qualität der familialen Umgebung und das Familieneinkommen die kindliche Entwicklung zu beeinflussen (vgl. Stamm 2015). Das alltägliche Familienleben und das einer Familie zur Verfügung stehende kulturelle, soziale und ökonomische Kapital prägen nachhaltig Umfang und Zielrichtung der Bildungsanstrengungen (vgl. Bourdieu 1983). Der „Bildungsort Familie“ (Büchner 2015) muss dabei für die Aneignung von Lebensführungsund Lebensbewältigungskompetenzen, wie sie insbesondere im Zusammenhang mit der Alltagsbildung (vgl. Rauschenbach 2009) auftreten, besonders betrachtet werden, wenn soziale Spaltung und soziale Ungleichheit vermieden bzw. vermindert werden und kulturelle Teilhabe und kulturelle Anschlussfähigkeit an eine Wissensgesellschaft erreicht werden sollen (vgl. Büchner 2015; Putnam 2015). Der Zusammenhang zwischen der Sozialisation in der Familie und dem Bildungserfolg des Kindes, so ließ sich vielfach nachweisen, macht 20% bis 25% der Leistungsunterschiede von Schulkindern aus (vgl. Loeb et al. 2004; Stamm 2015). 3.1 Der Einfluss des Bildungshabitus Der für den Erfolg benötigte Bildungshabitus, der „viele (selbstverständliche) Voraussetzungen für anspruchsvolle schulische (aber eben auch außerschulische) Lernprozesse wie sprachliche Differenzierung im Ausdruck, Aufmerksamkeit für Informationen, sozial kompetente Interaktionsformen, Belohnungsaufschub, Konzentrationsfähigkeit, Neugier und Initiative“ (Büchner 2015, S. 4), umfasst, wird im deutschen Schulsystem vielfach vorausgesetzt. Eine angemessene familienergänzende Betreuung, die einige Studien im Zusammenspiel mit einer innerfamiliären Betreuung als zentral für die kindliche Entwicklung herausstellen (vgl. Sylva et al. 2007), könnte zur Veränderung eines solchen Bildungshabitus bei den Kindern beitragen. Der Einfluss der außerfamilialen Betreuung lässt sich dabei besonders im Zusammenhang mit der sprachlichen und mathematischen Entwicklung bei Vorschulkindern nachweisen (vgl. Magnuson et al. 2004), wenngleich diese Bereiche noch deutlicher durch den familiären Hintergrund geprägt werden (vgl. Stamm 2015). Die Bildungsbedeutsamkeit der Familie tritt insbesondere in den Vordergrund, wenn in familienübergreifenden kulturellen und sozialen Settings Interdependenz- und Kräfteverhältnisse entstehen, die individuelle Potenziale zur Auseinandersetzung mit Bildungsformaten aufdecken. Bildungsprozesse und Bildungsverläufe vollziehen sich im sozialen Miteinander durch Anregungen, Initiierungen und Unterstützungen und damit auch im sozial-emotionalen Bereich. Ausgehend von den Möglichkeitsräumen einer Familie bildet sich dabei auf der Basis der Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensmuster ein jeweils spezifischer Habitus (vgl. Büchner 2015). Sozio-ökonomisch schwache und risikobehaftete Familien, die wenig förderliche Lernumgebungen bereitstellen, müssten damit für die Entwicklung ihrer Kinder einen besonderen Schwerpunkt auf eine kompensierend wirkende familienergänzende Betreuung legen – die Realität zeigt jedoch auf, dass genau diese Familien solche Angebote und Einrichtungen deutlich weniger nutzen als das privilegierte Familien tun (vgl. Stamm 2015).
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Familie als Sozialisationsinstanz
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Insbesondere bei Kindern der Mittelschicht konnte ein Bildungshabitus nachgewiesen werden, der im Schulalltag „weitgehend problemlos anerkannt und honoriert werde“ (Büchner 2015, S. 6). Andere Kinder, deren Bildungshabitus im Schulalltag weniger anschlussfähig ist, werden im Gegensatz dazu als „bildungsarm“ dargestellt. Die Passung einer in Familien angeeigneten Bildung und der Bildungsanforderungen schulischen Lernens sollte folglich von Anfang an in Schulen berücksichtigt werden. Ausgangspunkt ist dabei ein wertschätzender Umgang mit individueller Unterschiedlichkeit, die soziale und kulturelle Heterogenität als Gewinn betrachtet und dazu beiträgt Kinder und Jugendliche chancengerecht zu fördern. Vor allem im Hinblick auf die Eingliederung von Kindern und deren Familien mit Migrationshintergrund in die Gesellschaft ihres Wahllandes, spielt Bildung eine herausragende Rolle. Sprachkenntnisse sowie der Gebrauch der Zielsprache sind die wichtigsten Kennzeichen der Integration in eine Gesellschaft. Die Sprachfähigkeit dient dabei als Grundvoraussetzung für einen interkulturellen Kontakt und wirkt sich damit unweigerlich auf die Anbindung der Migrant/innen an die Gesellschaft des Wahllandes und sein Wertesystem aus (vgl. Idema & Phalet 2007; Sinus Sociovision 2008, S. 4). Eine gezielte Förderung der Kinder, die Deutsch nicht als Muttersprache haben, ist damit von ausschlaggebender Bedeutung. Im Hinblick auf den Bildungshabitus muss hierbei auch berücksichtigt werden, dass, unabhängig von den Sprachkenntnissen der Kinder, unterschiedliche fremd- und muttersprachliche Sprachniveaus von Eltern bereits einen Bildungshabitus entstehen lassen, der sich auf den Bildungsprozess der Kinder auswirkt. 3.2 Die Vermittlung des Bildungshabitus Der Blick auf ein spezifisches soziales Kapital innerhalb einer Familie sowie auf die elterlichen Einflüsse auf die Motivation und das Engagement, sich mit Lernprozessen auseinanderzusetzen (vgl. Bempechat & Shernoff 2012; Usher & Kober 2012), ist zusätzlich die Voraussetzung dafür, allen Kindern faire Bildungschancen zu bieten. Bempechat und Shernoff (2012) wiesen hierbei nach, dass die Sozialisationsstrategien von Eltern, die auf Bildungsprozesse ausgerichtet sind, auf zwei miteinander verbundenen Ebenen angesiedelt sind. Zunächst richten die Eltern ihre Bemühungen auf die kognitive Entwicklung, um intellektuelle Fähigkeiten anzubahnen, die die Kinder für eine erfolgreiche Bewältigung ihrer Schullaufbahn benötigen. Daneben nutzen Eltern viele fast unmerkliche Strategien, um die Einstellung des Kindes zum Lernen, seine Motivation, seine Ausdauer, seine Sorgfalt und seinen Fleiß zu beeinflussen. Diese Strategien treten innerhalb der folgenden drei Handlungsfelder auf (vgl. Bempechat & Shernoff 2012, S. 325): • dem Erziehungsstil, • der Begleitung von und Hilfestellung der Eltern bei Hausaufgaben, • der Vermittlung des Wertes von Bildung. Der Erziehungsstil einer Familie wird primär von dem sozialen Kontext der Familie und ihren ethischen Haltungen geprägt (vgl. Brooks-Gunn & Markman 2005). Ein unterstützender, warmer und von transparenten Regeln geprägter, sogenannter „autoritativer“ Erziehungsstil führt in der Regel zu einer positiven Entwicklung des Kindes, die mit einer positiven Bildungsbiographie einhergeht, während im Zusammenhang mit einem inkonsequenten und harschen Erziehungsstil oftmals eine negative Entwicklung steht (vgl. Conger et al. 2010 zit. nach Hasselhorn et al. 2014).
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Untersuchungen in den Vereinigten Staaten zeigen, dass ein Zusammenhang zwischen dem Leben in einer armen Nachbarschaft, in der Gewalt und eingeschränkte soziale Ressourcen den Alltag dominieren sowie einem Mangel an positiver Erziehung besteht. Eltern in diesen Lebensumständen scheinen viele Sorgen um die Sicherheit der Kinder zu haben, wodurch die Unterstützung zur Aneignung von Bildung in den Hintergrund tritt (vgl. Bempechat & Shernoff 2012). Forschungsergebnisse bestätigen die Rolle stimulierender Familienumwelten und damit zusammenhängender Familienaktivitäten (kulturelle Handlungen wie Vorlesen, Museen besuchen usw.) als Mediator zwischen der sozialen Herkunft und den Leistungen der Kinder (vgl. Hasselhorn et al. 2014). Auch die Sprache, die zu Hause gesprochen wird, bzw. die Kommunikation über und innerhalb gemeinsamer Aktivitäten hat großen Einfluss auf die sprachliche Kompetenz und auf Bildungsresultate (vgl. Umek, Podlesek & Fekonja 2005 zit. nach Hasselhorn et al. 2014). In diesem Zusammenhang konnte gezeigt werden, dass die Komplexität und Fülle an sprachlichem Input durch Eltern nach wie vor in hohem Maße mit dem sozialen Hintergrund der Familie korreliert (Hoff 2006). Insbesondere im Hinblick auf den Sozialisationskontext von Familien mit Migrationshintergrund ist dies von ausschlaggebender Bedeutung. Eine Untersuchung zu Milieus der Migrant/innen in Deutschland (vgl. Sinus Sociovision 2007) konnte eine große Bandbreite an Familienumwelten und -aktivitäten aufzeigen, die mit kulturellen Inhalten unterschiedlicher Milieus verbunden sind. Familien mit einer Lebensweise im Stile archaischer Traditionen leben beispielsweise in kulturellen Enklaven ohne Bereitschaft zur Integration, während Familien, die eine moderne Ausrichtung ihres Umfelds anstreben, oftmals bi- und multikulturelle Lebenswelten entstehen lassen, die eine positive Auswirkung auf die Einstellung und Integration der Kinder haben (vgl. ebd.). Als entscheidende Stütze zur Entwicklung eines positiven Bildungshabitus gilt die Unterstützung bei Hausaufgaben und weiteren Lerngelegenheiten (vgl. Wild & Wieler 2015; Bempechat & Shernoff 2012), indem nicht nur der Lernprozess als solcher begleitet wird, sondern auch Zeitmanagement, Problemlösestrategien, die andauernde Konzentration auf eine Aufgabe sowie die Minimierung von Ablenkungen trainiert werden und die emotionale Bewältigung schulischer Misserfolge begleitet wird. Lernen wird so für die Kinder zu einem Prozess, in dem die subjektive kindliche Erfahrung durch die Interaktion mit den Eltern ko-konstruiert wird. In diesem Zusammenhang konnte nachgewiesen werden, dass eine befürwortende Einstellung der Eltern zu Hausaufgaben einen positiven Einfluss auf die Einstellungen und die akademischen Leistungen der Kinder hat (vgl. Bempechat & Shernoff 2012). Unterschiedlichen Herkunftsmilieus kann in diesem Zusammenhang eine unterschiedliche Tiefe des Interesses zugeschrieben werden, das sich von einem rein formalen Interesse an der Erledigung von Hausaufgaben im „religiös-verwurzelten Milieu“ (Barz et al. 2013, S. 5) bis hin zu „sämtliche[n] Möglichkeiten der Unterstützung von der Hausaufgabenbetreuung über gemeinsames Lernen bis hin zu Begleitung von Klassenfahrten“ (ebd.) in der bürgerlichen Mitte erstreckt – unabhängig davon, ob die Kinder aus deutschen Familien oder Familien mit Migrationshintergrund stammen. Als größter Einflussfaktor auf die kindliche Bildungseinstellung lässt sich die Einstellung der Eltern zu Bildung, die sie explizit und implizit vorleben, definieren. Eltern, die beispielsweise nur sagen, dass die Schule wichtig ist, sich aber nicht aktiv für schulische Lernprozesse interessieren, vermitteln den Eindruck, dass sie keine Zeit für die Schule haben, was sich auf die Kinder auswirken kann. Forschungen zur Beteiligung der Eltern an der schulischen Bildung zeigen, dass “parent expectations, communicated through parental sacrifice, low stress communication, and a shared valuing of education, were more powerful in predicting academic outcomes than
Familie als Sozialisationsinstanz
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open communication, in which parents and children freely express themselves without fear of retribution” (Bempechat & Shernoff 2012, S. 328). Darüber hinaus konnte nachgewiesen werden, dass die Erwartungen der Eltern gemeinsam mit ihren bildungsbezogenen Einstellungen und ihrem Erziehungsstil die Motivation der Kinder stark beeinflussen. Eltern, die ihre Kinder dazu ermuntern, mehr zu lernen, die an die Fähigkeiten ihrer Kinder glauben und hohe Erwartungen formulieren, können dazu beitragen, dass die Kinder eine intrinsische Lernmotivation entwickeln. Eltern, die ihre Kinder basierend auf einer strengen Kontrolle belohnen oder bestrafen sowie Ärger und negative Emotionen ihren Kindern direkt zeigen, entmutigen diese oftmals, sodass sich keine intrinsische Lernmotivation entwickeln kann (vgl. ebd.).
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4 Fazit Die Familie bestimmt als Sozialisationseinheit maßgeblich den Bildungserfolg von Kindern. Die Vermittlung von Werten und Einstellungen geschieht von der Geburt an und führt zur Entwicklung eines Bildungshabitus, der oftmals schon vor Schuleintritt ausgeprägt ist. Eltern wie gesamte Familienkonstellationen müssen daher stärker in frühkindliche wie auch schulische Bildungsprozesse eingebunden werden. Sie sollten eine dem Fachpersonal gegenüber gleichberechtigte Rolle einnehmen und ein individuelles, auf die kindliche Entwicklung sowie die kulturelle und soziale Herkunft abgestimmtes Bildungsangebot erfahren, um ihren Kindern reichhaltige Bildungserfahrungen und faire Bildungschancen ermöglichen zu können. Literatur
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1 Jugend Mit Jugend wird in unterschiedlichen Disziplinen und Wissenschaftstheorien der Lebensabschnitt zwischen Kindheit und Erwachsensein bezeichnet. Als Begriff der ersten Moderne wurde der Jugendbegriff im Zuge fortschreitender Industrialisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert konstruiert und kann sich ab Mitte des 20. Jahrhunderts zur Markierung einer eigenständigen biografischen Lebensphase durchsetzen. Als zentrale Kriterien dieser Phase gelten vor allem biologische und psychologische Entwicklungen zwischen ‚Nicht-mehr-Kind-‘ und ‚Noch-nicht-Erwachsen-Sein‘. Heute wird sie häufig als von der besonderen Anforderung geprägt beschrieben, Entwicklungsaufgaben zwischen sozialer Integration und Individuation bewältigen zu müssen (vgl. Hurrelmann 2012, S. 99), aber auch als Phase der Identitätsbildung bzw. Identitätsarbeit (vgl. Keupp et al. 2013), welche mit der Suche nach Orientierung und des Sich-Ausprobierens einhergeht. Insbesondere aus jugendsoziologischer und erziehungswissenschaftlicher Perspektive wird darauf hingewiesen, dass individualisierende und naturalisierende Betrachtungsweisen, die chronologisch erfolgende Entwicklungsschritte voraussetzen, zu kurz greifen. In Anbetracht von
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Jugend und Peers
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Prozessen gesellschaftlicher Globalisierung, Individualisierung und Pluralisierung wird vielmehr davon ausgegangen, dass eine Betrachtung dieser Lebensphase nicht ohne die intensive Berücksichtigung von sozialen Strukturen und gesellschaftlichen Verhältnissen erfolgen kann, in welche die Jugend in vielschichtiger Weise eingebettet ist. Auch eine deutliche Abgrenzung der Lebensphase Jugend erscheint angesichts der Kontingenz individueller Entwicklungen und der Vervielfältigung von Lebenswirklichkeiten und Lebenswegen, kaum mehr möglich zu sein. So gehen etwa mit der zunehmenden Flexibilisierung von Bildung und Arbeit sowohl sich verändernde Lebensentwürfe, Ablösungs- und Autonomieprozesse als auch eine Ausdehnung der Lebensphase Jugend einher. Die Jugendphase ist daher als uneinheitlich, als von Überlagerungen und Ungleichzeitigkeiten in unterschiedlichen Feldern von rechtlichen Bestimmungen, Mündigkeit und Entwicklung geprägt zu beschreiben (vgl. Ferchhoff 2011, S. 95f ). Jugend verweist also einerseits auf eine Lebensphase, meint in Wissenschafts- wie Alltagsdiskursen andererseits aber auch die gesellschaftliche Teilgruppe jener, die sich in eben dieser Phase befinden. Mit der Verwendung des Jugendbegriffes geht daher immer auch die Gefahr einher, eine (z.B. Altersoder Entwicklungs-)Homogenität dieser sozial konstruierten Gruppe nahezulegen. Angesichts komplexer soziostruktureller und -kultureller Voraussetzungen, welche das Aufwachsen Jugendlicher rahmen, ist die Jugendphase jedoch überaus heterogen. Einige Autor/innen versuchen dies deutlich zu machen, indem sie nicht von ‚der Jugend‘ im Singular, sondern von Jugenden sprechen (vgl. Scherr & Schäfers 2005; Tamke 2008). Dem Aspekt der Handlungsfähigkeit wird in sozialwissenschaftlichen Jugendtheorien seit den 1980er Jahren vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. Jugendliche werden als handelnde Subjekte in den Blick genommen, die sich im Rahmen je spezifischer alltagsweltlicher, sozial strukturierter Bedingungen und daraus resultierender Handlungs- und Orientierungsmöglichkeiten mit sozialen Anforderungen, identitären Angeboten und sozialen Zugehörigkeitskontexten interpretierend und handelnd auseinandersetzen und auf diese Weise nicht nur die eigene Biographie, sondern auch soziale Räume und Lebenswelten mitgestalten. Im öffentlichen Diskurs findet das Gestaltungspotenzial von Jugend mitunter auch in einem normativ aufgeladenen Begriff seinen Ausdruck, wenn ‚die’ Jugend als gesellschaftliche ‚Hoffnungsträgerin‘ oder auch als gesellschaftliches ‚Problem‘ (vgl. Griese 2012) konstruiert wird – wobei hier jeweils unterschiedliche Gruppen von Jugendlichen assoziiert und von Forschung in den Blick genommen werden (s.u.). Die Räume des Erfahrens und Handelns Jugendlicher sind zum einen von komplexen und zunehmend ausdifferenzierten kapitalistischen Verhältnissen geprägt, die sowohl Chancen als auch Zumutungen bereithalten. Zum anderen sind sie von vielfältigen gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen durchzogen, die mit Privilegierungen und Benachteiligungen, mit weiteren oder engeren Handlungsspielräumen für die Einzelnen, die in diesen Verhältnissen je spezifisch positioniert sind, einhergehen. Innerhalb der Jugendforschung wird in diesem Zusammenhang auch von einer Segmentierung der Gesellschaft ausgegangen, deren Konsequenzen eine soziale Aufspaltung auch von Jugend und damit verbundene ungleiche Handlungsmöglichkeiten und Lebenschancen sind (vgl. Held, Horn & Marvakis 1996). Angesichts der Allgegenwärtigkeit gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse können viele Jugendliche den vielfältigen Erwartungen und Ansprüchen, die heute von unterschiedlichen Seiten an sie gestellt werden, kaum gerecht werden. Im Hinblick auf Bildung und Arbeitsmarktintegration beinhalten diese Anforderungen neben einer umfangreichen formalen Bildung zunehmend auch sogenannte interkulturelle Kompetenzen bzw. die Fähigkeit in heterogenen Gruppen zu interagieren (OECD) sowie spezifische Sprachkenntnisse und Auslandserfahrungen. Letztere werden etwa in Form internationaler Jugendarbeit, europäischer Freiwilligendienste, Schüler/innenaustausch oder Sprachkursen im Ausland auch vermehrt angeboten. Allerdings haben längst nicht alle Jugendli-
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chen die gleichen Zugänge und Möglichkeiten, hier zu partizipieren. Denn solche oder ähnliche Angebote zu interkultureller Bildung oder globalem Lernen richten sich – meist implizit – vor allem an Jugendliche der Mehrheitsgesellschaft aus einem bildungsaffinen Kontext, die hier etwas über ‚die Anderen‘ oder den Umgang mit diesen lernen sollen. Jugendliche, die familiäre oder eigene Migrationserfahrungen mitbringen, aber auch solche aus sozioökonomisch benachteiligten Lebenslagen werden kaum adressiert und nehmen weitaus seltener an entsprechenden Maßnahmen teil. Jedoch werden in den letzten Jahren vermehrt Anstrengungen unternommen, diese stärker einzubeziehen.
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2 Peers Als Cliquen, Freundschaftsgruppen, Gleichaltrigengruppen, Peer-Groups oder Peers werden in der Regel Gruppen von Jugendlichen bezeichnet, die miteinander in direkter Beziehung stehen und sich, z.B. aufgrund gleicher Interessen oder geteilter sozialer Zugehörigkeiten, miteinander verbunden fühlen. Peers bzw. jugendkulturellen Szenen und Räumen wird eine erhebliche Bedeutung für das Heranwachsen zugesprochen, z.B. mit Blick auf soziales Lernen, informelle Bildung und schulische Bildungsbiografien, Alltags- und Problembewältigung, Ablösungs- und Emanzipationsprozesse oder Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung, aber auch im Hinblick auf riskante und deviante Verhaltensweisen. Sie gelten als relevante Instanz von Bildungs-, Sozialisations- und Individuationsprozessen, da sie Jugendlichen in besonderer Weise ermöglichen, sich zu gesellschaftlichen Erwartungen und herkunftsfamiliären Lebensentwürfen in Beziehung zu setzen. Im Kontext sozialer Beziehungen unter Gleichaltrigen, weitgehend frei von der Kontrolle durch Erwachsene und ihre Institutionen, bieten Peerzusammenhänge Jugendlichen vielfältige Möglichkeiten, Selbstbilder zu entwerfen, Orientierung zu suchen und Lebensentwürfe zu entwickeln, sich zu inszenieren und auszuprobieren, mit Grenzen zu experimentieren und Beziehungen, Zugehörigkeiten und soziale Wirklichkeiten zu verhandeln und (neu) zu gestalten. Dabei können Freundschaftsbeziehungen bzw. Peers einerseits als soziale Räume beschrieben werden, in denen Jugendliche Strukturen sozialer Anerkennung, Zugehörigkeit und Solidarität etablieren und erfahren können. Anderseits wird jedoch auch betont, dass jugendkulturelle Räume keineswegs frei von Hierarchien und gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen sind: Kämpfe um Anerkennung, Prestige und Privilegien kommen auch hier zur Geltung; Normierungen, Stereotypisierungen und Machtverhältnisse werden aufgegriffen, verhandelt, reproduziert oder transformiert. Abgrenzungen und Anpassungsdruck innerhalb von Peers sowie gegenüber anderen (Jugend-)Gruppen und damit einhergehende Ab- und Aufwertungen, Ein- und Ausgrenzungen werden als Bestandteil jugendkultureller Räume thematisiert. Das Verhandeln und Erfahren von Zugehörigkeit gehört zu den zentralen Funktionen von Peers. Im Gruppenprozess können sozial geteilte Perspektiven und Deutungen auf soziale Wirklichkeit hergestellt und erfahrbar gemacht werden. Dabei können sowohl der Gleichaltrigenzusammenhang, als auch gesellschaftliche Zugehörigkeitsverhältnisse wie soziale Herkunft, Geschlecht oder ein ‚Migrationshintergrund‘ eine zentrale Rolle spielen. Obwohl dies nicht bedeuten muss, dass Peers sich ‚zugehörigkeitshomogen‘ zusammensetzen (das Gegenteil ist meist der Fall), ist zu beobachten, dass sich marginalisierte und ausgegrenzte Jugendliche, unter ihnen häufig Jugendliche mit Migrationsgeschichte, zusammenschließen (vgl. Wetzstein 2005, S. 158/189). Für Jugendliche, denen vor dem Hintergrund von Herkunfts- und Nationalstaatslogiken die selbstverständliche Zugehörigkeit im Zugehörigkeitskontext Deutschland verweigert wird, weil sie als (ethnisch, national, religiös oder kulturell) ‚Andere‘ gelten, können Peers als Gegenhorizont zu gesellschaftlich vermittelten Nicht-Zugehörigkeits- und Rassismuserfahrungen fun-
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Jugend und Peers
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gieren. Als soziale Räume „lokaler Normalität“ (Dausien & Mecheril 2006, S. 170) stellen sie potenziell Kontexte dar, in denen Jugendliche nicht als ‚Andere‘, sondern als Gleiche gelten und Diskriminierungserfahrungen teilen und bearbeiten können. Angesichts der Dominanz gesellschaftlicher Ein- und Ausgrenzungsverhältnisse, die auch eine (weitere) Marginalisierung dieser Zusammenschlüsse bedeuten, wird ihre Bedeutung für Jugendliche jedoch auch als ambivalent beschrieben. Da gesellschaftliche Heterogenität häufig mit dem Fokus auf migrationsrelevante Differenzkategorien analysiert und beschrieben wird, besteht hier immer auch die Gefahr, eines reduktionistischen sowie Binaritäten (re-)produzierenden Blicks. In diesem Zusammenhang geraten Jugendliche entlang der Differenzlinie ‚mit Migrationshintergrund‘ (vorrangig) und ‚ohne Migrationshintergrund‘ (weitaus weniger explizit) in den Blick. Diese Einordnung in und Herstellung von dichotomen, in sich geschlossenen Kategorien sowie die damit einhergehende Ausblendung anderer Zugehörigkeiten, werden in öffentlichen, aber auch wissenschaftlichen Diskursen hergestellt und sind, ebenso wie die Bezeichnungen selbst, aufgrund ihres festlegenden Charakters durchaus schwierig. Dies zeigt sich auch im Kontext Interkultureller Bildung, in der entsprechende (kulturelle, nationale, ethnische usw.) Unterscheidungen sowie Fokussierungen konzeptionell angelegt sind, aber auch in der Jugendforschung, in der migrationsgesellschaftliche Verhältnisse lange Zeit ausgespart wurden.
3 Jugend im Kontext von Migrationsforschung Dass in der Jugendforschung die diversen und ausdifferenzierten Lebenslagen von Jugendlichen in der Migrationsgesellschaft lange Zeit weitgehend unberücksichtigt blieben, zeigt sich u.a. am Sample von großen repräsentativen Jugenduntersuchungen, wie beispielsweise der für die Jugendforschung in Deutschland bedeutsamen Shell-Jugendstudie oder auch der Studien des Deutschen Jugendinstituts (DJI), die sich bis zur Jahrtausendwende ausschließlich mit ‚deutschen‘ Jugendlichen beschäftigten. Nachdem diese national- und ethnozentristische Gleichsetzung von Jugend mit ‚einheimischen‘ Jugendlichen kritisiert sowie die Berücksichtigung von Jugendlichen mit Migrationsgeschichte eingefordert wurde, ist diese Gruppe vermehrt zum Gegenstand einer besonder(nd)en Beobachtung geworden. Jugendliche aus Einwanderungsfamilien wurden im Rahmen von Sonder- oder Teilstudien untersucht, bevor sie zum integralen Bestandteil von repräsentativen Studien wurden. Die zunehmende Thematisierung von migrationsgesellschaftlichen Differenzen spiegelt sich auch in einer semantischen Begriffsverschiebung im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs wieder und korrespondiert mit entsprechenden Forschungsfoki: Wurde bis Anfang der 1990er Jahre in Deutschland noch pauschal von ‚ausländischen Jugendlichen‘ gesprochen und mit dieser Kategorie geforscht, setzte sich (auch in statistischen Erhebungen) der Begriff ‚Jugendliche mit Migrationshintergrund‘ immer mehr durch. Dieser Begriff wurde zwar im Bemühen um eine Ausdifferenzierung eingeführt, aber auch er bleibt in einer binären Logik verhaftet. Auch in der Forschung bleibt der Fokus auf einen nationalstaatlich und kulturell kodierten Herkunftskontext erhalten. Bis in die 1990er Jahre hinein wurden v.a. Kinder von sog. ‚Gastarbeiter/innen‘ entsprechend ihres (vermeintlichen) nationalstaatlichen Herkunftskontextes, als türkische, italienische, griechische usw. Jugendliche, in den Blick genommen. Durch die Auflösung der politischen Blockbildung sowie der damit einhergehenden Öffnung Osteuropas und der Sowjetunion in den 1990er Jahren kam es in und nach Deutschland zu neuen Migrationsbewegungen, in deren Konsequenz sogenannte jugendliche Aussiedler/innen, denen ein verstärkter Integrationsbedarf zugeschrieben wurde, in den Fokus gerieten. Zu Beginn des
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neuen Jahrtausends, einhergehend mit der gesteigerten Thematisierung und Problematisierung des Islams im öffentlichen Diskurs, rückte die Gruppe der als ‚muslimisch‘ bezeichneten Jugendlichen in den Mittelpunkt des politischen und medialen Interesses. Entsprechend hat sich in den letzten zehn Jahren auch die Jugendforschung vermehrt dieser, als ‚muslimische Jugendliche‘ kategorisierten Gruppe bzw. dem Islam zugewandt. Damit verbunden ist die einseitig auf den Islam konzentrierte Thematisierung von religiösem Fundamentalismus. Auf die genannten (konstruierten) Gruppen konzentrieren sich auch die empirischen Untersuchungen im Kontext von Jugend und Migration. Wenig Berücksichtigung findet in der Forschung hingegen die Situation von jugendlichen Geflüchteten oder Minderheiten, wie z.B. Sinti und Roma. Auch die Lebenswelten und Perspektiven von Jugendlichen of color, die nicht unbedingt eigene oder familiale Migrationserfahrungen haben, jedoch mit Rassismus konfrontiert sind, bleiben zumindest in der deutschsprachigen Jugend- und Migrationsforschung weitgehend unberücksichtigt. Trotz semantischer und thematischer Verschiebungen bleibt im Rahmen dominanter Diskurse der ausgrenzende Fokus auf Jugendliche, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, bestehen. Dies wird nicht nur der Vielfalt der Lebenssituationen und Perspektiven von Jugendlichen insgesamt nicht gerecht, sondern macht bestimmte Jugendliche durch diese Hervorhebung auch zu ‚Anderen‘ (vgl. Mecheril 2010). Sowohl in öffentlichen als auch in wissenschaftlichen Diskursen erfolgt eine defizitäre und kulturalisierende sowie problematisierende Betrachtung von Jugend im Kontext von Migration. Vor allem männlichen ‚Migrationsjugendlichen‘ wird gewalttätiges, deviantes und kriminelles Verhalten sowie die Verstrickung in Banden- und Gruppenkonflikte attestiert und darüber hinaus versucht, diese Phänomene unter Bezugnahme auf ethnisierende Deutungsmuster zu erklären. Diese Diskurse korrespondieren mit wissenschaftlichen Studien, die entsprechende Deutungsmuster liefern, indem sie sowohl eine Überbetonung von als auch eine Engführung auf ‚Kultur‘ und ‚Religion‘ vornehmen, wenn es um die Betrachtung von Lebenslagen und Handlungsweisen von Jugendlichen geht. Allerdings wurde auf diese Tendenzen im Wissenschaftskontext auch mit kritischen Gegenstimmen reagiert (vgl. z.B. Bukow & Ottersbach 1999; Badawia, Hamburger & Hummrich 2003). Im Kontext von Migrationsforschung und interkultureller Forschung sind in ähnlicher Weise Diskurse und theoretische Perspektiven auf Jugend und Migration zu verzeichnen. Hier war u.a. im Zuge einer ‚ausländerpädagogischen‘ und später einer ‚interkulturellen‘ Ausrichtung, in den 1970er bis 1990er Jahren eine kulturalisierende Defizitperspektive vorherrschend. Zentral für diese Perspektive sind zwei Paradigmen: der Topos der Kulturdifferenz oder eines ‚bikulturellen Identitätskonflikts‘, auf dessen Folie die Situation von Jugendlichen betrachtet wurde, sowie das ‚Modernitäts-Traditionalitäts-Paradigma‘, das von einer bipolaren Gegenüberstellung von Aufnahme- und Herkunftsland sowie einem diesbezüglichen Modernisierungsgefälle ausgeht. Solche differenzbezogenen Perspektiven, durch die ‚Andere‘ konstruiert und durch symbolische Ordnungen reproduziert werden, sind nach wie vor, wenn auch nicht immer so explizit, relevant. Ein durchgängiges Thema in der Beschäftigung mit Jugend, Peers und Migration ist das der ‚Integration‘ sowie des inter-/multi-/transkulturellen Zusammenlebens. In diesem Zusammenhang entstanden u.a. Studien zu interethnischen Freundschaften, die an diesem Differenzdenken ansetzen und nach der Bedeutung von heterogenen Peers für das ‚interethnische Zusammenleben‘ fragen (vgl. z.B. Reinders 2010). Ab Ende der 1980er Jahre überlagern Kompetenz- und Ressourcenperspektiven die Thesen von Identitätsdiffusion und Kulturkonflikten und ab den 1990er Jahren werden empirische und konzeptionelle Gegenentwürfe konzipiert (vgl. bspw. von Otyakmaz 1995; Badawia 2002). Mit dieser Entwicklung ist zumindest in Teilen der Forschung eine verstärkte Einbeziehung der
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Subjektivität Jugendlicher, ihrer Potentiale und Perspektiven, aber auch der strukturellen und sozioökonomischen Verhältnisse verbunden, in denen Jugendliche (gleich welcher Herkunft) in der Migrationsgesellschaft leben. Dementsprechend nahm um die Jahrtausendwende die Bedeutung von qualitativen Studien zu und es wurden narrative und biographische Zugänge gewählt. Gleichzeitig erfolgten u.a. durch Bezüge auf die Cultural Studies Blickverschiebungen hin zu Zugehörigkeitsfragen (vgl. Mecheril 2003; Riegel & Geisen 2007). Auch in Abgrenzung zu kulturalistischen Perspektiven wurde die Bedeutung des lokalen sowie des transnationalen Raums ins Zentrum gerückt. Mit Blick auf die Transnationalisierung der sozialen Welt (Pries 2010) wurden in der Forschung zu Jugend zunehmend Ressourcen und Potentiale von Mobilität und Migration thematisiert. Bildung als Ressource, die über gesellschaftliche Teilhabe entscheidet, rückte Mitte der 2000er Jahre ins Zentrum qualitativer Migrations- und Jugendforschung, wobei hier ein verstärktes Interesse an den Bildungsbiographien von als erfolgreich geltenden jungen Migrant/innen bestand. Auch geschlechtertheoretische Perspektiven fanden nun zunehmend Eingang in die Forschung: Galt der Fokus zunächst Mädchen und jungen Frauen mit Migrationsgeschichte, galt das Interesse späterer Studien auch männlichen Jugendlichen. Intersektionale Perspektiven flossen hier vermehrt mit ein. Diese Studien können auch als Gegendiskurs zu defizitorientierten und problematisierenden Perspektiven auf Jugendliche gelesen werden. In der jüngeren Vergangenheit wurden verstärkt Subjektivierungsprozesse in rassistischen Verhältnissen thematisiert. In verschiedenen Studien wird deutlich, dass Formen rassistischer Ausgrenzung zum Alltag von denjenigen, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, gehören und folgenreich für deren Lebensgestaltung und Lebenschancen sind.
4 Fazit Die in öffentlichen Diskursen und wissenschaftlichen Forschungen über Jugend etablierten Betrachtungsweisen und hervorgebrachten Bilder, ihre Fokussierungen und Problematisierungen manifestieren sich auch in Konzepten der Interkulturellen Pädagogik und Bildung. Dabei ist zu beobachten, dass Perspektiven, die in der migrationswissenschaftlichen Fachdebatte weitgehend als überholt gelten, sich in pädagogischen Ansätzen und Fachdiskursen mitunter hartnäckig halten. Zwar konzentrieren sich mittlerweile viele Konzepte Interkultureller Pädagogik auf gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse und benachteiligende strukturelle Bedingungen, dennoch sind nach wie vor kulturalistische Konzepte, bspw. in der Internationalen Jugendarbeit, dominant, obwohl Kritik an diesen sowie alternative, etwa diversitätsbewusste oder rassismuskritische Betrachtungsweisen bereits seit längerem bestehen. Allerdings wird insgesamt in der Interkulturellen Bildung das Phänomen der Jugend – wenngleich Jugendliche eine wichtige Zielgruppe darstellen – wenig expliziert, was u.a. mit der vorwiegenden Konzentration auf den Bildungskontext Schule zu erklären ist, in dem Jugendliche primär als Schüler/innen konzeptionalisiert werden. Literatur
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Manuela Westphal
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70 Eltern als Bildungspartner Manuela Westphal
1 Aktuelle Relevanz von (interkultureller) Elternbildung Elternbildung erfährt seit den 2000er Jahren vor dem Hintergrund sozialer und demographischer Entwicklungen, wie dauerhafte Migrations- und Integrationsprozesse, gewandelten Familienstrukturen und -dynamiken, neuen Geschlechterrollenarrangements, abnehmendem Erfahrungswissen von Eltern im Umgang mit Kindern sowie zunehmender Armutsgefährdung, einen Bedeutungszuwachs. Erziehungswissenschaftliche Praxis und Theorie können dabei auf eine lange Tradition der Elternbildung in Erwachsenen-/Familienbildung und Sozialpädagogik zurückblicken. Institutionelle Wurzeln der Elternbildung liegen u.a. in den Mütterschulen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aus denen ab den 1960er Jahren die Familienbildungsstätten hervorgingen (Rupp & Smolka 2007). Trotz früher Forderung aus der Familienbildung wie vorliegender Erfahrung aus interkultureller (feministischer) Frauen-/Weiterbildung und Väterarbeit sowie zahlreicher Praxisprojekte mit Bezug auf Migranteneltern, steckt eine sich an der interkulturellen Pädagogik ausrichtende Elternbildung immer noch in den Anfängen.
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Eltern als Bildungspartner
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Dabei werden mit Elternbildung diverse gesellschaftspolitische Erwartungen verbunden. Flankiert werden diese von einem öffentlich geführten Erziehungsdiskurs, in dem Eltern aufgefordert werden, Mut zur Erziehung zu haben und ihre Erziehungszuständigkeit aktiv und kompetent wahrzunehmen. Bildungspolitisches Ziel ist dabei die Herstellung von Chancengleichheit durch den Abbau herkunfts- und familienbedingter Bildungsbenachteiligungen. Sozial- und familienpolitische Ziele orientieren sich an der Vorbeugung von Armut, psychischer und physischer Gewalt, Vernachlässigung und Entwicklungsstörungen sowie von Krankheiten. Integrations- und Inklusionspolitiker hoffen auf eine verbesserte gesellschaftliche Partizipation und soziale Teilhabe von Eltern und Kindern mit Migrationshintergrund, Behinderung und/oder anderen Benachteiligungen. Dementsprechend ist Elternbildung in aktuellen Erziehungs- und Bildungsplänen, Integrations- und Inklusionskonzepten sowie speziellen Programmen oder Initiativen auf den Ebenen von Bund, Ländern und Kommunen verankert. Der Einfluss von Eltern als Bildungsförderer ihrer Kinder gilt als wissenschaftlich unbestritten und soll daher entsprechend frühzeitig gefördert werden, z.B. mit dem Bundesprogramm „Elternchance ist Kinderchance“ (Walper & Stemmler 2014). Dieses bildungswissenschaftlich begleitete Programm wendet sich an Eltern mit Migrationshintergrund, mit geringen sozioökonomischen Ressourcen und bildungsferne Eltern. Andere aktuelle Programme, wie die Einrichtung von Familienzentren in NRW, versuchen ebenfalls diese Zielgruppen zu unterstützen (Springer 2011).
2 Konzepte und Angebote von Elternbildung Elternbildung umfasst sowohl die Förderung von Erwachsenen bei dem Prozess des ElternWerdens als auch den Aufbau und die Erweiterung von Wissen, Haltungen und Fähigkeiten für Elternschaft sowie die Unterstützung von (familiären) Erziehungskompetenzen. Sie findet in institutionellen, non-formalen und informellen Bildungssettings (z.B. Familienbildungsstätten, Familienzentren, Fernsehen, Internet, Ratgeberliteratur, sozialen Netzwerken, Kirchen/Moscheen, Elternvereinen/-gruppen, Migrantenselbstorganisationen, Familienhebammen, u.v.m.) und unter verschiedenen Rahmenbedingungen statt. Elternbildung wird durch das Erwachsenenbildungsgesetz (EbFÖG) gefördert und kommerzialisiert angeboten. Sie kann staatlich bzw. gerichtlich angeordnet werden (Familienrecht, §1631 Abs.3 BGB) und findet im Kontext der Förderung familialer Erziehung und Hilfen zur Erziehung (Kinder- und Jugendhilferecht, §16, §27 SGB VIII) nicht immer ohne Druck Anwendung. Nicht trennscharf ist die Grenze zu anderen Unterstützungen wie Familien- und Erziehungsberatung, Therapie, Mediation oder Coaching. Schul- und Kitagesetze verpflichten zu Formen der Elternarbeit und -mitwirkung, einige explizit zu aktiver Beteiligung von Eltern mit Migrationshintergrund. Grob zu unterscheiden sind Konzepte der Elternbildung von Elterntrainings und Elternarbeit. In Konzepten der institutionellen Elternbildung werden unter fachlicher Leitung, in der Regel in Gruppen, neben Informations- und Wissensvermittlung Erfahrungsaustausch und Reflexionsprozesse über Beziehungs- und Erziehungsaufgaben von Eltern in vielfältigen familiären Lebenswirklichkeiten initiiert. Diese beruhen auf Freiwilligkeit, Prävention, wissenschaftlichen Erkenntnissen und bildungstheoretischen Ansätzen sowie methodischen Zugängen der Erwachsenen- und Familienbildung. Konzepte von Elterntraining sind stärker standardisiert, sie vermitteln in Gruppen oder im Selbststudium über kontrollierte Schritte und Übungen Strategien für problemlösungsorientierte Verhaltensweisen (etwa das Programm Triple P). Diese vielfach aus dem internationalen Kontext übertragenen Kurse beruhen auf unterschiedlichen theoretischen und methodischen Ansätzen aus Psychologie und Sozialpädagogik. Konzepte von Elternarbeit zielen demgegenüber verstärkt darauf ab, die elterlichen Mitwirkungs- sowie ihre
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Manuela Westphal
Erziehungs- und Bildungskompetenzen zu erhöhen bzw. diese mit den Bildungsinstitutionen abzustimmen, damit eine Beteiligung von allen Eltern besser gelingen kann. Eine Etablierung von Erziehungs- und Bildungspartnerschaften von Eltern und Bildungsinstitutionen wird als künftiges Ziel betrachtet (Stange et al. 2013). Hinlänglich empirisch gesichert ist, dass Eltern je nach Geschlecht, Alter, Bildungsniveau, Einkommen, Familienstand und Migrationshintergrund Angebote von Elternbildung unterschiedlich nutzen. Angebote der institutionellen Elternbildung wie auch der vor- und schulischen Elternarbeit erreich(t)en bislang vorrangig (schul)bildungsnahe, deutsche Mittelschichteltern, in der Regel Mütter. Zugänge, Mitwirkung, Interessen und Bedarfe wie auch Ressourcen von Eltern in Migrantenfamilien (u.a. Alleinerziehende, Väter) sind lange nicht berücksichtigt worden. Der Austausch zwischen Eltern mit Migrationshintergrund und pädagogischen Fachkräften sowie anderen Eltern zeigt sich oft von gegenseitiger Unsicherheit, Misstrauen und Vorbehalten geprägt. Aus institutioneller Sicht galten bzw. gelten sie weiterhin als schwer erreichbare Gruppe. Konzepte differenzierender Elternarbeit (Sacher 2013) sollen künftig Abhilfe schaffen und sind in Ansätzen ausgearbeitet (z.B. Report: Berichte aus der Praxis und Forschung der interkulturellen Väterarbeit 2014). Zielgruppenspezifische Ansätze für Eltern mit Migrationshintergrund und/oder in benachteiligten Lebenslagen sind i.d.R. niedrigschwellig, sozialraum- bzw. gemeindenah angelegt, häufig kombiniert mit Sprachförderung (z.B. Rucksack, HIPPY) (Springer 2011). Meist sind sie kompensatorisch ausgerichtet, zielen auf den Abbau von Wissens- und Informationsdefiziten. Mittlerweile liegen verschiedene theoretisch ausgearbeitete Ausrichtungen interkulturell reflektierter Elternbildung vor, mit spezifischen Bezug auf „Familienkulturen“ (Tan 2011), auf soziokulturelle Familienmodelle (Borke/Keller 2014) sowie auf vorurteilsbewusste Erziehung (Wagner 2008). Gemeinsam haben diese Konzepte, dass ein Wandel von einer defizitären hin zu einer ressourcenorientierten Perspektive vollzogen wird und interkulturell nicht vereinfachend als „Arbeit mit“ Migranteneltern verstanden wird. Konzepte reflektierter Elternbildung/-arbeit finden sich dort, wo soziale und kulturelle Differenz als Grundbedingung jeglicher Bildungsund Verständigungsprozesse vorausgesetzt wird. Das beinhaltet Eltern insgesamt als eine pluralisierte und heterogene Gruppe wahrzunehmen und differenziert anzusprechen, die regulären Angebote und Maßnahmen entsprechend vielfältig und qualitätsorientiert an sozialer, kultureller und sprachlicher Diversität auszurichten, Teilhabe an allen Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen explizit zu fördern, Personal- und Organisationsstrukturen entsprechend zu öffnen und zu reorganisieren (Westphal 2009; Westphal & Kämpfe 2013).
3 Ausblick: Forschung und Weiterentwicklung Grundsätzlich fehlt es an einer wissenschaftlichen und methodischen Fundierung von Elternbildung unter Bedingungen von kultureller, sozialer, geschlechtlicher und sprachlicher Heterogenität. Eltern, und insbesondere auch Migranteneltern, stellen eine äußerst heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Lebenslagen, vielfältigen elterlichen Erfahrungen, Wünschen etc. dar. Zielgruppenspezifische Programme adressieren Migranteneltern als Sonder- und Problemgruppe und laufen Gefahr, weiteren Stigmatisierungen und Diskriminierungen Vorschub zu leisten (Otyakmaz/Westphal 2014). Kritisch-reflektierende (Weiter-) Entwicklungen der interkulturellen Pädagogik wie etwa intersektionale Fragestellungen werden bisher noch zu wenig in Elternbildungskonzepte integriert. Zukünftig muss sich die Aus- und Fortbildung von pädagogischen Fachkräften in diesem Sinne neu ausrichten (vgl. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen 2014)
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Eltern als Bildungspartner
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Ferner ist Elternarbeit/-beteiligung vor allem im Kontext Schule zum Gegenstand der interkulturellen Bildungsforschung avanciert (Fürstenau & Gomolla 2009). Empirisch fundierte Analysen über Elternangebote im Rahmen von staatlichen Interventionen für Eltern mit Migrationshintergrund fehlen, Ergebnisse aus Evaluationsstudien über Angebotssituation, Zugangsbarrieren und Teilhabebedingungen für (interkulturelle) Elternbildung liegen vereinzelt vor (Fischer 2011). Generell sind Wirksamkeiten und Effekte – auch unbeabsichtigte – nicht bzw. wenig differenziert erforscht. Einzelne vor allem aus dem internationalen Kontext über Elterntrainings vorliegende Wirkungsevaluationen können nicht generalisiert werden, ebenso wenig sind sie auf andere Länder, sozial-kulturelle Kontexte und Adressat/innen sinnvoll zu übertragen. Insgesamt zeigt sich auch im internationalen Kontext eine zunehmende Relevanz von Elternbildung bzw. -unterstützung. Viele Länder, an vorderster Stelle England, Deutschland, Niederlande und USA, versuchen innerfamiliäre Dynamiken zu beeinflussen. Unterschiede ergeben sich vor allem entlang der ausgebauten Infrastruktur, dem Grad der Standardisierung und der staatlichen Intervention (Daly 2013). Vielerorts werden Erziehungs- und Bildungspartnerschaften angestrebt. Sie gelingen eher in einem kombinierten Modell von Unterstützung für Kinder, Eltern, Familien und lokale Gemeinschaft, wie es in Deutschland in Familienzentren konzeptionell anzutreffen ist (Pietsch et al. 2009). Für reflektierte interkulturelle Elternbildung/-arbeit kann das Konzept der ‚early excellence centre‘ (www.pengreen.org) anregend sein, insofern Eltern als erste kompetente Erzieher und Förderer ihrer Kinder grundlegend anerkannt werden. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass Elternbildung/-arbeit zwar das Wohlergehen und die Bildung von Eltern und Kinder steigern kann, jedoch Eltern auch durch zu viele Angebote und Informationen überfordert und verunsichert werden können. Eltern werden zudem immer stärker staatlich instrumentalisiert und kontrolliert. Es sind bestimmte Eltern, die zur aktiven, richtigen und verantwortlichen Elternschaft und Bildungskompetenz aufgerufen werden. Das Gelingen oder Scheitern von Wohlergehen und/oder Bildungserfolg der Kinder kann damit individuell den Eltern und weniger gesellschaftlichen Mechanismen angerechnet werden. Diese Entwicklungen kritisch zu beobachten, sollte künftig stärker Aufgabe der interkulturellen Eltern-/Familien(bildungs-)forschung sein. Literatur
Borke, Jörn & Keller, Heidi (2014): Kultursensitive Frühpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer. – Daly, Mary (2013): Politiken zur Unterstützung von Eltern in Europa. Entwicklung und Trends. In: Lena Correll & Julia Lepperhoff (Hg.): Frühe Bildung in der Familie: Perspektiven der Familienbildung. Weinheim: Beltz Juventa, 1. Aufl. S. 146160. – Fischer, Monika (2011): Eltern- und Familienbildung. In: Veronika Fischer & Monika Springer (Hg.): Handbuch Migration und Familie. Grundlagen für die Soziale Arbeit mit Familien. Schwalbach: Wochenschau Verlag, S. 419-434. – Fürstenau, Sara & Gomolla, Mechtild (2009) (Hg.): Migration und schulischer Wandel: Elternbeteiligung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. – Interkulturelle Väterarbeit in NRW (Hg.): Report: Berichte aus der Praxis der interkulturellen Väterarbeit. 2014 Online verfügbar unter: www.iva-nrw.de (11.10.2015). – Otyakmaz, Berrin Özlem & Westphal, Manuela (2013): Außerfamiliäre Betreuung von Kindern mit Migrationshintergrund: Der wissenschaftliche Diskurs um institutionelle Kindertagesbetreuung im Kontext von Migration. In: Maria Wolfa (Hg): Child Care. Kulturen, Konzepte und Politiken der Fremdbetreuung von Kindern aus geschlechterkritischer Perspektive. Weinheim: Beltz Juventa, S. 82-98. – Pietsch, Stefanie; Ziesemer, Sonja & Fröhlich-Gildhoff, Klaus (2010): Zusammenarbeit mit Eltern in Kindertageseinrichtungen – Internationale Perspektiven. Ein Überblick: Studien und Forschungsergebnisse. Frankfurt a.M.: Verlag Deutsches Jugendinstitut e.V. – Rupp, Marina & Smolka, Adelheit (2007): Von der Mütterschule zur modernen Dienstleistung. Die Entwicklung der Konzeption. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 10 (3), S. 317-333. – Sacher, Werner (2013): Differenzierende Elternarbeit. In: Waldemar Stange; Rolf Krüger; Angelika Henschel & Christoph Schmitt (Hg.): Erziehungs- und Bildungspartnerschaften: Praxisbuch zur Elternarbeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 70-76. – Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Forschungsbereich: Kitas als Brückenbauer, Interkulturelle Elternbildung in der Einwanderungsgesellschaft. Juni 2014 Buch-
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Uta Lindemann und Iris Pahmeier
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und Offsetdruckerei H. Heenemann GmbH & Co. KG. – Springer, Monika (2011): Konzepte der Elterntrainings und Familienbildung: Grundlagen für die Soziale Arbeit mit Familien. In: Veronika Fischer (Hg.): Handbuch Migration und Familie. Schwalbach: Wochenschau-Verlag, S. 473-499. – Stange, Waldemar; Krüger, Rolf; Henschel, Angelika & Schmitt, Christoph (2012): Erziehungs- und Bildungspartnerschaften: Grundlagen und Strukturen von Elternarbeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. – Tan, Dursun (2011): Elternbildung. In: Britta Marschke & Heinz Ulrich Brinkmann (Hg.): Handbuch Migrationsarbeit. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 169-178. – Walper, Sabine & Stemmler, Mark (2013): Eltern als Bildungsvermittler für ihre Kinder stärken. Das Bundesprogramm „Elternchance ist Kinderchance“ und seine Evaluation. In: Lena Correll & Julia Lepperhoff (Hg.): Frühe Bildung in der Familie. Perspektiven der Familienbildung. Weinheim: Beltz Juventa, S. 21-43. – Wagner, Petra (2008): Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Freiburg im Breisgau: Herder. – Westphal, Manuela (2009): Interkulturelle Kompetenzen als Konzept der Zusammenarbeit mit Eltern. In: Sara Fürstenau & Mechtild Gomolla (Hg.): Migration und schulischer Wandel: Elternbeteiligung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 89-109.
71 Vereine – Jugendzentren – Bürgerzentren Uta Lindemann und Iris Pahmeier
Interkulturelles Lernen vollzieht sich vielfach „in interkulturellen Überschneidungssituationen, es findet entweder in der direkten Erfahrung im Umgang mit Repräsentanten und Produkten der fremden Kultur statt oder es kann sich in Form vermittelter indirekter Erfahrungen vollziehen“ (Thomas 1993, S. 382). Vielfach findet interkulturelle Arbeit in der Schule statt, bzw. in den Organisationen, die einem Bildungsauftrag folgen. Andererseits übernehmen informelle Organisationen zunehmend interkulturelle Erziehungs-, Bildungs- und Integrationsaufgaben und -leistungen (Sandfuchs 2012, S. 691). Der Deutsche Kulturrat stellt fest, dass die Berücksichtigung der interkulturellen Bildung als integraler Bestandteil der Bildung für alle Bildungs- und Erziehungsorte eine Herausforderung bedeutet. „Insbesondere gilt dies für die Orte und Strukturen kultureller Bildung mit ihren produktiven und rezeptiven Dimensionen. Neben dieser Berücksichtigung der formalen und nonformalen Bildung finden entscheidende Bildungs- und Erziehungsprozesse im Bereich des informellen Lernens statt“ (Deutscher Kulturrat 2007, S. 1). Der zwölfte Kinder- und Jugendbericht grenzt Bildungswelten gegenüber Lernwelten ab: Die Lernwelten haben laut diesem Begriffsverständnis keinen Bildungsauftrag. Sie sind zufällig zustande gekommen, zeiträumlich nicht klar eingegrenzt, weniger organisiert und weniger standardisiert. Familie, Gleichaltrigengruppen, Medienwelten, (kommerzielle) Freizeitangebote, Auslandsreisen, Schülerjobs, etc. tragen eher den Charakter von Lernwelten. Ehrlicherweise ist nach Braun und Nobis (2011, S. 11) festzustellen, dass das Assoziationswesen mit einigen der eben genannten Beispiele als „Integrationsmotor“ der Zivilgesellschaft bislang empirisch wenig
Vereine – Jugendzentren – Bürgerzentren
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gehaltvoll ist (Grund: sehr breite Fächerung der ‚Dritte-Sektor‘ Forschung). Besser erforscht sind Organisationsstrukturen wie Vereine, als Motor der Binnenintegration, die wiederum spezifische zivilgesellschaftliche Bereiche wie Sport und Bewegung vertreten. An dieser Stelle muss jedoch einschränkend darauf hingewiesen werden, dass Vereine in ihren Mitgliederlisten nur selten einen vorhandenen Migrationshintergrund vermerken. Es liegen in erster Linie spezielle Studien zu ethnischen Gruppen vor, die nicht deckungsgleich sind mit den seit 1996 größten Zuwanderergruppen aus Polen, aktuell gefolgt von Rumänien und Bulgarien, so beschrieben vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, für 2014.
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1 Interkulturelle Arbeit in Vereinen und Verbänden Der sog. „Zivi-Survey“ stellt 2009 fest, dass in Deutschland 616.154 Organisationen, vom Sport- über den Förderverein für die Grundschule bis zur freiwilligen Feuerwehr existieren. Dabei handelt es sich um 580.294 Vereine, 17.352 Stiftungen, 10.006 GmbHs und 8502 Genossenschaften, in denen 23 Millionen Mitglieder aktiv sind. Nicht in allen Ländern der Erde nimmt das Vereinswesen einen solchen Stellenwert ein, sodass viele Menschen mit Migrationshintergrund den Zugang zu deutschen Vereinen nicht selbstverständlich finden. Dadurch bleiben besonders Kindern und Jugendlichen viele Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, Chancen zur Weiterbildung ihrer Fähigkeiten und aktive Teilhabe versagt. Was macht die Partizipation an Vereinen für die interkulturelle Arbeit und Integration so besonders? Die Antwort steckt in den Lernprozessen, die quasi „nebenher“ in den Strukturen der Vereine stattfinden: In ihnen finden (auf freiwilliger und ehrenamtlicher Basis) Bildungs- und Lernprozesse statt, die mit Bezug auf Hansen (2008) auf drei großen Ebenen zum Erwerb von Kompetenzen und Lernen beitragen: –– Partizipations-, Sozialisations- und Integrationsleistungen von Vereinen, –– Professionalisierung von Vereinen und –– individueller Bildungsfaktor durch freiwilliges Engagement von Vereinen. Aus interkulturpädagogischer Sicht ist dabei vor allem die erste Perspektive relevant.
2 Partizipation von Migrant/innen in Vereinen und Verbänden Über den Organisationsgrad von Migrant/innen in deutschen Vereinen und Verbänden ist relativ wenig zu finden, Ausnahmen bilden Studien zur Organisation in Sportvereinen, auf die später noch eingegangen wird. Eine Minderheit von Personen mit Migrationshintergrund und ausländischen Personen ist in Vereinen, Verbänden oder Organisationen Mitglied. Wenn partizipiert wird, dann sind die Vereine, Verbände oder Organisationen häufiger deutsche als auf das Herkunftsland bezogene. Die Mehrheit ist weder in deutschen noch in auf das Herkunftsland bezogenen Vereinen, Verbänden oder Organisationen organisiert (vgl. Babka von Gostomski 2008). Sinus Sociovision ermittelt 2008, welche Rolle diese Organisationen bei Menschen mit Migrationshintergrund spielen. Am meisten genutzt werden religiöse Vereine, Kulturvereine, ethnische Sportvereine, Interessenvertretungen einer Herkunftsgruppe oder Heimatvereine. Die meisten suchen dort Geselligkeit mit Landsleuten. Nicht ganz unwichtig scheint auch die Hoffnung auf finanzielle Unterstützung in Notlagen. 22% der Menschen mit Migrationshintergrund sind aktives oder passives Mitglied von Migranten(selbst)organisationen. In den Vereinen der Einheimischen engagieren sich 18%, weitere zwölf Prozent würden gerne mitmachen. Dazu
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Uta Lindemann und Iris Pahmeier
fehlt den meisten die Zeit (68%), der passende Verein oder sie scheuen sich, weil sie dort niemand kennen (52%). Allerdings gibt jede/r Vierte als Grund, weshalb er/sie sich nicht beteiligt, den schwierigeren Stand als Migrant/in an sowie die Furcht vor Ausgrenzung oder ungenügende Deutschkenntnisse (Sinus-Sociovision 2008). Die Frage nach der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund an Jugendverbandsarbeit und Einflussfaktoren für eine gelingende Interkulturelle Öffnung von Jugendverbänden wird aktuell aufgeworfen, Forschungsarbeiten zum Thema Interkulturalität und Migration in der Jugendverbandsarbeit sind jedoch oft auf einzelne Jugendverbände und Regionen beschränkt. Düll stellt fest: „Gute Kontakte zu deutschen Gleichaltrigen sehen viele Jugendliche mit Migrationshintergrund als wichtigen Faktor an, um in der Gesellschaft anzukommen“ (Düll 2012, S. 14). Sie erleben die Deutschen allerdings als sehr zurückhaltend und desinteressiert (Bertelsmann Stiftung 2009, S. 29; Sinus Sociovision 2008, S. 3). Auch in den autochthonen „deutschen“ Jugendverbänden sind Jugendliche mit Migrationshintergrund stark unterrepräsentiert. Lediglich 16% der Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind in einem Jugendverband aktiv. Meistens bringen sie sich in Sportverbänden ein. Dabei können gerade Jugendverbände mit ihren informellen Lernfeldern und demokratischen, selbstorganisierten und selbstbestimmten Strukturen einen wertvollen Beitrag zur Integration leisten (Lutz & Heckmann 2010, S. 235ff). Hinweise auf mögliche Barrieren, aber auch auf förderliche Bedingungen für interkulturelle Öffnungskonzepte bieten Ergebnisse einer Anfang 2011 abgeschlossenen qualitativen Untersuchung des DJI und der Fachhochschule Köln (vgl. Otremba et al. 2011).
3 Migrantenorganisationen (Vereine) in Deutschland Im Jahr 2011 sind ca. 16.000 Migrantenorganisationen in Deutschland zu verzeichnen, von denen einige nicht nur an Größe, sondern vor allem als Vermittler für den interkulturellen Dialog in der gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit an Bedeutung gewonnen haben. Migrantenorganisationen spielen eine entscheidende Rolle bei der sozialen und beruflichen Integration von Migrant/innen. Sie sind vielfältig aufgestellt, verfügen über direkte Zugänge zu der Zielgruppe, haben oftmals etablierte Kontakte zu arbeitsmarktrelevanten Akteuren und sind in ihrem Selbstverständnis „vertrauliche“ Ansprechpartner für Migrant/innen. „Migrantenorganisationen sind in ihren Zielen sowie Ausrichtungen unterschiedlich ausgerichtet: sie fungieren als kulturelle, religiöse, unternehmerische, politische, berufsständische, Selbsthilfe-, Wohltätigkeits- oder Freizeit-Vereine und -verbände.“ (BAMF 2012, S. 8). Es wird jenen Migrantenvereinen inzwischen eine Integrationsfunktion bescheinigt, die u.a. mit dem Ziel angetreten sind, wichtige kulturelle Fähigkeiten des Aufnahmelandes zu erwerben, sowie soziale Netzwerke zu schaffen. Huth (2006) zeigt in ihrer qualitativ angelegten Studie, dass für einen kleinen Kreis von engagierten Beteiligten der Erwerb sachbezogener Fertigkeiten (juristische Kenntnisse) sowie interkultureller Kompetenzen (Behördentätigkeiten meistern) möglich wurde. Migrantenvereine können wichtige Mittler- und Brückenfunktionen übernehmen und tragen zur Identitätsstärkung ihrer Mitglieder bei: „Das Engagement vieler Migranten-Organisationen hilft Zuwanderern, sich in die neue Gesellschaft einzuleben und soziale Netzwerke aufzubauen. Sie bieten Chancen zur Selbstverwirklichung und -bestätigung und zur Herausbildung sozialer Handlungskompetenzen der Beteiligten“ (Steller & Wilka 2008, S. 6).
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In zahlreichen Projekten sind Jugendverbände und andere Träger der Jugendhilfe in den letzten Jahren in den Arbeitsbereich „Interkulturelle Öffnung“ eingestiegen. Wie sich beispielsweise an der Vielfalt der in der Datenbank Interkulturelle Öffnung des IDA e. V. erfassten Projekte zeigt (vgl.www.idaev.de/interkulturelle_oeffnung.htm), haben sich in der Praxis ganz unterschiedliche Zugänge bewährt. Tandemprojekte, in denen ein erfahrener Träger der Kinder- und Jugendhilfe und eine Migrant/innenjugendselbstorganisation (MJSO) kooperieren, stehen neben Projekten mit einem sozialarbeiterisch-fördernden Ansatz und Empowerment-Projekten aus den Reihen migrantischer Initiativen. Neben Projekten gibt es viele Beispiele lokaler Vernetzung im Alltag der Kinder- und Jugendhilfe, die häufig nicht dokumentiert und damit in ihrer Bedeutung strukturell unterschätzt werden, als informelle Netzwerke aber eine wichtige Unterstützung für MJSO darstellen (vgl. Drücker 2014).
5 Integrationsleistungen von Sportvereinen: Ansprüche und empirische Evidenz Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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4 Interkulturelle Öffnung
In der Diskussion um Integrationsleistungen von Sportvereinen spiegeln sich vielfältige Integrationsvorstellungen wieder, die sich in vier Stränge differenzieren lassen: Sport als verbindende Instanz (1), Sport als Praxis mit hoher Anziehungskraft (2), Sport als Symbol für Offenheit und Chancengleichheit (3), Sport als internationale und universale Sprache (4). Die heterogene Sozialstruktur der Vereinsmitglieder, die flächendeckende Infrastruktur, das universell gültige Regelwerk und die nonverbale Umgangsform des Sports werden als Gründe angeführt, warum Zuwanderer/innen aus dem Stand sportlich aktiv mitmachen können, und damit die Kluft zwischen gesellschaftlichen Gruppen überbrückt und soziales Vertrauen generiert werden kann (Burrmann 2014). Pädagogisch werden im Hinblick auf Integration durch Sport die vier nachfolgend skizzierten Erwartungen formuliert: –– soziale Integration erfolgt, wenn Personen unterschiedlicher Ethnien soziale Beziehungen, Bindungen, Kontakt herstellen; –– kulturelle Integration zielt auf den Erwerb von Kulturtechniken und entsprechender sozialkultureller Muster; –– Alltagspolitische Integration können Sportvereine durch demokratische Mitwirkung leisten und –– sozialstrukturelle Integration oder auch Platzierungsinklusion erfolgt durch die Möglichkeit in den Strukturen von Vereinen und auf der Basis ehrenamtlicher Arbeit Positionen in der Organisation einzunehmen, um so vorherrschenden selektiven und sozialen Schließungsprozessen entgegenzuwirken. Solche binnenintegrativen, informellen (Bildungs-)Prozesse ermöglichen dann auch außerhalb des Sozialnetzes Verein zu agieren, da entsprechende Kompetenzen (z.B. Spracherwerb, Führungsstile o.ä.) entwickelt werden konnten (Braun & Finke 2011). Andererseits muss erwähnt werden, dass diesen normativ erwünschten Phänomenen seitens des Sports auch interkulturelles Konfliktpotential innewohnen kann (z.B. Fremdheitserfahrung; Ethnisierung von Konflikten). Die empirische Evidenz zu den anzustrebenden Integrationsleistungen der Sportvereine ist zwar noch sehr lückenhaft, im Vergleich mit Daten zu anderen Institutionen und Organisationen jedoch herausragend. Dies ist zunächst der Tatsache geschuldet, dass Re-Analysen von Daten großer Bildungsstudien, etwa PISA und SPRINT und der Sportentwicklungsberichte 2007/2008
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sowie 2009/2010 unter einer sozialwissenschaftlich-organisationalen Perspektive sowie die sportbezogene Sonderauswertung des repräsentativen Freiwilligensurveys 1999-2009, erfolgten. Zudem liegen aktuelle Auswertungen und Evaluationen großer Länder- bzw. Bundesbezogener Interventionsprojekte vor, wie das Modellprojekt „spin – sport interkulturell“ in NRW und das seit Jahren durchgeführte Programm des DOSB „Integration durch Sport“ (IdS, vgl. GießStüber et al., 2014). Nachfolgend werden einige zentrale Ergebnisse knapp skizziert. In Überblicksartikeln zu Studien über Integrationsleistungen von Sportvereinen lassen sich Fragen zu Integrationszielen von solchen nach Integrationsmaßnahmen und nach Integrationseffekten unterscheiden (Burrmann 2014; Braun & Nobis 2011a). Zunächst muss differenziert werden, inwiefern der vereinsorganisierte Sport in der Lage ist, Personen mit Migrationshintergrund an den Sport heranzuführen und entsprechende sportliche Leistungen zu erbringen. Vor diesem Hintergrund dokumentieren Ergebnisse von Partizipationsstudien, dass Menschen mit Migrationshintergrund derzeit im organisierten Sport unterrepräsentiert sind. Ca. 9 bis 10% der Mitglieder eines Sportvereins haben einen Migrationshintergrund, 67% Männer und 33% Frauen. Im Jugendalter liegen vergleichsweise ausgeglichenere Zahlen vor. Danach sind 43% der Jugendlichen mit ausländischer Herkunft Mitglied in einem Sportverein, 28% bzw. 33% Mädchen und 57% bzw. 55% der Jungen (Mutz & Burrmann 2011). Diese deutlichen Geschlechterunterschiede waren und sind der Anlass die Zielgruppe Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund verstärkt in den (Interventions-)Blick zu nehmen (vgl. Zielgruppe spin; Mutz 2013). Eine zentrale Erkenntnis des Forschungsaspekts „Gender“ auf der Basis sozialer Konstruktionen von Ethnizität ist die, dass traditionelle Geschlechterrollenzuweisungen im Sport nur teilweise an Bedeutung verlieren, Differenzmarkierungen jedoch nicht aufgelöst sind (Klein 2011). Die soziale Kategorie Ethnizität ist bei der Erforschung von Geschlechterdifferenzen im Sport von besonderer Relevanz. Interventionsstudien zeigen, dass es Sportorganisationen gelingen kann, durch gezielte Integrationsmaßnahmen (niederschwellige, regelmäßige sportliche und gesellige Angebote, die sich an den Interessen der Teilnehmer/innen orientieren) Mitgliedergewinne (z.B. spin – sport interkulturell 2015) zu erzielen. Integration durch Sport wird dann erreicht, wenn Vereine Rahmenbedingungen (z.B. Unterstützungsangebote, Motivation zu freiwilligem Engagement, kulturübergreifende Kontakte) schaffen, die dann dazu beitragen, dass sich Migrant/innen u.a. in ihrer sprachlichen Kompetenz verbessern und sich für ehrenamtliche Aufgaben engagieren (alltagskulturelle/politische Integrationseffekte) (Stahl 2013; Kleindienst-Cachay et al. 2012). Weitergehend entstehen soziale Bindungen, Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit werden abgebaut, unterschiedliche Kulturen begegnen einander in- und außerhalb des Vereins. Expert/innenbefragungen (u.a. Landeskoordinatoren) von IdS-Stützpunktvereinen bescheinigen darüber hinaus einen Zuwachs an Übungsleiter/innen mit Migrationshintergrund, eher selten zu finden sind dagegen Migrant/innen, die Vorstandsarbeit verrichten (Burrmann 2014). Insgesamt lässt sich jedoch ein Rückgang des Anteils an Ehrenamtlichen auch in Sportvereinen registrieren.
6 Ausblick Zusammenfassend bleibt zu konstatieren, dass dem organisierten Sport Integrationspotenziale zugeschrieben werden können. Diese finden jedoch nicht durchgängig automatisch statt, sondern müssen systematisch und zielgerichtet sowie pädagogisch mit Blick auf die spezifische Zielgruppe initiiert und durchgeführt werden. Gleichzeitig ist zu bedenken, dass nicht alle Sportvereine über das Potential verfügen entsprechende Leistungen zu erbringen oder auch erbringen wollen. Solche „Begrenzungen“ begründen sich dadurch, dass:
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–– Sportvereine freiwillige, binnenorientierte Organisationen sind, vielfach sind Integrationsprogramme nicht bekannt; –– In Sportvereinen hauptsächlich ehrenamtliche Arbeit von Laien geleistet wird, vielfach fehlen deshalb professionelle Kompetenzen, der Aufwand ist zu hoch; –– Vereine binnenbezogene Sportinteressen haben, Integration wird dann ein Thema, wenn es für den entsprechenden Verein interessant bzw. zweckbezogen ist; –– Der Umgang mit körperlicher Fremdheit ein Problem sein kann; –– Unterschiedliche Lebensstile als Integrationsbarrieren empfunden werden können (vgl. ausführlich Kleindienst-Cachay et al. 2012; Seibert 2012). Die dargestellten Befunde sollten nicht darüber hinweg täuschen, dass die sportwissenschaftliche Forschung zum Thema in den Anfängen steckt und auch der interdisziplinäre Bezug im Hinblick auf theoretische, methodologische und empirische Anknüpfungspunkte derzeit eher zögerlich angegangen wird. Perspektivisch lassen sich inhaltlich nachfolgende Aspekte formulieren: Zum Sportengagement und zur Sportpartizipation sollten Daten jenseits der Sportvereine und des Jugendalters erhoben werden. Neben muslimischen Zielgruppen (insbesondere Mädchen) fehlen Erkenntnisse zu anderen Migrantengruppen (z.B. Zuwanderer/innen mit russlanddeutschem Hintergrund als größte Gruppe). Zur weiteren Spezifizierung von Gruppen müssen zunehmend sozialstrukturelle und soziokulturelle Differenzierungsvariablen (z.B. Bleibeabsicht, Sprachkenntnis und -gebrauch; Aufenthalt in erster-dritter Generation) in Studiendesigns aufgenommen werden. Bislang werden vorwiegend Chancen und positive Potentiale diskutiert und erforscht, normativ ungewollte Effekte oder negative Aspekte werden hingegen kaum thematisiert. Unklar ist derzeit auch, wie Migrant/innenmitglieder von Freiwilligenvereinigungen Kompetenzen überhaupt erwerben oder soziales Vertrauen fassen und dieses in andere Handlungsfelder übertragen. Augenfällig ist dann der Mangel an Längsschnittstudien zum Erkennen von Sozialisations- oder eher Selektionseffekten. Es fehlt an harten und verlässlichen Daten zum Selbstverständnis und zu den Integrationsleistungen von ethnisch homogenen Mannschaften und Sportvereinen. Die hier in Anlehnung an Braun und Nobis (2011b) aufgeführten Forschungsperspektiven verdeutlichen den erheblichen Forschungsbedarf, aber zugleich auch die Forschungspotentiale in diesem Feld. Literatur
Babka von Gostomski, Christian (2010): Basisbericht: Berichtsband. Repräsentativbefragung „Ausgewählte Migrantengruppen in Deutschland 2006/2007“ (RAM). Zur Situation der fünf größten in Deutschland lebenden Ausländergruppen. Vertiefende Ergebnisse zum Forschungsbericht 8. Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. – BAMF (Hg.) (2014): Migrationsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung - Migrationsbericht 2012. Paderborn: Bonifatius GmbH, Druck-Buch-Verlag. – Bertelsmann Stiftung (2009): Zuwanderer in Deutschland, durchgeführt durch das Institut für Demoskopie in Allensbach Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung. Online verfügbar unter http://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/ xcms_bst_dms_28825_28831_2.pdf [18.12.2014]. – BMfSFJ (Hg.) (2005): 12. Kinder- und Jugendbericht. Online verfügbar unter http://www.bmfsfj.de/doku/Publikationen/kjb/ [18.12.2014]. – Braun, Sebastian & Nobis, Tina (Hg.) (2011a): Migration, Integration und Sport. Zivilgesellschaft vor Ort. Wiesbaden: VS Verlag. – Braun, Sebastian & Nobis, Tina (2011b): Migration, Integration und Sport – Zivilgesellschaft vor Ort. Zur Einführung. In: Sebastian Braun & Tina Nobis (Hg.): Migration, Integration und Sport. Zivilgesellschaft vor Ort. Wiesbaden: VS Verlag, S. 9-28. – Burrmann, Ulrike (2014): Integration von Menschen mit Migrationshintergrund in den organisierten Sport. In: DOSB (Hg.): Sport gestaltet Gesellschaft. Hamburg: Cwalina, S. 83-93. – Deutscher Kulturrat (2007): Interkulturelle Bildung eine Chance für unsere Gesellschaft. Positionspapier. Online verfügbar unter http://www.kulturrat.de/pdf/1057.pdf [2.12.2014]. – Drücker, Ansgar (2014): Die interkulturelle Öffnung der Jugendverbandsarbeit. In: Bertelsmann Stiftung (Hg.) Weltoffen, bürgernah und kompetent! Kommunen als Spiegel
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einer vielfältigen Gesellschaft Gütersloh, S. 104-105. – Düll, Hélène (2012): Aktualität des Themas - Integration als gesellschaftliche Aufgabe. In: Bayerischer Jugendring (Hg.): Vielfalt fördern - Interkulturelle Öffnung der Jugendarbeit in Bayern. Dokumentation der Evaluation des Fachprogramms Integration. München, S. 14-17. – GießStüber, Petra; Burrmann, Ulrike; Radke, Sabine; Rulofs, Bettina & Tiemann, Heike (2014): Expertise „Diversität, Inklusion, Integration und Interkulturalität - Leitbegriffe der Politik, sportwissenschaftliche Diskurse und Empfehlungen für den DOSB/dsj“. Unveröffentlichtes Manuskript. – Hansen, Stefan (2008): Lernen durch freiwilliges Engagement. Wiesbaden. – Huth, Susanne (2006): Bürgerschaftliches Engagement als Lernort und Weg zu sozialer Integration. In: Migration und soziale Arbeit, 28 (3-4), S. 280-290. – Klein, Marie-Luise (2011): Migrantinnen im Sport - Zur sozialen Konstruktion einer „Problemgruppe“. In: Sebastian Braun & Tina Nobis (Hg.): Migration, Integration und Sport. Zivilgesellschaft vor Ort. Wiesbaden: VS Verlag, S. 124-136. – Kleindienst-Cachay, Christa; Cachay, Klaus & Balke, Steffen (Hg.) (2012): Inklusion und Integration. Schorndorf: Hofmann. – Lutz, Anna & Heckmann Friedrich (2010): Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Bayern, Stand der Integration und integrationspolitische Maßnahmen. München: Europäisches Forum für Migrationsstudien, Institut an der Universität Bamberg, Bayerisches Staatsministerium für Sozialordnung und Arbeit, Familie und Frauen. – Mutz, Michael (2013): Expertise für den DOSB. Die Partizipation von Migrantinnen und Migranten am vereinsorganisierten Sport. Online verfügbar unter: http://www.hamburger-sportbund.de/resourcen/0025/IdS_Expertise_Mutz_Ansicht_DS.pdf [18.12.2014]. – Mutz, Michael & Burrmann, Ulrike (2011): Sportliches Engagement jugendlicher Migranten in Schule und Verein: Eine Re-Analyse der PISA- und der SPRINT-Studie. In: Sebastian Braun & Tina Nobis (Hg.): Migration, Integration und Sport. Zivilgesellschaft vor Ort. Wiesbaden: VS Verlag, S. 99-124. – Otremba, Katrin; Yildiz, Miriam & Zitzmann, Thomas (2011): Abschlussbericht zum Forschungsprojekt „Interkulturelle Öffnung in der verbandlichen Jugendarbeit – Stand, Möglichkeiten und Hindernisse der Realisierung“. Köln/ München. – Seibert, Klaus (2012): Fremdheit im Sport. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen der Integration im Sport. Schorndorf: Hofmann. – Sinus Sociovision (2008): Zentrale Ergebnisse der Sinus-Studie über Migranten-Milieus in Deutschland. 9.12.2008. Heidelberg: Sinus Sociovision GmbH. Online verfügbar unter: http:// www.sinus-sociovision.de/Download/ZentraleErgebnisse09122008.pdf [18.12.2014]. – Stahl, Silvester (2012): Expertise. Migrantensportvereine als Partner der Integrations- und Verbandsarbeit. Eine Handreichung für die Praxis. Online verfügbar unter http://www.integration-durch-sport.de/fileadin/fmdosb/arbeitsfelder/ids/downloads_pdf/Downloads_2013/IdS_Expertise_Stahl.pdf [18.12.2014]. – Steller, Sabina & Wilka, Hans-Peter (2008): Aktive Vereine - Handbuch für Migranten-Organisationen als Partner für Integration und Beschäftigung hg. v. AGARP - Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte Rheinland-Pfalz. Mainz. – Sandfuchs, Uwe (2012): Interkulturelle Erziehung. In: Uwe Sandfuchs; Wolfgang Melzer; Bernd Dühlmeier & Adly Rausch (Hg.): Handbuch Erziehung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 686-692. – Thomas, Alexander (1993): Psychologie interkulturellen Lernens und Handelns. In: Alexander Thomas (Hg.): Kulturvergleichende Psychologie. Göttingen: Hogrefe Verlag für Psychologie, S. 377-424.
72 Jugendaustausch – Jugendbegegnungen Andreas Thimmel
Internationaler Jugendaustausch bzw. Jugendbegegnungen sind ein spezifisches gruppenbezogenes Format der internationalen Jugendarbeit (IJA). Im Folgenden werden die Begriffe synonym benützt, wenngleich sich die inhaltliche Schwerpunktsetzung beider Begriffe unterscheidet (s.u.).
Jugendaustausch – Jugendbegegnungen
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1 Gegenstandsbereich, Struktur Internationale Jugendarbeit ist den Prinzipien der Freiwilligkeit, Partizipation und Subjekt orientierung verpflichtet. Jugendliche aus unterschiedlichen Ländern kommen in einem Kontext von Freizeit, Bildung und Lernen für einen begrenzten Zeitraum zusammen. Sie leben in einem kurzzeitpädagogischen Gruppenarrangement zusammen, sie arbeiten an gemeinsamen Projekten, sie sind gemeinsam touristisch unterwegs, tauschen sich über relevante Themen aus, sie sind wechselseitig erstaunt über unterschiedliche Verhaltensweisen und sprechen über ihre unterschiedlichen kulturellen Einbettungen (Scherr 2015), sie nutzen ähnliche digitale Medien und haben vergleichbare oder unterschiedliche Vorlieben, in Musik, Mode und Sport. Träger des Austauschs sind Jugendverbände, die öffentliche Jugendarbeit, Jugendhäuser, Jugendbildungsstätten sowie Jugendinitiativen. Zu unterscheiden sind bi- und trinationale Jugendbegegnungen sowie multinationale Workcamps. Die Maßnahmen dauern in der Regel zwischen acht und 21 Tage und finden oft in den Schulferien statt. Die Mehrzahl der teilnehmenden Jugendlichen ist zwischen 14 und 18 Jahren alt. Der Schüleraustausch, insbesondere der Langzeit-Einzelschüleraustausch (Weichbrodt 2014) sowie die gruppenbezogenen Schulaktivitäten und Schulpartnerschaften (Thimmel 2015) sind schulische internationale Mobilitätsaktivitäten. Ungeachtet der strukturellen Unterschiede zwischen Schule und Jugendarbeit gibt es in methodischer und konzeptioneller Hinsicht viele Gemeinsamkeiten (IJAB 2012). Der Begriff Begegnung impliziert Interaktion und Kommunikation mit dem Ziel der Verständigung von vermeintlich „Fremden“. Als Bildungsziel wird oft ein gegenseitig besseres Verstehen der beteiligten Personen aus den jeweils anderen „nationalen“ und „kulturellen“ Kontexten verstanden. In neueren Konzeptionen, z.B. dem Konzept der reflexiven Internationalität, wird diese Denkfigur differenziert und dekonstruiert. Der Begriff Austausch verweist auf das Prinzip der Gegenseitigkeit in nationalstaatlicher, organisationaler und personaler Hinsicht. Eine Kooperationsvereinbarung z.B. zwischen einer offenen Einrichtung der Kinder- und Jugendarbeit mit entsprechenden Einrichtungen aus anderen Ländern, Partnerregionen oder Partnerstädten bildet die organisatorische Basis. Die Gleichberechtigung der Partner ist konstitutiv. Die für den Austausch notwendigen Gelder werden über ein differenziertes jugendpolitisches System auf der Grundlage von Jugendplänen und Richtlinien vergeben. Der Kinder- und Jugendplan des Bundes (Referat Europäische und internationale Jugendpolitik im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) ist das Förderinstrument des Bundes. Auch in einigen Landesjugendförderplänen und kommunalen Jugendplänen ist der Austausch verankert, und es werden geringe Finanzmittel zur Verfügung gestellt. Das Deutsch-Französische Jugendwerk, das Deutsch-Polnische Jugendwerk, das Deutsch-Tschechische Koordinierungsbüro Tandem, das Deutsch-Israelische Koordinierungsbüro ConAct und die Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch sind binationale Fach- und finanzielle Förderstellen. Organisatorische Abwicklung und administrative Erfordernisse in der Vor- und Nachbereitung nehmen Teamer/innen und Pädagog/innen oft so sehr in Beschlag, dass sie das hohe Bildungs- und Lernpotential der internationalen Begegnung für die Jugendlichen und Schüler/innen nicht angemessen nutzen. IJAB, die Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland (IJAB), JUGEND für Europa, die Nationalagentur der EU für das Teilprogramm JUGEND IN AKTION in ERASMUS PLUS, der Pädagogische Austauschdienst (PAD) und die Arbeitsgemeinschaft gemeinnütziger Jugendaustauschorganisationen (aja) im Schüleraustausch sowie der Forscher-Praktiker-Dialog zur internationalen Jugendarbeit sind die relevanten überregionalen Akteure im Feld (Thimmel 2011). Der Forscher-Praktiker-Dialog ist eine forschungsbezogene
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Plattform zur Diskussion neuer Themen und zur Durchführung von Forschungsprojekten und Evaluationen (www.forscher-praktiker-dialog.de). Der gesamte Theorie- und Praxisdiskurs der IJA ist seit 1997 in den Jahrbüchern „Forum Jugendarbeit International“ (IJAB Hg. 1997ff) umfassend dokumentiert.
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2 Theoretische Diskurse und Konzepte in der IJA Folgende Konzeptionen lassen sich analytisch unterscheiden: (1) Länderspezifische Konzepte betonen landeskundliche Informationen, Wissenswertes über Sprache, Geschichte, Politik, Geographie, Sitten und Gebräuche eines fremden Landes sowie das Kennenlernen von Jugendlichen aus den beteiligten Nationalstaaten. Bestimmte landeskundliche Wissensbestände sind demnach Voraussetzung für eine erfolgversprechende internationale Kommunikation zwischen den beteiligten Personen. (2) Das für den Austausch in den 1980er bis 2000er Jahren dominante interkulturelle Lernkonzept wurde im Anschluss an die Ergebnisse der Breitenbach-Studie (1979) entwickelt. Teamer/innen sollen Situationen danach einschätzen, ob diese für den interkulturellen Lernprozess günstig sind oder nicht. Animation, Freizeit-, Erlebnis- und Gruppenpädagogik sowie deren Transfer auf die internationale Lernsituation, Sprachanimation und die „nicht verplante“ Zeit sind methodische Standards. Das gesamte Lernarrangement, d.h. Wohnen, Organisation, Essen, Sich-Wohlfühlen, Reisen, Freizeitgestaltung, touristische Bedürfnisse und Einkaufswünsche werden konzeptionell einbezogen und methodisch reflektiert. In dieser Lesart des interkulturellen Lernkonzeptes werden allerdings Nation und Kultur gleichgesetzt. (3) Die psychologische Austauschforschung konnte den großen Effekt des Austauschs auf die persönliche Entwicklung nachweisen. In der empirischen Studie „Langzeitwirkungen der Teilnahme an internationalen Jugendbegegnungen“ wurde „Kultur als ein Orientierungssystem“ definiert, welche „das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln aller ihrer Mitglieder“ beeinflusst. Im Rahmen der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben im Jugendalter geht zudem vom Jugendaustausch ein „besonderer Anforderungsgehalt zur Bearbeitung der Entwicklungsaufgaben“ (Thomas et al. 2007, S. 47) aus. (4) Demgegenüber stand in hermeneutischen und psychoanalytischen Konzepten eine andere Lesart „interkulturellen Lernens“ im Mittelpunkt. Französische und deutsche Forscher/innen entwickelten in Forschungsteams des Deutsch-Französischen Jugendwerks (DFJW) die „Ethik der Unterschiedlichkeit“ (Nicklas et al. 2006). Die Orientierung an Unterschiedlichkeiten auf der Ebene nationalkultureller Zugehörigkeiten, die Ausrichtung an qualitativen Forschungsmethoden und eine Affinität zur psychoanalytischen Pädagogik und Philosophie machen diese Konzeptionsvariante aus (Guist-Desprairies & Müller 1997, S. 116). Seit 2000 führen im DFJW weitere binationale Forschungsteams qualitative und quantitative Untersuchungen und Projekte durch (vgl. Boubecker & Ottersbach 2014). (5) Im Konzept des diversitätsbewussten Austauschs wurde in den 1990er Jahren der Begriff des „internationalen Lernens“ stark gemacht, um die Bedeutung der ökonomischen und politischen Dimension zu betonen und um vor der Kulturalisierungsgefahr eines unreflektierten Gebrauchs des „interkulturellen Lernens“ zu warnen (vgl. Leiprecht 1995). Anne Winkelmann (2006) führt diese Überlegungen weiter und macht antirassistische Pädagogik für den Austausch fruchtbar. Eine Weiterentwicklung leisten Eisele, Scharathow und Winkelmann (2008), die die vorherrschende Praxis „kulturalisierenden Wahrnehmungsmuster“ kritisie-
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Jugendaustausch – Jugendbegegnungen
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ren, gesellschaftliche und personenbezogene Heterogenität bewusst sichtbar machen (ebd. S. 39) und in die Praxis transferieren (Drücker et al. 2014). (6) Im Konzept der „Reflexiven Identität“ kritisiert Norbert Ropers 1991 das affirmative Konzept der „nationalen Identität“ und die Gleichsetzung von Nation und deutscher Gesellschaft. Er erweitert das bundesrepublikanische Selbstverständnis im Hinblick auf die multikulturelle deutsche Gesellschaft und auf Europa (Ropers 1991). (7) Die jugendpädagogische Austauschforschung entwickelt sich seit 1995. Dabei geht es den Autor/innen erstens um die stärkere Verbindung mit der Jugendarbeitsforschung sowie um die Berücksichtigung der Entwicklungsaufgaben im Jugendalter (Thimmel 2001). IJA wird als relevanter Ort für nonformale Bildungsmöglichkeiten konzipiert und an den Bildungsdiskurs in der Jugendarbeit gekoppelt (Thimmel & Friesenhahn 2005). Zweitens wird der Jugendaustausch im Gesamtkontext einer Jugendarbeit in der Migrationsgesellschaft ausbuchstabiert. Empirische Studien werden angeregt und durchgeführt. Die Entwicklung eines mehrsprachigen Selbst-Evaluationsinstruments im deutsch-französischen und deutsch-polnischen Austausch führte zu belastbaren empirischen Ergebnissen. Die teilnehmenden Jugendlichen benennen die große Bedeutung der Teamer/innen für Lernprozesse und die Relevanz von organisatorischen und finanziellen Mindeststandards und methodischdidaktischen bzw. gruppenpädagogischen Grundregeln (Ilg & Dubiski 2015). Der differenzierte Zusammenhang der interkulturellen (Migration) und internationalen Perspektive wurde theoretisch weiterentwickelt (Thimmel & Friesenhahn 2005) und in einem umfangreichen Handlungsforschungsprojekt „InterKulturell on Tour“ (Chehata et al. 2010) evaluiert und im Gesamtprozess der jugendpolitischen Initiative des Bundes „Jugend international – Vielfalt erleben“ erfolgreich etabliert (Thimmel & Chehata 2015). Die Forschungen ergaben, dass Jugendbegegnungen eine Reihe von Inszenierungselementen und „sensiblen Momenten“ enthalten, die Jugendlichen Gelegenheiten für individuelle und politisch gerahmte Auseinandersetzungsprozesse bieten. Beispielsweise agieren Jugendliche im Austausch mehr oder weniger bewusst als Vertreter/innen Deutschlands im Ausland oder übernehmen eine Gastgeberrolle. Jugendliche kommen in die Situation, sich selbst und ihr Land in einem symbolischen Akt vertreten zu können. Diese Formen von ‚Repräsentation’ können Jugendliche zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Land – möglicherweise auch mit dessen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen – anregen. Als weiteres Element im Bildungsprozess des Internationalen fungiert die ‚Selbst-Erzählung’. Wird die Thematik „Deutschland als Migrationsgesellschaft“ während der Begegnung aufgegriffen, haben die Teilnehmenden die Möglichkeit, sich mit ihrer familiären Migrationsgeschichte in der Geschichte Deutschlands wiederzufinden und dazu ins Verhältnis zu setzen (vgl. Chehata et al. 2010). (8) Forschungsergebnisse und weitergehende Überlegungen führen zur Konzeption der „reflexiven Internationalität“. Damit ist eine Perspektive gemeint, die sich aus der Verschränkung der Diskurse der internationalen Jugendarbeit mit dem kritischen Diskurs um interkulturelle Pädagogik/Migrationspädagogik ergibt. Das Internationale bietet dabei einen Bildungs-, Lern- und Freizeit-Raum, der eine differenzierende Thematisierung von Staaten, kulturellen Praxen, Lebensweisen, Werten und Normen ermöglicht, aber Richtung und Tiefe der Thematisierung nicht normativ vorgibt. Die Kategorie des Nationalen der beteiligten Gruppen wird bewusst aufgeweicht, d.h. nicht mehr als die einzig relevante Kategorie gefasst, der sich andere Differenzlinien unterordnen. Dies hat methodisch-didaktische Konsequenzen. Es bedarf von Seiten der Teamer/innen internationaler Begegnungen einer sensiblen Haltung dazu, wann und in welcher Weise die Kategorien Kultur, Nation und Staat, Gesellschaft als
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relevant thematisiert werden und wann dieser Sprachgebrauch dazu dient, vermeintliche Grenzen zu markieren oder stereotypisierende Zuschreibungen zu reproduzieren. Der Begriff reflexive Internationalität verweist zugleich darauf, dass die Eigenständigkeit des Feldes der IJA erhalten bleibt. Die Kategorien Kultur, Nation, Staat oder Gesellschaft bleiben situativ und kontextabhängig relevante Kategorien im Rahmen einer politischen Dimension, die als Hintergrundfolie mitschwingt. Dazu gehören auch Fragen von Macht und Herrschaft sowie Ungleichheit innerhalb von Staaten, aber auch zwischen Staaten. Diese Fragen werden in den gängigen Konzepten der IJA bisher noch unzureichend berücksichtigt (Thimmel 2016).
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Literatur
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Migrantenselbstorganisationen
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73 Migrantenselbstorganisationen Uwe Hunger, Stefan Metzger und Seyran Bostanci
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1 Migrantenselbstorganisationen in der Migrationsgesellschaft Migrantenselbstorganisationen (MSO) sind freiwillige Vereinigungen, die von Menschen im Migrationskontext gegründet wurden und deren Mitglieder und Funktionseliten in der Mehrheit einen Migrationshintergrund haben. MSO dienen dabei zunächst oftmals als erste Anlaufstellen und Orte der Geselligkeit und Traditionspflege für Neuzugezogene, später mehr und mehr als Institutionen der Selbsthilfe und Repräsentation. Manchmal erfüllen sie auch mehrere Funktionen zugleich (für die unterschiedlichen Funktionen von MSO s. Gaitanides 2003, S. 25ff). So gibt es neben Kulturvereinen, Kirchen- und Moscheevereinen auch politische Lobby-Organisationen, Unternehmer/innenverbände, Studierendenvereinigungen, Fußball- und Elternvereine, Kindertagesstätten, Jugendklubs, Bildungsträger uvm. MSO gründeten sich dabei oftmals zunächst nur für eine Migrant/innengruppe aus einem bestimmten Herkunftsland, öffneten sich anschließend aber nicht selten auch für andere Gruppen. Im Zuge des Einwanderungsprozesses verschwimmen die Grenzen zwischen MSO und anderen Freiwilligenvereinen jedoch zunehmend. Oftmals bleibt es auch eine Frage des Selbstverständnisses der Organisationen und gesellschaftlicher Zuschreibungen, wie lange nach der Einwanderung die Differenzierung in Organisationen von „Migrant/innen“ und „Einheimischen“ gemacht wird. Während in den USA und Kanada schlichtweg die Bezeichnung „Migrantenorganisationen“ vorherrscht, wird in Deutschland oftmals von Migrantenselbstorganisationen gesprochen. Diese unterschiedliche Bezeichnungspraxis hängt unter anderem mit der gesellschaftlichen Situation im Kontext des deutschen Wohlfahrtsstaats zusammen. Während in den genannten nordamerikanischen Ländern kaum staatliche Unterstützungsleistungen für Migrant/innen existieren und die Migrant/innen sich deshalb selbst helfen und hierfür entsprechende Organisationen gründen mussten, haben in Deutschland vielfach wohlfahrtsstaatliche Organisationen diese Rolle übernommen und dabei oftmals auch für die Migrant/innen gesprochen und gehandelt. Der Begriff Migrantenselbstorganisation unterstreicht demgegenüber das Element der Selbsthilfe und der Emanzipation, indem er Vereine von Menschen mit Migrationshintergrund von Vereinen für Menschen mit Migrationshintergrund abgrenzt, die gerade zur Anfangszeit der Einwanderung in den 1950er und 1960er Jahren zur Betreuung von Menschen mit Migrationshintergrund gegründet wurden (vgl. Weiss & Thränhardt 2005). Inzwischen haben sich aber auch viele der Migrantenvereine emanzipiert und sind zu wichtigen politischen Akteuren in der Bundesrepublik Deutschland geworden (vgl. Yurdakul 2009), was auch den wissenschaftlichen Diskurs zur integrationspolitischen Bedeutung von MSO beeinflusst hat.
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Uwe Hunger, Stefan Metzger und Seyran Bostanci
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2 Von der Betreuung zur Eigenverantwortung – Entwicklungsschritte von Migrantenselbstorganisationen im deutschen Wohlfahrtsstaat Im Zuge der Arbeitsmigration seit den 1950er Jahren übernahmen, wie angedeutet, zunächst Wohlfahrtsverbände die Sozialbetreuung der sog. Gastarbeiter/innen (Puskeppeleit & Thränhardt 1990). Die unterschiedlichen Zuwanderungsgruppen wurden dabei nach Religions- und Konfessionszugehörigkeiten in informellen Absprachen unter den Wohlfahrtsverbänden „aufgeteilt“. Während die Caritas sich auf katholische Migrant/innen aus Italien, Spanien und Portugal fokussierte, übernahm das Diakonische Werk die Betreuung von christlich-orthodoxen Migrant/innen aus Griechenland und die Arbeiterwohlfahrt wiederum von Migrant/innen aus dem damaligen Jugoslawien sowie aus der Türkei (ebd.). Um die Wohlfahrtsverbände herum hat sich im Laufe der Jahre „ein ganzer Kranz von Fürsprechern“ (Weiss & Thränhardt 2005, S. 14) etabliert, die sich als Advokaten für Menschen mit Migrationshintergrund verstanden, u.a. die Kirchen, Ausländer- und Integrationsbeauftragte und auch teilweise der Zentralrat der Juden in Deutschland. In der Folge wurden in Deutschland politische Debatten vor allem über Menschen mit Migrationshintergrund und weniger mit ihnen geführt. Diese Betreuungs- und Fürsprecherstrukturen trugen dabei stark paternalistische Züge, die teilweise bis heute fortwirken und auch einer effektiven Selbstorganisation ein Stück weit entgegenwirkten. Im Zuge der Einwanderungsgeschichte emanzipierten sich viele Menschen mit Migrationshintergrund aus diesen Betreuungsstrukturen der Wohlfahrtsverbände und gründeten nach und nach eigene Vereine und Selbsthilfeorganisationen (Puskeppeleit & Thränhardt 1990, Weiss & Thränhardt 2005). Die MSO füllten dabei auch oftmals eine Lücke in der institutionellen Angebotsstruktur (Halm & Sauer 2006, S. 22). Bestes Beispiel sind hierfür die vielen Moscheevereine, die von muslimischen Zuwanderer/innen gegründet wurden (teilweise mit Hilfe aus dem Herkunftsland). In der Folge differenzierten sich die Organisationen weiter aus und entwickelten sich teilweise zu professionellen Fachträgern. Sie wurden zu wichtigen Trägern der Sozial- und Bildungsarbeit, zu professionalisierten Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit sowie zu religiösen Vertreter/innen im Rahmen der Deutschen Islamkonferenz. In vielen Bereichen der Migrationsgesellschaft nehmen MSO heute eine Schlüsselrolle ein.
3 Von der Ignorierung zur Partnerschaft – Strategien der Politik im Umgang mit Migrantenselbstorganisationen Lange Zeit wurden MSO in Deutschland von der Politik wenig wahrgenommen und ihre Rolle für den Integrationsprozess von Migrant/innen eher kritisch gesehen. Dies änderte sich erst im Zuge des Paradigmenwechsels in der deutschen Integrations- und Migrationspolitik zu Beginn der 2000er Jahre, der mit einem Bekenntnis zum Einwanderungsland einherging. Seither wird das Potential der MSO verstärkt genutzt und gefördert. Sie werden zunehmend als eigenständige Akteur/innen der Zivilgesellschaft und als Partner/innen in der Integrationsarbeit wahrgenommen (vgl. Hunger 2004). Dies fand seinen Niederschlag u.a. im Nationalen Integrationsplan der Bundesregierung und dem Nationalen Aktionsplan Integration, an deren Entwicklung erstmals auch MSO beteiligt waren. Dabei wurde auch die interkulturelle Öffnung von Institutionen vorangetrieben (vgl. Hunger & Metzger 2013), wobei MSO zunehmend als Kooperationspartner von sog. etablierten Organisationen (z.B. Wohlfahrtsverbänden, Freiwilligenagenturen, Jugendeinrichtungen, Kulturzentren, Sportverbänden usw.) wahrgenommen und nachgefragt werden (vgl. Hunger et. al. 2011).
Migrantenselbstorganisationen
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4 Von der Integrations- zur Gesellschaftsforschung: Migrantenselbstorganisationen als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung
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Ein Hauptbeweggrund solcher Kooperationen ist, dass etablierte Träger Zugang zu Zielgruppen und die MSO wiederum Zugang zu Ressourcen erhalten. Neben einer Vielzahl an gelingenden Kooperationen zeigt die Praxis, dass Kooperationen in der Praxis nicht immer problemlos verlaufen. Im Gegensatz zu etablierten Trägern arbeiten MSO oftmals ehrenamtlich. Auch der Zugang zu Fördermitteln und Ressourcenausstattung sind bei MSO und etablierten Organisationen deutlich unterschiedlich ausgeprägt. Dies erschwert eine „Partnerschaft auf Augenhöhe“ und birgt die Gefahr der Instrumentalisierung der MSO, weil sie sich etwa als „Zielgruppenbeschaffer“ ausgenutzt fühlen. Bei gleichberechtigter Partnerschaft wirkt die Kooperation aber überaus positiv und stärkt die „Hilfe zur Selbsthilfe“ (ebd.).
So wie sich der politische Umgang mit MSO in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert hat, war auch die wissenschaftliche Debatte um die Rolle von MSO im Integrationsprozess in den letzten Jahrzehnten einem tiefgreifenden Wandel unterworfen. Konzentrierte sich die Forschung lange Zeit stark pauschal auf die Frage, ob und inwiefern MSO eher segregierend oder eher integrierend wirken – in Deutschland wurde diese Frage in den 1980er Jahren in der so genannten Esser-Elwert-Kontroverse debattiert, die nach den beiden Protagonisten der Debatte benannt ist. Während die eine Seite in der Einbindung von Migrant/innen in organisierte ethnische Netzwerke, beispielsweise in einer MSO, die Integration gefährdet sah (Esser 1986), betonte die andere Seite die positiven Effekte einer sog. ‚Binnenintegration’ (Elwert 1982). Heute ist der Blick dagegen mehr auf die verschiedenen Funktionen der MSO in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen gerichtet (s. etwa die Pionierarbeit von Puskeppeleit & Thränhardt 1990; Hunger 2004; Weiss & Thränhardt 2005; Pries 2010; Sezgin 2010). Auch eine lange Zeit vorherrschende Sichtweise, dass sich eine Herkunftslandorientierung von Migrant/innen bzw. ihren MSO immer negativ auf die Integration auswirke, ist einer offeneren und nach Potentialen schauenden Betrachtungsweise gewichen. Studien einer sog. transnationalen Migrationsforschung (s. etwa Portes et al. 2007; Pries 2010) zeigen z.B., dass zwischen dem entwicklungspolitischen Engagement von Migrant/innen für ihr Herkunftsland, bei dem sie z.B. Wissen, Geld oder Güter in ihre Herkunftsländer transferieren oder dort demokratische Strukturen aufbauen, und ihrer Integration im Aufnahmeland ein produktiver Zusammenhang bestehen kann (s. auch Metzger et. al. 2011).
5 Migrantenselbstorganisationen als Akteure der interkulturellen Bildungsarbeit Schließlich spielen MSO auch eine zentrale Rolle im Bereich der interkulturellen Bildung. So unterstützen sie in vielfältiger Weise Menschen mit Migrationshintergrund in Erziehungs- und Bildungsfragen. Indem sie z.B. Hausaufgabenbetreuung, Sprach- sowie Nachhilfeunterricht übernehmen, leisten sie einen wesentlichen Beitrag für mehr Chancengleichheit im Bildungssystem. MSO unterstützen dabei auch Empowermentprozesse und helfen, Diskriminierungserfahrungen im Bildungssystem in Deutschland zu verarbeiten und Gegenstrategien zu entwickeln, wie etwa das Projekt „Interkulturelle Vätergruppen Neukölln“ zeigt. Ursprünglich war die MSO als Anlaufstelle für Väter mit türkischem Migrationshintergrund angedacht, um mit ihnen über deren Rolle bei der Erziehung ihrer Kinder zu diskutieren. Mittlerweile hat sich der Verein für alle Väter (unabhängig ihrer Herkunft) geöffnet, auch weil die Fragen und Probleme nicht
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Uwe Hunger, Stefan Metzger und Seyran Bostanci
zwangsläufig mit Migrationserfahrungen zusammenhängen. Ein weiteres Beispiel für die Bildungsarbeit von MSO ist der Verein Schülerpaten Berlin e.V., der sich für Bildungsgerechtigkeit einsetzt, indem Studierende Kindern mit Migrationshintergrund in Patenschaften Nachhilfe anbieten. Darüber hinaus fungieren MSO auch als Brücke bei der Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern. Eine Vorreiterrolle nahmen dabei schon Anfang der 1970er Jahre spanische Elternvereine ein, die in Zusammenarbeit mit Wohlfahrtsverbänden und Kirche maßgeblich daran beteiligt waren, dass das damals vorherrschende System der sog. ‚Ausländerklassen’ in Deutschland (zumindest teilweise) aufgelöst wurde und die Bildungsvoraussetzungen ‚ausländischer’ Kinder damit nachhaltig verbessert wurden. Die spanischen Elternvereine waren auch eine der ersten MSO in Deutschland, die Hausaufgabenhilfe anboten (sog. Silentien). Heute gehören sie zu den einflussreichsten MSO in Deutschland und haben jüngst mit anderen MSO den ersten bundesweiten interkulturellen Wohlfahrtverband in Deutschland gegründet. Diese wichtige Rolle von MSO in der Bildungsarbeit wird immer stärker gewürdigt und findet auch in politischen Erklärungen ihren Ausdruck. So hat etwa die Kultusministerkonferenz im Jahr 2007 gemeinsam mit verschiedenen MSO in einer Erklärung „Integration als Chance – gemeinsam für mehr Chancengerechtigkeit“ Empfehlungen und Selbstverpflichtungen zur Verbesserung von Integration und zur Förderung des Schulerfolgs der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund durch die Verbesserung der Elternarbeit erarbeitet. Literatur
Elwert, Georg (1982): Probleme der Ausländerintegration. Gesellschaftliche Integration durch Binnenintegration. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 (1982), S. 717-731. – Esser, Hartmut (1986): Ethnische Kolonien: Binnenintegration oder gesellschaftliche Isolation? In: Jürgen Hoffmeyer-Zlotnik (Hg.): Segregation oder Integration. Die Situation von Arbeitsmigranten im Aufnahmeland. Mannheim: Forschung Raum und Gesellschaft e.V., S. 106-117. – Gaitanides, Stefan (2003): Partizipation von Migranten/innen und ihren Selbstorganisationen. Berlin: E&C-Zielgruppenkonferenz ›Interkulturelle Stadt(teil)politik‹, S. 24-33. Online verfügbar unter http://www.eundc.de/pdf/63004.pdf [18.02.2016]. – Halm, Dirk & Sauer, Martina (2006): Parallelgesellschaft und ethnische Schichtung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 1-2, S. 18-24. – Hunger, Uwe (2004): Wie können Migrantenselbstorganisationen den Integrationsprozess betreuen? Wissenschaftliches Gutachten im Auftrag des Sachverständigenrates für Zuwanderung und Integration des Bundesministeriums des Innern der Bundesrepublik Deutschland. Münster, Osnabrück. – Hunger, Uwe & Metzger, Stefan. Unter Mitarbeit von Bostancı, Seyran (2011): Kooperation mit Migrantenorganisationen. Studie im Auftrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Online verfügbar unter http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/ Publikationen/ Studien/2011kooperationmigrantenorganisationen.html [18.02.2016]. – Hunger, Uwe & Metzger, Stefan (2013): Interkulturelle Öffnung auf dem Prüfstand. Neue Wege der Kooperation und Partizipation. Berlin, Münster: LitVerlag. – Metzger, Stefan; Schüttler, Kirsten & Hunger, Uwe (2011): Das entwicklungsbezogene Engagement von marokkanischen Migrantenorganisationen in Deutschland und Frankreich. In: Tatjana Baraulina; Axel Kreienbrink & Andrea Riester (Hg.): Potenziale der Migration zwischen Afrika und Deutschland. Nürnberg, Eschborn: BAMF, GIZ, S. 216-239. – Portes, Alejandro; Escobar, Cristina; Radford & Alexandria Walton (2007): Immigrant Transnational Organizations and Development: A Comparative Study. In: International Migration Review 41(1), S. 242-281. – Pries, Ludger (2010): (Grenzüberschreitende) Migrantenorganisationen als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung: Klassische Problemstellungen und neuere Befunde. In: Ludger Pries & Zeynep Sezgin (Hg.): Jenseits von ‚Identität oder Integration‘. Grenzüberspannende Migrantenorganisationen. Wiesbaden: VSVerlag, S. 15-60. – Puskeppeleit, Jürgen & Thränhardt, Dietrich (1990): Vom betreuten Ausländer zum gleichberechtigten Bürger. Freiburg: Lambertus-Verlag. – Sezgin, Zeynep (2010): Türkische Migrantenorganisationen in Deutschland – Zwischen Mitgliederinteressen und institutioneller Umwelt. In: Ludger Pries & Zeynep Sezgin (Hg.): Jenseits von ‚Identität oder Integration‘. Grenzen überspannende Migrantenorganisationen. Wiesbaden:VSVerlag, S. 201-232. – Weiss, Karin & Thränhardt, Dietrich (Hg.) (2005): Selbsthilfe. Wie Migranten Netzwerke knüpfen und soziales Kapital schaffen. Freiburg: Lambertus-Verlag. – Yurdakul, Gökçe (2009): From Guest Workers into Muslims: The Transformation of Turkish Immigrant Associations in Germany. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing.
Integrationskurse
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74 Integrationskurse Hannes Schammann und Elke Montanari
Der Integrationskurs ist Kern der Integrationsmaßnahmen der Bundesregierung und seit dem Jahr 2005 im Aufenthaltsgesetz (AufenthG) verankert. Er hat das Ziel, „die Ausländer an die Sprache, die Rechtsordnung, die Kultur und die Geschichte in Deutschland heran[zu]führen“ (§ 43 Abs. 2 AufenthG). Als strukturiertes Lehrformat soll er den nach Deutschland zugewanderten Menschen Möglichkeiten geben, sich die notwendigen sprachlichen und gesellschaftlichen Kompetenzen anzueignen, um in der deutschen Gesellschaft selbständig sprachlich handlungsfähig zu sein und über grundlegende Voraussetzungen für gesellschaftliche Teilhabe zu verfügen (BMI et al. 2007, S. 3). Dieses „Grundangebot zur Integration“ (§ 43 Abs. 2 AufenthG) wird durch weitere Integrationsmaßnahmen, insbesondere die Migrationsberatung für Erwachsene und die Jugendmigrationsdienste, flankiert (§ 45 AufenthG).
1 Inhalte und Zielgruppen Der Integrationskurs besteht aus einem Sprachkurs in deutscher Sprache von in der Regel 600 Unterrichtseinheiten von jeweils 45 Minuten sowie einem sich anschließenden Kurs zu politisch-gesellschaftlichen Grundfragen, dem Orientierungskurs von 100 Unterrichtseinheiten (§§ 11, 12 Integrationskursverordnung - IntV). Der Sprachkurs wird für einige Zielgruppen modifiziert. So sieht die Integrationskursverordnung derzeit Kurse mit erhöhtem Umfang des Sprachkurses von bis zu 900 Unterrichtseinheiten als Jugendintegrationskurse, Eltern- bzw. Frauenintegrationskurse, Sprachkurse in Kombination mit einem Alphabetisierungskurs und sprachpädagogische Förderkurse vor sowie einen Intensivkurs, der im Sprachkurs nur 400 Unterrichtseinheiten und im Orientierungskurs nur 30 Unterrichtseinheiten umfasst. Welcher Kurs den Lernenden im Einzelfall empfohlen wird, wird auf der Basis von Einstufungstests durch die Kursträger vor Ort entschieden. Der Sprachunterricht hat das Ziel, die Lernenden zu einer grundlegenden sprachlichen Handlungsfähigkeit hinzuführen, wobei das Niveau B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen angestrebt wird (IntV § 3 Abs. 2). Dieses Niveau beschreibt eine grundlegende gesellschaftliche sprachliche Handlungsfähigkeit, nicht aber eine angemessene gesellschaftliche Handlungsfähigkeit, beispielsweise um beruflich den sprachlichen Erfordernissen gewachsen zu sein. Hier müssen die Lernenden nach Abschluss des Kurses eigenständig oder mit Hilfe anderer Programme, zum Beispiel im Rahmen beruflicher Bildungsförderung, den Lernprozess fortführen. Die Kursinhalte des Sprachkurses sind in einem Rahmencurriculum definiert und umfassen folgende Handlungsfelder (BMI et al. 2007): Ämter und Behörden, Arbeit, Arbeitssuche, Aus- und Weiterbildung, Banken und Versicherungen, Betreuung und Ausbildung der Kinder, Einkaufen, Gesundheit, Mediennutzung, Mobilität, Unterricht und Wohnen. Sie wurden u.a. durch eine bundesweite Befragung von Lernenden, Dozent/innen und Kursträgern ermittelt (Ehlich et al. 2007). Am Ende des Sprachkurses kann die Prüfung „Deutsch-Test für Zuwanderer“ (DTZ) abgelegt werden, welche die Sprachbeherrschung auf den Niveaustufen des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens A2 bzw. B1 bescheinigt.
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Hannes Schammann und Elke Montanari
65,2% der Prüfungsteilnehmenden im Jahr 2015 absolvierten die Sprachprüfung mit dem B1Niveau, weitere 28,9% mit A2 (BAMF 2016). Der Orientierungskurs schließt an den Sprachkurs an und dient der Vermittlung von „Kenntnissen der Rechtsordnung, der Kultur und der Geschichte Deutschlands, insbesondere auch der Werte des demokratischen Staatswesens der Bundesrepublik Deutschland und der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Religionsfreiheit“ (IntV § 3 Abs. 1, 2). Am Ende des Orientierungskurses können die Lernenden ebenfalls einen Test absolvieren, bei dessen Bestehen mit derzeit 17 richtigen Antworten bei 33 Fragen sich seit dem Jahr 2013 im Falle eines späteren Einbürgerungswunsches das Ablegen des inhaltlich identischen Einbürgerungstests erübrigt. Die Zielgruppe des Integrationskurses sind Neuzugewanderte sowie Menschen, die schon lange in Deutschland leben (BMI et al. 2007, S. 2). Während Zuwandernde aus der Europäischen Union eine Teilnahme beantragen können, ist der Integrationskurs für Personen aus Drittstaaten grundsätzlich verpflichtend. Dies gilt allerdings nur, wenn sie „rechtmäßig auf Dauer im Bundesgebiet“ (§ 44 Abs. 1 AufenthG) leben. Ausgeschlossen von einer Teilnahme sind bislang Menschen ohne eine dauerhafte Bleibeperspektive. Dies betrifft vor allem Asylsuchende aus sog. „sicheren Herkunftsstaaten“. Demgegenüber können Asylsuchende im Asylverfahren, deren Anerkennung als Flüchtling wahrscheinlich ist, sowie Personen mit einer „Duldung“, deren Abschiebung vorübergehend ausgesetzt ist, zum Integrationskurs zugelassen werden, sofern noch genügend Kursplätze verfügbar sind (§ 44 Abs. 4 AufenthG). Seit Verabschiedung der Integrationskursverordnung im Jahr 2005 erhielten rund 1,8 Millionen Personen eine Teilnahmeberechtigung/-verpflichtung für den Integrationskurs, rund 1,3 Millionen begannen einen Kurs (vgl. hier und im Folgenden BAMF 2016). Mehr als drei Viertel aller Teilnehmenden (76,5%) seit 2005 besuchten den allgemeinen Integrationskurs, im Jahr 2015 hatten 43,3% eine Verpflichtung zur Teilnahme. Das Verhältnis von Männern zu Frauen beträgt über die Jahre hinweg etwa eins zu zwei. Ähnlich gestaltet sich die Verteilung von neu versus bereits vor längerer Zeit Zugewanderten, wobei aufgrund der steigenden Zuwanderungszahlen künftig eine Verschiebung zugunsten der Neuzuwandernden wahrscheinlich ist.
2 Umsetzung und Finanzierung Für die Durchführung der Integrationskurse ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) „in Zusammenarbeit mit Ausländerbehörden, dem Bundesverwaltungsamt, Kommunen, Migrationsdiensten und Trägern der Grundsicherung“ (IntV § 1) zuständig. Zum Aufgabenkreis des BAMF gehört die Festlegung inhaltlicher und administrativer Standards, die Prüfung der Qualifikation der Dozent/innen, die Zulassung von Kursträgern und die Zulassung von Lehrmaterial für die Integrationskurse. Die bundesweit verteilten Regionalkoordinator/ innen des BAMF prüfen die inhaltliche und administrative Umsetzung der Vorgaben und entscheiden über Anträge auf Zulassung zum Integrationskurs (bei freiwilliger Teilnahme). Eine Verpflichtung zur Teilnahme wird von den kommunalen Ausländerbehörden ausgesprochen. Verweigern Verpflichtete die Teilnahme, kann dies Auswirkungen auf ihren Aufenthaltsstatus haben (§ 8 Abs. 3 AufenthG). Die Kurse selbst werden von öffentlichen oder privaten Trägern, also beispielsweise Volkshochschulen oder Sprachschulen, durchgeführt und zu großen Teilen über das BAMF finanziert. Die Teilnehmenden zahlen einen geringen Kursbeitrag, der erstattet werden kann, falls Sozialleistungen bezogen werden. Ein andauerndes gesellschaftliches Streitthema bei der Umsetzung ist die niedrige Vergütung für Lehrkräfte in den Integrationskursen. Diese sind für Deutsch als Zweitsprache/Fremdsprache (DaZ/DaF) akademisch ausgebildet und häufig auf Honorarbasis angestellt.
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3 Politischer und gesellschaftlicher Kontext Zielsetzung und Zielgruppen des Integrationskurses spiegeln die politischen, medialen und wissenschaftlichen Debatten um Migration und Integration vor der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes Ende des Jahres 2004 wider. So hat die Zielsetzung, an deutsche Sprache und Kultur „heranzuführen“, ihren Ursprung unter anderem in Empfehlungen der sog. SüßmuthKommission und der EU-Kommission (Hentges 2010, 2013). Teils explizit, teils implizit stützte sich die Bundesverwaltung bei der Entwicklung der neuen Integrationsmaßnahmen des Zuwanderungsgesetzes aber auch auf die Arbeiten Harmut Essers, der erstens eine Differenzierung des Integrationsbegriffs in vier Dimensionen (strukturell, kulturell, sozial, identifikativ) vornimmt und zweitens den Schlüssel für erfolgreiche Teilhabe in einer einseitigen Anpassung in bestimmten Handlungsfeldern, wie der Sprache, sieht (Esser 2001, 2006). Die Frage, welche über die Sprache hinausgehenden Anpassungsleistungen der Staat von Zugewanderten fordern dürfe, lässt sich am besten anhand der emotionalisierten Diskussion um eine deutsche „Leitkultur“ im Gefolge der Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts ab 1999 illustrieren. Einen vorläufigen Endpunkt fand diese Debatte im Jahr 2008 durch die Einführung eines bundeseinheitlichen Einbürgerungstests. Dort werden parteiübergreifend konsentierte Elemente einer vom Staat einzufordernden „Leitkultur“ festgeschrieben, die man im Wesentlichen als Grundwissen zum politischen System Deutschlands bezeichnen könnte. Diesem Konsens entspricht die bereits Ende 2004 festgelegte Zielsetzung des Integrationskurses und könnte daher auch als vorweggenommenes Ergebnis der Leitkultur- und Einbürgerungstestdebatte begriffen werden. Auch die oben beschriebenen Zielgruppen des Integrationskurses, insbesondere der Einbezug von bereits vor vielen Jahren zugewanderten Personen, sind aus dem Entstehungskontext heraus zu verstehen: Vor dem Hintergrund moderater Zuwanderung und stark fallender Zuwanderungs- und Asylantragszahlen ging es in den Debatten weniger um Neuzuwandernde als vielmehr um die Frage der „nachholenden Integration“ (Bade 2005): Nachdem Integrationspolitik bis dato vor allem auf Ebene der Kommunen stattgefunden hatte (u.a. Gesemann & Roth 2009) und auch durchaus existente Sprachförderung des Bundes nur wenig programmatisch erfolgte (u.a. Gereke & Srur 2003), war mit dem Zuwanderungsgesetz und dem Integrationskurs die Hoffnung verbunden, die Versäumnisse der Vergangenheit seitens des Bundes aufarbeiten zu können. Mit einer öffentlichen Debatte etwa ab dem Jahr 2012 über den beschleunigten Anstieg der Zuwanderungs- und vor allem der Asylantragszahlen erhielt die Diskussion um die Zielgruppen des Integrationskurses neue Nahrung. Beispielsweise strengten die Länder Rheinland-Pfalz, Brandenburg und Schleswig-Holstein im Jahr 2013 eine vorerst gescheiterte Bundesratsinitiative an, um die Integrationskurse auch für EU-Bürger/innen, Asylsuchende und Geduldete zu öffnen (BR-Drucksache 756/13). Ab dem Jahr 2015 wurden die Kurse dann für Asylsuchende mit „guter Bleibeperspektive“ geöffnet. Das Thema blieb und bleibt regelmäßiger Bestandteil der Diskussionen auf Integrations- und Innenministerkonferenzen zwischen Bund und Ländern. Dabei geht es immer weniger um grundsätzliche Sinnhaftigkeit der Ausweitung der Zielgruppen als vielmehr um deren Finanzierung. Die skizzierte enge Verbindung von politischen Debatten und gesetzlich definierten Zielen und Zielgruppen des Integrationskurses erwächst auch aus seiner zentralen Stellung im Aufenthaltsrecht. Die in § 43 AufenthG vorgenommene Proklamation des Integrationskurses zur zentralen Integrationsmaßnahme des Bundes weckt einerseits kaum erfüllbare Erwartungen, führt andererseits aber auch dazu, dass sich aus seinen Eckpunkten die jeweils aktuelle integrationspolitische Ausrichtung der Bundesregierung ablesen lässt.
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Hannes Schammann und Elke Montanari
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4 Der Integrationskurs als Thema der Forschung Wegen seiner Bedeutung für die Integrationspolitik des Bundes fehlt der Integrationskurs in kaum einer Darstellung der Migrations- und Integrationspolitik Deutschlands. Auch in Arbeiten der vergleichenden Migrationsforschung wird er seit der Phase seiner Konzeptionierung ähnlichen Angeboten aus anderen Ländern gegenüber gestellt (u.a. Schönwälder et al. 2005; Hentges 2010). In größer angelegten Vergleichen dient er als ein Indikator zur Bewertung staatlicher Migrationspolitik, beispielsweise im einflussreichen „Migrant Integration Policy Index“ (MIPEX). Daneben beschäftigen sich politikwissenschaftlich arbeitende Autor/innen vor allem mit den Inhalten des Orientierungskurses. Dabei spielen neben den oben skizzierten Debatten insbesondere didaktische Fragestellungen sowie Aspekte der politischen Bildung eine Rolle. Die entsprechenden Arbeiten sind meist mit direkten Forderungen an die Praxis verbunden. Kritisiert wurde beispielsweise der geringe zeitliche Umfang der Kurse (Hentges 2010, 2013). Auch aufgrund solcher Kritik wurde der Orientierungskurs von anfangs 30 Unterrichtseinheiten schrittweise auf zunächst 60 und nunmehr 100 Unterrichtseinheiten aufgestockt. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht stellen die Kurse unter anderem durch Festlegung von Qualifikationsstandards der Dozent/innen, der Lehrwerke und der zugelassenen Träger große Fortschritte dar. Die Umsetzung des Ziels des Integrationskurses, eine sprachliche Handlungsfähigkeit im deutschsprachigen gesellschaftlichen Alltag zu erreichen, die die Teilhabe in alltäglichen Situationen ermöglichen soll, wird eher kritisch betrachtet. Die komplexen Erfordernisse, die sich Zuwanderer/innen im Alltag stellen, stehen im Gegensatz zu den begrenzten sprachlichen Mitteln, die sich die Lernenden im gegebenen Zeitrahmen erarbeiten können und der auf dem Niveau B1 vorausgesetzt werden soll. Das wird besonders deutlich im Handlungsfeld „Ämter und Behörden“. Die Vorstellung eines angemessenen, demokratischen Dialogs zwischen Bürger/in und Institution ist auf einem sprachlichen Niveau A2 oder B1 nicht realistisch. Auch die Prüfungsformate mussten sich erst an realistische Handlungsbedarfe heranarbeiten. Ebenso bleiben die vielfältigen mehrsprachigen und mehrschriftlichen Kenntnisse der Zugewanderten unbeachtet (Montanari 2015; Hentges et al. 2010; Hentges 2013). Hier sind auf den Integrationskurs aufbauende Kursangebote zur beruflichen Integration notwendig, um an den im Integrationskurs erlangten Lernerfolg anzuknüpfen. Problematisch ist der erhebliche Verwaltungsaufwand, dessen Reduktion seit Bestehen der IntV nicht gelungen ist. Jenseits der akademischen Thematisierung bietet die Forschergruppe des BAMF praxisnahe Studien zum Integrationskurs (u.a. Rother 2009; Schuller et al. 2011, 2012). Auf der Website des BAMF (www.bamf.de) erhält man zudem aktuelles Datenmaterial sowie Informationen zu laufenden Forschungsprojekten rund um den Integrationskurs. Literatur
Bade, Klaus J. (2005): Nachholende Integrationspolitik. In: ZAR - Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 25 (7), S. 217-222. – BAMF (2016): Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Bericht zur Integrationskursgeschäftsstatistik für das Jahr 2015. Nürnberg. – BMI; BAMF (2007): Bundesministerium des Inneren; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Rahmencurriculum für Integrationskurse Deutsch als Zweitsprache. München: Goethe-Institut. – Bommes, Michael (2009): Die Rolle der Kommunen in der bundesdeutschen Migrations- und Integrationspolitik. In: Frank Gesemann & Roland Roth (Hg.): Lokale Integrationspolitik in der Einwanderungsgesellschaft. Migration und Integration als Herausforderung von Kommunen. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 89-109. – Ehlich, Konrad; Montanari, Elke & Hila, Anna (2007): Recherche und Dokumentation der Sprachbedarfe hinsichtlich der Sprachbedarfe von Teilnehmenden an Integrationskursen - InDaZ. München: Goethe-Institut. – Esser, Hartmut (2001): Integration und ethnische Schichtung. Hg. v. Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung. Mannheim. – Esser, Hartmut (2006): Sprache und Integration. Die sozialen Bedingungen und Folgen des Spracherwerbs von Migranten. Frankfurt a.M.: Campus-Verl. – Gereke, Iris;
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Srur, Nadya (2003): Integrationskurse für Migrantinnen. Genese und Analyse eines staatlichen Förderprogramms. Oldenburg: Bibliotheks- und Informationssystem der Univ. – Gesemann, Frank & Roth, Roland (Hg.) (2009): Lokale Integrationspolitik in der Einwanderungsgesellschaft. Migration und Integration als Herausforderung von Kommunen. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. – Hentges, Gudrun (2010): Integrationsund Orientierungskurse. Konzepte - Kontroversen - Erfahrungen. In: Gudrun Hentges; Volker Hinnenkamp & Almut Zwengel (Hg.): Migrations- und Integrationsforschung in der Diskussion. Biografie, Sprache und Bildung als zentrale Bezugspunkte. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 23-76. – Hentges, Gudrun (2013): Integrations- und Orientierungskurse - Eine Bilanz nach sieben Jahren. In: Heinz Ulrich Brinkmann & Hacı-Halil Uslucan (Hg.): Dabeisein und Dazugehören. Integration in Deutschland. Wiesbaden: Springer VS, S. 343-364. – Hentges, Gudrun; Hinnenkamp, Volker & Zwengel, Almut (Hg.) (2010): Migrations- und Integrationsforschung in der Diskussion. Biografie, Sprache und Bildung als zentrale Bezugspunkte. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. – Montanari, Elke (2015): „Weil in Deutschland auch brauchen solche Leute wie ich, viele Sprachen können!“ – sprachliche Handlungsbedarfe von Lernenden in Integrationskursen. In: Zielsprache Deutsch (1). – Rother, Nina (2009): Das Integrationspanel. Ergebnisse zur Integration von Teilnehmern zu Beginn ihres Integrationskurses. Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Online verfügbar unter https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/WorkingPapers/wp19-Integrationspanel.pdf?__ blob=publicationFile [10.02.2016]. – Schönwälder, Karen; Söhn, Janina & Michalowski, Ines (2005): Sprach- und Integrationskurse für MigrantInnen: Erkenntnisse über ihre Wirkungen aus den Niederlanden, Schweden und Deutschland. Berlin. – Schuller, Karin; Lochner, Susanne & Rother, Nina (2011): Das Integrationspanel. Ergebnisse einer Längsschnittstudie zur Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von Integrationskursen. Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Online verfügbar unter https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/ Publikationen/Forschungsberichte/fb11-integrationspanel.pdf?__blob=publicationFile [10.02.2016]. – Schuller, Karin; Lochner, Susanne & Rother, Nina (2012): Das Integrationspanel. Entwicklung der Deutschkenntnisse und Fortschritte der Integration bei Teilnehmenden an Alphabetisierungskursen. Unter Mitarbeit von Denise Hörner. Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Online verfügbar unter https://www.bamf.de/SharedDocs/ Anlagen/DE/Publikationen/WorkingPapers/wp42-integrationspanel.pdf?__blob=publicationFile [10.02.2016].
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5.3 Orte kultureller Bildung
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75 Bibliotheken als interkulturelle Lernorte Silke Schumann Rund 8.000 Bibliotheken mit etwa 10.000 Standorten verzeichnet die deutsche Bibliotheksstatistik, zumeist Öffentliche Bibliotheken, die für die Grundversorgung mit Medien und Literatur zuständig sind. Rund 15% der Schulen verfügen über eine fachlichen Standards entsprechende Schulbibliothek. Bibliotheken sind niedrigschwellige Orte des nichtformalen Lernens, der kulturellen Bildung und der Unterhaltung, die ihre Nutzer/innen im Idealfall ein Leben lang begleiten. Sie bieten Medien zur Nutzung und Ausleihe an und vermitteln Orientierung in der Medienvielfalt. Über Veranstaltungen zur Leseförderung und Einführungen in die Medien- und Bibliotheksnutzung fördern sie gezielt die Medienkompetenz von Kindern und Erwachsenen. Dabei kooperieren sie systematisch mit anderen Akteuren aus Bildung und Kultur. Die digitale Revolution verändert die Bibliotheken (vgl. Eigenbrodt & Stang 2014): Virtuelle Medienangebote entgrenzen den physischen Bibliotheksraum, der sich gleichzeitig als „dritter Ort“, also als leicht zugänglicher sozialer Treffpunkt außerhalb von Wohnung und Arbeitsort bzw. Schule, wachsender Beliebtheit erfreut. Zudem definieren sich Bibliotheken immer stärker über ihre Rolle als Bildungspartner in vielfältigen Lernprozessen (Jochumsen et al. 2014, S. 7375).
1 Bibliotheksdienstleistungen für Migranten in Deutschland: Entwicklung, Ziele und Strukturen. Dienstleistungen für Menschen mit Migrationserfahrung haben in deutschen Bibliotheken eine lange Tradition. Allerdings war nach dem Eintreffen der sog. Gastarbeiter/innen ab den 1960er Jahren die Bereitstellung von Bibliotheksdienstleistungen für Migrant/innen lange Zeit eine Sache der Eigeninitiative weniger Großstadtbibliotheken. Solange als Grundkonsens der Bundesrepublik Deutschland galt, dass die sog. Gastarbeiter/innen Deutschland bald wieder verlassen würden, betrachteten viele Verantwortliche Bibliotheksdienstleistungen für Migrant/innen als eher exotische Sonderleistungen (Carstensen 1996, S. 224-228). Daher blieb die Entwicklung der interkulturellen Bibliotheksarbeit hierzulande deutlich hinter derjenigen der klassischen Einwandererländer zurück. Letztere prägten die internationalen Qualitätsstandards für die multikulturelle Bibliotheksarbeit, welche die International Federation of Library Associations and Institutions (IFLA) bereits in den 1980er Jahren formulierte (Carstensen 1996, S. 228f ). Bis heute werden die Standards regelmäßig aktualisiert und fortgeschrieben (vgl. IFLA, ohne Jahr).
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Die politische Anerkennung der Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist, hat den Stellenwert der interkulturellen Bibliotheksarbeit verändert. Der Deutsche Bibliotheksverband e. V. (dbv) definierte sie im Jahr 2011 als Kernaufgabe des Bibliothekswesens in einer kulturell und ethnisch vielfältigen Gesellschaft: Bibliotheken sollen für Migrant/innen einen freien Zugang zu Informationen und Wissen sicherstellen, ihnen gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen, sie bei Lernprozessen unterstützen und als Raum für Begegnung und Dialog die gegenseitige Toleranz und Wertschätzung verschiedener Bevölkerungsgruppen fördern (vgl. Bibliotheken und die Diversität 2011). Damit stehen Bibliotheken mit ihren Zielen der interkulturellen Pädagogik nahe. Vor Ort orientieren sich Bibliotheken an den Diversitäts- oder Integrationskonzepten ihrer Träger; häufig sind das die Kommunen. Auf Bundesebene vernetzt die Kommission Interkulturelle Bibliotheksarbeit des dbv die interkulturell arbeitenden Bibliothekar/innen (vgl. dbv-Kommission Interkulturelle Bibliotheksarbeit, ohne Jahr; www.interkulturellebibliothek.de, ohne Jahr).
2 Internationale Vorbilder Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Bibliotheken als interkulturelle Lernorte
Bibliotheken aus klassischen Einwanderungsländern wie Kanada, Australien und den USA haben das deutsche Bibliothekswesen ebenso beeinflusst wie Best-Practice-Beispiele aus Skandinavien. Zwei herausragende Beispiele werden im Folgenden beschrieben. Im New Yorker Stadtbezirk Queens lebt traditionell eine hohe Zahl an Immigrant/innen. Er ist von einer hohen Dynamik der demografischen Situation geprägt. Bereits 1977 startete die dortige Queens Borough Public Library das New Americans Program, das die interkulturellen Services und Veranstaltungen zu den Kernangeboten der Bibliothek machte. Zum New Americans Program zählen selbstverständlich mehrsprachige Bestände sowie Veranstaltungen in vielen Sprachen. Eine Besonderheit stellen die Adult Learning Centers dar, die organisatorisch zur Bibliothek gehören und Leistungen im Bereich der Erwachsenenbildung anbieten, mithin also Services, die in Deutschland Volkshochschulen erbringen. Es gibt z.B. kostenfreie Alphabetisierungskurse und Kurse ‚Englisch als Nicht-Muttersprache‘, durchgeführt von Bibliotheksmitarbeiter/innen mit entsprechender Aus- oder Weiterbildung. Beides gehört zu den gefragtesten Angeboten der Bibliothek. Leitstern der Queens Public Library ist die Community-Orientierung: Die Angebote werden auf das Einzugsgebiet zugeschnitten und zwar so, dass eine künftige Nachfrage möglichst schon im Vorfeld erkannt und entsprechende Dienstleistungen eingerichtet werden. Erreicht wird dies mittels einer differenzierten statistischen Analyse der Bevölkerungsstruktur sowie durch eine starke Kooperationskultur und Kontaktarbeit. In Europa ist die Stadtteilbibliothek Vollsmose der Stadtbibliothek Odense/Dänemark ein gutes Beispiel dafür, wie eine Bibliothek als Lernort für Einwanderer/innen fungieren kann. Der Stadtteil Vollsmose ist ein multiethnisches Ballungszentrum. Seine Innovationsbereitschaft dient als Vorbild für andere Städte und Gemeinden, weil er durch vielfältige Maßnahmen der miteinander gut vernetzten Einrichtungen die Eingliederung und Teilhabe an der dänischen Gesellschaft befördert und wie eine „Integrationsschleuse“ wirkt (Elbeshausen 2011, S. 1f ). Viele der Angebote der Stadtteilbibliothek gehen weit über die klassische Literaturbereitstellung und -vermittlung hinaus: Die Bibliothek unterstützt z.B. Studierende mit Migrationserfahrung durch studienbegleitende Maßnahmen. Im „Girls activity room“ treffen sich (vorwiegend) muslimische Mädchen von zwölf bis 16 Jahren mehrmals wöchentlich, z.B. zu Workshops, Lesungen oder Diskussionen zu aktuellen Themen. Ausflüge zu Unternehmen und Institutionen ergänzen die Treffen in der Bibliothek und ermöglichen den Teilnehmerinnen Einblicke in das für sie eher unbekannte öffentliche Leben in Dänemark (Sauermann 2009, S. 66).
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Silke Schumann
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3 Interkulturelle Bibliotheksangebote in Deutschland Keine Bibliothek in Deutschland bietet ein solch umfassendes Leistungsspektrum der interkulturellen Bibliotheksarbeit wie die genannten internationalen Beispiele. Doch haben Bibliotheken hierzulande in den letzten Jahren vielversprechende Initiativen und Programme entwickelt. Sie kooperieren dabei mit pädagogischen Institutionen vom Kindergarten bis zur Volkshochschule, um deren Arbeit durch spezifisch bibliothekarische Aspekte zu ergänzen. Wie die rasche Bereitstellung von Angeboten für die 2015 in großer Zahl eingetroffenen Geflüchteten zeigt, können sie schnell auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen reagieren (vgl. Bibliotheksangebote für Flüchtlinge und Asylbewerber, ohne Jahr). Bibliotheken ermöglichen Migrant/innen die Pflege ihrer Herkunftssprache und -kultur. Ihre besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Unterstützung des kindlichen Sprachlernprozesses. Sie bauen verstärkt herkunftssprachliche Kinderbuchbestände auf, ergänzt durch mehrsprachige Titel. Herkunftssprachige oder mehrsprachige Vorleseveranstaltungen wie beispielsweise in der Stadtbibliothek Nürnberg oder in der Stadtbücherei Stuttgart fördern die Sprach- und Leseentwicklung und setzen ein Zeichen durch die Repräsentation der Herkunftssprache im öffentlichen Raum (Rösler 2014, S. 183-191). Dies gilt umso mehr, wenn auch inhaltlich Themen der Herkunftskultur wie etwa der Ramadan behandelt werden. Häufig unterstützen Ehrenamtliche oder Kooperationspartner die Bibliotheken dabei mit ihrer herkunftskulturellen Kompetenz. Auch erwachsene Migrant/innen finden in vielen Bibliotheken herkunftssprachliche Medienbestände; eine Übersicht findet sich auf dem interkulturellen Bibliotheksportal (www.interkulturellebibliothek.de, ohne Jahr). Die Förderung von Deutschkenntnissen gilt als Schlüssel für den Erfolg von Menschen mit Migrationserfahrung in der Ankunftsgesellschaft (Sauermann 2009, S. 57f ). Bibliotheken können dabei insbesondere bei Kindern auf ihr klassisches Repertoire zur Leseförderung und Vermittlung von Informationskompetenz zurückgreifen, das sie im Hinblick auf Kultur- und Sprachsensibilität modifizieren. Das Programm „Kinder werden WortStark“ der Berliner Bezirksbibliothek FriedrichshainKreuzberg richtet sich an Kinder aus bildungsunerfahrenen Familien und Familien mit Migrationserfahrung. Wichtige Elemente sind die enge Zusammenarbeit mit Kindertagesstätten und Schulen, die Einbeziehung der Eltern sowie die Regelmäßigkeit der Bibliotheksbesuche. Bei mehreren Vorlesestunden über ein halbes Jahr hinweg, deren Inhalte mit Kindergärten und Schulen abgestimmt werden, üben Kinder das sprachliche Verstehen mit allen Sinnen, durch Vorlesen, Spielen, Singen und Bewegung (vgl. Seewald 2014). Eltern und Kinder erhalten außerdem gemeinsame Bibliothekseinführungen. Zweitklässler aus Migrantenfamilien praktizieren einmal wöchentlich in Kleingruppen das Sprechen, Lesen und Schreiben auf Deutsch. Hierbei arbeitet die Bibliothek mit Studierenden der Erziehungswissenschaften zusammen. Die Stadtbücherei Frankfurt am Main entwickelte, unterstützt durch einen mit Personen unterschiedlicher Herkunft besetzten interkulturellen Beirat, im EU-Projekt „Libraries for All – ESME“ Angebote, die die kindliche Sprach- und Leseförderung mit der Vermittlung von Kompetenzen in der familiären Medienerziehung verknüpfen. Kooperationspartner sind Initiativen, Vereine, Kindergärten und Schulen (Schumann 2010). Schulbibliotheken profitieren bei ihren Aktivitäten von der besonders engen Einbindung in den schulischen Kontext. Der von der Schulbibliothekarischen Arbeitsstelle (sba) der Stadtbücherei Frankfurt am Main in Schulbibliotheken durchgeführte Frankfurter Eltern-Kind-VorleseAbend „Schenk mir Geschichten!“ erreicht rund 80% der Eltern eines angesprochenen Schülerjahrgangs, darunter auch viele Familien mit Migrationserfahrung und buchferne Haushalte (Sühl 2011).
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Bibliotheken als interkulturelle Lernorte
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Erwachsene Deutschlernende werden in Bibliotheken mit besonders auf sie zugeschnittenen Bibliothekseinführungen gefördert wie in Frankfurt am Main, in München oder Köln. In den Bücherhallen Hamburg treffen sich unter der Überschrift „Dialog in Deutsch“ Gesprächsgruppen unter ehrenamtlicher Leitung (vgl. www.interkulturellebibliothek.de). Ebenfalls für Deutschlernende sowie für Migrant/innen, die in deutscher Sprache alphabetisiert werden, wurde in der Frankfurter Stadtteilbibliothek Gallus mit inhaltlicher Unterstützung der Volkshochschule Frankfurt am Main ein PC-Lernstudio eingerichtet (Lotz 2008, S. 193-200). Dort können Lernende nach einer Einführung spezielle Software und ausgewählte Internet-Adressen nutzen. In anderen Bibliotheken üben Einwanderer/innen und Geflüchtete auch mit von Bibliotheken abonnierten E-Learning-Programmen. Dadurch lernen die Lernenden öffentlich zugängliche Selbstlernmöglichkeiten kennen und erhalten Orientierung in der Medienvielfalt. Bibliotheken tragen so dazu bei, die Selbständigkeit von Migrant/innen bei der Bewältigung ihres Alltags und der Sicherung ihrer Existenz zu fördern (Sauermann 2009, S. 57f ). Darüber hinaus stimulieren sie die Aufnahmebereitschaft der altansässigen Gesellschaft, indem sie mit ihren Medienbeständen kompetente Information über unterschiedliche Kulturen ermöglichen oder das Lernen von Fremdsprachen besonders unterstützen. Nicht zuletzt ermöglicht die Bibliothek in ihrer Funktion als dritter Ort die Begegnung der einzelnen Kulturen untereinander. Viele Bibliotheken beteiligen sich an den in ganz Deutschland stattfindenden Interkulturellen Wochen und stellen auch außerhalb dieser Zeit ihre Räume für entsprechende Veranstaltungen zur Verfügung. So ist der bibliothekarisch betreute „sprachraum“ der Stadtbibliothek Köln ein Treffpunkt für Deutschlernende, Geflüchtete und Ehrenamtliche sowie ein Raum für interkulturelle Aktivitäten (Stadtbibliothek Köln 2016). Bibliotheken sind daher „kommunikative Begegnungsstätten, die den interkulturellen Austausch und das Verständnis für kulturelle Verschiedenheit zwischen den Bürgern fördern” (Sauermann 2009, S. 57f ).
4 Erfolgsfaktoren Bibliotheken sind Bildungspartner und Lernorte. Gemäß ihrem Auftrag und aufgrund ihrer Angebotsvielfalt sind sie prädestiniert für Aufgaben der interkulturellen Bildung. In zunehmendem Maße nehmen Bibliotheken im deutschsprachigen Raum ihre Funktion als interkulturelle Lernorte bewusst wahr. In der bibliothekarischen Fachdiskussion hat das Thema inzwischen einen festen Platz. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor für das interkulturelle Engagement von Bibliotheken ist die Kooperation mit Partnern, die die gleichen Zielgruppen bedienen. Deren Bildungsprogramme werden durch die bibliothekarischen Angebote der Medienvermittlung und Leseförderung erweitert und ergänzt. Daneben spielen Öffentlichkeitsarbeit und Marketing, die Verankerung interkultureller Werte in Leitbildern, die Beteiligung von Migrant/innen an der Angebotsentwicklung und -umsetzung sowie eine entsprechende Personalentwicklung und ein Diversity-Management eine wichtige Rolle. Zentral ist die institutionelle Verankerung der interkulturellen Arbeit als Handlungsfeld in der einzelnen Bibliothek vor Ort (vgl. Lotz & Schumann 2004, S. 5; S. 22-27). Die einzelnen Faktoren sind in den Bibliotheken hierzulande noch sehr unterschiedlich weit entwickelt. Werden sie nachhaltig verfolgt und umgesetzt, füllt eine Bibliothek ihre Funktion als interkultureller Lernort erfolgreich aus und trägt somit ihrem von Diversität geprägten Einzugsbereich dauerhaft Rechnung.
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Literatur
Silke Schumann
Bibliotheken und die Diversität in der Gesellschaft. Positionspapier von dbv und CILIP (Juni 2011). Berlin. Online verfügbar unter http://www.bibliotheksverband.de/fachgruppen/kommissionen/interkulturelle-bibliotheksarbeit/ publikationen.html [03.01.2017]. – Bibliotheksportal (ohne Jahr), hg vom Deutschen Bibliotheksverband e. V./knb – Kompetenznetzwerk für Bibliotheken. Online verfügbar unter http://www.bibliotheksportal.de/bibliotheken/ bibliotheken-in-deutschland.html [03.01.2017]. – Carstensen, Corinna (1996): Multikulturelle Bibliotheksarbeit in einer multikulturellen Gesellschaft. In: Bibliothek 20 (2), S. 216-244. – dbv-Kommission Interkulturelle Bibliotheksarbeit (ohne Jahr). Online verfügbar unter http://www.bibliotheksverband.de/fachgruppen/kommissionen/ interkulturelle-bibliotheksarbeit.html [03.01.2017]. – Eigenbrodt, Olaf & Stang, Richard (Hg.) (2014): Formierungen von Wissensräumen. Optionen des Zugangs zu Information und Bildung. Berlin: De Gruyter Saur. – Elbeshausen, Hans (2011): Experimentarium für Integration – ein dänisches Experiment. Vortrag Bibliothekartag Berlin. Online verfügbar unter http://www.opus-bayern.de/bib-info/volltexte/2011/1025/pdf/Vortrag_Berlin_ kort.pdf [03.01.2017]. – IFLA (ohne Jahr): Publications from MCULTP. Online verfügbar unter: http://www.ifla. org/publications/73 [03.01.2017]. – Jochumsen, Henrik; Skot-Hansen, Dorte & Hvenegaard-Rasmussen, Casper (2014): Erlebnis, Empowerment, Beteiligung und Innovation: Die neue Öffentliche Bibliothek. In: Olaf Eigenbrodt & Richard Stang (Hg.) (2014): Formierungen von Wissensräumen. Optionen des Zugangs zu Information und Bildung. Berlin: De Gruyter Saur, S. 67-79. – Keller-Loibl, Kerstin (2014): Handbuch Kinder- und Jugendbibliotheksarbeit, Bad Honnef, 2. vollst. überarb. u. erw. Aufl.: Bock + Herchen Verlag. – Lotz, Birgit (2008): „..im Idealfall ein Ort lebenslangen Lernens…“ – Das PC-Lernstudio der Internationalen Bibliothek Frankfurt am Main. In: Petra Hauke & Rolf Busch (Hg.): Brücken für Babylon. Interkulturelle Bibliotheksarbeit. Grundlagen - Konzepte - Erfahrungen. Bad Honnef: Bock + Herchen Verlag, S. 193-200. Online verfügbar unter: http:// edoc.hu-berlin.de [03.01.2017]. – Lotz, Birgit & Schumann, Silke (2004): Multikulturelle Bibliotheksarbeit. „Die Internationale Bibliothek“ in der Stadtteilbibliothek Gallus der Stadtbücherei Frankfurt am Main. In: Handbuch KulturManagement, Berlin: Raabe, B 4.15, S. 1-29. – Rösler, Karin (2014): Ich bau Dir eine Lesebrücke. In: Kerstin Keller-Loibl (2014): Handbuch Kinder- und Jugendbibliotheksarbeit, Bad Honnef, 2. vollst. überarb. u. erw. Aufl.: Bock + Herchen Verlag, S. 183-191. – Sauermann, Katrin (2009): Impulse aus dem Ausland für die interkulturelle Bibliotheksarbeit in Deutschland: Trends, Herausforderungen und Perspektiven. In: Bibliothek 33 (1), S. 55-68. – Schumann, Silke (2010): Frankfurt am Main punktet mit EU-Projekt. Interkulturelle Familienangebote der Stadtbücherei im Rahmen von “Libraries for All”. In: BuB. Forum Bibliothek und Information 62 (6) S. 445-447. – Seewald, Katrin (2014): Kinder werden WortStark. Die Bibliothek als anregender Lernort für sprachbildende Programme. In: Kerstin Keller-Loibl (2014): Handbuch Kinder- und Jugendbibliotheksarbeit, Bad Honnef, 2. vollst. überarb. u. erw. Aufl.: Bock + Herchen Verlag, S. 192-198. – Stadtbibliothek Köln (2016): sprachraum. Online abrufbar unter: http://www.bibliotheksportal.de/themen/bibliothekskunden/interkulturellebibliothek/praxisbeispiele/bibliotheksangebote-fuer-fluechtlinge-und-asylbewerber.html [03.01.2017]. – Sühl, Hanke (2011): Schenk mir Geschichten. Online abrufbar unter: http://www.lesen-in-deutschland.de/html/content.php?object=journal&lid=1072 (03.01.2017). – www.interkulturellebibliothek.de (ohne Jahr); hg. von der dbvKommission Interkulturelle Bibliotheksarbeit. Online abrufbar unter http://www.bibliotheksportal.de/themen/ bibliothekskunden/interkulturelle-bibliothek.html [03.01.2017].
Theater
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76 Theater Wolfgang Sting
Migration, Globalisierung und die damit verbundene Inter- und Transkulturalität prägen Einwanderungsländer wie Deutschland. Das bedeutet kulturelle Vielfalt einerseits, aber andererseits auch ungleiche soziale und kulturelle Teilhabe von Migrant/innen und Postmigrant/innen. Wie geht das Theater mit dieser gesellschaftlichen Entwicklung und Heterogenität um? Die Relevanz von Theater zeigt sich heute auch darin, ob und wie die Thematisierung von Interkulturalität und Migrationserfahrung – inhaltlich, ästhetisch und durch die Partizipation von Akteur/innen mit Migrationshintergrund – im Theater gelingt und die theatralen Spiel- und Kommunikationsformen erweitert. Dass Interkulturalität und die Auseinandersetzung mit anderen, auch außereuropäischen Theaterformen ästhetisch und thematisch ein produktiver Faktor sein können, haben avantgardistische Theatermacher der 1920er Jahre wie Bertolt Brecht und Max Reinhardt oder der 1960/70er Jahre wie Peter Brook, Eugenio Barba und Ariane Mnouchkine gezeigt. Aus diesen Theaterexperimenten haben sich in Theorie und Praxis anregende neue epische und performative Spielformen und Theaterkonzepte entwickelt. „Interkulturelles Theater“, so die Definition von Christine Regus, „ist ein Theater, in dem Elemente aus beliebigen, unterscheidbaren Kulturen auf irgendeine Weise verbunden werden und dies ein zentrales Merkmal ist“ (Regus 2008, S. 42). Im Verständnis eines antiessentialistischen Kulturbegriffs, der Kulturen im Sinne von Möglichkeitsräumen stets als dynamische und durchlässige Lebensäußerungen fasst und sich nicht auf ethnische oder nationalstaatliche Zuschreibungen und Normativität reduzieren lässt, und angesichts vielfältiger (trans-)kultureller Mischformen, ist diese Definition zu erweitern. Die Theaterarbeit, die sich aktuell in Deutschland szenisch, ästhetisch und thematisch mit den kulturellen Phänomenen und Praxen, Fragen und Perspektiven einer Einwanderungsgesellschaft beschäftigt, wird somit, je nach Ausrichtung und Programmatik, versehen mit den Labels: interkulturell, transkulturell (vgl. Welsch 2010), transnational, hybridkulturell oder postmigrantisch. Das Neben- und Miteinander der Kulturen einer Migrationsgesellschaft sind Ausgangspunkt der verstärkten nicht nur ästhetisch interessierten Auseinandersetzung mit heterogenen Theater- und Ausdrucksformen. Während der schwerfällige Stadt- und Staatstheaterbetrieb erst langsam auf brennende Fragen der Migrationsgesellschaft eingeht, zeigt sich im Kinder- und Jugendtheater, in der Theaterpädagogik und in der Freien Szene ein anderes Bild. Im Folgenden werden Spielformen und theoretische Leitbegriffe des inter- und transkulturellen Theaters und deren theaterpädagogische Bedeutung vorgestellt.
1 Interkulturelles Theater – Beispiele Bunnyhill, next Generation, Homestories, Clash, Tacheles, Klassentreffen, BASTARD.Wahlidentitäten, Familiengeschichten, Heimat im Kopf und GHETTO BLASTER heißen interkulturelle und postmigrantische Theaterproduktionen der letzten zehn Jahre, die in München, Bochum, Essen, Berlin, Hamburg oder Hannover beispielhaft Haltungen und Einsichten junger Migrant/ innen in Szene setzen. Insbesondere das transnationale Projekt Hajusom aus Hamburg versteht
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Wolfgang Sting
es seit Jahren, unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen mit ihrer kontinuierlichen Theaterarbeit einen sozialen und theatralen Raum zur Auseinandersetzung mit Migration zu geben. Alle genannten Inszenierungen entstehen als kollektiver Prozess. Im Zentrum stehen die Spieler/ innen mit ihren individuellen und kulturellen Ausdrucksformen, nicht dramatische Figuren und Rollentext. Berichte, Recherchen, Geschichten und Dokumente über das Leben aus einer Migrationsperspektive bilden oft den inhaltlichen Rahmen. Dass dabei keine platte Selbstdarstellung herauskommt, verhindern professionelle Anleitung und Regie. In diesen Produktionen verbinden sich performative Spiel- und Darstellungsformate mit jugend- und popkulturellen Ausdrucksformen. So entsteht eine vom Literaturtheater abweichende aktuelle Ästhetik mit einer Nähe zur Performance. Thematisch werden Fragen der Verortung in dieser Gesellschaft verhandelt: Heimat, Integration, Zugehörigkeit, Fremdheit, Identitäten. Außerhalb der Theaterhäuser, oft an Spielorten im Stadtteil oder an experimentellen Bühnen und im theaterpädagogischen Bereich, entsteht so eine lebendige Szene von inter-, transkulturellen und (post-)migrantischen Theaterprojekten. Das Berliner Theater Hebbel am Ufer (HAU) hat mit dem Festival „Beyond Belonging“ bereits 2006 eine erste Plattform für interkulturelle Produktionen und Themen geschaffen. 2008 folgte das renovierte Ballhaus Naunynstraße mit „Dogland – Junges postmigrantisches Theaterfestival“ und prägte damit den Begriff postmigrantisches Theater. Als modellhafte Kulturarbeit wird so die Einbindung lokaler und überregionaler (Post-)Migranten-Künstler/innen propagiert. In der freien Szene und im theaterpädagogischen Kontext hat inter- und transkulturelles Theater inzwischen Konjunktur, während im konventionellen Theaterbetrieb die notwendige Auseinandersetzung mit kultureller Heterogenität und Alterität seltener zu finden ist. Zwar findet sich in der klassischen Theaterliteratur seit jeher ein reicher Fundus an Stücken zu interkulturellen Fragen. Interkulturelle Konflikte wie Ausgrenzung und Fremd- oder Anderssein sind im Theater Leitthemen von Iphigenie bis Medea, von Romeo und Julia über Nathan der Weise bis Andorra – alles auch Klassiker des Schultheaters. Doch Inszenierungen, die Theatermacher mit Migrationshintergrund und heterogene Ausdrucksformen ästhetisch einbinden, sind die Ausnahme. Es besteht offensichtlich eine Diskrepanz zwischen der thematischen Aktualität interkultureller Fragen und dem künstlerischen Interesse an einer theaterästhetischen Umsetzung. Das mag auch an der recht homogenen Szene der deutschen Theatermacher liegen, denen der eigene motivierende Migrationshintergrund fehlt. Feridun Zaimoğlu, der türkischstämmige „Kanak Sprak“Erfinder und Autor von Schwarze Jungfrauen, Nuran Calis, Regisseur und Dramatiker (Dog eat Dog) mit armenisch-jüdischem Hintergrund sowie zuletzt Nurkan Erpulat, Regisseur und Theaterpädagoge mit türkischer Migrationsgeschichte, mit dem Erfolgsstück Verrücktes Blut, bilden als Newcomer im Theater die wenigen Ausnahmen, wo migrantische Künstler im Theaterbetrieb überregional reüssieren. 2013 eröffnete das Berliner Gorki Theater seine Spielzeit unter der neuen Intendantin Shermin Langhoff mit einer Inszenierung von Tschechows Der Kirschgarten in der Regie und Lesart von Nurkan Erpulat als einem „Stück über einen Epochenwechsel“, angetreten um „den Staatstheaterbegriff zu erweitern und auch all jene miteinzubeziehen, die den Kirschgarten der deutschen Hochkultur bislang nicht betreten durften“ (Slevogt 2013). Beispielhaft sind spezielle Jugend-Projekte und Festivals, wie die Schreib- und Theaterprojekte von Nuran Calis wie urbanstories (2005), Homestories – Geschichten aus der Heimat (2006) und Next Generation (2010) oder das Festival „KRASS“ von Branco Simic auf Kampnagel Hamburg (2013, 2014, 2015), auch als „culture-crash-festival“ tituliert. Diese Projekte inszenieren die Spiellust und Ästhetik der beteiligten Jugendlichen, das Sprechen und Präsentieren aus der eigenen kulturellen und individuellen Perspektive von Migrant/innen. Theaterarbeit in dieser Form ist immer auch als inter- und transkulturelle Kultur- und Bildungsarbeit zu verstehen.
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2 Formen interkulturellen Theaters Vier Formen und Haltungen von Interkulturalität, die sich in interkulturellen Theaterprojekten in unterschiedlichen Mischungen abbilden, sind zu beobachten: Exotismus, Internationalität, Transkulturalität und Hybridkulturalität (Sting 2010). Hybridkulturalität als komplexestes Modell bezieht sich auf das Neben- oder Miteinander verschiedener Kulturtraditionen und zeigt ein großes Spektrum und ganz unterschiedliche Spielformen von Mischkulturen. Hybrid meint: gemischt, von zweierlei Herkunft, aus Verschiedenem zusammengesetzt. Der Begriff Hybridität, anfangs auf biologische Mischformen bezogen, wurde im Kontext postkolonialer Cultural Studies in den 1980er Jahren von Homi Bhabha (vgl. 2000) zu einem interkulturellen Theorem ausformuliert. Kulturelle Identitäten entstehen demnach als eine wechselseitige Vermischung von Zentrum und Peripherie, von Süd und Nord, Ost und West, ohne dialektische oder hierarchische Beziehung jenseits der Polaritäten von Ich und Anderen oder Erster Welt und Dritter Welt. Gerade in diesen Hybridkulturen steckt ein gewaltiges Potenzial für die vielfältigsten Kooperationen, Polyphonien und Neuschöpfungen. Kreolisierung nannte Édouard Glissant (vgl. 2002) diese Beziehung mehrerer kultureller Zonen. Im Musikbereich mit der Kategorie world music wird das längst realisiert. Im Performancebereich, der sowieso intermedial ausgerichtet ist, und im Tanztheater gibt es zunehmend internationale Koproduktionen und interkulturelle Festivalthemen. Das Sprechtheater tut sich da wesentlich schwerer. Interkulturelles Theater bewegt sich also zwischen Exotismus (Bestaunen des Fremden), Internationalität (multikulturelles, oft nichtdialogisches Nebeneinander), Transkulturalität (universell Verbindendes und Umformungen neben und jenseits bestehender Kulturen), Hybridkulturalität (kulturelle Mischformen). Während Exotismus und Internationalität keinen Perspektivwechsel und Dialog intendieren, beschäftigen sich Transkulturalität und Hybridkulturalität mit der Vielsprachigkeit wie Durchlässigkeit der Kulturen und entwickeln neue Ausdrucksformen.
3 Leitbegriffe: Differenz, Alterität und Diversität Warum ist ein Ansatz, der Differenz und Alterität betont, künstlerisch und pädagogisch von Interesse? Interkulturelles Theater setzt sich mit der Vielfalt und Differenz der Kulturen, ihren Ausdrucksformen und Problemen spielerisch und szenisch auseinander. Dabei berührt es auch Fragen der interkulturellen Bildung, denn schließlich versuchen beide Disziplinen – Kunst und Bildung – einen produktiven Dialog der Kulturen anzuregen. Differenz und Alterität sind neben den aktuellen Begriffen Heterogenität und Diversität zentrale Leitkategorien der theoretischen Diskussion um interkulturelle Bildung. Alle Begriffe verweisen auf Mehrdeutigkeit, die es heutzutage auszuhalten gilt. Der Diversity-Diskurs betont nicht länger die problembezogene Sicht auf Vielfalt (Unterschied als Defizit), sondern hebt Vielfalt als positive Kategorie und Ressource für neue Kompetenzen hervor. Interkulturelles und ästhetisches Lernen haben in diesem Horizont vergleichbare Zielsetzungen: Beiden Lernbereichen geht es um die Akzeptanz und Pflege der „Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ (vgl. UNESCO Konvention 2005). Beide schulen die Wahrnehmung, das genaue Hinsehen und Sehen-Lernen, und beide intendieren einen produktiven Umgang mit Differenz und Vielfalt als sozialer oder ästhetischer Praxis. Während Diversität das gleichwertige Nebeneinander von Kulturen und Lebensentwürfen und Alterität das notwendig Andere im Bildungsvorgang betont, schärft die Kategorie der Differenz unsere Wahrnehmung. Der Begriff Alterität hilft bei der Unterscheidung zwischen dem Anderen als Teil des einen (lat. alter, der eine, der andere von beiden) und dem Anderen als Fremdem (lat. alius, oder gr. xenos, der Fremde). Innerhalb poststrukturalistischer und postkolonialer Dis-
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kurse zeigt der Begriff, dass Identität ohne das Andere nicht denkbar ist. Alterität ist dann die Bedingung für Bildung und Selbstvergewisserung: Ohne das Andere als Teil von mir kann ich mich weder erkennen noch bilden.
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4 Interkulturelles Lernen durch Theater Interkulturelle Theaterpädagogik thematisiert seit den 1980er Jahren im Kontext Kultureller Bildung mit den Spiel- und Ausdrucksformen der szenischen Künste (Spiel, Theater, Tanz, Performance) die Auseinandersetzung mit und zwischen kultureller Heterogenität (vgl. Kurzenberger & Matzke 1994; Hoffmann et al. 2006). Sie versteht sich zum einen als künstlerisch-ästhetische Praxis mit nicht-professionellen, meist jugendlichen Spieler/innen, die Inter- und Transkulturalität szenisch gestaltet auf die Bühne bringt, zum andern als pädagogische Praxis, die mit szenisch-theatralen Spiel- und Interaktionsformen in Schule und Bildungsarbeit interkulturelles Lernen unterstützt. Interkulturalität artikuliert sich dabei auf dreifache Weise: inhaltlich-thematisch durch die inszenierten Fragen, Probleme und Sichtweisen in einer inter- und transkulturellen Gesellschaft, sozial durch den meist vielschichtigen, multi-kulturellen Gruppenkontext und formal-ästhetisch durch kulturell geprägte spezifische Ästhetiken und Ausdrucksformen der Spieler/innen. Interkulturelle Theaterpädagogik als Wahrnehmungs- und Ausdrucksschulung von Heterogenität vermittelt im öffentlichen Zeigen des Eigenen, Anderen oder Differenten einen produktiven Umgang mit Vielfalt und Differenz als sozialer und ästhetischer Praxis. Theater ist seit jeher und vorrangig als ein „Schauplatz des Fremden“ zu verstehen, so der Philosoph Bernhard Waldenfels (2010), in dem Sinne, dass wir in der Begegnung mit Fremdem sinnlich überrascht, herausgefordert und auch mit uns selbst konfrontiert werden. Wie produktiv und kreativ wir mit dieser Vielfalt und Fremdheit umgehen, wird die Entwicklung und den sozialen Frieden aller Gesellschaften maßgeblich beeinflussen. In der Schnittmenge von Theater und Interkulturalität eröffnet sich ein aktuelles ästhetisches und soziales Experimentierfeld, das die Migrationserfahrungen und die kulturelle Heterogenität unserer Gesellschaft als positive Kraft aufgreift und öffentlich zum Sprechen bringt – durch die Produktion von Bildern, Zeichen, Symbolen, Spielen und Geschichten. Inter- und transkulturelles Theater kann also eine Schule des Sehens sein, aber mehr noch: auch eine Schule des Sprechens, eine Schule des (sich) Zeigens und Befremdens, eine Schule des sich Begegnens sowie letztlich eine Schule der Kritik und der Teilhabe. Literatur
Bhabha, Homi (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg Verlag. – Glissant, Edouard (2002): Traktat über die Welt. Heidelberg: Wunderhorn. – Hoffmann, Klaus; Handwerg, Ute & Krause, Katja (Hg.) (2006): Theater über Leben – Entwicklungsbezogene Theaterarbeit. Berlin, Milow: LIT Verlag. – Kurzenberger, Hajo & Matzke, Frank (Hg.) (1994): Interkulturelles Theater und Theaterpädagogik. Universität Hildesheim. – Regus, Christine (2008): Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ästhetik – Politik – Postkolonialismus. Bielefeld: transcript Verlag. – Schneider, Wolfgang (Hg.) (2011): Theater und Migration. Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis. Bielefeld: transcript Verlag. – Slevogt, Esther (2013): Neue Intendanz am Gorki Theater Berlin. In: die tageszeitung, 18.11.2013. – Sting, Wolfgang (2010): Interkulturalität und Migration im Theater. In: Wolfgang Sting; Norma Köhler; Klaus Hoffmann; Wolfram Weiße & Dorothea Grießbach (Hg.): Irritation und Vermittlung. Theater in einer interkulturellen und multireligiösen Gesellschaft. Berlin: LIT Verlag, S. 19-30. – Waldenfels, Bernhard (2010): Sinne und Künste im Wechselspiel: Modi ästhetischer Erfahrung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. – Welsch, Wolfgang (2009): Was ist eigentlich Transkulturalität? In: Lucyna Darowska; Thomas Lüttenberg & Claudia Machold (Hg.): Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität. Bielefeld: transcript Verlag, S. 39-66.
Museum
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77 Museum Sabine Hess
Während noch bis vor kurzem auch für die allermeisten städtischen und staatlichen kulturgeschichtlichen Museen Klaus Bades Beschreibung der bundesdeutschen Migrationsdebatte galt, der er eine „jahrzehntelange defensive Erkenntnisverweigerung unter dem Motto ›Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland‹“ attestierte (2014), ist seit gut 15 Jahren von einem regelrechten Musealisierungsboom des Themas zu sprechen. In einem Überblick über den „Stand der Auseinandersetzung mit den Themen Migration und kultureller Vielfalt in deutschen Museen“ kann Patricia Deuser (2012) an die 60 Ausstellungsprojekte in dem Zeitraum aufzählen. Dabei orientieren sich die meisten an den Jubiläen der Anwerbeabkommen des Gastarbeitersystems. Auch für Österreich konstatiert die Museologin Regina Wonisch eine ähnliche Entwicklung (2012). Der Trend ist jedoch nicht auf die deutschsprachigen Länder beschränkt. Vielmehr ist in den vergangen Jahren in „klassischen Einwanderungsländern“ wie den USA, Kanada und Australien, aber auch in ehemaligen Kolonialländern – wie in Frankreich mit der Eröffnung des Cité nationale de l’histoire de l’immigration im Jahr 2007 – eine Reihe thematischer Migrationsmuseen gegründet worden. In Deutschland befassen sich zwei Museumsneugründungen – das Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven (2005) und BallinStadt in Hamburg (2007) – mit Migration, allerdings überwiegend mit der Geschichte der Emigration. Die kontrovers diskutierten Geschichten der Einwanderung wurden bisher in Deutschland und Österreich vor allem in temporären Ausstellungsprojekten aufgegriffen. Einige Stadt- und historische Museen arbeiten daran, diesen Aspekt deutscher Geschichte auch in Dauerausstellungen aufzunehmen (Bayer 2012). Auch die Debatte um ein eigenes (Im-) Migrationsmuseum, wie es insbesondere die migrantische Museumsinitiative DOMID (Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V.) seit Jahren fordert (vgl. Erylmaz 2004), nimmt wieder Fahrt auf. Doch woher rührt die Betriebsamkeit und welche neuen Narrative und Bilderproduktionen bzgl. der Mehrheitsgesellschaften und ihrer Anderen sind mit ihr verbunden? Dabei werfen museumswissenschaftliche Ansätze aus einer institutionenkritischen, postkolonialen Perspektive (etwa Schnittpunkt 2009; Bennett 1995) die generelle Frage auf, ob das Museum und die bisherige kuratorische Praxis überhaupt die geeigneten Räume und Settings darstellen, die höchst heterogenen Migrationsbewegungen in eine adäquate Repräsentation zu bringen. In die gleiche Richtung wies auch Gottfried Korff, einer der Gründungsväter der deutschen volkskundlichen/ kulturwissenschaftlichen Museumsforschung, in einem der ersten jüngeren Sammelbände zum Thema (2004). So fragte er, ob das Museum mit seiner Objektzentrierung überhaupt der richtige Ort sein könne, um die verzweigten und bewegten Geschichten der Migration zu dokumentieren und zu repräsentieren (Korff 2004, S. 7). Im Folgenden wird kurz die jüngere Geschichte der Musealisierung der Migration in Deutschland skizziert, im Anschluss werden zentrale theoretische und methodologische Perspektiven auf das museale Themenfeld vorgestellt. Dabei lässt sich zeigen, dass eine migrationswissenschaftlich informierte museologische Auseinandersetzung noch ganz am Anfang steht.
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1 Zur kurzen Geschichte der Musealisierung der Migration in Deutschland Zwar gab es bereits in den 1970er und auch 1980er Jahren einige Ausstellungsprojekte zur Geschichte des Gastarbeitssystems, doch erst ab Mitte der 2000er Jahre nimmt die Intensität der Auseinandersetzung mit der Migrationsgeschichte bei Stadt-, Regional- und nationalen Museen zu. Bis dahin blieb es einzelnen oftmals migrantischen und/oder wissenschaftlichen Initiativen überlassen, sich in Ausstellungsprojekten außerhalb der Institution Museum der Aufarbeitung der Geschichte der Einwanderung anzunehmen (Motte 2004). Zu erwähnen wäre hier vor allem die migrantische Selbstorganisation DOMID mit ihrer ersten Ausstellung „Fremde Heimat“ im Ruhrlandmuseum Essen im Jahr 1998, die immer noch als „Referenzpunkt“ und Wegbereiter gilt. Dabei wurde DOMID zunächst von türkischen Migrant/innen gegründet, um die Einwanderungsgeschichte aus der Türkei aufzuarbeiten. Mittlerweile hat der Verein seinen nationalen Fokus aufgegeben und widmet sich in seiner reichhaltigen Archivierungs- und Ausstellungstätigkeit allen Migrationsbewegungen nach West- und Ostdeutschland (DOMID 2015). Zum anderen ist das große interdisziplinäre, von der Kulturstiftung des Bundes initiierte Ausstellungsprojekt „Projekt Migration“ zu nennen, welches 2005 in Köln zu sehen war, sowie in Österreich die Ausstellung „Gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration“, die 2004 in Wien zu sehen war. „Projekt Migration“ hat dabei nicht nur dezidiert einen europäischen Fokus auf das Thema gerichtet und Migration als gesellschaftsprägende Kraft dargestellt, sondern ist auch neue Wege der Repräsentation gegangen und hat explizit sozialhistorische Formate mit wissenschaftlichen und künstlerischen Wissenspraktiken verbunden. Was migrantische Forderungen oder auch die zunehmenden Globalisierungs- und Migrationsdebatten nicht vermochten, leistete der nationale Integrationsplan aus dem Jahr 2007, der auch den offiziellen Kulturinstitutionen eine interkulturelle Öffnung ihrer Arbeit verordnete, sodass sich in Folge auch das institutionelle Museumsfeld der Thematik öffnete. Es folgte eine Reihe von Tagungen und Konferenzen zum Thema, ein „Arbeitskreis Migration“ wurde im deutschen Museumsbund im Jahr 2010 ins Leben gerufen, der mittlerweile einen „Leitfaden Migration“ formuliert hat und zwei Förderprojekte lancierte: Das Projekt „Alle Welt: Im Museum“ ist als museumspädagogisches Programm auf die Erschließung der migrantischen Publikumsgruppe gerichtet. Das Projekt „Kulturelle Vielfalt im Museum: Sammeln, Ausstellen und Vermitteln“ wendet sich den Kernaufgaben des Museums zu. Hierbei wird bereits deutlich, wie Migration hierzulande bislang als Thematik museal dominant aufgegriffen und konzeptualisiert wird, und zwar ganz im Sinne der auch politisch und öffentlich dominanten Paradigmen von „Integration“ und „kultureller Vielfalt“ und nicht etwa als Teilgebiet der Arbeitergeschichte, als Minderheitengeschichte oder als Bewegungsgeschichte, was ebenfalls sinnhafte Konzeptualisierungsweisen der Einwanderungsthematik wären. Dies ist zum einen auf traditionale Repräsentationspraktiken der Institution (kulturgeschichtliches) „Museum“ zurückzuführen wie andererseits auf die spezifische Konzeption und Deutung von Migration und Einwanderungsgesellschaft (Hess 2013).
2 Zugänge – Ansätze: Migration ausstellen? Die jüngere museumswissenschaftliche Debatte, die mit dem Musealisierungsboom des Themas Migration (personell) verbunden ist, ist durch sechs Perspektiven und Zugänge geprägt. Erstaunlich hierbei ist ein weitgehendes Fehlen sowohl von Einsichten der Migrationsforschung als auch institutionenkritischer Museumsansätze, wie sie im Umfeld der New Museology vor allem im englischsprachigen Raum entwickelt worden (bspw. Macdonald 2003). Auch bezüglich der Problematik des Ausstellens von „Fremdheit“ im Rahmen von Völkerkundemuseen ist eine
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postkoloniale Museumskritik bereits etabliert (Schnittpunkt 2009). So ist die Auseinandersetzung um Wege und Abwege der Musealisierung der Migration im deutschsprachigen Raum bislang (a) von Museumspraktikern dominiert, die (eigene) Museumsprojekte in den vorliegenden Sammelbänden vorstellen, die oftmals Tagungen zum Thema reflektieren (etwa Hampe 2005). Wissenschaftliche Reflektionen kommen bislang vorwiegend aus dem Bereich der volkskundlichen/kulturwissenschaftlichen Museumsforschung, die (b) weiterhin um Objektfragen und die Sammlungsgebundenheit klassischer Museumsarbeit kreisen (etwa Baur 2010) und hierbei auch die materielle Kultur der Migration und die Praxis des Sammelns, Kategorisierens, Registrierens sowie der dadurch entstehenden Vorselektionen und Ausschlüsse befragen und in Ausstellungsprojekten selbst zum Thema machen (etwa Eisenrieder et al. 2010). Ferner lassen sich (c) wissenssoziologische Betrachtungen finden, die die Frage ins Zentrum stellen, wie Wissen über Migration, über das „Fremde“, die „Mehrheitsgesellschaft“, über „kulturelle Vielfalt“ im Museum produziert, inszeniert und performiert wird. Zudem sind (d) institutionenanalytische Untersuchungen zu benennen, die wie Joachim Baur (2009) oder Gisela Welz (1996) sich mit dem Ellis Island Migrationsmuseum, seiner Gründungsgeschichte, Repräsentationspolitik und ihrer Umsetzungen in Display-Strategien beschäftigen. Diese können zeigen, dass gerade dem Migrationsmuseum die Funktion zukommt, den nationalen Gründungsmythos der USA einer Einheit in Vielfalt zu zementieren und somit die Nationsidee trotz Pluralisierungsherausforderungen zu retten. Ein weiterer Strang (e) ließe sich als eher museumstheoretisch orientiert charakterisieren. Hier geht es Museumstheoretiker/innen, wie etwa Sharon Macdonald (2003), um die Frage, wie die Institution Museum als ein zentraler nationaler Gedächtnisort, der ursächlich mit der Hervorbringung der Idee der Nation und ihrer Kulturalisierung als homogene Kultur/Nation verbunden ist, den Schritt ins Globalisierungszeitalter schafft. Macdonald zeigt hierbei deutlich, dass Objekten und ihrer Aufladung als Repräsentanten einer Kultur eine zentrale plausibilisierende und affektive Funktion zukam. Sind kulturgeschichtliche Museen, die die koloniale Wissensordnung der Welt immer wieder in Displayanordnungen reproduziert haben, überhaupt in der Lage, sich einer heterogenen, transkulturellen Perspektive zu öffnen? Gemeint ist eine Perspektive, die differenzsetzende und rassifizierte Kultur-Raum-Vorstellungen zugunsten einer Darstellung der „entangeled history“ aufgibt. Angesichts dieser historischen Aufladung des Museums als Ort ist (f ) ein interdisziplinärer, repräsentationskritischer und migrationswissenschaftlich informierter Ansatz entstanden, der seinen repräsentationstheoretischen, antirassistischen Blick stark aus den Pionierarbeiten des Ausstellungsprojekts „Projekt Migration“ und migrantischen Perspektivierungen ableitet, wie sie etwa das politische Netzwerk kanak attak Anfang der 2000er Jahre entwickelt hat (vgl. von Osten 2007; Hess & Engl 2009). Eine kurze abschließende Betrachtung zentraler Narrativierungs- und Displaystrategien des gegenwärtigen Musealisierungsbooms warnt jedoch vor allzu großer Euphorie. Vielmehr ist mit Regina Wonisch zu konstatieren, dass die konkreten Thematisierungsweisen der Migration in Museen derzeit immer wieder Gefahr laufen, neue Ausschlüsse zu produzieren und über Othering oder auch Selbstethnisierung die Wahrnehmung von Differenz zu verfestigen (vgl. Wonisch 2012, S. 8).
3 Migrationsausstellungen In ihrer Forschung zu Strategien der Musealisierung des Migrationsthemas in Deutschland konnte Nathalie Bayer (2012) auf der Grundlage der Analyse von einem Dutzend migrationsbezogener Ausstellungen nicht nur eine starke nationale Konzeptualisierung und Kulturalisierung des Themas herausarbeiten, sondern auch aufzeigen, dass die überwiegende Anzahl
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von Ausstellungsprojekten bzw. Displayanordnungen in regulären Dauerausstellungen, wie im Haus der Geschichte in Bonn, Einwanderung nach Deutschland auf die offizielle Geschichte des „Gastarbeitssystems“ reduziert. Andere Migrationswege und -praktiken, selbstorganisierte und inoffizielle Strategien und gänzlich anders gelagerte Motivationen jenseits von Arbeit oder Vertreibung (wie etwa Liebe, Abenteuer, Bildung oder Ausbruch aus beengt erlebten Geschlechterverhältnissen) wurden bislang nicht sichtbar gemacht. So scheint auch die museale Repräsentationspolitik sich an den nationalen staatlichen Mythos zu halten, der als methodologischer Nationalismus und Funktionalismus lesbar ist. Migration wird hier als staatlich regulierbares Phänomen dargestellt, welches seinen Abschluss mit einer gelungenen Integration ins nationale Kollektiv findet. Dieser Darstellungsmodus rekurriert auf eine vermeintlich nationale „Normalität“ (von Werten, Kultur, Sprache etc.) und ist selbst als durchaus gewaltvoller Akt der kontinuierlich herzustellenden Normalisierung derselben zu lesen, die durch den untergeordneten Einschluss bis hin zum Ausschluss der Anderen (auch immer noch von Frauen, der Arbeiterklasse, anderen Sexualitäten) hergestellt wird. Die bisherige Ausstellungspraxis – vor allem der Modus der temporären Ausstellungen – impliziert ferner, dass das Thema Migration weiterhin als gesonderter Sachverhalt verhandelt und nicht in seiner, die gesamte Gesellschaft und Nation beeinflussenden, Wirkung und Kraft dargestellt wird. Diese Darstellungsweise des strukturellen „Othering“ kann bis hin zur repräsentationellen Ausbürgerung reichen, in dem es selbst den hier Geborenen der x-ten Generation mindestens per Bindestrich – im Sinne der Deutsch-Türken etc. – ihre „fremde Herkunft“, zunehmend codiert mit Bildern eines „fremden Islams“, nicht erlassen will. Sie wird durch eine immer noch zutiefst prägende kulturalistische und ethnisierende Konzeptualisierungsweise plausibilisiert und verstärkt das gesellschaftliche Wahrnehmungsmuster, Migration vor allem als eine Erfahrung vermeintlicher kultureller Differenzen zu erzählen. Ausstellungsprojekte, die von der Faktizität einer post-migrantischen Gesellschaft ausgehen und Migration als eine Welt gestaltende Kraft darstellen, sind nach wie vor eher rar (Hess & Engl 2009). Literatur
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der Perspektive der Migration. In: Natalie Bayer; Andrea Engl & Sabine Hess (Hg.): Crossing Munich. Beiträge zur Migration aus Kunst, Wissenschaft und Aktivismus. München: Silke Schreiber Verlag, S. 10-14. – Korff, Gottfried (2005): Fragen zur Migrationsmusealisierung. Versuch einer Einleitung. In: Henrike Hampe(Hg.): Migration und Museum. Neue Ansätze in der Museumspraxis. Münster: LIT Verlag, S. 5-16. – Macdonald, Sharon J. (2003): Museums, national, postnational and transcultural identities. In: Museum and Society 1 (1), S. 1-16. – Motte, Jan (2004): „…gemeinsam werden wir einst eine neue, gemeinsame Geschichte erzählen“. Auf dem Weg zu einem Migrationsmuseum in Deutschland. In: Historische Anthropolgie: Gewalt 12 (2), S. 281-292. – von Osten, Marion (2007): Eine Bewegung der Zukunft. Die Bedeutung des Blickregimes der Migration für die Produktion der Ausstellung Projekt Migration. In: Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld: transcript Verlag, S. 169-187. – Schnittpunkt-Kazeem, Belinda; Martinz-Turek, Charlotte & Sternfeld, Nora (Hg.) (2009): Das Unbehagen im Museum. Postkoloniale Museologie (Ausstellungstheorie & Praxis, Bd. 3). Wien: Turia + Kant. – Welz, Gisela (1996): Inszenierungen kultureller Vielfalt. Frankfurt a.M.: Akademie-Verlag. – Wonisch, Regina (2012): Museum und Migration. Einleitung. In: Regina Wonisch & Thomas Hübel (Hg.): Museum und Migration. Konzepte - Kontexte - Kontroversen. Bielefeld: transcript Verlag, S. 9-32.
78 Gedenkstätten und Erinnerungsorte Astrid Messerschmidt
Nicht von ungefähr wird das Thema Migration erst seit den 1990er Jahren zu einem relevanten Bezugspunkt des historisch-politischen Lernens in und an den Gedenkstätten der NS-Massenverbrechen. Zu diesem Zeitpunkt ist das offensive Bekenntnis zur Verantwortung für die NSVerbrechen zu einem staatstragenden Element im Selbstverständnis und in der internationalen Repräsentation der Bundesrepublik Deutschland geworden. Volkhard Knigge schildert diesen Prozess der Etablierung anhand der veränderten Rolle, die die KZ-Gedenkstätten in der politischen Öffentlichkeit spielen. Mit dem Gedenkstättenförderkonzept des Bundes von 1999 verändert sich die Institutionalisierung dieser Orte. Sie werden ähnlich wie Theater oder Museen zu Teilen der „kulturellen Grundausstattung der Bundesrepublik“ (Knigge 2001, S. 136). Ihre Kulturalisierung führt zugleich zu einer „Nationalisierung negativen Gedenkens“ (ebd.). Damit verlieren diese Orte, an denen politische Gegner des NS-Regimes, rassistisch Verfolgte und sozial Ausgegrenzte interniert worden sind, ihre Bedeutung als „gesellschaftskritische Avantgardeeinrichtungen historischer Aufklärung“ (ebd.). Die nationale Vereinnahmung der Orte, an denen nationalistisch und rassistisch sowie antisemitisch legitimierte Verbrechen begangen worden sind, konfrontiert die Gedenkstättenpädagogik mit ihrem eigenen nationalen Fokus.
1 Von interkultureller zu migrationsgesellschaftlicher Gedenkstättenpädagogik Seit Beginn von Etablierungen des Erinnerns und Gedenkens wird herkunftsbezogene und damit nach wie vor in nationalen Kategorien verstandene Differenz problematisiert. „ ‚Mi-
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Astrid Messerschmidt
grationshintergrund‘ oder ‚globalisiertes Klassenzimmer‘ sind in den letzten Jahren zu neuen Schlüsselbegriffen im pädagogischen Diskurs zur Thematisierung von Nationalsozialismus und Holocaust geworden“, stellt Angela Kühner (2008, S. 52) in einer sozialpsychologischen Studie über den Geschichtsunterricht fest. Die Vermutung und der Wunsch, dass sich an der Kategorie Migrationshintergrund Unterschiede im Geschichtsinteresse und im Zugang zu Geschichtswissen festmachen lassen, ordnen eine unübersichtliche Erinnerungslandschaft. So befürchtet Kühner, dass die Migrationsforschung ein Grundproblem jeder sozialwissenschaftlichen Forschung verschärft, dass nämlich bereits vorher bestehende Fremdbilder die Forschungsergebnisse beeinflussen (vgl. ebd., S. 53). Das pädagogische Interesse an den Geschichtsbildern derer, die als „Migrantenjugendliche“ bezeichnet werden, unterstellt, dass der Zugang zur Geschichte von nationaler Herkunft abhängt, ohne zu berücksichtigen, dass viele, die damit gemeint sind, gar keine eigene persönliche Migrationsgeschichte haben. Der Einfluss, den die Migrationsgeschichte der Eltern oder Großeltern auf ihre gegenwärtigen Geschichtsbeziehungen hat, wird dabei tendenziell überschätzt. Denn viel einflussreicher als die Geschichten der Vorfahren sind die erfahrenen Geschichtsthematisierungen in der eigenen Biografie und somit im Kontext der deutschen Migrationsgesellschaft. Entlang der Entweder-Oder-Kategorie „Migrationshintergrund“ lassen sich keine deutlichen Unterschiede im Zugang zur NS-Geschichte feststellen (vgl. ebd., S. 55). Eher kommt es darauf an, wie im eigenen sozialen Umfeld über den Nationalsozialismus gesprochen oder geschwiegen wird. Diese Frage betrifft alle Folgegenerationen nach 1945. Projekte von Erinnerungsarbeit, die sich auf die Migrationsgesellschaft einlassen und die vorhandenen vielfältigen Zugehörigkeiten ernst nehmen, verdeutlichen, dass die Geschichte der NS-Massenverbrechen alle angeht (vgl. Georgi & Ohliger 2009). Die Gedenkstätten der NS-Verbrechen werfen allgemeine Fragen an die Beschaffenheit der Gesellschaft „nach Auschwitz“ auf. Es bedarf deshalb keiner besonderen „interkulturellen Gedenkstättenpädagogik“. Größeren Einfluss als kulturelle Hintergründe und nationale Abstammung haben die unterschiedlichen Erfahrungen mit Zugehörigkeit, Partizipation, Diskriminierung, Rassismus, Antisemitismus und sozialen Ausgrenzungen auf die Rezeption der NS-Gedenkstätten. Erfahrungen von Ausgrenzung in der deutschen Gesellschaft führen dazu, dass Jugendliche, die als nicht deutsch betrachtet werden, auf Familienerzählungen zurückgreifen, „um überhaupt eine Zugehörigkeit erleben zu können“ (Gryglewski 2013, S. 41). Der unter Lehrkräften verbreitete Defizitblick auf Schüler/innen „insbesondere türkischer, arabischer und oder palästinensischer Herkunft“ (ebd., S. 23) wird in migrationsgesellschaftlich ausgerichteter Gedenkstättenpädagogik ersetzt durch einen anerkennenden und Zugehörigkeit signalisierenden Umgang mit allen Teilnehmenden. Dabei ist die Vielfalt der Perspektiven zu berücksichtigen, die weniger mit nationaler Herkunft, sondern mehr mit den vermittelten Geschichtserfahrungen und Erzählungen sowie dem Schweigen über Verfolgung, Verlust, Täterschaft, Mittäterschaft, Kollaboration, Überleben und Widerstand zu tun haben.
2 Gegenwartsbeziehungen an Erinnerungsorten negativer Geschichte In schulischen Zusammenhängen und auch in der außerschulischen Bildungsarbeit werden die früheren Konzentrationslager oftmals deshalb aufgesucht, um an ihnen den Kontrast zu gegenwärtiger Demokratie und zu den Menschenrechten zu demonstrieren. Die NS-Gedenkstätten sind zu „staatstragenden Lernorten“ geworden (Haug 2010, S. 35). In der Folge entsteht an den „moralisch hoch aufgeladenen Gedenkorten“ ein „Konformitätsdruck“ (Scheurich 2010, S. 41), so als stünde am Tiefpunkt der Zivilisation die Orientierung für das richtige und angemessene Verhalten zur Verfügung. Werden die Gedenkstätten als Kontrastfolien zur gegenwärtigen de-
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Gedenkstätten und Erinnerungsorte
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mokratischen Gesellschaft betrachtet, dann werden die zutiefst beunruhigenden Orte zu Plätzen einer gesellschaftlichen Selbstbestätigung und damit ganz und gar verfehlt. Die gegenwärtige Gesellschaft erscheint im Gegensatz zu dem Geschehen auf dem Boden der früheren Konzen trationslager in Ordnung, und Erinnerung und Gedenken verlieren ihr kritisches Potenzial (vgl. Messerschmidt 2015). Mit Gegenwartsbezügen an den Orten der NS-Verbrechen ist vorsichtig und reflektiert umzugehen, um zu vermeiden, dass die Gedenkstätten benutzt werden, um die heutigen sozialen und politischen Verhältnisse als unproblematisch darzustellen (vgl. Brumlik 2004). Den Gegenwartsbezug bringen die Teilnehmenden in gedenkstättenpädagogischen Veranstaltungen immer schon mit. Er muss daher nicht zum Ziel gedenkstättenpädagogischen Handelns erklärt werden, sondern stellt „eine seiner Bedingungen“ (Kößler 2010, S. 47) dar. Gedenkstätten, die in den letzten 15 Jahren zu Orten nationaler Selbstrepräsentation und demokratischer Selbstvergewisserung geworden sind, werden von Nora Sternfeld als „Kontaktzonen“ verstanden (Sternfeld 2013). Das Konzept der contact zone geht auf Mary Louise Pratt und James Clifford zurück, die sich auf postkoloniale Theorie, Literaturwissenschaft und Museumstheorie beziehen (vgl. Clifford 1997). Es akzentuiert asymmetrische Machtbeziehungen, wie sie durch Kolonialismus, Sklavenökonomie, Rassismus und Antisemitismus entstanden sind und in der Gegenwart nachwirken. Gedenkstätten als Kontaktzonen zu verstehen, basiert auf einem konfliktorientierten Zugang, der bestehende Ungleichheitsverhältnisse thematisiert. Daraus ergibt sich eine alternative Wissensbildung, die nicht die Wissensunterschiede und Geschichtsbilder herkunftsunterschiedener Gruppen untersucht, sondern nach den Wirkungen machtvoller Unterscheidungspraktiken in Geschichte und Gegenwart fragt (vgl. Kux 2014). Gedenkstätten sagen oft mehr über die Bedürfnisse der Gegenwart aus als über das historische Geschehen selbst – insbesondere auf dem Hintergrund des Kalten Krieges und der damit verbundenen ideologischen Selbstbilder in Ost und West (vgl. Zimmer 1998; Eschebach et al. 1999). Geschichtsspuren an den historischen Orten der NS-Verbrechen erschließen sich nicht unmittelbar, sondern müssen „gelesen werden“ (Kaiser 2010, S. 19). Die Relikte sind von Zeichen überlagert, die erinnerungskulturelle Überzeugungen der Nachkriegsgesellschaften widerspiegeln (vgl. Hoffmann 1998). Diese Überlagerung kann es unter Umständen erschweren, die Gedenkstätten als Zeugnisse eines wirklichen Geschehens wahrzunehmen, sie als „Tatorte“ zu betrachten (Heyl 2009), die historisches Material zur Rekonstruktion eines realen Geschehens bieten. Ein forensischer Zugang zur Gedenkstättenpädagogik ermöglicht Jugendlichen eine eigenständige Erschließung abseits moralisch aufgeladener Lernerwartungen (vgl. Heyl 2010). Es handelt sich um Todesplätze, die zunächst nach 1945 keineswegs dazu gedacht waren, derjenigen zu gedenken, die hier zugrunde gegangen und ermordet worden sind. Sie sollten leer bleiben und wurden als Erinnerungsstätten erst erkämpft, vor allem von den Überlebenden selbst. Daran zu erinnern, ist besonders relevant für die dritte und vierte Generation nach 1945, die Erinnerungsveranstaltungen und Gedenkstättenarbeit als etwas Staatstragendes erlebt, als etwas Etabliertes, über das sich Politik und Bildungsinstitutionen einig zu sein scheinen. Literatur
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79 Digitale Medien und Interkulturalität Jannis Androutsopoulos
Der Begriff digitale Medien umfasst hier alle Technologien und Plattformen der digital vermittelten bzw. Online-Kommunikation in privaten oder öffentlichen Kontexten. In der Sprachund Kulturdidaktik werden digitale Medien seit längerem eingesetzt und für interkulturelle Bildung nutzbar gemacht (Wagner & Heckmann 2012). Gleichzeitig führt die globale Reichweite der digitalen Kommunikation dazu, dass interkulturelle Begegnungen und Lernerfahrungen online auch jenseits des gesteuerten Lernens zum Alltag gehören. In diesem Artikel werden Erkenntnisse über Interkulturalität in der gesteuerten und der ungesteuerten digitalen Kommunikation miteinander enggeführt. Auf der Grundlage linguistischer und sprachdidaktischer
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Forschungsliteratur werden Spielarten digitaler Kommunikation typisiert, die in der interkulturellen Sprachdidaktik wie im ungesteuerten Mediengebrauch Schauplätze für sprachliche und kulturelle Begegnungen darstellen.
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1 Theoretischer Hintergrund Der Einsatz digitaler Medien in die Sprach- und Kulturvermittlung hat sich seit den 1990er Jahren in drei Phasen entwickelt (Bolten 2007; Dooly & O’Dowd 2013; Möllering & Levy 2013). Die erste Phase (nach Bolten 2007: „E-Learning by distribution“) ist die Nutzung des WorldWide-Web um digital gespeicherte Inhalte im Klassenzimmer über einen Browser zugänglich zu machen und für anschließende Aufgaben bereitzustellen. In der zweiten Phase (Bolten 2007: „E-Learning by interaction“) werden Technologien der synchronen (Chat) und asynchronen (E-Mail) Interaktion in Tandem-Gruppen eingesetzt, um authentische Dialoge zwischen Lernenden und Erstsprachler/innen zu ermöglichen. Die dritte Phase (Bolten 2007: „E-Learning by collaboration“) ist durch eine Abkehr von der institutionellen Steuerung und einen zunehmend offenen, frei gestalteten Zugang zur Online-Kommunikation gekennzeichnet. Lernende erkunden möglichst eigenständig die Palette an digitalen Kommunikationsformen um Kontakte zu Sprecher/innen der Lernsprache zu entwickeln sowie Diskurse und Wissensbestände der jeweiligen Zielkultur zu erschließen. Das Stichwort „Telecollaboration 2.0“ (Guth & Helm 2010) macht dabei die Orientierung am gegenwärtig dominanten Paradigma des „Web 2.0“ bzw. der „Sozialen Medien“ explizit (vgl. Ebersbach et al. 2016). Die für das Web 2.0 typischen Technologien und Plattformen, u.a. Blogs, Soziale Netzwerke, Foto- und Videoplattformen, ermöglichen großen Bevölkerungsgruppen in der westlichen Welt die Teilhabe an Praktiken der digitalen Selbstdarstellung, der Interaktion und des Wissensmanagements. Diese Praktiken umfassen Inhalte und Interaktionen, die größtenteils nicht von professionellen Anbietern, sondern von anderen Nutzer/innen beigesteuert werden. Im Web 2.0 sind Praktiken der Rezeption und der Produktion nicht mehr streng voneinander getrennt. Diese Rollen-Zusammenführung bildet die Voraussetzung für neue Verfahren und Praktiken der digitalen Partizipation an öffentlichen Diskursen. Sogenannte „Shitstorms“ (Entrüstungsstürme) zeigen exemplarisch, wie User/innen durch Rückmeldungen in digitalen Plattformen Druck auf Politiker und Organisationen ausüben und dadurch auf politische Entscheidungsprozesse einwirken können. Diese Entwicklungen positionieren Lernprozesse und Lernende in neuer Weise. Online-Kommunikation eröffnet neue Möglichkeiten der Teilhabe an Diskursen und Interaktionen in zahlreichen Kulturen und Sprachen und potenziert damit die Möglichkeiten des informellen Lernens. Informelles Lernen findet außerhalb des Unterrichtskontextes und ohne Unterstützung durch eine Lehrperson statt (Pfeil 2015). Durch informelles Lernen wird der Erwerb von kommunikativen und interkulturellen Kompetenzen vielfältiger, aber auch unübersichtlicher. Eine zentrale Aufgabe ist daher die Entwicklung von Brückenaktivitäten, um ungesteuertes und gesteuertes Lernen miteinander zu verbinden (Guth & Helm 2010). Methodisch geht das Interesse am informellen Online-Lernen mit einer Abkehr von der Task-Modellierung und der Messung von Lernerträgen durch Prä-Post-Designs einher und hin zum explorativen Einsatz qualitativ-ethnographischer Methoden (Marquez-Schäfer 2013; Biebighäuser 2014). Die skizzierten Entwicklungen gehen in der interkulturellen Pädagogik und Sprachdidaktik mit einem Wandel im Verständnis von Interkulturalität einher (Bolten 2007; Marquez-Schäfer 2012, S. 238ff). Auch die Angewandte Linguistik hat sich von kognitiven hin zu diskursiven und interaktionalen Zugängen zur Interkulturalität entwickelt (Piller 2015). Wurde Interkultu-
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ralität früher oft als bloße Begleiterscheinung von Fremdsprachigkeit verstanden, so bildet heute ein kontextualisiertes, interaktional orientiertes Verständnis den Ausgangspunkt. Interkulturelle Kommunikation geht in diesem Sinne aus einer diskursiven Kontextualisierung von Kultur im weitesten Sinne hervor, wozu etwa die Thematisierung eigener oder fremder Kultur, der ernsthafte oder spielerische Verweis auf kulturelle Stereotype, Praktiken der Bewertung, Erzählung oder Stilisierung kultureller Kategorien gehören. Auch der Kulturbegriff selbst wird in diesem Zuge von der Referenzgröße des Nationalstaats entkoppelt, dabei relativiert und pluralisiert, so dass kulturelle Unterschiede sich auch an Regionen, sozialen Milieus, Lebensstilen usw. konstituieren können. Kultur und Interkulturalität sind dabei in der Wechselwirkung von Interaktion und Repräsentation zu betrachten. Interkulturalität wird primär in ihrer interaktiven Hervorbringung untersucht. Mediale Repräsentationen, z.B. Comedy oder andere populäre Texte, die man zitieren oder parodieren kann, liefern oft eine Folie für die Thematisierung kultureller Identität und Alterität in der Interaktion. In ihrer Verbindung rezeptiver und produktiver Praktiken ist Online-Kommunikation zur Förderung von Reflexion über eigene und fremde kulturelle Kategorien hervorragend geeignet. Digitale Medien bieten nicht nur Zugang zu authentischen kulturellen Repräsentationen, sondern auch die Möglichkeit, ihre anschließende Verhandlung (z.B. in Online-Leserkommentaren) zu beobachten und nicht zuletzt daran zu partizipieren. Weiterhin versetzen sie Lernende in die Lage, mit kulturellen Auto- und Hetero-Stereotypen selbst aktiv und kreativ umzugehen. Didaktisch relevante Aspekte von Online-Kommunikation werden im Folgenden theoretisch skizziert. In der sprachorientierten Online-Forschung lassen sich zwei Orientierungen an digitaler Kommunikation unterscheiden (Androutsopoulos 2013). Digitale Kommunikation wird einerseits als „Text“ betrachtet, d.h. als riesiges Archiv semiotischer Artefakte, die recherchiert, kompiliert, rezipiert und ausgewertet werden können. Durch computergestützte Analysen von digitalen Texten lassen sich u.a. Meinungs-, Verhaltens- und Sprachgebrauchsmuster herausarbeiten. Wird digitale Kommunikation andererseits als „Raum“ betrachtet, so ist damit ein Handlungsraum gemeint, in dem durch Sprache und andere semiotische Mittel kommunikative Aktivitäten vollzogen werden. Die oben referierten Entwicklungen im digital unterstützten Lernen führen von einer Text- zu einer Raum-Perspektive. Allerdings können die beiden Perspektiven mit Blick auf interkulturelle Bildung als komplementär gedacht werden. So stellt die Videoplattform YouTube sowohl ein gigantisches Video- und Kommentararchiv als auch einen Handlungsraum für kulturelle Produktion und Interaktion zur Verfügung. Bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen Technologie und Handeln hat sich in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Online-Forschung der Begriff Affordanz etabliert (Jones & Hafner 2012). Affordanz bezeichnet die Eigenschaften eines kulturellen Werkzeugs, so wie sie aus Sicht seiner Nutzer/innen wahrgenommen und umgesetzt werden. Es geht darum, welche Handlungsmöglichkeiten ein Werkzeug für bestimmte Nutzer/innen eröffnet, auch wenn diese ursprünglich nicht so vorgesehen waren. Lernorientierte Affordanzen digitaler Technologien können in Anlehnung an ihre ungesteuerte Nutzung entwickelt werden. So wurden z.B. in Anlehnung an unmoderierte, thematisch freie Chats auch moderierte, institutionell eingebundene Chat-Formen entwickelt, wozu u.a. Chat-Tandems gehören (Marquez-Schäfer 2013). Die Videoplattform YouTube ermöglicht das individuelle Anlegen von thematisch sortierten VideoSammlungen, die auch zu didaktischen Zwecken kompiliert und genutzt werden können. Auch die virtuelle Plattform Second Life bietet die Möglichkeit, virtuelle Umgebungen für Lernaktivitäten einzurichten und darin durch Avatare zu interagieren (Biebighäuser 2014; Corder & U-Mackey 2015).
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Im Folgenden werden vier Bereiche von Online-Kommunikation darauf untersucht, wie sie interkulturelle Begegnungen und Auseinandersetzungen auf gesteuertem bzw. ungesteuertem Wege ermöglichen können. Tabelle 1 zeigt eine nach zwei Plattformtypen und zwei Beteiligungsformen aufgeteilte Matrix. In Medienplattformen (z.B. YouTube) geht es um die Produktion, Bereitstellung, Rezeption, Kommentierung und Weiterleitung digitaler Inhalte. In Sozialen Netzwerken (z.B. Facebook) stehen die privat oder professionell orientierte Selbstdarstellung und vernetzte Interaktion im Mittelpunkt. Nachfolgend werden typische Formen der didaktisch gesteuerten Umsetzung und Beispiele für interkulturelle Diskurse und Interaktionen in der ungesteuerten Online-Nutzung diskutiert. Es werden auch Kommunikationsformen angesprochen, die streng genommen nicht in den Bereich des Web 2.0 gehören, z.B. Chat-Kommunikation und die virtuelle Welt Second Life. Tab. 1: Digitale Plattformen und kommunikative Praktiken
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2 Digitale Räume für interkulturelle Praktiken: Übersicht
Rezeptive Praktiken Produktive Praktiken
Medienplattformen
Soziale Netzwerke
* Archive durchforsten * Sammlungen erstellen * Eigene digitale Inhalte produzieren
* Profilaktivitäten verfolgen * Interaktionen beobachten * Digitale Selbstdarstellung gestalten * Privat oder öffentlich interagieren
3 Partizipative Archive nutzen Die Videoplattform Youtube wird schon seit längerem als Fundgrube für den Fremdsprachenunterricht entdeckt und eingesetzt. Dort hochgeladene Videoclips lassen sich von überall aus betrachten, in Sammlungen kompilieren, weiterleiten und einbetten, kommentieren und abwandeln. YouTube-Sammlungen können gezielt auf Materialien für den Fremdsprachenunterricht oder beliebige Sprach- bzw. Kulturaspekte fokussieren und lassen sich dabei hervorragend mit Materialien aus anderen Plattformen kombinieren. Medienlinguistische Forschung zeigt, dass YouTube eine Plattform für Sprachdokumentation und ungesteuerte Reflexion über Sprache anbietet (Androutsopoulos 2012). Tausende von Videos auf YouTube thematisieren deutsche Dialekte, u.a. im Modus des Dokumentarischen, in Parodien regionaler Stereotype, in Musikoder Theateraufzeichnungen oder Witzerzählungen. In solchen Videos werden die kulturellen und sozialen Zusammenhänge von Dialekt, sein Verhältnis zur lokalen Kultur und Identität thematisiert und reflektiert, diese Reflexion setzt sich in den Kommentaren zu den Videos fort. Die Auseinandersetzung mit solchen Repräsentationen kommt den Zielsetzungen eines kritischreflexiven interkulturellen Lernens hervorragend entgegen und bringt im Vergleich zu Lehrbuchmaterialien den Vorteil der Authentizität und die Möglichkeit der eigenen Beteiligung.
4 Kommunikative Praktiken beobachten Auch Interaktionen in den sozialen Medien lassen sich im Geist einer reflektierten Rezeption und Auswertung beobachten. Im Unterschied zum ersten Bereich geht es dabei nicht um abgeschlossene Texte, sondern um dynamische kommunikative Ereignisse, die von einem Beitrag ausgelöst, durch Beiträge mehrerer User/innen öffentlich fortgesetzt werden und in der Regel in aktuellen politischen und kulturellen Diskursen eingebettet sind. Eine Möglichkeit für kul-
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turvergleichende Reflexion ergibt sich hier durch die Beobachtung kommunikativer Praktiken in den sozialen Medien der gewählten Zielkultur vor der Folie der eigenen Kultur (sofern auch dort vorhanden). Ein Beispiel ist der Auftritt von Politiker/innen auf Facebook und Twitter, der in Deutschland eher sachlich oder persönlich inszeniert wird (Thimm et al. 2012). Lernende können die Beiträge der Politiker/innen und die Kommentare der User/innen verfolgen und über den Vergleich mit Politiker/innen des eigenen Landes Erkenntnisse über die Kultur der politischen Kommunikation in Deutschland gewinnen. Eine weitere Fragestellung ist, wie Interkulturalität im Diskurs selbst aufkommt, z.B. wenn Grenzen der kulturellen Authentizität und Zugehörigkeit verhandelt werden. Ein Beispiel ist der Fall von Anita Lerche, einer dänischen Sängerin von Punjabi-Musik, die ihre Facebook-Seite zur Bewerbung ihrer Veröffentlichungen und Auftritte benutzt (Sif Karrebaek et al. 2015). In den Anschlusskommentaren sprechen manche User/innen der Künstlerin Lerche kulturelle Authentizität ab, positionieren sie als Fremde und daher unfähig, die Sprache und Musik des Punjabi authentisch zu verkörpern.
5 Digitale Inhalte produzieren Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Gemessen an der traditionellen Positionierung der Lernenden bringt der Übergang von der Rezeption digitaler Texte und Interaktionen zur Produktion einen großen Unterschied herbei. Man kann sich digitale Inhaltsproduktion als ein Kontinuum von einfacheren zu komplexeren Formen vorstellen. Bereits ein mit dem Mobiltelefon aufgezeichnetes Video, das hochgeladen, verschlagwortet und veröffentlicht wird, ist eine elementare Form digitaler Produktion. Komplexer wird es, wenn bestehende Videos verändert werden, indem ihnen z.B. Untertitel oder Voice-Overs hinzugefügt oder Elemente mehrerer Videos in sogenannte Mash-ups kombiniert werden (Knobel & Lankshear 2008). Ausschlaggebend ist nicht die technische Perfektion, sondern der Wunsch nach Partizipation und der kreative Umgang mit vorgefundenen Materialien im Sinne einer kulturellen Bricolage (Jones & Hafner 2012). Ein Beispiel, das 2016 durch die deutschen Massenmedien ging, ist ein YouTube-Video des Syrers Firas Alshater mit dem Titel „Wer sind diese Deutschen?“. Alshater war in Syrien als Kamerafachmann tätig und lebt als Geflüchteter in Berlin. Das Video dokumentiert ein interkulturelles Begegnungsexperiment auf dem Berliner Alexanderplatz, im Mittelpunkt steht eine Außenperspektive auf „die Deutschen“. So heißt es im Hinblick auf Akzeptanz und Herzlichkeit: „ich hab gelernt, die deutschen brauchen längerer zeit, aber dann, sie sind nicht zu stoppen“. Ein anderer Handlungsraum für digitale Produktion sind Profilseiten in sozialen Netzwerken. Profileigner/innen arbeiten mit Verfahren der semiotischen und kulturellen Bricolage, wobei Materialien unterschiedlicher Herkunft für die eigene virtuelle Selbstdarstellung neu zusammengesetzt werden. Ein Beispiel ist die japanische Manga-Kultur, die unter europäischen Jugendlichen eine gewisse Popularität erreicht hat. Jonsson und Muhonen (2014) zeigen, wie schwedische Jugendliche Elemente aus der Manga-Kultur in ihre Profilseiten rekontextualisieren. Sie setzen z.B. Manga-Figuren als Profilbilder ein und nennen sich nach ebensolchen auf Japanisch, obwohl sie keine persönliche Verbindung zu Japan unterhalten, und setzen Referenzen auf Manga in ihre Statusmeldungen ein.
6 Vernetzt interagieren In der Tradition der über Email und Chat verbundenen Schulklassen-Tandems sind digital vermittelte Interaktionen ein typischer Bestandteil im Repertoire des gesteuerten Online-Lernens. Für Marquez-Schäfer (2013), die eine Übersicht über Chat-Studien in der Fremdsprachendi-
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daktik gibt, ergänzen Chat-Dialoge über die eigene Kultur und die des/r Interaktionspartners/ in andere Aktivitäten der Fremdsprachenvermittlung im Chat wie z.B. die interaktive Fehlerkorrektur und Behandlung sprachbezogener Fragen. In ihrer Untersuchung von interkulturellen Interaktionen mit Tutorinnen und Lernenden aus verschiedenen Ländern kommt MarquezSchäfer zum Schluss, dass nicht alle Zielsetzungen des interkulturellen Lernens im Chat gleichermaßen bedient werden können. Ähnliches gilt für die virtuelle Welt Second Life, die gerne für die Sprach- und Kulturvermittlung nutzbar gemacht wird, indem dezidierte Lernräume eingerichtet oder bestehende virtuelle Räume, beispielsweise virtuelle Städte, aufgesucht und als Folie für Lerner-Interaktionen nutzbar gemacht werden (Biebighäuser 2014; Corder & UMackey 2015). Wird Interkulturalität in ungesteuerten Online-Interaktionen verhandelt, so stehen auch hier nicht nur explizite Thematisierungen von Kultur im Vordergrund, sondern Auseinandersetzungen um semiotische Signifikanten kultureller Zugehörigkeit. In einer ethnographischen Studie über Facebook-Kommunikation unter Schülern in Kopenhagen zeigt Staehr (2015) wie der Versuch eines dänischen Schülers, Elemente der lokalen multiethnischen Jugendsprache für sich in Anspruch zu nehmen, von seinen migrationsstämmigen Mitschülern zurückgewiesen wird. Digitale Interaktionen sind auch im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Sprache, Kultur und Mobilität aufschlussreich. In einer Fallstudie hat Androutsopoulos (2014) die Facebook-Aktivitäten zweier Jugendlichen während eines ganzen Kalenderjahres ausgewertet und in Zusammenhang ihrer Reisen zwischen Deutschland und Griechenland betrachtet. Soziale Netzwerke, so zeigt diese Studie, können einen Raum für das Einüben kommunikativer Kompetenzen in einer neuen Sprache und für das Vorzeigen dieser Kompetenzen an die persönliche digitale Öffentlichkeit bereitstellen.
7 Schlussfolgerungen Die Stärken der digitalen Medien für die interkulturelle Bildung liegen nicht nur im umfangreichen Material, das sie verfügbar machen, sondern auch in den verschiedenen Handlungsmöglichkeiten für kulturell kontextualisierte Rezeption, Interaktion und Produktion. Der (rezeptive, interaktive und produktive) Zugriff auf Wissensbestände, Diskurse und Interaktionen einer anderen Kultur wird durch zahlreiche authentische Materialien ausgeweitet, dabei aber auch unübersichtlicher. Eine Begegnung mit grenzwertigen Äußerungen ist im Netz nicht vollständig zu vermeiden. Der Umgang mit diesem Risiko und die Entwicklung angemessener Suchstrategien sollte ein Hauptanliegen der didaktischen Betreuung beim kollaborativen Online-Lernen bleiben. Ein totaler Rückzug aus dem Netz ist weder realistisch noch wünschenswert, derweil dadurch die Kluft zwischen institutioneller Vermittlung und ungesteuerter Erfahrung weiter wachsen könnte. Der Entwicklung von Brückenaktivitäten zwischen ungesteuertem und gesteuertem Umgang mit interkulturellen Erfahrungen kommt daher eine Schlüsselrolle zu. Wichtig ist weiterhin die zunehmende Verschränkung von Sprach-, Kultur- und Medienkompetenz. In der digitalen Welt wird Medienkompetenz zu einer Grundvoraussetzung für den Erwerb weiterer kommunikativer Kompetenzen, ausgerechnet im Netz ist aber Medienkompetenz selbst auf Sprachkompetenz angewiesen. Interkulturalität äußert sich folglich nicht nur darin, wie kommunikative Zwecke kulturell different versprachlicht werden, sondern auch im kulturell unterschiedlichen Umfang mit den gleichen globalen Technologien, was eine hervorragende Vorlage für interkulturelle Reflexion bereitstellt. Abschließend sei angemerkt, dass die Erkundung digitaler Kommunikation für interkulturelle Bildung mit einem Verlust an Messbarkeit und Impact-Kontrolle einhergeht. Die Frage, ob
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durch die Öffnung zum ungesteuerten Umgang mit digitalen Medien messbare Steigerungen von Sprachkompetenz zu erzielen sind, ist derzeit noch ungeklärt. Zu erwarten sind hingegen indirekte Lernerträge: ein Plus an kultureller Reibung, eine Zunahme kultureller Reflexion, eine Bewusstwerdung darüber, dass nicht digitale Technologien als solche, sondern die durch sie ermöglichten Interaktionen in bestimmten Kontexten interkulturelle kommunikative Kompetenz fördern können.
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Digitale Lerntagebücher
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Der Fähigkeit und Bereitschaft zur Perspektivenübernahme, zum Fremdverstehen und zur Selbstreflexion wird in interkulturellen Lernprozessen eine besondere Bedeutung zugemessen. Diese Erkenntnis lässt sich als ein Ergebnis des Paradigmenwechsels in der Interkulturellen Pädagogik, in der seit den 1990er Jahren die Fähigkeit zum fremd- und eigenkulturellen Verstehen und zur interkulturellen Kommunikation (vgl. Freitag-Hild 2010) akzentuiert wird, beschreiben. Ein bislang wenig erforschter Parameter ist die Selbstreflexion des Subjekts. Interkulturelle Lernanlässe im hochschulischen Kontext, hierzu zählen zum Beispiel Auslandssemester an Partnerhochschulen (vgl. Nothnagel 2010; Bernhard 2002; Bechtel 2007; Dehmel et al. 2011), haben sich etabliert. Während die Zielsetzung im universitären Bereich der Aufbau einer beruflichen Handlungskompetenz ist, haben ähnlich gelagerte Konzepte mit der Zielsetzung einer „interkulturellen Kompetenz“ Eingang in Schulcurricula gefunden. Damit soll unter anderem der zunehmenden Heterogenität in Klassenzimmern begegnet werden (vgl. Heyder et al. 2014). Allein die Begegnung mit kulturell Fremden jedoch, so die Annahme, reicht nicht aus, um interkulturell bestehen zu können. Nothnagel stellt hierzu fest, dass interkulturelles Lernen im Ausland sowohl vor- und nachbereitet als auch pädagogisch begleitet werden muss (Nothnagel 2011, S. 453; vgl. auch Heuer 1995, S. 3). Der Einsatz digitaler Lerntagebücher im Sinne eines nachhaltigen interkulturellen Lernens als Verhaltensänderung kann unterstützend wirken (vgl. Kirchhöfer 2004, S. 55).
1 Das Paradigma des Perspektivenwechsels In Ansätzen, die das Lernen über Fremdheitserfahrungen als die bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen und der fremden Kultur verstehen, können internetbasierte Lerntagebücher als digitales Medium eingesetzt werden, um interkulturelle Lernprozesse begleiten und rekonstruieren zu können. Darüber hinaus eignet sich diese Kommunikationsform zur Förderung selbstreflexiver Prozesse (vgl. Appelt 2010; Rosa 2011). Authentische Lernsettings, zum Beispiel in Form eines Auslandssemesters, eignen sich als Rahmen für die Erstellung von Tagebucheinträgen, in denen irritierende kulturübergreifende Interaktionen festgehalten werden sollen. Zielsetzung ist, neben dem Nachvollzug selbstreflexiver Lern- und Identitätsbildungsprozesse, zu ermitteln, welche Faktoren für Veränderungsprozesse hinderlich und welche dienlich sind.
2 Interkulturelle Begegnungen als Ort sozialen Lernens Interkulturelle Begegnungssituationen im Ausland, zum Beispiel von Student/innen mit Einheimischen in deren Heimatland, können sowohl „Ort“ des sozialen Handelns als auch der Analyse sein. Mit einer konkreten pädagogischen Aufgabenstellung als Strukturierungshilfe kann von (Hoch-)Schullehrkräften vor der Ausreise der Auftrag erteilt werden, kulturübergreifende Begegnungen in Form von Tagebucheinträgen über einen bestimmten Zeitraum festzuhalten. Der Zielsetzung dienlich ist sowohl das Beschreiben als auch das selbstreflektierte Festhalten von
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irritierenden Handlungsweisen des/r Interaktionspartners/in sowie von eigenen Reaktionen. Mit konkreten Vorgaben wie „Beschreibe die Situation des Aufeinandertreffens mit deinem/r Kommunikationspartner/in“ und Fragestellungen „Wie hast du die Interaktion mit deinem/r Kommunikationspartner/in wahrgenommen beziehungsweise erlebt?“ können Schreibanlässe geschaffen werden.
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3 Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung der Lernenden Forschungsergebnisse belegen, dass Tagebuchautor/innen mehrheitlich das Aufschreiben als hilfreich für eine reflektierte Auseinandersetzung mit dem Erlebten empfinden (Schlegl 2015). In der selbstreflexiven Betrachtung der Tagebuchtexte können sich persönliche Entwicklungen mitunter sogar deutlicher darstellen, als diese von den Verfasser/innen selbst wahrgenommen werden. Die schriftliche Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen, Schwierigkeiten und Fortschritten regt sowohl die Selbstreflexion der Autor/innen an als auch den Perspektivenwechsel. Der Nachvollzug des eigenen Lernwegs und der eigenen Verhaltensänderungen kann die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Erlebten fördern. Lernfortschritte, die als Erfolgserlebnisse verbucht werden, können Lernende zudem soweit motivieren, dass auch Rückschläge überwunden werden können und Resilienz gegenüber künftigen negativen Erfahrungen aufgebaut werden kann. Durch die Reflexion wird das eigene Handeln hinterfragt und ein Lernprozess im Sinne einer Situationsuntersuchung setzt ein. Dieser verläuft in drei Stufen: der Phase der Verunsicherung, der Phase der Reflexion und der Phase der Gewöhnung. Dieser Lernprozess kann über die Umwandlung von Erlebnissen zuerst in neue Erfahrungen münden; die reflektierten Erfahrungen wiederum können in neue Wissensbestände transformiert werden.
4 Fazit Über die reflektierende Auseinandersetzung mit den Tagebucheinträgen kann die Aufnahme neuen Handlungswissens beobachtet werden, das sich aus der Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten ergeben kann. Der Einsatz von digitalen Lerntagebüchern im interkulturellen Lernen bietet damit sowohl Lehrenden als auch Lernenden neue Möglichkeiten. Für die Lehrenden sind es die Nachvollziehbarkeit und Diagnose von Lernprozessen: Es können Vergleiche der unterschiedlichen Rezeptionsweisen von Lerner/innen bei der Reflexion und Aushandlung individueller kultureller Deutungsmuster beobachtet werden. Für die Lernenden ist es die gezielte Förderung der Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung. Im interkulturellen Lernen bedeutet dies eine Anregung zur kritischen Selbstwahrnehmung sowie zur Rekonstruktion fremdkultureller Perspektiven. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen, den Erwartungshaltungen und dem, was einem „fremd“ erscheint, regt zum interkulturellen Lernen an – vor allem, wenn dieser Prozess methodisch und didaktisch unterstützt wird. Literatur
Alaszewski, Andy (2006): Using Diaries for Social Research. Thousand Oaks: Sage (IQM series). – Appelt, Ralf (2010): Blogs im Hochschulkontext. In: Roland Holten & Dieter Nittel (Hg.): E-Learning in Hochschule und Weiterbildung: Einsatzchancen und Erfahrungen. Bielefeld: Bertelsmann, S. 147-162. – Bechtel, Mark (2007): Ein Modell zur Analyse und Darstellung von Perspektiven beim interkulturellen Lernen im Sprachentandem. In: Lothar Bredella & Herbert Christ (Hg.): Fremdverstehen und interkulturelle Kompetenz. Tübingen: Gunter Narr, S. 40-50. – Bernhard, Nicole (2002): Interkulturelles Lernen und Auslandsaustausch – „Spielend“ zu interkultureller Kompetenz. In: Laurenz Volkmann; Klaus Stierstorfer & Wolfgang Gehring (Hg.): Interkulturelle Kompetenz. Konzepte und Praxis des Unterrichts. Tübingen: Gunter Narr, S. 193-215. – Dehmel, Alexandra; Li, Yi & Sloane, Peter (2011): Intercultural Competence development in higher education study abroad programs: A
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good practice example. In: interculture journal. Online-Zeitschrift für Interkulturelle Studien. Jahrgang 10 (15). Online verfügbar unter www.interculture-journal.com/index.php/icj/article/download/122/207. [02.08.2016]. – Freitag-Hild, Britta (2010): Theorie, Aufgabentypologie und Unterrichtspraxis inter- und transkultureller Literaturdidaktik: ‚British fictions of migration‘ im Fremdsprachenunterricht. Trier: WVT, Wissenschaftlicher Verlag Trier. – Heyder, Karoline & Schädlich, Birgit (2014): Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität – eine Umfrage unter Fremdsprachenlehrkräften in Niedersachsen. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht Jg. 19 (1), S. 183-201. – Kirchhöfer, Dieter (2004). Lernkultur Kompetenzentwicklung – Begriffliche Grundlagen. Online verfügbar unter http://www.abwf.de/main/publik/content/main/publik/handreichungen/begriffliche_grundlagen.pdf [02.08.2016]. – Nothnagel, Steffi (2010): Auslandssemester. In: Arne Weidemann; Jürgen Straub & Steffi Nothnagel (Hg.): Wie lehrt man interkulturelle Kompetenz? Theorien, Methoden und Praxis in der Hochschulausbildung. Ein Handbuch. Bielefeld: transcript, S. 433-461. – Rosa, Lisa (2011): Neues Lernen mit Medien: Lernen und Lehren mit Weblogs in der Schule. In: Thorsten Meyer; Tan Wey-Han; Christina Schwalbe & Ralf Appelt (Hg.): Medien & Bildung: Institutionelle Kontexte und kultureller Wandel. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 340-347. – Schlegl, Christina (2015): Fremdverstehen und Identitätskonstruktionen in interkulturellen Lernprozessen. Eine explorative Analyse von Lerntagebüchern deutscher Studenten des Studiengangs „Angewandte Wirtschaftssprachen und Internationale Unternehmensführung“ während eines Auslandssemesters in Ägypten. Dresden, Techn. Univ., Diss., 2015.
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Digitale Lerntagebücher
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6 Interkulturelle Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen und Schule
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81 Orientierungs- und Bildungspläne für die Kindertagesbetreuung Drorit Lengyel und Tanja Salem Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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6.1 Bildungspolitische Rahmensetzungen und Konzepte
1 Genese und Funktion von Bildungs- und Orientierungsplänen Während viele OECD-Staaten bereits seit den 1980er Jahren Bildungspläne verabschiedet haben, setzte in Deutschland die Diskussion um Curricula für frühpädagogische Arbeit als Ausweis einer qualitativ hochwertigen frühkindlichen Bildung verspätet ein. Ein Meilenstein für deren Erarbeitung war die 1999 vom BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) ins Leben gerufene „Nationale Qualitätsinitiative im System Tageseinrichtungen für Kinder“. Aus dieser heraus ist ein nationaler Kriterienkatalog entstanden, der länder-, träger- und konzeptionsübergreifend beste Fachpraxis beschreibt und eine Grundlage für die Qualitätsdiskussion und -entwicklung in allen Bundesländern bietet (vgl. Tietze & Viernickel 2013, S. 7). So zielt der Erziehungsauftrag frühkindlicher Institutionen heute auf Bildung und stützt sich dabei auf Betreuung (vgl. Laewen 2013, S. 98). Eine Grundlage für die Fokussierung auf Bildung ist das Kinder- und Jugendhilfegesetz KJHG (SGB VIII). Danach ist es Aufgabe von Kindertageseinrichtungen (Kitas), Erziehung und Bildung in der Familie zu unterstützen und zu ergänzen (§ 22 [2] 2.). Die Bildungspläne stehen auch mit der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Zusammenhang sowie dem damit einhergehenden quantitativen Ausbau frühkindlicher Bildungsinstitutionen insbesondere für Kinder unter drei Jahren. Nach dem Tagesbetreuungsausbaugesetz (BMFSFJ 2004, TAG), das das KJHG ergänzt, gilt es, die ethnische Herkunft von Kindern neben sozialen und kulturellen Bedürfnissen sowie religiösen Orientierungen (vgl. § 9 KJHG) bei der Förderung der geistigen, körperlichen, sozialen und emotionalen Entwicklung zu berücksichtigen. Ein weiterer Meilenstein in der Bildungsplanentwicklung ist der „Gemeinsame Rahmen der Länder für frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen“, auf den sich 2004 die Jugendministerkonferenz (JMK) und die Kultusministerkonferenz (KMK) verständigten. Darin wurden sechs Bildungsbereiche definiert: Mathematik/Naturwissenschaft/Technik; Musische Bildung/Medien; Körper/Bewegung/Gesundheit; Natur und kulturelle Umwelten; Sprache/Schrift/Kommunikation; Personale und soziale Entwicklung/Werterziehung/religiöse Erziehung. Darüber
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hinaus wurden Querschnittsaufgaben festgelegt wie bspw. lernmethodische Kompetenz (Lernen lernen), interkulturelle Bildung oder geschlechtsbewusste Erziehung. Die Funktion von Bildungsplänen ist es, die allgemeinen Grundsätze des Sozialgesetzbuchs zu konkretisieren, indem sie das Bildungsangebot benennen und den Altersbereich des entsprechenden Plans festlegen. Mit ihrer Hilfe soll die Qualität in frühkindlichen Einrichtungen gesteigert und gesichert sowie ein Rahmen für die Orientierung der Professionellen in ihrer pädagogischen Arbeit geboten werden. Die Einrichtungen sind angehalten, in ihren Konzeptionen die Umsetzung der Rahmenvorgaben auszuweisen. Im Gegensatz zum angelsächsischen oder skandinavischen Raum gibt es kein einheitliches Gesamtcurriculum, sondern Bildungspläne auf Länderebene (für eine umfassende und kritische Analyse vgl. Hebenstreit 2008; für eine Zusammenfassung der Kernelemente deutscher Bildungspläne in der frühen Kindheit vgl. Stamm 2010, S. 113f; für einen internationalen Überblick vgl. Fthenakis & Oberhuemer 2010).
2 Interkulturelle Bildung und Erziehung als Querschnittsaufgabe in den Bildungsplänen Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Bislang liegen nur vereinzelt Analysen der Bildungs- und Orientierungspläne der Bundesländer vor, die aus interkultureller Perspektive die Querschnittsaufgabe betrachten (z.B. Brockmann 2014; Sulzer 2013). Die interkulturelle Perspektive rückt in den Vordergrund, dass Familien mit und ohne Migrationshintergrund die gemeinsame Zielgruppe (früh)pädagogischer Anstrengungen darstellen. Familien unterscheiden sich nach ethnischer, sozialer, sprachlich-kultureller, religiöser Herkunft; sie sind verschieden in Bezug auf das Alter, Formen des Zusammenlebens, Lebensstile u.v.m. (vgl. Lengyel & Salem 2017). Der dabei zugrundegelegte Kulturbegriff bezieht sich auf „die gelebte, individuell und situational interpretierte Kultur“ (Filtzinger 2013, S. 221f ). Frühkindliche Bildungsinstitutionen, die einen professionellen Umgang mit Heterogenität entwickeln, müssen den jeweiligen familiären Besonderheiten Rechnung tragen, sofern es für die Erziehungs- und Bildungssituation des Kindes erforderlich ist (vgl. Lengyel & Salem 2017) und diesen mit Offenheit begegnen. Es gilt, die eigenen Erziehungs-, Bildungs- und Wertvorstellungen zu reflektieren, die unterschiedlichen Zugänge und Erwartungen an Bildung und Erziehung zu berücksichtigen und insbesondere auch den Ethnozentrismus in den Erziehungs- und Bildungsplänen zu reflektieren (vgl. Sulzer 2013). Für diesen Beitrag wurden die Bildungspläne der Länder analysiert mit Blick auf die Querschnittsaufgabe „interkulturelle Erziehung und Bildung“. Das Thema kulturelle Diversität ist in den Bildungsplänen häufig verknüpft mit den Themen Religion und interreligiöse Erziehung, sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit sowie Identität und Gesellschaft, insofern wird auf alle drei Bereiche eingegangen 2.1 Kulturelle Diversität Das Thema kulturelle Diversität stellt in den Bildungsplänen ein Querschnittsthema dar und wird z.T. recht breit behandelt. Dabei verweisen einige Pläne ganz allgemein darauf, dass kulturelle Erfahrungen aller Kinder wahrgenommen und pädagogisch einbezogen werden sollten sowie auf die damit verbundenen Chancen, kulturelle Vielfalt kennen zu lernen und sie als Bereicherung zu erleben. Die Bildungspläne aus Bayern, Baden-Württemberg, Berlin, SchleswigHolstein, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen entwickeln, ausgehend von der Thematisierung kultureller Diversität, ein umfassenderes Verständnis von interkulturel-
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ler Bildung und Erziehung im Sinne einer Querschnittsaufgabe. So geht bspw. der Bildungsplan Bayern auf die individuelle und gesellschaftliche Dimension von interkultureller Erziehung ein und benennt die Entwicklung interkultureller Kompetenz als Bildungsziel (Bildungsplan Bayern 2016, S. 129). Es wird betont, dass dieses Bildungsziel auch für Einrichtungen gelte, die nicht von mehrsprachigen Kindern besucht werden. Der Bildungsplan Hessen verweist explizit auf den Ansatz der vorurteilsbewussten Pädagogik in der Frühpädagogik. Im Bildungsplan NRW wird eine konstruktive Auseinandersetzung mit kultureller Heterogenität gefordert und davon ausgegangen, dass interkulturelle Kompetenz durch alltägliche Erfahrungen gefördert werde. Betont wird auch, dass interkulturelle Erziehung sich zwar auf „Zuwanderungskultur“ und „Herkunftskultur der Kinder und ihrer Familien“ beziehe, sich aber „gegen eine Stigmatisierung und (…)starre Fixierung auf die Herkunftskultur“ wende (Bildungsplan NRW 2011, S. 16). Begründet wird dies damit, dass die kulturellen Elemente und das Lebensmilieu der hier lebenden Menschen Bezugspunkte für interkulturelle Erziehung seien. 2.2 Religion und interreligiöse Erziehung
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Orientierungs- und Bildungspläne für die Kindertagesbetreuung
Verweise auf unterschiedliche Religionen und Weltanschauungen in der Lebenswelt vieler Kinder sind in allen Bildungsplänen der Länder enthalten. Auch hier unterscheiden sich die Bildungspläne in der Intensität ihrer Auseinandersetzung. Während einige Pläne wenige und allgemeinere Bezüge aufweisen, legen andere ein umfassendes Bildungsverständnis dar, das auf interreligiöse Erziehung Bezug nimmt. Einige Bildungspläne verweisen auf „das abendländische, humanistische und christliche Welt- und Menschenbild der Umgebung, in der das Kind aufwächst“ (Bildungsplan Bayern 2016, S. 12) und gleichzeitig auf unterschiedliche religiöse und andere Weltanschauungen als Teil der kindlichen Lebenswelt. Daher gelte es, Offenheit zu entwickeln durch bewusste Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Traditionen, religiösen Symbolen usw. Auch die Reflexion der weltanschaulichen Orientierungen auf Seiten der pädagogischen Fachkräfte wird angesprochen. Ziel religiöser Bildung ist es den meisten Bildungsplänen zufolge, über ein altersangemessenes Angebot religiösen Hintergründen mit Respekt und Anerkennung zu begegnen sowie die Aufgeschlossenheit der Kinder zu fördern, Empathie, Toleranz, Verständnis für Eigenartigkeit zu entwickeln und Wertschätzung sowie Respekt durch die bewusste Auseinandersetzung mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt zu entwickeln. Hier wird Bezug zu Ritualen und Festen hergestellt. Der Bayerische Bildungsplan nimmt Bezug auf die Kooperation mit Eltern: Angesichts religiöser Vielfalt sei der Dialog mit dem Elternhaus zu gestalten. Der Bildungsplan Sachsen-Anhalt verweist auf die Relevanz, Informationen zu religiösen Bindungen bei den Eltern zu erfragen und dieses Wissen für die Begleitung der Kinder zu nutzen. Auf die Berücksichtigung religiöser Speisevorschriften wird im Hamburger Bildungsplan eingegangen. 2.3 Mehrsprachigkeit und sprachliche Bildung In allen Bildungsplänen wird die Frage der Mehrsprachigkeit im Kontext sprachlicher Bildung thematisiert. Auch hier wiederum unterscheiden sich die Bildungspläne in der Tiefe und Reichweite der Darstellung. Während im Brandenburgischen Bildungsplan (2004, S. 13) nur darauf rekurriert wird, dass Kinder in frühkindlichen Bildungseinrichtungen die Möglichkeit haben, „Kinder anderer Muttersprachen“ kennenzulernen, wird im Bayerischen Bildungsplan ein umfassendes Verständnis von Kindersprache, mehrsprachigem Aufwachsen und Sprachbewusstheit dargelegt. Betont wird die mehrsprachige Orientierung als Grundlage interkultureller Bildung
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Drorit Lengyel und Tanja Salem
und Erziehung und dass Förderung von Mehrsprachigkeit und Deutschlernen nicht im Widerspruch zueinander stünden. Hervorgehoben wird der Bildungsbereich Musik, der sich besonders gut für die Einbindung mehrsprachiger Aktivitäten eigne. In einigen Bildungsplänen (Hamburg, Berlin) wird auf die Chancen und Erfahrungen heterogener Teams im Umgang mit Mehrsprachigkeit verwiesen. Dass die Familiensprachen wertgeschätzt und anerkannt werden sowie als Sprachressource aufgegriffen werden sollen, findet sich in vielen Bildungsplänen; manche geben konkrete Hinweise, wie dies gelingen kann, z.B. durch die Kooperation mit Eltern, zwei- oder mehrsprachige Informationen, Präsenz der Sprachen durch mehrsprachige Materialien und Beschriftungen in der Einrichtung. Es wird insgesamt deutlich, dass die meisten Bildungspläne sich am aktuellen Stand der Forschung und der Theoriebildung orientieren, z.B. wenn darauf hingewiesen wird, dass Sprachwechsel und Sprachmischung kein Zeichen von „Unfähigkeit“ (Bildungsplan Sachsen-Anhalt 2013, S. 111) seien oder wenn es heißt, dass Kinder nicht gedrängt werden dürften, Deutsch zu sprechen, sondern es darum gehen solle, die Neugier an der Sprache zu wecken (Bildungsplan Sachsen 2011), oder aber wenn heterogene sprachliche Voraussetzungen auch auf Mundarten, Dialekte bezogen werden (Bildungsplan Saarland 2007) und es darum gehen soll, Registervielfalt zu erkennen (Bildungsplan Hessen 2016). Allerdings zeigt sich auch, dass die Aneignung des Deutschen in den Bildungsplänen tendenziell umfassend und konkret diskutiert wird, während die Aussagen zum Umgang mit Mehrsprachigkeit eher normativ und allgemeiner gefasst sind.
3 Resümee und Ausblick Es wird deutlich, dass die für die Rahmenvorgaben der Länder Verantwortlichen auf den gesellschaftlichen Wandel infolge von Migration reagiert und interkulturelle Bildung und Erziehung als Querschnittsaufgabe etabliert haben. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass Bildungspläne eingebettet sind in einen größeren Reformprozess zur Qualität in Kitas. So wird die individualistische Ausrichtung pädagogischer Qualität in frühkindlichen Bildungsinstitutionen auch in den Bildungsplänen manifest, was dazu führen kann, dass es für pädagogische Fachkräfte nur eingeschränkt möglich wird, ein kultursensitives Verständnis für die Kinder und ihre Familien zu entwickeln, die eher kollektivistisch orientiert sind (vgl. Stamm & Edelmann 2013, S. 337). Herwartz-Emden und Schultheiß (2016, S. 150) sprechen in diesem Zusammenhang auch vom Ethnozentrismus, der in den Bildungsplänen enthalten sei, insbesondere im Bild des Kindes, den Vorstellungen vom Lernen, von Elternschaft und den Erziehungszielen. Die Bedeutung, die die Länder der Querschnittsaufgabe zuweisen, zeigt sich in der Intensität und Qualität der Auseinandersetzung damit. Hier gibt es in den Bildungsplänen deutliche Unterschiede. Ein Grund hierfür mag sein, dass in Bezug auf die Querschnittsaufgabe unterschiedliche Konzepte und Standpunkte bestehen, die in der bisherigen wissenschaftlichen Diskussion noch nicht ausreichend aufeinander bezogen wurden (s. dazu auch Sulzer 2013). Interkulturelle Bildung und Erziehung sowie damit verbundene Fragen einer interreligiösen Erziehung oder eines wertschätzenden Umgangs mit Mehrsprachigkeit sollten in allen Ländern in ähnlicher Form in die Bildungspläne aufgenommen werden. Literatur
Bildungspläne der Länder. online verfügbar unter http://www.bildungsserver.de/Laenderueberblick-Elementarbildung--4236.html. [4.5.2017]. – Brockmann, Steffen. (2014): Diversitätsbewusstes Denken und Handeln von Pädagogischen Fachkräften in Kindertageseinrichtungen. Münster: Waxmann. – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2004) (Hg.): Das Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG): Gesetz zum qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau der Tagesbetreuung und zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe.
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Bildungspolitische Zielsetzungen – Lehrpläne – Bildungsstandards
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Berlin. – Flitzinger, Otto (2013): Interkulturelle Bildung und Erziehung. In: Lilian Fried & Susanna Roux (Hg.): Handbuch Pädagogik der frühen Kindheit, 3. überarb. und erw. Aufl. Berlin: Cornelsen, S. 221-229. – Fthenakis, Wassilios E. & Oberhuemer, Pamela. (Hg.) (2010): Frühpädagogik international. Bildungsqualität im Blickpunkt, 2. Aufl. Wiesbaden: Springer-VS. – Hebenstreit, Sigurd (2008): Bildung im Elementarbereich. Die Bildungspläne der Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland. Online verfügbar unter http://www.kindergartenpaedagogik.de/1869.pdf [4.5.2017]. – Herwartz-Emden, Leonie & Schultheiß, Annette (2016): Professionalisierung in der Kindertagesbetreuung. Aspekte interkultureller Elementarpädagogik. In: Tina Friederich; Helmut Lechner; Helga Schneider; Gabriel Schoyerer & Claudia M. Ueffing (Hg.): Kindheitspädagogik im Aufbruch. Professionalisierung, Professionalität und Profession im Diskurs. Weinheim: Beltz, S. 147-154. – Laewen, Hans-Joachim (2013): Funktionen der institutionellen Früherziehung: Bildung, Erziehung, Betreuung, Prävention. In: Lilian Fried & Susanne Roux (Hg.): Pädagogik der frühen Kindheit, 3. überarb. und erw. Aufl. Berlin: Cornelsen, S. 96-106. – Lengyel, Drorit & Salem, Tanja (2017): Zusammenarbeit von Kita und Elternhaus - interkulturelle Perspektiven. In: Bärbel Kracke & Peter Noack (Hg.): Handbuch Entwicklungs- und Erziehungspsychologie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. doi:10.1007/978-3-642-54061-5_6-1. – SGB VIII (2005): Online verfügbar unter http://www. gesetze-im-internet.de/sgb_8/BJNR111630990.html#BJNR111630990BJNG000506140. [5.3.2014]. – SchusterLang, Käthe-Maria (2013): Rahmenpläne für die Bildungsarbeit. In: Lilian Fried & Susanna Roux (Hg.): Handbuch Pädagogik der frühen Kindheit, 3. überarb. und erw. Aufl. Berlin: Cornelsen, S. 147-160. – Stamm, Margit (2010): Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung. Bern: UTB Verlag. –Stamm, Margit & Edelmann, Doris (2013): Zur pädagogischen Qualität frühkindlicher Bildungsprogramme: Eine Kritik an ihrer ethnozentrischen Perspektive. In: Margrit Stamm & Doris Edelmann (Hg.): Handbuch frühkindliche Bildungsforschung. Wiesbaden: Springer VS, 325-341. –Sulzer, Annika (2013): Kulturelle Heterogenität in Kitas. Anforderungen an Fachkräfte. Hg. v. DJI. München. – Tietze, Wolfgang & Viernickel, Susanne (Hg.) (2013): Pädagogische Qualität in Tageseinrichtungen für Kinder. Ein nationaler Kriterienkatalog. Unter Mitarbeit von Irene Dittrich, Katja Grenner, Bernd Groot-Wilken, Verena Sommerfeld und Andrea Hanisch, 4. Aufl. Weinheim: Beltz.
82 Bildungspolitische Zielsetzungen – Lehrpläne – Bildungsstandards Uwe Sandfuchs
Durch Migration und Globalisierung sowie die damit verbundenen Prozesse gesellschaftlichen Wandels ist die Vorstellung von einer monokulturellen und monolingualen, national orientierten Schule obsolet geworden (Gogolin 1994/2008). Die kulturelle und sprachliche Heterogenität der Schülerschaft hat gravierende Veränderungen der Inhalte und Ziele von Erziehung und Unterricht sowie der schulischen Organisationsformen nach sich gezogen. Qualifikationsstruktur und Arbeit der Lehrkräfte haben sich grundlegend geändert, durch Lehrkräfte mit Migrationshintergrund hat sich auch die Zusammensetzung der Kollegien geändert. Die grundsätzlichen pädagogischen Aufgaben der Schule (und aller anderen Bildungseinrichtungen), nämlich die soziale Integration sowie die Eröffnung bestmöglicher Lebens- und Bildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen, sind geblieben. Es ist aber die Notwendigkeit interkulturellen Lernens und interkultureller Kommunikation hinzugekommen. Die Bedeu-
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tung der Schule für diesen Integrationsprozess liegt in ihrem durch die Schulpflicht garantierten Pflichtcharakter.
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1 Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) Vor diesem Hintergrund ist es der bildungspolitisch entscheidende Schritt, dass ab Ende der 1960er Jahre in allen damals elf Bundesländern für ausländische Kinder und Jugendliche mit gesichertem Aufenthaltsstatus die allgemeine Schulpflicht gilt. Damit beginnt die teilweise zögerliche Geschichte der „Schule in der Einwanderungsgesellschaft“ (Krüger-Potratz 2015, S. 95). Wir verfolgen diesen Prozess zunächst an den Empfehlungen der KMK. Grundlagen zur Beurteilung aller Maßnahmen sind: –– Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, in deren Artikel 26 Bildung zum Menschenrecht erklärt wird: „Jeder hat das Recht auf Bildung“. –– Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist (Art. 3,1) die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz festgelegt. Im Folgenden wird ausgeführt, dass niemand „wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“ darf (Art. 3,3). Die Bundesrepublik ist ein föderaler Staat, in dem die Bundesländer unter anderem auf dem Gebiet der schulischen Bildung die „im Schwerpunkt ausschließliche“ Gesetzgebungsbefugnis haben (Art. 23,6). Das führt zu ganz unterschiedlichen Entwicklungen in den einzelnen Bundesländern, die notwendige Koordinierung und Zusammenarbeit soll durch die KMK gewährleistet werden. Die KMK-Empfehlungen von 1971 zum „Unterricht für Kinder ausländischer Arbeitnehmer“ sind in Teilen integrativ konzipiert: Ausländische Kinder, die in Deutschland schulpflichtig werden, sollen möglichst von Anfang an am Regelunterricht teilnehmen. In Vorbereitungsklassen oder Intensivkursen sollen Deutschkenntnisse vermittelt werden. Muttersprachlicher Unterricht kann an die Stelle einer Fremdsprache treten. Hausaufgabenhilfe, Lehrerfortbildung und die Beschäftigung ausländischer Lehrer werden für nötig gehalten. Auch wird die Notwendigkeit des Erhalts der kulturellen und sprachlichen Identität für wichtig gehalten. Die ausländischen Eltern sollen über das deutsche Schulwesen und die Bedeutung des Schulbesuchs auch für Berufschancen informiert werden (vgl. Langenfeld 2001, S. 33ff). Der Anwerbestopp von 1973, der die Abkehr vom Rotationsprinzip der Migration markiert und ungewollt die Familienzusammenführung und damit den Zuzug vieler Kinder und Jugendlicher zur Folge hat, ist mitbestimmend für die Empfehlungen der KMK von 1976. Sie sind durch die unrealistische und vielfach kritisierte „Doppelstrategie“ gekennzeichnet: Es soll sowohl „für die Dauer des Aufenthalts in Deutschland“ eine „erfolgreiche Mitarbeit in den deutschen Schulen“ ermöglicht als auch „die Wiedereingliederung in die heimatlichen Schulen“ offen gehalten werden (Förderung der Rückkehrfähigkeit). Diese Doppelstrategie sowie die in der Folge insbesondere in Bayern praktizierten segregierenden Beschulungsmodelle sind heftig umstritten. Die bayerischen Schulstatistiken zeigen in der Folge einen permanenten Rückgang dieser Modelle auf (Langenfeld 2001, S. 38) und geben so den Kritikern recht. Entsprechend den fachlichen und schulpraktischen Erfahrungen enthalten die Empfehlungen von 1976 jedoch auch eine Reihe integrativer Fördermaßnahmen für den schulischen, vorschulischen und außerschulischen Bereich.
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Bildungspolitische Zielsetzungen – Lehrpläne – Bildungsstandards
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Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Schulpflicht bis in die 1980er Jahre nicht durchgesetzt wird. Im Schuljahr 1977/1978 besuchen nur knapp drei Viertel der ausländischen Kinder und Jugendlichen die allgemeinbildenden Schulen, davon blieb die Hälfte ohne Abschluss. Ihre Berufsschulpflicht nimmt nur knapp die Hälfte der Betroffenen wahr (KrügerPotratz 2015, S. 117). Seit etwa 1980 werden Konzepte interkultureller Bildung als Bildung für alle entwickelt (ein frühes Beispiel: Steffen 1981). Die KMK reagiert spät, dann aber richtig. Die KMK-Empfehlung von 1996 mit dem programmatischen Titel „Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule“ bündelt die vorliegenden interkulturellen Ansätze. Sie sagt über die inhaltlichen Schwerpunkte des Unterrichts, dass zur Entwicklung interkultureller Kompetenzen „Kenntnisse und Einsichten über die identitätsbildenden Traditionslinien und Grundmuster der eigenen wie fremder Kulturen“, erforderlich seien, weil Vorurteilen nur „mit differenzierter Wahrnehmung, reflektierter Klärung und selbstkritischer Beurteilung begegnet“ werden könne. Dazu brauche es keine stoffliche Ausweitung sondern vielmehr eine interkulturelle Akzentuierung bestehender Inhalte. Es werden folgende Aspekte für bedeutsam gehalten: „Wesentliche Merkmale und Entwicklungen eigener und fremder Kulturen; Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Kulturen und ihre gegenseitige Beeinflussung; Menschenrechte in universaler Gültigkeit und die Frage ihrer kulturellen Bedingtheit; Entstehung und Bedeutung von Vorurteilen; Ursachen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit; Hintergründe und Folgen naturräumlicher, wirtschaftlicher, sozialer und demographischer Ungleichheiten; Ursachen und Wirkungen von Migrationsbewegungen in Gegenwart und Vergangenheit; internationale Bemühungen zur Regelung religiöser, ethnischer und politischer Konflikte; Möglichkeiten des Zusammenlebens von Minderheiten und Mehrheiten in multikulturellen Gesellschaften“. Die Curricula für Sachunterricht, Religions- oder Ethikunterricht, Deutsch, Musik und Fremdsprachen sollen auf geeignete Lerninhalte und -situationen hin analysiert und akzentuiert werden. An die in vielen Schulen vorhandene Mehrsprachigkeit sowie die besonderen sprachlichen und kulturellen Kompetenzen zweisprachiger Schulkinder lasse sich dabei anschließen. Von besonderem Wert seien zudem außerschulische Kontakte und persönliche Begegnungen. Die Bedeutung interkultureller Kompetenz im privaten Leben sowie im schulischen und beruflichen Bildungserwerb ist inzwischen kaum noch umstritten. So gelten internationale Mobilität und interkulturelle Kompetenz neben Innovations- und Führungsvermögen zu den Erfolgsfaktoren von Spitzenkräften in der Wirtschaft. In einer Experten-Befragung nach vermuteten Kernkompetenzen des Jahres 2020 werden Fremdsprachenkompetenz und Interkulturelle Kompetenz hoch angesiedelt (vg. Sandfuchs 2000). Interkulturelle Bildung wird als entwicklungsbedürftiges Konzept verstanden, das nachhaltig nur wirken kann, wenn es in das Gesamtkonzept der Schule integriert ist. Hier setzt die Neufassung dieser Empfehlung von 2013 an. Sie versteht Schule als Lern- und Lebensort für alle. Es wird eine „systematische interkulturelle Entwicklung von Schule“ gefordert, die interkulturelle Kompetenz als „Kernkompetenz“ aller vermittelt. Dazu gehören die „Auseinandersetzung mit anderen Sprachen und Kulturen“, die Reflexion von „den eigenen Bildern vom Anderen“ und ihrer gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen. Aufgabe der Schule sei es, allen Kindern und Jugendlichen „umfassende Teilhabe an Bildung und Chancen für den größtmöglichen Bildungserfolg zu eröffnen“. Das erfordere eine „Schule der Vielfalt, die frei ist von offener und versteckter Diskriminierung“, die bewusste Ausrichtung auf die „soziale, kulturelle und sprachliche Heterogenität“ der Schülerinnen und Schüler. Vier Grundsätze sollen leitend sein:
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–– „Schule nimmt Vielfalt zugleich als Normalität und als Potenzial für alle wahr.“ –– „Schule trägt zum Erwerb interkultureller Kompetenzen im Unterricht aller Fächer und durch außerunterrichtliche Aktivitäten bei.“ –– „Schule ist zentraler Ort für den Erwerb bildungssprachlicher Kompetenzen.“ –– „Schule gestaltet aktiv Bildungs- und Erziehungspartnerschaften mit Eltern.“ All das erfordere u.a. eine Stärkung ihrer interkulturellen Kompetenzen des pädagogischen Personals verbunden mit einer Erhöhung des Anteils von Personal mit Migrationshintergrund (ebd., S. 2ff). Zwischen der grundsätzlich anerkannten Bedeutung interkulturellen Lernens und der Schulrealität klafft aber seit langem eine Lücke. Auernheimer u.a. (1998, S. 609f ) stellen fest: Lehrkräfte sind zwar erfreulich sensibel für Ausländerfeindlichkeit und für gesellschaftliche Benachteiligung, kulturelle Differenz im Schulalltag und deren pädagogische Relevanz nehmen sie jedoch in der Regel nicht wahr. Mehrsprachigkeit und Bilingualität von Migrantenschülern werden eher ignoriert und weder als Lernhilfen noch zur Bereicherung des Unterrichts hinreichend genutzt. Darüber hinaus wird lange Zeit der Förderbedarf dieser Schüler eklatant unterschätzt. Bereits Ende der 1980er Jahre deutet sich dies an: „Unsere Ausländer sind integriert. Wir haben keine Probleme mehr.“. Solche Stimmen zeigen, dass man sich zu früh mit zu wenig zufrieden gegeben hat. Viele Fördermittel und -maßnahmen (in Niedersachsen z.B. die „Doppelzählung“ ausländischer Schüler ab einem Anteil von 20% in einem Jahrgang) sind gestrichen bzw. beendet worden. Die von Klemm (1987) berichtete Tendenz der relativen Normalisierung in der Bildungsbeteiligung von Migrantenschülern hat sich in den 1990er Jahren nicht fortgesetzt (Sandfuchs 2005, S. 63), vielmehr sind Stagnation und Rückschritte zu verzeichnen. Die Anerkennung bildungspolitischer Versäumnisse drückt sich auch aus in der von KMK-Ländern und Bundesministerium für Bildung und Forschung in Auftrag gegebenen Bildungsberichterstattung (Bildung in Deutschland, seit 2006 in zweijährigem Turnus). Sie hat regelmäßig „Bildung und Migration“ als ein Schwerpunktthema.
2 Lehrpläne Die Beschäftigung mit Lehrplänen ist zum einen schwierig, weil die vorliegenden Untersuchungen sich beispielhaft auf einzelne oder mehrere Bundesländer beziehen. Eine Gesamtanalyse für alle 16 Bundesländer fehlt. So können auch hier nur Beispiele vorgestellt werden, die aber durchaus Tendenzen erkennen lassen. Zum anderen ist die Sachlage komplex, es müssen auch die lehrplandeterminierenden Dokumente wie Schulgesetze, Rahmenpläne, Empfehlungen zur Entwicklung der Lehrerbildung berücksichtigt werden. Zudem zeigt der Blick auf Fachlehrpläne ein unterschiedliches Gewicht und unterschiedliche interkulturelle Aspekte der Fächer auf. Die ernüchternden Befunde der internationalen Schulleistungsvergleiche (PISA, TIMSS, IGLU) haben erneut die Problematik von Bildungsbeteiligung und -erfolg sowie sozialer und ethnischer Herkunft verdeutlicht. So stellt eine Hamburger Forschungsgruppe fest, dass seit ihrer ersten Bestandsaufnahme 1998/1999 (Gogolin et al. 2001; Bühler-Otten et al. 2000) „auf verschiedenen Ebenen Curricula für interkulturelle Bildung entwickelt“ wurden (Neumann & Reuter 2004, S. 804). Die angesprochenen Befunde haben zugleich die Entwicklung kompetenzorientierter nationaler Bildungsstandards angestoßen. Bildungsstandards sollen helfen Lehr-Lern-Prozesse zu optimieren. Ihre Formulierung in Form von Schülerkompetenzen ermöglicht es, präzise Aufgaben sowohl für den Unterricht als auch für Tests zur Überprüfung des Lehr-Lern-Erfolges zu entwickeln (vgl. z.B. Bremerich-Vos et al. 2009).
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Bildungspolitische Zielsetzungen – Lehrpläne – Bildungsstandards
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Es wird daher untersucht, ob und auf welche Weise Standards in den neueren Lehrplänen vorfindbar sind, die „kontinuierlich aufzubauende und verifizierbare Kenntnisse und Fähigkeiten interkultureller Situationen“ vermitteln sollen (Neumann & Reuter 2004, S. 804). Der Analyse wird die Dichotomie von Begegnungs- versus konfliktpädagogischen Ansätzen zu Grunde gelegt. Im Einzelnen werden fünf analytische Perspektiven als Fragenbündel formuliert: (1) Kulturvergleich (Wie werden Unterschiede reflektiert?); (2) Individuums- oder Gesellschaftsorientierung; (3) Wer sind die Adressaten? Werden Kinder der Mehrheit und der Minderheiten gemeinsam oder monokulturell betrachtet? (4) Wie wird Heterogenität bewertet (Bereicherung, Belastung, Normalität)? (5) Didaktisches Ziel: Defizitausgleich oder interkulturelle Bildung als Teil von Allgemeinbildung? Insgesamt zeigt sich: Eine Abkehr von der „Reparaturpädagogik“ ist deutlich. Das zeigt auch die Ausweitung auf die Lehrpläne aller Schularten. Interkulturelle Erziehung wird zunehmend als unverzichtbarer Bestandteil allgemeiner Bildung verstanden. Grundschullehrpläne sind eher begegnungspädagogisch orientiert, Konflikte werden vorwiegend in der Sekundarstufe I thematisiert. Die Analyse der Fachlehrpläne hat widersprüchliche Ergebnisse. Teils sind sie interkulturell defizitär, teils hat Interkulturelles einen hohen Stellenwert. Es werden dann Kompetenzmodelle entwickelt. Kompetenzorientierte Rahmenpläne entwickeln offenbar „eine dynamische und systematisierende Wirkung für fachbezogene Bildungspläne“ (ebd., S. 815). Die Autoren vermuten, dass die Umsetzung in die Unterrichtspraxis durch präzise formulierte Standards leichter wird. Sie formulieren fünf inhaltliche „Gelingensbedingungen“ für die Etablierung interkultureller Bildung in Lehrplänen und Bildungsstandards: (1) eine Adressatenorientierung, die die multikulturelle Schülerschaft positiv sieht; (2) ein reflektierender Vergleich von Lebensformen, Sprachen, Religionen und Weltanschauungen; (3) die Reflexion sowohl individueller als auch historisch-gesellschaftlicher Verantwortung und Handlungsweisen; (4) die Bewertung von Heterogenität als Normalfall; (5) die Entwicklung von Kriterien und Testverfahren zur Überprüfung von interkultureller Kompetenz (ebd.). Neuere Lehrplananalysen liegen allenfalls zu einzelnen Fächern – vor allem zum Fremdsprachenunterricht – vor. Der Blick auf aktuelle Rahmen- und Lehrpläne lässt aber erkennen, dass die positive Tendenz sich fortgesetzt hat. Auch liegen hilfreiche Handreichungen und Materialsammlungen für den Unterricht vor (ebd., S. 805f ).
3 Fazit Für Zufriedenheit besteht aber kein Anlass. Nach wie vor sind Defizite in der Lehrerbildung festzustellen. Bereits der Abschlussbericht der KMK-Kommission zu „Perspektiven der Lehrerbildung in Deutschland“ (Terhart 2000) fordert interkulturelle Bildung als „Querdimension“, die in den Fächern, Institutionen und Phasen der Lehrerbildung vermittelt werden müsse (ebd., S. 75). Allemann-Ghionda (2008, S. 160) spricht zutreffend von „der unsichere[n] Stellung der interkulturellen Idee“ in der Lehrerbildung. Auch Roth und Wolfgarten (in diesem Band) ziehen eine gemischte Bilanz. Zwar sei die interkulturelle Bildung an den Hochschulen grundsätzlich anerkannt, an 40 Standorten bestehe aber kein strukturiertes Lehrangebot. Weitere Hinweise zum Stand der praktischen Umsetzung liefert die „Schulbuchstudie Migration und Integration“ (Niehaus et al. 2015), in der Schulbücher der Sekundarstufe I für Sozialkunde/Politik/Geschichte und Geographie analysiert werden. Die Analyse ergibt einerseits, dass in den untersuchten Schulbüchern „Integration […] als unbedingt notwendig für die Einwanderungsgesellschaft“ angesehen wird (ebd., S. 62). Andererseits werden thematische Engführungen und kontraproduktive Aufgabenstellungen kritisiert, die teilweise Diskriminierung
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eher verstärken können. Insgesamt wird ein Vorherrschen konfliktträchtiger und krisenhafter Darstellungen festgestellt (ebd., S. 67). All dies zeigt, auf dem Weg zur interkulturellen Schule bleibt noch viel zu tun.
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Literatur
Auernheimer, Georg; Wagner, Ulrich; van Dick, Rolf; Tetzel, Thomas & Sommer, Gert (1998): Wie gehen Lehrer/ innen mit kulturellen Differenzen um? – Ergebnisse aus einer Lehrerbefragung. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft Heft 4, S. 597-611. – Allemann-Ghionda, Cristina (2008): Vom Postulat zur bildungspolitischen und didaktischen Umsetzung? Anmerkungen zu Interkulturalität in Lehrplänen. In: Lisa Rosen & Farrokhzad Schahrzad (Hg.): Macht - Kultur - Bildung. Münster: Waxmann, S. 147-163. – Bildung in Deutschland (2006): Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Im Auftrag der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Bielefeld. – Bühler-Otten, Sabine; Neumann, Ursula & Reuter, Lutz R. (2000): Interkulturelle Bildung in den Lehrplänen. In: Ingrid Gogolin & Bernhard Nauck (Hg.): Migration, gesellschaftliche Differenzierung und Bildung. Opladen: Leske + Budrich, S. 279-319. – Bremerich-Vos, Albert; Granzer, Dietlinde; Behrens, Ulrike & Köller, Uwe (Hg.) (2009): Bildungsstandards für die Grundschule: Deutsch konkret. Berlin: Cornelsen. – Gogolin, Ingrid (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule, 2., unveränderte Auflage 2008. Münster: Waxmann-Verlag. – Gogolin, Ingrid; Neumann, Ursula & Reuter, Lutz R. (2001): Schulbildung für Kinder aus Minderheiten 1989-1999. Münster: Waxmann. – Klemm, Klaus (1987): Die Bildungsbe(nach)teiligung ausländischer Schüler in der Bundesrepublik. In: Pädagogische Beiträge 12/1987, S. 19-21. – Krüger-Potratz, Marianne (2015): Migration als Herausforderung für Bildungspolitik. In: Rudolf Leiprecht & Anja Steinbach (Hrsg.): Schule in der Migrationsgesellschaft. Ein Handbuch. Band 1. Schwalbach: Debus, S. 93-142. – KMK (1971): Kultusministerkonferenz. Empfehlungen der Kultusministerkonferenz „Unterricht für Kinder ausländischer Arbeitnehmer“. Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 3.12.1971. – KMK (1976): Kultusministerkonferenz. Neufassung der Empfehlungen der Kultusministerkonferenz „Unterricht für Kinder ausländischer Arbeitnehmer“. Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 8.4.1976. – KMK (2013): Kultusministerkonferenz. Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 25.10.1996 i.d.F. vom 05.12.2013). – Langenfeld, Christine (2001): Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten. Tübingen: Mohr Siebeck. – Niehaus, Inga; Hoppe, Rosa; Otto, Marcus & Georgi, Viola B. (2015): Schulbuchstudie Migration und Integration. Online verfügbar unter: https://www.bundesregierung.de/ Content/Infomaterial/BPA/IB/Schulbuchstudie_Migration_und_Integration_09_03_2015.pdf;jsessionid=8CA B8BF36EB9AB94C81028A041B6AEC3.s3t1?__blob=publicationFile&v=7 [21.03.2017]. – Neumann, Ursula & Reuter, Lutz R. (2004): Interkulturelle Bildung in den Lehrplänen – neuere Entwicklungen. In: Zeitschrift für Pädagogik 6/2004, S. 803-817. – Sandfuchs, Uwe (2000): Interkulturelles Lernen in der Schule. Informationen und Reflexionen. In: Grundschule Heft 1/Januar 2000, S. 52-55. – Sandfuchs, Uwe (2005): Interkulturelle Kompetenz und Lehrerprofessionalität. In: Rosemarie Nave-Herz & Wolf-Dieter Scholz: Beiträge zur Bildungs- und Familienforschung. Würzburg: Ergon, S. 53-67. – Steffen, Gabriele (1981): Interkulturelles Lernen – Lernen mit Ausländern. In: Uwe Sandfuchs (Hg.): Lehren und Lernen mit Ausländerkindern. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 56-68. – Terhart, Ewald (Hrsg.) (2000): Perspektiven der Lehrerbildung in Deutschland. Abschlussbericht der von der Kultusministerkonferenz eingesetzten Kommission. Weinheim: Beltz.
Integration von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen
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83 Integration von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen Uwe Sandfuchs
Flüchtlinge im Kindes- und Jugendalter haben viele Jahre nicht im Fokus der Bildungspolitik gestanden. Auch liegen nur wenige Studien zu ihrer Bildungs- und Lebenssituation vor (vgl. z.B. Söhn 2011, einen Überblick zu neu angelaufenen Studien gibt Lüders 2016). Dabei ist ihr Anteil an der Gesamtheit der Flüchtlinge hoch. Mindestens 30% der Flüchtlinge in Deutschland sind Kinder und Jugendliche im Alter bis zu 18 Jahren, davon sind etwa 80% männlich. Von diesen Kindern und Jugendlichen sind wiederum etwa 30% unbegleitete Minderjährige. Nimmt man die Gruppe der jungen Erwachsenen bis zum Alter von 25 Jahren hinzu, wird ihr Anteil auf mindestens 50% der Geflüchteten geschätzt (ebd., S. 5). Ihre Biografien, Lebenslagen, rechtliche Situation und Perspektiven, Unterbringung und Betreuung sind außerordentlich heterogen. Der Verpflichtung, allen minderjährigen Flüchtlingen den Bildungszugang möglichst angemessen und schnell zu gewährleisten, kommt der Staat nicht nach. Berthold (2014, S. 54) zieht das Fazit, dass aufgrund von Benachteiligungen und Hindernissen die Kindheit dieser Flüchtlinge zu einem „Hürdenlauf mit offenen Ausgang“ wird. Der demografische Wandel und der zu erwartende Mangel an Fachkräften legen dringend nahe, ihre schulische, berufliche und sozial-kulturelle Integration schnellstmöglich und nachhaltig zu fördern. Das gilt für das Erlernen der deutschen Sprache, den Zugang zu Kitas, die Integration in das Schul- und Berufsbildungssystem, den Erwerb von Schul- und Berufsabschlüssen sowie die Integration in das Arbeitsleben. Lüders (2016, S. 6) unterscheidet: –– Die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge: Sie werden zunächst in „vorläufiger Inobhutnahme“ einer fachlichen Einschätzung durch das Jugendamt unterzogen, ihr Alter wird festgestellt und es wird ihnen eine rechtliche Vertretung zugewiesen. Innerhalb von 14 Tagen sollen sie einem Jugendamtsbezirk bzw. einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe zugewiesen werden, was sich aus verschiedenen (rechtlichen und anderen) Gründen verzögern kann. –– Junge Menschen, die mit ihrer Familie nach Deutschland geflüchtet sind: Bis sie einen asylrechtlichen Status erworben haben, leben sie in Erstaufnahmeeinrichtungen oder Gemeinschaftsunterkünften, vormaligen Bürogebäuden, Hotels, Turnhallen oder ähnlichem. Diese Einrichtungen unterliegen i.d.R. der Bewachung durch Sicherheitsdienste. Die soziale Versorgung ist oft gering, vielfach sind hier Hilfsnetzwerke mit Ehrenamtlichen tätig. –– Die letzte Gruppe setzt sich aus begleiteten anerkannten oder geduldeten jungen Flüchtlingen sowie volljährigen unbegleiteten Flüchtlingen zusammen. Über sie lassen sich kaum belastbare Aussagen machen. Ihr asylrechtlicher Status bestimmt in sehr unterschiedlicher Weise ihre Situation: Werden sie in Deutschland bleiben können, ist Deutschland nur eine Durchgangsstation, droht eine Abschiebung? Zudem ist meist nicht bekannt, welche Unterstützung sie jenseits von Schule, Ausbildung und Arbeitsmarkt benötigen bzw. erhalten.
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Für diese Gruppen wie auch für alle Maßnahmen gilt, dass regional und lokal große Unterschiede bestehen. Vielerorts haben sich Netzwerke etabliert. Sie sorgen für Information und Austausch der handelnden Personen und Institutionen. Sie bringen Facharbeitskreise, Vertreter der freien Träger und der öffentlichen Verwaltung, Projektträger sowie Förderer und zivilgesellschaftliche Kräfte zusammen. Sie zielen auf eine koordinierte Beratung und Betreuung sowie die Unterstützung von Maßnahmen von Kitas, Schulen usw. (vgl. Mercator 2015, S. 53ff).
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1 Forschungsstand Infolge des Anstiegs der Zahl jugendlicher Flüchtlinge, insbesondere in der zweiten Hälfte des Jahres 2015, sind im Sommer 2015 mehrere Forschungen begonnen worden, die großenteils junge Flüchtlinge im Blick haben. Eine repräsentative Befragung von 4500 Geflüchteten wird gemeinsam vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), dem Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ) und dem sozio-ökonomischen Panel (SOEP) am DIW Berlin durchgeführt. Erhoben werden Integrations-, Bildungs- und Erwerbs-Biografien, Fluchtursachen und -wege, Persönlichkeitsmerkmale, kognitive Fähigkeiten, Sprachkenntnisse, familiärer Kontext und soziale Netzwerke, Stand des Asylverfahrens, Unterkunft, Nutzung integrationsund arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen sowie Beratungsangebote. Mit dieser umfassenden Erhebung soll eine neue Datengrundlage für die Analyse von Fluchtmigration und Integration geschaffen werden (Brücker et al. 2016). Die Untersuchung wendet sich zwar an Erwachsene, ermöglicht aber auch die Beurteilung der Situation von geflüchteten Kindern und Jugendlichen. Die Lebenslagen, Bedarfe, Erfahrungen und Perspektiven von begleiteten bzw. unbegleiteten 14- bis 18-jährigen Flüchtlingen stehen im Fokus einer Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI). Die Sichtweisen von 53 unbegleiteten und 51 begleiteten Mädchen und Jungen werden mittels eines teilstandardisierten Fragebogens erhoben (Lechner et al. 2016). Einige Befunde: Die Befragten sind froh in Deutschland angekommen zu sein, gleichwohl benennen sie Schwierigkeiten und Probleme. Eine zentrale Rolle spielt die Familie, viele sorgen sich um Angehörige im Herkunftsland. Die Unbegleiteten haben Verwandte und/oder Freunde an anderen Orten in Deutschland oder in anderen Ländern, mit denen sie gern zusammen wären. Einige Befragte haben keine Familie mehr oder keinen Kontakt mehr, der prägende Einfluss auf Wertebildung und Erwartungen besteht aber nach wie vor. Oft spielt die Hilfe von Peers, die man aus der Schule oder aus der Unterkunft kennt, eine Rolle. Alltag und Leben in den Unterkünften bieten keine Rückzugsmöglichkeiten und sind oft konfliktreich. Viele der Interviewten erleben Diskriminierungen, Beschimpfungen und Gewalt oder Mobbing in der Schule. Auch die Orts- und Einrichtungswechsel wirken belastend (Schulwechsel, Verlust sozialer Kontakte). Unbegleitete wünschen häufig ein festes Zuhause und langfristige, verlässliche Bezugspersonen. Als bedeutsam werden Betreuer wahrgenommen, insbesondere die Ehrenamtlichen, die ein Bindeglied an die Aufnahmegesellschaft sind. Die meisten Befragten haben klare Berufsvorstellungen und sind hochmotiviert. Die Schulsituation wird aber unterschiedlich beurteilt. Das Fazit der Forscher: Die jungen Flüchtlinge benötigen „stabile Beziehungen und verlässliche Strukturen“ um sich orientieren und Perspektiven entwickeln zu können (ebd., S. 18). Das ReGES-Projekt des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe untersucht –– die frühkindliche Bildung, weil sie der Beginn der Bildungskarriere und für den Erwerb der deutschen Sprache bedeutsam sei und zudem die Integration der Familien unterstützen könne.
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Integration von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen
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–– den Übergang von der Sekundarstufe I in das Ausbildungssystem wegen seiner Bedeutung für die Integration in den Arbeitsmarkt. Es werden jeweils 2400 Personen befragt, neben den Kindern und Jugendlichen auch Eltern, Lehrer/innen, andere Fachkräfte und Ehrenamtliche. Ein weiterer Aspekt ist die Untersuchung von Unterschieden zwischen neu zugewanderten und bereits länger in Deutschland lebenden Migrantenkindern und -jugendlichen hinsichtlich des Einflusses der Verweildauer auf den Bildungserfolg. Das Projekt läuft bis 2021, erste Ergebnisse sollen 2018 vorgelegt werden (LFBI 2016). Die vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen (SVR) betriebene explorative Studie zur „Beschulungspraxis von Flüchtlingen im deutschen Bildungssystem“ geht davon aus, dass für einen Teil der Betroffenen zum einen der Schulzugang zu spät erfolgt und zum anderen die Beschulungspraxis noch nicht optimal ist. Da bislang ein systematischer Blick auf die nach Bundesland und Einzelschule unterschiedliche Schulpraxis fehlt, werden in ausgewählten weiterführenden Schulen in vier Bundesländern (Baden-Württemberg, Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen) Beschulungsmodelle, innerschulische Segregation und Lehrerfahrungen in Willkommensklassen untersucht (SVR 2016). Die Wellcome-Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB 2016) untersucht die Lebenssituationen sowie den Übergang in Bildung und Beschäftigung von Migranten und Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak im Alter von 18 bis 24. 4000 Personen werden telefonisch, web-basiert oder schriftlich befragt.
2 Maßnahmen 2.1 Aufnahme in Kindertagesstätten Etwa 15% aller Asylerstanträge werden für Kinder unter sieben Jahren gestellt. Für sie ist die Aufnahme in eine Kindertageseinrichtung eine bedeutende Integrationsmaßnahme. Im Umgang mit Fachkräften und Gleichaltrigen beginnen sie die deutsche Sprache zu erlernen, sie werden mit kulturellen Werten und Normen vertraut gemacht und erhalten schulvorbereitende pädagogische Angebote (Meiner-Teubner 2016, S. 19). Über den Rechtsanspruch auf einen KiTa-Platz wird gestritten. Einer vom DJI in Auftrag gegebenen Rechtsexpertise zur Folge, gilt dieser Rechtsanspruch unabhängig vom Aufenthaltsstatus und der Form der Unterbringung ab dem Tag des Grenzübertritts. In den meisten Bundesländern wird dieser jedoch erst nach Beendigung des Aufenthalts in der Erstaufnahmeeinrichtung, also frühestens nach sechs Monaten, anerkannt. Teilweise werden in dieser Zeit „Brücken- und Unterstützungsangebote“ gemacht. Dabei wird deutlich, dass es nötig ist, die Familien über vorschulische Bildungsangebote zu informieren. Die Aufnahme von Flüchtlingskindern stellt die Einrichtung vor enorme personelle und konzeptionelle Herausforderungen (ebd., S. 20f ). 2.2 Schulische Integration In den Bundesländern gelten unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen für die Beschulung neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher. Grundsätzlich wird versucht Wartezeiten zu vermeiden. Unter Bezeichnungen wie Willkommensklasse, Einführungsklasse, Sprachlernklasse, DaZ-Klasse, Förderklasse, Vorbereitungsklasse usw. werden für den Aufnahmeunterricht Klassen eingerichtet, die den folgenden schulorganisatorischen Grundmodellen folgen:
Uwe Sandfuchs
–– Submersives Modell: Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche werden in eine Regelklasse der Schule eingeschult, nehmen dort am Unterricht teil und werden in ihrer Beteiligungsfähigkeit und ihrem Leistungsvermögen nach differenziert gefördert und nehmen an zusätzlichen Förderangeboten teil. –– Integratives Modell: Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche nehmen vom ersten Schultag an am Unterricht einer Regelklasse teil und erhalten additive Sprachförderung. –– Teilintegratives Modell: Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche werden einer Regelklasse zugewiesen, nehmen aber nur in einigen Fächern am Unterricht dieser Klasse teil. Sie werden zunächst überwiegend in einer speziell eingerichteten Klasse unterrichtet. Ihrem Leistungsstand nach wechseln sie in zunehmendem Stundenanteil in die Regelklasse über. –– Paralleles Modell: Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche werden in vollem Stundenumfang in einer speziell eingerichteten Klasse unterrichtet, die parallel zu den regulären Klassen besteht. Sie wechseln nach dem Besuch dieser Klasse in eine Regelklasse. –– Paralleles Modell Schulabschluss: Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche werden in einer parallel geführten Klasse unterrichtet, verbleiben in ihr bis zum Ende ihrer Schulzeitpflicht und erwerben in dieser Klasse ggf. einen Schulabschluss (Mercator 2015, S. 7; 43ff). Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Das parallele Modell Schulabschluss lässt – wie Erfahrungen mit ähnlich segregativen Modellen gezeigt haben – wenig Erfolg erwarten. Leitlinie für die Wahl eines Modells muss sein, dass sowohl die nötige spezifische Förderung als auch eine schnelle Integration gelingen kann. Angesichts unterschiedlicher Schulsituationen in kleinen Landschulen, in Städten oder in „Brennpunktgemeinden“ geben die genannten Modelle Orientierungshilfen für die Entwicklung schuleigener Konzepte. Um Verständigung und damit Integration zu ermöglichen, wird an Schulen zunächst häufig der Fokus auf den Erwerb der deutschen Sprache gelegt. Die sprachliche Erstförderung von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen muss aber auch im Kontext der Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) zur „Interkulturellen Bildung und Erziehung in der Schule“ vom 05.12.2013 erfolgen. Schule ist ein „zentraler Ort für den Erwerb bildungssprachlicher Kompetenzen“. Schule nimmt zugleich „die sprachlich-kulturelle Vielfalt ihrer Schüler- und Elternschaft als Chance für interkulturelles Lernen bewusst wahr und berücksichtigt diese in der schulprogrammatischen Arbeit“. Der Erwerb interkultureller Kompetenz ist „eine Kernkompetenz für das verantwortungsvolle Handeln in einer pluralen, global vernetzten Gesellschaft“ und somit eine grundlegende Bildungsaufgabe von Schulen. Der Bildungs- und Erziehungsauftrag von Schulen darf also nicht auf sprachliche Förderung begrenzt werden. Bislang fehlt es an Forschung über die Organisation von und Praxis in Vorbereitungsklassen. In Fallstudien und Erfahrungsberichten aus verschiedenen Bundesländern zeigen sich erhebliche Unterschiede in Konzeption und Qualität. In positiven Fällen werden Vorbereitungsklassen „als integrativer Bestandteil der Schule wahrgenommen“ (Brüggemann/Nikolai 2016, S. 5). Das gilt vor allem, wenn die Integration in die Regelklasse, die soziale Begegnung und gemeinsame fachliche Arbeit von Schülern der Regel- und der Vorbereitungsklasse zentrale Merkmale der Konzeption sind, wie z.B. aus einem Gymnasium in Hamburg berichtet wird (Harms 2016). Als besonderes Problem erweist sich die Traumatisierung junger Flüchtlinge durch Krieg und Flucht. Traumata führen zu Verhaltens- und Entwicklungsstörungen. Die sogenannte posttraumatische Belastungsstörung ist gekennzeichnet durch Symptome wie Erinnerungen an das traumatische Erlebnis, Übererregung und Reizbarkeit, Konzentrations- und Schlafstörungen, Vermeidungsverhalten und emotionale Taubheit (Harboe et al. 2016, S. 11). Lehrkräfte sind für Diagnose und Therapie von Traumata nicht ausgebildet. Von Fachleuten wird aber betont, die
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Schule könne eine wichtige Orientierungsfunktion haben. Sie strukturiere den Alltag und gebe im Umgang mit Lehrkräften und Peers emotionalen Halt. In diesem Zusammenhang werden Beratung, Unterstützung (z.B. Arbeit in Doppelbesetzung) und Professionalisierung der Lehrkräfte gefordert (Wipperfürth & Lemke 2016). Eine von der Mercator-Stiftung in mehreren Bundesländern durchgeführte Bestandsaufnahme zeigt eine Vielfalt von unterstützenden Maßnahmen auf, für die durchgängig die Bildung von Netzwerken leitend ist (Mercator 2015, S. 53ff). Diese Netzwerke umfassen je nach Konzept und Aufgaben unterschiedliche Akteure, wie Ministerien, Schulämter, Landesinstitute für Lehrerbildung, Schulpsychologische Dienste, Kinder- und Jugendhilfe, Kommunale Bildungseinrichtungen, Universitätsinstitute, Migrantenorganisationen und Elterninitiativen. Neben solchen Institutionen und Organisationen können interessierte Personen einbezogen und qualifiziert werden, die als Elternmoderatoren, Elternbegleiter, Sprachmittler, Stadtteilmütter, usw. tätig werden. Lehrkräfte sollten entsprechende Möglichkeiten zur Qualifizierung erhalten und als Multiplikatoren eingesetzt werden. Das Spektrum der Maßnahmen umfasst dann interkulturelle Schulnetzwerke, diverse Beratungs- und Koordinierungsstellen, Fort- und Weiterbildung, Eltern-Lehrer-Tandems, didaktische Handreichungen sowie außerunterrichtliche Angebote – wie z.B. Ferienschulen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Integration von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen
2.3 Integration in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt Aufnahme und Abschluss einer Berufsausbildung sowie die berufliche Eingliederung sind für die Integration junger Flüchtlinge überaus bedeutsam. Ein Rechtsanspruch auf die Inanspruchnahme derartiger Maßnahmen ist allerdings an den aufenthaltsrechtlichen Status bzw. eine gute Bleibeperspektive gebunden (vgl. Lex & Braun 2016). Eine Übersicht zu Maßnahmen der Integration in den Arbeitsmarkt listet eine Vielzahl von Angeboten (I) zum Erwerb der deutschen Sprache, (II) zur Ausbildungsvorbereitung/Integration in Ausbildung und Beschäftigung, (III) Möglichkeiten der Beratung und Begleitung auf (GIB 2016, S. 7-58). Die Sonderregelung für die Ausbildungsförderung von Ausländer/innen nach §132 Sozialgesetzbuch (SGB) III zeigt einerseits den begrenzten Zugang, andererseits aber auch den Willen möglichst viele Flüchtlinge mit den Angeboten zu erfassen. Dazu wird angemerkt: „Die ausländerrechtlichen Rahmenbedingungen und Fördervoraussetzungen unterliegen einem rasanten Wandel.“ (ebd. S.65). Aus diesem Grund werde auf detaillierte Informationen verzichtet und stattdessen auf die Internetseiten der verantwortlichen Akteure verwiesen, die regelmäßig aktualisiert würden. Literatur
Berthold, Thomas (2014): In erster Linie Kinder. Flüchtlingskinder in Deutschland. Hg. v. vom Deutschen Komitee für UNICEF e.V. Online verfügbar unter: https://www.unicef.de/blob/56282/fa13c2eefcd41dfca5d89d44c72e72e3/fluechtlingskinder-in-deutschland-unicef-studie-2014-data.pdf [18.09.2016]. – Brückner, Cordula (2016): Integration beginnt in den Willkommensklassen. In: Integration meistern. Kommentare, Tipps, Praxisbeispiele. Hg. v. Bildungshaus Schulbuchverlage. Braunschweig, S. 15-34. – Brücker, Herbert; Rother, Nina & Schupp, Jürgen (2016): IAB Forschungsbericht 14/2016: IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten: Überblick und erste Ergebnisse. Online verfügbar unter: http://doku.iab.de/forschungsbericht/2016/fb1416.pdf [25.01.2017]. – Brüggemann, Christian & Nikolai, Rita: Das Comeback einer Organisationsform: Vorbereitungsklassen für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche. (Netzwerk Bildung der Friedrich Ebert Stiftung) Online verfügbar unter: http://library.fes.de/pdf-files/studienfoerderung/12406.pdf [18.09.2016]. – GIB (Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH) (2016): Junge Geflüchtete. Übersicht über zentrale Angebote zur Integration in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. (Stand: 19. Dezember 2016). Online verfügbar unter: http://www.gib.nrw.de/service/downloaddatenbank/junge-gefluechtete. [25.01.2017]. – Harboe, Verena Cornely; Hinzk, Melanie & Mainzer, Mirka (2016): Zum Umgang mit traumatisierten Kindern. In: Integration meistern. Kommentare, Tipps, Praxisbeispiele. Hg. v. Bildungshaus Schulbuchverlage. Braunschweig, S. 11-14. – Harms, Rolf (2016): Internationale
Uwe Sandfuchs
Vorbereitungsklassen im Gymnasium. In: Pädagogik 04/2016, S. 26-27. – IAB (2016): Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung: Projekt „WELLCOME “. Online verfügbar unter: www.iab.de/de/befragungen/welcome. aspx. [19.12.2016]. – KMK (2013): Kultusministerkonferenz. Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 25.10.1996 i.d.F. vom 05.12.2013). – Lechner, Claudia; Huber, Anna & Holthusen, Bernd (2016): Geflüchtete Jugendliche in Deutschland. In: Ankommen nach der Flucht. DJI Impulse 3/2016, S. 14-18. – Lex, Tilly & Braun, Frank (2016): Berufseinstieg mit Hürden. In: Ankommen nach der Flucht. DJI Impulse 3/2016, S. 25-27. – LFBI (2016): Leibniz-Institut für Bildungsverläufe. Projekt ReGES (Refugees in Germany – educational trajectories and social integration). Online verfügbar unter: www.lifbi.de/de-de/ weiterestudien/reges/aspx. [19.12.2016]. – Lüders, Christian (2016): Kinder und Jugendliche nach der Flucht. In: Ankommen nach der Flucht. DJI Impulse 3/2016, S. 4-6. – Meiner-Teubner, Christiane (2016): Flüchtlingskinder in der Warteschleife. In: Ankommen nach der Flucht. DJI Impulse 3/2016, S. 19-21. – Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache – Zentrum für Lehrer/innenbildung der Universität zu Köln (Hg.) (2015): Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche im Deutschen Schulsystem. Bestandsaufnahme und Empfehlungen. Köln. – SVR (2016): Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Projekt Von der Aufnahme zu gesellschaftlicher Teilhabe: Die Perspektive der Flüchtlinge auf ihre Lebenslagen in Deutschland. Online verfügbar unter: www.svr-migration.de/forschungsbereich/forschungsprojekte/ [19.12.2016]. – Söhn, Janina (2011): Rechtsstatus und Bildungschancen. Die staatliche Ungleichbehandlung von Migrantengruppen und ihre Konsequenzen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. – Wipperfürth, Nicole & Lemke, Andreas (2016): Beziehungsarbeit im Vordergrund. Traumatisierte Kinder und Jugendliche stützen. In: Lernchancen 109, S. 36-39. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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84 Betreuung und Bildung unter Dreijähriger Berrin Özlem Otyakmaz Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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6.2 Interkulturelle Bildung in der frühen Kindheit
Für Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund wird häufig ein möglichst früher Eintritt in die Kita propagiert (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010). Begründet wird dies mit dem Verweis auf Zusammenhänge zwischen einem längeren Kitabesuch und besseren Deutsch- und anderen als schulrelevant angesehenen kognitiven Fähigkeiten bei Schulbeginn. Den dabei implizit oder explizit als defizitär eingeschätzten familialen Sozialisationsleistungen soll so entgegengewirkt werden. Ergebnisse internationaler Längsschnittstudien, die sich mit den Auswirkungen von Dauer und Qualität der Kindertagesbetreuung auf die kindliche Entwicklung befassen, bestätigen jedoch den einfachen Zusammenhang zwischen Besuchsdauer und kognitiven Fähigkeiten nicht. Die Betrachtung nicht nur der kognitiven sondern auch der sozial-emotionalen Entwicklung von Kindern zeigt, dass eine längere Besuchsdauer nicht per se mit kognitiven Entwicklungsvorteilen für Kinder einhergeht. Stattdessen ist offenbar die pädagogische Qualität der Einrichtung entscheidend für eine positive kindliche Entwicklung. Gleichzeitig wird festgestellt, dass eine längere Besuchsdauer, die auf einer langfristigeren außerfamilialen Betreuung vor dem dritten Lebensjahr beruht, keine zusätzlichen kognitiven Vorteile erbringt. Im Gegenteil: Bei niedriger Betreuungsqualität kann sie sich sogar negativ auf die sozial-emotionale Entwicklung des Kindes auswirken (Roßbach et al. 2008). Von einer guten Qualität in der Kindertagesbetreuung kann, wie zuletzt die in Deutschland durchgeführte „Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit“ (NUBBEK) belegte nicht grundsätzlich ausgegangen werden. Nur drei Prozent der untersuchten 245 Gruppen mit unter Dreijährigen-Betreuung wiesen eine gute pädagogische Prozessqualität auf, während jede achte Gruppe in ihrer Qualität als unzureichend eingestuft wurde. Bei Gruppen, in denen der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund überwog, stellten sich die Ergebnisse noch einmal schlechter dar (Tietze et al. 2013).
1 Erzieher/in-Kind-Beziehung Als ein wichtiges Merkmal pädagogischer Prozessqualität der Betreuungssettings Unter-Dreijähriger, sowohl hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die sozial-emotionale Entwicklung der
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Berrin Özlem Otyakmaz
2 Erzieher/in-Eltern Kooperation
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Kinder als auch bezogen auf ihre Bedeutung für frühe Lernprozesse, wird die Erzieher/in-KindBeziehung gesehen (Ahnert & Gappa 2008; Becker-Stoll et al. 2014). Da angenommen wird, dass frühkindliches Lernen einerseits als aktive Konstruktion von Wissen in der Exploration der dinglichen Umwelt stattfindet und andererseits im Rahmen von Ko-Konstruktionsprozessen in der Interaktion mit der sozialen Umwelt, wird die Notwendigkeit der Einbettung frühkindlicher Lernangebote in tragfähige emotionale Beziehungen zu Erzieher/innen betont. Vor allem die explorationsunterstützenden und assistierenden Aspekte der Erzieher/in-Kind-Beziehung werden als bedeutend für die kindlichen Lernprozesse angesehen (Ahnert & Gappa 2008; Becker-Stoll et al. 2014). Es zeigt sich jedoch, dass Jungen im Gegensatz zu Mädchen (Ahnert & Gappa 2008) und Kinder mit Migrationshintergrund im Gegensatz zu denen ohne (Meyer et al. 2013) weniger gute Erzieher/innen-Kind-Beziehungen erfahren und somit über weniger gute Entwicklungs- und Lernbedingungen verfügen.
Die partnerschaftliche Kooperation zwischen Kita und Elternhaus zählt zu den wesentlichen Bestimmungsmomenten moderner Frühpädagogik und ist zur Sicherung der Kontinuität des Erziehungsprozesses zwischen den beiden relevanten Bezugssystemen eines Kindes sozialgesetzlich festgeschrieben. Eine respektvolle, vorurteilsbewusste, nicht beurteilende und ressourcenorientierte Haltung der Erzieher/innen gegenüber den Eltern gilt als Kernelement guter Qualität in der Kita (Becker-Stoll et al. 2014). Kooperation und Austausch zwischen Erzieher/innen und Eltern erweisen sich in vielen Situationen des Kitaalltags als relevant für das Wohlbefinden und die positive Entwicklung des Kindes wie beispielsweise beim Aufbau von Bindungsbeziehungen zu Erzieher/innen oder bei der den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten des Kindes entsprechenden Gestaltung der Pflegesituationen. Auch ist eine respektvolle Haltung der Erzieher/ innen gegenüber den Eltern, also den primären Bindungspersonen der Kinder, förderlich für ihr Sicherheitsempfinden und Wohlbefinden. Doch scheint eine gleichberechtigte Kooperation zwischen Kita und Elternhaus und eine wertschätzende und anerkennende Haltung gegenüber den Eltern im Falle von Familien mit Migrationshintergrund weniger gut zu gelingen (Tietze et al. 2013). Insgesamt stellen sich die Beziehungen der Erzieher/innen zu Eltern mit Migrationshintergrund als weniger gut dar als zu Eltern ohne Migrationshintergrund. Mit den Erstgenannten kommunizieren die Erzieher/innen seltener das Kind betreffende Angelegenheiten und fragen diese auch weniger oft nach ihren Vorstellungen oder Anregungen zur Entwicklung ihres Kindes (Otyakmaz & Döge 2015). Gaitanides (2007) stellt in einer qualitativen Untersuchung fest, dass Erziehungsvorstellungen von Eltern mit Migrationshintergrund, die nicht den Überzeugungen der Erzieher/innen entsprechen, von diesen als falsch und defizitär interpretiert werden. Eltern werden bei auftretenden Differenzen zum Umgang mit den Kindern von den Erzieher/innen „informiert, belehrt und manchmal auch moralisch unter Druck gesetzt“ (ebd., S. 33).
3 Erziehungs- und Entwicklungsvorstellungen im Kulturvergleich Professionelles Handeln in frühpädagogischen Settings unterliegt spezifischen entwicklungspsychologischen und pädagogischen Grundannahmen. Diese können sich auf die Natur des Kindes und seine Entwicklung beziehen, auf die kindlichen Bedürfnisse, auf die Lernfähigkeiten und die als angemessen angesehenen pädagogischen Ziele und Herangehensweisen. Dabei hat sich das Bild des Kindes in den frühpädagogischen Konzeptionen über die Zeit verändert, so wie
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Betreuung und Bildung unter Dreijähriger
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sich gesamtgesellschaftlich die Kindheitskonzeptionen in den vergangenen Jahrhunderten stetig gewandelt haben. Das derzeit vorherrschende Bild des Kindes in frühpädagogischen Konzeptionen ist, angelehnt an aktuelle entwicklungspsychologische Erkenntnisse, das des kompetenten, bereits ab der Geburt lernfähigen, sich durch eigenständige Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickelnden und lernenden Kindes. Kindliches Lernen soll durch die Gestaltung einer lernförderlichen Umwelt und lernaktivierende, aber keineswegs belehrende, soziale Interaktionen unterstützt werden (Becker-Stoll et al. 2014). Dieses Kindheitsverständnis und darauf aufbauende pädagogische Konzeptionen mögen in ihrer Logik zunächst als zwingend und allgemeingültig erscheinen. Kulturvergleichende Untersuchungen elterlicher Erziehungs- und Entwicklungsvorstellungen zeigen jedoch vielfältige Variationen dessen, was Eltern über die Natur des Kindes und dessen Entwicklung denken, wann sie bestimmte Entwicklungsschritte erwarten, und ob, wie und durch wen ein Kind ihrer Meinung nach in der Erlangung dieser Fähigkeiten unterstützt werden sollte (vgl. Otyakmaz 2013). Beispielsweise werden Säuglinge und Kleinkinder in verschiedenen Gesellschaften, zumindest gemäß traditioneller Vorstellung, nicht als verstandes- sondern vor allem als bedürfnisgeleitet angesehen, so dass die unmittelbare Erfüllung ihrer Bedürfnisse im Vordergrund elterlichen Handelns steht. Kinder erfahren in dieser Phase eine weitgehend permissive Erziehung, ihnen werden kaum Grenzen gesetzt und sie werden als nicht verantwortlich für ihr Verhalten angesehen (Karakaşoğlu-Aydın 2000). Die frühe Kindheit wird als eine Art Moratorium aufgefasst, in der die Kinder vor unzeitgemäßen Lernanforderungen verschont werden sollen (vgl. Otyakmaz 2013; Goodnow et al. 1984). Lernanforderungen werden erst ab dem (späten) Vorschulalter gestellt, wenn die Kinder als lernfähig gelten. Mit einem solchen Kindheitskonzept können die Ergebnisse einer Untersuchung in Deutschland erklärt werden, in der festgestellt wurde, dass türkisch-deutsche Mütter von Vorschulkindern deren Entwicklung in sieben der acht erfassten Entwicklungsbereichen später erwarteten als deutsche Mütter (Otyakmaz 2013). Türkisch-deutsche Mütter gewähren demnach längere „Entwicklungsfristen“ bei familieninterne Prozesse betreffenden Fähigkeiten und haben gleichzeitig keine späteren Erwartungen in schulbezogenen kognitiven Fähigkeiten. Dies und die Unterschiede, die sich zwischen türkisch-deutschen Müttern erster und zweiter Generation zeigten, machen aber auch deutlich, dass ein solches Kindheitskonzept nicht einfach in einer für das Leben unter veränderten Bedingungen dysfunktional gewordenen Form übernommen wird. Stattdessen wird das Kindheitskonzept im Hinblick auf die optimale Adaptation des Kindes an die Umweltgegebenheiten neu bewertet und angepasst (ebd.). Elterliche Erziehungs- und Entwicklungsvorstellungen sind demnach nicht als unidirektional, uniform und dauerhaft durch ein kulturelles Bezugssystem geprägt anzusehen, sondern als individuell gefärbte Rekonstruktionen kultureller Denk- und Handlungsvorschläge. Dabei unterliegen sie intrakulturellen Variationen, die auf Faktoren wie Generation, Schicht, Bildung, Geschlecht, Migrationserfahrungen etc. und nicht zuletzt auf eigene biographische Erfahrungen zurückführbar sind.
4 Resümee Die institutionelle Bildung, Betreuung und Erziehung unter Dreijähriger erfordert eine besondere Berücksichtigung der emotionalen Bedürfnisse von Kleinkindern. Die als wichtig für die sozial-emotionale und kognitive Entwicklung von Kindern geltenden Beziehungen der Erzieher/innen zu den Kindern aber auch zu ihren Eltern, müssen für alle Kinder unabhängig ihrer Herkunft bzw. ihres Geschlechtes in gleicher Qualität und Intensität gewährleistet sein. Die Vorstellungen der Eltern über die Bedürfnisse ihres Kindes und die notwendige Art des Umgangs mit ihrem Kind können sich möglicherweise aufgrund ihres jeweiligen Kindheitskon-
Berrin Özlem Otyakmaz
zeptes und ihrer Entwicklungsvorstellungen von denen der Erzieher/innen unterscheiden. Diese Unterschiede können in verschiedenen Situationen des Kitaalltags wie Einnahme von Mahlzeiten, Schlafen, Sauberkeitserziehung und Spielen relevant werden (Gonzalez-Mena 2008). Die Eltern als Expert/innen ihrer Kinder anerkennend und respektierend sollten ihre Vorstellungen und Vorschläge ernstgenommen und integriert werden. Da, wo sie möglicherweise als konträr zu den Vorstellungen der Erzieher/innen bzw. der Einrichtung empfunden werden, kann der „dritte Raum“ als Denkoption eröffnet werden (Gonzalez-Mena 2008): Statt differierende Vorstellungen durch dichotomisches Denken als unvereinbare Antagonismen zu konstruieren, können mit dem Wissen um multiple und vielschichtige Deutungsmöglichkeiten von „guter“ Kindheit Dialoge mit den Eltern ermöglicht werden, die das Suchen und Finden kreativer Lösungen zum Wohle des Kindes zulassen (ebd.). Nicht nur, aber auch unter dem Aspekt der Bildungsförderung, aus dem heraus die institutionelle Betreuung unter Dreijähriger aus Familien mit Migrationshintergrund befürwortet wird, ist darauf zu achten, dass die qualitativ erforderlichen Bedingungen frühkindlichen Lernens gewährleistet sind. Literatur
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Ahnert, Lieselotte & Gappa, Maika (2008): Entwicklungsbegleitung in gemeinsamer Erziehungsverantwortung. In: Jörg Maywald & Bernhard Schön (Hg.): Krippen: Wie frühe Betreuung gelingt. Weinheim: Beltz, S. 74-95. – Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hg.) (2010): Bildung in Deutschland 2010. Bielefeld: Bertelsmann Verlag. – Becker-Stoll, Fabienne; Niesel, Renate & Wertfein, Monika (2014): Handbuch Kinderkrippe. Freiburg: Herder. – Goodnow, Jacqueline J.; Cashmore, Judith; Cotton, Sandra & Knight, Rosemary (1984): Mothers’ developmental timetables in two cultural groups. In: International Journal of Psychology 19, S. 193-205. –Gaitanides, Stefan (2007): „Man müsste mehr voneinander wissen!“. Umgang mit kultureller Vielfalt im Kindergarten. Frankfurt a.M.: Fachhochschulverlag. – Gonzalez-Mena, Janet (2008): Diversity in Early Care and Education: Honoring Differences. New York: McGraw-Hill. – Karakaşoğlu-Aydın, Yasemin (2000): Muslimische Religiosität und Erziehungsvorstellungen. Frankfurt a.M.: IKO-Verlag. – Mayer, Daniela; Beckh, Kathrin; Berkic, Julia & Becker-Stoll, Fabienne (2013): Erzieherin-Kind-Beziehungen und kindliche Entwicklung: Der Einfluss von Geschlecht und Migrationshintergrund. In: Zeitschrift für Pädagogik (6), S. 803-816. – Otyakmaz, Berrin Özlem (2013): Entwicklungserwartungen deutscher und türkisch-deutscher Mütter von Vorschulkindern. In: Frühe Bildung 2 (1), S. 28-34. – Otyakmaz, Berrin Özlem & Döge, Paula (2015): Erzieherinnen-Eltern-Beziehung in Migrationskontexten. In: Berrin Özlem Otyakmaz & Yasemin Karakaşoğlu (Hg.): Frühe Kindheit in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer, S. 159-178. – Roßbach, Hans-Günter; Kluczniok, Katharina & Isenmann, Dominique (2008): Erfahrungen aus internationalen Längsschnittuntersuchungen. In: Hans-Günter Rossbach & Sabine Weinert (Hg.): Kindliche Kompetenzen im Elementarbereich: Förderbarkeit, Bedeutung und Messung. Berlin: BMBF, S. 7-88. – Tietze, Wolfgang; Bensel, Joachim; Lee, Hee-Jeong; Aselmeier, Maike & Egert, Franziska (2013): Pädagogische Qualität in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflegestellen. In: Wolfgang Tietze; Fabienne Becker-Stoll; Joachim Bensel; Andrea G. Eckhardt; Gabriele Haug-Schnabel; Bernhard Kalicki & Heidi Keller (Hg.): NUBBEK – Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit. Weimar: Verlag das Netz, S. 69-87.
Konzepte interkultureller Bildung
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85 Konzepte interkultureller Bildung Claudia M. Ueffing
In der frühen Kindheit werden durch Sozialisation und Enkulturation sowie durch Bildung und Erziehung in Familie und Kindertageseinrichtungen (Kita) früh Weichen zur kindlichen Entwicklung und zum Kompetenzerwerb gestellt. Bereits kleine Kinder lernen, wie mit Denk-, Orientierungs- und Deutungsmustern umgegangen wird. Da Kitas „die Welt spiegeln“, haben Kinder hier die Lernchance, mit der sie umgebenden Vielfalt frühzeitig freudig, verstehend und kreativ umzugehen. Sie können dabei lernen, Fremdem offen zu begegnen, Ausdrücke anderer kultureller Zusammenhänge zu entdecken und die eigene Sichtweise als eine Perspektive unter vielen zu betrachten. Welche Konzepte interkultureller Bildung zur Verfügung stehen und wie sie vom Fachpersonal in die Praxis transferiert werden können, soll im Folgenden an einigen Beispielen dargelegt werden.
1 Interkulturelle Bildung in der frühen Kindheit – internationale Einflüsse auf Deutschland Interkulturelle Bildung ist auf Grund weltweiter Migrationsbewegungen ein globales Thema. Wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung in Deutschland hatten schwedische Ansätze durch die klare Positionierung gegen Assimilierung und für Vielfalt, vor allem im Bereich der Sprachförderung. Hier werden Kinder immer in ihrer Herkunftssprache gefördert, was häufig auch mittels Musik umgesetzt wird (vgl. Eurydice). Der Anti-Bias Approach von Derman-Sparks (2001) aus den USA wirkte vor allem auf den Bereich der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit und wurde von dem Institut für den Situationsansatz (Ista) in Berlin unter anderem in dem Projekt „Kinderwelten“ auf Deutschland übertragen. Dieser Ansatz verfolgt unterschiedliche Ziele in der antidiskriminierenden Bildungsarbeit: a) Stärkung der Ich- und Bezugsgruppenidentität; b) Kennenlernen von Vielfalt und Entwicklung von Empathie; c) Thematisieren und Kritisieren von Einseitigkeiten; d) aktives Widersprechen gegen Diskriminierung. Der ‚Index for Inclusion‘, ein britischer Ansatz von Ainscow und Booth (2002), befruchtete nicht nur die Debatte um das Thema ‚Behinderung‘ sondern trug auch dazu bei, die beiden Stränge der Pädagogik im Kontext von Migration und Integration von Menschen mit Behinderung zu dem Ansatz der Inklusion zusammenzuführen, oder – wie es Prengel (2006) ausdrückt – zur „Pädagogik der Vielfalt“ in Deutschland zu vereinen.
2 Interkulturelle Bildung in Kindertageseinrichtungen Um Konzepte interkultureller Bildung für alle Kinder unter Berücksichtigung ihrer Einzigartigkeit in Kitas in Deutschland umzusetzen, sind unterschiedliche Aspekte zu beachten, die sich auf einem Kontinuum zwischen dem institutionell-strukturellen Handeln und dem konkret-situativen pädagogischen Handeln befinden: die Träger und Organisationsstruktur der Einrichtung, der dazugehörige Sozialraum, das Team, die Eltern und Familien, Aspekte ethisch-normativer, kultureller und interreligiöser Bildung, Sprache und Mehrsprachigkeit sowie Identitätsentwick-
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Claudia M. Ueffing
lung und soziales Lernen (vgl. Sulzer 2013, S. 29). Eine Trennung der Aspekte ist in der Praxis schwer umsetzbar und auch nicht zielführend, denn sie wirken ineinander und bedingen sich gegenseitig. Konzepte, die der Komplexität von Bildung und Erziehung im Kontext von Migration in Kitas gerecht werden sollen, sind die Gemeinwesenarbeit und Projektarbeit. Beide umfassen Methoden, die prozess- und partizipationsorientiert sind. Sie sind auch deshalb für interkulturelle Bildung besonders geeignet, weil sie Akteure aller Ebenen adressieren und diese sich gleichberechtigt einbringen können. Zudem erlauben es Gemeinwesen- und Projektarbeit dem Fachpersonal, Handlungsfelder wie Literalität, Übergangsgestaltung und Resilienzförderung, Partizipation und Familienbildung in die Praxis zu transferieren.
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2.1 Gemeinwesenarbeit Die Kita nimmt als Institution im Gemeinwesen und als erste Bildungseinrichtung im Lebenslauf sowohl für das Kind als auch für die Eltern und Familien eine bedeutende Position ein. Um den Anforderungen einer von Migration und Vielfalt geprägten Gesellschaft gerecht zu werden, muss sie sich – und damit alle in ihr arbeitenden Fachkräfte – als Teil der Gesellschaft und des Gemeinwesens verstehen und dahin öffnen. Dabei wird Gemeinwesenarbeit (GWA) als eine Arbeitsmethode verstanden, die darauf abzielt, Menschen zu aktivieren und ihren eigenen Lebensraum im Quartier gemeinsam mit allen konstruktiv zu gestalten. Damit hat GWA eine klare Ausrichtung auf politische, soziale und bildungsorientierte Teilhabe. Der Fokus in der Kita ist folglich ökologisch-systemisch auf das Kind im Gefüge seines Lebenskontexts von Familie, Institutionen und Quartier zu richten und seine kognitiven, physischen, emotionalen und sozialen Entwicklungen und Fortschritte unter Beteiligung aller – insbesondere der Eltern – zu fördern. Der Kita kommt daher die Rolle einer Integration stiftenden Schlüsselinstitution zu. 2.2 Projektarbeit Der Schwerpunkt der Projektarbeit (PA) hingegen liegt auf dem Einzelnen, denn „[e]ine inklusive Pädagogik der Vielfalt erfordert eine Individualisierung und Differenzierung des Angebots und eine darauf basierende Bildungsorganisation“ (Reichert-Garschhammer 2013, S. 9f ). PA setzt dabei ebenfalls auf Beteiligung von Eltern und Institutionen, um integrierte Bildungsangebote für alle Kinder anzubieten, Selbstwirksamkeitserfahrungen von Kindern zu ermöglichen und das Lernen von Peers zu erhöhen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Angeboten hält PA Bildungsthemen nicht isoliert und vereinzelt sondern in komplexen Zusammenhängen vor. Zudem ermöglicht eine gute Planung, Kinder mit unterschiedlich ausgeprägten Kompetenzen gleichzeitig anzusprechen. So können Kinder von kompetenteren Kindern oder Erwachsenen lernen und Vielfalt als positiv wahrnehmen. Die Implementierung von Projektarbeit wirkt gleichzeitig auf der Ebene der Organisationsform und trägt bei sorgfältiger Durchführung zur Weiterentwicklung der Kita im Sinne einer Qualitätssteigerung und -sicherung sowie zur Professionalisierung des Fachpersonals bei (vgl. Ueffing 2007, S. 300).
3 Handlungsfelder interkultureller Bildung in der Praxis Die wesentlichen Handlungsfelder in Kitas sind die Bildungsarbeit gemeinsam mit den Eltern, die Gestaltung der Übergänge in die und aus der Kita und die damit einhergehende Förderung kindlicher Resilienz sowie die sprachliche Bildung. Bei dem Übergang des Kindes von der Familie in die Kita und später in die Schule handelt es sich häufig um die ersten einer Vielzahl ähnlicher Ereignisse, die das Kind im Laufe seiner Bio-
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Konzepte interkultureller Bildung
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graphie zu bewältigen hat. Ein kleines Kind hat in der Regel noch nicht viel Übung und muss sich der Herausforderung auch in der Hinsicht stellen, dass die familiären Bindungen einer Prüfung unterzogen werden. Transitionskompetenz ist somit diejenige Fähigkeit des Kindes, die es in dieser Belastungssituation des Übergangs entwickelt, um ihn positiv zu bewältigen und aus dieser Lebenssituation gestärkt hervorzugehen. Den Fachkräften wird in diesem Kontext die Aufgabe zugeschrieben, den Transitionsprozess zu moderieren und Eltern und Kinder dabei zu unterstützen. Die Qualität der Moderation ist von besonderer Wichtigkeit für die Familie und stellt grundsätzlich eine Herausforderung für den erzieherischen Alltag dar. Ein weiterer wesentlicher Aspekt kommt hinzu, wenn diese Moderation im Kontext der Migration von Familien und der damit verbundenen Mehrsprachigkeit ihrer Kinder stattfindet. Es bedarf der Wertschätzung und Transparenz seitens der Einrichtung, damit Eltern ihr Kind vertrauensvoll bei diesen neuen Schritten begleiten können, denn vom deutschen Bildungssystem abweichende Erfahrungen der Eltern wirken ebenso auf den Prozess wie der Umgang des Fachpersonals mit Mehrsprachigkeit und Diversität. Werden diese Übergänge dann von Kindern gut bewältigt, so wirken sie positiv auf spätere Übergänge. In der Kooperation mit Eltern wird das Fremde und ‚Andersartige‘ oft als Problem wahrgenommen. Das Problem liegt allerdings im Auge des Betrachters und weniger in der Identität des Gegenübers. Die Verabschiedung vom oft unbewussten Wunsch nach Homogenität und dieser problemorientierten Haltung ist jedoch der Kernpunkt des Paradigmenwechsels in der Erziehungspartnerschaft mit Eltern im Allgemeinen und mit Eltern mit Migrationshintergrund im Besonderen. Eltern werden nicht länger als hilfsbedürftig betrachtet. Grundlage bildet vielmehr der ressourcenorientierte Ansatz in der Begegnung mit Familien. Eltern stellen eine Bereicherung für die Kita dar, und ihren Bedürfnissen wird ebenso Rechnung getragen wie denen der Kinder. Leitend ist die Annahme, dass die Eltern kompetente Erziehungspartner in der Zusammenarbeit mit den Fachkräften sind. Die Wertschätzung aller Familien unabhängig von Herkunft, Religion und sozialem Status, die Herstellung eines hohen Maßes an Transparenz der pädagogischen Arbeit für die Eltern und die Erhöhung der aktiven Beteiligung der Eltern am Tagesgeschehen in der Kindertageseinrichtung sind wichtige Ziele. Literacy-Erziehung gehört zu den wesentlichen Bereichen der Pädagogik der frühen Kindheit (vgl. Ulich 2003) und beinhaltet die Hinführung jüngerer Kinder zur Schriftkultur. Verankert ist dies in den Rahmencurricula der Bundesländer. Literacy-Erziehung, insbesondere unter Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit, kann sich positiv auf die Bildungschancen der Kinder auswirken und bildet einen wichtigen Bestandteil der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Eltern.
4 Fazit Die Förderung interkulturellen Lernens und der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist ebenso Ziel interkultureller Pädagogik wie der Erwerb interkultureller Kompetenz (vgl. Fischer & Springer 2011, S. 334-358). Dies bezieht sich sowohl auf die Zivilgesellschaft als auch auf die Kita als Teil davon. Daher sind alle Mitglieder der Gemeinschaft innerhalb einer Kita angesprochen und zum Mitwirken aufgefordert. Im Zentrum des Prozesses des interkulturellen Lernens, der als Querschnittaufgabe in den Kindertageseinrichtungen anzulegen ist, stehen das Kind und sein Bezugsfeld, Familie, Freunde und sozialer Nahraum. Auf das einzelne Kind bezogen, bildet der Erwerb von Basiskompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten wie Übergangsbewältigung, Resilienz und Literacy-Kompetenz die Grundlage, die es ihm ermöglicht, in einer von Diversität geprägten Welt Orientierung zu finden, die eigene Identität auszubilden sowie anderen Menschen und Fremdem offen, freundlich und wertschätzend
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zu begegnen. Das Kind als Akteur im eigenen Bildungsprozess erwirbt – gefördert durch die Fachkräfte der Kita – die Fähigkeit, sich in einer sich wandelnden Gesellschaft zu entwickeln und sich um Grundwerte wie gegenseitigen Respekt und vorurteilsbewusste Begegnung zu bemühen.
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Interreligiöses Lernen
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86 Interreligiöses Lernen Christa Dommel
Kinderfragen zum Thema Religion bringen Erwachsene oft an ihre Grenzen. „Woher wussten eigentlich meine Eltern, dass ich evangelisch bin, damit sie mich zur richtigen Sorte von Taufe bringen konnten?“ fragt ein Kind. Ein anderes: „Sind alle Kinder bei ihrer Geburt gleich, was die Religion betrifft?“ (Schweitzer et al. 2002). Die Beispiele zeigen, dass Kindern schon im Grundschulalter bewusst ist, dass ihre Konfessionszugehörigkeit oder -losigkeit ein Familienerbe ist, nicht ihre eigene, individuelle Entscheidung. Kleinkinder spüren bereits den Unterschied zwischen dem „Wir“ ihrer Familie und einem größeren „Wir“, der Gesellschaft, in der sie aufwachsen und entwickeln in Auseinandersetzung damit ihr persönliches „Ich“. Interreligiöses Lernen in der Kita ist eine Chance, durch „Pendeln zwischen Eigenem und Gemeinsamem“ (Sieg 2003) diesen Unterschied als Lernmotor zu nutzen und so die autonome Identitätsbildung jedes Kindes zu fördern. Zwar bestimmen laut § 5 RelKErzG (1921) die Eltern bis zum 14. Geburtstag eines Kindes, zu welcher Religion es gehört, doch ab dem 12. Geburtstag darf das Kind einen Bekenntniswechsel gegen seinen Willen verweigern. Aus dem selbstverständlichen Zusammenleben der Kinder unterschiedlicher Religionszugehörigkeit in der Kita entstehen weitere knifflige Fragen wie „Ist Allah auch der liebe Gott?“ – eine Kinderfrage, die es zum Buchtitel geschafft hat (Harz 2001). Sie erscheint nur auf den ersten Blick simpel. Bei näherer Betrachtung ist jede eindeutige Antwort darauf falsch: Allah ist schließlich kein Begriff, der dem Islam vorbehalten wäre, sondern schlicht das arabische Wort für „Gott“, das auch arabische Christen verwenden (Weidner 2006). Doch wenn Allah, an den Mehmets Familie glaubt, derselbe Gott ist wie der liebe Gott von Christine, warum feiert Mehmet dann nicht auch Weihnachten, die Geburt des Jesuskinds, oder Ostern? Andererseits: Wenn Allah nicht derselbe ist, dann wären es zwei verschiedene Götter! Das wiederum ist vollkommen ausgeschlossen, denn Christen wie Muslime betonen stets, dass es nur einen einzigen Gott gibt. Wie passt das zusammen? In Harz‘ Buch „Ist Allah auch der liebe Gott?“ finden sich wertvolle Beispiele und Geschichten zur Gleichzeitigkeit von Gemeinsamkeit und Unterschiedlichkeit der christlichen und der islamischen Glaubenstradition (S. 119), die zu einem klaren „Jein“ als Antwort auf diese Kinderfrage führen. Oder zu der Schlussfolgerung, dass dies eine der Fragen ist, die sich nur mit dem Erzählen von Geschichten beantworten lassen. Geschichten zeigen, dass es manchmal nicht darum geht, wer Recht hat, weil alle auf ihre Art Recht haben. Genau das geschieht im Bilderbuch-Klassiker von James Thurber „Many Moons“ (1943, dt. „Die Prinzessin und der Mond“ bzw. „Ein Mond für Leonore“): Alle gelehrten Experten in der Geschichte haben wohlüberlegte Konzepte über den Mond, können aber nichts tun, um der kranken Prinzessin zu helfen. Nur der Hofnarr hört ihr zu und versteht, worauf es ihr ankommt. So kann er ihr das geben, was sie wieder gesund werden lässt: ihren Mond. Die Prinzessin sagt, der Mond sei „kleiner als mein Daumennagel“ – dies ist für Kinder unmittelbar nachvollziehbar als eine relationale Beschreibung: Vom Bett der Prinzessin aus gesehen ist der Mond tatsächlich kleiner als ihr Daumennagel.
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Christa Dommel
Wie Menschen über Gott sprechen, ist ebenso relational, es drückt etwas aus von ihrer Perspektive auf Gott, von ihrer Lebensgeschichte. Religiöse Sprache ist verwandt mit der Sprache der Liebe (Ucko 1995, S. 144f ).
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1 Perspektivität: Ich sehe was, was du nicht siehst Der Hofnarr in der Geschichte „Many Moons“ weiß um die Grenzen von Erfahrung in ihrer Perspektivität. Wenn wir der Vielfalt der Perspektiven Respekt entgegenbringen, kann und wird jede zu unserem Verständnis des Ganzen beitragen – so sieht es die in England vertretene phänomenologisch-philosophisch orientierte Pädagogik (Dommel 2007, S. 41f ). Aus der Sicht christlich-theologisch orientierter Religionspädagogik ist „interreligiöses Lernen“ das Lernen zwischen verschiedenen Religionen. Viele Religionspädagogen betonen jedoch den Unterschied zwischen interreligiösem und interkulturellem Lernen: Interreligiöses Lernen soll gerade nicht die religiöse Identität durch Begegnung erweitern und verändern, sondern eine „Kultur der Anerkennung der andern in ihrem Anderssein“ (Johann Baptist Metz) fördern. Bireligiosität – analog zur Bilingualität die Zugehörigkeit zu zwei religiösen Traditionen –, die ja in vielen glaubensverschiedenen Familien durchaus real gelebt wird, wird nicht religionspädagogisch unterstützt. Man geht davon aus, den religiösen Überlieferungen in ihrer existenziellen Tiefe nur gerecht werden zu können, wenn jeder Mensch sich einer Tradition zuordnet (Harz 2001, S. 14). Interreligiöses Lernen ist also eine Variante des religiösen Lernens (Leimgruber 1995, Rickers & Gottwald 1998), aus dem interreligiösen Dialog heraus entwickelt und von dort auf den pädagogischen Bereich übertragen. Darin liegt sowohl eine Stärke als auch ein Problem: Im Umgang mit nichtreligiösen Positionen bei Eltern wird „nach dem Muster einer anderen Religion“ verfahren (Harz 2001, S. 64). Ein solcher christlicher „Inklusivismus“ stößt jedoch nicht immer auf Gegenliebe, steht dahinter doch die theologische Weltsicht, dass nichtreligiöse Weltanschauungen im Grunde wie Religionen zu behandeln sind, und dass auch sie zwar zum Guten führen können, in ihrer „Heilsbedeutsamkeit“ jedoch defizitär bleiben im Vergleich zur religiösen Perspektive.
2 Interreligiöses Lernen – kein Thema für alle? Für das theologisch fundierte Konzept interreligiösen Lernens engagiert sich bisher nur eine Minderheit von Erzieher/innen und Kita-Leiter/innen. Nach einer empirischen Studie in 364 deutschen großstädtischen Kitas findet „interreligiöse Bildung“ nach deren eigener Einschätzung nur in einem Viertel der befragten kirchlichen Kitas statt, bei den nichtkirchlichen Einrichtungen sind es 9% (Biesinger et al. 2008, S. 25). Im Vergleich dazu berücksichtigen die konfessionellen Kitas zu 97% christliche Bildung, die nichtkirchlichen immerhin zu 16%. Islamische Bildung für muslimische Kinder findet dagegen in konfessionellen wie in nichtkonfessionellen Kitas kaum statt (93% bzw. 91% der Kitas berücksichtigen sie kaum bis wenig), obwohl 19% der Kinder aus muslimischen Familien kommen. Auch in einer qualitativen Studie aus Baden-Württemberg zeigt sich die tendenzielle Zurückhaltung vieler Einrichtungen beim interreligiösen Lernen. Während die christliche Religion auch in den nichtkirchlichen Einrichtungen große Beachtung findet – als kulturelles Wissen, das für alle Kinder als bedeutsam gilt –, werden interreligiöse Themen eher mit Problemen in Verbindung gebracht und nur dann als notwendig betrachtet, wenn es Streit gibt: z.B. um die Gleichstellung der Geschlechter, um Essensregeln oder Kirchenbesuch (Lischke-Eisinger 2012, S. 179ff). Die
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„christliche Kultur“ sehen viele Eltern und Pädagog/innen als entscheidende Wurzel dieser Gesellschaft, die kirchlichen Einrichtungen sehen sie als Garanten für säkulare Werte wie Gleichberechtigung oder Glaubensfreiheit, in Abgrenzung zu anderen Kulturen (Böhmer 2009, S. 131). Die Tatsache, dass die deutsche Kultur bereits seit Jahrhunderten nicht nur christlich geprägt ist und so manches „Fremde“ inzwischen als kirchliche Erfindung gilt, bleibt dabei unsichtbar. Die Nächstenliebe als ethisches Prinzip aus der jüdischen Tora oder die Geschichte des Fröbelschen Kindergartens und seiner zahlreichen jüdischen Protagonist/innen im 19. Jahrhundert belegen die Ausblendung religiöser Vielfalt aus der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland (Dommel 2007, S. 17, S. 37, S. 115f ).
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3 Inklusion: Wer ist wir? Religiöse Zugehörigkeiten spielen eine Rolle für Ausgrenzung, die in Deutschland besonders muslimische und jüdische Kinder und ihre Familien betrifft. Sie gehören laut UN zu den „most vulnerable groups“ (Sulzer 2013, S. 15f ). Das Modell der Inklusion will Menschenrechte wie das Recht auf Bildung, gesellschaftliche Teilhabe und den Schutz vor Diskriminierung im Alltag umsetzen. In einer Kita-Landschaft, in der religiöse Minderheiten in pädagogischen Konzepten entweder gar nicht oder nur als „die Fremden“ vorkommen, sind sie strukturell benachteiligt. Umso wichtiger wird das Grundprinzip der Inklusion, das Georg Feuser, einer der Pioniere einer inklusiven Behindertenpädagogik, so formuliert hat: „Wenn ich einem ‚behinderten‘ Menschen begegne, ihn anschaue und denke, wie er denn sein könnte, beschreibe ich mich selbst – meine Wahrnehmung des anderen. Ob ich die daraus entstehende Chance nutze, mich selbst zu erkennen, steht auf einem anderen Blatt ... !“ (Feuser 2004, S. 1)
Wahrnehmungen und Zuschreibungen schaffen Fakten. Übertragen auf „fremde“ Religion heißt das: Es geht darum, uns selbst und unser Gegenüber wahrzunehmen als Menschen mit vielschichtigen Identitäten, bei denen die religiöse Zugehörigkeit nur eine von mehreren ist.
4 Religion im Zwischen Künftig wird sich die Frühpädagogik neben dem interreligiösen Lernen auch einer inklusiven Religions-Bildung öffnen müssen, in der das „Lernen über und von Religion“ in säkularen, allgemeinbildenden Konzepten Platz hat. Dabei bieten Vorbilder aus Großbritannien wertvolle Anregungen (vgl. Dommel 2007, 408ff). Religiöse Traditionen werden hier nicht isoliert betrachtet, sondern im Kontext von Lebenssituationen und Lernfeldern, wie etwa Musik, Kunst, Reisen, Zeit, Feste, Tod und Trauer. Dabei lassen sich Unterschiede und Verbindungen zwischen verschiedenen Traditionen erkennen. In den Vorschul-Materialien „A Gift to the Child“ (Grimmitt et al. 2000) werden nicht „Religionen“, sondern religiöse Motive und Themen erkundet, die zur Bildung aller Kinder auf unterschiedliche Weise beitragen, je nach Nähe oder Distanz zum Gegenstand des Interesses: –– das Wort „Halleluja“ zum Beispiel, ein hebräisches Wort aus der jüdischen Tradition, das aber auch für Christen und in der westlichen Musikkultur eine große Rolle spielt – bereits Kleinkinder erfassen seine Bedeutung beim Hören von Händels Chor aus dem Oratorium „Der Messias“ – oder etwa –– das Wort „Prophet“ anhand der Geschichte des Propheten Jona (in der jüdischen und christlichen Bibel) bzw. Yunus (im Koran).
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Christa Dommel
Analog zu den Überlegungen von Mark Terkessidis (Terkessidis 2010, S. 10) zum Begriff „Interkultur“ wäre der Begriff „Interreligion“ inspirierend für inklusive Religions-Bildung – „Religion-im-Zwischen“. So wie Terkessidis nicht von vielen separaten Kulturen ausgeht, sondern von einer „Kultur-im-Zwischen“, die das Uneindeutige aushält und gestaltet, wäre „Interreligion“ verbunden mit einer Anerkennung der Perspektivität religiösen Denkens. „Religion“ in „Interreligion“ wäre also nicht als abgeschlossenes System von Inhalten, Lehren und Glaubenssätzen zu denken, sondern als zwischenmenschliche Kommunikation (Tyrell et al. 1998) mit einem enormen Fundus an Zeichen und Interaktionen. Diesen Fundus auch Kindern zugänglich, verstehbar und übersetzbar zu machen, in einer Sprache, die um die Bedeutung der „many moons“ weiß, ist eine Aufgabe, die nicht nur religiöse Menschen betrifft.
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Sprachbildung
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In der institutionellen Erziehung und Bildung 0- bis 6-jähriger Kinder nimmt sprachliche Bildung einen prominenten Platz ein. Mit Sprachbildung sind hier alle erzieherischen Bemühungen des pädagogischen Personals im Hinblick auf Sprachaneignungsprozesse von Kindern gemeint, wobei es besonders die Entfaltung jener sprachlichen Kompetenzen zu unterstützen gilt, die für die späteren sprachlichen Anforderungen in den weiterführenden Bildungsinstitutionen erforderlich sind. Infolge des katastrophalen Abschneidens Deutschlands in der PISA-Studie 2000 (vgl. Baumert 2001) stehen Kinder mit Migrationshintergrund und die Förderung der Zweitsprache Deutsch im Fokus der sprachlichen Bildung. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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87 Sprachbildung Drorit Lengyel
1 Historischer Rückblick Sprachbildung hat in der frühpädagogischen Arbeit eine lange Tradition. Im seit den 1970er Jahren verbreiteten Situationsansatz hingegen besaß sie keinen besonderen Stellenwert. Vielmehr wurde ganzheitlich entlang an kindlichen Schlüsselsituationen gedacht. Die Reggio-Pädagogik, deren Grundlagen in den 1960er und 1970er Jahren entwickelt wurden, griff die Idee der inneren Mehrsprachigkeit mit ihrem Motto „auf die hundert Sprachen der Kinder hören“ auf. Das Motto bezog sich allerdings nicht nur auf Laut- (und Gebärden-) Sprachen, sondern auf jedwede Form des Sich Ausdrückens. In den 1980er und 1990er Jahren überwogen kompensatorische Konzepte zur Sprachförderung für „Ausländerkinder“, in denen es um die rasche Aneignung des Deutschen ging. Aus dieser Zeit stammt das Verbot des Sprechens in den Herkunftssprachen (häufig Muttersprachverbot genannt), das auch heute noch vielfach angewendet wird (vgl. Lengyel 2009). Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass es für den Erwerb des Deutschen hinderlich oder gar schädlich sei, die Herkunftssprache in der Institution zu sprechen. Gegen Ende der 1990er Jahre fanden Konzeptionen, die sich explizit der Förderung der Mehrsprachigkeit in vielsprachigen Kita-Gruppen verschrieben, verstärkt Einzug in die bildungspolitische Diskussion und die pädagogische Praxis (Ulich et al. 2001). Die Perspektive auf mehrsprachige Kinder und ihre Familien begann sich zu wandeln, unterstützt durch empirische Untersuchungen. Ein Beispiel ist das Projekt „Multikulturelles Kinderleben“, das vom Deutschen Jugendinstitut e.V. (DJI) zwischen 1997 und 2000 realisiert wurde. 1.208 Kinder mit Migrationshintergrund im Alter von fünf bis elf Jahren wurden zu ihrem Aufwachsen befragt (vgl. Berg et al. 2000). Fast alle befragten Kinder wuchsen mit mindestens zwei Sprachen auf, ihre Mehrsprachigkeit erlebten sie im außerinstitutionellen Kontext als nützlich und bereichernd. Mit der Anfangsphase in der Kita verbanden sie Schlüsselerlebnisse des Ausgeschlossenseins, und sie berichteten von einem erlebten Zwang zu einheitlichem Deutsch. Zugleich war das Deutsche die wichtigste Sprache zur Kommunikation unter Freunden. Die Kinder begriffen ihre Mehrsprachigkeit nicht als „Entweder-Oder“, sondern als ganzheitliche Sprachkompetenz. Sprachliche Flexibilität (z.B. Sprachwechsel, Übersetzung) war für sie selbstverständlich; Mehrsprachigkeit war Bedingung ihres Handelns.
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Drorit Lengyel
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2 Entwicklungen seit PISA 2000 Die Ergebnisse der PISA-2000-Studie brachten die aufkeimende Bewegung, den mitgebrachten Sprachen der Kinder mit Anerkennung und Respekt zu begegnen und Angebote zu entwickeln, diese mit niedrigschwelligen, mehrsprachigen Angeboten (Reime und Verse, Lieder, Grußformeln usw.) aufzugreifen, zunächst fast zum Erliegen: Nicht Mehrsprachigkeit als Bildungsziel, sondern Deutschförderung stand wieder an erster Stelle. So erfuhr die frühe sprachliche Bildung an sich zwar eine Aufwertung. Man konzentrierte sich aber weitgehend auf das Deutsche. Auch vorschulische Sprachbildung findet meist in Form einer additiven Deutschförderung statt, ohne nachhaltige Wirkung zu erzielen (vgl. Lisker 2011). In der pädagogischen Sprachdiagnostik erfolgt überwiegend die Feststellung des Sprachstandes im Deutschen anhand von für monolinguale Kinder konzipierten Verfahren. Nur wenige Instrumente nehmen den mehrsprachigen Spracherwerb als Ausgangspunkt der Erhebung und Auswertung. Geeignetere Verfahren für mehrsprachige Kinder stellt Lengyel (2012) vor. Gute Deutschkenntnisse, besonders gut entwickelte Vorläuferfähigkeiten der Bildungssprache, sind für einen erfolgreichen Schulstart in Deutschland unbestrittenermaßen wichtig, doch die Förderung des Deutschen und ein anerkennender, förderlicher Umgang mit Mehrsprachigkeit schließen einander nicht aus. Die Ergebnisse der Mehrsprachigkeits- und der Zweitspracherwerbsforschung zeigen, dass Mehrsprachigkeit ein kognitives Potential für den frühen Erwerb metasprachlicher Fähigkeiten und Vorteile für das Sprachlernen sowie das Lernen als solches bietet (vgl. Bialystok 2009). Dies wird u.a. darauf zurückgeführt, dass mehrsprachige Kinder früher als monolinguale zu abstrakten Einsichten über Sprache gelangen, z.B., dass Bedeutungen Wörtern nicht anhaften, sondern willkürlichen gesellschaftlich-kulturellen Vereinbarungen unterliegen (Arbitrarität von Zeichen). Durch sprachliche Einheitlichkeitsinteressen werden die Kinder aber um ihre Chance gebracht, diese kognitiven Vorteile weiter auszubauen und für das Lernen nutzbar zu machen.
3 Sprachbildungskonzepte Sprachbildungskonzepte, in denen die Mehrsprachigkeit der Kinder aufgegriffen wird, liegen in Deutschland nur vereinzelt vor. Es fehlt eine systematische Strategie – anders als in Ländern wie England oder Kanada (vgl. Übersicht in Gogolin 2007, S. 51ff) –, mit der mehrsprachigkeitsbezogene Angebote Eingang in die Bildungspraxis finden. Im Folgenden soll näher auf einige Beispiele eingegangen werden. 3.1 Elternzentrierte Programme Elternzentrierte Programme zur Förderung der Mehrsprachigkeit fanden recht früh Einzug in die pädagogische Praxis. Sie bieten eine praktikable Möglichkeit, die in der Einrichtung vertretenen Sprachen sichtbar zu machen und mit sprachbildenden Maßnahmen zu koordinieren. Exemplarisch stehen hierfür die Programme Griffbereit und Rucksack. Beide Programme wurden 1991 von der Hauptstelle der Regionalen Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien (RAA) nach Deutschland importiert und auf die hiesigen institutionellen und migrationsbezogenen Verhältnisse angepasst. Sie sind in mehreren Sprachen (z.B. Russisch, Albanisch, Türkisch, Spanisch, Englisch, Arabisch) verfügbar. Griffbereit spricht Eltern mit Kindern im Alter von 1 bis 3 Jahren an. In zweisprachigen Eltern-Kind-Gruppen weisen eine pädagogische Fachkraft und eine Sprecherin bzw. ein Sprecher der Herkunftssprache
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die Eltern darin ein, wie sie ihre Kinder in der allgemeinen und zweisprachigen Entwicklung fördern können. Neben der Unterstützung der herkunftssprachlichen Entwicklung lernen die Kinder spielerisch Deutsch. Das Programm „Rucksack Kita“ ist ein interkulturelles Eltern- und Sprachbildungsprogramm und verfolgt die Förderung der Herkunftssprache und der Zweitsprache Deutsch bei Kindern zwischen 4-6 Jahren als Ziel. In Elterngruppen werden überwiegend Mütter von Elternbegleiterinnen mit spezifischen, für das Projekt entwickelten Materialien geschult, um ihre Kinder in der Herkunftssprache in der häuslichen Umgebung zu fördern. Parallel dazu – und möglichst abgestimmt mit den Aktivitäten der Rucksackgruppe – werden die Kinder in der Kita in Deutsch gefördert. Griffbereit und Rucksack sind mittlerweile etablierte Programme, die in Deutschland wie auch in Österreich und in der Schweiz umgesetzt werden. Eine Evaluationsstudie der 20 Kölner Rucksackgruppen von Roth et al. (2015) liefert anhand von mündlichen und schriftlichen Befragungen Evidenz für die hohe Akzeptanz des Programms bei den teilnehmenden Kindern, Müttern und Elternbegleiterinnen. 3.2 Literacy-Erziehung
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Sprachbildung
Eine besondere Rolle kommt der Literacy-Erziehung zu. Diese umfasst Situationen, in denen vorgelesen wird, Bilderbücher betrachtet, mündliche Erzählungen gemeinsam entwickelt, Kritzelbriefe geschrieben oder Briefe diktiert werden – es handelt sich also um Angebote, die die Auseinandersetzung mit Schrift(-kultur) anregen, und in denen Kinder Bedeutung und Funktion von Schrift verstehen lernen. Studien zeigen, dass die literale Erziehung in der Familie (home literacy) insbesondere die Wortschatzentwicklung des Kindes fördert, aber auch Effekte auf die spätere Entwicklung von Lesekompetenz und andere schulrelevante sprachliche Fähigkeiten zeigt – sowohl bei einsprachigen als auch bei mehrsprachigen Kindern (vgl. Scheele 2010). Insbesondere die Technik des dialogischen Lesens, also die Anwendung spezifischer Interaktionsstrategien und Fragemuster beim Vorlesen, ist gut untersucht und wirksam. In Deutschland zeigten Ennemoser et al. (2013) in einer Trainingsstudie, dass das dialogische Lesen positive Wirkungen auf die sprachliche Entwicklung von Kindern mit Migrationshintergrund hat, wenn es als didaktisch-methodisches Element in die institutionelle Förderung des Deutschen als Zweitsprache einbezogen wird. In Kanada wurde der Einfluss zweisprachiger Bücher, die entweder parallel von der Fachkraft oder mit Unterstützung von Eltern in beiden Sprachen vorgelesen werden, auf die Ausbildung präliteraler Kompetenzen von fünfjährigen Kindern longitudinal untersucht (vgl. Naqvi et al. 2012). Hier zeigte sich, dass die Kinder, denen zweisprachige Bücher vorgelesen wurden, tendenziell bessere Testergebnisse im präliteralen Bereich im Englischen erzielten als Kinder aus einer Kontrollgruppe. Negative Effekte auf die Sprachentwicklung der monolingualen Kinder konnten nicht festgestellt werden. Sprachbildung bietet variantenreiche Möglichkeiten der Einbeziehung unterschiedlicher Sprachen. In der Literacy-Erziehung sind nicht nur zweisprachige Bücher, sondern auch zweisprachige Bilderbuchkinos oder mehrsprachiges Erzählen anwendbar. Neben Begrüßungs- und Abschiedsritualen bietet sich auch der Bildungsbereich Musik an, um mehrere Sprachen in vielsprachigen Gruppenkonstellationen sinnvoll zu nutzen. Auch mit Hilfe der Portfolioarbeit (z.B. dem europäischen Sprachportfolio für 3- bis 7-jährige Kinder, vgl. Filtzinger et al. 2016) können die Sprachen der Kinder aufgewertet und sprachreflexive Tätigkeiten angeregt werden. Portfolios bieten darüber hinaus eine wertvolle Dokumentation des individuellen Sprach(en)schatzes, die für den Übergang in die Grundschule Informationen liefert, die für die Verknüpfung sprachbildender Maßnahmen mit den sprachlichen Vorerfahrungen der Kinder genutzt werden können.
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Drorit Lengyel
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3.3 Bilinguale Kitas Eine besondere Form der Sprachbildung unter Mehrsprachigkeitsbedingungen stellen bilinguale Kitas dar. Laut einer Erhebung des Vereins für Frühe Mehrsprachigkeit an Kitas und Schulen (FMKS 2014, S. 1) hat sich zwischen 2004 und 2014 die Zahl bilingualer Kitas verdreifacht. Bundesweit wurden 1035 Angebote gezählt, d.h. ca. 2% aller Kitas bieten Kindern im Alltag Kontakt zu einer Partnersprache neben dem Deutschen (sog. Immersionsmethode). Hierbei orientiert man sich an dem Prinzip „eine Person – eine Sprache“, d.h. eine Erzieherin spricht z.B. Russisch mit den Kindern, die andere Erzieherin die Umgebungssprache (Deutsch). Insgesamt sind 21 Sprachen vertreten: Englisch als Partnersprache belegt mit 41% Platz 1 der Rangliste, gefolgt von Französisch mit 30%. Die übrigen Sprachen, darunter auch von Migrant/innen mitgebrachte wie Türkisch, Polnisch, Italienisch, machen jeweils bis zu 5% des Angebots aus (vgl. FMKS 2014, S. 1). Die bilingualen Kitas sind über das gesamte Bundesgebiet verteilt. Es liegen größtenteils linguistische Untersuchungen für Englisch als Partnersprache vor, die Aufschluss über die (partner-)sprachliche Entwicklung der Kinder geben. Ein wichtiger, wiederkehrender Befund ist, dass sich in der Partnersprache die Sprachrezeption deutlich schneller entwickelt als die Sprachproduktion. Ähnlich wie bei Kindern, die Deutsch als Zweitsprache erwerben, spielen auch beim frühen Fremdspracherwerb in bilingualen Modellen die Qualität und die Quantität des Inputs eine wichtige Rolle für den Ausbau der Grammatik und des Wortschatzes (vgl. Kersten & Rohde 2013).
4 Ausblick Sprachbildung ist zu einem festen Bestandteil der frühpädagogischen Praxis geworden. Mit Ausnahme spezifischer Programme wie Rucksack Kita oder Organisationsformen wie bilingualen Kitas sind systematische Konzepte zur Integration der kindlichen Mehrsprachigkeit in Kitas noch nicht in Sicht. Hierzu fehlt neben dem bildungspolitischen und öffentlich bekundeten Willen, sich darin zu engagieren und einer Strategie, wie Mehrsprachigkeit in der Kita gefördert werden soll, auch Forschung, die die Voraussetzungen untersucht, die für die Umsetzung eines systematischen Konzepts erforderlich sind. Ebenfalls müssen Möglichkeiten der Umsetzung einer mehrsprachigkeitsbezogenen Sprachbildung erprobt und in ihren unterschiedlichen Wirkungen untersucht werden. Eine solche Untersuchung wird derzeit von Kratzmann und Sachse durchgeführt. Es werden „Effekte einer aktiven Integration von Mehrsprachigkeit in Kindertageseinrichtungen“ (IMKi, Laufzeit 2014-2017, http://fordoc.ku-eichstaett.de/2023/) auf die sprachliche Entwicklung in Erst- und Zweitsprache (Fokus Türkisch und Russisch), die Qualität der sprachlichen Bildung und die Zufriedenheit der Eltern überprüft; publizierte Erkenntnisse liegen noch nicht vor. Zu klären wäre auch, in welchen sprachlichen Konstellationen und in welcher Hinsicht das Konzept des Translanguaging (Garcia & Wei 2014), das die kommunikativen und sprachreflexiven Praktiken Mehrsprachiger im Sinne eines sprachlichen Handelns durch Sprachen hindurch (Quersprachigkeit, vgl. List 2007) zum Ausdruck bringt, in der frühkindlichen Sprachbildung sinnstiftend und sprachaneignungsfördernd angewendet werden kann. Theoretisch scheint es gut geeignet, da an der kindlichen Neugier und Lust auf Sprache angeknüpft und Raum für Exploration ein-, mehr- und quersprachigen Handelns geboten wird. Für die Bildung und Erziehung unter Dreijähriger ist die Frage nach mehrsprachig angelegten Konzepten dringlich, will man eine frühzeitige Stagnation der herkunftssprachlichen Entwicklung vermeiden und Kindern die Chance geben, mit Eintritt in die erste Bildungsinstitution mehrsprachig zu werden.
Sprachbildung
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88 Durchgängige sprachliche Bildung als fächerübergreifende Aufgabe Ingrid Gogolin Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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6.3 Lernbereiche und Unterrichtsfächer
Die Gestaltung einer schulischen Praxis, die der sprachlichen Heterogenität in der Schülerschaft gerecht wird, gehört zu den Kernproblemen sprachbezogener interkultureller Pädagogik. Im Rahmen eines Modellprogramms zur „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ (FörMig) wurde ein Konzept entwickelt, das die Eckwerte einer solchen Gestaltung anzeigen soll: das Konzept der „durchgängigen Sprachbildung“. Dessen Grundzüge werden im folgenden Beitrag vorgestellt.
1 Grundlagen für das Konzept der „durchgängigen Sprachbildung“ Anknüpfungspunkt für die Entwicklung des Konzepts der „durchgängigen Sprachbildung“ war eine Analyse der Forschung über die Frage, welche Modelle schulischer Praxis erfolgversprechend für eine Förderung von schul- und bildungsrelevanten sprachlichen Fähigkeiten sind – und zwar sowohl für Lernende mit lebensweltlich zwei- oder mehrsprachiger Erfahrung als auch für jene, die einsprachig aufwachsen und leben (Gogolin et al. 2003). Die Analyse der deutschund englischsprachigen Literatur zum Thema förderte zutage, dass die meiste Aufmerksamkeit, die dieser Frage bis dahin gewidmet worden war, sich um das Problem drehte, welche Rolle und welcher Stellenwert der Herkunftssprache von Migranten in der Sprachbildung zugebilligt werden sollte. Vor allem in den USA und Kanada waren zu diesem Problem hoch kontroverse Debatten geführt worden, flankiert von wechselseitigen Ideologievorwürfen und unversöhnlich scheinenden Standpunkten. Gegenstand der Auseinandersetzung waren Modelle der „bilingualen Erziehung“; der Streit drehte sich um die Frage, ob diese Modelle von Vorteil für den Bildungserfolg von Migranten seien oder nicht. In den USA und Kanada waren die unterschiedlichsten Formen solche Modelle seit den 1960er Jahren weit verbreitet; in den USA richteten sie sich vor allem auf Kinder aus spanischsprachigen Herkunftsfamilien (August & Hakuta 1998). Obwohl solche Bildungsangebote in Deutschland keine nennenswerte Rolle spielten, wurde die Kontroverse Anfang der 2000er Jahre auch in Deutschland aufgegriffen (Söhn 2005; Esser 2006; Gogolin & Neumann 2009).
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Durchgängige sprachliche Bildung als fächerübergreifende Aufgabe
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Für den Gestaltungsvorschlag zum Modellprogramm FörMig sind diese Auseinandersetzungen wichtig, weil sie auf empirisch gestützte, wenngleich uneinheitliche Erkenntnisse über die Bedeutung der Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund für ihren Bildungserfolg verweisen. Durch weitere Metaanalysen (August & Shanahan 2006) und Forschungsprojekte (Gantefort 2013b; Möller et al. 2017) wird die Auffassung gestützt, dass eine aktive Einbeziehung von Zwei- oder Mehrsprachigkeit in den Bildungsprozess von Vorteil für die sprachliche Entwicklung und die Leistungsentwicklung von zwei- oder mehrsprachig lebenden Schüler/innen sein kann. Allerdings führt die Bestandsaufnahme in der deutschen Bildungslandschaft auch zu dem Resultat, dass bilinguale Modelle kaum den Königsweg dafür darstellen können, sprachliche Bildung zu gestalten, die der heterogenen sprachlichen Lage gerecht wird. Die Schülerschaft ist im ganz überwiegenden Teil der Bildungseinrichtungen in Deutschland von Vielsprachigkeit geprägt; zweisprachige Lerngruppen sind eher die Ausnahme. Im Hinblick auf die Gestaltung des Modellprogramms FörMig wurde hieraus die Konsequenz abgeleitet, dass Modelle erprobt werden sollten, die sich auf die jeweils vorfindliche sprachliche Konstellation in der Bildungseinrichtung konzentrieren. Bilinguale Modelle können einen Weg darstellen, wenn ein entsprechendes Umfeld gegeben ist. Es sind aber auch andere Modelle vorstellbar, mit denen passgenau auf die konkreten Arbeitsbedingungen eines Kindergartens oder einer Schule reagiert werden kann (Gogolin 2005). Eine zweite Empfehlung für die Gestaltung des Programms gründet sich auf Erkenntnisse über die Entwicklung bildungsrelevanter sprachlicher Fähigkeiten, ausgehend von Theorieansätzen, die auf die Divergenz zwischen sprachlichen Fähigkeiten, die zur Alltagsverständigung hinreichen, und solchen Fähigkeiten, die für die Aneignung von Bildungswissen erforderlich sind. Die Grundlagen hierfür bietet James Cummins‘ Unterscheidung zwischen basalen alltagsrelevanten Sprachfähigkeiten (BICS, Basic Interpersonal Communicative Skills) und kognitiv herausfordernden bildungsrelevanten Sprachfähigkeiten (CALP, Cognitive Academic Language Proficiency) (Cummins 1991a, 2002). Cummins hatte darauf hingewiesen, dass alle Schüler/innen den Übergang von der einen in die andere Variante sprachlicher Fähigkeiten leisten müssen, um bildungserfolgreich zu sein. Allerdings sei bei lebensweltlich zwei- oder mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen zu berücksichtigen, dass sie diesen Übergang auf der Grundlage anderer sprachlicher Bildungsvoraussetzungen leisten müssten, als das bei lebensweltlich einsprachigen Schüler/innen der Fall ist. Zu beachten seien dabei einerseits Nachteile der Zwei- oder Mehrsprachigen, die darin bestünden, dass ihr aktives sprachliches Repertoire in der Zweitsprache anders ausgeprägt sein sollte als das einsprachig Aufwachsender. Andererseits könnten aber Vorteile daraus erwachsen, dass die Konstellation der Zwei- oder Mehrsprachigkeit im alltäglichen Leben quasi ein kognitives Training mit sich bringt, in dessen Folge sich Vorteile für das weitere – nicht nur sprachliche – Lernen ergeben. Diese Vorteile betreffen insbesondere den Bereich der Sprachaufmerksamkeit, also des Wissens über Sprache und der Bewusstheit für sprachliche Phänomene (Cummins 1991b; Barac und Bialystok 2012). Vor diesem Hintergrund sei die Berücksichtigung der Zwei- oder Mehrsprachigkeit als Bildungsvoraussetzung geboten, und ein Ausbau der potenziellen Vorteile sei an das Erfordernis geknüpft, beide Lebenssprachen von zweisprachig lebenden Kindern bzw. Jugendlichen durch Unterricht auszubauen. Ein dritter Ausgangspunkt für die Entwicklung des Konzepts der durchgängigen Sprachbildung ist durch Erkenntnisse über die Veränderung von sprachlichen Anforderungen über die Bildungszeit begründet. Während am Anfang eines Bildungsganges das Lernen noch weitgehend an sprachlichen Ausdrucksformen orientiert ist, die auch im alltäglichen Repertoire vorkommen, gewinnen die für die Aneignung von Sachverhalten im Verlaufe der Bildungszeit nötigen
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Ingrid Gogolin
sprachlichen Mitteln zunehmend spezielle Züge. Einerseits erweitern sich die sprachformalen Ausdrucksmittel um zunehmend komplexe, abstrakte Formen, deren Aneignung Kindern auch erst mit zunehmendem Lebensalter gelingt (Ehlich et al. 2008). Ein Beispiel hierfür ist der Ausbau der Fähigkeiten, mit sprachlichen Mitteln zwischen der Realität eines Ereignisses und der Wahrscheinlichkeit seines Auftretens zu unterscheiden; die grammatisch dichtesten Formen, z.B. sich konjunktivisch auszudrücken, tauchen erst relativ spät im sprachlichen Repertoire von Kindern auf. Andererseits erweitern sich die für die Aneignung von Lerngegenständen spezifischen sprachlichen Mittel über die Zeit dadurch, dass Lernbereiche und Fächer sich immer stärker ausdifferenzieren. Dies ist verbunden mit der Herausbildung spezieller sach- und fachgebundener Redemittel. Die spezifischen sprachlichen Mittel, die erforderlich sind, damit Lernende sich Bildungswissen aneignen können, wurden von der wissenschaftlichen Begleitung des Modellprogramms FörMig mit „bildungssprachliche Mittel“ bezeichnet (Gogolin et al. 2011; Roth 2015). Als ihr generelles Kennzeichen wurde herausgearbeitet, dass sie sich über die Bildungszeit verändern – mit der Konsequenz, dass die Vermittlung und Aneignung dieser Mittel auch über die Bildungszeit erfolgen muss (Gogolin und Duarte 2016). Der Erwerb bildungssprachlicher Mittel stellt eine Hürde für jede Schülerin, jeden Schüler dar. Dafür verantwortlich ist, dass die Gestalt dieser Mittel stärker angelehnt ist an die Ausdrucksformen, die für die schriftsprachliche Produktion gelten, als an jene, die im mündlichen Sprachgebrauch vorherrschen. Die erfolgreiche Aneignung bildungssprachlicher Mittel ist daher unweigerlich verbunden mit einem erfolgreichen Prozess des Schriftspracherwerbs (Gantefort 2013a). Aufgrund dessen sind Lernende, die in der eigenen Familie einen intensiven Umgang mit Schrift erfahren – etwa durch eine intensive Lesepraxis –, gegenüber denen im Vorteil, die wenig Schrifterfahrung in ihrem Alltag machen. Dies gilt für einsprachig lebende ebenso wie für zwei- oder mehrsprachige Schüler/innen (Leseman et al. 2007). Allerdings liegen aus der Forschung zur Sprachentwicklung im Mehrsprachigkeitskontext Hinweise darauf vor, dass im Falle der Zwei- oder Mehrsprachigen mit längerer Lernzeit zu rechnen sei, bis ein Stand an bildungssprachlichen Fähigkeiten erreicht sei, der Gefährdungen des Bildungserfolgs aus sprachlichen Gründen unwahrscheinlich werden lässt. Differenzen beim Verfügen über bildungssprachliche Mittel zwischen ein- und mehrsprachigen Schüler/innen zeigen sich ausweislich jüngerer Studien entsprechend weniger im frühen Schulalter, also in der Grundschulzeit, in der noch deutliche Überlappungen zwischen alltäglichem und schulischem Sprachgebrauch zu finden sind (Heppt et al. 2012). Vielmehr sind die stärker ausgeprägten Differenzen in späteren Phasen der Schulkarriere zu finden (Klinger et al. 2018). Ein weiterer Gesichtspunkt für die Entwicklung des Konzepts der durchgängigen Sprachbildung wurde aus der Betrachtung der Bauprinzipien des deutschen Bildungssystems gewonnen. Dieses zeichnet sich, insbesondere in der Phase der Grundlegung der Bildung, dadurch aus, dass es in verhältnismäßig kurze Abschnitte unterteilt ist. Erst in jüngster Zeit wird der Elementarbereich überhaupt als Bildungsbereich angesehen. Ein erheblicher Prozentsatz der Kinder wird erst im Alter von fünf Jahren den entsprechenden Einrichtungen anvertraut. Es folgt die Grundschule mit einer Dauer von (in fast allen Bundesländern) vier Jahren – erneut weniger, als nach dem Stand der Forschung für den Ausbau bildungsrelevanter sprachlicher Fähigkeiten erforderlich ist. Hinzu kommt, dass sich historisch keine starken Traditionen der Kooperation zwischen den Bildungseinrichtungen verschiedener Stufen entwickelt haben. Eingedenk dieser Strukturmerkmale ist es naheliegend, dass es an den Schnittstellen im Bildungssystem nicht zu einem kumulativen Aufbau der bildungsrelevanten sprachlichen Fähigkeiten kommt. Aus der Forschung über professionelle Auffassungen von Lehrkräften liegen zudem Hinweise darauf vor,
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dass die Aufgabe der Sprachbildung zwar als bedeutend im gesamten Bildungsgang von Schüler/ innen angesehen wird. Eigene Aktivitäten für die Erfüllung dieser Aufgabe sehen insbesondere Lehrkräfte anderer als sprachlicher Fächer eher nicht vor. Nach den Erfahrungen der befragten Lehrkräfte wird die Aufgabe der Sprachbildung primär der Grundschule und der Eingangsphase der Sekundarschule zugerechnet, jedoch nicht dem weiteren Verlauf des Bildungsgangs (Riebling 2013).
2 Das Konzept der „durchgängigen Sprachbildung“
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Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse und Beobachtungen wurde das FörMig-Konzept der „durchgängigen Sprachbildung“ entwickelt, das sich wie folgt schematisch darstellen lässt:
Abb. 1: Konzept der „durchgängigen Sprachbildung“ nach FörMig
Das Konzept weist drei Dimensionen auf: 1. die „vertikale Dimension“. Hier ist abgebildet, dass Sprachbildung an der gesamten Bildungsbiografie entlang angeboten werden muss. Insbesondere geht es darum, dass die Kontinuität der Sprachbildung an den Schnittstellen der Bildungsbiographie gesichert wird – also am Übergang vom Elementarbereich in die Grundschule, von der Grundschule in die Sekundarstufe und von der Sekundarstufe in den Beruf oder ein Studium. 2. die „horizontale Dimension“. Hier ist angezeigt, dass die verschiedenen an der Sprachbildung beteiligten Instanzen zusammenarbeiten, damit es zu einer kumulativen Entwicklung bildungsrelevanter sprachlicher Fähigkeiten kommt. Angesprochen sind hier insbesondere die pädagogischen Fachkräfte bzw. die Lehrkräfte der verschiedenen Lernbereiche und Fächer, die ihre Sprachbildungsanstrengungen aufeinander abstimmen und arbeitsteilig vorgehen sollten. Gemeint ist aber ebenso die Kooperation zwischen den Bildungseinrichtungen und anderen Personen oder Institutionen, die auf die Sprachentwicklung und Sprachbildung der Kinder oder Jugendlichen Einfluss haben – insbesondere die Eltern.
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Ingrid Gogolin
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3. die „transversale Dimension“. Mit dieser ist angezeigt, dass es in der gesamten Bildungsbiographie um die Überbrückung zwischen mitgebrachten sprachlichen Bildungsvoraussetzungen der Lernenden und die Vermittlung bzw. Aneignung jener spezifischen sprachlichen Mittel geht, die für ein erfolgreiches Lernen jeweils erforderlich sind. Dabei ist einerseits die Brücke zu schlagen zwischen den vorhandenen Mitteln aus alltäglichem Sprachgebrauch und den für die nächsten Lernschritte erforderlichen Mitteln. Zum anderen ist im Falle der zwei- oder mehrsprachig lebenden Kinder und Jugendlichen Rücksicht auf die sprachlichen Erfahrungen zu nehmen, die aus dieser Konstellation hervorgehen. Zu den Voraussetzungen für die Umsetzung dieses Konzepts durchgängiger Sprachbildung in die Praxis gehört die kontinuierliche Ermittlung der sprachlichen Grundlagen, die die Schüler/ innen für die nächsten Schritte des Lernens bereits mitbringen. Hier geht es um Verfahren der lernbegleitenden Sprachbeobachtung, die einen Grundstock von Wissen darüber einbringen, mit welchen sprachlichen Voraussetzungen Schüler/innen in die nächsten Lernaufgaben starten. Um diese Aufgabe zu erfüllen, liegen etliche Verfahrensvorschläge für die Praxis vor, die auch den Umstand berücksichtigen, dass Lehrkräfte in der Regel kein linguistisches Studium aufweisen. Die Vorschläge sind so gestaltet, dass sie dem Arbeitsalltag von Lehrkräften so weit wie möglich entgegenkommen, aber dennoch ein fundiertes Urteil über den sprachlichen Entwicklungsstand von Schüler/innen ermöglichen (Lengyel 2013). Zu den verbreitetsten Instrumenten für diesen Einsatzzweck gehören die „Niveaubeschreibungen Deutsch als Zweitsprache“ für verschiedene Schulstufen, die in Zusammenarbeit zwischen FörMig und dem Bundesland Sachsen entwickelt wurden (Sächsisches Bildungsinstitut 2013). Als weiteres Merkmal der Umsetzung des Konzepts der durchgängigen Sprachbildung in die Praxis ist die Zusammenarbeit derjenigen Personen und Institutionen zu nennen, die am Sprachbildungsprozess beteiligt sind. Im Kontext von Elementar- und Schulbildung ist hiermit in erster Linie die Kooperation der Fachkräfte bzw. der Lehrkräfte angesprochen. Jedes Mitglied des pädagogischen Personals ist gehalten, die für seinen Aufgabenbereich spezifischen sprachlichen Mittel in den Lehr-/Lernprozess einzubeziehen. In Untersuchungen erfolgreicher Schulen, darunter auch solchen mit multilingualer Schülerzusammensetzung, die zudem zumeist in prekären sozialen Umgebungen liegen, ließ sich als eine der Grundlagen für den Erfolg identifizieren, dass jede Lehrkraft sich selbst nicht nur für „ihr Fach“, sondern auch für sprachliche Bildung als verantwortlich sieht (Blair und Bourne 1998). Besonders zielführend und zugleich für die einzelne Lehrkraft entlastend ist dabei eine arbeitsteilige Aufteilung der sprachlichen Bildungsaufgaben, beispielsweise durch Kooperation der Lehrkräfte einer Klassenstufe (Brandt und Gogolin 2016). Ein didaktisches Konzept, das sich im Kontext der durchgängigen Sprachbildung zu bewähren scheint, ist unter der Bezeichnung „Scaffolding“ bekannt geworden. Dieses geht auf die entwicklungspsychologische Erkenntnis zurück, dass Lernende am besten reüssieren, wenn sie durch herausfordernde Anforderungen an die „Stufe der nächsten Entwicklung“ ihrer Fähigkeiten herangeführt werden (Wygotski 1934/1986). Für die Gestaltung des Lehr-/Lernprozesses bedeutet dies, dass die Lehrkraft den Lernenden Aufgaben stellt, die deren Können ein wenig übersteigen. Damit diese Aufgaben bewältigt werden können, unterstützt die Lehrkraft die Lernenden durch ein „Gerüst“ (Engl.: scaffold) von Hilfsmitteln; dieses Gerüst wird schrittweise abgebaut, wenn die Schüler/innen die wichtigsten Schritte des Lernprozesses gegangen sind. Praktische Beispiele für die Umsetzung dieser allgemeinen Vorstellung von gutem Unterricht auf die Aufgabe der Sprachbildung, insbesondere im Zusammenhang der Mehrsprachigkeit, wurden von verschiedenen Autor/innen vorgestellt (z.B. Gibbons 2006; Roth 2007).
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Durchgängige sprachliche Bildung als fächerübergreifende Aufgabe
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Ein weiterer Baustein für die Übersetzung des Konzepts der durchgängigen Sprachbildung in die Praxis ist die Berücksichtigung der Zwei- oder Mehrsprachigkeit der Schüler/innen als Bildungsvoraussetzung. Auch hierzu liegen inzwischen etliche praxisorientierte Ansätze und erste Überprüfungen ihrer Funktionalität und Wirksamkeit vor. Als Anregung aus der internationalen Literatur ist das Konzept „Translanguaging“ zu erwähnen, zu dessen Grundzügen es gehört, dass der Unterricht die Lernenden dazu anhält, Verbindungen zwischen ihren persönlichen sprachlichen Fähigkeiten herzustellen und auf diese Weise sprachenübergreifendes Können und Wissen zu erlangen (García und Wei 2014). Im deutschsprachigen Kontext sind erste Ansätze zu verzeichnen, in denen die Möglichkeiten einer Einbeziehung herkunftssprachlicher Redemittel in den Fachunterricht erprobt und ihre Wirkungen untersucht werden (Prediger et al. 2016; Roll et al. 2016). Die bis zur Fertigstellung dieses Beitrags vorliegenden Untersuchungen kommen nicht zu völlig übereinstimmenden Ergebnissen. So scheint das bloße Angebot von Übersetzungen oder bilingualem Vokabular keine positiven Effekte für das Lernen zu erbringen (McElvany et al. 2017). Die koordinierte Förderung von herkunfts- und zweitsprachlichen Konzepten hingegen scheint für die nachhaltige Aneignung von fachlichen Kompetenzen auch dann noch förderlich zu sein, wenn die Schülerschaft erst in der Sekundarstufe entsprechende Lernstrategien kennenlernt. Das Konzept der durchgängigen Sprachbildung ist inzwischen weithin als eine Grundlage für die Entwicklung von Sprachbildung im Kontext sprachlicher Diversität anerkannt. Eine Implementation über die geschilderten ersten praktischen Ansätze hinaus ist jedoch eine Zukunftsaufgabe. Dabei sind auch die Vorzüge und Nachteile des Konzepts empirisch zu überprüfen. Literatur
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Ingrid Gogolin
Klinger, Thorsten; Lange, Imke; Lengyel, Drorit & Michel, Ute (2011): Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (FörMig). Bilanz und Perspektiven eines Modellprogramms. Münster: Waxmann. – Gogolin, Ingrid & Duarte, Joana (2016): Bildungssprache. In: Jörg Kilian; Birgit Brouër & Dina Lüttenberg (Hg.): Handbuch Sprache in der Bildung. Berlin: Walter de Gruyter, S. 478-499. – Gogolin, Ingrid & Neumann, Ursula (Hg.) (2009): Streitfall Zweisprachigkeit. The Bilingualism Controversy. Wiesbaden: VS Verlag. – Heppt, Birgit; Dragon, Nina; Berendes, Karin; Stanat, Petra & Weinert, Sabine (2012): Beherrschung von Bildungssprache bei Kindern im Grundschulalter. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung (3), S. 349-356. – Klinger, Thorsten; Duarte, Joana; Gogolin, Ingrid; Schnoor, Birger & Trebbels, Marina (Hg.) (2017): Sprachentwicklung im Kontext von Mehrsprachigkeit. Hypothesen, Methoden, Forschungsperspektiven. Wiesbaden: Springer VS. – Lengyel, Dorit (2013): Pädagogische Sprachdiagnostik als Grundlage für die durchgängige Sprachbildung. In: Ingrid Gogolin; Imke Lange; Ute Michel & Hans H. Reich (Hg.): Herausforderung Bildungssprache - und wie man sie meistert. Münster: Waxmann, S. 154-169. – Leseman, Paul P.M.; Scheele, Anna F.; Mayo, Aziza Y. & Messer, Marielle H. (2007): Home literacy as special language environment to prepare children for school. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 10 (3), S. 334-355. – McElvany, Nele; Ohle, Annika; El-Khechem, Wahiba; Hardy, Ilonca & Cinar, Melihan (2017): Förderung sprachlicher Kompetenzen. Das Potential der Familiensprache für den Wortschatzerwerb aus Texten. In: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie 31 (1), S. 13-25. – Möller, Jens; Hohenstein, Friederike; Fleckenstein, Johanna; Köller, Olaf & Baumert, Jürgen (Hg.) (2017): Erfolgreich integrieren – die Staatliche Europa-Schule Berlin. Münster: Waxmann Verlag. – Prediger, Susanne; Clarkson, Phil & Bose, Arindam (2016): Purposefully Relating Multilingual Registers. Building Theory and Teaching Strategies for Bilingual Learners Based on an Integration of Three Traditions. In: Richard Barwell; Philip Clarkson; Anjum Halai; Mercy Kazima; Judit Moschkovich; Nuria Planas; Mamokgethi Setati Phakeng; Paola Valero & Martha Villavicencio Ubillús (Hg.): Mathematics education and language diversity - The 21st ICMI Study. Heidelberg: Springer, S. 193-215. – Riebling, Linda (2013): Sprachbildung im naturwissenschaftlichen Unterricht. Eine Studie im Kontext migrationsbedingter sprachlicher Heterogenität. Münster: Waxmann. – Roll, Heike; Gürsoy, Erkan & Boubakri, Christine (2016): Mehrsprachige Literalität fördern. Ein Ansatz zur Koordinierung von Deutschunterricht und herkunftssprachlichem Türkischunterricht am Beispiel von Sachtexten. In: Der Deutschunterricht (6), S. 57-67. – Roth, Hans-Joachim (2007): Scaffolding. Ein Ansatz zur aufbauenden Sprachförderung. Online verfügbar unter www.kompetenzzentrum.sprachfoerderung.de/fileadmin//user_upload/NewsletterKompSpraFeb07.pdf [10.04.2017]. – Roth, Hans-Joachim (2015): Die Karriere der „Bildungssprache“ – kursorische Beobachtungen in historisch-systematischer Anmutung. In: İnci Dirim; Ingrid Gogolin; Dagmar Knorr; Marianne Krüger-Potratz; Drorit Lengyel; Hans H. Reich & Wolfram Weiße (Hg.): Impulse für die Migrationsgesellschaft. Bildung, Politik und Religion. Münster: Waxmann, S. 37-60. – Sächsisches Bildungsinstitut (Hg.) (2013): Niveaubeschreibungen Deutsch als Zweitsprache. Radebeul. Online verfügbar unter https://publikationen.sachsen.de/bdb/artikel/19713 [14.04.2017]. – Söhn, Janina (2005): The effectivness of bilingual school programs for immigrant children. WZB. Berlin (Discussion Papers des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Arbeitsstelle Interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration, 601). – Wygotski, Lev S. (1934/1986): Denken und Sprechen. Frankfurt a.M.: Fischer Wissenschaft.
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89 Deutschunterricht Claudia Maria Riehl und Julia Blanco López
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1 Der Umgang mit (natürlicher) Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht Konzepte zur Integration von Interkulturalität und natürlicher Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht sind durchaus nicht neu. Seit langem liegen Entwürfe vor, wie man in heterogenen Klassen sprachvergleichend und interkulturell arbeiten kann (vgl. Fürstenau & Gomolla 2011; Oomen-Welke 2010a, b). Allerdings haben diese Konzepte bislang noch wenig Eingang in die Lehrplan- und Schulbuchkonzeption gefunden. Das lässt sich zum einen dadurch erklären, dass die Schulverwaltung und Bildungspolitik in Deutschland bis in die 1980er Jahre davon ausgingen, dass sich sog. Migrantenkinder schnell assimilieren würden und „das Sprachproblem“ wie andere mit Zuwanderung verbundene Probleme einfach verschwänden (Oomen-Welke 2010a, S. 409). Zum anderen ist dies erklärbar durch die fälschliche Vorannahme, dass die Schülerschaft prinzipiell homogen sei und sie dieselben sprachlich-kulturellen Voraussetzungen mitbringe (sog. monolingualer Habitus, vgl. Gogolin 2008). Auch Lehrkräfte führen gegen einen interkulturellen und sprachvergleichenden Unterricht Gründe ins Feld: Komplexität und Vielzahl der Sprachen im Klassenzimmer, die mangelnde Kenntnis von herkunftssprachlichen Strukturen sowie Zeitmangel und Lehrplandruck. Zudem wird die Befürchtung geäußert, dass eine Ungerechtigkeit entstehe gegenüber Schüler/innen, deren Herkunftssprachen nicht aktiv betrachtet werden können (vgl. Rothstein 2011, S. 11). Lehrer/innen sehen sich im steten Dilemma zwischen der Förderung des Deutschen (als Zweitsprache) auf der einen und dem Einbezug der Herkunftssprachen auf der anderen Seite. In diesem Beitrag sollen Konzepte und Methoden vorgestellt werden, wie der (natürlichen) Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität innerhalb des Klassenzimmers ein Platz im herkömmlichen Deutschunterricht eingeräumt werden kann und wie die natürlichen Ressourcen der Mehrsprachigkeit im Unterricht gewinnbringend für alle eingesetzt werden können, ohne dabei die Bedeutung des Deutschen für den Unterricht und als Bildungsziel aus den Augen zu verlieren (vgl. Lüth 2008; Rothstein 2011). Die aufgezeigten Vorschläge stellen Möglichkeiten eines vielsprachigen und interkulturellen Arbeitens dar, wie sie auch ohne Verankerung in Lehrwerken oder Lehrplänen unternommen werden können und, da es sich um punktuelles Arbeiten handelt, sich problemlos in den Schulalltag integrieren lassen. Sie wurden in der Praxis mehrfach erprobt und führen zu einer Steigerung der Motivation, der Unterrichtsbeteiligung, des Interesses und der sprachlichen Entwicklung der Schüler/innen (vgl. Oomen-Welke 2010a, 2011).
2 Konzepte interkulturellen und mehrsprachigen Lernens im Deutschunterricht 2.1 Das Konzept des vielsprachigen Deutschunterrichts Der vielsprachige Deutschunterricht in der Konzeption von Oomen-Welke (u.v.a. 2008, 2011) basiert auf dem Konzept der Language Awareness. Darunter versteht man explizites Wissen über Sprache, bewusste Wahrnehmung und Sensibilität beim Sprachlernen, Sprachlehren und Sprachgebrauch. Ziel dieses Konzeptes ist es, durch den Einbezug der Herkunftssprachen u.a.
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Akzeptanz sprachlicher Vielfalt herzustellen, Interesse an Sprachen, sprachlichen Phänomenen und der Vielfalt von Kulturen zu wecken, sprachanalytische Fähigkeiten durch Sprachvergleich zu fördern und die Fähigkeit zu entwickeln, über sprachliche Phänomene zu sprechen (sog. metasprachliche Kommunikation) (vgl. Luchtenberg 2010). Dabei wird der Begriff „Sprache“ sehr umfassend verwendet: neben soziokulturellen und pragmatischen Aspekten wie Höflichkeit und Anrede werden auch sprachkulturelle Zuschreibungen berücksichtigt. Beim vielsprachigen Deutschunterricht geht es darum, die vorhandenen Sprachen der Schülerschaft durch eine kontrastive Sprachbetrachtung aktiv in den Unterricht miteinzubeziehen. Die sprachvergleichende Arbeit ist aus didaktischer Sicht sinnvoll, da eine gelungene Reflexion der eigenen Sprache gerade aus dem Abstand gegenüber dem, was man automatisiert beherrscht, entsteht (vgl. Rothstein 2011, S. 12). Dabei können die Vergleichsgrößen, je nach Thematik oder Lerninhalt, variieren: einzelne Worte, Phrasen, Sätze oder gar kürzere Texte (vgl. OomenWelke 2010a). Diese Herangehensweise soll dazu führen, dass die Schüler/innen selbstständig Theorien über Sprachen und Sprachlernen konstruieren, die als Ausgangspunkt für den Erwerb von Regeln und Konventionen dienen können. Außerdem verbessern sie ihre interkulturelle Kompetenz durch neue Sichtweisen auf das Eigene und das Fremde. Darüber hinaus ist intendiert, dass es damit zu einer Wertschätzung von weniger prestigeträchtigen Sprachen und Kulturen kommt. Neben einer Zunahme des Selbstbewusstseins, der Motivation und der Unterrichtsbeteiligung kann das Konzept auch einen positiven Einfluss auf die Lernentwicklung und Selbstständigkeit der Kinder und Jugendlichen mit Deutsch als Zweitsprache haben. Sie erfahren eine Aufwertung ihrer Herkunftssprachen und erarbeiten sich eine neue Rolle als Sprachexperten. Gemeinsam mit den einsprachigen Schüler/innen entwickeln sie ein Interesse an Sprachlichem und eine Methodenkompetenz. Oomen-Welke (2010b) schlägt dazu eine Sensibilisierung von Lehrpersonen vor, die aus mehreren Schritten besteht und damit beginnt, andere Sprachen zuzulassen, Vorschläge der Kinder aufzugreifen oder auch Alltagsroutinen (Gruß-, Dankesformeln, Anreden, nonverbale Routinen) zu vergleichen und schließlich dazu führt, Texte und Sprachsysteme (z.B. Schriftsysteme) vergleichend in den Unterricht einzubeziehen. Hilfreiche Hinweise dafür finden sich in dem Handbuch „Das mehrsprachige Klassenzimmer“ (Krifka et al. 2014). 2.2 Interkulturelle und mehrsprachige literarische Texte Eine weitere Möglichkeit des interkulturellen oder auch sprachvergleichenden Arbeitens ist der Einbezug interkultureller oder mehrsprachiger Literatur in den Deutschunterricht. Rösch (2009, 2014) führt dazu eine Reihe von Beispielen an und zeigt Methoden, wie man diese in den Unterricht integrieren kann. Hier können zum einen additiv mehrsprachige Bücher herangezogen werden, d.h. Bücher, in denen der gleiche Text in zwei oder mehreren Sprachen nebeneinander abgebildet ist. Dabei bieten sich vielfältige Perspektiven des Sprachvergleichs und auch die Möglichkeit, dass mehrsprachige Kinder sich die Geschichte zuerst in der vertrauteren Sprache erschließen. Ein weiteres interessantes Beispiel sind integriert mehrsprachige Geschichten – Bücher, in denen mehrsprachige Charaktere auftreten, die in einer fremden Sprache sprechen, und deren Äußerungen explizit oder implizit von anderen Charakteren oder dem Erzähler „übersetzt“ werden. Im Zusammenhang mit dem interkulturellen Lernen bieten sich v.a. Werke zur integrierten Minderheitenmehrsprachigkeit an (vgl. Rösch 2014). Außerdem können Kinderreime oder Gedichte aus unterschiedlichen Ländern eingesetzt werden, mit denen spielerisch und kreativ sprachvergleichend gearbeitet wird (vgl. Rösch 2009). Dieser Einbezug von mehrsprachiger Literatur soll ebenfalls einen positiven Effekt auf die Language Awareness der Lernen-
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den haben, da sie sich hier in vielfältiger Weise mit unterschiedlichen Bedeutungen, Problemen der Übersetzung und sprachlichen Missverständnissen auseinandersetzen müssen. In der Sekundarstufe I kann vor allem mit interkultureller Literatur gearbeitet werden, da diese Fremdheits- und Migrationserfahrungen thematisiert und den Umgang mit Vielfalt und Diversität vermittelt (Dirim et al. 2014). Auch dies führt zu Wertschätzung von Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichen Herkunftssprachen und erzeugt Verständnis und Offenheit bei den monolingualen bzw. monokulturellen Klassenkamerad/innen.
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2.3 Projektarbeit zu Sprachfamilien und Einzelsprachen Ein weiterer Vorschlag, wie Themen mit Kindern und Jugendlichen sprachvergleichend bearbeitet werden können, besteht in der Projektarbeit zu unterschiedlichen Sprachen. In verschiedenen Stationen können Sprachfamilien oder Einzelsprachen von jeweils einer Schülergruppe bearbeitet werden, indem sie selbstständig recherchieren oder vorbereitete Texte lesen und die zentralen Ergebnisse sammeln und anschließend vorstellen. Die Ergebnisse können gemeinsam besprochen und mit Ergebnissen anderer Gruppen sowie mit dem Deutschen verglichen und schließlich auf Plakaten festgehalten werden. So prägen sich sprachliche Strukturmerkmale auch für das Deutsche besser ein. Je nach Länge und Umfang des Projektes ist hier eine Zusammenarbeit mit anderen Schulklassen oder außerschulischen Institutionen möglich. Für die Sensibilisierungsphase ist es zudem möglich – und das gilt auch ganz besonders für Kinder aus dem Primarschulbereich – mit fremden Schriftbildern zu arbeiten (vgl. auch Oomen-Welke 2010b).
3 Umsetzungen und Materialien 3.1 Interkulturalität im Deutschunterricht im Rahmen bilingualer Programme Wie bereits erwähnt, haben die vorgestellten Konzepte noch wenig Eingang in Curricula oder Lehrbücher des Deutschunterrichts gefunden. Sie finden allerdings Anwendung in bilingual angelegten Schulprogrammen, z.B. dem Konzept der ‚Koordinierten Alphabetisierung‘. Dieses Modell sieht vor, dass Kinder bei ihrer Einschulung in der Mehrheits- und Schulsprache und in ihrer Herkunftssprache gleichzeitig Schreiben lernen. Neben der Alphabetisierung in zwei Sprachen, die häufig aus logistischen Gründen nur in einer der vorhandenen Herkunftssprachen erfolgen kann, werden alle in der Klasse vorhandenen Sprachen in den Unterricht einbezogen, und zwar durch Rituale, generatives Schreiben oder Singen und Dichten. Die Schulen legen einen Schwerpunkt auf interkulturelles Lernen und die Schulphilosophie besteht darin, die Herkunftssprachen der Schüler/innen als Kompetenz wertzuschätzen und die Mehrsprachigkeit sichtbar zu machen (auch in Plakaten, Aufschriften etc.) (vgl. Scharfenberg 2008). Ähnliches ist auch in anderen bilingualen Programmen angelegt (z.B. Verbund Europäischer Grundschulen Köln, SESB Europa-Schulen Berlin) (vgl. Riehl 2014, S. 147). 3.2 Materialien Materialien für den offenen und differenziellen Deutschunterricht wurden etwa im ComeniusProjekt JaLing (Janua Linguarum – Das Tor zu Sprachen, https://home.ph-freiburg.de/jaling) entwickelt. Sie sind entweder an der Lebenswelt orientiert (z.B. Höflichkeit – Familie bei uns und bei anderen) oder spezifisch sprachlich (internationale Wörter – Wörter für Farben in verschiedenen Sprachen). Die im Rahmen dieses Projektes entstandenen Hefte „Sprachenfächer“
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(hg. von Oomen-Welke) enthalten entsprechende Materialien für den interkulturellen Deutschunterricht in der Sekundarstufe I. Weitere in einem österreichischen Projekt (KIESEL „Kinder entdecken Sprachen“) entwickelte Materialien richten sich an Schüler/innen im Alter von 8-12 Jahren. Die Hefte enthalten Unterrichtsmaterialien, Spiele, Sprachvergleiche und Hörbeispiele und werden ergänzt durch Vorschläge für Sprachenworkshops und Sprachenfeste sowie Tipps zum gelungenen Umgang mit Mehrsprachigkeit (http://www.oesz.at/OESZNEU/main_01.php?page=0151&open=13&o pen2=33). Viele Unterrichtsvorschläge aus Schweizer Perspektive bietet auch die Neuauflage des Handbuchs „Sprachenvielfalt als Chance“ von Basil Schader (Schader 2012). Hierin führt Schader „entdeckende, handlungs- und kommunikationsorientierte“ Lernanlässe für den Einsatz vom Kindergarten bis zur 10. Klasse (ebd., S. 9) auf.
In diesem Beitrag wurden Konzepte und Möglichkeiten aufgezeigt, wie die sprachliche und kulturelle Diversität der Schülerschaft im Deutschunterricht adressiert werden kann und welche positiven Auswirkungen diese Methoden mit sich bringen können. Das selbstständige Arbeiten der Schüler/innen und das eigene Entdecken von Ähnlichkeiten oder Unterschieden zwischen den Sprachen bietet einen profunden Nährboden für die weitere sprachliche Entwicklung der Kinder und Jugendlichen und sensibilisiert darüber hinaus die Lehrkräfte für mögliche Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, anderen Sprachen punktuell, aber regelmäßig einen Platz im Unterricht einzuräumen. Das sprachlich und kulturell kontrastive Arbeiten ist nicht ausschließlich dem Deutschunterricht vorbehalten, nur bietet eben dieser Raum für Themen der allgemeinen Sprachdidaktik, die sich mit Phänomenen verschiedener Einzelsprachen und sprachübergreifenden Themen beschäftigt (Oomen-Welke 2011, S. 68). Der Austausch zwischen den Lehrpersonen der gleichen oder unterschiedlicher Disziplinen ist dabei ebenso wichtig wie der aktive Einbezug der Schüler/innen und in gewissem Maße auch der Eltern. Literatur
Dirim, İnci; Eder, Ulrike & Springsits, Birgit (2014): Subjektivierungskritischer Umgang mit Literatur in migrationsbedingt multilingual-multikulturellen Klassen der Sekundarstufe. In: Ira Gawlitzek & Bettina KümmerlingMeibauer (Hg.): Mehrsprachigkeit und Kinderliteratur. Stuttgart: Filibach bei Klett, S. 121-142. – Fürstenau, Sara & Gomolla, Mechtild (2011): Einführung. In: dies. (Hg.): Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 13-23. – Gogolin, Ingrid (2008): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule, 2., unveränd. Aufl. Münster: Waxmann. – Krifka, Michael; Błaszczak, Joanna; Leßmöllmann, Annette; Meinunger, André; Stiebels, Barbara; Tracy, Rosemarie & Truckenbrodt, Hubert (Hg.) (2014): Das mehrsprachige Klassenzimmer. Über die Muttersprachen unserer Schüler. Wiesbaden: VS-Verlag. – Luchtenberg, Sigrid (2010): Language Awareness. In: Bernt Ahrenholz & Ingelore Oomen-Welke (Hg.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider Verlag, S. 107-117. – Lüth, Monika (2008): Deutschunterricht in mehrsprachigen Klassen. In: Christiane Bainski & Marianne Krüger-Potratz (Hg.): Handbuch Sprachförderung. Essen: Neue Deutsche Schule Verlag, S. 80-85. – Oomen-Welke, Ingelore (2008): Deutschunterricht in der multikulturellen Gesellschaft. In: Michael Kämper-van den Boogaart (Hg.): Deutsch Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen, S. 72-85. – Oomen-Welke, Ingelore (2010a): Sprachliches Lernen im mehrsprachigen Klassenzimmer. In: Volker Frederking; Hans-Werner Huneke; Axel Krommer & Christel Meier (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Hohengehren: Schneider Verlag, S. 409-426. – Oomen-Welke, Ingelore (2010b): Didaktik der Sprachenvielfalt. In: Bernt Ahrenholz & Ingelore Oomen-Welke (Hg.): Deutsch als Zweitsprache. Hohengehren: Schneider Verlag, S. 479-492. – Oomen-Welke, Ingelore (2011): Sprachen vergleichen auf eigenen Wegen: Der Beitrag des Deutschunterrichts. In: Björn Rothstein (Hg.): Sprachvergleich in der Schule. Hohengehren: Schneider Verlag, S. 49-70.
Unterricht in Deutsch als Zweitsprache
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– Riehl, Claudia Maria (2014): Mehrsprachigkeit. Eine Einführung. Darmstadt: WBG. – Rösch, Heidi (2009): Mehrsprachigkeit in der Kinderliteratur. In: Patrick Nauwerck (Hg.): Kultur der Mehrsprachigkeit in Schule und Kindergarten. Festschrift für Ingelore Oomen-Welke. Freiburg i. Br.: Fillibach, S. 231-247. – Rösch, Heidi (2014): Mehrsprachige Kinderliteratur im Literaturunterricht. In: Ira Gawlitzek & Bettina Kümmerling-Meibauer (Hg.): Mehrsprachigkeit und Kinderliteratur. Stuttgart: Fillibach bei Klett, S. 143-168. – Rothstein, Björn (2011): Deutschunterricht und Qualifikation in der Herkunftssprache. In: Björn Rothstein (Hg.): Sprachvergleich in der Schule. Baltmannsweiler: Schneider Verlag, S. 9-26. – Schader, Basil (2012): Sprachenvielfalt als Chance. Das Handbuch. Hintergründe und 101 praktische Vorschläge für den Unterricht in mehrsprachigen Klassen. Zürich: Orell Füssli. – Scharfenberg, Manuela (2008): Koordinierte Alphabetisierung (KOALA) in der Grundschule. In: Christiane Bainski & Marianne Krüger-Potratz (Hg.): Handbuch Sprachförderung. Essen: Neue Deutsche Schule Verlag, S. 41-57.
90 Unterricht in Deutsch als Zweitsprache İnci Dirim
Dieser Artikel gibt Einblicke in das interdisziplinäre Arbeitsgebiet Deutsch als Zweitsprache (DaZ), das sich in den vergangenen Jahren als Aufgabenbereich der pädagogischen Praxis, Bildungsadministration und Aus- und Fortbildung von Lehrkräften etabliert hat. Hierbei werden Forschungsergebnisse aus unterschiedlichen Fachdisziplinen im Hinblick auf ihre Bedeutung für DaZ in der Bildungsinstitution Schule vorgestellt und Quellen für die weitere Vertiefung in den jeweiligen Gegenstand angegeben. Eigene wissenschaftliche Sichtweisen der Autorin fließen in die Darstellungen mit ein. Im Folgenden werden zunächst einige Bedeutungen des Begriffs DaZ und didaktisch relevante spracherwerbstheoretische Grundlagen dargestellt, danach wird ein Überblick über aktuelle didaktische Perspektiven gegeben und schließlich wird die Konzeptionalisierung der Ausbildung von Lehrkräften thematisiert. Als Beispiel für ein Ausbildungskonzept dient Deutsch als Zweitsprache an der Universität Wien.
1 Begriffliches Mit dem Begriff Deutsch als Zweitsprache wird sowohl ein persönlicher Zugang zur Aneignung des Deutschen bezeichnet als auch ein didaktisch-methodischer Zugang zur sprachpädagogischen Unterstützung von Schüler/innen, die sich Deutsch als Zweitsprache aneignen. Das Konzept Deutsch als Zweitsprache entwickelte sich mit dieser Doppelbedeutung in Abgrenzung zum Konzept Deutsch als Fremdsprache (DaF) und wird auch in Abgrenzung zu Deutsch als Muttersprache (DaM) eingesetzt. Unter DaF wird vor allem die Aneignung des Deutschen in einer nicht deutschsprachigen Umgebung verstanden, z.B. das Erlernen des Deutschen im Fremdsprachenunterricht an einer (Sprach-)Schule in Portugal. Hierbei handelt es sich um eine weitgehend
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gesteuerte Sprachaneignung (= Lernen) und die gesteuerte Vermittlung des Deutschen mit einem entsprechenden didaktischen Konzept. Unter DaZ wird auf der einen Seite die weitgehend ungesteuerte Aneignung des Deutschen (= Erwerb) in verschiedenen Lebenskontexten in den amtlich deutschsprachigen Regionen verstanden. Eine solche ungesteuerte Form der Aneignung findet auch in den verschiedensten Schulstunden statt, wenn nicht systematisch berücksichtigt wird, dass Schüler/innen, die den Unterricht besuchen, DaZ erwerben. Diese Schüler/innen begegnen der doppelten Herausforderung, sich das Deutsche aneignen zu müssen, während sie zugleich am deutschsprachigen Regelunterricht teilnehmen. Unter DaZ wird auch eine gesteuerte Unterstützung dieses Spracherwerbs verstanden (= DaZ-Förderung, DaZ-Unterricht). Die Abgrenzung zwischen DaF und DaZ ist nicht immer trennscharf. In jedem Fall kann festgehalten werden, dass für Schüler/innen, die in einer amtlich deutschsprachigen Region DaZ erwerben, das Deutsche sowohl eine Unterrichtssprache darstellt als auch eine Sprache, in der sie Teile des Alltags gestalten – kurzum: eine Sozialisations- und Subjektivationssprache ist. Der Begriff Subjektivationssprache, der die Konstruktion des Subjekts in gesellschaftlichen Machtverhältnissen betont, wird hier gebraucht, da davon auszugehen ist, dass Schüler/innen bei der Aneignung von DaZ in besonderem Maße gehalten sind, komplexe Adressierungen in deutscher Sprache annehmen zu müssen, solange es ihnen nicht (er)möglich(t) wird, sich mit Zuschreibungen und Adressierungen in ihren anderen Sprachen interaktiv auseinander zu setzen. Zu den didaktischen Zugängen zum Deutschen gehört auch Deutsch als Muttersprache (DaM). Allerdings ist die Eignung von DaM als wissenschaftlicher Begriff u.a. deshalb umstritten, weil Kinder sich Sprache nicht nur von der Mutter aneignen und weil der Begriff nahelegt, dass die Aufgabe der Sprachvermittlung vornehmlich der Mutter zukommt. Ein Ersatz des Begriffs Deutsch als Muttersprache durch Deutsch als Erstsprache verweist auf die Reihenfolge des Erwerbs zweier Sprachen. Weder DaM noch ‚DaE‘ sind allerdings immer von DaZ trennscharf abgrenzbar, da Sprachaneignungsprozesse in Migrationsgesellschaften komplex sind. Viele Schüler/innen, die als DaZ erwerbende Kinder gelten, durchlaufen den parallelen Spracherwerb in Deutsch und einer anderen bzw. mehreren anderen Sprachen als Deutsch.
2 Spracherwerbstheoretische Grundlagen Im Fachdiskurs besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass eine Sprache als Zweitsprache gilt, wenn deren Aneignung nach dem Erwerb der Grundstrukturen der Erstsprache im dritten (bzw. auch vierten) Lebensjahr beginnt. Die Bezugnahme auf diese Altersgrenze geht auf Spracherwerbsstudien zurück (s. Überblick in Niebuhr-Siebert & Baake 2014). Allerdings ist davon auszugehen, dass viele Kinder, die als DaZ erwerbende Schüler/innen angesehen werden, schon vor dem dritten bzw. vierten Lebensjahr dem Deutschen begegnen, zum Beispiel wenn ältere Geschwister, die bereits die Schule besuchen, das Deutsche in die Familie einbringen, das von den jüngeren Geschwistern mindestens passiv aufgenommen wird. Zutreffender wäre es daher bei diesen Kindern von einem multilingualen Erstspracherwerb auszugehen, in den Elemente verschiedener Sprachen einfließen. Einen Zweitspracherwerb, der dem genannten Kriterium des Beginns des Spracherwerbs entspricht, kann man im Grunde fast nur sogenannten Seiteneinsteiger/innen ‚attestieren‘, also Schüler/innen, die in den Jahren nach dem Einschulungsalter in die amtlich deutschsprachigen Staaten einwandern und in das Bildungssystem z.B. im zwölften Lebensjahr aufgenommen werden. Das heißt jedoch nicht, dass die Kinder, die vor dem dritten Lebensjahr das Deutsche als nicht-dominante Sprache aufnehmen, bei Eintritt in die Bildungsinstitutionen über die Deutschkompetenzen verfügen, die dort von ihnen erwartet werden. Daraus lässt sich schließen, dass der Faktor ‚Alter‘ nur bedingt aussagekräftig ist. Dieser Faktor
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Unterricht in Deutsch als Zweitsprache
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ist insofern wichtig, als davon ausgegangen wird, dass, je jünger die Kinder zu Beginn ihres Zweitspracherwerbs sind, dieser strukturell eher dem des Erstspracherwerbs ähnelt (vgl. a.a.O.). In der Fachliteratur werden unterschiedliche Einflussfaktoren auf den Zweitspracherwerb genannt, von denen die Folgenden die wichtigsten zu sein scheinen (vgl. Niebuhr-Siebert & Baake 2014, S. 54f, Jeuk 2010, S. 37f ): • Zeitpunkt des Beginns des Kontakts mit der Zweitsprache (= Alter) • Dauer des Kontakts zur Zweitsprache • Menge des Inputs in der Zweitsprache • Qualität des Inputs in der Zweitsprache • Qualität der Sprachförderung. Diese Einflussfaktoren auf den Zweitspracherwerb liegen mehr oder weniger quer zu verschiedenen Spracherwerbshypothesen, mit denen aus einer eher linguistischen Perspektive – unabhängig von sozialen und pädagogischen Rahmenbedingungen – versucht wird, den Verlauf bilingualer Sprachaneignungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Ein umfassender Überblick, der den Nutzen dieser Hypothesen für die Sprachvermittlung in der Schule reflektiert, findet sich bei Jeuk (2010) und Niebuhr-Siebert & Baake (2014). Gemein ist den bestehenden Hypothesen, dass sie Sprachen mehr oder weniger als strikt voneinander getrennt verwendete und erworbene Einheiten auffassen. Diese Betrachtungsweise bildet einen Gegensatz zu den Ergebnissen soziolinguistischer Untersuchungen, die zeigen, dass Sprachen in Migrationskontexten in vielfältigen Formen miteinander kombiniert verwendet werden (vgl. Busch 2013). Es wurde bereits mehrfach kritisiert, dass durch Begriffe wie Bilingualität der Eindruck eines additiven Nebeneinanders von Einzelsprachen die Vorstellung der ‚Zählbarkeit‘ von Sprachen verstärkt werde. Daher wird der Begriff Sprachigkeit anstelle von Mehrsprachigkeit vorgeschlagen (Busch 2013). Die Kontexte, in denen Kinder Sprache(n) erwerben, sind von vielfältigen Sprachkontaktphänomenen und migrationsgesellschaftlichem Sprachwandel gekennzeichnet. Es stellt sich daher u.a. die Frage, ob es zutreffend ist, wenn diese Repertoires auf eine Nationalsprache reduziert werden, die dann Schüler/innen als Erstsprache zugeschrieben wird. Im Kontext von DaZ muss stattdessen stets von migrationsbedingt vielgestaltigen Erstsprachen ausgegangen werden, die in einem Spannungsverhältnis mit der schulisch-monolingualen Zweitsprache Deutsch stehen.
3 DaZ-Didaktik 3.1 Welches Deutsch? Bei der Unterstützung von Kindern und Jugendlichen in der Aneignung der Zielsprache Deutsch ist es vor allem bei Seiteneinsteiger/innen sinnvoll, sich an einer breiten Modellierung der Zielsprache Deutsch zu orientieren. Diese sollte sowohl alltagssprachliche als auch bildungssprachliche Mittel umfassen, um die sprachliche Handlungsfähigkeit im Deutschen nicht nur im Unterricht, sondern in möglichst vielen Lebensbereichen zu ermöglichen. Untersuchungen zeigen zudem, dass in Umgebungen, in denen Dialekte des Deutschen verwendet werden, diese in die ungesteuerte Sprachaneignung des Deutschen als Zweitsprache in verschiedener Weise einfließen (Ender et al. 2007). Alltagssprache kann also nicht nur als standardnahe Umgangssprache gedacht werden, weshalb es ggf. sinnvoll erscheint, in die Sprachförderung dialektale Mittel systematisch einzubeziehen (vgl. a.a.O.). Dabei ist eine besondere Aufmerksamkeit für Sprache als soziales Differenzmerkmal, über das gesellschaftliche Zugehörigkeiten verhandelt werden, notwendig. Forschungsergebnisse zeigen beispielsweise, dass die ‚Nutzung‘ eines Di-
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3.2 Sprachförderung oder sprachliche Bildung?
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alekts eher solchen Personen zugestanden wird, die als native speaker gelten und sogenannte ‚Migrant/innen‘ vor dem Problem stehen, gruppenspezifisch markiertes Deutsch verstehen zu müssen, es aber nicht in jedem Fall sprechen zu ‚dürfen‘ (vgl. Knappik & Dirim 2013). Eine stärkere Konzentration auf die schulische Bildungssprache Deutsch ist im Falle der Förderung von Schüler/innen, die sehr früh mit dem Deutscherwerb begonnen haben, möglich. Bei diesen Schüler/innen kann davon ausgegangen werden, dass alltagssprachliche Register des Deutschen bereits erworben wurden und diesbezüglich weniger Unterstützung benötigt wird. Alltagssprachliche Mittel und gruppenspezifische Markierungen von Sprache(n) werden dabei eher als Ausgangsbasis für die Entwicklung bildungssprachlicher Kompetenzen im Deutschen und im Sinne sprachlicher Bildung betrachtet, jedoch nicht neu erarbeitet (vgl. Gogolin & Lange 2010).
Die Begriffe sprachliche Bildung und Sprachförderung werden häufig synonym verwendet, verweisen jedoch auf unterschiedliche sprachpädagogische Konzepte. Sprachliche Bildung ist u.a. mit dem Konzept der „Durchgängigen Sprachbildung“ (s. Gogolin & Lange 2010) realisierbar. Das Konzept der „Durchgängigen Sprachbildung“ ist an alle Schüler/innen gerichtet und versteht sich nicht im engeren Sinne als Sprachförderkonzept. Sprachliche Bildung ist zweifellos auch für Schüler/innen, die DaZ erwerben, sinnvoll – der Übergang zwischen Konzepten der Sprachförderung und der sprachlichen Bildung ist fließend. Im Folgenden findet jedoch eine Konzentration auf Sprachförderung statt. Unter Sprachförderung sind pädagogische Angebote zu verstehen, deren Ziel es ist, unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Spracherwerbsforschung die Aneignung einer Sprache, im Sinne des vorliegenden Artikels der deutschen Sprache, unterstützend zu begleiten. 3.3 Modellierung der Zielsprache Deutsch Als Grundlage für die Erstellung von Förderkonzepten werden Sprachmodelle herangezogen, die Sprache und sprachliches Handeln in einzelne Bereiche einteilen, die dazu genutzt werden können, Förderziele zu definieren und Förderung zu gestalten. Im Bereich DaZ konkurrieren vor allem die folgenden Modelle miteinander: a) Der europäische Referenzrahmen für Sprachen (GERS 2001) b) Die vier Fertigkeiten Hörverstehen, Sprechen, Leseverstehen und Schreiben (vgl. Jeuk 2010, S.114f ) c) Die sprachlichen Qualifikationsbereiche nach Ehlich (Ehlich 2007) Die Modelle (a) und (b) wurden aus dem DaF-Unterricht übernommen; der GERS ist mit seinen Niveaustufen A-C weltweit bekannt. Allerdings folgen die Niveaustufen des GERS in ihrem Aufbau nicht den Ergebnissen der Spracherwerbsforschung, sondern sind handlungsorientiert festgesetzte Lernziele für den Fremdsprachenunterricht, die mit den vier Fertigkeiten (b) verzahnt sind. Diese Tatsache macht den GERS für eine Begleitung von Schüler/innen in den Erwerbsreihenfolgen des ungesteuerten DaZ-Erwerbs weitgehend ungeeignet. Die (c) sprachlichen Qualifikationsbereiche nach Ehlich und Ergebnisse der Spracherwerbsforschung DaZ sind in dem „Referenzrahmen zur altersspezifischen Sprachaneignung“ (BMBF 2008) dargestellt und stellen eine wichtige Grundlage für Förderkonzeptionen dar, da der DaZ-Erwerb bestimmten Regelmäßigkeiten folgt (a.a.O.).
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Mit Sprachfördermodellen, die sich an den vier sprachlichen Fertigkeiten orientieren, wurden bereits vielfältige Erfahrungen gesammelt. Allerdings muss sorgfältig abgewogen werden, welche Fertigkeit jeweils sinnvollerweise für Übungen heranzuziehen ist. Zum Beispiel erscheint es wenig sinnvoll, mit Schüler/innen, die bereits am deutschsprachigen Unterricht teilnehmen, in sprachlaborähnlichen Settings exzessive Hörübungen durchzuführen. Allerdings gibt es immer besondere Lernbedürfnisse, auch in diesem Bereich, die zu berücksichtigen sind (vgl. NiebuhrSiebert & Baake 2014, S. 170f ). Als sehr bedeutsam hat sich die Fertigkeit ‚Leseverstehen‘ erwiesen, die mit verschiedenen Förderprogrammen aufgebaut wird. Das Modell (c) ist die derzeit am stärksten favorisierte Grundlage für die Erstellung von Förderkonzeptionen, bei der die (Ziel-)Sprache Deutsch in sprachliche Qualifikationsbereiche wie ‚semantische Qualifikationen‘ oder ‚morphosyntaktische Qualifikationen‘, eingeteilt wird, mit denen sprachliches Handeln unter Bezugnahme auf die Spracherwerbsforschung aufgebaut werden kann. 3.4 Organisationsformen und Methoden der DaZ-Förderung
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Unterricht in Deutsch als Zweitsprache
Prinzipiell werden bei der DaZ-Förderung das Lehrgangsprinzip und die Lernbegleitung unterschieden, die beide bestimmte Vor- und Nachteile haben, die von Rösch ausführlich diskutiert werden (Rösch 2010). Das Lehrgangsprinzip eignet sich vor allem für Seiteneinsteiger/innen, die einen umfassenden und gezielten Aufbau deutscher Sprachkompetenz benötigen. Der DaZUnterricht als Lehrgangsprinzip sollte idealerweise parallel zum Regelunterricht stattfinden und sich auf die Sprache der verschiedenen Fächer beziehen (= ‚fachsensibler Sprachunterricht‘). Für die Gestaltung dieser ‚additiven‘ Deutschförderung sind viele methodische Zugriffe entwickelt worden, z.B. die ‚Lernszenarien‘ von Hölscher, bei denen sprachliche Mittel von einzelnen Handlungsbereichen ausgehend erarbeitet werden (vgl. dazu und zum allg. Überblick Jeuk 2010, S. 125f ). Rösch sieht einen der Vorteile des Lehrgangsprinzips darin, dass die Lernbedürfnisse der Schüler/innen ohne Konkurrenz mit Schüler/innen ohne Förderbedarf und in den Unterrichtsinhalten berücksichtigt werden können. Im Rahmen der Lernbegleitung DaZ ist es eingeschränkter möglich, die Sprachaneignung des Deutschen als Zweitsprache systematisch voranzutreiben. Vorteilhaft ist im Falle einer solchen ‚integrativen‘ DaZ-Förderung, dass die Sprache Deutsch den Schüler/innen nicht losgelöst von den Fachinhalten begegnet, sondern mit den relevanten Fachgegenständen verwoben ist. Im Fachunterricht ist es möglich, den Schüler/ innen die Fach- und Bildungssprache mit Methoden der Textentlastung und des Scaffolding zugänglich zu machen. Zahlreiche weitere Methoden zur Sprachförderung DaZ werden in den Einführungen von Jeuk (a.a.O.) und Niebuhr-Siebert & Baake (2014, S. 205f ) dargestellt. 3.5 Sprachstandsdiagnostik Um Schüler/innen in der Aneignung der Zielsprache Deutsch passgenau fördern zu können, sie nicht zu überfordern und zugleich anzuregen, den nächsten Erwerbsschritt anzugehen, ist es notwendig, mit Hilfe von Sprachstandsdiagnosen an dem erreichten Spracherwerbstand anzuknüpfen (vgl. Gogolin & Lange 2010). Hierfür stehen unterschiedliche Diagnoseverfahren zur Verfügung, die kriterienbasiert ausgewählt werden (zum Überblick s. Jeuk 2010, S. 77f ). Für den schulischen Bereich sind vor allem Verfahren zu empfehlen, die in die Alltagspraxis von Lehrkräften integrierbar sind und Förderentscheidungen ermöglichen.
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Einbezug der Erstsprachen Die Erstsprachen von Schüler/innen, die sich Deutsch als Zweitsprache aneignen, sind Ressourcen für die sprachenvergleichende Entwicklung eines Sprachbewusstseins. Nicht zu vergessen ist jedoch, dass diese Funktion auch andere Zweit- und Fremdsprachen, die sich Schüler/innen aneignen konnten, erfüllen können. Häufig haben Lehrkräfte den Wunsch, die Erstsprachen der Schüler/innen in die DaZ-Förderung einzubeziehen, finden jedoch kaum hierfür ausgearbeitete Methoden und Modelle vor. Ein Überblick über den Forschungsstand zum sehr komplexen Verhältnis zwischen Erst- und Zweitsprache und zu Überlegungen des Einbezugs der Erstsprachen in die DaZ-Förderung findet sich bei Jeuk (2010, S. 42f ).
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4 Ausbildung von Lehrkräften In den letzten Jahren ist die Bedeutung der Ausbildung von Studierenden aller Lehramtsfächer im Bereich DaZ immer stärker ins Bewusstsein gerückt. Aus diesem Grund wurden in einigen Bundesländern Deutschlands, z.B. in Nordrhein-Westfalen, an den Universitäten ‚DaZPflichtmodule‘ eingeführt. Eine wichtige Frage stellt dabei die Gestaltung dieser Studienmodule dar. Im Forschungsprojekt DaZKom der Universität Bielefeld und der Leuphana Universität Lüneburg wird auf empirischer Basis am Beispiel des Mathematikunterrichts ein Strukturmodell für die Diagnose- und Förderkompetenz von (angehenden) Lehrkräften im Bereich DaZ entwickelt, das eine Orientierungsmöglichkeit für die Entwicklung von DaZ-Studienangeboten bieten kann (Köker et al. 2014). Das Wiener Ausbildungsmodell für die DaZ-Bestandteile von Lehramtsstudiengängen verknüpft Fachgegenstände im engeren Sinne mit einem bestimmten wissenschaftstheoretischen Zugang. Dieses soll es den Studierenden ermöglichen, ein (macht-)reflexives Selbstverständnis als DaZ-(Förder-)Lehrkraft zu entwickeln, aufgrund dessen sie Förderentscheidungen so treffen, dass mit den Konzepten DaZ und DaM einhergehende symbolische Hierarchisierungen von Subjekten reduziert werden. Das Arbeitsgebiet Deutsch als Zweitsprache befasst sich nach diesem Fachverständnis mit der Frage, wie die aus der (amtssprachlichen) Dominanz des Deutschen erwachsenden Nachteile für migrationsresultierend zwei- und mehrsprachige Kinder, Jugendliche und Erwachsene reduziert werden können. Dabei werden unterschiedliche Lebens-, Bildungsund Arbeitsbereiche in den Blick genommen und Modelle der Unterstützung der Aneignung des Deutschen werden erarbeitet. Ziel ist es, zur Gleichstellung von Menschen, die sich Deutsch als eine Zweitsprache aneignen, mit solchen, die Deutsch als Erstsprache sprechen, beizutragen. Da Sprache nie losgelöst von politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen betrachtet werden kann und faktisch sowie symbolisch für die Regulierung von Zugehörigkeiten benutzt wird, kommen machtreflexive wissenschaftliche Perspektiven – wie etwa rassismuskritische – zum Einsatz, die diese Verknüpfungen zu verstehen ermöglichen.
5 Schlussbemerkung DaZ ist Bestandteil der Untersuchungs- und Lehrinhalte von Hochschuleinrichtungen, die zur Interkulturellen Pädagogik arbeiten. Zugleich ist streng genommen der Zusammenhang zwischen Kultur bzw. Interkultur und DaZ eher nebulös. Aus einer migrationspädagogischen Perspektive (Mecheril et al. 2010) heraus wird daher vorgeschlagen, DaZ nicht nur als pädagogisch-didaktischen Zugang in den Blick zu nehmen, sondern auch als migrationsgesellschaftlich-kulturelles Differenzmerkmal. So könnte über die Etablierung instrumenteller Herangehensweisen hinaus eruiert werden, inwiefern mit der Verwendung von DaZ als Begriff und Fach(teil)disziplin gesellschaftliche Wir- und Nicht-Wir-Bilder reproduziert werden, die der symbolischen Unterord-
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nung von als ‚DaZ-SchülerIn‘ adressierten Subjekten beitragen. Diese selbstreflexive Analyse wurde bereits in Angriff genommen (vgl. Oomen-Welke & Dirim 2014, S. 12) und fand Eingang in das hier vorgestellte an der Universität Wien vertretene Fachverständnis von Deutsch als Zweitsprache.
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Literatur
BMBF (Hg.) (2008): Referenzrahmen zur altersspezifischen Sprachaneignung. Bildungsforschung Band 29/II. Berlin: BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung), Online verfügbar unter http://www.bmbf.de/ pub/bildungsforschung_bd_neunundzwanzig_zwei.pdf [21.01.2015]. – Busch, Brigitta (2013): Mehrsprachigkeit. Tübingen: facultas. – Ehlich, Konrad (2007): Sprachaneignung und deren Feststellung bei Kindern mit und ohne Migrationshintergrund - was man weiß, was man braucht, was man erwarten kann. In: Konrad Ehlich (Hg.) Anforderungen an Verfahren der regelmäßigen Sprachstandsfeststellung als Grundlage für die frühe und individuelle Förderung von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund, Bd. 11. Berlin: BMBF, S. 11-75. Online verfügbar unter http://www.bmbf.de/pub/bildungsreform_band_elf.pdf [21.01.2015]. – Ender, Andrea; Li, Wei & Straßl, Katharina (2007): Das Projekt „Deutsch als Zweitsprache in Dialektumgebung“. In: Linguistik online 32 (3), S. 25-36. Online verfügbar unter http://www.linguistik-online.com/32_07/enderEtAl.html [21.01.2015]. – GERS - Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen (2001): lernen, lehren, beurteilen. München: Langenscheidt. Online verfügbar unter http://www.europaeischer-referenzrahmen.de/ [21.01.2015]. – Gogolin, Ingrid & Lange, Imke (2010): Durchgängige Sprachbildung. Eine Handreichung. Münster: Waxmann. – Jeuk, Stefan (2010): Deutsch als Zweitsprache in der Schule. Grundlagen - Diagnose - Förderung. Stuttgart: Kohlhammer. – Köker, Anne; Rosenbrock, Sonja; Ohm, Udo; Carlson, Sonja; Ehmke, Timo; Hammer, Svenja; Koch-Priewe, Barbara & Schulze, Nina (im Druck): DaZKom – Ein Modell von Lehrerkompetenz im Bereich Deutsch als Zweitsprache. In: Barbara Koch-Priewe; Anne Köker; Jürgen Seifried & Eveline Wuttke (Hg.): Kompetenzen von Lehramtsstudierenden und angehenden Erzieher/innen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. –Knappik, Magdalena & Dirim, İnci (2013): „Native Speakerism“ in der Lehrerbildung. In: Journal für LehrerInnenbildung 13 (3), S. 20-23. – Mecheril, Paul; Castro-Varela, Maria do Mar; Dirim, İnci; Kalpaka, Annita & Melter, Claus (2010): Migrationspädagogik. Beltz: Weinheim. – Niebuhr-Siebert, Sandra & Baake, Heike (2014): Kinder mit Deutsch als Zweitsprache in der Grundschule. Stuttgart: Kohlhammer. – Oomen-Welke, Ingelore & Dirim, İnci (2013): Mehrsprachigkeit in der Klasse – wahrnehmen, aufgreifen, fördern. Einleitung zu diesem Band. In: Ingelore Oomen-Welke & İnci Dirim (Hg.): Mehrsprachigkeit in der Klasse – wahrnehmen, aufgreifen, fördern. Stuttgart: Fillibach bei Klett, S. 7-21. – Rösch, Heidi (2010): Sprachförderkurs DaZ oder Lernbegleitung? In: Bernt Ahrenholz & Ingelore OomenWelke (Hg.): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider, S. 457-466.
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Im Kontext des Lehrens und Lernens fremder Sprachen hat die Benutzung des Beiworts interkulturell eine lange Tradition – aber sie ist keineswegs unumstritten. Weit verbreitet ist die Auffassung, dass jedes fremdsprachliche Lernen per se als interkulturelles Lernen zu verstehen sei. Je nach Standpunkt kann diese Auffassung dazu veranlassen, den Begriff des Interkulturellen für alles zu reklamieren, was nicht die Vermittlung der linguistischen, also etwa grammatischen
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Dimension von Sprache im engsten Sinne betrifft (siehe z.B. Bleyhl 1994). So wird es als unvermeidlich angesehen, dass durch die Kontextualisierung der fremdsprachlichen Redemittel ihre Funktion als Ausdruck kultureller Traditionen mitvermittelt werde. Daher seien kulturelle Kenntnisse der eigentliche Ausweis für die Beherrschung der fremden Sprache – nicht das Verfügen über Redemittel allein. Auf derselben argumentativen Grundlage wird von anderen Autor/innen die Auffassung vertreten, dass das Beiwort interkulturell im Konnex mit fremdsprachlichem Lernen nicht verwendet werden solle, denn es handele sich um eine Tautologie (Edmonson & House 1998). In dieser Tradition der Begriffsverwendung wird interkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht als ein Teil des Bereichs Landeskunde verstanden. Kultur wird dabei als Nationalkultur aufgefasst, und als „Zielsprache“ des Unterrichts fungiert die Sprache des Landes, dem diese Sprache ursprünglich oder hauptsächlich zugerechnet wird. Hierneben hat sich eine Betrachtungsweise etabliert, in deren Zentrum eher die Funktionalität der Sprachverwendung steht. Hier liegt ein dynamischer, nicht mit einer staatlichen Herkunft verknüpfter Kulturbegriff zugrunde, und das Augenmerk beim Lehren und Lernen richtet sich auf Prozesse der Verständigung oder der Aushandlung von Bedeutungen. Die Grundzüge beider Perspektiven und Beispiele für ihre Anwendung werden im Folgenden vorgestellt. Ausdrücklich hingewiesen sei darauf, dass der folgende Beitrag sich nur auf die sog. lebenden (oder „modernen“, „neuen“) Fremdsprachen bezieht, die etwa seit Mitte des 18. Jahrhunderts Einzug in das Schulwesen und die Universitäten halten. Die sog. klassischen Sprachen Latein, Griechisch, Hebräisch, deren Kenntnis historisch als Ausweis für Bildung überhaupt gilt, sind in der folgenden Darstellung nicht mit angesprochen.
1 Landeskunde als Kontext interkulturellen Lernens im Fremdsprachenunterricht Die landeskundliche Variante des interkulturellen Lernens im Fremdsprachenunterricht knüpft daran an, dass die Akzeptanz dieses Unterrichts mit der Herausbildung der Nationalstaaten in Europa und der damit verbundenen wachsenden Bedeutung von Nationalsprachen verbunden ist und der Bedeutung der Sprachen der benachbarten Staaten für den Handel und die wirtschaftlichen Beziehungen. Daher wurden sie zunehmend in den höheren Lehranstalten unterrichtet, zunächst neben den klassischen Sprachen (Christ & Rang 1985). Die unterrichtete Sprache war in dieser Sicht sozusagen die ‚sprachliche Vertretung’ der Nation und der als ihr zugehörig definierten Kultur. Die Konzeption einer eindeutigen Beziehung zwischen Nation, Sprache und Kultur gehörte zu den Grundfesten der Nationalstaatengründung in jener Epoche (Hobsbawm 1991). Damit zugleich sind die „eigene“ und die „fremde“ Sprache und Kultur als klar voneinander abgegrenzte Gegensätze konstruiert worden; die Grundlage für das Lernen über die ‚fremde’ Sprache und Kultur wurde aus der Darstellung der Gegensätze gewonnen. Interkulturelles fremdsprachliches Lernen im landeskundlichen Verständnis steht in dieser Tradition. Implizit oder explizit wird hier eine „Übersetzung“ von Sprache in Nationalsprache, von Kultur in Nationalkultur vollzogen (vgl. z.B. Buttjes 1995). Kulturelles Wissen – in der Form von Wissen über die Traditionen und kulturellen Manifestationen des Staates, dem die Vertretung der Zielsprache zugerechnet wird –, wird in dieser Perspektive im Zuge der Kontextualisierung von sprachlichen Mitteln im engeren Sinne mit gelehrt und gelernt. Die Erschließung dieses Wissens erfolgt über das Vergleichen zwischen „eigenkulturellen“ und „fremdkulturellen“ Inhalten.
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Fremdsprachenunterricht
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Eine Variante dieser landeskundlichen Tradition findet sich unter den erwähnten Kritikern der Verwendung von interkulturell im Kontext des fremdsprachlichen Lernens. Um einer trennscharfen Bestimmung des Gegenstandsfeldes von Fremdsprachenunterricht und seiner Abgrenzung von anderen kulturbezogenen Unterrichtsbereichen willen, so wird hier argumentiert, könne der Transport kultureller Inhalte im Fremdsprachenunterricht nur insoweit in Frage kommen, wie dies unmittelbar dem Lernen der anderen Sprache zugutekäme. Spezifisch für den Fremdsprachenunterricht sei es daher, interkulturelle Missverständnisse und ihre sprachliche Lösung zum Thema zu machen. Dies erlaube den Lernenden den Transfer von „kulturellen“ auf konkrete sprachliche Anforderungen (Edmondson 1994). Auch hier ist die Tendenz zur dinglichen Auffassung und einem dichotomen Verständnis von „eigener“ und „fremder“ Kultur erkennbar, denn das ist Kern des „Missverständnisses“, das es zu klären gilt. In diesem Fall wird jedoch der Fokus auf die sprachlichen Mittel gelegt, die die „Klärung“ transportieren. In den jüngeren landeskundlichen Ansätzen wird die nationalstaatsgebundene Perspektive grundsätzlich kritisiert. Verwiesen wird dabei einerseits auf die innere Differenziertheit von Staatsgesellschaften; andererseits darauf, dass de facto keine unterrichtete Fremdsprache tatsächlich an einen einzigen Staat gebunden ist (Genetsch und Hallet 2010). Daher könne die „Zielkultur“ nicht im Verständnis einer monolithischen, eindeutig auszulegenden Größe vermittelt werden, sondern es müsse die innere Unterschiedlichkeit des Sprachgebrauchs in die Vergleiche einbezogen werden. Vorschläge zu dieser Perspektive sind überwiegend in praxisorientierten Publikationen zu finden. Leitend ist vielfach ein Situationsbezug – z.B. auf Ausdruckformen von Höflichkeit in verschiedenen Regionen oder Konstellationen (Hempel 2016). Eine zweite häufig zu findende Näherung stellt regionale Besonderheiten in den Mittelpunkt (Seidler 2016). Die praxisorientierten Vorschläge werden in der Regel theoretisch oder normativ begründet; empirische Untersuchungen zu ihren Grundlagen oder Effekten sind jedoch noch die Ausnahme (Schweiger et al. 2015).
2 Sprachliche Diversität als Kontext interkulturellen Lernens im Fremdsprachenunterricht Von den bisher vorgestellten Ansätzen sind stärker prozessorientierte Ansätze des interkulturellen fremdsprachlichen Lernens zu unterscheiden. Im Hintergrund dieser Entwicklungen steht die Beobachtung, dass im schulischen Fremdsprachenunterricht vielfach Kinder oder Jugendliche mit höchst unterschiedlichen sprachlich-kulturellen Vorerfahrungen sitzen. Die Annahme, man könne eine Dichotomie zwischen eigen und fremd zur Grundlage von Sprachvermittlungsprozessen machen, sei daher obsolet (Blyth 1995; Hu 1999). Es gehe vielmehr darum, Differenz erfahrungen als solche und ihre stets nur graduelle Gültigkeit explizit zu machen. Dies schließt Näherungsweisen an die fremde(n) Sprache(n) ein, die nicht allein Unterschiede, sondern auch Ähnlichkeiten in den Formen, den Gebrauchsweisen oder in den mitschwingenden Bedeutungen zum Ausgangspunkt nehmen bzw. zum Ergebnis haben. Die Befassung mit verschiedenen kulturellen Traditionen oder Weltansichten nimmt in diesen Ansätzen ihre dingliche, manifeste Ausdrucksform – etwa ein literarisches Werk aus einer anderen Sprache – zwar zum Anlass für die Initiierung von Lernprozessen, sieht aber im Wissen über ‚das Fremde’ oder in seiner Kontextualisierung nicht das erstrebenswerte Lernziel und schon gar nicht in der Kontrastierung mit dem ‚Eigenen’ als einzig relevanten Bezugspunkt. Die Ziele werden vielmehr mit dem Prozess der Auseinandersetzung selbst verbunden; neben der Aneignung des sprachlichen Materials im engeren Sinne ist intendiert, die Aneignung sprachreflexiven und metasprachlichen Wissens und Könnens anzubahnen und für weitere Sprachlernprozesse zu nutzen (vgl. List 1997).
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Konkretisiert wird diese Perspektive interkulturellen fremdsprachlichen Lernens beispielsweise im Kontext von Ansätzen, die sich mit der Funktion von Texten im Unterricht befassen. Dabei stehen literarische Texte zwar im Vordergrund, aber es werden auch andere Text- und Diskursbereiche berücksichtigt (vgl. Bredella & Delanoy 1999). Eine andere Näherungsweise speist sich aus ethnographischen Methoden: Im fremdsprachlichen Unterricht werden die Schüler angeleitet, Spracherfahrungen mit Bezug auf eine fremdsprachliche Umgebung zu machen – entweder direkt in dieser Umgebung oder mit Hilfe von Simulationen, beispielsweise Interviews, im Klassenzimmer (z.B. Byram 1999). Dabei soll durchaus die Erfahrung von Ähnlichkeit jenseits der Benutzung verschiedener Sprachen oder des Lebens in verschiedenen Regionen thematisiert werden, etwa im Kontext von Freizeiterfahrungen von Kindern und Jugendlichen. Es wird also nicht postuliert, dass mit Sprachverschiedenheit per se eine Differenzerfahrung einhergehe, sondern es geht um Versuche, Differenzerfahrungen genau zu ergründen und in ihren Funktionsweisen und Folgen zu durchschauen. Sprachliches Leitbild für fremdsprachlichen Unterricht nach diesen Vorstellungen ist nicht der „ideale muttersprachliche Sprecher“ der Zielsprache, denn auch in dieser Hinsicht soll die tatsächliche Differenziertheit der Lage berücksichtigt werden. Der Maßstab, anhand dessen die Entscheidung über das im Unterricht vermittelte sprachliche Material getroffen und an dem die erreichte sprachliche Kompetenz gemessen wird, kann demnach nicht allein an einer Standardvariante entwickelt werden. Als angemessenes fremdsprachliches Handeln gilt vielmehr Flexibilität gegenüber unterschiedlichen Varianten, mindestens auf der Ebene des Verstehens, aber im gelungenen Fall auch auf der Ebene des aktiven Verfügens über entsprechend variantenreiche sprachliche Mittel (vgl. Kramsch 1998). Dies bedeute nicht den Abschied von korrekten Ausdrucksweisen, aber Korrektheit bemesse sich nicht allein am grammatischen oder orthographischen Regelwerk für eine Sprache und der ‚standardgemäßen’ Aussprache, sondern auch an situativen Faktoren. Diese Ansätze interkulturellen Fremdsprachenunterrichts verorten sich selbst in den Kontext einer grundlegenden Revision des Verständnisses von sprachlicher Bildung überhaupt (Byram & Hu 2009). Ausgangspunkt für diese Entwicklungen ist die Beobachtung wachsender sprachlichkultureller Verschiedenheit innerhalb von Schulklassen bzw. Lerngruppen (Gogolin et al. 1998). Berücksichtigt werden die Konsequenzen für den fremdsprachlichen Unterricht, in dem das neue sprachliche Können und Wissen, das vermittelt werden soll, auf die unterschiedlichen sprachlichen Vorerfahrungen der Lernenden trifft: von Kindern, die in einer Sprache aufwachsen, bis zu denen, deren Familien in zwei oder mehr Sprachen leben; von Kindern, die (fast) nur in der Schule mit der neuen Sprache zu tun haben, bis zu solchen, die bereits Alltagserfahrung damit besitzen – sei es dadurch, dass sie auf Reisen die Praxis in anderen Sprachen erlebt haben, sei es durch ihren Medienkonsum oder sei es, weil sie in Umgebungen leben, in denen eine Vielzahl von Formen gelebter Mehrsprachigkeit vorzufinden ist. Die Berücksichtigung dieser Ausgangslage einerseits, und andererseits die Frage, wie Zielvorstellungen für sprachliches Lernen aussehen müssten, in denen die wachsende sprachliche Diversität innerhalb von Gesellschaften berücksichtigt ist, haben die Entwicklung von Gesamtkonzepten für sprachliches Lernen angeregt, die intendieren, dass die Beziehungen zwischen den verschiedenen unterrichteten und lebensweltlich vorhandenen Sprachen genauer geklärt werden. Eingeschlossen in die Überlegungen ist der Unterricht der gemeinsamen Verkehrssprache, in Deutschland also des Deutschen. Angeregt wird eine quasi arbeitsteilige Mitwirkung jedes Einzelsprachunterrichts an einer sprachlichen Bildung, die insgesamt die Zielperspektive verfolgt, dass die Lernenden ein mehrsprachiges Selbstverständnis entwickeln (Christ 1998).
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Fremdsprachenunterricht
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Entsprechende Konzepte (fremd-)sprachlicher Bildung werden unter dem Stichwort „Gesamtsprachencurriculum“ vorgestellt und diskutiert (Hufeisen und Lütjeharms 2005). In Einklang zu bringen sind nach diesen Vorstellungen die Vermittlung von unmittelbar verwertbaren Fertigkeiten und Kenntnissen aus möglichst mehreren Einzelsprachen und die Anleitung zum Erwerb allgemeiner, grundlegender sprachlicher Fähigkeiten, die helfen, kommunikative Aufgaben unter den Bedingungen von kultureller und sprachlicher Vielfalt erfolgreich zu erfüllen. Hiermit sind insbesondere metasprachliche Mittel und sprachreflexive Kompetenzen gemeint, die sich bei mehrsprachig lebenden Personen quasi naturwüchsig zu entwickeln scheinen und diese in die Lage versetzen, produktiv mit sprachlicher Diversität umzugehen. Die Fähigkeiten zu übersetzen und zwischen Sprachen zu übertragen, gehören ebenso dazu wie Bewusstheit darüber, dass Konsens über Situationsdeutungen nicht selbstverständlich ist, sondern stets hergestellt werden muss. Sinn- und situationsgemäße Möglichkeiten des Wechsels zwischen Sprachen oder Varianten sind darin ebenso einbegriffen wie Strategien, sich über Verständigung zu vergewissern oder sich im anderen Fall die Mittel anzueignen, die die Verständigung doch noch erlauben. Fremdsprachliches Lernen nach diesem Verständnis soll die Aneignung von Mitteln der jeweiligen Einzelsprache mit einer eigenwertigen Ausbildung sprachenübergreifender Fähigkeiten in Einklang bringen. Interkulturelles Lernen wird damit zur Dimension des sprachlichen Lernens überhaupt, nicht nur des fremdsprachlichen Lernens. Literatur
Bleyhl, Werner (1994): Das Lernen von Fremdsprachen ist interkulturelles Lernen. In: Karl-Richard Bausch; Herbert Christ & Hans-Jürgen Krumm (Hg.): Interkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht. Arbeitspapiere der 14. Konferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Gunter Narr Verlag, S. 9-20. – Blyth, C. (1995): Redefining the Boundaries of Language Use: The Foreign Language Classroom as a Multilingual Speech Community. In: Claire J. Kramsch (Hg.): Redefining the Boundaries of Language Study. Boston: Heine & Heine, S. 145-183. – Bredella, Lothar & Delanoy, Werner (Hg.) (1999): Interkultureller Fremdsprachenunterricht. Tübingen. – Buttjes, Dieter (1995): Landeskunde-Didaktik und landeskundliches Curriculum. In: Karl-Richard Bausch; Herbert Christ & Hans-Jürgen Krumm (Hg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Francke, S. 142156. – Byram, Michael (1999): Acquiring Intercultural Communicative Competence: Fieldwork and Experimantal Learning. In: Lothar Bredella & Werner Delanoy (Hg.): Interkultureller Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Gunter Narr Verlag, S. 358-380. – Byram, Michael & Hu, Adelheid (Hg.) (2009): Interkulturelle Kompetenz und fremdsprachliches Lernen. Modelle, Empirie, Evaluation. Tübingen: Gunter Narr Verlag. – Christ, Herbert & Rang, Hans-Joachim (Hg.) (1985): Fremdsprachenunterricht unter staatlicher Verwaltung 1700-1945. Tübingen: Gunter Narr Verlag. – Christ, Herbert (1998): Bildungspolitik für Mehrsprachigkeit. In: Ingrid Gogolin; Sabine Graap & Günther List (Hg.): Über Mehrsprachigkeit. Tübingen: Stauffenberg, S. 337-360. – Edmondson, Willis (1994): Was trägt das Adjektiv „interkulturell“ zu unserem Verständnis vom Lernen im Fremdsprachenunterricht bei? In: Karl-Richard Bausch; Herbert Christ & Hans-Jürgen Krumm (Hg.): Interkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Gunter Narr Verlag, S. 48-55. – Genetsch, Martin & Hallet, Wolfgang (2010): Kulturen repräsentieren, Texte kontextualisieren. In: Der fremdsprachliche Unterricht. Englisch 44 (104), S. 10-15. – Gogolin, Ingrid; Graap, Sabine & List, Günther (Hg.) (1998): Über Mehrsprachigkeit. Tübingen: Gunter Narr Verlag. – Hempel, Stephanie (2016): Communicating rules. Wer macht wann und was, und vor allem: wie vermitteln wir das? In: Praxis Englisch 10 (5), S. 15-19. – Hobsbawm, Eric J. (1991): Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt a.M.: Campus. – Hu, Adelheid (1999): Identität und Fremdsprachenunterricht in Migrationsgesellschaften. In: Lothar Bredella & Werner Delanoy (Hg.): Interkultureller Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Gunter Narr Verlag, S. 209-239. – Hufeisen, Britta & Lütjeharms, Madeline (Hg.) (2005): Gesamtsprachencurriculum, Integrierte Sprachendidaktik, Common Curriculum. Theoretische Überlegungen und Beispiele der Umsetzung (Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik). Tübingen: Gunter Narr Verlag. – Kramsch, C. (1998): The priviledge of the Intercultural Speaker. In: Michael Byram & Michael Fleming (Hg.): Language Learning in Intercultural Perspectives. Approaches through Drama and Ethnography. Cambridge: University Press, S. 16-31. – List, Günther (1997): Beweggründe zur Mehrsprachigkeit: Der psychische Prozess ist das Produkt. In: Michael Wendt & Wolfgang Zydatiß (Hg.): Fremdsprachliches Handeln im Spannungsfeld von Prozess und Inhalt. Fremdsprachliches Handeln im Spannungsfeld von Prozess und Inhalt. Bochum: Brockmeyer, S. 35-48. – Schwei-
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ger, Hannes; Hägi, Sara & Döll, Marion (2015): Landeskundliche und (kultur-)reflexive Konzepte. Impulse für die Praxis. In: Fremdsprache Deutsch (52), S. 3-10. – Seidler, Thomas (2016): „Kallisté - une beauté fragile“. Korsika erleben im Französischunterricht der Sekundarstufen I und II. In: französisch heute 47 (2), S. 34-39
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92 Politische Bildung Sven Oleschko
1 Zur Etablierung eines Unterrichtsfaches bzw. Lernbereiches Politische Bildung in Deutschland Politische Bildung wurde in der Bundesrepublik Deutschland erst nach 1945 zum selbstständigen Unterrichtsfach. Zuvor war die politische Bildungsaufgabe ein Teil des Geschichtsunterrichts (vgl. Sander 2014a, S. 16). Heute wird Politische Bildung in allen Bundesländern unter verschiedenen Bezeichnungen als eigenständiges Unterrichtsfach mit fachbezogener Lehrerausbildung unterrichtet. Politik-, Sozialwissenschafts-, Sozialkunde-, Weltkunde-, Gemeinschaftskunde-, Gesellschaftslehreunterricht oder auch Politik/Gesellschaft/Wirtschaft stellen Bezeichnungen für eigenständige Unterrichtsfächer dar, in denen Politische Bildung angeboten wird oder in einen Fächerverbund mit unterschiedlichen gesellschaftswissenschaftlichen Bezugsdisziplinen integriert ist. Diese plurale Struktur von Fachbezeichnungen und unterschiedlichem Lehrdeputat der Fächer geht auf einen Beschluss der Konferenz der Kultusminister der Länder aus dem Jahr 1950 zurück, welcher den Bundesländern die Benennung des Faches freistellte (vgl. Pohl 2014, S. 187). In den 1970er Jahren wurde ein integrativer Lernbereich aus unterschiedlichen Gesellschaftswissenschaften diskutiert. In den Jahrzehnten danach ist diese Idee nicht wieder aufgegriffen, sondern stärker in die Etablierung einzelner Bezugsdisziplinen als Unterrichtsfach (Geographie, Geschichte, Politische Bildung, Wirtschaft) gemündet. Seit einiger Zeit ist vor allem im nicht-gymnasialen Bereich erkennbar, dass das Interesse an einem Integrationsfach aller Gebiete der Gesellschaftswissenschaften wieder zunimmt (vgl. Sander 2014b, S. 196). Es gilt aber auch weiterhin, dass die Bezeichnungen der Unterrichtsfächer und Lernbereiche nicht nur zwischen den Bundesländern variieren, sondern auch innerhalb eines Bundeslandes zwischen verschiedenen Schulformen (vgl. Lutter 2014, S. 129). Auch wird Politische Bildung häufiger als jedes andere Unterrichtsfach fachfremd erteilt (Zurstrassen 2013, S. 35). Das Fach besitzt also eine eher randständige Stellung in der Schule (vgl. Lutter 2014, S. 130). Politische Bildung, in welcher Fachintegration sie auch unterrichtet wird, ist ein Unterrichtsfach, welches Interkulturelle Bildung als explizit ausgewiesenen Lerngegenstand aufgreifen kann, denn durch die sozialwissenschaftliche Perspektive ist es Kern ihres Aufgabenfelds, Fragen und Probleme des sozialen Zusammenlebens in den Teilsystemen Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Recht in den Blick zu nehmen (vgl. Hedtke 2014, S. 49). Sozialwissenschaftliches Wissen
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soll dazu dienen, eine bessere Beschreibung, ein besseres Verstehen und eine bessere Bearbeitung bestimmter Probleme der Ordnung und Organisation des menschlichen Zusammenlebens zu ermöglichen.
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2 Konzeptionen: Diskussionsstand Interkulturelle Bildung kann innerhalb der Politischen Bildung als konstitutiv angesehen werden, da ihre Aufmerksamkeit auf soziale Phänomene und damit auf gesellschaftliches Zusammenleben gerichtet ist. Die verschiedenen Unterrichtsbezeichnungen illustrieren die interdisziplinäre Verfasstheit und damit auch die unterschiedlichen Perspektiven, die bei einer Betrachtung von Lerngegenständen und Inhaltsfeldern eingenommen werden können. Einige Autor/innen betonen vor allem die soziologischen Betrachtungsweisen, die eine Reflexion über Gesellschaft ermöglichen. Dabei wird herausgestellt, dass Politische Bildung nur denkbar sei, wenn begriffen werde, dass die Gesellschaft durch ihre Mitglieder geformt wird und wandelbar ist (vgl. Klee 2014, S. 42). Andere Autor/innen sehen die Umsetzung des politisch bildenden Aspekts des interkulturellen Lernens in der Sekundarstufe durch folgende Themen abgebildet: Migration und deren Folge für Aufnahme- und Herkunftsländer; ökonomische, soziale und politische Situation der Migranten; Nation; Kritik von Nationalismus und Rassismus; Kernprobleme der kulturell heterogenen Gesellschaft wie die Spannung zwischen grundlegender Anerkennung der Gleichheit aller Kulturen und der Setzung gesellschaftlicher Normen (vgl. Detjen 2007, S. 260). Eine Variante dieser Position ist die Operationalisierung von Leitbegriffen (wie Diversität der Lebenswelten oder Bilder von Fremden u.a.; vgl. Holzbrecher 2014, S. 351). Auf einer anderen Abstraktionsebene liegen Vorschläge zu Mindeststandards für die Sekundarstufe I in den Fachkonzepten zu Politik (Weißeno et al. 2010, S. 193). Dabei werden drei Basiskonzepte als konstitutiv eingeführt: Ordnung, Entscheidung und Gemeinwohl. Zu diesen werden zentrale Konzepte mit konstituierenden Begriffen dargestellt. Im Basiskonzept „Ordnung“ lässt sich das Fachkonzept „Sozialstaat“ finden, welches als konstituierenden Begriff „Migration“ aufführt; im Fachkonzept „Staat“ finden sich die Begriffe „Staatsbürgerschaft“ und „Staatsvolk“. Das Basiskonzept „Entscheidung“ eröffnet im Fachkonzept „Interessengruppen“ die konstituierenden Begriffe Einzel-, Gruppen- und Gemeinschaftsinteresse. „Diskriminierungsverbot“ gehört zum Fachkonzept „Gleichheit“ im Basiskonzept „Gemeinwohl“, zu welchem auch das Fachkonzept „Gerechtigkeit“ mit dem Begriff „Solidarität“ zu finden ist. Diese Basis- und Fachkonzepte mit konstituierenden Begriffen grenzen Lerngegenstände in der Politischen Bildung ein und schaffen so eine systematische Grundlage für die Auseinandersetzung mit Fach- und Basiskonzepten.
3 Forschungsstand Die empirische Forschung gewinnt in der Politikdidaktik zunehmend an Bedeutung (Fischer & Lange 2014, S. 90). Dabei etablierten sich primär qualitative Studien seit den 1990er Jahren. Eine systematische (quantitative) Forschungsaufnahme ist seit dem Jahr 2007 erkennbar (Weißeno 2014, S. 104). Selbstkritisch wird darauf verwiesen, dass die Fachdidaktiken aufgefordert seien, ihre dominierende normative Orientierung zu hinterfragen und selbst Daten zu erheben, die die Überprüfung bestehender Standpunkte erlauben. Solcherart systematische Forschung in größeren Projekten oder Verbünden ist allerdings in der politikdidaktischen Gemeinschaft bislang kaum zu finden. Es gibt auch nur wenige Arbeiten, die einen expliziten Bezug zur Interkulturellen Bildung erkennen lassen. Daher werden nachfolgend ausgewählte empirische Studien
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Sven Oleschko
vorgestellt, welche eine Nähe zum Bereich der Interkulturellen Bildung erkennen lassen oder die Diversität der Lehrenden und Lernenden im Bereich der Politischen Bildung in den Blick nehmen. Lutter (2011, S. 233) hat in einer Studie Aspekte einer migrationspolitischen Bildung am Beispiel von Zuwanderung und Integration didaktisch rekonstruiert. Dabei hat er Schülervorstellungen und wissenschaftliche Vorstellungen über Integration von Zuwanderern und Minderheiten miteinander verglichen. In seiner qualitativen Rekonstruktion kommt er zu dem Ergebnis, dass die Lernenden kohärente Vorstellungen über verschiedene Facetten der Thematik aufgebaut haben und Aspekte der Integration im Lebensalltag der Lernenden relevant seien. Darüber hinaus zeigt er die didaktische Relevanz des migrationspolitischen Lernfeldes auf und spricht sich für eine stärkere Analyse und Nutzung der lebensweltlichen Erfahrung der Lernenden aus. – In dem Projekt „Warum werde ich eigentlich Sowi-Lehrer?“ hat Szukala (2014) die subjektive Sinngebung von Lehramtsstudierenden hinsichtlich der Übernahme der Lehrerrolle in der Politischen Bildung exploriert. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die professionelle Identitätsbildung von Studierenden mit Migrationsgeschichte in hohen Maße von Diskriminierungserfahrungen und schwieriger politischer Identitätsbildung beeinflusst sei (vgl. ebd., S. 50). In den Studien „Politisches Wissen von Schülerinnen/Schülern POWIS“ wird untersucht, ob es Unterschiede im politischen Wissen zwischen Lernenden mit und ohne Migrationshintergrund gibt. Weißeno (2014, S. 105) fasst zusammen, dass ein Migrationshintergrund, aber auch ein geringes kulturelles Kapital des Elternhauses zu geringeren Testleistungen führe. Er weist daraufhin, dass der Politikunterricht es aktuell nicht schaffe, eine Bildungsbenachteiligung auszugleichen. In konsequenter Vermittlung und schüler- wie lehrerseitiger Nutzung der Fachsprache sieht er eine Möglichkeit, die erkannte Benachteiligung zu mindern (vgl. ebd., S. 106). In einer Untersuchung zur Fachsprache in Schulbüchern (Weißeno 2013) kommt der Autor zu der Einsicht, dass die spezifischen Ausdrucksweisen der Politik in der Schulzeit gelernt werden müssen, damit politisches Tagesgeschehen auf einem angemessenen Niveau verstanden werden kann. Daher solle der Politikunterricht den Erwerb einer Political Literacy fördern. Auch Oleschko (2014) weist auf die besondere Bedeutung von Sprache für gesellschaftswissenschaftliche Unterrichtsfächer hin. In einer Studie zur Schreibfähigkeit von Lernenden konnte er zeigen, dass die Qualität von schriftlichen Textproduktionen sich zwischen Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge fünf, acht und zehn kaum unterscheidet. Dies lässt die Annahme zu, dass kein bedeutender Zuwachs in der fachspezifischen Schreibfähigkeit über die Sekundarstufe I hinweg erfolgt. Es muss konstatiert werden, dass für das Unterrichtsfach Politische Bildung insgesamt ein großes Entwicklungspotential an empirischer Forschung besteht, das auch den Aspekt der interkulturellen Bildung im Fach einschließt. Literatur
Detjen, Joachim (2007): Politische Bildung. München: Oldenbourg. – Fischer, Sebastian & Lange, Dirk (2014): Qualitative empirische Forschung zur politischen Bildung. In: Wolfgang Sander (Hg.): Handbuch Politische Bildung. Schwalbach: Wochenschau, S. 90-101. – Hedtke, Reinhild (2014): Fachwissenschaftliche Grundlagen politischer Bildung – Positionen und Kontroversen. In: Wolfgang Sander (Hg.): Handbuch Politische Bildung. Schwalbach: Wochenschau, S. 42-51. – Holzbrecher, Alfred (2014): Interkulturelles Lernen. In: Wolfgang Sander (Hg.): Handbuch Politische Bildung. Schwalbach: Wochenschau, S. 351-358. – Klee, Andreas (2014): Soziologie- und Politikunterricht. In: Carl Deichmann & Christian T. Tischner (Hg.): Handbuch Fächerübergreifender Unterricht in der politischen Bildung. Schwalbach: Wochenschau, S. 41-56. – Lutter, Andreas (2011): Integration im Bürgerbewusstsein von SchülerInnen. Wiesbaden: VS. – Lutter, Andreas (2014): Die Fächer der politischen Bildung in der Schule. In: Wolfgang Sander (Hg.): Handbuch Politische Bildung. Schwalbach: Wochenschau, S. 127-135. – Oleschko, Sven (2014): Lernaufgaben und Sprachfähigkeit bei heterarchischer Wissensstrukturierung. Zur Bedeutung der sprachlichen Merkmale von Lernaufgaben im gesellschaftswissenschaftlichen Lernprozess. In:
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Bernd Ralle; Susanne Prediger; Marcus Hammann & Martin Rothgangel (Hg.): Lernaufgaben entwickeln, bearbeiten und überprüfen – Ergebnisse und Perspektiven der fachdidaktischen Forschung. Münster: Waxmann. – Pohl, Kerstin (2014): Schulischer Fachunterricht. In: Wolfgang Sander (Hg.): Handbuch Politische Bildung. Schwalbach: Wochenschau, S. 186-193. – Sander, Wolfgang (2014a): Fächerübergreifende politische Bildung – Ansätze und Perspektiven. In: Carl Deichmann & Christian T. Tischner (Hg.): Handbuch Fächerübergreifender Unterricht in der politischen Bildung. Schwalbach: Wochenschau, S. 15-26. – Sander, Wolfgang (2014b): Politische Bildung im gesellschaftswissenschaftlichen Lernbereich und in Integrationsfächern. In: Wolfgang Sander (Hg.): Handbuch Politische Bildung. Schwalbach: Wochenschau, S. 194-202. – Szukala, Andrea (2014): Diversity und die Professionsnarrative junger Lehramtsstudierender: Andere Wege zur Rollenübernahme als politischer Bildner. In: Béatrice Ziegler (Hg.): Vorstellungen, Konzepte und Kompetenzen von Lehrpersonen der politischen Bildung. Zürich: Rüegger, S. 37-53. – Weißeno, Georg (2013): Fachsprache in Schulbüchern für Politik/Sozialkunde – eine empirische Studie. In: Peter Massing & Georg Weißeno (Hg.): Demokratischer Verfassungsstaat und Politische Bildung. Schwalbach: Wochenschau, S. 151-170. – Weißeno, Georg (2014): Quantitative empirische Forschung in der Politikdidaktik. In: Wolfgang Sander (Hg.): Handbuch Politische Bildung. Schwalbach: Wochenschau, S. 102-112. – Weißeno, Georg; Detjen, Joachim; Massing, Peter & Richter, Dagmar (2010): Konzepte der Politik – ein Kompetenzmodell. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. – Zurstrassen, Bettina (2013): Fachfremder Unterricht in den sozialwissenschaftlichen Unterrichtsfächern – zwischen bildungspolitischer Naivität und Fahrlässigkeit. In: Politisches Lernen Heft 3, S. 35-36.
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Geschichtsunterricht
93 Geschichtsunterricht Johannes Meyer-Hamme
Der Umgang mit Geschichte ist in hohem Maße kulturabhängig. So ist das, was erinnerungswürdig erscheint, in welchen Zusammenhängen und mit welchen Begriffen es erzählt wird und inwiefern Schlussfolgerungen für die Gegenwart gezogen werden, in Abhängigkeit von den Perspektiven sehr verschieden. Zudem bilden sich in der Kommunikation über Vergangenheit kulturell verschiedene Konventionen heraus, z.B. in Form von Begriffsdefinitionen und -konnotationen oder in Form unterschiedlicher Konzepte historischen Erzählens. Deshalb bietet „Geschichte“ große Chancen, aber auch Notwendigkeiten interkulturellen Lernens. Konzepte interkulturellen Geschichtslernens wurden als Reaktion auf die zunehmende Heterogenität der Schülerschaften und die sich veränderten Kommunikationen über Geschichte im Prozess der Globalisierung entwickelt und seit den 1990er Jahren geschichtsdidaktisch akzentuiert. Sie gehören inzwischen zu den weithin anerkannten Konzepten historischen Lernens. Diese Akzentuierungen richten sich gegen die traditionellen Konzepte von Geschichtsunterricht, in denen die Geschichte der eigenen Nation in den Mittelpunkt gestellt wird, um nationale Identitäten affirmativ zu stiften. Mit einem solchen Konzept von Geschichtsunterricht sollte die etablierte Nation weiter in die Zukunft verlängert werden. Historisch ist dieses Konzept damit zu erklären, dass der Geschichtsunterricht in den letzten 200 Jahren aufs Engste mit der Entstehung von Nationalstaaten verknüpft war, weil die Vor-
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Johannes Meyer-Hamme
1 Theorieansätze zum historischen Denken im interkulturellen Dialog
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stellung einer nationalen Gemeinschaft erst durch vielfach erfundene Traditionen in Form von historischen Narrationen etabliert wurde. Solche an der Nationalgeschichte ausgerichtete Konzepte von historischem Lernen und Geschichtsunterricht werden durchaus noch vertreten, auch explizit als Antwort auf aktuelle Herausforderungen in Gesellschaften, die sich durch Migrations- und Globalisierungsprozesse stark verändern. Demgegenüber gibt es mehrere Ansätze, wie Geschichtsunterricht unter den Bedingungen der migrationsbedingten Heterogenität der Lernenden, der zunehmenden Pluralisierungen der Geschichtskulturen in den Gesellschaften und einer globalisierten Kommunikation weiter zu entwickeln ist. Gemeinsam ist diesen Ansätzen das Ziel einer gegenseitigen Reflexion der kulturell differierenden historischen Erzählungen über Vergangenheiten und der darin enthaltenen Deutungsmuster und Normen zum Zwecke einer Perspektivenerweiterung.
Die theoretische Basis dafür bieten – in der deutschsprachigen Debatte – die Begriffe „Geschichtsbewusstsein“ und „historisches Denken“ als die zentralen Kategorien, mit denen der Umgang mit Vergangenheit und Geschichte analysiert und Bildungskonzepte konzipiert werden. Die geschichtstheoretische Begründung geht maßgeblich auf Jörn Rüsen zurück, der seinen Arbeiten ein narrativistisches Geschichtsverständnis zugrunde legt. Maßgeblich ist die Annahme, dass historisches Denken als Orientierung in der Zeit zutiefst im Alltag aller Menschen verwurzelt ist. In der Lebenswelt sich stellende historische Orientierungsfragen werden in Form von Erzählungen über Vergangenheit bearbeitet und zugleich enthalten diese Erzählungen Identitäts- und Sinnbildungsangebote für die Zukunft (Rüsen 2013, S. 209-215). Diese historischen Narrationen über Vergangenheit können sich deutlich unterscheiden, wenn sie auf Deutungsmuster, Begriffe und Konzepte zurückgreifen, die kulturell ganz unterschiedlich geprägt sind. Unter diesen Prämissen zielt Rüsens Konzept historischen Lernens im interkulturellen Dialog auf die gegenseitige Anerkennung historischer Orientierungen (Rüsen 1998). Damit bietet es ein normatives Gerüst für Konzepte interkulturellen Geschichtslernens. Umstritten ist die Frage, inwieweit mit den Überlegungen zum historischen Denken und zum Geschichtsbewusstsein eine allgemeine Theorie zum Umgang mit Geschichte vorgelegt wurde, mit der alle kulturell verschiedenen Umgangsweisen mit Vergangenheit und Geschichten analytisch erfasst werden können, wie Jörn Rüsen (1998, 2013) argumentiert, oder ob unter diesen Begriffen nicht nur die spezifisch westlichen Formen des Umgangs mit Geschichte gefasst werden sollten. So definiert z.B. Andreas Heuer das Geschichtsbewusstsein als spezifisch westlich-europäisches Konstrukt, das auf Kant, Hegel, Marx, Weber und andere zurückzuführen sei (Heuer 2011). Im Anschluss an Rüsen plädiert hingegen Andreas Körber (2005) dafür, einen interkulturell inklusiven Begriff historischen Denkens zu vertreten, weil nur mit einer allgemeinen Rahmentheorie die kulturell unterschiedlichen Verwendungen erkennbar werden. Unter dieser Prämisse ist historisches Denken im interkulturellen Dialog auch als Kompetenz zu formulieren, wobei auch unterschiedliche Niveaus definiert werden können (Körber & MeyerHamme 2008). Der Umgang mit kulturell differierenden Konstruktionen von Vergangenheit, wie er sich in Begriffen, Konzepten und ganzen Deutungsmustern zeigt, definiert das Niveau historischen Denkens. Zu den aktuellen Weiterführungen der Konzepte zum interkulturellen Geschichtslernen gehört der Ansatz, die Debattenbeiträge um interkulturelles Geschichtslernen einer rückblickenden Analyse zu unterziehen und zu fragen, welche Konzepte von Geschichte, Kultur und Identität implizit den einzelnen Ausführungen zugrunde liegen. So sucht eine rassismuskritische Ana-
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lyse nach Prozessen des „Otherings“ (Rosa Fava), indem die Zuschreibungen „der Anderen“ im geschichtsdidaktischen Diskurs untersucht werden. Darüber hinaus wird das interkulturelle Geschichtslernen mit anderen Differenzkategorien – etwa gender und/oder class – in Beziehung gesetzt (Lücke 2013). Historisches Lernen erscheint dann besonders relevant, wenn Ausschnitte aus der Vergangenheit nicht nur anhand von einer Differenzkategorie erfasst, sondern unter Berücksichtigung unterschiedlicher Kategorien vergleichend analysiert werden. Damit wird das Konzept des interkulturellen Lernens normativ erweitert und die Bedeutung nationaler Kategorien wird relativiert, auch wenn in den historischen Identitätskonstruktionen der Lernenden der nationalen Kategorie häufig eine größere Relevanz zugeschrieben wird als den anderen. Dies wird empirisch immer wieder deutlich. Schließlich ist die Herausforderung zu erkennen, dass Geschichte unter Einbeziehung außereuropäischer Perspektiven und postkolonialer Theorieangebote neu zu erzählen ist. Darauf geschichtsdidaktisch zu reagieren, steht aber noch weitgehend aus (Lundt 2012). Zugleich ist zu vermuten, dass im Kontext postkolonialer Theoriebildung produktive Weiterentwicklungen der Konzepte historischen Lernens zu erwarten sind. Erste Ansätze liegen dazu vor (Hinz & Meyer-Hamme 2016).
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Geschichtsunterricht
2 Empirische Forschung zu Geschichtsbewusstsein und historischem Lernen in der heterogenen Gesellschaft Nicht nur in der Theorieentwicklung, sondern auch im Bereich der empirischen Forschung gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Studien, welche die interkulturell verschiedenen Umgangsweisen mit Vergangenheit und Geschichte aufarbeiten. Prominent ist hier das Georg-EckertInstitut für internationale Schulbuchforschung (Braunschweig) zu nennen, an dem Schulbücher der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer interkulturell vergleichend untersucht und diskutiert werden. Schulbücher werden in diesem Kontext u.a. als nationale Selbstbeschreibungen verstanden, in denen den Lernenden historische Identitätsangebote unterbreitet werden. Im Fokus stehen nicht nur Schulbücher aus Krisenregionen, in denen vielfach verfeindete Staaten über Geschichtsunterricht die eigene Position zu festigen suchen, sondern beispielsweise auch die in den Büchern formulierten Antworten auf postkoloniale Konflikte in den Einwanderungsgesellschaften (so etwa in Frankreich). Hinzuweisen ist zudem auch auf die Untersuchungen zur Darstellung des Islam in deutschen Schulbüchern. Zudem gibt es auch Projekte, in denen im internationalen Diskurs gemeinsam neue Schulbücher entwickelt wurden, so u.a. ein israelischpalästinensisches oder deutsch-polnisches Schulbuch. Die Ergebnisse solcher internationaler Bildungsmedienforschungen sind in der Schriftenreihe „Eckert“ und im Journal of Educational Media, Memory, and Society breit dokumentiert. Darüber hinaus gibt es empirische Untersuchungen zum Umgang von Jugendlichen unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeiten mit Geschichte. So untersuchte Peter Seixas schon Anfang der 1990er Jahre das Passungsverhältnis zwischen historischen Inhalten, wie sie im Unterricht thematisiert werden und Geschichten, die in der Familie tradiert werden. Anhand von Fallbeispielen aus Kanada zeigte er empirisch eine große Bandbreite an Themen, die für die Jugendlichen lernrelevant waren, aber im Schulcurriculum nicht oder kaum auftauchten. Zudem erschienen aus der Perspektive der Jugendlichen die familiär tradierten Narrationen meist relevanter als die im Geschichtsunterricht thematisierten Geschichten. Seixas folgerte daraus, dass der Schwerpunkt historischen Lernens in einer heterogenen Gesellschaft auf der Reflexion der Prinzipien historischen Denkens liegen solle, damit auch die relevanten historischen Orientierungen, die vielfach außerhalb der Schule erworben würden, methodengeleitet reflektiert werden können (Seixas 1993).
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Johannes Meyer-Hamme
Wie unterschiedlich Jugendliche mit Migrationshintergrund sich zu geschichtskulturell dominanten Themen in Beziehung setzen, hat Viola Georgi (2003) ebenfalls empirisch gezeigt. Anhand der Auseinandersetzungen mit Nationalsozialismus und Holocaust hat sie vier Typen herausgearbeitet: In einem ersten Typus fokussieren die Jugendlichen die Opfer des Holocaust und leiten daraus die lebensweltlich-bedeutsamen Orientierungen ab, selbst Opfer rassistischer Gewalt geworden zu sein oder werden zu können. In einem anderen Typus, der insbesondere bei Jugendlichen aus bikulturellen Familien zu finden sei, fokussieren die Jugendlichen die Zuschauer, Mitläufer und Täter im Nationalsozialismus. Sie betonen, aus der Geschichte lernen zu wollen und verknüpfen vielfach diesen Umgang mit Geschichte mit dem Wunsch, zur Mehrheitsgesellschaft gehören zu können, so dass „Geschichte quasi als ‚Eintrittsbillet‘“ verstanden wird. Eine dritte Gruppe von Jugendlichen erzählt die Geschichte des Holocaust aus der Perspektive der „eigenen“ Gruppe, während eine vierte Gruppe von einer abstrakteren Menschheitsperspektive aus die Geschichte erzählt und keine Verbindungen zur eigenen ethnischen Zugehörigkeit herstellt. Der Zusammenhang zwischen solchen historischen Identitätskonstruktionen und Geschichtsunterricht steht in einer Untersuchung von Johannes Meyer-Hamme (2009) im Zentrum, wobei nicht nur Jugendliche mit Migrationshintergrund befragt wurden, so dass einerseits die Erfahrungen mit kulturell heterogenen historischen Orientierungen und Identitäten und andererseits der Zusammenhang zum Geschichtsunterricht in den Fokus gerückt wird. Deutlich wird die doppelte Heterogenität des Umgangs mit Geschichte in der Einwanderungsgesellschaft: einerseits sind je nach kultureller Zugehörigkeit spezifische historische Identitätskonstruktionen zu erkennen und andererseits große Unterschiede in den Kompetenzniveaus historischen Denkens. Historisches Lernen ist aus den Erzählungen der Jugendlichen dann rekonstruierbar, wenn sie eine lebensweltliche Bedeutung der historischen Orientierungen herstellen.
3 Unterrichtskonzepte zum interkulturellen Geschichtslernen Vorschläge zu einem veränderten Geschichtsunterricht unter den Bedingungen von Migration und Globalisierung sind seit den 1980er Jahren ausgearbeitet worden. Die Überlegungen von Rolf Schörcken (1980) zum „Geschichtsunterricht in einer kleiner werdenden Welt“ waren noch vor allem durch Globalisierungsprozesse beeinflusst und noch nicht durch heterogene historische Identitätskonstruktionen der Lernenden oder interkulturell aufgeladene geschichtskulturelle Debatten. Er plädierte dafür, durch die Thematisierung der außereuropäischen Geschichten das Fremdverstehen zu fördern, so dass Verständnis für außereuropäische Traditionen geweckt wird. Vorschläge, die nationalhistorischen Curricula aufzubrechen und um die Thematisierung außereuropäischer Geschichten (insb. Asien und Afrika) für Lehrer/innen und Schüler/innen aufzuarbeiten, sind ausgearbeitet worden. Die Forderung solcher thematischer Ausweitungen wird vielfach immer noch als nicht eingelöst angesehen; die Bemühungen, verstärkt globalhistorische Perspektiven im Geschichtsunterricht zu thematisieren, sind in dieser Tradition zu verstehen. Maßgeblich für die 1980er Jahre waren zudem die Analysen von Lehrplänen und Schulbüchern unter der Frage, inwiefern sie für zunehmend heterogene Gruppen geeignet seien (Göpfert 1985). Dabei wurde die Dominanz der nationalen und eurozentrischen Perspektiven des Geschichtsunterrichts massiv kritisiert, weil sie zu einem egozentrischen Nationalstolz führten. Diese Form von Geschichtsunterricht sei ungeeignet für Schüler/innen mit unterschiedlichen kulturellen Zugehörigkeiten. Stattdessen sei ein bikultureller Vergleich von Geschichten anzustreben, beispielsweise der Vergleich von deutscher und türkischer Geschichte. Aus Sicht des
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Geschichtsunterricht
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interkulturellen Geschichtslernens ist dieser Kritik zuzustimmen, wenngleich solche Ausführungen zu Konzepten historischen Lernens noch stark von ausländerpädagogischen Vorstellungen geprägt sind und ihnen ein statischer Kulturbegriff zugrunde liegt. Die erste systematische Abhandlung zum interkulturellen Geschichtslernen unter Berücksichtigung eines dynamischen Kulturbegriffs hat Bettina Alavi (1998) vorgelegt, wobei auch ihr Ausgangspunkt die migrationsbedingte Heterogenität der Schüler/innen war. Sie hat u.a. eine interkulturelle Akzentuierung der geschichtsdidaktischen Kategorien „Identität“, „Geschichtsbewusstsein“, „Fremdverstehen“ und „Multiperspektivität“ sowie einige Unterrichtsvorschläge zum interkulturellen Geschichtslernen ausgearbeitet. Zur weiteren Differenzierung schlägt Bodo von Borries (2000) vor, vier mögliche Handlungskonzepte zum Umgang mit kultureller Heterogenität beim Geschichtslernen zu unterscheiden, die aber durchaus unterschiedlichen politischen Zielen dienen: a) „Nationalgeschichte als Eintrittsbillet“, zielt darauf, durch ein Grundgerüst an deutscher Nationalgeschichte eine gesellschaftliche Legitimationsbasis bereitzustellen, wobei nicht mehr von einem interkulturellen Geschichtslernen gesprochen werden kann. b) „Menschenrechtsgeschichte als Zivilreligion“, bietet mit den Menschen- und Bürgerrechten eine alternative Legitimationsbasis, die in diesem Konzept im Geschichtsunterricht historisiert werden soll. Allerdings stehen diese beiden Ansätze einem pluralistischen Verständnis von Geschichtsunterricht entgegen, weil der Unterricht ein Wertesystem affirmativ vorgibt, anstatt es argumentativ zu verhandeln. c) „Nahweltgeschichte als Orientierungshilfe“ könnte an den Orientierungsfragen der Jugendlichen ansetzen, und diese historisieren. Dieser Ansatz lässt sich geschichtstheoretisch und geschichtsdidaktisch gut begründen, weil er strukturgleich zur Logik historischen Denkens ist. Zu bedenken ist allerdings, dass ein Geschichtsunterricht, der sich allein an diesem Handlungskonzept orientiert, einer deutlichen Fragmentierung ausgesetzt ist. d) „Mentalitätsgeschichte als Identitätserweiterung“ könnte zu einer Historisierung – und damit Verflüssigung – der Identitätskonzepte beitragen, allerdings stellt dieser Ansatz hohe kognitive, emotionale und moralische Anforderung an die Lernenden. Ergänzend dazu stellt von Borries sechs Themenkriterien zum interkulturellen Geschichtslernen vor, die nicht nur einem der von ihm unterschiedenen Handlungskonzepte folgen. Er unterscheidet „Kulturkontakt zwischen Bereicherung und Katastrophe“, „Fremdverstehen“, „Migration und Minderheiten“, vormoderne „multikulturelle Gesellschaften“, „Menschenrechte als unvollendeter Prozess“ und „Identitätsbildung und -wandel“. Andreas Körber (2001) zeigt mit seinem Modell historischen Lernens, dass sich diese Kategorien zwar für eine Reflexion der Themenzuschnitte eignen, aber keine Kategorien für eine Analyse von Prozessen interkulturellen Geschichtslernens bereitstellen. Körber unterscheidet drei Formen historischen Lernens: a) Interkulturalität in der Themenwahl (z.B. die Thematisierung von Kulturkontakten in der Geschichte), b) Interkulturalität im Material (die Verwendung multiperspektivischer Quellen und/oder kontroverser Darstellungen, so dass kulturelle verschiedene Perspektiven deutlich werden) und c) Interkulturalität im Lernprozess (interkulturelle Kommunikation innerhalb einer oder zwischen mehreren Lerngruppen). Offen erscheint heute die Frage, welchen Stellenwert interkulturelles Geschichtslernen im Unterrichtsalltag einnimmt und welche Bedeutung Lehrer/innen diesem Ansatz zuschreiben. Ebenso stellt sich die Frage, wie auf neue Herausforderungen in interkulturellen Konflikten und den zu Grunde liegenden widersprüchlichen historischen Narrationen reagiert werden kann. Literatur
Alavi, Bettina (1998): Geschichtsunterricht in der multiethnischen Gesellschaft: Eine fachdidaktische Studie zur Modifikation des Geschichtsunterrichts aufgrund migrationsbedingter Veränderungen. Frankfurt a.M.: IKO – Verl. für Interkulturelle Kommunikation. – Borries, Bodo von (2000): Zwischen „Wurzelsuche“ und „Verunsi-
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cherung“. Geschichtslernen für Mehrheiten und Minderheiten unter interkulturellen Bedingungen. In: Ulrich Nembach (Hg.): Informationes Theologiae Europae. Frankfurt a.M. (Internationales ökumenisches Jahrbuch für Theologie 9.), S. 199-222. – Georgi, Viola B. (2003): Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland. Hamburg: Hamburger Ed. – Göpfert, Hans (1985): Ausländerfeindlichkeit durch Unterricht. Konzeptionen und Alternativen für Geschichte, Sozialkunde und Religion, 1. Aufl. Düsseldorf: Schwann. (Geschichtsdidaktik: Studien, Materialien, 28). – Heuer, Andreas (2011): Geschichtsbewusstsein. Entstehung und Auflösung zentraler Annahmen westlichen Geschichtsdenkens. Schwalbach: Wochenschau-Verl. – Hinz, Felix & Meyer-Hamme, Johannes (2016): Geschichte lernen postkolonial? Schlussfolgerungen aus einer geschichtsdidaktischen Analyse postkolonial orientierter Unterrichtsmaterialien. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, S. 131-148. – Körber, Andreas (2001): Interkulturelles Lernen im Geschichtsunterricht – eine Einleitung. In: Andreas Körber (Hg.): Interkulturelles Geschichtslernen. Geschichtsunterricht unter den Bedingungen von Einwanderung und Globalisierung. Konzeptionelle Überlegungen und praktische Ansätze. Münster: Waxmann (Novemberakademie, Bd, 2), S. 5-25. – Körber, Andreas (2005): Geschichtsbewußtsein interkulturell – oder: Plädoyer für einen interkulturell inkludierenden Geschichtsbegriff. In: Carlos Kölbl & Jürgen Straub (Hg.): Handlung, Kultur, Interpretation. Zeitschrift für Sozial- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.: Humanities Online; Inst. f. Psychologie d. Univ. Erlangen-Nürnberg; Edition Diskord. (2), S. 212-227. – Körber, Andreas & Meyer-Hamme, Johannes (2008): Interkulturelle historische Kompetenz? Zum Verhältnis von Interkulturalität und Kompetenzorientierung beim Geschichtslernen. In: Jan Bauer; Johannes Meyer-Hamme & Andreas Körber (Hg.): Geschichtslernen – Innovationen und Reflexionen: Geschichtsdidaktik im Spannungsfeld von theoretischen Zuspitzungen, empirischen Erkundungen, normativen Überlegungen und pragmatischen Wendungen; Festschrift für Bodo von Borries zum 65. Geburtstag. Kenzingen: Centaurus-Verl, S. 307-334. – Lundt, Bea (2012): National-, Europäische, Weltgeschichte. In: Michele Barricelli & Martin Lücke (Hg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Schwalbach: Wochenschau-Verl., S. 405-421. – Lücke, Martin (2012): Diversität und Intersektionalität als Konzepte der Geschichtsdidaktik. In: Michele Barricelli & Martin Lücke (Hg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1. Schwalbach: Wochenschau-Verl., S. 136-146. – Meyer-Hamme, Johannes (2009): Historische Identitäten und Geschichtsunterricht. Fallstudien zum Verhältnis von kultureller Zugehörigkeit, schulischen Anforderungen und individueller Verarbeitung. Idstein: Schulz-Kirchner (Schriften zur Geschichtsdidaktik, 26). – Rüsen, Jörn (1998): Einleitung: Für eine interkulturelle Kommunikation in der Geschichte. Die Herausforderung des Ethnozentrismus in der Moderne und die Antwort der Kulturwissenschaften. In: Jörn Rüsen, Michael Gottlob & Achim Mittag (Hg.): Die Vielfalt der Kulturen, 1. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 12-36. – Rüsen, Jörn (2013): Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln: Böhlau. – Schörken, Rolf (1980): Geschichtsunterricht in einer kleiner werdenden Welt. Prolegomera zu einer Didaktik des Fremdverstehens. In: Hans Süssmuth (Hg.): Geschichtsdidaktische Positionen. Bestandsaufnahme und Neuorientierung. Paderborn: Schöningh (UTB-Taschenbücher, 954), S. 315-335. – Seixas, Peter (1993): Historical Unterstanding among Adolescents in a Multicultural Settting. In: Curriculum Inquiry 23, 1993 (3), S. 301-327.
Geographieunterricht
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94 Geographieunterricht Gabriele Schrüfer
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1 Entwicklung interkulturellen Lernens im Fach Geographie Interkulturelles Lernen fand Ende der 1980er Jahre Eingang in einige Geographielehrpläne und stößt seitdem im Geographieunterricht auf zunehmende Akzeptanz. Interkulturelles Lernen wurde zu Beginn als Lernen zwischen den Kulturen bzw. Lernen voneinander durch Einsichten in unterschiedliche Lebensformen mit dem Ziel eines friedlichen Zusammenlebens definiert (Schrüfer 1999). Der Kulturbegriff war dabei überwiegend nationalstaatlich, essentialistisch definiert, was sich auch im zu dieser Zeit dominierenden Kulturerdteilkonzept widerspiegelt. Durch dieses Konzept wurde die Welt für den Geographieunterricht in voneinander abgegrenzte Gebiete (sog. Kulturerdteile) mit jeweils einheitlicher und relativ statischer Kultur eingeteilt. Die kulturellen Verschiedenheiten wurden im Unterricht einerseits betont, gleichzeitig versuchte man aber, Gemeinsamkeiten zu finden, um in diesem Sinne die Toleranz zu fördern. Bestenfalls sollte die ‚fremde Kultur‘ als Bereicherung der eigenen Kultur erfahren und neue Einstellungen und Verhaltensweisen selektiv angeeignet werden. Zunächst ging es aber darum, ‚fremde Kulturen‘ kennenzulernen, zu verstehen und dadurch Vorurteile abzubauen und Toleranz aufzubringen. Methodisch wurden im Unterricht beispielsweise Tagesabläufe Jugendlicher aus fremden Ländern mit eigenen Tagesabläufen verglichen. Durch die Hervorhebung ähnlicher Interessen (z.B. Hobbies wie Fußballspielen) sollte vor allem Toleranz gefördert werden. Haubrich (1988) und Kroß (1992) haben das interkulturelle Lernen durch die internationale Erziehung ergänzt. Während sich interkulturelles Lernen um ein besseres Verständnis des Anderen innerhalb einer multikulturellen Gesellschaft bemüht, ist der Blick der internationalen Erziehung nach außen gerichtet und dementsprechend einem deutlich nationalstaatlichen Denken verhaftet. Die Autoren weisen darauf hin, dass zur internationalen Verständigung nicht nur die Kenntnis fremder Länder und Völker gehöre, sondern auch die Kenntnis ihrer Werteorientierung. Methodisch erfolgte dies beispielsweise durch den Vergleich nationaler Selbst- und Fremdbilder. In diesem Zusammenhang wies Kroß (1992) auf die Gefahren einer ungleichen Gewichtung der Lehrpläne zugunsten der Themen des Nahraums im Geographieunterricht hin. Er gab zu bedenken, dass diese exklusiv in einem Alter behandelt werden, das aus sozialpsychologischer Sicht für die Übernahme von Einstellungen und Vorurteilen prägend ist. Als Lösung schlug er für jede Jahrgangsstufe eine Vernetzung der Themen im Sinne globalen Lernens vor: Durch das Aufzeigen globaler Zusammenhänge soll die Distanz abgebaut werden. Schüler/innen sollen verstehen, dass eigenes Handeln Konsequenzen in fernen Ländern haben kann und umgekehrt. Auch durch dieses „Zusammenwachsen“ soll Verständigung und Toleranz wachsen. Wegen der nationalstaatlich fokussierten Kulturdefinition geriet dieses Konzept jedoch mehr und mehr in die Kritik. Um die Jahrtausendwende wurde schließlich der Begriff der interkulturellen Kompetenz betont, der die dauerhafte Fähigkeit beinhaltete, mit Angehörigen anderer Kulturen erfolgreich interagieren und Bewertungen auf Basis unterschiedlicher Werte und Normen vornehmen zu können (Thomas 1996). Gleichwohl wurde interkulturelle Kompetenz als Ergebnis erfolgreichen
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interkulturellen Lernens gesehen. Der inzwischen stark kritisierte essentialistische Kulturbegriff verschob sich hin zu einem konstruktivistischen Kulturbegriff. Kultur wurde vor allem als Ergebnis der Primärsozialisation gesehen bzw. als ein Orientierungssystem, das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln beeinflusst. Die Wahrnehmung des Anderen und vor allem die Fähigkeit, die eigene Wahrnehmung als sozialisationsbedingt zu verstehen, standen im Mittelpunkt. Zu interkultureller Kompetenz gehörte demnach auch die Erkenntnis, dass die Grundannahmen der eigenen Gesellschaft und Kultur nicht so fest und unverrückbar sind, wie sie aus einer kulturellen Innenperspektive erscheinen. Eines der Modelle, das in der Geographiedidaktik modifiziert wurde, ist das „Developmental Model of Intercultural Sensitivity“ (DMIS) nach Bennett (1993). Es beruht auf der Annahme einer kontinuierlichen Entwicklung immer komplexer werdender kognitiver Strukturen. Kulturelle Unterschiede, im Sinne unterschiedlicher Werte und Normen und unterschiedlichen Handelns, werden erkannt und eine ethnozentristische Orientierung wird von einer ethnorelativistischen Orientierung abgelöst. Dabei reicht es jedoch nicht aus, nur unterschiedliche Werte und gängige Verhaltensmuster zu kennen, sondern es bedarf eines Bewusstseins für den Einfluss der eigenen Kultur auf Denken und Handeln. Der bewusste Gebrauch von Empathie ist hierbei der Schlüssel zur Entwicklung interkultureller Kompetenz. Empathie hilft, Erfahrungen zu verstehen, die für die „eigene Kultur“ unpassend erscheinen (Bennett & Castiglioni 2004). Das Modell definiert „Kultur“ als eine Vielzahl gleicher Konstrukte (Verhalten, Werte, Normen, usw.) bei einer Gruppe von Menschen und integriert alle Formen von Unterschieden und Vielfältigkeit zwischen Individuen. Bennetts Modell beschreibt die Entwicklung interkultureller Sensibilität eines Individuums in sechs Phasen. Drei der Phasen rechnet er einer ethnozentrischen Orientierung zu, drei einer ethnorelativistischen. Das Modell lässt nicht nur eine Weiterentwicklung der persönlichen interkulturellen Sensibilität zu, sondern auch einen Rückschritt in vorangehende Phasen, der beispielsweise durch negative Erfahrungen im Zusammenhang mit anderen Kulturen ausgelöst werden kann. Ethnozentrismus wird definiert als die – möglicherweise auch unbewusste – Setzung der eigenen Normen, Bräuche usw. als Maßstab für die Beurteilung des Handelns anderer. Der Ethnorelativismus hingegen verweist darauf, dass unterschiedliche Standards, Normen und Werte Gültigkeit haben können und dass Handeln und Urteilen einer Vielzahl von zwischenmenschlichen Einstellungen angepasst werden können (Bennett 1998, S. 26).
2 Aktuelle Diskussionen Während sich der Geographieunterricht lange Zeit durch die Vermittlung von Wissen über Fremdes und die Betonung von Gemeinsamkeiten und oberflächlichen Unterschieden mit dem Fokus auf Toleranz bewegt hat, beschäftigen sich aktuelle Diskussionen vor allem mit der Reflexion unterschiedlicher Wertmaßstäbe sowie unterschiedlicher Wahrnehmungen von Raum, u.a. bedingt durch unterschiedliche Sozialisation. Ausgelöst wurde dies u.a. durch die wachsende Bedeutung des Konstruktivismus und die Diskussion über den Konstruktcharakter von Kultur, Nationen und Räumen. So besteht inzwischen weitgehend Konsens darüber, dass Kultur nicht essentialistisch und als statisches, homogenes, in sich geschlossenes System gesehen werden darf, sondern von einem Nebeneinander unterschiedlicher kultureller Orientierungen ausgegangen werden muss (vgl. auch Welsch 1995). Damit hat auch die Selbstreflexion im Zusammenhang kulturgebundener Wahrnehmungsmuster in fast allen Konzepten an Bedeutung gewonnen. Die im Folgenden skizzierten Diskussionen sind nicht eindeutig voneinander abgrenzbar. Sie
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alle rücken Werte, Urteile und Bewertungen unterschiedlich in den Mittelpunkt. Dabei geht es immer um die Bedeutung einer erhöhten Reflexivität sowie um eine gestiegene Selbstreflexivität.
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2.1 Wertediskussion/ethische Urteilskompetenz Geographische Bildung hat als Ziel, im Raum verantwortungsbewusst Handeln zu können. Die Bildungsstandards betonen, dass dies unter Einbeziehung fachbasierter und fachübergreifender Werte und Normen geschehen soll. Es geht dabei aber nicht um die Vermittlung bzw. Vorgabe von Werten, sondern um den Erwerb eigener Werturteile sowie um das Bewusstsein über einen Wertepluralismus. In der Praxis werden unterschiedliche Methoden empfohlen (vgl. Meyer et al. 2010). Als Reflexionswerkzeug zum Aufbau von Normen und Werten im Zuge der Werteanalyse wird der ‚praktische Syllogismus‘ vorgeschlagen. Ausgehend von einer Situation (z.B. Bau einer Umgehungsstraße, Kinderarbeit etc.), die zunächst hinsichtlich der Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten und ihrer Folgen diskutiert wird, werden im nächsten Schritt die jeweils zugrunde liegenden Normen und Werte unterschiedlicher Entscheidungen und Handlungen analysiert, bevor schließlich ein Urteil getroffen wird. Als weitere methodische Möglichkeit wird die Dilemmadiskussion vorgeschlagen, bei der nach den Ursachen und Gründen für die Entscheidungen gesucht wird. Wichtig bei diesen Methoden, die überwiegend auf dem Konstruktivismus basieren, ist die Auswahl der Themen. Es muss sichergestellt sein, dass Bedeutungszuweisungen und Entscheidungen durch Gewichtungen bzw. Wertungen möglich sind. Ziel der Methoden im Sinne interkulturellen Lernens ist es, die Schüler/innen für einen Wertepluralismus zu sensibilisieren und ihnen dadurch auch zur Akzeptanz unterschiedlicher Werte zu verhelfen. 2.2 Raum als Wahrnehmungsraum Der Raum als zentrales Element in der Geographie wird nicht mehr nur als in sich geschlossenes System angesehen. Vielmehr geht man dazu über, den Raum (auch) als Wahrnehmungs- und Konstruktionsraum zu betrachten. Bei ersterem wird der Raum als Kategorie der Sinneswahrnehmung verstanden. Gefragt wird zum einen, wie scheinbar ‚real existierende‘ Räume von Personen wahrgenommen werden, und zum anderen, wie die Konstruiertheit von Räumen durch Kommunikations- und Handlungsprozesse in der Gesellschaft zustande kommt. Raum ist in diesen beiden Konzepten nicht mehr ‚objektiv‘ gegeben, sondern ein Produkt von subjektiven Wahrnehmungen und Konstruktionsprozessen, die in ihrer Unterschiedlichkeit gleichberechtigt nebeneinander stehen. Wahrnehmung wird durch vier situative Kontexte beeinflusst: den politischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Kontext. Das Erkennen und Hinterfragen verschiedener Wahrnehmungen von Räumen erfordert, Unsicherheiten auszuhalten, verschiedene Sichtweisen gleichberechtigt anzuerkennen und eigene, als unverrückbar angenommene Sichtweisen kritisch zu reflektieren (Schneider et al. 2008). Auch wenn dies in der geographiedidaktischen Literatur nicht immer so bezeichnet wird, entspricht es dennoch den Zielen und Kompetenzen, die durch interkulturelles Lernen erworben werden sollen. Letztendlich geht es auch hier darum, dass sich Schüler/innen mit ihren eigenen Bewertungssystemen auseinandersetzen, indem sie hinterfragen, wie der jeweilige Raum von unterschiedlichen Personen wahrgenommen wird und wie diese auf die jeweilige Raumwahrnehmung reagieren. Ein und derselbe Raum kann so ganz unterschiedliche Bedeutungen annehmen, und das Handeln im Raum kann unterschiedlich interpretiert und bewertet werden. Die Fähigkeit, die eigene Wahrnehmung als sozialisationsbedingt
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zu verstehen, steht dabei im Mittelpunkt. Unter Einbezug anderer Sichtweisen soll ein Perspektivenwechsel vollzogen werden. Dabei können beispielsweise Bilder und deren Wahrnehmung von Menschen mit unterschiedlicher Sozialisation verglichen werden. Schrüfer und Obermaier (2014) zeigen dies am Beispiel unterschiedlicher Bilder aus Tansania und Deutschland, die vor dem jeweiligen kulturellen Hintergrund teilweise sehr verschieden beschrieben, interpretiert und bewertet werden. Die Schüler/innen sollen durch die Diskussion unterschiedlicher Wahrnehmung darauf vorbereitet werden, Nichtwissen zu akzeptieren und wahrnehmungsabhängige Interpretation und Bewertung von Räumen bzw. des dargestellten Handelns in Räumen zu erkennen und zu berücksichtigen.
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2.3 Raum als Konstrukt Auch dieses Konzept bezieht sich auf die Diskussion um den Raumbegriff und stützt sich vor allem auf den „Raum als Konstrukt“. Budke (2008) weist darauf hin, dass „Kultur“ und „Raum“ konstruktivistisch zu fassen seien und die Frage nach der politischen und sozialen Konstruktion von Räumen und Kulturen gestellt werden müsse. Sie schlägt vor, zu untersuchen, welche Vorstellungen von kulturellen Differenzen aus welchen Gründen, von wem und mit welchen Folgen erschaffen und benutzt werden (Budke 2008). So wird beispielsweise Sprache nicht als neutrales Medium zur Vermittlung von Inhalten verstanden, sondern anerkannt, dass durch sie erst Wirklichkeiten hergestellt werden. Im Prozess des Sprechens stellen wir demnach z.B. Räume her und fällen Urteile über diese (Hofmann & Ulrich-Riedhammer 2014). Solche Konstruktionsprozesse sollen reflektiert und aus unterschiedlichen Perspektiven bewertet werden. Reuber und Schrüfer (2013) machen dies beispielsweise an Konstrukten wie „Entwicklung“, „Entwicklungsländer“ oder „Entwicklungshilfe“ deutlich. Im Sinne eines postkolonialen Ansatzes erscheine es wichtig, das eurozentrische bzw. westliche Weltbild zu reflektieren, indem eigene und andere Konzepte von Entwicklung und Fortschritt mit den ihnen zugrunde liegenden Werten einander gegenübergestellt werden. Im westlichen Weltbild gehe man z.B. davon aus, dass Entwicklung in ihrer Grundintention von einem schlechteren zu einem besseren Zustand führt. Hier gelte es zu reflektieren, was ein „besserer“ Zustand ist, also anhand welcher Normen und Wertvorstellungen „besser“ definiert wird. Durch die Berücksichtigung der Wertgebundenheit von Konstruktionen soll die eigene Perspektive erweitert und deren Begrenztheit reflektiert werden.
3 Fazit Insgesamt wird in der geographiedidaktischen Diskussion kein eindeutiges Konzept oder alleinstehendes Modell interkulturellen Lernens für den Geographieunterricht verwendet. Die Bedeutung interkulturellen Lernens wird jedoch in den meisten Lehrplänen hervorgehoben. In den Bildungsstandards der Geographie wird unter „fachübergreifenden und fächerverbindenden Bildungsaufgaben“ auf interkulturelles Lernen als besonders wichtiges Anliegen hingewiesen (DGfG 2014, S. 7). Eine konkrete Ausgestaltung dessen wird jedoch nicht beschrieben. Folgende Kompetenzbereiche bzw. Standards können aber als Hinweise auf interkulturelles Lernen gelesen werden: Kompetenzbereich Räumliche Orientierung: Hier wird u.a. die Fähigkeit zur Reflexion von Raumwahrnehmung und -konstruktion gefordert. Methodisch wird vorgeschlagen, anhand von kognitiven Karten (mental maps) zu klären, dass Räume stets selektiv und subjektiv wahrgenommen werden (DGfG 2014, S.18).
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Kompetenzbereich Beurteilung/Bewertung: Hier wird die Fähigkeit betont, ausgewählte geographische bzw. geowissenschaftlich relevante Sachverhalte und Prozesse unter Einbeziehung fachbasierter und fachübergreifender Werte und Normen bewerten zu können (ebd., S. 26). Diese Kompetenz beinhalte, eine Situation aus der Sichtweise verschiedener Betroffener zu betrachten und so auch die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel ein[zu]üben (ebd., S. 24).
Literatur
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Kompetenzbereich Handlung: Hier wird zunächst gefordert, handlungsrelevante Informationen und Strategien zu kennen, Vorurteile (z.B. gegenüber Angehörigen anderer Kulturen) aufzudecken und zu beeinflussen. Darüber hinaus soll die Bereitschaft zum konkreten Handeln in geographisch/geowissenschaftlich relevanten Situationen gefördert werden. Dazu gehöre es auch, sich im Alltag für eine interkulturelle Verständigung und ein friedliches Zusammenleben in der Einen Welt einzusetzen (ebd., S. 26ff). Bennett, Milton John (1993): Towards Ethnorelativism: A Developmental Model of Intercultural Sensitivity. In: Michael Paige (Hg.): Education for the Intercultural Experience, S. 20-72. – Bennett, Milton John (1998): Intercultural Communication: A Current Perspective. In: Milton John Bennett (Hg.): Basic Concepts of Intercultural Communication. Selected readings, S. 1-34. – Bennett, Milton John & Castiglioni, Ida (2004): Embodied Ethnocentrism and Intercultural Competence. In: Dan Landis; Milton John Bennett & Janet Bennett (Hg.): Handbook of Intercultural Training. Third Edition, S. 249-265. – Budke, Alexandra (2008): Zwischen Kulturerdteilen und Kulturkonstruktionen – Historische und neue Konzepte des Interkulturellen Lernens im Geographieunterricht. In: Alexandra Budke (Hg.): Interkulturelles Lernen im Geographieunterricht. Potsdam: Universitätsverlag, S. 9-29. – DGfG (2014): Deutsche Gesellschaft für Geographie. Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss mit Aufgabenbeispielen. Bonn. – Haubrich, Hartwig (1988): Internationale Verständigung durch geographische Erziehung. In: Praxis Geographie 18 (4), S. 30-33. – Hofmann, Romy & Ulrich-Riedhammer, Eva Marie (2014): Die Konstruktion (inter-) kultureller Räume als moralisch-ethische Urteile. In: Ingrid Schwarz & Gabriele Schrüfer (Hg.): Vielfältige Geographien. Münster: Waxmann, S. 155-170. – Kroß, Eberhard (1992): Internationale Erziehung im Geographieunterricht – ein Überblick über den Diskussionsstand. In: Eberhard Kroß & Johan van Westrhenen (Hg): Internationale Erziehung im Geographieunterricht. Geographie didaktische Forschungen, Bd. 22. Nürnberg: Friedrich-Verlag, S. 31-50. – Meyer, Christiane (2012): Wertebildung und Wertebewusstsein zur Werte-Bildung. In: Johann-Bernhard Haversath (Moderator): Geographiedidaktik. Theorie-Themen-Forschung. Braunschweig: Westermann, S. 314-329. – Reuber, Paul & Schrüfer, Gabriele (2013): „Entwicklungs-Länder“?! Perspektiven und Möglichkeiten für die kritische Bewertung eines solchen Konzepts im Erdkundeunterricht. In: Geographie heute (309), S. 19-25. – Rinschede, Gisbert (2007): Geographiedidaktik. Paderborn: UTB. – Schneider, Antje; Vogler, Robert; Nehrdich, Tobias; Götz, Corinna; Meerbach, Katharina; Müller, Sirko; Paul, Torsten; Petersheim, Carsten & Rülicke, Björn (2008): Raumkonzepte im Geographieunterricht. Ein- und Ausblicke – Raumkonzepte praktisch im Dialog. Der Thüringer Schulgeograph, 44. Jena. – Schrüfer, Gabriele (1999): Interkulturelles Lernen. In: Dieter Böhn (Hg.): Didaktik der Geographie - Begriffe. Berlin: Oldenbourg Wissenschaftsverlag, S. 71-73. – Schrüfer, Gabriele & Obermaier, Gabriele (2014): Wahrnehmung von Räumen. In: Ingrid Schwarz & Gabriele Schrüfer (Hg.): Vielfältige Geographien. Münster: Waxmann, S. 173-188. – Thomas, Alexander (1996) (Hg.): Psychologie interkulturellen Handelns. Göttingen: Hogrefe Verlag. – Welsch, Wolfgang (1995): Transkulturalität. Zur veränderten Verfasstheit heutiger Kulturen. In: Zeitschrift für Kulturaustausch (1), S. 39-44.
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95 Sachunterricht Janine Brade und Bernd Dühlmeier
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1 Inhalt und Auftrag des Faches Sachunterricht Der Sachunterricht ist unter verschiedenen Bezeichnungen – Sachunterricht, Heimat- und Sachunterricht, Fächerverbund Mensch-Natur-Kultur – ein auf die Primarstufe begrenztes (Haupt-)Fach (Götz et al. 2007, S. 17). Darüber hinaus wird er in bestimmten Förderschulen erteilt und ist unter anderer Bezeichnung auch in Alternativschulen anzutreffen (Jung 2007, S. 275ff). Der Bildungsauftrag des Faches besteht zum einen darin, fachwissenschaftlich belastbares und geordnetes Wissen über die natürliche, geografische, soziale und technisch gestaltete sowie historisch gewordene Umwelt zu vermitteln, mit dem Ziel, dass sich Kinder zunehmend selbstständig und verantwortlich in der modernen Gesellschaft orientieren können. Zum anderen sollen Grundlagen für die Unterrichtsfächer der weiterführenden Schulen erarbeitet werden (Götz et al. 2007, S. 18). Dieser doppelte Bildungsauftrag wird durch fachbezogene Inhalte, aber auch durch Inhalte aus diversen Querschnittsthemenfeldern – z.B. aus dem Bereich der Medienpädagogik, der Pädagogik der gesunden Lebensführung oder der Interkulturellen Pädagogik – realisiert. In fachdidaktischer Hinsicht haben sich mit dem Perspektivrahmen der Gesellschaft für die Didaktik des Sachunterrichts und mit den „Didaktischen Netzen“ (GDSU 2013; Kahlert 2016) integrative Modelle durchgesetzt.
2 Von der Heimatkunde zum Sachunterricht für multikulturelle Lerngruppen Der Sachunterricht hat sich erst seit den 1970er Jahren interkulturellen Lernprozessen geöffnet. Ausschlaggebend hierfür war erstens der Anstieg der Zuwanderung, zunächst in Westdeutschland, und zweitens die curriculare Neuausrichtung des Faches auf die „Sachen“. 2.1 Heimatkunde nationalstaatlicher Prägung und Ideologisierung der Heimatkunde im Nationalsozialismus Das bis dahin bestehende Fach „Heimatkunde“ richtete sich ausschließlich an einheimische Kinder. Die Heimat war die zentrale didaktische Kategorie (Nießeler 2007, S. 30ff). Seit dem 19. Jahrhundert wurde von der Vorstellung einer konzentrischen Raumordnung ausgegangen, in der sich sogenannte Lebenskreise um das Individuum zentrieren. Der das Individuum umgebende Raum galt dabei als Heimat im engeren Sinn; Land und Welt galten als Heimat im weiteren Sinn (ebd., S. 33). Zur Zeit der Weimarer Grundschule war dementsprechend der heimatkundliche Gesamtunterricht mit Stoffen aus der näheren Erfahrungswelt der Schüler/innen das vorherrschende Grundmuster in den Klassenstufen 1 und 2 (Glumpler 1996, S. 9). Der Nahraum wurde als eine dem Anschauungsgrundsatz genügende Stoffquelle angesehen, und in der Abhandlung Sprangers über den „Bildungswert der Heimatkunde“ (Spranger 1923) wurde Heimat zur entscheidenden Bezugsgröße einer volkstümlichen Bildung. Heimatverbundenheit galt als Allheilmittel gegen die Entfremdungsprozesse der Moderne. In den „Reichsrichtlini-
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en für die vier unteren Jahrgänge der Volksschule“ vom 10.4.1937 (Fricke-Finkelnburg 1989, S. 25ff) wurde die Heimatkunde zum zentralen Unterrichtsfach erklärt, dessen Hauptaufgabe es war, die nationalsozialistische Ideologie – insbesondere die Rassenideologie – bereits den Grundschüler/innen zu vermitteln.
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2.2 Restaurative Tendenzen der Heimatkunde in der BRD und Heimatkunde in der Unterstufe der DDR Nach 1945 erfolgte in der BRD eine Rückbesinnung auf die Heimatkunde der Weimarer Zeit. Allerdings kam es zu einer Erweiterung des ursprünglich auf den ländlichen Raum konzentrierten und zivilisationskritischen Heimatbegriffs (Glumpler 1996, S. 13). Hintergrund war die Integration der hohen Zahl von Vertriebenen- und Flüchtlingskindern. In den Lehrplänen der 1950er Jahre finden sich außerdem erste Verbindungen zwischen der Heimatkunde und dem Lernen über sogenannte Fremde und Fremdes (Rodehüser 1987, S. 470). Auch in der DDR blieb die Bezeichnung Heimatkunde für die Unterstufe der Polytechnischen Oberschule erhalten. Das Fach verfolgte das Ziel, erste Grundlagen der marxistisch-leninistischen Weltanschauung zu vermitteln (Glumpler 1996, S. 15). Betont wurde außerdem die Erziehung zur internationalen Verständigung, insbesondere die „Verbundenheit mit dem Sowjetvolk und den Völkern in den anderen sozialistischen Bruderländern“ (Hagemann 1981, S. 322). 2.3 Das neue Fach Sachunterricht und die Haltung zur kulturellen Pluralisierung Seit dem Frankfurter Grundschulkongress 1969 geriet die Heimatkunde in der BRD zunehmend in die Kritik. Beck und Claussen kritisierten den Realitätsverlust des Faches, die fehlende wissenschaftliche Fundierung der Inhalte, das implizite Belehrungskonzept und die Dominanz des konzentrischen Lehrgangsprinzips vom Nahen zum Fernen mit der Überbetonung geographischer Zugangsweisen der Lebenswelterschließung bei gleichzeitiger Unterrepräsentanz sozialwissenschaftlicher Inhalte (Beck & Claussen 1976, S. 44ff). Im Mittelpunkt der Reform des neu entstehenden Faches Sachunterricht stand die Wissenschaftsorientierung. Die kulturelle Pluralisierung kindlicher Lebenswelten wurde in den Sachunterrichts-Curricula allerdings kaum beachtet. Glumpler (1996, S. 27) führt dies auf die bildungspolitische Entscheidung einer möglichst zügigen Integration der „Gastarbeiterkinder“ zurück. Diese sollte auch erreicht werden, indem Sachunterricht als Fachsprachenunterricht für „Ausländerkinder“ fungierte (ebd., S. 29). 2.4 „Ausländerthemen“ in Sachunterrichtsbüchern der 1980er Jahre und Konzepte eines interkulturellen Sachunterrichts Die explizite Thematisierung von sog. „Ausländerthemen“ im Sachunterricht galt – anders als heute – in den 1980er Jahren als Voraussetzung für interkulturelles Lernen. In den Lehrwerken fanden sich Themen wie „Kinder aus anderen Ländern an unserer Schule“ (Glumpler 1996, S. 42ff). Aus der Kritik an den bildungspolitischen Kompensations- und Assimilationsstrategien entstand Anfang der 1990er Jahre eine Konzeption interkulturellen Lernens für den Sachunterricht (Glumpler 1996, S. 68ff).
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Janine Brade und Bernd Dühlmeier
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3 Sachunterricht und seine Vernetzungsmöglichkeiten für interkulturelles Lernen Das integrative Didaktikmodell der Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts (GDSU 2013) ermöglicht vielfältige Vernetzungen für eine fächerverbindende Thematisierung interkultureller Aspekte. Die im Folgenden vorgestellten fünf Perspektiven des Modells stehen nicht getrennt für sich. Für die didaktische Planung jedoch bietet eine analytische Trennung zunächst den Vorteil der Fokussierung auf einen Schwerpunkt, von dem aus eine Vernetzung erfolgen kann. • Mit dem Ziel, kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erkennen und zu respektieren (GDSU 2013, S. 33), können im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Perspektive unterschiedliche Lebensstile, z.B. verschiedene und problematische Wohnsituationen (vgl. Danzer 2013), Familienstrukturen, Tagesabläufe, kulturelle Praktiken (Feste, Bräuche) und Werte thematisiert werden. • Gesellschaftspolitische Hintergründe für Einwanderungs- und Auswanderungsprozesse sowie deren Konsequenzen in Deutschland, aber auch weltweit, können innerhalb der historischen Perspektive behandelt werden. Zudem können kulturell verschiedene Denk-, Lebens- und Handlungsweisen kennengelernt, die eigenen Wurzeln erkundet und auf gegenwärtige sowie zukünftige Handlungsansprüche bezogen werden (GDSU 2013, S. 57). • Im Rahmen der naturwissenschaftlichen Perspektive können beispielsweise über anatomische Aspekte und die Angepasstheit an Lebensbedingungen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den in unterschiedlichen Ländern lebenden Menschen herausgearbeitet werden. Zudem kann die Vielfalt der belebten und unbelebten Natur erkundet und hinsichtlich ihrer Relevanz für Ernährung und Gesundheit thematisiert werden. • Die geographische Perspektive bietet die Möglichkeit, die Verschiedenheit von Räumen und Lebenssituationen in der näheren Umgebung und global sowie die räumliche Verflechtung zu erkennen (GDSU 2013, S. 47). Wie Heimat gemacht bzw. gefunden werden kann (ebd.) und was dies für die eigene Identität bedeutet, ist ein Teilaspekt, der u.a. auch über die Erschließung des Themas „Europa“ angesprochen werden kann. • Um die Bedeutung von Erfindungen aus anderen Kulturen und dort stattfindenden Arbeitsprozessen für das eigene Leben zu erkennen und zu würdigen, bietet die technische Perspektive u.a. die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit für die Menschheit bedeutsamen technischen Erfindungen aus verschiedenen Kulturen (GDSU 2013, S. 72) sowie die Thematisierung von Arbeits- und Produktionsbedingungen und des eigenen Konsumverhaltens. Orientiert hieran sollte jedes Themenfeld so didaktisch aufbereitet werden, dass die fünf Perspektiven zum Tragen kommen (vgl. Tabelle). Zudem bieten auch die perspektivenvernetzenden Themenbereiche – Mobilität, nachhaltige Entwicklung, Gesundheit und Medien – vielfältige Möglichkeiten, interkulturelle Themen lebensnah zu behandeln (vgl. Rosenthal Tolisano & Schreier 2010).
Sachunterricht
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Tab. 1: Beispiel für Vernetzungsmöglichkeiten Historische Perspektive
Entwicklung von historischen Währungsformen bis zum Euro als Einheitswährung in Europa
Sozialwissenschaftliche Perspektive
Bedeutung von Zahlungsmitteln an sich und dem Wert der Währung für das Erwerben von Waren und Dienstleistungen; Marktvernetzung durch Einheitswährung
Geografische Perspektive
Bedeutung der (west-)europäischen Grenzen im 19. und 20. Jahrhundert sowie deren Wegfall im 21. Jahrhundert (Einheitlicher Währungsraum)
Naturwissenschaftliche Perspektive
Nutzung unterschiedlicher Rohstoffe als Währung und zur Herstellung von Zahlungsmitteln
Technische Perspektive
Erfindung der Münzprägung
4 Konsequenzen für Sachunterrichtslehrkräfte Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Beispiel: Währung als Zahlungsmittel
Um mit dem Sachunterricht die übergreifenden Ziele der Identitätsbildung, der Alltagsbewältigung, der selbstständigen und verantwortlichen Orientierung sowie der Partizipation (Giest 2010, S. 13) in einer modernen Gesellschaft zu ermöglichen, müssen Lehrpersonen über interkulturelle Kompetenz verfügen. Eine Grundlage hierfür ist der Perspektivenwechsel vom „Bild von Schule und Gesellschaft als einsprachigen und monokulturellen Räumen“ hin zu einer Vorstellung von „Pluralität und Mehrperspektivität“ (Lanfranchi 2013, S. 257). Dieser Wechsel ist ebenso bedeutsam wie die Verbindlichkeit interkultureller Pädagogik in der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften (ebd., S. 258; Bender-Szymanski 2013, S. 225). Literatur
Beck, Gertrud & Claussen, Claus (1976): Einführung in die Probleme des Sachunterrichts. Kronberg/Ts.: Scriptor. – Bender-Szymanski, Dorothea (2013): Interkulturelle Kompetenz bei Lehrerinnen und Lehrern aus der Sicht der empirischen Bildungsforschung. In: Georg Auernheimer (Hg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Wiesbaden: Springer, S. 202-227. – Danzer, Nicola (2013): Pfahlbauten, Jurten und Blockhütten. Wohnen in aller Welt als Thema für den Sachunterricht. Sache-Wort-Zahl 136, S. 4-14. – Fricke-Finkelnburg, Renate (Hg.) (1989): Nationalsozialismus und Schule. Amtliche Erlasse und Richtlinien 1933-1945. Opladen: Leske + Budrich Verlag, S. 25-52. – Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts (GDSU) (Hg.) (2013): Perspektivrahmen Sachunterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. – Giest, Hartmut (2010): Anschlussfähige Bildung im Sachunterricht. In: Hartmut Giest & Detlef Pech (Hg.): Anschlussfähige Bildung im Sachunterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 11-21. – Glumpler, Edith (1996): Interkulturelles Lernen im Sachunterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. – Götz, Margarete u.a. (2007): Didaktik des Sachunterrichts als bildungswissenschaftliche Disziplin. In: Margarete Götz; Joachim Kahlert; Maria Fölling-Albers; Andreas Hartinger; Dietmar von Reeken & Steffen Wittkowske (Hg.): Handbuch Didaktik des Sachunterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 11-30. – Hagemann, Werner; Kahlert, Joachim; Fölling-Albers, Maria; Hartinger, Andreas; von Reeken, Dietmar & Wittkowske, Steffen (1981): Der Unterricht in den unteren Klassen (Ziele, Inhalte, Methoden), 2. Aufl. Berlin: Volk und Wissen. – Jung, Johannes (2007): Sachunterricht in Reform- und Alternativschulen. In: Margarete Götz; Joachim Kahlert; Maria Fölling-Albers; Andreas Hartinger; Dietmar von Reeken & Steffen Wittkowske (Hg.): Handbuch Didaktik des Sachunterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 275-280. – Kahlert, Joachim (2016): Der Sachunterricht und seine Didaktik, 4. Aufl. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. – Lanfranchi, Andrea (2013): Interkulturelle Kompetenz als Element pädagogischer Professionalität. In: Georg Auernheimer (Hg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Wiesbaden: Springer, S. 231-261. – Nießeler, Andreas (2007): Lebenswelt/Heimat als didaktische Kategorie. In: Margarete Götz; Joachim Kahlert; Maria Fölling-Albers; Andreas Hartinger; Dietmar von Reeken & Steffen Wittkowske (Hg.): Handbuch Didaktik des Sachunterrichts. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 30-35. – Rodehüser, Franz (1987): Epochen der Grundschulgeschichte. Bochum: Winkler. – Rosenthal Tolisano, Silvia & Schreier, Helmut (2010): Wir skypen mit der ganzen Welt. Videogespräche in der Schule. Weltwissen Sachunterricht 4, S. 24-29.
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Dietmar Höttecke
In diesem Beitrag wird eine interkulturelle Perspektive auf Naturwissenschaften als Lernbereich auf dreifache Weise entfaltet: Ein Blick auf die Geschichte der Naturwissenschaften zeigt zunächst, dass unterschiedliche Kulturen in verschiedenen Epochen und geografischen Räumen am Entstehungsprozess der Naturwissenschaften beteiligt waren. Daraufhin werden Naturwissenschaften als Fach- und Subkultur konzipiert und in ihrer Bedeutung für Lernen untersucht. Im letzten Teil wird das Lernen von Naturwissenschaften unter Bedingungen sprachlich-kultureller Heterogenität diskutiert.
1 Historische Entwicklungslinien der Naturwissenschaften Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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96 Naturwissenschaftliche Unterrichtsfächer Dietmar Höttecke
Die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften kann man als einen kulturhistorischen und interkulturellen Prozess deuten. Ihre Entstehung wird geographisch mit Europa und zeitlich mit der Renaissance verbunden. Die Entwicklung der Naturwissenschaften basierte allerdings auf älteren Wissensbeständen, die aus vielen Teilen der Welt stammen (vgl. Fara 2010; Mason 1997). In China hatte sich bereits eine handwerklich-technische Kultur entwickelt, deren Bedeutung und Einfluss auf die Entwicklung der Naturwissenschaften die eurozentrische Wissenschaftsgeschichtsschreibung lange unberücksichtigt ließ. Technische Innovationen wie Druckkunst, Magnetkompass oder Schießpulver sind erstmals in China entwickelt worden. Im arabischen Sprachraum bildeten Observatorien, Schulen und Bibliotheken lange vor der europäischen Renaissance namhafte geistige Zentren. Aus der islamischen Welt zur Zeit des europäischen Mittelalters wurden z.B. bedeutende wissenschaftliche Erkenntnisse über Optik und Astronomie überliefert. Das im antiken Athen erblühende Handwerk führte zu wichtigen technischen Entwicklungen wie Blasebalg, Töpferscheibe oder Drehbank. Handwerk, Technik und körperliche Arbeit waren in den antiken, Sklaven haltenden Hochkulturen dennoch nicht hoch angesehen (vgl. Teichmann 1985). Bis in die Neuzeit hinein galt die Kontemplation gegenüber dem praktischmanuellen Eingreifen in die Natur als überlegen. Bis zum 16. Jahrhundert waren intellektuell-methodische und handwerkliche Ausbildungen und Praktiken voneinander getrennt. Mit der Renaissance setzte ein Prozess sozialer Ausdifferenzierung ein. Standesunterschiede zwischen Ingenieuren, Ärzten und zunftfreien Künstlern einerseits und Humanisten und traditionellen Gelehrten andererseits wurden angeglichen. Diese sozial-historische Entwicklung ermöglichte, dass intellektuelles Schlussfolgern und Textauslegen einerseits und praktisches Experimentieren andererseits von den gleichen Akteuren veranstaltet werden konnte (vgl. Felt et al. 1995). Mit der Renaissance wird die Rolle empirisch gestützter, in Experimenten gewonnener Erfahrung und abstrakt-mathematischer Naturerklärung aufgewertet. Die dann folgenden historischen Entwicklungslinien lassen sich grob in drei Phasen unterteilen (ebd.): • Phase der Amateure und Handwerker (1600-1800): Die Ausbildung ist kaum formalisiert. Experimente werden vorwiegend in privaten Wohnräumen durch „Männer von Stand“
Naturwissenschaftliche Unterrichtsfächer
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2 Naturwissenschaften als Fach- und Subkultur
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durchgeführt. Es kommt zur Gründung erster wissenschaftlicher Gesellschaften und Journale. Es bildet sich ein sozialer Mechanismus wissenschaftlicher Wahrheitsfindung heraus, der einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit bedarf. • Akademische Phase (bis ca. Beginn des Zweiten Weltkriegs): Die Naturwissenschaften differenzieren sich stark aus. An Universitäten werden formale Ausbildungsstrukturen etabliert. Glaubwürdigkeit und Expertise werden zunehmend über Abschlusszertifikate und akademische Positionen abgesichert. • Industrielle Phase (seit Ende des Zweiten Weltkriegs): Naturwissenschaftliche Großforschung (z.B. CERN-Beschleuniger) wird arbeitsteilig, in großen Teams, unter Beteiligung mehrerer Staaten und der Industrie durchgeführt. Forschung ist verstärkt von politischen Entscheidungen und Aufträgen abhängig.
Menschen partizipieren zeitgleich an unterschiedlichen Subkulturen, die sich durch Religion, Sprache, Ethnie, Geschlecht, soziale Klasse, Beruf oder Wohnort unterscheiden. Sie sind immer schon kulturelle Grenzgänger. In der Schule stellen die naturwissenschaftlichen Unterrichtsfächer fachkulturelle Eigenarten dar, die sich von anderen schulischen Fachkulturen wie Sport oder Sprachen unterscheiden (Lüders 2007). Fachkulturelle Differenzen werden schon bei der Gestaltung naturwissenschaftlicher Fachräume sichtbar, wo z.B. feste Lehrerpulte eine instruktionsorientierte Lehrerrolle unterstreichen. Lernprodukte der Schüler/innen sind anders als in Klassenräumen kaum sichtbar. Schüler/innen überschreiten täglich und mehrmals fachkulturelle Grenzen. Lehrkräfte können bei diesen Grenzgängen die Aufgabe von „Reiseleitungen“ übernehmen die die Schüler/innen dabei unterstützen, sich in unterschiedliche Fachkulturen hineinzudenken, ihre Eigenarten zu erkennen und wertzuschätzen. Immer wieder können kulturelle Identitäten mit den Angeboten einzelner Fachkulturen in Konflikt geraten. Ein Beispiel sind religiöse Schöpfungsmythen, die mit der Urknall- und Evolutionstheorie der Naturwissenschaften konfligieren. Konflikte können auch durch den rationalen und an Ursache-Folge-Beziehungen orientierten naturwissenschaftlichen Diskurs entstehen, wenn er mit anderen Denk- und Erklärungsweisen im Widerspruch steht. Dem naturwissenschaftlichen Unterricht erwächst daraus die Aufgabe, einen Prozess der Akkulturation (Aikenhead 2000) zu fördern, bei dem Konfliktlinien zwischen Subkulturen bearbeitet werden, um die Perspektiven junger Menschen zu erweitern und ihre Identitätsentwicklung zu fördern. Im Kontext naturwissenschaftlicher Bildung hat der Begriff der Kultur großen Wert zur Erklärung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit (Carlone et al. 2014). Kulturen sind sozial organisierte, reproduzierte und symbolisch vermittelte Phänomene, die Menschen rekrutieren oder auch ausschließen können. Sie ermöglichen kollektive Bedeutungsentwicklung entlang ihrer spezifischen Weltfigurationen (Calabrese et al. 2013). Menschen werden mit Narrativen, Traditionen und Geschichte vertraut gemacht, die Abgrenzungen von anderen Weltfigurationen bewirken. Damit verbunden ist für Lernende die Arbeit an der eigenen Identität in der Auseinandersetzung mit Normen, Werten und symbolisch vermittelten Hierarchien der jeweiligen Kulturen. Normative Diskurspraktiken konfigurieren spezifische Sichtweisen darauf, wie man sich Naturwissenschaften nicht nur als Inhaltsbereich, sondern auch als soziale Praxis denkt. Ein Naturwissenschaftler-Stereotyp gilt als männlich, weiß, entstammt der Mittelklasse und arbeitet vereinzelt (z.B. Höttecke 2001). Diese Diskurspraktiken können negative Konsequenzen z.B. auf die Interessenentwicklung von Mädchen an Physik oder Chemie zeitigen. Sollten soziokulturelle Praktiken prototypischer Vertreter der Naturwissenschaften im Widerspruch zum
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Dietmar Höttecke
Selbstkonzept einer Schülerin stehen, kann schwindendes Fachinteresse folgen (vgl. Taconis & Kessels 2009). Aus dieser Perspektive erklären sich Identität und Interesse als Ergebnis einer sozio-kulturellen Praxis, in der Akkulturation in die Naturwissenschaften ge- oder misslingen kann.
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3 Sprachlich-kulturelle Heterogenität im naturwissenschaftlichen Fachunterricht Etwa ein Drittel und in Ballungsräumen sogar die Hälfte der Schüler/innen sprechen einen andere Herkunftssprache als Deutsch. Die sprachliche Vielfalt in der Schule widerspricht der Erwartung und historisch gewachsenen Norm einer für alle gleich verfügbaren Sprache (Gogolin 2010). Besorgniserregende Befunde werden für Schüler/innen mit Migrationshintergrund in den Naturwissenschaften konstatiert. Obwohl mehrsprachigen Schülern/innen insgesamt ein größeres Repertoire an sprachlichen Mitteln zur Verfügung steht als einsprachigen (Gogolin 2010), gelingt es nicht, diese Fähigkeiten für Kompetenzzuwächse zu nutzen. Die Aufgabe, sprachliche Fähigkeiten zu fördern, betrifft alle Unterrichtsfächer und damit auch die Naturwissenschaften. Hier ergeben sich zahlreiche Felder sprachlichen Handelns (vgl. Vollmer & Thürmann 2010, S. 113ff): sich an unterrichtlicher Kommunikation beteiligen, Informationen beschaffen und zusammen fassen, Wissen strukturieren, Beobachtungen protokollieren, Vermutungen und Hypothesen exakt formulieren, Arbeitsergebnisse schriftlich verdichten, präsentieren und diskutieren oder Ergebnisse und Vorgehensweisen kritisch reflektieren. Schüler/innen mit Deutsch als Zweitsprache erfahren sprachbedingte Hürden für fachliches Lernen. Ein Beispiel: Tafelbilder verdichten Sachinformationen und werden oft entlang fachlicher Erarbeitungsprozesse im Unterricht entwickelt. Sie können Zeichnungen über Experimente, Tabellen mit Messdaten oder Graphen mit abstrakten Zusammenhängen umfassen. Texte werden i.d.R. nur stichwortartig notiert. Werden Tafelbilder ins Heft übertragen, gelingt es Schüler/ innen mit Deutsch als Zweitsprache verglichen mit monolingualen in geringerem Maße, die Zusammenhänge bruchstückartiger, lückenhafter Aussagen zu rekonstruieren (Langer 2010, S. 92). Was kompetenten Sprachnutzer/innen ohne Probleme gelingt, kann für Lernende mit Migrationshintergrund zur Hürde fachlichen Lernens werden. Eine Lernstandsdiagnostik muss daher Augenmerk auf Diagnostik und Förderung sprachlicher Fähigkeiten legen. Allerdings bleibt Mehrsprachigkeit im pädagogisch-didaktischen Handeln vieler Lehrkräfte noch unberücksichtigt (Riebling 2012). Nach wie vor ist naturwissenschaftlicher Unterricht von lehrerdominanten Klassengesprächen geprägt, die kaum Gelegenheiten für aktives Sprachhandeln bieten. Stattdessen werden Schüler/innen oft dazu angehalten, Lehrerfragen mit unvollständigen Sätzen oder sogar nur einzelnen Stichworten zu beantworten und geben sich nur den Anschein von Fachlichkeit (Rincke 2007). Diese Art des „fachlichen“ Sprechens stellt keine Lerngelegenheit dar, sich selbst fachlich richtig, kohärent und komplex ausdrücken zu lernen. Auch dient Textarbeit im naturwissenschaftlichen Unterricht bisher überwiegend der LeistungsÜberprüfung und weniger der Sprachbildung (Schmölzer-Eibinger & Langer 2010). Lehrkräfte müssten es stattdessen ermöglichen, dass Schülerantworten durchdacht, abgewogen, probeweise versprachlicht und variiert werden können. Damit dies gelingt, können sprachliche Mittel bereitgestellt werden, um das Sprachhandeln zu unterstützen (z.B. Tajmel 2010; Leisen 2010). Es fällt Lehrkräften schwer, sprachliche Schwierigkeiten aus Sicht multilingualer Schüler/innen einzuschätzen. Um die eigene sprachliche Sensibilität für dieses Problem zu entwickeln, kann es hilfreich sein, sich als Lehrkraft immer wieder daran zu erinnern, wie schwer es ist, Textbedeutungen in einer Fremdsprache zu rekonstruieren oder selbst auszudrücken.
Naturwissenschaftliche Unterrichtsfächer
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Literatur
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Aikenhead, Glen (2000): Renegotiating the Culture of School Science. In: Robin Millar; John Leach & Jonathar Osborne (Hg.): Improving Science Education. The Contribution to Research. Buckingham: Open University Press, S. 245-264. – Calabrese Barton, Angela; Kang, Hosun; Tan, Edna; O’Neill, Tara B.; Bautista-Guerra, Juanita & Brecklin, Caitlin (2013): Crafting a Future in Science: Tracing Middle School Girls’ Identity Work Over Time and Space. In: American Educational Research Journal 50 (1), S. 37-75. – Carlone, Heidi B.; Johnson, Angela & Eisenhart, Margaret (2014): Cultural Perspectives in Science Education. In: Norman G. Lederman & Sandra K. Abell (Hg.): Handbook of Research on Science Education Vol. II. New York: Routledge, S. 651-670. – Fara, Patricia (2010): 4000 Jahre Wissenschaft. Heidelberg: Spektrum-Verlag. – Felt, Ulrike; Nowotny, Helga & Taschwer, Klaus (1995): Wissenschaftsforschung. Eine Einführung. Frankfurt a.M.: Campus. – Gogolin, Ingrid (2010): Stichwort: Mehrsprachigkeit. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 13 (4), S. 529-547. – Höttecke, Dietmar (2001): Die Vorstellungen von Schülern und Schülerinnen von der „Natur der Naturwissenschaften“. In: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften 7, S. 7-23. – Langer, Elisabeth (2010): Spracherwerb im Naturwissenschaftsunterricht in Klassen mit Migrationshintergrund. In: Gabriele Fenkart; Anja Lembens, & Edith Erlacher-Zeitlinger (Hg.): Sprache, Mathematik und Naturwissenschaften. Innsbruck: Studien Verlag, S. 89-107. – Leisen, Josef (2010): Handbuch Sprachförderung im Fach. Sprachsensibler Fachunterricht in der Praxis. Varus-Verlag. – Lüders, Jenny (Hg.) (2007): Fachkulturforschung in der Schule. Opladen: Verlag Barbara Budrich. – Mason, Stephen F. (1997): Geschichte der Naturwissenschaften in der Entwicklung ihrer Denkweisen. Bassum: Verlag für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik. – Riebling, Linda (2012): Sprachbildung im naturwissenschaftlichen Unterricht. Eine Studie im Kontext migrationsbedingter sprachlicher Heterogenität. Münster: Waxmann. – Rincke, Karsten (2007): Sprachentwicklung und Fachlernen im Mechanikunterricht. Sprache und Kommunikation bei der Einführung in den Kraftbegriff. Berlin: Logos. – Schmölzer-Eibinger, Sabine & Langer, Elisabeth (2010): Sprachförderung im naturwissenschaftlichen Unterricht in mehrsprachigen Klassen. Ein didaktisches Modell für das Fach Chemie. In: Bernd Ahrenholz (Hg.): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache. Tübingen: Narr, S. 203-217. – Taconis, Ruurd & Kessels, Ursula (2009): How Choosing Science Depends on Students’ Individual Fit to ‘Science Culture’. In: International Journal of Science Education, 31 (8), S. 1115-1132. – Tajmel, Tanja (2010): DaZ-Förderung im naturwissenschaftlichen Fachunterricht. In: Bernd Ahrenholz (Hg.): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache. Tübingen: Narr-Verlag, S. 167-184. – Teichmann, Jürgen (1985): Wandel des Weltbildes. Astronomie, Physik und Meßtechnik in der Kulturgeschichte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. – Vollmer, Helmut Johannes & Thürmann, Eike (2010): Zur Sprachlichkeit des Fachlernens: Modellierung eines Referenzrahmens für Deutsch als Zweitsprache. In: Bernd Ahrenholz (Hg.): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache. Tübingen: Narr, S. 107-132.
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Dietmar Höttecke
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97 Mathematikunterricht Susanne Prediger und Alexander Schüler-Meyer
Auch wenn Mathematik von außen oft als kulturunabhängig und als universal verständlich eingeschätzt wird, haben interkulturelle Perspektiven im internationalen Diskurs der Mathematikphilosophie und -didaktik seit mehr als 30 Jahren kulturspezifische Aspekte von Mathematik und Mathematiklernen aufgezeigt. Die Konzeptualisierung der Mathematik als kulturelles Produkt und als Kultur (Abschnitt 1) legte dabei die mathematikphilosophische Basis für eine mathematikdidaktische Auseinandersetzung mit Herausforderungen, die im Mathematikunterricht in sozial, kulturell und sprachlich heterogenen Gesellschaften entstehen. Im Laufe der Jahrzehnte hat die Mathematikdidaktik dabei jeweils andere Ansatzpunkte gefunden, diese Herausforderungen theoretisch zu fassen, empirisch zu beforschen und unterrichtspraktisch zu bearbeiten, um für alle Lernenden mehr Chancengerechtigkeit zu erreichen. Das Kapitel skizziert eine zentrale Entwicklungslinie von einer Defizitorientierung (Abschnitt 2) zur Differenzorientierung (Abschnitt 3) und schließlich zur ergänzenden Förderorientierung (Abschnitt 4), ohne alle Details des wissenschaftlichen Diskurses und ihr in verschiedenen Ländern zeitversetztes Auftauchen abzubilden.
1 Kulturelle Perspektiven auf Mathematik In mathematikhistorischen und ethnomathematischen Studien wurde aufgezeigt, wie stark die Entwicklung der Mathematik abhängig war von den kulturellen Bedingungen der jeweiligen Region und Zeit. Die Kontingenz der Mathematik als kulturelles Produkt wurde dabei herausgearbeitet bzgl. der geschaffenen mathematischen Objekte, der als relevant geltenden Fragestellungen, und der als sozial akzeptabel geltenden Methoden der Erkenntnisgewinnung (vgl. zusammenfassend Prediger 2004, S. 24-43; 93-109; Presmeg 2007, S. 435f ). Auf Basis eines noch national bzw. ethnisch konstituierten Kulturkonstrukts wurde in der Ethnomathematik aufgezeigt, wie verschiedene (ethnisch konstituierte) Kulturen unterschiedliche Mathematiken hervorbrachten, um jeweilige Alltagsprobleme (z.B. des Hausbaus oder der Navigation) zu bewältigen. Diese interkulturelle Perspektive ermöglichte eine relativierende Sicht auf die dominierende westliche Mathematik als nur eine (sehr weit ausgebaute) unter mehreren Möglichkeiten (zusammenfassend Bishop 1988; Presmeg 2007, S. 436f ). Im Zuge eines sich erweiternden Kulturkonstrukts als sozial geteiltes Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster jenseits von Nationen und Ethnien wurde auch eine Verbreiterung der interkulturellen Perspektive auf Mathematik möglich: Nicht nur das fertige kulturelle Produkt, sondern zunehmend auch die lebendige Kultur mit ihren eigenen Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmustern wird seit Bishops (1988) viel zitiertem Buch theoretisch und empirisch untersucht. In Bezug auf die Wissenschaftskultur der Mathematik erfolgte dies etwa in wissenschaftssoziologischen Untersuchungen von je spezifischen wissenschaftlichen Praktiken und ihren sozial geteilten Normen. In Bezug auf die Schulmathematik rekonstruierten
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zahlreiche mathematikdidaktischen Videostudien die Mikrokulturen in einzelnen Klassenzimmern und die jeweils notwendigen impliziten Aspekte, die erfasst werden müssen, um daran erfolgreich zu partizipieren. Interkulturalität bezieht sich dabei auf die Begegnung verschiedener Teilkulturen, an denen Lernende teilhaben (Bauersfeld 1992; Presmeg 2007). Diese interkulturellen Perspektiven auf Mathematik ermöglichten die Entwicklung unterschiedlicher theoretischer, empirischer und praktischer Ansätze zur Erklärung und Überwindung sozial-kulturell bedingter Benachteiligungen einiger Lernender im Mathematikunterricht, die im Folgenden skizziert werden.
2.1 Empirische Befunde und theoretische Kategorisierungen zu Leistungsdisparitäten
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2 Defizitorientierte interkulturelle Perspektiven auf Mathematikunterricht seit den 1980er Jahren Interkulturalität im Mathematikunterricht wurde spätestens seit den 1980er Jahren thematisiert, zunächst vor allem aus defizitorientierter Perspektive bzgl. geringerer Leistungserfolge von Lernenden aus den jeweiligen Minderheitenkulturen. In vielen entkolonialisierten Ländern wie Brasilien oder Südafrika zeigt sich die Benachteiligung der einheimischen Bevölkerung durch geringere Schulabschlüsse. In den Einwanderungsländern der westlichen Welt sind vorrangig Migrantengruppen betroffen (Secada 1992). Während in den USA das bereits in den 1980er Jahren etablierte Bildungsmonitoring die Benachteiligung bestimmter sprachlich-kultureller Gruppen wie der Afroamerikaner und Lateinamerikaner frühzeitig aufzeigte, stieg in Deutschland das öffentliche Bewusstsein für sozial-kulturell bedingte Leistungsdisparitäten erst seit etwa 2000 durch Leistungsstudien wie PISA oder IGLU. Dabei wird im deutschen Diskurs um Leistungsdisparitäten noch immer um angemessene Kategorisierungen der benachteiligten Gruppen gerungen (vgl. theoretische Diskussion der sozialen Konstruiertheit von Kategorisierungen in Secada 1992): Während der deutsche Bildungsbericht lange Zeit nur den Ausländerstatus als Kategorisierungskriterium heranzog, hat er nun auch den Migrationshintergrund aufgenommen, weitere relevante Hintergrundfaktoren sind Mehrsprachigkeit, sozioökonomischer Status, Sprachkompetenz und meistens Lesekompetenz im Deutschen. Gerade die Sprachkompetenz im Deutschen (erfasst durch C-Test) erwies sich in einer großen Leistungsstudie als der Hintergrundfaktor mit dem stärksten Zusammenhang zur Mathematikleistung (Prediger et al. 2015, siehe Abschnitt 3). Ähnlich wie in den USA scheint sich die Diskussion um die festgestellten Defizite langsam zu verschieben: Was zunächst als Versagen von Individuen interpretierbar zu sein schien, wird gerade durch internationale Vergleiche nun stärker als das Versagen des deutschen Schulsystems wahrgenommen, Chancengerechtigkeit herzustellen. 2.2 Ansätze zur Überwindung der Disparitäten Angebote zur Erklärung und Überwindung der Disparitäten erwachsen aus dieser defizitorientierten Perspektive der empirischen Bildungsforschung auf Individuen oder auf das Schulsystem nur wenig. Ansätze fokussierten vorrangig auf Interventionen auf institutioneller Ebene wie die Durchmischung von Schuleinzugsgebieten oder die Vorgabe von Kurswahlen, sie zeigten jedoch nur begrenzte Erfolge (zusammenfassend Secada 1992, S. 645ff).
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Dietmar Höttecke
3 Differenzorientierte interkulturelle Perspektiven auf Mathematikunterricht seit den 1990er Jahren
„Culture is acknowledged as a critical element in trying to understand the academic disparities between economically advantaged populations and impoverished ones. But instead of viewing the cultures of these families and communities as pathological and the source of academic school failure, culture is viewed as an area of students’ lives that can contribute to academic success if appropriately understood“ (DIME 2007, S. 416).
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Erst eine Verschiebung der Defizitlogik in eine Differenzlogik ermöglichte eine sensiblere Erklärung von Ursachen von Leistungsdisparitäten und das Auffinden fachbezogener Ansatzpunkte für deren Überwindung (Presmeg 2007). Grundlegend für differenzorientierte Perspektiven ist neben dem Verständnis von Mathematik als kulturelles Produkt (vgl. Abschnitt 1) die Annahme, dass sozial-kulturell bedingte Benachteiligungen durch Differenzen zwischen den schulischen Erwartungen und den mitgebrachten Ressourcen einiger Gruppen entstehen:
Diese Annahme impliziert insbesondere, dass größere Chancengerechtigkeit hergestellt werden kann, wenn geeignete Maßnahmen zur Überbrückung dieser kulturellen Differenzen ergriffen werden. Diese sollen im Folgenden getrennt nach Inhalten, Anwendungskontexten und Praktiken skizziert werden. 3.1 Interkulturelle Differenzen bezüglich der Inhalte des Mathematiklernens Eine erste Bewusstheit für Differenzen entstand in der Mathematikdidaktik in Bezug auf die Inhalte: Die Curricula der entkolonialisierten Länder gerieten unter Kritik, weil sie ausschließlich die dominierende westliche Mathematik vorschrieben. Von einem konsequenteren Einbezug der lokalen ethnomathematischen Inhalte (z.B. kulturellen Produkten der einheimischen Kulturen) in die Curricula erhoffte man sich eine angemessenere Berücksichtigung der einheimischen Minderheitenkulturen (Bishop 1988, S. 92ff). Diese Beachtung kultureller Diversität bzgl. der Inhalte wurde auch übertragen auf die frühe „Ausländerpädagogik des Mathematikunterrichts“ in Deutschland (Lörcher 1985), etwa durch die Forderung nach Berücksichtigung der Vielfalt internationaler Varianten der schriftlichen Rechenverfahren (Abb. 1).
Abb. 1: Internationale Differenzen im Rechenverfahren der schriftlichen Division (nach Lörcher 1985)
Solcherart differenzorientierte Perspektiven erforderten also eine empirische Rekonstruktion von interkulturellen Differenzen in der Mathematik, um diese dann curricular berücksichtigen zu können. Dieses Programm wurde zwar in entkolonialisierten Ländern zum Teil konsequent verfolgt, trug in europäischen Ländern mit ihren Migrantenkulturen jedoch nur begrenzt weit.
Naturwissenschaftliche Unterrichtsfächer
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Einen Schub erhielt das Programm zur Rekonstruktion und Einbeziehung von Differenzen mit einer Verschiebung des Kulturkonstruktes auf überlappende kulturelle Kontexte, in denen sich Menschen gleichzeitig bewegen. Breit rezipiert wurde eine Untersuchung brasilianischer Straßenkinder, deren informelle Rechenstrategien beim Straßenverkauf bemerkenswert elaboriert waren, die diese aber im formalen Mathematikunterricht nicht einbringen konnten, so dass sie dort weiterhin als nicht erfolgreich galten (Nunes et al. 1993, Abb. 2).
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Abb. 2: Alltagsmathematische Ressourcen benachteiligter Kinder (Nunes et al. 1993, S. 41)
Die Fallstudie wurde zum emblematischen Beispiel, wie aus Differenzen (hier in Rechenstrategien) schulische Benachteiligungen werden können, wenn die Schule nicht gezielter auf außerschulische Ressourcen aller Lernenden eingeht und die schulmathematisch üblichen Vorgehensweisen etwas relativiert (Presmeg 2007, S. 448ff). Die Aufmerksamkeit des interkulturellen Diskurses über Mathematikunterricht verschob sich damit (a) von den ethnisch oder national bestimmten, klar abgegrenzten Kulturen hin zu den vielfältigen Transitionen zwischen dynamischen kulturellen Kontexten, und (b) von (Ethno-) Mathematiken als fertige kulturelle Produkte hin zu mathematischen Praktiken in kulturellen Kontexten, deren Relativität deutlicher wurde (Prediger 2004). 3.2 Interkulturelle Differenzen bzgl. der Anwendungskontexte des Mathematiklernens Sowohl die Rückbesinnung auf die Ethnomathematik als auch die Rekonstruktion alltagsmathematischer Ressourcen unterschiedlicher kultureller Gruppen fügen sich stimmig ein in das mathematikdidaktische Programm der Didaktischen Phänomenologie (Freudenthal 1983). Dieses Programm rekonstruiert die Wurzeln mathematischer Inhalte in lebensweltlichen Phänomenen, um dann im Unterricht neue mathematische Inhalte ausgehend von den Vorerfahrungen der Lernenden und von diesen rekonstruierten Phänomenen sinnstiftend erarbeiten zu lassen. Erst in den 1990er Jahren (in Deutschland seit ca. den 2000er Jahren, vgl. Schröder 2000) wuchs allerdings die Sensibilität, dass dieses Programm auch interkulturelle Perspektiven auf Anwendungskontexte berücksichtigen sollte, denn Lernende mit Migrationshintergrund können nur profitieren, wenn das behandelte mathematische Problem auch für sie relevant und die mathematische Lösung adäquat ist. So kann beispielsweise das „gerechte Aufteilen“ eines Schokoriegels erste Vorstellungen zu Brüchen anbahnen (Teile vom Ganzen), in Regionen mit anderen Traditionen wird jedoch ein Schokoriegel nicht gleichmäßig geteilt, sondern zum Beispiel zugunsten eines Gastes. Hier determinieren kulturelle Normen, für wen ein solcher Brückenschlag lernförderlich sein kann (Presmeg 2007). Umgekehrt muss Unterrichtsinteraktion eine Offenheit behalten für interkulturelle Unterschiede in den Lebenswelten (Moschkovich 2010). Einige Bemühungen der deutschen interkulturellen Pädagogik zielten daher darauf, die Lebenswelten von Minderheitenkulturen in den Unterricht besser einzubeziehen, zum Beispiel durch Thematisierung von Fahrten in andere Länder, andere Zeitrechnungen oder der multikulturellen Geschichte der Mathematik (Schröder 2000).
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Dietmar Höttecke
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3.3 Interkulturelle Differenzen bzgl. der impliziten Praktiken des Mathematiktreibens Die Brückenschläge zwischen lebensweltlichen und schulmathematischen Bereichen können nur gelingen, wenn auch die dabei auftauchenden Differenzen in den impliziten Praktiken zum expliziten Bestandteil unterrichtlicher Reflexionen werden. Interkulturelles Lernen in diesem Sinne umfasst nicht nur das Einbeziehen unterschiedlicher Anwendungskontexte, sondern auch das explizite Reflektieren von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen lebensweltlichen und schulmathematischen Praktiken, die sich zum Teil auf sehr subtile Aspekte beziehen können (Prediger 2004), wie zum Beispiel auf Praktiken des Argumentierens oder Erklärens, die im Mathematikunterricht eigenen soziomathematischen Normen unterliegen (Yackel & Cobb 1996). Eine solche Thematisierung erfordert daher zunächst eine genauere empirische Rekonstruktion von Spezifika impliziter Praktiken in den Mikrokulturen der Klassenzimmer, die wesentlich schwieriger ist als die Rekonstruktion von Differenzen auf den offensichtlicheren Ebenen der Inhalte und Anwendungskontexte. Ermöglicht werden die empirischen Rekonstruktionen dieser subtileren Aspekte durch das Verständnis von Schulmathematik als Mikrokultur (vgl. Abschnitt 1). In dieser Perspektive auf implizite Praktiken haben sich zwei Perspektiven verschmolzen: (1) die generell notwendige Enkulturation aller Lernenden in die Mikrokultur des Mathematikunterrichts (Bishop 1988; Prediger 2004) und (2) die soziologische Annahme, dass die Kluft zwischen Lebenswelt und Schule je nach sozial-kulturellem Herkunftsmilieu unterschiedlich groß ist (DIME 2007, S. 410; Presmeg 2007, S. 442). So sind die akzeptierten Argumentationspraktiken an bildungsbürgerlichen Abendbrottischen näher an den unterrichtlichen als die in bildungsferneren Familien. Gerade dieses Beispiel illustriert die Grundannahme der differenzorientierten Perspektive, dass aus einer zunächst wertneutralen Differenz erst Benachteiligungen erwachsen, wenn die Kultur der Schule zu wenig auf die Eigenheiten der Herkunftsmilieus eingeht. 3.4 Differenzen und Brückenschläge bzgl. der Sprache Hinsichtlich der sprachlichen Benachteiligung mehrsprachiger Lernender ist in den letzten Jahren in der Mathematikdidaktik ausführlich diskutiert worden, wie nicht nur die Defizite in der offiziellen Unterrichtssprache (die für eine zunehmende Zahl von Lernenden Zweit- oder Drittsprache ist), sondern auch die erstsprachlichen Ressourcen der Lernenden konsequenter einbezogen werden können (Barwell 2009). Dies gelingt für Länder mit einer geteilten Zweisprachigkeit (wie etwa in Kalifornien, wo Lehrkräfte und Lernende Spanisch und Englisch sprechen) leichter als in Deutschland mit seiner großen Zahl von Migrantensprachen. Auch die zunehmende Sensibilisierung für die Bedeutung bildungssprachlicher in Abgrenzung zu alltagssprachlichen Registern innerhalb der Erst- und Zweitsprache (zusammenfassend Gogolin 2009) haben zur Erklärung beigetragen, wie aus sprachlich-sozial-kulturellen Differenzen Benachteiligungen werden können (vgl. Überblick zur Sprache beim Mathematiklernen in Prediger & Özdil 2011). Maßnahmen zur Überbrückung der bereits genannten Differenzen sind somit zu ergänzen um gezielte durchgängige Förderungen der Bildungssprache (vgl. Abschnitt 4.2).
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Kurz zusammengefasst, gehen Ansätze für einen interkulturellen Mathematikunterricht in differenzorientierter Perspektive davon aus, dass nicht Defizite der Minderheitskulturen, sondern Differenzen der Auslöser schulischer Benachteiligungen sind. Diese werden nur dann zu Benachteiligungen, wenn sie im Unterricht nicht genügend Berücksichtigung finden. Berücksichtigen kann dabei heißen: –– Öffnung der Unterrichtskultur für unterschiedliche Praktiken und individuelle Herangehensweisen der Beteiligten; –– gleichberechtigte (oder zumindest gleich wertschätzende) Behandlung (kulturell) verschiedener Inhalte und Anwendungskontexte; –– Relativierung der schulischen Normalitätserwartungen durch Eingeständnis ihrer kulturbedingten Kontingenz; –– gezielte didaktische Brückenschläge zur Überwindung von Differenzen.
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3.5 Fazit: Ansätze für einen interkulturellen Mathematikunterricht in differenzorientierter Perspektive
All diese differenzorientierten Ansätze ermöglichen auch Mitgliedern der Mehrheitskultur, mehr über kulturelle Differenz zu erfahren, und können damit im übergreifenden Sinne zur interkulturellen Verständigung beitragen (Schröder 2000; Presmeg 2007). In der Tat scheinen differenzorientierte Perspektiven einerseits zu einer respektvolleren Kommunikation über die Herausforderungen einer multikulturellen Gesellschaft geführt zu haben und andererseits zu einer größeren Akzeptanz der Minderheitskulturen. Die eingangs angesprochenen Leistungsdisparitäten und damit verbundenen Chancenungerechtigkeiten dagegen konnten dadurch kaum reduziert werden.
4 Ergänzende förderorientierte interkulturelle Perspektiven auf Mathematikunterricht seit den 2000er Jahren Zwar sind die Mechanismen, wie aus Differenzen Benachteiligungen werden, nicht naturgegeben, doch sind sie allein durch ihre Aufdeckung und den Appell an ihre Berücksichtigung nicht zu beseitigen. Denn für den Schulerfolg erweisen sich einige Praktiken und Ressourcen relevanter als andere, auch wenn alle als Ausgangspunkte gewürdigt werden. Ergänzend zur Frage, wie sich der Mathematikunterricht mehr auf die Lernenden und ihre Diversität zubewegen kann, wird daher in den letzten Jahren zunehmend gefragt, wie benachteiligte Lernende gezielt gefördert werden können, um den schulischen Erwartungen ohne Verlust ihrer kulturellen Identität zu entsprechen. Dazu werden hier drei zentrale Aspekte exemplarisch herausgegriffen: explizite Pädagogik, Sprachförderung und Partizipationsförderung in der Unterrichtsinteraktion. Alle drei Ansätze teilen die theoretische Grundannahme, dass man zwar Differenzen zunächst gründlich verstehen und interkulturell wertschätzen muss, dass Lernende aber nur dann Schul erfolg haben können, wenn sie durch fokussierte Förderung befähigt werden, gewisse schulische Erwartungen auch zu erfüllen. Die zentrale Frage lautet daher: Welche Lerngelegenheiten müssen geboten werden, um sprachlich-kulturell benachteiligten Lernenden zum Schulerfolg in Mathematik zu verhelfen (vgl. Abb. 3)?
Dietmar Höttecke
Abb. 3: Möglichkeiten für das Überbrücken der Differenzen zwischen Lernenden und schulischen Erwartungen
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4.1 Explizite Pädagogik als förderorientierter Ansatz für den Mathematikunterricht Lernende benachteiligter Herkunftsmilieus haben größere Schwierigkeiten, implizite Normen und Praktiken in neuen Kontexten zu erkennen (Gellert 2009). Dies kann auf subtile Weise die Partizipation derart benachteiligter Kinder und Jugendlicher behindern. Ein förderorientierter Ansatz besteht dementsprechend darin, diese wichtigen impliziten Normen und Praktiken sehr viel expliziter zu machen. In einem Unterricht, in dem relevante Normen und Praktiken der Partizipation explizit und damit die Strukturen klar sind, so die These, können sich auch benachteiligte Kinder besser einbringen (Gellert 2009). 4.2 Sprachförderung als förderorientierter Ansatz für den Mathematikunterricht Da die bildungssprachliche Kompetenz in der Unterrichtssprache gemäß aktueller Studien (z.B. Prediger et al. 2015) ein wichtiger Faktor zur Erklärung von Leistungsdisparitäten ist, erscheint die Förderung fachbezogener bildungssprachlicher Kompetenzen als entscheidender Hebel zur Erreichung von mehr Chancengerechtigkeit, die über klassisches, differenzorientiertes interkulturelles Lernen gezielt hinausgehen kann. Empirische Befunde zu den spezifischen sprachlichen Herausforderungen weisen zudem darauf hin, dass die Sprachförderung tatsächlich fachbezogen erfolgen muss, eine fachübergreifende Förderung allgemein also nicht ausreicht (Prediger & Özdil 2011). Zwar gibt es bereits einige vielversprechende mathematikbezogene Ansätze (z.B. Scaffolding, Darstellungsvernetzung, forcierte Sprachproduktion, vgl. erste Überblicke in Prediger & Özdil 2011; Barwell 2009) und vereinzelte empirische Nachweise ihrer Wirksamkeit. Ihre weitere Ausgestaltung und Erforschung, vor allem ausdifferenziert nach Förderansätzen auf Wort-, Satz-Text- und Diskursebene, ist ein zentrales Forschungs- und Entwicklungsdesiderat für alle Fachdidaktiken, nicht nur für Mathematik. 4.3 Partizipationsförderung als förderorientierter Ansatz für den Mathematikunterricht Während differenzorientierte Ansätze davon ausgehen, dass sozial-kulturell benachteiligte Lernende beim Einbringen ihrer lebensweltlichen Ressourcen oft Divergenzen erfahren (Presmeg
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2007), zeigen neuere Untersuchungen, dass sich diese Divergenzen meist nicht in sichtbaren Misserfolgserlebnissen äußern, sondern eher in reduzierter Partizipation einiger Lernender im Klassengeschehen (DIME 2007, S. 408ff). Da Lernerfolg jedoch gebunden ist an die aktive Nutzung von Lerngelegenheiten in der Unterrichtsinteraktion, ist die Förderung der Partizipation aller Lernenden ein zentraler Ansatzpunkt zur Förderung von Chancengerechtigkeit. Dazu sind im Bereich der Sprachförderung insbesondere Diskurskompetenzen notwendig, aber auch eine positive mathematikbezogene Identitätsentwicklung der benachteiligten Lernenden.
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5 Ausblick Das deutsche Schulsystem wurde sich in den letzten Jahrzehnten seiner sozial-kulturell bedingten Chancenungerechtigkeit immer bewusster. Dass die sozial-kulturell bedingten Leistungsdisparitäten oft vor allem (bildungs-)sprachlich vermittelt sind, wird in verschiedenen Untersuchungen immer deutlicher. Daher werden in den nächsten Jahren weitere interdisziplinäre (mit sprach- und fachdidaktischer Expertise getragene) Anstrengungen in Forschung, Entwicklung und Unterrichtspraxis notwendig sein, um die fachbezogenen Hürden genauer zu spezifizieren und gezielte Fördermöglichkeiten zu entwickeln und auf ihre Wirkungen hin zu untersuchen. Dies kann differenzorientierte interkulturelle Ansätze gewinnbringend ergänzen. Literatur
Barwell, Richard (Hg.) (2009): Multilingualism in mathematics classrooms. Bristol: Multilingual Matters. – Bauersfeld, Heinrich (1992): Classroom Cultures from a social constructivist’s perspective. In: Educational Studies in Mathematics 23, S. 467-481. – Bishop, Alan J. (1988): Mathematical Enculturation: A cultural perspective on mathematics education. Dordrecht: Kluwer. – DIME (2007): Diversity in Mathematics Education Center for Learning and Teaching. Culture, Race, Power, and Mathematics Education. In: Frank Lester (Hg.): Second handbook of research on mathematics teaching and learning. Charlotte: Information Age, S. 405-433. – Freudenthal, Hans (1983): Didactical Phenomenology of Mathematical Structures. Dordrecht: Kluwer. – Gellert, Uwe (2009): Zur Explizierung strukturierender Prinzipien mathematischer Unterrichtspraxis. In: Journal für Mathematik-Didaktik 30 (2), S. 121-146. – Gogolin, Ingrid (2009): Zweisprachigkeit und die Entwicklung bildungssprachlicher Fähigkeiten. In: Ingrid Gogolin & Ursula Neumann (Hg.): Streitfall Zweisprachigkeit – The Bilingualism Controversy. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 263-280. – Lörcher, Gustav Adolf (1985): Mathematikunterricht. In: Wolfgang K. Roth (Hg.): Ausländerpädagogik I. Stuttgart: Kohlhammer, S. 108-112. – Moschkovich, Judith N. (2010): Language(s) and Learning Mathematics: Ressources, Challenges and Issues for Research. In: Judith N. Moschkovich (Hg.): Language and Mathematics Education. Multiple Perspectives and Directions for Research. Charlotte: Information Age, S. 1-28. – Nunes, Terezinha; Schliemann, Analucia D. & Carraher, David W. (1993): Street Mathematics and School Mathematics. Cambridge: Cambridge University Press. – Prediger, Susanne & Özdil, Erkan (Hg.) (2011): Mathematiklernen unter Bedingungen der Mehrsprachigkeit. Stand und Perspektiven der Forschung und Entwicklung in Deutschland. Münster: Waxmann. – Prediger, Susanne (2004): Mathematiklernen in interkultureller Perspektive. Mathematikphilosophische, deskriptive und präskriptive Betrachtungen. München: Profil-Verlag. – Prediger, Susanne; Wilhelm, Nadine; Büchter, Andreas; Benholz, Claudia & Gürsoy, Erkan (2015): Sprachkompetenz und Mathematikleistung – Empirische Untersuchung sprachlich bedingter Hürden in den Zentralen Prüfungen 10. In: Journal für Mathematik-Didaktik 36(1), S. 77-104. – Presmeg, Norma (2007): The Role of Culture in Teaching and Learning Mathematics. In: Frank Lester (Hg.): Second Handbook of Research on Mathematics Teaching and Learning. Charlotte: Information Age, S. 435-458. – Schroeder, Joachim (2000): Mathematik. In: Reich, Hans; Holzbrecher, Alfred & Roth, Hans-Joachim (Hg.): Fachdidaktik interkulturell. Ein Handbuch. Opladen: Leske + Budrich, S. 451-468. – Secada, Walter G. (1992): Race, Ethnicity, social class, Language and Achievement in Mathematics. In: Douglas A. Grouws (Hg.): Handbook of Research in Mathematics Teaching and Learning. New York: NCTM, S. 623-660. – Yackel, Erna & Cobb, Paul (1996): Sociomathematical Norms, Argumentation, and Autonomy in Mathematics. In: Journal for Research in Mathematics Education, 27(4), S. 458-477.
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Markus Bartsch
98 Philosophie- und Ethikunterricht Markus Bartsch
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1 Philosophiedidaktik zwischen abendländischer Denktradition und interkultureller Hermeneutik Pädagogik muss sich, soll sie sich im schulischen Raum didaktisch niederschlagen, in Inhalten, Zielen und methodischer Ausrichtung erklären. Sie bedarf darum einer gegenstandsorientierten und auf Wirkung ausgerichteten Systematik. Ebenso muss sich alle Didaktik auch pädagogisch verorten lassen. Dies gilt für das Selbstverständnis werteorientierter Fächer wie Ethik, Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde, Philosophie oder Praktische Philosophie (hier begrifflich in Gesamtheit und mit Bezug auf alle Bundesländer als Philosophie- und Ethikunterricht gefasst) umso mehr. Eine solche systematische und pädagogische Ausrichtung kann darum interkulturelle Prämissen nicht ignorieren. Zwar mag aus akademischer Perspektive eine solche Interdependenz von (interkultureller) Pädagogik und Fachdidaktik evident erscheinen, dennoch muss konstatiert werden, dass trotz der bereits seit Jahrzenten bereitliegenden Bestandsaufnahmen von Sozialwissenschaft und Pädagogik bezüglich interkultureller Wirklichkeitsbedingungen an deutschen Schulen ein solcher Brückenschlag bildungspolitisch eher spät gelang und noch immer nicht in zufriedenstellendem Ausmaß zum Ausbildungsinventar des Lehrer/innenberufes gehört. Dies galt überraschenderweise lange auch für wertorientierte Fächer des Philosophie- und Ethikunterrichts. Erst seit einem sich erweiternden Selbstverständnis der universitären Philosophie hin zur interkulturellen Hermeneutik (Mall 2002; Wimmer 2004) ergab sich auch in der Philosophiedidaktik allmählich eine wahrnehmbare Akzentverschiebung im Sinne eines ‚interkulturellen Polylogs‘ (Bartsch 2009, S. 164ff), galt es doch längst, auf eine ethnisch wie kulturell plurale Schülerklientel zu reagieren. Unter interkulturellem Polylog wird heute eine interkulturelle Kommunikationskultur mit hermeneutischem Anspruch verstanden. Verbunden ist damit eine besondere Haltung des Verstehen- ebenso wie des Verstandenwerdenwollens. Eine solche Haltung erklärt die Momente Selbst- und Fremdverstehen als Einheit, um über akkulturative Divergenzen hinaus kulturübergreifende Deutungsmechanismen von Welt- und Wertvorstellungen freizulegen. Voraus ging innerhalb der Philosophiedidaktik jedoch ein Diskurs um die kulturgeschichtliche Verortung des Faches selbst entgegen einem eurozentrisch vereinfachten Selbstverständnis (Münnix 2005, S. 105f ). Gefordert wurde ein Ethos der Pluralität als multiperspektivisches Programm (Münnix 2004, S. 187ff). Zwei Paradigmen schienen bis in die 1990er Jahre zunächst einander auszuschließen. Wurde Philosophiedidaktik einerseits vornehmlich als Rekonstruktionssystematik abendländischer Denktradition aufgefasst (Rehfus 1986, S. 23), befanden andere, alle Philosophie bestimme sich erst im didaktischen Prozess selbst (Martens 1983, S. 15) und müsse sich darum jeglichen Textgattungen und Traditionen öffnen. Inzwischen widmen sich die Deutsche Gesellschaft für Philosophie, das Forum für Didaktik der Philosophie und Ethik sowie die Fachverbände für Philosophie und Ethik der Frage nach Vermittlungsstrategien interkultureller Kompetenz als einer möglicherweise genuin philosophischen Tugend (Tiedemann et al. 2014,
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S. 7), sodass ein solcher Paradigmenstreit heute durch die erkannten Anforderungen unserer Zeit aufgehoben zu sein scheint.
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2 Philosophiedidaktik im Licht sozialwissenschaftlicher Referenzmodelle Noch zum Millenniumswechsel wurde kritisiert, dass Interkulturelle Bildung in den Fachdidaktiken eher selten und randständig sei. Mit kultureller Vielfalt umgehen zu lernen werde zwar in allgemeiner Weise als notwendige Kompetenz gefordert, etwa um den Anforderungen eines global orientierten Denkens gewachsen zu sein oder heterogene Lebenswelten gestalten zu können, doch sei eine Umsetzung dieses Postulats in fachdidaktischen Konzeptionen erst in Umrissen zu erkennen und bilde sich nicht hinreichend in der Lehrer/innenausbildung ab (Reich et al. 2000, S. 7f ). Gerade mit dem Philosophie- und Ethikunterricht etablierten sich – im Zuge der gesellschaftlich, politisch und akademisch geführten Debatte um Prinzipien der Integration – in den verschiedenen Bundesländern zwar Wirkspielräume, um die ethnisch, religiös und kulturell diffizilen Wirklichkeitsbedingungen einer zur Pluralität verpflichteten Zuwanderungsgesellschaft im schulischen Raum ganz ausdrücklich zum Lern- und Erfahrungsgegenstand zu erheben, doch fehlten zunächst noch Modelle der didaktischen Umsetzung, die auch ein Maßstab für die Lehrer/innenausbildung sein sollten. Schwierigkeiten ergaben sich für die Philosophiedidaktik bis zum Millenniumswechsel auch dadurch, dass zunächst nicht geklärt werden konnte, welchem Referenzmodell zu folgen sei. Fand das Modell der Multikulturalität, das nicht selten im Appellativen verharrte und mit einem unbestimmten Toleranzbegriff einherging, zunächst kaum Beachtung in der Philosophiedidaktik, verstand sie zunehmend die Forderung nach einem interkulturellen Philosophieren als die Suche nach einem pluralen Leitbild als Einheit des Mannigfaltigen. Doch blieb damit nicht selten ein allzu statischer Kulturbegriff verbunden. In Anlehnung an Welsch diskutierte man darum in der Philosophiedidaktik mehr und mehr das Konstrukt transkultureller Begegnungen und einer transversalen Vernunft (Welsch 1996), das den Menschen gemäß seiner individuellen Herkunftsbiographie in seiner jeweiligen Akkulturation in den Mittelpunkt stellte, ohne dass Kultur als Fixum aufgefasst wurde. Die meisten unterrichtspraktischen Entwürfe des Philosophie- und Ethikunterrichts im ethnisch und kulturell pluralen Kontext lehnen sich heute daran an. Inzwischen kann festgehalten werden, dass wohl eine Anzahl an konkretisierenden Publikationen gefolgt ist, mit dem Ziel, die Lücke zwischen Interkultureller Pädagogik und Didaktik zu schließen. Die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten interkulturellen oder transkulturellen Lernens scheint in jüngster Zeit als integrativer Bestandteil inklusiver Leitbilder neu aufgerollt zu werden. So nimmt etwa Reich nicht weniger für sich in Anspruch, als ein verbindliches Leitbild zu entwerfen, das die Idee inklusiver Bildung nicht nur – wie häufig in den Medien verkürzt gezeichnet – auf die gesetzliche Teilhabeberechtigung von Schüler/innen mit Behinderung an Bildungsgängen im Regelschulbereich reduziert. Stattdessen werden Aspekte interkultureller und ethnokultureller Gleichberechtigung, Fragen der Geschlechtergerechtigkeit sowie der sozio-ökonomischen Chancengleichheit als nicht voneinander zu trennende Aufträge des deutschen Bildungssystems und Schulwesens erklärt (Reich 2012, S. 12f.). So werden gerade auch die Herausforderungen bezüglich der Integration zahlreicher Kinder und Jugendlicher aus Krisenregionen der Welt in unsere Gesellschaft und unser Bildungssystem zukünftig didaktische Antworten verlangen, die den so unterschiedlichen biographischen Kontexten und Wertekonstrukten gerecht werden.
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Markus Bartsch
Heiser kritisiert in jüngerer Zeit bereits implizit wieder jenen Umstand, dass die interkulturelle Perspektive als Verpflichtung zur Konkretion erneut aus dem Blickfeld zu geraten drohe (Heiser 2013, S. 9). So macht er es sich nochmalig zum Ziel, die pädagogische Grundierung für Idee und Notwendigkeit des interkulturellen Lernens zu finden. Heiser fragt ganz explizit nach der Verwobenheit von Pädagogik und Philosophie unter Berücksichtigung ihrer interkulturellen Perspektivierung (Heiser 2010, S. 639ff). So muss die Lehrperson wissen, mit wem sie es zu tun hat. Gerade in werteorientierten Fächern bedarf es einer wissenden und zugleich empathischen Haltung, um den oben bereits angeführten hermeneutischen Herausforderungen zu genügen. Eine solche Haltung wird nicht nur von der Lehrperson verlangt, sondern muss Teil des Anspruchs werden, interkulturelle Kompetenz zu vermitteln.
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3 Das Problem föderativ bedingter Akzentuierungen Für eine länderübergreifende Analyse bezüglich interkultureller Implikationen aller Fächer des Philosophie- und Ethikunterrichts kommt trotz aller Fortschritte bis heute erschwerend hinzu, dass die einzelnen Curricula in ihren Ausrichtungen eng mit den jeweiligen Landesverfassungen verknüpft bleiben. Um eine vergleichbare Stoßrichtung zu definieren, veröffentlichte die Kultusministerkonferenz 2008 ihren Bericht Zur Situation des Ethikunterrichts in der Bundesrepublik Deutschland, mit dem sie noch einmal ausdrücklich auf die besonderen Aufgaben aller darunter gefassten Fächer verweist (KMK 2008, S. 8). Sie greift damit zugleich vieles von dem auf, was durch die didaktische Diskussion vorbereitet wurde und sich seit der Millenniumszäsur sukzessive in der Schulpraxis niederschlug. Als Unterrichtsfächer, die sich der Erziehung zur Mündigkeit verpflichten, indem sie jenseits eines besonderen Glaubensbekenntnisses Schüler/innen von ganz unterschiedlichem ethnischen, nationalen und religiösen Selbstverständnis zum Diskurs anleiten, dienen Ethik- und Philosophieunterricht u.a. der Werteerziehung in der Weise, dass ein demokratisches Selbstverständnis als übergeordnetes und zugleich lebbares Konstrukt die Auseinandersetzung mit kulturellen und religiösen Gemeinsamkeiten sowie Differenzen ermöglichen soll. So formulierten bereits der Fachverband für Philosophie (Konstanzer Erklärung 1999) sowie die Deutsche Gesellschaft für Philosophie (Bonner Erklärung 2002) ein entsprechendes Selbstverständnis für das didaktisch zu begleitende Philosophieren auch an Schulen. Verbunden ist damit ein besonderes Aufklärungsverständnis. Mündigkeit meint hierbei das eigene und fremde Vermeinen sowie unterschiedliche Welt- und Lebenskonstrukte vor dem Hintergrund eigener und fremder Akkulturation verstehen zu lernen. Selbst- und Fremdverstehen münden damit in einem weiter zu fassenden Erkenntnishorizont, indem Kultur eher phänomenologisch und dynamisch, weniger als Setzung in den Blick kommt. Nur so kann die Philosophiedidaktik Schüler/innen zu Perspektivwechseln anleiten. Damit die/der Einzelne die eigene Haltung nicht in absoluten Stand erhebt, sollen junge Menschen doch innerhalb einer pluralen Gesellschaft transkulturell nach einer Einheit in der Mannigfaltigkeit suchen, die sich mit verfassungskonformen Bedingungen wie Gleichberechtigung und Menschenwürde vereinbaren lassen. Ungeklärt scheint bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt, welches Verhältnis im gesamten Fächerkanon christlich-konfessionell orientierter Religionsunterricht, Islamunterricht und Ethik- sowie Philosophieunterricht in den einzelnen Bundesländern zueinander haben sollten. Nicht selten gelten Philosophie- und Ethikunterricht als sogenanntes Ersatzfach für bekenntnisorientierten Religionsunterricht. So sind Schüler/innen zumeist aufgrund der Setzung der einzelnen Fächer innerhalb schulischer Stundentafeln gezwungen, sich zwischen Religionsunterricht, Ethik oder
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Philosophieunterricht zu entscheiden. Es wäre lohnenswert zu diskutieren, ob diese Praxis im Sinne des Erlernens interkultureller Kompetenzen sinnvoll ist.
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Literatur
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99 Religion und interreligiöser Unterricht Thorsten Knauth und Dörthe Vieregge
An öffentlichen Schulen in Deutschland hat das Fach Religion einen besonderen Status. Als einziges Schulfach ist es im Grundgesetz (GG) verankert. In Art. 7,3 GG ist festgelegt, dass Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften zu erteilen sei. Aus dieser grundgesetzlichen Regelung folgt in den meisten Bundesländern ein nach Konfessionen und Religionen getrennter Religionsunterricht, für den die Religionsgemeinschaften die inhaltliche Verantwortung übernehmen. Bis vor wenigen Jahren wurde – von wenigen Ausnahmen abgesehen – an den Schulen überwiegend evangelischer und katholischer Religionsunterricht (RU) angeboten. Für Schüler/innen, die von dem Recht auf Abmeldung Gebrauch machten, wurde ein Ersatzfach (bezeichnet z.B. als Ethik, Werte und Normen, Philosophie) eingerichtet. Erst seit wenigen Jahren wird der christlich-konfessionelle RU um Angebote anderer Religionsgemeinschaften erweitert, vor allem um islamischen und alevitischen Unterricht. Die Öffnung für religiöse Vielfalt und interreligiöses Lernen vollzieht sich langsam und schrittweise. Erst seit den 1990er Jahren sind die Begriffe interreligiöses Lernen bzw. interreligiöse Bildung gebräuchlich – und auch die Anzahl der einschlägigen Veröffentlichungen zu diesem Thema ist überschaubar (vgl. Lähnemann 1998; Knauth 1996; Weiße 1996; Rickers & Gottwald 1998; Schreiner et al. 2005; Leimgruber 2007; Schweitzer 2014). Unter interreligiöser Bildung sei hier – mit Schweitzer – eine Dimension von Bildung verstanden, „die sich auf die Wahrnehmung eigener und anderer Religionen und ihr Verhältnis zueinander bezieht, die auf wechselseitigem Verstehen beruhende dialogische Einstellungen anstrebt und zu einem gesellschaftlichen Zusammenleben im Sinn von Frieden und Toleranz, Anerkennung des Anderen und Respekt voreinander befähigt“ (Schweitzer 2014, S. 132). Stephan Leimgruber (2007, S. 20f ) unterscheidet beim interreligiösen Lernen ein enges und ein weites Verständnis. Bezieht sich das weite Verständnis auch auf medial vermittelte, indirekte Formen der Wahrnehmung anderer Religionen, spielt in einem engen Verständnis das Moment personaler Begegnung und unmittelbaren Dialogs die Ausschlag gebende Rolle. Begegnung und Dialog sind auch wichtige Kennzeichen eines interreligiösen Unterrichts. Wir verstehen unter interreligiöser Bildung eine Form des Lernens, in der es zu einer auf dialogischen Begegnungen beruhenden Wahrnehmung von religiöser Vielfalt in unterschiedlichen sozialen Kontexten kommt, die das wechselseitige Verstehen, die gegenseitige Anerkennung und das Engagement für eine gerechte, von egalitärer Differenz geprägte Welt fördert.
1 Von der Weltreligionendidaktik zum interreligiösen Lernen Eine erste nennenswerte Beschäftigung mit anderen als christlichen Religionen fand in der Religionspädagogik Anfang der 1970er Jahre statt. Zuvor lag die didaktische Konzentration auf katechetisch orientierter Glaubensunterweisung bzw. hermeneutisch orientierter Einführung in christliche Tradition (vgl. Bolle et al. 2002). Mit den durch die „politische Generation“ der Schüler/innen und Student/innen der 1968er Jahre getragenen gesellschaftlichen Reformprozessen, die sich auf den Bildungsbereich, aber auch auf die Kirchen erstreckten, wurden im
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Religion und interreligiöser Unterricht
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RU Forderungen nach einer gegenwarts- und gesellschaftsbezogenen Auseinandersetzung mit Religion didaktisch umgesetzt (vgl. Knauth 2003). Sogenannten nicht-christlichen Religionen wurde nun im Rahmen von Konzeptionen problemorientierten RU eine gewisse Aufmerksamkeit geschenkt. Diese neue Beachtung von Weltreligionen stellte zweifellos einen Fortschritt gegenüber einer Wahrnehmung dar, wie sie noch in missionstheologischen Ansätzen leitend war, als nicht-christliche Religionen im Grunde als Varianten des Heidentums, auf jeden Fall aber als gegenüber dem Christentum defizitär und unzulänglich dargestellt wurden (vgl. Weiße 1999, S. 185f ). Allerdings blieb die Darstellung der Religionen an ihren Lehrgebäuden orientiert, war von gelebten Praxen und konkreten Kontexten abgelöst und nahm wenig Rücksicht auf regionale Differenzierungen bzw. auf die religiöse und kulturelle Vielfalt innerhalb der Religionen. Wo – wie in problemorientierten Ansätzen üblich – gesellschaftliche Bezüge aufgenommen wurden, wurde Religion, vor allem der Islam, im Rahmen der Gastarbeiter-Thematik behandelt. Ein defizitorientierter Blick auf den Islam stärkte den Eindruck einer problematischen Religion, die in Hinterhöfen praktiziert wird und eine überkommene, rückständige und reglementierende Traditionsorientierung aufweist. Die an den Lehrgebäuden orientierte Darstellung von Religionen war bis in die 1980er Jahre leitend. Sie bildete auch die Vorlage für Lehrpläne, in denen die Auseinandersetzung mit verschiedenen Religionen im Rahmen von besonderen Unterrichtseinheiten stattfand (vgl. zum Überblick Lähnemann 1994). Erst im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Diskussionen über Multikulturalität und damit verbundener religiöser Pluralisierung fand auch in der Religionspädagogik ein Perspektivenwechsel statt. Profitiert hat die Religionspädagogik hier von Diskussionen in der interkulturellen Pädagogik, dem ökumenischen Lernen (vgl. Orth 1991), Entwicklungen in der englischen Religionspädagogik (vgl. Grimmitt 1991), aber auch Ansätzen in der Religionswissenschaft (vgl. Tworuschka 1988). Erst bei diesen Zugängen ist es sachlich angemessen, von interreligiösem Lernen zu sprechen, weil es in ihnen um eine dialogische Beziehung zwischen den eigenen und anderen religiösen Orientierungen geht: Die Religionen werden aspektreicher repräsentiert, bei der Darstellung stehen – orientiert am Prinzip authentischer Selbstdarstellung – Personen und erkennbare soziale und kulturelle Kontexte im Vordergrund. Didaktisch setzt sich stärker durch, statt kompakter Information eher verschiedene religiöse Perspektiven auf Themen und Einzelaspekte von Religionen zum Tragen kommen zu lassen. Erfahrungsorientierte Zugänge, auch Erkundungen religiöser Lebenswelten werden üblich. Besonders in der Grundschule werden häufig narrative Zugänge mit Geschichten aus den Religionen gewählt (vgl. zum Überblick Schreiner et al. 2005).
2 Interreligiöser Religionsunterricht: Zum Stand der Diskussion Dass interreligiöses Lernen einen Raum im RU haben sollte, wird inzwischen von den meisten Vertreter/innen universitärerer Religionspädagogik befürwortet. Dies gilt nicht nur für die evangelische und katholische, sondern auch für die islamische Religionspädagogik, welche sich zurzeit an deutschen Universitäten etabliert. Auch im Rahmen der Diskussion über kompetenzorientierten RU hat interreligiöse Kompetenz in verschiedene Modelle von Kompetenzbeschreibungen Eingang gefunden. Über die Frage der schulischen Organisationsform des RU und damit verbunden auch der Gestaltung interreligiöser Lernprozesse gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen (vgl. Kenngott et al. 2014). So wird beispielsweise interreligiöse Bildung als eine Querschnittsdimension des konfessionellen RU verstanden, bei dem der Unterricht sein kennzeichnendes Profil – etwa als evangelischer,
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katholischer oder islamischer Religionsunterricht – beibehält, aber die Schüler/innen aufgefordert sind, den eigenen Glauben auch im Horizont anderer Glaubensweisen zu erschließen (vgl. Schweitzer 2014, S. 143). Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass ein tiefergehendes Verständnis der „eigenen Religion“ erst im Lichte der Auseinandersetzung mit anderen Religionen möglich ist. Darüber hinaus finden sich in einigen Bundesländern Modelle eines konfessionell-kooperativen RU, bei denen es zu einer offiziell geregelten Kooperation zwischen evangelischem und katholischem sowie perspektivisch auch islamischem und alevitischem RU (und ggf. weiterer Religionsunterrichte, wie z.B. dem jüdischen Religionsunterricht) kommt, die sich auf der Ebene der einzelnen Schulen in sehr unterschiedlicher Form niederschlagen kann (etwa als Team-Teaching auf der Lehrerebene, sich abwechselnder Phasen gemeinsamen und getrennten Unterrichts etc.). Neue Entwicklungen gibt es in Bremen, wo im Rahmen eines staatlich verantworteten Religionsunterrichts interreligiöses Lernen in einem gemeinsamen RU für alle Schüler/innen gestärkt werden soll. Auch das Fach „Lebensgestaltung – Ethik – Religionen“ in Brandenburg beansprucht, Religion in der Vielfalt ihrer Traditionen im Rahmen eines bekenntnisneutralen Unterrichts zu erschließen. Daneben werden an Schulen Möglichkeiten realisiert, im Rahmen religionsbezogener Projekte religiöse Vielfalt kennenzulernen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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3 Der Hamburger Weg eines „Religionsunterrichts für alle“ Ungeachtet dieser verschiedenen Ansätze und Zugänge gilt es festzuhalten: Von einem interreligiösen Unterricht kann in Deutschland nur im Falle des Religionsunterrichts in Hamburg gesprochen werden, denn dort werden die Schüler/innen im RU nicht nach Konfessionen und Religionen getrennt, sondern gemeinsam im Klassenverband unterrichtet. Im Zentrum des Unterrichts steht die Begegnung mit der religiösen Pluralität vor Ort; es soll der Dialog zwischen Menschen verschiedenen religiösen Hintergrunds im Klassenraum, in der Schule, der Nachbarschaft einer Gemeinde, einer Stadt, einer Region angebahnt werden (vgl. Weiße 1999). Der für den Hamburger Ansatz konstitutive Begriff des Dialogs (oder des dialogischen Lernens) wird als Grundbegriff religionspädagogischen Handelns konzeptualisiert, das sich auf die Individualisierung und Pluralisierung religiöser Sinnbezüge sowie den Verlust der normativen Kraft religiöser Traditionen einstellt. Religiöse Lernprozesse von Kindern und Jugendlichen sind dann an die Voraussetzung gebunden, dass den Heranwachsenden überhaupt erst einmal eine Möglichkeit gegeben wird, in kommunikativen und interaktiven Bezügen ein Verständnis ihrer Selbst, ihrer religiösen Vorstellungen und ihrer Umwelt zu entwickeln (vgl. Knauth 1996, S. 272f ). Bis vor kurzem wurde der „Religionsunterricht für alle“ von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (ehemals Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche) „in evangelischer Verantwortung und ökumenischer Offenheit“ getragen; diese nahm anwaltschaftlich die Anliegen der anderen Religionsgemeinschaften auf. Seit Abschluss von Staatsverträgen zwischen der Freien und Hansestadt Hamburg und der muslimischen sowie der alevitischen Religionsgemeinschaft im Jahr 2013 wird – zunächst in einer fünfjährigen Pilotphase – der „Religionsunterricht für alle“ in „gleichberechtigter Verantwortung“ erteilt (vgl. Haese 2013, S. 20). Während der Hamburger Weg eines dialogischen „RU für alle“ in Deutschland eine Ausnahme darstellt, ist er in der religionspädagogischen Landschaft Europas vielseitig anerkannt. Formen gemeinsamen Unterrichts sind z.B. in England sowie einigen skandinavischen Ländern selbst-
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Religion und interreligiöser Unterricht
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verständlich und werden auch von europäischen Institutionen gefordert und unterstützt (vgl. Council of Europe 2014). Grundbedingungen, Möglichkeiten und Grenzen interreligiösen Lernens im Hamburger RU werden seit Mitte der 1990er Jahre empirisch erforscht, auch vergleichend in mehreren europäischen Ländern im Rahmen des europäischen Forschungsprojekts „Religion in Education“ (REDCo) (vgl. Weiße 2009). Die Forschungsergebnisse zeigen die Bedeutsamkeit eines interreligiös-dialogischen RU auf: Zum einen besitzen die Schüler/innen ein klares Bewusstsein für die religiöse Pluralität der Gesellschaft, schätzen diese generell wert und sehen es als notwendige Bildungsaufgabe an, mit religiöser Vielfalt und Differenz umgehen zu lernen. Zum anderen finden sich aber auch eine Reihe von religionsbezogenen Vorurteilen sowie religiöse Abgrenzungstendenzen. Auch ist der schulische RU häufig der einzige Ort, an dem sich die Schüler/innen über unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Orientierungen austauschen und mit dem damit auch verbundenen Konfliktpotential umgehen lernen können (vgl. u.a. Jozsa et al. 2009). Insgesamt steht die Religionspädagogik im Hinblick auf interreligiöses Lernen vor der Herausforderung, die verschiedenen Dimensionen von Differenzverhältnissen zusammenzudenken und Überlegungen zu einer „Religionspädagogik der Vielfalt“ (Arzt et al. 2009) voranzutreiben. Denn die Schüler/innen bilden nicht nur im Blick auf ihre religiösen Hintergründe eine äußerst heterogene Gruppe, sondern sind als Individuen am Schnittpunkt von sehr unterschiedlichen Differenzachsen – wie Alter, soziale Schicht, Geschlecht, „Behinderung“/“Nichtbehinderung“ – positioniert, die je nach unterrichtlichem Kontext unterschiedliche Bedeutsamkeit entfalten. Es gilt für die unterschiedlichen Kontexte immer wieder neu auszuloten, wie verschiedene Differenzlinien miteinander verknüpft sind und wie diese Verwobenheit von Differenzen mit jeweils unterschiedlichen Subjekt- und Identitätspositionen einhergeht. Literatur
Arzt, Silvia; Jakobs, Monika; Knauth, Thorsten & Pithan, Annabelle (2009): Gender und Religionspädagogik der Vielfalt. Einleitung. In: Gender - Religion - Bildung. Beiträge zu einer Religionspädagogik der Vielfalt. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 9-28. – Bolle, Rainer; Knauth, Thorsten & Weiße, Wolfram (2002): Hauptströmungen evangelischer Religionspädagogik im 20. Jahrhundert. Münster: Waxmann. – Council of Europe (Hg.) (2014): Signposts - Policy and practice for teaching about religions and non-religious world views in intercultural education. Strasbourg: Council of Europe Publishing. – Jozsa, Dan-Paul; Knauth, Thorsten & Weiße, Wolfram (Hg.) (2009): Religionsunterricht, Dialog und Konflikt. Analysen im Kontext Europas. Waxmann: Münster. – Grimmitt, Michael (1992): Religionspädagogik im pluralistischen und multikulturellen Kontext Englands. In: Jahrbuch der Religionspädagogik, Bd. 8. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft, S. 37-54. – Haese, Bernd-Michael (2013): Zum Stand des Religionsunterrichts für alle in Hamburg. In: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 1, S. 15-24. – Kenngott, Eva; Englert, Rudolf & Knauth, Thorsten (Hg.) (2014): Konfessionell - interreligiös - religionskundlich: Unterrichtsmodelle in der Diskussion. Stuttgart: Kohlhammer. – Knauth, Thorsten (1996): Religionsunterricht und Dialog. Empirische Untersuchungen, systematische Überlegungen und didaktische Perspektiven eines Religionsunterrichts im Horizont religiöser und kultureller Pluralisierung. Münster: Waxmann. – Knauth, Thorsten (2003): Problemorientierter Religionsunterricht. Eine kritische Rekonstruktion. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. – Lähnemann, Johannes (1998): Evangelische Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. – Leimgruber, Stephan (2007): Interreligiöses Lernen. München: Kösel. – Orth, Gottfried (Hg.) (1991): Dem bewohnten Erdkreis Schalom. Beiträge zu einer Zwischenbilanz ökumenischen Lernens. Münster: Comenius Institut. – Rickers, Folkert & Gottwald, Eckart (Hg.) (1998): Vom religiösen zum interreligiösen Lernen. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft. – Schreiner, Peter; Sieg, Ursula & Elsenbast, Volker (Hg.) (2005): Handbuch Interreligiöses Lernen. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. – Tworuschka, Udo (1988): Perspektiven einer innovativen Religionswissenschaft. In: Manfred Kwiran & Herbert Schultze (Hg.): Bildungsinhalt Weltreligionen. Münster: Comenius Institut, S. 31-41. – Tworuschka, Udo (1994): Weltreligionen im Unterricht oder Interreligiöses Lernen? In: Johannes A. van der Ven & Hans Georg Ziebertz (Hg.): Religiöser Pluralismus und interreligiöses Lernen. Kampen, S. 171-196. – Weiße, Wolfram (Hg.)
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100 Islamischer Religionsunterricht Riem Spielhaus Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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(1996): Vom Monolog zum Dialog. Ansätze einer dialogischen Religionspädagogik. Münster: Waxmann. – Weiße, Wolfram (1999): Ökumenische Theologie und interreligiöse Dialogerfahrungen. Anstöße für die Religionspädagogik. In: Wolfram Weiße (Hg.): Vom Monolog zum Dialog. Ansätze einer dialogischen Religionspädagogik, 2. erw. Aufl. Münster: Waxmann, S. 181-202. – Weiße, Wolfram (2009): Das Forschungsprojekt REDC o. Religion im Bildungswesen: Ein Beitrag zum Dialog oder ein Konfliktfaktor in sich verändernden Gesellschaften europäischer Staaten. In: Dan-Paul Jozsa; Thorsten Knauth & Wolfram Weiße (Hg.): Religionsunterricht, Dialog und Konflikt. Analysen im Kontext Europas. Münster: Waxmann, S. 11-25.
Geschätzte 700.000 muslimische Kinder besuchten im Jahr 2009 deutsche Schulen (Haug et al. 2009, S. 330). Daraus leitete die damalige Bundesbildungsministerin Annette Schavan einen erheblichen Bedarf an der Einführung eines islamischen Religionsunterrichts als Bekenntnisunterricht ab. Im Gegensatz zu religionskundlichen Fächern muss der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen laut Grundgesetz „in Übereinstimmung mit den Religionsgemeinschaften“ erteilt werden (Art. 7, Abs. 3 des Grundgesetzes), wobei für die Bundesländer Berlin, Brandenburg und Bremen jedoch eine Ausnahmeregelung gilt: In Bremen wird das Fach „Religionskunde“, in Brandenburg das Fach „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“ jeweils als nicht-bekenntnisorientiertes Lehrkonzept angeboten. In Berlin erstritt sich die Islamische Föderation Berlin 1999 das Recht, islamischen Religionsunterricht als freiwilliges und nicht versetzungsrelevantes Fach mit finanzieller Unterstützung durch den Senat anzubieten, es wurde 2001 eingeführt. Auch die Alevitische Gemeinde bietet nach diesem Modell Religionsunterricht in Berlin an. Bis 2016 haben acht Bundesländer Angebote für islamischen Religionsunterricht nach Art 7 Abs. 3 des Grundgesetzes – also einen Bekenntnisunterricht in Kooperation mit islamischen Religionsgemeinschaften – eingeführt oder arbeiten mit Modellprojekten darauf hin: Niedersachsen baute das Modellprojekt für islamischen Religionsunterricht 2013 mit Hilfe eines von der DITIB-Niedersachsen und der Schura Niedersachsen gegründeten Beirats zum Regelfach aus. Das Land Hessen führte das Fach 2013 gemeinsam mit der DITIB-Hessen und der Ahmadiyya Muslim Jamaat als Kooperationspartner an Grundschulen ein. Die DITIB ist ein von türkeistämmigen Gastarbeitern 1982 gegründeter Dachverband, der in den vergangenen Jahren Landesstrukturen aufgebaut hat. Die Schura Niedersachsen ist – wie andere Schuren – ein Zusammenschluss von Moscheegemeinden auf Landesebene, der Vereine unterschiedlicher Glaubensrichtung (z.B. schiitische und sunnitische) und Herkunft vereint. Die Ahmadiyya Muslim Jamaat entstand auf dem Territorium des heutigen Pakistans und ist seit dem frühen 20. Jahrhundert in Deutschland aktiv.
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Islamischer Religionsunterricht
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Nordrhein-Westfalen hat 2011 ein Übergangsgesetz erlassen, um ein 2012 begonnenes Modelprojekt bis 2019 in ein ordentliches Schulfach zu überführen. Die Alevitische Gemeinde Deutschland (AABF) hat sich in sieben Bundesländern erfolgreich für die Anerkennung als Kooperationspartner für den Alevitischen Religionsunterricht (ARU) eingesetzt und ein separates Curriculum in Nordrhein-Westfalen entwickelt, das als Vorbild für den ARU in anderen Bundesländern dient. In Hamburg haben sich mehrere Religionsgemeinschaften, darunter auch die islamischen Gemeinden entschieden, einen „Religionsunterricht für Alle“ anzubieten. Schülerinnen und Schüler erhalten dabei eine Einführung in unterschiedliche Religionen, wobei der Islam aus Sicht muslimischer Pädagogen erklärt wird. Bundesländer wie Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz erproben den Islamunterricht weiterhin in Modellprojekten, bieten aber 2016 noch keine flächendeckende Umsetzung an. Die Modellprojekte sind in Kooperation mit islamischen Gemeinden angelegt und gewährleisten die im Grundgesetz eingeforderte Beteiligung beispielsweise über Projektbeiräte. Diese haben Mitspracherecht bei der Erstellung von Curricula und Unterrichtsinhalten. Trotz des im Grundgesetz abgesicherten Anspruchs auf Religionsunterricht gibt es in den neuen Bundesländern weiterhin Schwierigkeiten bei der Bereitstellung von islamischen Angeboten, was neben dem Fehlen islamischer Kooperationspartner auch der geringen Anzahl muslimischer Schüler geschuldet ist. In Schleswig-Holstein wird trotz der grundgesetzlichen Regelung das Fach „Islamunterricht“ ohne Beteiligung islamischer Religionsgemeinschaften angeboten.
1 Bemühungen um den Islamischen Religionsunterricht in Deutschland seit den 1970er Jahren In Politik, Medien und Forschung war islamische Bildung in Deutschland lange Zeit vor allem ein kontroverses Thema, das mit Blick auf Koranschulen lokaler Moscheegemeinden zumeist als Problem beschrieben wurde. Mittlerweile wird islamische Bildung in Form eines Islamischen Religionsunterrichts in deutscher Sprache an staatlichen Schulen als Chance diskutiert, wie der Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Osnabrück Bülent Ucar feststellt. Die vermutete Indoktrination in Deutschland aufwachsender muslimischer Kinder in Moscheegemeinden stehe in einigen Charakterisierungen dieses Themenfeldes der Hoffnung auf die Etablierung eines deutschen Reformislams gegenüber, der die Radikalisierung von Jugendlichen verhindern und langfristig ein aufgeklärtes Religionsverständnis in die islamische Welt transportieren könne, in jedem Falle aber der Integration zuträglich sein solle. Das Fach drohe mit all diesen Erwartungen allerdings überfordert zu werden (Ucar 2012). Die Einführung eines Religionsunterrichts für muslimische Schülerinnen und Schüler als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen war in den vergangenen Jahren eine der am nachdrücklichsten vorgebrachten Forderungen islamischer Organisationen. Die Organisationen beriefen sich dabei unter anderem auf die grundgesetzliche Regelung und beanspruchten Gleichstellung mit den Kirchen. Ende der 1970er haben sich islamische Organisationen wie der Verein islamischer Kulturzentren erstmals mit dem Vorhaben, einen Islamischen Religionsunterricht (IRU) einzurichten, an einzelne Landesregierungen gewandt. Doch erst zu Beginn der 2000er Jahre wurden – über den beispielsweise mit dem türkischen Konsulat durchgeführten muttersprachlichen Unterricht und die Modellprojekte für den islamkundlichen Unterricht unter Federführung der Landesschulministerien hinaus – erste Maßnahmen zu dessen Umsetzung ergriffen (Kiefer et al. 2008).
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2 Herausforderungen für den Islamischen Religionsunterricht Grund für den Stillstand und die gewählten Übergangslösungen war, dass die sich als Kooperations- und Ansprechpartner für das jeweilige Bundesland anbietenden islamischen Organisationen nicht alle Voraussetzungen einer Religionsgemeinschaft erfüllten. Lange Zeit galten hier die Strukturen der christlichen Kirchen als Vorbild. Die ersten Anträge von Moscheezusammenschlüssen in den 1970er Jahren auf Einführung eines Islamischen Religionsunterrichts wurden mit Verweis auf die fehlende „Gewähr der Dauer“ und den fehlenden Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts abgewiesen. In Zusammenarbeit mit Elterninitiativen wie in Bayern oder der Etablierung langfristiger Kommunikationsprozesse wie in Niedersachsen mit dem Runden Tisch der Landesregierung zum Islamischen Religionsunterricht (2002-2011) wurden allerdings pragmatische Wege gefunden, um unter Beteiligung muslimischer Vertreterinnen und Vertreter die Inhalte und Strukturen des Religionsunterrichts abzustimmen (Tillmanns 2012; Badawia 2012). Islamische Organisationen haben in den vergangenen Jahrzehnten ihre Strukturen ausgebaut und sich professionalisiert, wenngleich dieser Prozess noch längst nicht abgeschlossen scheint und in den verschiedenen Bundesländern in unterschiedlicher Geschwindigkeit erfolgt. Der Wunsch nach IRU scheint dabei in der Vergangenheit ein wesentlicher Impuls für islamische Organisationen gewesen zu sein, sich um eine rechtliche Anerkennung bspw. in Form einer Körperschaft öffentlichen Rechts zu bemühen.
3 Durchbruch im Rahmen der Deutschen Islam-Konferenz Als eines der wichtigsten Themen aus Sicht der muslimischen Vertreterinnen und Vertreter wurde der Religionsunterricht in der ersten Phase der der Deutschen Islam-Konferenz (2006-2009) aufgegriffen. Eine im Auftrag der Deutschen Islam-Konferenz (DIK) durchgeführte Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ergab, dass 2009 ca. 700.000 muslimische Kinder deutsche Schulen besuchten und demnach ein erheblicher Bedarf an islamischem Religionsunterricht bestehe. Die Befragung ergab auch, dass 76% der Muslime in Deutschland dafür plädieren, das Fach in den Unterrichtsplan aufzunehmen (Haug et al. 2009, S. 330). Im Rahmen der ersten Phase der Deutschen Islam-Konferenz (DIK) wurden unter Federführung der mit Verfassungsfragen befassten Arbeitsgruppe die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG geprüft und eine Positivliste erstellt, die im Sommer 2008 durch die Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) diskutiert wurde (Busch & Goltz 2011, S. 38). Dies führte zu einer KMK-Empfehlung an die Länder, das Konsenspapier der Deutschen Islam-Konferenz bei der Umsetzung des Religionsunterrichts auf Landesebene zu berücksichtigen (Deutsche Islam-Konferenz 2011).
4 Lehrer/innenausbildung und Schulbücher Zur Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern für den islamischen Religionsunterricht wurden nach Empfehlung des Wissenschaftsrats (2010) im Rahmen einer Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung BMBF vier Zentren für Islamische Theologie an sechs staatlichen Universitäten eingerichtet. Ihre Aufgabe ist unter anderem die Ausbildung von Lehramtsstudierenden für den Religionsunterricht. Im Rahmen einer Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung BMBF wurden 2011 fünf Zentren für islamische Theologie – in einigen Fällen auch islamische Studien genannt – an sechs staatlichen Universitäten eingerichtet (Bundesministerium für Bildung und For-
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schung 2017). Seitdem bilden diese Zentren Lehrkräfte für den islamischen Religionsunterricht aus, aber auch Sozialarbeiter und Theologen für die Arbeit in Moscheen und islamischen Organisationen. An einigen Zentren entstehen außerdem Schulbücher für islamischen Religionsunterricht (z.B. Harun-Behr et al. seit 2008; Yakar et al. 2008; Erkan et al. seit 2009; Khorchide seit 2012). Zunächst wurden diese Einrichtungen für fünf Jahre mit insgesamt rund 20 Millionen Euro gefördert. Nach einer positiven Evaluierung Ende 2015 wurde das BMBF-Programm bis 2020 verlängert. Dadurch können jeweils vier Forschungsprofessuren pro Zentrum sowie die Qualifizierung von Nachwuchswissenschaftlern finanziert werden. Folgende Zentren für Islamische Theologie werden vom BMBF gefördert: • das Zentrum für Islamische Theologie (ZITH) in Tübingen • das Zentrum für Islamische Theologie (ZIT) in Münster • das Institut für Islamische Theologie (IIT) in Osnabrück • das Zentrum für Islamische Studien (ZEFIS) in Frankfurt/Gießen • das Department Islamisch-Religiöse Studien (DIRS) in Erlangen-Nürnberg
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Islamischer Religionsunterricht
Neben diesen Zentren entstanden weitere islamische Lehrstühle an der Akademie der Weltreligionen (AWR) der Universität Hamburg und am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) der Universität Paderborn. Der Berliner Senat für Wissenschaft hat die Einrichtung eines Instituts für islamische Theologie ab Herbst 2018 an der HumboldtUniversität zu Berlin beschlossen und stellt für die Gründungsphase 500.000 Euro zur Verfügung (Humboldt-Universität zu Berlin 2016). Neben den Zentren und Lehrstühlen entstanden in Baden-Württemberg an drei pädagogischen Hochschulen Studiengänge für islamische Theologie und Religionspädagogik zur Ausbildung des Lehrpersonals für den islamischen Religionsunterricht. Die meisten Zentren für islamische Theologie arbeiten zum Beispiel bei der Besetzung von Lehrstühlen und der Erstellung von Studien- und Prüfungsordnungen mit Beiräten islamischer Religionsgemeinschaften zusammen. Allerdings war die Besetzung dieser Beiräte an mehreren Standorten umstritten. Weil es bis vor wenigen Jahren keine Studienausbildung gab, sind bisher die Lehrkräfte für bestehende Angebote des islamischen Religionsunterrichts vorwiegend Quereinsteiger. In Niedersachsen sind es vor allem Absolventen der Islamwissenschaften, die zunächst für zwei Jahre didaktisch mit auf sie zugeschnittenen Fortbildungen begleitet werden. Eine Landeskoordination für ein Netzwerk islamischer Religionsehrkräfte ist Ansprechpartnerin für Ministerien und Einrichtungen der Lehrerfortbildung.
5 Fazit Die Einführung des Islamischen Religionsunterrichts an deutschen Schulen hat grundlegend zur strukturellen Integration des Islams in Deutschland beigetragen. Staatliche Institutionen haben sich in diesem Prozess eingehend mit dem Islam und seinen Organisationsformen in Deutschland befasst, und islamische Organisationen haben sich mit rechtlichen und pädagogischen Anforderungen für den Religionsunterricht auseinandergesetzt. Längst sind nicht alle Fragen im Hinblick auf die Einbindung islamischer Religionsgemeinschaften in die Zulassung von Schulbüchern oder die Erteilung der Lehrbefugnis für Lehrkräfte geklärt. An den Zentren für Islamische Theologie bildet sich derzeit eine eigenständige islamische Religionspädagogik heraus, die aus Sicht muslimischer Fachkräfte eine gute Balance aus Rückgebundenheit an islamische Tradition und fachwissenschaftliche Anforderungen der hiesigen Didaktik bilden sollte. Die Inhalte der entstehenden Lehrpläne und Lehrwerke verdeutlichen diesen Prozess (Mohr
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Riem Spielhaus
2006). Auch wenn dies in den Begründungen für die Einführung des islamischen Religionsunterrichts als Hoffnung anklang, gibt es derzeit keine Anzeichnen dafür, dass das Angebot an staatlichen Schulen die religiöse Unterweisung in islamischen Gebetsräumen und Moscheen verdrängen würde. Für die Zukunft wird von Interesse sein, inwiefern die beiden Angebote für die islamische Wissensvermittlung miteinander konkurrieren und wie Schülerinnen und Schüler auf möglicherweise unterschiedliche Lehrinhalte und didaktische Methoden reagieren.
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Literatur
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Toleranzerziehung
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Die Herausforderungen des aktuellen und des zukünftigen Zusammenlebens in einer multikulturellen Gesellschaft sind allgegenwärtig. Toleranz gehört zu jenen Kardinaltugenden, die ein friedliches und erfolgreiches Miteinander von Lebensformen, Weltanschauungen, Traditionen und Religionen ermöglichen sollen. In ihrer Erklärung zur Toleranz vom 16. November 1995 hebt die UNESCO hervor:
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101 Toleranzerziehung Markus Tiedemann
„Toleranz bedeutet Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt. Gefördert wird sie durch Wissen, Offenheit, Kommunikation und durch Freiheit des Denkens, der Gewissensentscheidung und des Glaubens. Toleranz ist Harmonie über Unterschiede hinweg. Sie ist nicht nur moralische Verpflichtung, sondern auch eine politische und rechtliche Notwendigkeit. Toleranz ist eine Tugend, die den Frieden ermöglicht, und trägt dazu bei, den Kult des Krieges durch eine Kultur des Friedens zu überwinden“ (UNESCO 1995).
Die UNESCO setzt große Hoffnungen in das großangelegte Programm „Philosophy, a school of freedom“ (UNESCO 2007). Auch in den Lehrplänen vieler europäischer Länder wird Toleranz als Bildungsziel des Philosophieunterrichts benannt (Brünning 1998). Die Vertreter der Fächergruppe selbst haben zu dieser Erwartungshaltung beigetragen. Betont wird die Möglichkeit, junge Menschen unterschiedlichster Herkunft in einem als „Polylog“ bezeichneten, kulturübergreifenden Diskurs zu versammeln (Goergen 2012; Bartsch 2015). Im Wesentlichen lassen sich zwei Modelle der Toleranzerziehung unterscheiden: Das erste steht für eine inhaltliche Toleranzerziehung, bei der ein Kanon von zu tolerierenden bzw. zu akzeptierenden Verhaltensweisen und Lebensformen vorgegeben wird. Das zweite kann als transzendentale Toleranzerziehung bezeichnet werden. Diese Konzeption macht keine inhaltlichen Vorgaben, sondern versucht, die Bedingung der Möglichkeit von Urteilskraft und Toleranz zu fördern. Im Kern geht es um eine Orientierung im Denken, verstanden als Explikation von Begriffen und Kategorien, sowie die ergebnisoffene Diskussion von Einzelfragen. Dem zweiten Modell ist der Vorzug zu geben. Eine Präsentation vorgegebener Normen mag in vielen Kontexten unverzichtbar sein, aber philosophische Reflexion ist a priori ergebnisoffen. Die als „transzendental“ bezeichnete Toleranzerziehung besteht in der Vermittlung von Diskurs- und Orientierungskompetenz, verstanden als Fähigkeit zum wechselseitigen Geben und Prüfen von Gründen. Auf diese Weise wird zugleich der inflationären Verwendung des Toleranzbegriffs entgegenzuwirken versucht. Bereits die philologische Ableitung vom lateinischen tolerare verweist auf das Ertragen oder Erdulden eines ungeliebten Sachverhalts. Rainer Forst hat darauf hingewiesen, dass Toleranz weder mit aktiver Zustimmung noch mit Gleichgültigkeit oder Nihilismus verwechselt werden darf (Forst 2004). Toleranz ist immer mit einer Ablehnungskomponente verbunden und keineswegs grenzenlos. Forst spricht vom Recht auf und von der Pflicht zur Rechtfertigung (ebd.). Sowohl diejenigen, die Toleranz einfordern, als auch jene, die Toleranz verweigern, müssen ihre Gründe zur Diskussion stellen. Anerkannt werden dabei
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Markus Tiedemann
nur Argumente, die reziprok bzw. intersubjektiv vermittelbar sind. „Das machen wir schon immer so“ oder „Ich will das aber nicht!“, sind in diesem Verständnis keine Argumente. Die Möglichkeit zu echter Toleranz ist erst dann gegeben, wenn die Argumente der Gegenseite als solche formal anerkannt werden können. John Locke drückte das folgendermaßen aus: „Bei jeder Wahrheit, die sich nicht durch das unwiderstehliche Licht des Von-selbst-Einleuchtens oder durch die zwingende Kraft der Demonstration unserem Geist aufdrängt, sind die Argumente, die ihr Zustimmung verschaffen, die Bürger und Unterpfänder ihrer für uns vorhandenen Wahrscheinlichkeit: daher können wir uns eine solche Wahrheit nur in dem Umfang aneignen, in dem diese Argumente sie unserem Verstande vermitteln“ (Locke 1988, S. 405). Sofern die Argumente genügen, um gänzlich zu überzeugen, ist der Konflikt beseitigt. Im Fall der Toleranz bleibt die tendenzielle Ablehnung eines umstrittenen Sachverhaltes bestehen. Akzeptiert wird das Argument an sich, nicht dessen Forderung. Im Idealfall gesellt sich eine prinzipielle Wertschätzung für diese Art der Konfliktregelung und die damit verbundene Vielfalt hinzu. Auch die UNESCO vertritt die Position, dass Toleranz und multikulturelles Zusammenleben verbindlichen Regeln unterworfen werden müssen. In der Erklärung zur Toleranz vom 16. November 1995 steht zu lesen: „Toleranz ist nicht gleichbedeutend mit Nachgeben, Herablassung oder Nachsicht. Toleranz ist vor allem eine aktive Einstellung, die sich stützt auf die Anerkennung der allgemeingültigen Menschenrechte und Grundfreiheiten anderer. Keinesfalls darf sie dazu missbraucht werden, irgendwelche Einschränkungen dieser Grundwerte zu rechtfertigen. Toleranz muss geübt werden von einzelnen, von Gruppen und von Staaten“ (UNESCO 1995).
Allerdings stellt eine Proklamation noch keine Legitimation da. Der Hinweis darauf, dass sich zahlreiche Staaten freiwillig zur Einhaltung dieser Prinzipien verpflichtet haben, ist zwar ein sauberes kontraktualistisches Argument, verliert aber mit jeder neuen Generation, die den Kontrakt nicht selbst aktiv zertifiziert hat, an Bindungskraft. Die Verbindlichkeit der Menschenrechte mag für Viele eine Selbstverständlichkeit darstellen, selbstevident ist sie nicht. Nach Tetens (2004) kann sehr wohl zwischen besseren und schlechteren Argumenten, zwischen konsistenten und inkonsistenten Begründungen oder nach Gosepath (1992) zwischen aufgeklärtem und unreflektiertem Eigeninteresse unterschieden werden. Die Ethik der Menschenrechte mag über keine Letztbegründung verfügen, beliebig oder imperialistisch ist sie deshalb nicht. Bereits 1996 hat Otfried Höffe überzeugend darlegen können, dass die Menschenrechte nicht die Bedrohung, sondern der Garant von Vielfalt und Verschiedenheit sind (Höffe 1996, Kap. 3.3f ). Die Gestaltung von Verschiedenheit setzt Handlungsfähigkeit voraus, und diese Handlungsfähigkeit wird durch die fundamentalen Menschenrechte geschützt. Es geht also um die Bedingung der Möglichkeit der Verschiedenheit. „Als transzendental ist das anzusprechen, was man bereits implizit bejaht, insofern man schon immer will, wenn man irgendetwas will; transzendental heißt die Bedingung dafür, dass man gewöhnliche Interessen überhaupt haben und verfolgen kann“ (Höffe 1996, S. 77).
Höffes Konzeption ist ein gutes Beispiel dafür, was Ernst Tugendhat als „ein dichtes Gewebe aus Motiven und Gründen“ bezeichnet hat (Tugendhat 1993, S. 89). Das Kriterium der Reziprozität und der intersubjektiven Vermittelbarkeit wird erfüllt. Die Aussichten auf Erfolg einer so verstandenen Toleranzerziehung sind nicht nur spekulativ, sondern auch messbar. So misst der von Georg Lind entwickelte „moral judgement test“ die
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Bereitschaft und Fähigkeit, Argumente zu würdigen, die gegen die eigene Position vorgetragen werden. Auf dieser Basis konnten empirische Studien belegen, dass die erwähnten Fähigkeiten durch Dilemma-Diskussionen signifikant gesteigert werden können (Lind 2003). Im Philosophie- und Ethikunterricht soll genau das geschehen: Schülerinnen und Schüler rechtfertigen ihre eigene Position und begründen, welche Argumente der Gegenseite sie anerkennen können bzw. zurückweisen müssen.
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Literatur
Bartsch, Markus (2015): Interkultureller Polylog. In: Julian Nida-Rümelin, Irina Spiegel & Markus Tiedemann (Hg.): Handbuch: Philosophie und Ethik, Bd. I. Stuttgart: UTB. – Brünning, Barbara (1998): Ethikunterricht in Europa. Ideengeschichtliche Traditionen, curriculare Konzepte und didaktische Perspektiven in der Sekundarstufe I. Leipzig: Militzke. – Forst, Rainer (2004): Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. – Goergen, Klaus (2012): Ethik für alle? Plädoyer für ein Pflichtfach Philosophie/Ethik. In: ZDPE , 2/2012. – Gosepath, Stefan (1992): Aufgeklärtes Eigeninteresse. Eine Theorie theoretischer und praktischer Rationalität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. – Höffe, Otfried (1996): Vernunft und Recht. Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. – Lind, Georg (2003): Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung. München: Oldenbourg. – Locke, John (1988): Versuch über den menschlichen Verstand. Hamburg: Meiner. – Tetens, Holm (2004): Philosophisches Argumentieren. München: Beck. – Tugendhat, Ernst (1993): Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. – UNESCO (1995): Die Erklärung von Prinzipien der Toleranz. Online verfügbar unter http://www.unesco.de/infothek/dokumente/unesco-erklaerungen/erklaerung-toleranz. html [29.07.2016]. – UNESCO (2007): Philosophy, a school of freedom. Teaching philosophy and learning to philosophize. Status and prospects.
102 Kunstunterricht Georg Peez
1 Kulturteilhabe und Bildkompetenz Legitimationen für Kunstunterricht in der Schule ergeben sich durch den allgemeinbildenden Anspruch, dass allen Kindern und Jugendlichen bildnerisch-ästhetische Erfahrungen, der Zugang zur Kunst und die Teilhabe an Kultur – primär bezogen auf das Bildnerische – ermöglicht wird. Angesichts von Globalisierung, Migrationsbewegungen und gesellschaftlicher Diversität ist „die schulische Kunstpädagogik zunehmend unter Druck gesetzt“ (Wagner 2013, S. 133), diesen Herausforderungen im Rahmen ihrer fachdidaktischen Ansätze (Peez 2012) hin zu einer „interkulturellen Kunstpädagogik“ (Wagner 2009) konzeptuell zu begegnen.
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2 Fachhistorische Tendenzen Die hegemoniale Betonung kultureller Unterschiede untermauerte im 19. und 20. Jahrhundert im Kunstunterricht hierarchisch-autoritäre Weltbilder, indem herrschaftliche Prinzipien verbildlicht wurden – etwa in Darstellungen kolonialer Konflikte. Diese Tendenz fand im Faschismus ihren Höhepunkt; sie setzt sich – teils mit sexistischem Einschlag – aber durchaus bei Themen wie ‚Braunhäutige Frauen mit Krügen auf dem Kopf ’ oder ‚Hulatänzerin in der Südsee’ bis in unsere Zeit fort. Mit kunstunterrichtlichen Aufgabenstellungen, die beispielsweise auf ‚Orientzauber‘ abheben, sollten die Schülerinnen und Schüler in ihrer Gestaltung von ‚naturalistischen Zwängen‘ befreit werden, sich fantasieanregend ganz den Formen und Farben an sich widmen (Rebel 2013, S. 115). Auch Kunstschaffende haben sich vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am ‚Exotischen’ orientiert. Ja, Kinder überall auf der Welt wurden als eigentlich „Wilde im besten Wortsinne: primitive Träumer und Schöpfer, instinktive Künstler“ (Rebel 2013, S. 116) angesehen. Aber auch „prä-interkulturelle“ (Rebel 2013, S. 120) Tendenzen wurden fachhistorisch ersichtlich, so etwa beim Kunstunterrichtsthema ‚Zwei Neger’ aus dem Jahr 1967. Dieser gut gemeinte „Distinktionsvermeidungshumanismus“ (Rebel 2013, S. 121), bei dem die Brüderlichkeit unter den Menschen betont werden sollte, führte allerdings zur klischeehaften Darstellung, wie etwa von grimmig schauenden Afrikanern mit ins Haar gesteckten Knochen. Spätestens seit den 1990er Jahren lässt sich eine Sensibilisierung für globale kulturelle Diversität im Kunstunterricht ausmachen, welche sich in der fachbezogenen Literatur zu Themen zeigt, die ganz allgemein das ‚Fremde’ in Kunst, Kultur und Gesellschaft behandeln, bspw. im Themenheft „Annäherung an das Fremde“ der auflagenstärksten deutschsprachigen Fachzeitschrift Kunst+Unterricht (Heft 185, 1994). Movens war u.a. die damals so benannte ‚wachsende Fremdenfeindlichkeit‘ in Deutschland. Immer drängender wurde zudem die Frage nach einem ‚Bilder-Kanon‘, also danach, welche Bildwerke der historischen Kunst und aus der Gegenwartskultur Heranwachsende am Ende ihrer Schulzeit als ‚Bildungsgut‘ kennen sollten. Wie hoch sollten hierbei die Anteile von Werken aus unterschiedlichen Regionen der Erde sein (Eurozentrismus vs. Weltkunst)? Nicht nur die Lehrpläne, auch die Konzeption von Schulbüchern (Lutz-Sterzenbach et al. 2013b, S. 331) für das Fach sind von Antworten auf diese Fragestellung bis heute geprägt.
3 Gegenwärtige kunstdidaktische Ansätze Der kunstdidaktische Diskurs ist derzeit vornehmlich durch zwei Ansätze geprägt: Ein Konzept stellt die Erkundung der auf bestimmte Kulturen zurückzuführenden Merkmale in den Mittelpunkt (‚Roots’), während das andere Konzept die Vermischung kultureller Merkmale fokussiert (‚Routes’). Im ersten Ansatz wird der Begriff der ‚Interkulturalität‘ bevorzugt genutzt, im zweiten Ansatz der der ‚Transkulturalität‘ (Popa 2014). 3.1 Interkulturelle Bezüge zwischen dem ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ Im Themenheft „Kulturen der Welt“ der Fachzeitschrift Kunst+Unterricht (Heft 349/350, 2011) richtet sich die Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Kulturen, mit der Absicht, die im Kunstunterricht vorherrschende Orientierung an mitteleuropäischer und nordamerikanischer Kunst zugunsten eines „interkulturellen Dialogs und des globalen Weltbürger-Bewusstseins“ (Sowa
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Kunstunterricht
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2011a, S. 4) zu überwinden. Hierbei gehe es um „pädagogische Annäherung an fremde Kulturen“ (ebd.), so der Kunstpädagoge Hubert Sowa. Dessen Konzept wird nachstehend exemplarisch dargestellt. Auch wenn festgestellt wird, dass ‚fremde‘ Kulturen uns nicht unbedingt ‚fremd‘ seien und die ‚eigene‘ Kultur häufig nicht vertraut sei, wird doch mit diesen Bezeichnungen argumentiert: Die ‚eigene’ Kultur wird einer ‚fremden’ Kultur in ihrer „Andersheit“ (Sowa 2011a, S. 9) gegenübergestellt. Dies wird dadurch gerechtfertigt, dass „man sich zunächst in einer gewissen Vergröberung auf die einfachsten trennenden Merkmale konzentrieren“ solle (ebd.). Das Verstehen von Kulturen im Kunstunterricht und darüber hinaus sei im hermeneutischen Verständnis „nicht ohne vorurteilende Stigmatisierungen möglich“ (ebd.). Erst auf „dem Boden dieser Grundorientierung“ ließe sich „ein differenzierendes und relativierendes Sehen und Verstehen aufbauen“ (ebd.). Wichtige Bezugsinstitutionen einer ‚interkulturellen Kunstpädagogik‘ sind die Völkerkundemuseen, welche mit Schulklassen zu besuchen seien. Gemäß der ‚Vergröberung’ werden Bildund Text-Angebote für den Kunstunterricht nach Regionen bzw. Kontinenten gegliedert, z.B. benannt mit: Afrika, Islamischer Orient, Australien, Ozeanien, China, Japan, Lateinamerika oder Arktis. Für jede dieser regionalen Darstellungen (z.B. ‚Thronhocker’ für ‚Afrika’ oder ‚Schutzgeistfigur einer Familie’ für ‚Arktis’) zieht der Autor Verbindungen zu Formen aktuellen Kunsthandwerks mit „landestypischen Materialien“ (Sowa 2011b, S. 71) oder zur regionalen Gegenwartskunst, um zu verdeutlichen, dass Kulturen nicht statisch sind. Ferner gibt Sowa „zu den verschiedenen Kulturräumen Möglichkeiten für gestalterische Aufgabenstellungen im Unterricht“ (ebd., S. 49). Für ‚Afrika’: „Ahnenthron meiner Familie (Plastik, Installation; inhaltliche Aussagen zur eigenen Familienherkunft)“ oder zur ‚Arktis’: „In Gegenständen wie Wurzeln, verwittertem Holz, Schlacke, Steinen, verrostetem Eisenzeug eine Gestalt entdecken und deren ‚Geist‘ erwecken“ (ebd., S. 50). Diese Vorschläge beruhen auf mimetischem Nachvollzug durch die bildnerische Praxis der Schülerinnen und Schüler, um „differenzierendes und relativierendes Sehen und Verstehen“ (Sowa 2011a, S. 9) zu ermöglichen. Zu hinterfragen ist, ob dieser Ansatz, die mannigfaltigen Kulturen eines Kontinents unter ‚Afrika’ zusammenzufassen, zur beabsichtigten Differenzierung beiträgt. 3.2 Transkulturelle Mischungen Unter dem Motto „Remix“ – „Baustellen für eine transkulturelle Kunstpädagogik“ (Lutz-Sterzenbach et al. 2013a, S. 13) wird in einem zweiten Konzept die Vermischung der Kulturen unter den Vorzeichen der Digitalisierung, Globalisierung (Bering et al. 32013, S. 27), ‚Glokalisierung‘ sowie der Migration in den Blick genommen. Nicht die Aufmerksamkeit für unterschiedliche kulturelle Herkünfte der Lernenden und somit die Aufmerksamkeit für Trennlinien sowie für das ‚Fremde‘ sollten betont werden, denn kulturelle Aspekte werden heutzutage in Schule und Alltag der Heranwachsenden oft dynamischer und diffiziler ausgehandelt (Schnurr 2013, S. 75). Ein „Differenzdenken“ könne „auch dazu führen, die einzelnen kulturellen Gruppen in sich homogener zu verstehen als sie tatsächlich sind“ (Schnurr 2014, S. 76). Angesichts der „zunehmend umräumlichen, entgrenzten Strukturen von Medien, Szenen, Milieus und Marketing“ (ebd.) sei nicht primär nach den kulturellen Identitäten zu fragen, sondern nach den verschlungenen Wegen, die die Individuen im kulturellen Feld einschlagen. Im Kunstunterricht sollten somit nicht kulturelle Kernbestände im Zentrum stehen, sondern „neue kulturelle Formen aus den Versatzstücken“ (ebd., S. 77). Der Begriff des ‚Remix’ markiert solche komplexen, den Alltag der Schülerinnen und Schüler prägende Zusammenhänge.
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3.3 Außerschulische Bildung und Vermittlung
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In Berufung auf den Philosophen Wolfgang Welsch wird von „Transkulturalität“ gesprochen, also von „Kultur jenseits des Gegensatzes von Eigenkultur und Fremdkultur“ (Welsch 1995, S. 39). Eingestanden wird, dass zugleich einer wachsenden Unkenntnis gegenüber den kulturellen Wurzeln entgegenzuarbeiten sei. Das Hybride, die „Multiperspektivität und Mannigfaltigkeit“ (Bering et al. 32013, S. 33) betonend, sei es „die Aufgabe der Kunstpädagogik, das alltägliche transkulturelle Remixen zum Thema zu machen und auch alternative Materialien, Bilder und Wege anzubieten, um es reflektierter, variantenreicher und mit erweitertem Bildrepertoire zu gestalten“ (Schnurr 2014, S. 78). Wie ein solcher Kunstunterricht konkret aussehen könnte, ist bis jetzt trotz allgemein formulierter ‚Handlungsempfehlungen’ in einem „programmatischen Grundsatzpapier“ (Nürnberg-Paper 2013) des BDK e.V., Fachverband für Kunstpädagogik, allerdings kaum erkundet und dokumentiert.
Orientierungen zum Thema findet die Kunstpädagogik zudem im außerschulischen Vermittlungsbereich der ‚Völkerkundemuseen‘. Gleichwohl ist das Selbstverständnis ethnologischer Museen aufgrund der kritischen postkolonialen und antirassistischen Diskurse gegenwärtig einem starken Wandel unterworfen. Dieser zeigt sich nicht nur an der (Neu-)Benennung, etwa des „Weltkulturen Museums“ in Frankfurt am Main, sondern auch an den Vermittlungsstrategien. So kommen inzwischen an die Ethnologie angelehnte Formen der Feldforschung (Forschertagebuch, teilnehmende Beobachtung, Fotografieren, Skizzieren) sowie die Auseinandersetzung mit Objekten (aus der Sammlung, der Lehrsammlung oder der Lebenswelt der Heranwachsenden) methodisch verstärkt zum Tragen. ‚Forscherclubs’ werden gegründet (Endter et al. 2015). Mittels kritischer Auseinandersetzungen sollen in partizipatorischen Projekten Reflexionsprozesse über (Welt-)Kulturen und das eigene Bild, das sich ein(e) jede(r) hiervon macht, angeregt werden. In der außerschulischen Jugendbildung (z.B. Jugendkunstschulen) wird meist nicht von interoder transkultureller Bildung gesprochen, sondern von ‚kultureller Bildung’ an sich, da diese Aspekte der Diversität stets beinhalte. 3.4 Welterbepädagogik Ziel einer von der Deutschen UNESCO-Kommission unterstützten Thematisierung von Welterbestätten im Kunstunterricht ist es, ‚kreative Zugänge‘ zu bieten für eine „Kunstreise durch die Welt“ (Ströter-Bender et al. 2005, S. 7). Da die einzelnen Welterbestätten Orte kollektiver Erinnerung sind, sei deren Wertschätzung bei Schülerinnen und Schülern zu fördern. Neben den bildnerischen, ebenfalls oft ‚nachschaffenden‘ Zugängen werden Fragen aufgeworfen, u.a. nach Lebens- und Arbeitsformen, Ritualen und ihrer ästhetischen Inszenierung, Religion und Spiritualität, regionaler und nationaler Identität sowie traditioneller und zeitgenössischer Kunst (ebd.). Weiteres Ziel dieser ‚World Heritage Education’ ist es, „interkulturelle Kompetenz“ zu fördern, „d.h. die Differenz zwischen Kulturen wahrzunehmen, zu erkennen und zu achten“ (ebd.). Literatur
Bering, Kunibert; Heimann, Ulrich; Littke, Joachim; Niehoff, Rolf & Rooch, Alarich (32013): Kunstdidaktik. Oberhausen: Athena Verlag. – Endter, Stephanie & Rothmund, Carolin (Hg.) (2015): „Irgendwas zu Afrika“. Herausforderungen der Vermittlung am Weltkulturen Museum. Bielefeld: Kerber Verlag. – Lutz-Sterzenbach, Barbara; Schnurr, Ansgar & Wagner, Ernst (Hg.) (2013a): Bildwelten remixed. Transkultur, Globalität, Diversity
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Musikunterricht
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in kunstpädagogischen Feldern. Bielefeld: transcript. – Lutz-Sterzenbach, Barbara; Schnurr, Ansgar & Wagner, Ernst (2013b): Nürnberg-Paper 2013. Interkultur - Globalität - Diversity. Leitlinien und Handlungsempfehlungen für eine transkulturelle Kunstpädagogik. In: Barbara Lutz-Sterzenbach; Ansgar Schnurr & Ernst Wagner (Hg.): Bildwelten remixed. Transkultur, Globalität, Diversity in kunstpädagogischen Feldern. Bielefeld: transcript, S. 325-335. – Peez, Georg (42012): Einführung in die Kunstpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer. – Popa, Christine (2014): Die Interkulturelle Kunstpädagogik – eine Analyse und Kritik. In: BDK-Mitteilungen 4, S. 20-23. – Rebel, Ernst (2013): Kontakte und Konflikte. Zur Vorgeschichte der interkulturellen Kunstpädagogik in Deutschland (1900-2000). In: Barbara Lutz-Sterzenbach; Ansgar Schnurr & Ernst Wagner (Hg.): Bildwelten remixed. Bielefeld: transcript, S. 111-129. – Schnurr, Ansgar (2013): Fremdheit loswerden – das Fremde wieder erzeugen. In: Barbara Lutz-Sterzenbach; Ansgar Schnurr & Ernst Wagner (Hg.): Bildwelten remixed. Bielefeld: transcript, S. 69-85. – Schnurr, Ansgar (2014): Uneindeutige Erbschaftsverhältnisse. Transkulturalität in der Kunstpädagogik entdecken und aushalten. In: Kunst+Unterricht 387/388, S. 74-79. – Sowa, Hubert (2011a): Orientierung im weltkulturellen Horizont. Ein notwendiger Schritt zu einer allgemein bildenden Kunstpädagogik. In: Kunst+Unterricht 349/350, S. 4-14. – Sowa, Hubert (2011b): Ein Blick auf die Kulturen der Welt. Materialien zur „Kunst“ in nichteuropäischen Kulturen. In: Kunst+Unterricht 349/350, S. 49-91. – Ströter-Bender, Jutta & Wolter, Heidrun (2005): Das Weltkulturerbe der UNESCO im Kunstunterricht. Materialien für die Grundschule, Bd. 1. Donauwörth: Auer Verlag. – Wagner, Ernst (2009): Auf dem Weg zu einer interkulturellen Kunstpädagogik. Online verfügbar unter http://www.kunstlinks.de/material/peez/2009-09-wagner.pdf [27.07.2016]. – Wagner, Ernst (2013): Kunstpädagogik heute ist Kunstpädagogik im Zeitalter der Globalisierung. In: Barbara Lutz-Sterzenbach; Ansgar Schnurr & Ernst Wagner (Hg.): Bildwelten remixed. Transkultur, Globalität, Diversity in kunstpädagogischen Feldern. Bielefeld: transcript, S. 131-145. – Welsch, Wolfgang (1995): Transkulturalität. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 1, S. 39-44.
103 Musikunterricht Dorothee Barth
Die Interkulturelle Musikpädagogik umfasst in Theorie und Praxis zwei verschiedene Felder: die Auseinandersetzung mit den Musiken der Welt und die Beschäftigung mit musikalischkulturellen Situationen in Einwanderungsgesellschaften. In beiden Feldern wird eine intensive theoriebezogene und konzeptionelle Diskussion geführt; empirische Forschung allerdings findet kaum statt (vgl. Knigge 2012). In Lehrplänen und Curricula hat sich die Interkulturelle Musikpädagogik in einer Nebenrolle dauerhaft verankert; über die tatsächliche Unterrichtspraxis können keine belastbaren Aussagen gemacht werden. Interkulturelle Musikpädagogik wird als wichtig und notwendig gesehen, folgt aber keinem einheitlichen Konzept (vgl. dazu Ott 2012). Die Diskussion zu den Bildungszielen orientiert sich an der allgemeinen Musikdidaktik, denn die Interkulturelle Musikpädagogik ist keine „besondere“ Pädagogik. Auch hier gilt, dass nicht Wissen über Musik erworben, sondern dass Musik in musikalischer Praxis erfahren und reflektiert werden soll.
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Dorothee Barth
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1 Zum Begriff Die Interkulturelle Musikpädagogik basiert auf der Idee, dass zum einen heutige Gesellschaften nicht homogen, sondern kulturelle Mischformen sind und ständig neue kulturelle Einflüsse integrieren, und dass zum anderen die Menschen nicht einer, sondern mehreren Kulturen angehören (transkulturelle Verfasstheit). Gleichwohl wird die Bezeichnung interkulturell, da sie eingeführt und verbreitet ist, allgemein akzeptiert. Zudem zeigen Analysen von Barth, dass vor der Auseinandersetzung um die Vorsilben (multi-, inter- oder trans-) eine Klärung des Kulturbegriffes selbst stehen muss. In der Interkulturellen Musikpädagogik hat Barth drei Verwendungsweisen des Kulturbegriffs aufgezeigt, die zu unterscheiden sind: der normative Kulturbegriff, der sich auf die Beschreibung von musikalischen Objektivationen (Kunstwerken) richtet; der ethnisch-holistische, der die Identität eines Menschen aus seiner Zugehörigkeit zu einem ethnischen Kollektiv herleitet, und schließlich der bedeutungsorientierte Kulturbegriff, mit dem sowohl dynamische und globale Phänomene musikalischer Entwicklungen als auch Konstruktionen musikalisch-kultureller Identitäten in globalisierten Gesellschaften beschrieben und interpretiert werden. Da es bei Beschreibungen interkultureller Situationen auf Basis des normativen Kulturbegriffs zu eurozentristischen Bewertungen kommen kann und auf Basis des ethnisch-holistischen zur Fokussierung auf die Herkunftskultur bzw. zu einer „Verbesonderung“ von Migrant/innen, scheint für die Fundierung der theoretischen Grundlagen einer interkulturellen Musikpädagogik und die Übertragung auf die Praxis der bedeutungsorientierte Kulturbegriff am aussichtsreichsten (Barth 2007).
2 Ziele und Themen Ziele und Themen der Interkulturellen Musikpädagogik sind vielfältig: Geht es um die Beschäftigung mit den Musiken der Welt, sollen Schüler/innen eine musikalisch-ästhetische Handlungskompetenz gegenüber unbekannter, fremder oder befremdlicher Musik entwickeln. Dazu gehört das Vertrauen, durch Kennenlernen und Ausprobieren neuer Musikpraxen die eigene musikalische Praxis erweitern und bereichern zu können. Geht es um die Auseinandersetzung mit musikalisch-kulturellen Situationen in Einwanderungsgesellschaften, steht das Bemühen im Mittelpunkt, dass Schüler/innen mit oder ohne Migrationshintergrund über das Medium der Musik zu einem anerkennenden und wertschätzenden Umgang finden sowie Perspektiven zu einem gelingenden Leben und gesellschaftlicher Teilhabe entwickeln. Weitere Themen, mit denen sich die Interkulturelle Musikpädagogik beschäftigt, sind Fragen zur Identitätsbildung (Barth 2013), die Musik in (migrantischen) Jugendkulturen (Kautny 2010) sowie die philosophische Frage, ob „das Fremde“ überhaupt zugänglich sein kann (Ott 1998; Vogt 2001). 2.1 Musik(en) der Welt Bereits in den 1970er Jahren wurde angeregt, den Unterricht über die abendländische Kunstmusik hinaus auch für die damals so genannte außereuropäische Musik zu öffnen. Schüler/innen sollten ihre Hörgewohnheiten erweitern und lernen, sich auf fremde und unbekannte Musik einzulassen. Anregungen und Materialien folgten einem musikwissenschaftlichen, häufig musikethnologischen Interesse und bezogen sich auf authentische traditionelle Volks- oder Kunstmusiken. Seit den 1980er und 1990er Jahren verstärkt sich das Interesse für afrikanische und lateinamerikanische Musik: Volker Schütz und Thomas Ott z.B. motivierten in der Verbindung von Workshops, konzeptionellen Überlegungen und Unterrichtsmaterialien zur Beschäftigung
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Musikunterricht
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mit afrikanischer Musik. Rezeptive und kognitive Vermittlungsstrategien wurden ergänzt durch Konzepte eigener körperlich-sinnlicher Erfahrungen der Musik; zugleich wurden Musiken multiperspektivisch als verschiedene, aber gleichwertige Ausdrucksformen menschlicher Existenz beschrieben. Heute scheint es kaum noch eine Musikkultur der Welt zu geben, die nicht – methodisch mannigfaltig aufbereitet – Eingang in die deutsche Musikdidaktik gefunden hat. Vor allem die interkulturelle Popmusik oder andere transkulturelle und globalisierte Musikstile, die sich fortlaufend weiterentwickeln, bieten ein reiches Reservoir für musikpädagogische Erkundungen. Musikbezogene Tätigkeiten wie Singen, Tanzen oder Musizieren haben im Musikunterricht einen hohen Stellenwert, doch führen sie nicht unmittelbar zur Entwicklung interkultureller Kompetenz. Diese Praxis kann Gesprächsanlass sein (Merkt 1993), musikalischen Exotismus vermeiden oder eine Motivation zur vertieften Auseinandersetzung mit dem kulturellen Kontext des Unterrichtsgegenstandes (Schütz 1996) sein; doch ihre Reflexion und Informationen zu kulturellen Bedeutungen sollten stets folgen. Erfahrung durch musikbezogene Praxis bildet ebenso das Kernstück der Szenischen Interpretation, die Stroh eingebunden in ein tätigkeits psychologisch fundiertes Handlungskonzept auch für interkulturelle Lernsituationen weiter entwickelt hat (z.B. für die Capoeira, Tarantella oder die Klezmer-Musik). Hier werden Lieder oder Tänze in ihren konkreten Verwendungssituationen nachgespielt; die kulturelle Bedeutung der Musik wird am eigenen Leibe erfahren und bewusst gemacht. Mit der prägnanten Formulierung eines „prinzipiell interkulturellen“ Musikunterrichtes schlägt Hans Jünger vor, die Musik anderer Kulturen nicht als ein gesondertes Unterrichtsthema zu behandeln, sondern zum durchgängigen Unterrichtsprinzip zu erklären. Musikalische Phänomene und Probleme sollen grundsätzlich an Musikbeispielen aus verschiedenen Kulturen untersucht werden (Jünger 2003). 2.2 Herausforderungen Probleme, die beim Unterrichtsthema Musik(en) der Welt auftauchen, beziehen sich vor allem auf die Frage nach den Möglichkeiten einer authentischen Vermittlung der Musik und auf die fachlichen Kompetenzen der Lehrperson (Terhag 2006, S. 26): Ist es ein Zeichen von Respektlosigkeit der anderen Kultur gegenüber oder ein legitimes Vorgehen in einer globalisierten Welt mit ohnehin transkulturell verfassten Musikkulturen, wenn man Instrumentarium, Klang, Ablauf, Funktionalität und Bedeutungszuweisung, kurz: alles, was die musikalische Praxis einer Kultur ausmacht, auf die Verhältnisse im Musikunterricht zuschneidet und verkürzt? Kann eine Lehrperson überhaupt hinreichende Kompetenzen erwerben, um viele verschiedene Musik(en) der Welt fachlich angemessen zu unterrichten? Vermittelnd schlägt Barth vor, dass die Lernsituation selbst authentisch werden kann, wenn Lehrende und Lernende miteinander unbekannte und fremde musikalisch-kulturelle Praxen erforschen (z.B. in teilnehmenden Beobachtungen von Proben oder Konzerten oder indem sie Interviews mit eingewanderten Musiker/innen durchführen). Ott verweist darauf, dass Elemente aus anderen Kulturen zum „Katalysator ästhetischer Innovationen“ werden können und so auch die Musikpädagogik zum „Co-Akteur“ der Dynamik kultureller Veränderungen werden kann (Ott 2012, S. 120f ). 2.3 Musik in der Migrationsgesellschaft Dieses Feld der Interkulturellen Musikpädagogik etablierte sich im Zuge der Familienzusammenführung nach dem Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte im Jahre 1973, als deren Kinder durch eine Bezugnahme auf ihre musikalisch-kulturellen Herkunftskulturen besser in
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Dorothee Barth
das deutsche Schulsystem integriert werden sollten. Neben Sammlungen zu Liedern und Tänzen aus der Türkei mit Informationen zur Volksmusik und deren kultureller Einbettung im Jahre 1983 entwickelte Irmgard Merkt den bis heute so genannten Schnittstellenansatz: Ausgehend vom gemeinsamen Musizieren sollen Kinder unterschiedlicher Kulturen in einer erlebten Musikpraxis zunächst Gemeinsamkeiten erfahren und erst im Anschluss auch Unterschiede erarbeiten und benennen (Merkt 2001). Mit dem Diskurs über die multikulturelle Gesellschaft in der 1990er Jahren entwickelte sich auch das konzeptionelle Denken in der Interkulturellen Musikpädagogik. Drei Punkte wurden deutlich: 1. Das Musikleben der Migrant/innen in Deutschland ist bunt und vielfältig: Türkische Musiker/innen musizieren z.B. als DJs, Jazzer, Sazspieler, Opernsänger, Popmusiker oder Komponisten Neuer Musik – sowohl in Deutschland als auch in der Türkei. 2. Die musikalischen Vorlieben und Traditionen der Kinder und Jugendlichen mit einem Migrationshintergrund lassen sich nicht (mehr) auf die Volksmusik des Herkunftslandes reduzieren. Viele hören genau dieselbe Musik wie ihre Altersgenossen ohne Migrationshintergrund und identifizieren sich mit ihr. 3. Letztlich ist es für die Musiklehrer/innen nicht möglich, über jedwede Musikkultur der Herkunftsländer ihrer Schüler/innen Kenntnisse oder musikpraktische Fähigkeiten zu erwerben. So führte die Situation, dass ein friedliches und offenes Zusammenleben in einer Einwanderungsgesellschaft zwar musikpädagogisch zu stützen, die musikalisch-kulturelle Verortung der Schüler/innen mit Migrationsgeschichte aber nicht im einstigen Herkunftsland zu suchen sei, zu einer gewissen Ratlosigkeit in der musikpädagogischen Praxis. 2.4 Herausforderungen Der theoretisch-konzeptionellen Herausforderung, die musikalisch-kulturellen Verortungen der Schüler/innen in einer globalisierten Gesellschaft zu fördern, steht eine gewisse Beharrlichkeit in der Praxis gegenüber, Kinder und Jugendliche nicht als Spezialist/innen ihrer Migrationssituation, sondern ihrer Herkunftskultur zu betrachten. In diesem Sinne müssen die beiden Themenfelder – Musik der Welt und Musik und Migration – noch sorgfältiger als bislang geschehen, getrennt werden. Und obwohl die Interkulturelle Musikpädagogik alle Menschen mit ihren vielfältigen musikalisch-kulturellen Anschlüssen im Blick hat, muss sie ihren Fokus noch schärfer auf die Konstruktionen kultureller Identität von Kindern und Jugendlichen mit einem Migrationshintergrund richten. Denn noch werden sie durch ethnische Zuschreibungen und Stigmatisierungen als besonders gesehen (ethnische Projektion) und nehmen dieses Bild an (ethnische Selbstinszenierung). Die Ambivalenz, Aufmerksamkeit auf etwas zu legen, was man eigentlich abschaffen möchte, ist eine gesamtgesellschaftlich zu lösende Aufgabe und würde die Interkulturelle Musikpädagogik allein überfordern (Kautny 2012). Doch das besondere Potential der Musik, die im Prozess der Identitätskonstruktion eine wichtige Rolle spielt, bietet – wie kaum ein anderes Medium – Momente kultureller Grenzüberschreitungen und transkultureller Verortungsmöglichkeiten (Barth 2013). Geeignet sind dazu Unterrichtsprojekte, in denen sich die Jugendlichen mit musikalisch-kulturellen Identitäten von Menschen in einer reflektierenden, vermittelnden oder forschenden Haltung beschäftigen. Da aber Anleitungen zu Feldforschungen, Erschließungen des kulturellen Nahraums, Interviewtechniken, Erstellung von Hörspielen uvm. (noch) nicht im normalen Repertoire von Fachliteratur oder Unterrichtsmaterialien vertreten sind, ist zu wünschen, dass die konzeptionellen Erkenntnisse dort in Zukunft noch häufiger Eingang finden, und damit auch die Chance auf eine Umsetzung im musikpädagogischen Alltag wächst.
Sport und Sportunterricht
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Literatur
Barth, Dorothee (2008): Ethnie, Bildung oder Bedeutung? Zum Kulturbegriff in der interkulturell orientierten Musikpädagogik. Augsburg: Wißner. – Barth, Dorothee (2013): „In Deutschland wirst du zum Türken gemacht!“ oder: Die ich rief, die Geister, werd‘ ich nun nicht los. Von der projektiven zur inszenierten Ethnizität. In: Diskussion Musikpädagogik (57), S. 50-58. – Jünger, Hans (2003): Plädoyer für einen kulturübergreifenden Unterricht. In: Diskussion Musikpädagogik (17), S. 15-21. – Kautny, Oliver (2010): Populäre Musik als Herausforderung der interkulturellen Musikerziehung. In: Jürgen Vogt (Hg.): Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik. Online verfügbar unter http://www.zfkm.org/10-kautny.pdf [22.01.2016]. – Kautny, Oliver (2012): Für eine Entlastung des Interkulturellen Musikunterrichts. In: Diskussion Musikpädagogik (55), S. 16-22. – Knigge, Jens (2012): Interkulturelle Musikpädagogik, Hintergründe - Konzepte - empirische Befunde. In: Anne Niessen & Andreas LehmannWermser (Hg.): Aspekte interkultureller Musikpädagogik. Ein Studienbuch. Musikpädagogik im Fokus, Bd. 2. Augsburg: Wißner, S. 25-55. – Merkt, Irmgard (1993): Das Eigene und das Fremde - Aspekte interkultureller Musikpädagogik. In: Reinhard C. Böhle (Hg.): Möglichkeiten der interkulturellen ästhetischen Erziehung in Theorie und Praxis. Frankfurt a.M.: IKO, S. 141-151. – Merkt, Irmgard (2001): Ausländer- und Einwanderungspolitik. In: Musik in der Schule (4), S. 4-7. – Ott, Thomas: (1998) Unsere fremde Musik. Zur Erfahrung des „Anderen“ im Musikunterricht. In: Martin Pfeffer; Jürgen Vogt & Ursula Eckart-Bäcker (Hg.): Systematische Musikpädagogik. Oder: Die Lust am musikpädagogisch geleiteten Nachdenken. Eine Festgabe für Hermann J. Kaiser zum 60. Geburtstag. Augsburg: Wißner, S. 132-152. – Ott, Thomas (2012): Konzeptionelle Überlegungen zum Interkulturellen Musikunterricht. In: Anne Niessen & Andreas Lehmann-Wermser (Hg.): Aspekte Interkultureller Musikpädagogik. Ein Studienbuch. Musikpädagogik im Fokus, Bd. 2. Augsburg: Wißner, S. 111-138. – Schütz, Volker (1996): Über das außergewöhnliche Interesse von Musikpädagogen an schwarzafrikanischer Musikkultur. In: Reinhard C. Böhle (Hg.): Aspekte und Formen interkultureller Musikerziehung. Frankfurt a.M.: IKO, S. 7683. – Stroh, Wolfgang Martin (seit 1997): Das Oldenburger Klezmer-Projekt. Online verfügbar unter http://www. musik-for.uni-oldenburg.de/klezmer [22.06.2016]. – Terhag, Jürgen (2006): „Der Untergang des Abendlandes“. Podiumsdiskussion zum Umgang mit fremden und vertrauten Musikkulturen. In: Meinhard Ansohn & Jürgen Terhag (Hg.): Musikkulturen - fremd und vertraut. Musikunterricht Heute, Bd. 5. Oldershausen: Lugert Verlag, S. 18-34. – Vogt, Jürgen (2001): Das Eigene und das Fremde - Nur ein Modethema der Musikpädagogik? In: Karl Heinrich Ehrenforth (Hg.): Musik - unsere Welt als andere. Phänomenologie und Musikpädagogik im Gespräch. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann, S. 59-74.
104 Sport und Sportunterricht Vera Volkmann
1 Sport, Sportunterricht und Interkulturalität Dem Sport als ausdifferenzierten und omnipräsenten Gesellschaftsbereich wird von jeher ein großes Potential für soziales Lernen, interkulturelle Begegnung und Integrationsprozesse zugeschrieben. Sport diene im Sinne des Olympischen Gedankens der Völkerverständigung, könne jenseits sprachlicher Barrieren gemeinsam ausgeübt werden, Vorurteile abbauen, dadurch Diskriminierung vorbeugen und Gemeinschaft stiften, so lauten exemplarische Zuschreibungen, die auch eine starke mediale Inszenierung erfahren. Diese Annahmen lassen sich in ihrer Pau-
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Vera Volkmann
schalität nicht mit dem wissenschaftlichen Kenntnisstand vereinbaren. Hier wird eine differenziertere Perspektive auf Inklusions- und Exklusionsprozesse als zwei Seiten derselben Medaille im Sport eingenommen. Es werden also sowohl Chancen als auch Grenzen von Sport und Bewegung in Bezug auf interkulturelles Lernen und Integrationsprozesse betrachtet. Bezüge zwischen Interkulturalität und Sport werden in erster Linie soziologisch begründet und pädagogisch bzw. didaktisch hergestellt. Sportsoziologische Annahmen und Erkenntnisse, wie z.B. über die sozialisatorische Wirkung des Sports, sind eng mit pädagogischen Überlegungen zur Inszenierung von Bewegungs- und Sportarrangements im schulischen und außerschulischen Bereich verknüpft. Sport und Bewegung bieten spezifische Gelegenheiten, um einen konstruktiven Umgang mit ‚Fremdheit’ zu erfahren (kritisch Seiberth 2012). Jenseits des Sprachlichen ereignen sich oftmals emotional besetzte, durch das körperliche Miteinander geprägte Momente in den Spannungsfeldern von Nähe und Distanz, von Gleichheit und Differenz und nicht zuletzt von Sieg und Niederlage. Diese gilt es pädagogisch aufzugreifen und gemeinsam zu reflektieren. Neben dem wissenschaftlichen Diskurs hat sich auch ein politischer Diskurs zum Thema Interkulturalität und Sport etabliert, in dem die Begriffe Interkulturalität und Integration eng miteinander verknüpft und – vor allem in älteren Publikationen – gelegentlich synonym verwendet werden (Gieß-Stüber & Grimminger 2010, S. 542). Diese beiden Diskurse sind nicht losgelöst voneinander zu betrachten, sondern aufeinander bezogen. Die hohe Relevanz des Sports in Bezug auf sein integratives Potenzial schlug sich zum Beispiel im Nationalen Aktionsplan Integration der Bundesregierung (vgl. Die Bundesregierung 2012) nieder, in dem dem Sport ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Dieses hat einen ähnlichen Umfang, wie jene zur Sprachförderung oder zur Bildung (vgl. ebd., S. 246-285). Unterschieden werden hier zwei strategische Ziele, die sich in Form von Analyseperspektiven im wissenschaftlichen Diskurs wiederfinden lassen: Integration in den Sport und Integration durch den Sport. Diese beziehen sich in erster Linie auf den außerschulischen Sport. Partner der Bundesregierung in der Entwicklung und Umsetzung entsprechender Maßnahmen ist der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB), der unter dem Titel „Integration durch Sport“ bereits seit 1990 ein bundesweites, umfangreiches und finanziell gut gefördertes Programm betreibt und evaluativ begleitet (Baur 2009). Das zugrundeliegende Integrationsverständnis hat sich im Laufe der Zeit parallel zum allgemeinen pädagogischen Diskurs gewandelt, so dass heute das Konzept der interkulturellen Öffnung im Sinne gegenseitiger Anerkennung und Wertschätzung kultureller Vielfalt leitend ist (Deutsche Sportjugend 2010, S. 5). Auch in Bezug auf den Schulsport und Sportunterricht gibt es eine Diskussion zu Interkulturalität, die jedoch eher pädagogisch und didaktisch geprägt ist. Hier sind etliche Forschungsdesiderate auszumachen (vgl. Huh 2010).
2 Interkulturalität und Integration in den Sport Hierunter sind alle Maßnahmen zu verstehen, die die Partizipation von Migrant/innen an der Bewegungs- und Sportkultur als Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens erhöhen. Nach wie vor ist der Anteil der Mitglieder der Sportvereine, die einen Migrationshintergrund haben, mit 9% sehr niedrig (vgl. Die Bundesregierung 2012, S. 248). Von diesen sind nur 33% Frauen, für die es offenbar noch einmal höhere Teilhabebarrieren gibt (Kleindienst-Cachay et al. 2012, S. 51). Unter interkultureller Öffnung wird hier die Ausdifferenzierung der Sport- und Bewegungslandschaft verstanden, weg vom monokulturellen Wettkampfsport hin zu einer an Vielfalt und Anschlussfähigkeit orientierten Angebotsstruktur, die Beteiligung nicht nur auf der
Sport und Sportunterricht
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sportlich-aktiven Ebene, sondern auch auf Ebene der Mitwirkung in Organisationen und Übernahme von Funktionen umfasst. Einen Schwerpunkt bilden Maßnahmen, die die Teilhabe an der Sport- und Bewegungskultur für Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund erhöhen (Kleindienst-Cachay 2007).
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3 Interkulturalität und Integration durch Sport Dem Sport werden vielfältige sozialisatorische Wirkungen zugeschrieben. Die (Sozial)Integration von Menschen mit Migrationshintergrund ist als komplexer Prozess zu verstehen, der sowohl auf Ebene der Vergesellschaftung (im Sinne Max Webers, vgl. ders. 1922) als auch auf individueller psychosozialer Ebene abläuft. Die Platzierung in einem sport- oder bewegungsbezogenen Setting kann Individuen Anschlussmöglichkeiten an soziale Einbindung bieten, die durch ihre Ausrichtung auch jenseits sprachlicher Verständigung funktionieren können. Durch Zugehörigkeit und Vernetzungen im sportlichen Feld kann Sozialkapital erworben werden (vgl. Braun & Nobis 2011). Aufgeworfen wird in kritischen Positionen zum integrativen Potenzial des Sports immer wieder die Frage, ob im Kontext von Sport und Bewegung erworbene bzw. gezeigte Verhaltensweisen (wie z.B. Fair Play) als stabile Verhaltensmuster auf den außersportlichen Bereich übertragen werden oder ob sie rein sportbezogen bleiben. Dies bedarf noch empirischer Klärungen. Ein weiterer Interessenbereich lässt sich in Forschungen zu informellem Lernen im Sport als Bildungschance ausmachen (Neuber 2010). Jenseits oftmals überhöhter Ansprüche an den Sport gibt es empirisch fundierte Hinweise auf psychosoziale Wirkungen, die relevant für bildungsbezogene Prozesse sind (Mutz 2012, S. 235ff). Gefunden wurden Indizien für: –– neuropsychologische Mechanismen mit positiver Wirkung auf Gedächtnisleistungen, Aufmerksamkeitsprozesse und die punktuelle Konzentrationsfähigkeit. –– die Steigerung des Selbstwertgefühls und der Selbstwirksamkeit, indem Erfolgserfahrungen der eigenen Anstrengung und Fähigkeit zugeschrieben werden, was wiederum eine Erhöhung der Anstrengungsbereitschaft zur Folge haben kann. –– die Veränderung von Einstellungen zu Bildung und zur Schule, wenn durch sportliche Freizeitaktivitäten in organisierten Kontexten Bindungen zu Gleichaltrigen hergestellt werden, die Bildung wertschätzen. Wie über ein Sportengagement Zugehörigkeit hergestellt wird und welche Bedeutung diese für den Bildungsprozess haben kann, betrachtet Volkmann (2016) aus einer biographieanalytischen Perspektive anhand von Sportlehrkräften mit Migrationshintergrund, die das deutsche Bildungssystem erfolgreich durchlaufen haben und nun ihrerseits zur kulturellen Öffnung von Schule und Sport beitragen möchten.
4 Interkulturalität im Kontext des Schulsports Sport als Unterrichtsfach ist verbindlicher Bestandteil des schulischen Fächerkanons aller Bundesländer und rangiert auf einer Spitzenposition unter den beliebten Schulfächern. Curriculare Grundlagen sehen neben motorischem Lernen auch soziale Lernprozesse vor. In vielen Lehrplänen lässt sich mittlerweile der sogenannte Doppelauftrag des Sportunterrichts finden. Er besteht einerseits in der Erziehung zum Sport, andererseits in der Entwicklungsförderung durch Sport, womit eine ganzheitliche Förderung, die auch kognitive, soziale und emotionale Lernprozesse umfasst, gemeint ist. Interkulturelles Lernen wird hier verstanden als dialektischer Prozess, der dazu führt, dass „eigene“ und „fremde“ Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster als
Vera Volkmann
solche identifiziert und reflektiert werden können. Dies sollte im Schulsport durch die Unmittelbarkeit und Emotionalität des Sich-Begegnens auf besondere Art und Weise möglich sein. Der konstruktive Umgang mit Fremdheit wird als zentrale Aufgabe von Schule und Schulsport gesehen (Gieß-Stüber 2003). Eine Grundvoraussetzung sei eine an gleichberechtigter Teilhabe und Wertschätzung ausgerichtete Grundhaltung der Sportlehrkraft, die die Unterrichts- und Lernkultur im Sportunterricht maßgeblich prägt (Gieß-Stüber & Grimminger 2007, S. 122ff). Der Sportunterricht fungiere jedoch – ebenso wie der Sport selbst – nicht per se als interkultureller Lernanlass. Vielmehr gehe es darum, pädagogisch verantwortungsvolle Inszenierungen anzubieten, die auch Formen von Bewegung, Spiel und Sport aus unterschiedlichen Kulturen aufgreifen und die Begegnung sowie den Umgang mit „Fremdheit“ ausdrücklich thematisieren. In den bisher vorliegenden empirischen Untersuchungen wird deutlich, dass die Lehrperson mit ihren Einstellungen ein maßgeblicher Einflussfaktor für die Inszenierung interkultureller Lernprozesse im Sportunterricht ist (vgl. Frohn & Grimminger 2011). Literatur
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Balz, Eckart; Bräutigam, Michael; Miethling, Wolf & Wolters, Petra (Hg.) (2011): Empirie des Schulsports. Aachen: Meyer & Meyer. – Baur, Jürgen (Hg.) (2009): Evaluation des Programms „Integration durch Sport“. Bd. 1 und 2. Potsdam: Universität Potsdam. – Braun, Sebastian & Nobis, Tina (Hg.) (2011): Migration, Integration und Sport. Zivilgesellschaft vor Ort. Wiesbaden: VS Verlag. – Deutsche Sportjugend (2010): Interkulturelle Öffnung im organisierten Kinder- und Jugendsport. Arbeitshilfen zur Organisations- und Personalentwicklung in der dsj und in ihren Mitgliedsorganisationen. Online verfügbar unter https://www.dsj.de/nc/publikationen/?tx_gwshop_ gwshop%5Bproduct%5D=23&tx_gwshop_gwshop%5Baction%5D=show&tx_gwshop_gwshop%5Bcontroller% 5D=Product&cHash=4300385e9190bb89af30b540e61df408 [20.09.2016]. – Die Bundesregierung (2012): Nationaler Aktionsplan Integration. Zusammenhalt stärken – Teilhabe verwirklichen. Online verfügbar unter http:// www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/IB/2012-01-31-nap-gesamt-barrierefrei.pdf;jsessionid=80104A DE9EC03620B2C7282A8AAEA68E.s2t1?__blob=publicationFile&v=5 [29.07.2016]. – DOSB (20102): Integration durch Sport – Programmkonzeption. Westdeutsche Verlags- und Druckerei GmbH. Online verfügbar unter http://www.integration-durch-sport.de/de/integration-durch-sport/ [29.07.2016]. – DOSB (20122): Sport interkulturell. Fortbildungskonzeption zur kulturellen Vielfallt im sportlichen Alltag. Online verfügbar unter http://tinyurl.com/pjp6j65 [29.07.2016]. – Frohn, Judith & Grimminger, Elke (2011): Zum Umgang mit Heterogenität im Sportunterricht. Die Bedeutsamkeit von Genderkompetenz und Interkultureller Kompetenz von Sportlehrkräften. In: Eckhart Balz; Michael Bräutigam; Wolf-Dietrich Miethling & Petra Wolters (Hg.): Empirie des Schulsports: Forschungsstand und Befunde. Aachen: Meyer & Meyer, S. 154-173. – Gieß-Stüber, Petra & Grimminger, Elke (2007): Sportpädagogische Herausforderungen durch eine multikulturelle Schülerschaft – Ein Plädoyer für die Ausbildung interkultureller Kompetenz von Sportlehrkräften. In: Wolf-Dietrich Miethling & Petra Gieß-Stüber (Hg.): Beruf: Sportlehrer/in. Über Persönlichkeit, Kompetenz und professionelles Selbst von Sport- und Bewegungslehrern. Hohengehren: Schneider Verlag, S. 110-133. – Huh, Yoon-Sun (2010): Interkulturelle Bewegungsund Sporterziehung. Problemstellungen, Grundlagen und Vermittlungsperspektiven. Hohengehren: Schneider. – Kleindienst-Cachay, Christa (2007): Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund im organisierten Sport. Ergebnisse zur Sportsozialisation - Analyse ausgewählter Maßnahmen zur Integration in den Sport. Hohengehren: Schneider. – Kleindienst-Cachay, Christa; Cachay, Klaus; Bahlke, Steffen & Teubert, Hilke (2012): Inklusion und Integration. Eine empirische Studie zur Integration von Migrantinnen und Migranten in den organisierten Sport. Schorndorf: Hofmann. – Mutz, Michael (2012): Sport als Sprungbrett in die Gesellschaft? Sportengagements von Jugendlichen mit Migrationshintergrund und ihre Wirkung. Weinheim: Beltz, Juventa. – Neuber, Nils (Hg.) (2010): Informelles Lernen im Sport. Beiträge zur allgemeinen Bildungsdebatte. Wiesbaden: VS Verlag. – Seiberth, Klaus (2012): Fremdheit im Sport. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen der Integration durch Sport. Schorndorf: Hofmann. – Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.) (2012): Nationaler Aktionsplan Integration. Zusammenhalt stärken – Teilhabe verwirklichen. Berlin: Silber Druck OHG. – Volkmann, Vera (2016): Sportlehrer_innen mit Migrationshintergrund. Über die biographische Konstruktion von Zugehörigkeit. In: Heiko Meier; Lars Riedl & Marc Kukuk (Hg.): Migration, Inklusion und Integration – Herausforderungen für den Sport. Hohengehren: Schneider. – Weber, Max (1922): Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen: Mohr.
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7 Personal: Handlungsfelder und Qualifizierung
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Interkulturelle Trainings gehören heute zum üblichen Repertoire institutioneller und individueller Maßnahmen, mit denen kulturelle Sensibilität, Umgang mit Unsicherheit, Empathie und Potentialbildung zur Reflexion von und Umgang mit Anderssein entwickelt und gefördert werden sollen. Form und Inhalt unterscheiden sich, je nachdem, in welchem gesellschaftlichen und professionellen Feld derartige Maßnahmen organisiert werden (Leenen 2007; Littrell et al. 2006).
1 Vielfalt der Trainingskonzeptionen Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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105 Trainer – Interkulturelle Trainings Jürgen Henze
Interkulturelle Trainings werden je nach Problemstellung und Zielgruppe organisiert. Vereinfacht kann dabei zwischen zwei Linien in der Trainingskonzeption unterschieden werden, die im Folgenden vorgestellt werden: Zum einen gibt es ideologie-, system- und genderkritische Ansätze zur Befähigung für den Umgang mit asymmetrischen interpersonalen Beziehungen und gesellschaftlichen Strukturmustern, hierbei vor allem in der Perspektive der Migrationsgesellschaft. Entsprechende Trainingsdesigns zeichnen sich durch ein hohes Maß an struktureller, inhaltlicher und didaktischer Vielfalt aus und enthalten zunehmend auch: Elemente (a) des Diversity Managements, auch Vielfaltsmanagement, das die soziale und kulturelle Vielfalt der Mitarbeiter/innen in Unternehmen produktiv zu nutzen sucht, (b) des Anti-Bias-Ansatzes, einer antidiskriminierenden Bildungsarbeit, die Mechanismen subjektiver und gesellschaftlicher Diskriminierungen aufdecken und Möglichkeiten zu ihrer Überwindung aufzeigen soll, (c) der antirassistischen Arbeit und (d) soweit es um organisationale Veränderungen geht, auch der Interkulturellen Öffnung (Bredella 2010; Vanderheiden & Mayer 2014). Das Potenzial des Intersektionalitätsansatzes, der sich mit Folgen der Überschneidung von Diskriminierungsformen in einer Person befasst, bleibt dagegen noch weitgehend unerschlossen (Perko & Czollek 2012). Dem gegenüber stehen solche interkulturellen Trainingsansätze, mit denen antizipierte oder bereits gemachte Erfahrungen mit sprachlich-kulturellem Anderssein, speziell aber beruflich induzierte Mobilitätserfahrungen reflexiv erschlossen und Kompetenz bildend oder erweiternd verarbeitet werden sollen. Dabei geht es um Handlungskompetenz(en) für sprachlich-kulturelle Überschneidungssituationen, die vorzugsweise im internationalen Kontext entwickelt werden (Thomas & Utler 2013).
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2 Kritische Diskurse Im Diskurs der interkulturellen Pädagogik ist die Kritik an derartigen Trainingsansätzen recht ausgeprägt und betrifft vor allem die kultur-, kompetenz- und machttheoretischen sowie trainingspragmatischen Aspekte der Designs und ihrer Implementierung. So steht etwa die Referenz auf eher statische, nationalstaatlich verfasste Kultur(en) in der Kritik, die auf der Basis von Kulturstandards oder Werteanalysen (Kulturdimensionen) die Konstruktion der anderen Person (im Sinne des othering) ermöglichen soll mit dem Ziel, Kommunikation und Handeln unter der Perspektive von Effizienz und Erfolg zu gestalten (Castro Varela 2013). Zu den umstrittenen Aspekten der eher mobilitätsbezogenen Trainings für international Beschäftigte (Expat-Trainings) gehört auch die Konstruktion und Messung von interkultureller Kompetenz, die international unterschiedlich und kontrovers diskutiert wird. Weitgehend akzeptiert sind Modelle, die im Kern von beruflich-fachlichen, kulturallgemeinen und kulturspezifischen, selbst- und persönlichkeitsbezogenen Dimensionen ausgehen (Spitzberg & Changnon 2009). Weitgehend ungeklärt ist, wie sich die Wechselwirkung der einzelnen Dimensionen entfaltet und prognostisch erfasst werden kann. Diese Frage begleitet auch das Interkulturalitätskonstrukt, der sog. kulturellen Intelligenz (cultural intelligence), bei der auch die Referenz auf etablierte Modelle der psychologischen Intelligenzmessung die methodischen Schwächen des Modells nicht verdecken kann (Berry & Ward 2006).
3 Methoden, Inhalte, Akteure – Differenzierung als Trend Zwei Unterscheidungslinien markieren interkulturelle Trainings heute durchweg, das gilt für die Szene in Deutschland ebenso wie für das internationale Umfeld (zu Australien vgl. Bean 2008; zu Kanada vgl. Rolston & Margolis 2011): Auf der einen Seite steht die Suche nach Beratung und Beratungswissen zur Organisation effektiven und erfolgreichen Handelns in spezifischen Situationen (denen als Spezifikum eine kulturräumliche Referenz unterstellt wird), auf der anderen Seite geht es um die eher systemisch durchgehende Reflexion über Ungerechtigkeits- und Ungleichheitsproduktion, über benachteiligende gesellschaftliche Strukturmuster (vor allem für solche Personen, die in irgendeiner Form von Migration betroffen sind) und die Suche nach Optionen ihrer Begrenzung oder Überwindung. Für beide Formen interkultureller Trainings gilt, dass die seit Jahren zitierte Übersicht von Fowler und Bloom (2004), mit der die vorherrschenden didaktischen Muster derartiger Trainings abgebildet werden sollten, nicht länger erkenntnisproduktiv erscheint: Die Differenzierung nach kulturallgemeinen und kulturspezifischen (culture general versus culture specific) Trainings, die dabei eher instruktional kognitiv (didactic) oder erfahrungs- und handlungsorientiert (experiental) konzipiert werden, ist bestenfalls im Sinne von Idealtypen interessant, in der Praxis jedoch dominieren Mischformen. Kulturraumspezifische Trainings sollten immer auch Elemente zur Erhöhung der Selbstreflexion und Mindfulness (Achtsamkeit) enthalten, die nur über erfahrungs- und handlungsorientierte Lernsettings zu erreichen sind. Dies gilt für kulturraumallgemeine Trainings gleichermaßen (Rathje 2010). Zunehmend an Bedeutung gewinnen neue Formen der komplexen Verschränkung von informationstechnisch gestützten Lern- und Informationsarrangements, die im Format des blended learning den eher klassischen Arrangements aufsitzen (Webinare, MOOCs, Blogs etc.). Design, Durchführung und Evaluation von Maßnahmen zur Schaffung von Lernumwelten, die die hier beschriebenen Aktivitätsbereiche umfassen, werden von einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure verantwortet. Das Angebot interkultureller Trainings reicht von solchen zu Handlungs-
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Trainer – Interkulturelle Trainings
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räumen der öffentlichen Verwaltung (Uske 2014) und der Gesundheits- und Pflegevorsorge hin zu klassischen migrationssoziologisch verankerten Anti-bias-Trainings (Stereotypen- und Vorurteilsbegegnung) und umfasst den schulischen Raum (Holzbrecher & Over 2015) ebenso wie den universitären, wobei inter-/transkulturelle und diversity-zentrierte Trainingsformate gerade an Hochschuleinrichtungen deutlich zugenommen haben (Bosse 2011; Hiller & Vogler-Lipp 2010; Schumann 2012; Weidemann et al. 2010). Damit ist die Entwicklung in Deutschland dem internationalen Trend gefolgt, wenn auch mit gewisser Verzögerung. Soweit es die Vielfalt der im Training verwendeten Methoden betrifft, sind die Verwendung kritischer Ereignisse (critical incidents) als Folien der Selbst- und Fremdbetrachtung, der Kulturassimilator (culture assimilator) sowie Rollenspiele und Simulationen als eher klassische Trainingselemente zu nennen (Thiagarajan & van den Bergh 2014). Sie werden je nach Zielgruppe und Aufgabenstellung zunehmend ergänzt durch Varianten des szenischen Spiels und der Theaterpädagogik sowie des (digital) story telling. Diese Tendenz gilt auch für Angebote im Rahmen der internationalen betrieblichen Personalentwicklung (Riedel 2015), wobei gerade hier die komplexe Verschränkung mit neueren, digital-gestützten Lernsettings am stärksten zum Tragen kommt. Das gesamte Spektrum der damit beschriebenen Angebote erscheint heute in einer Variationsbreite, die generelle, übergreifende und in sich stimmig bewertende Aussagen kaum zulässt. An dieser Stelle können verschiedene internationale Beispiele nur exemplarisch vorgestellt werden, die das Kontinuum der Optionen und damit das Kontinuum der Vielfalt umreißen.
4 Professionalisierung durch Zertifizierung? Neuere Untersuchungen zur professionellen Struktur im Arbeitsfeld „Interkulturalität“ (interculturalists) haben gezeigt, dass die Mehrheit derer, die sich als interkulturelle Trainerpersönlichkeiten sehen, über einen Hochschulabschluss in den Bereichen Linguistik/Sprachen/Literatur, Psychologie und Wirtschaftswissenschaften bzw. Betriebswirtschaft verfügen. Ein erziehungswissenschaftlicher Abschluss hingegen ist von peripherer Bedeutung (Franz, et al. 2015). Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang, dass der Begriff „Trainer/in“ (bzw. Coach) keine geschützte Berufsbezeichnung darstellt (Bachmann et al. 2010). Die Qualitätssicherung erfolgt in erster Linie über Selbstkontrolle und Evaluationen durch die Marktteilnehmer/innen, die Auftraggeber/innen. In der Bundesrepublik gibt es verschiedene Anbieter von zertifizierten Ausbildungsprogrammen, die sich in den letzten zehn Jahren mit unterschiedlichen methodisch-didaktischen und inhaltlichen Programmen und Wissenschaftsbezug etabliert haben. Sie bedienen damit ein wachsendes Bedürfnis des Marktes nach gesicherter Trainingsqualität. Zugleich steht das Tätigkeitsfeld interkultureller Trainer/innen und Coaches insgesamt unter zunehmendem Professionalisierungsdruck. International gesehen lassen sich ähnliche Tendenzen ausmachen, die in naher Zukunft zur Etablierung von universitären Programmangeboten (etwa auf Basis von Masterstudiengängen) führen sollten. Literatur
Bachmann, Thomas; Runkel, Ragna & Scholl, Wolfgang (2010): Ausbildung von Trainern, Coachs und Beraterinnen für Organisationen. In: Uwe Peter Kanning; Lutz von Rosenstiel & Heinz Schuler (Hg.): Jenseits des Elfenbeinturms: Psychologie als nützliche Wissenschaft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 210-222. – Bean, Robert (2008): Cross-cultural Training and Workplace Performance. Adelaide: NCVER . Online verfügbar unter http://goo.gl/pmHgGs [12.10.2015]. – Berry, John W. & Ward, Colleen (2006): Commentary on „Redefining Interactions Across Cultures and Organizations“. In: Group & Organization Management 31 (1), S. 64-77. – Bettmann, Richard & Roslon, Michael (Hg.) (2013): Going the Distance. Impulse für die interkulturelle Qualitative
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Jürgen Henze
Sozialforschung. Wiesbaden: Springer VS. – Bosse, Elke (2011): Qualifizierung für interkulturelle Kommunikation: Trainingskonzeption und -evaluation. München: Iudicium. – Hiller, Gundula-Gwenn & Vogler-Lipp, Stefanie (Hg.) (2010): Schlüsselqualifikation interkulturelle Kompetenz an Hochschulen. Wiesbaden: Springer VS. – Bredella, Lothar (2010): Überlegungen zur Lehre interkultureller Kompetenz. In: Arne Weidemann; Jürgen Straub & Steffi Nothnagel (Hg.): Wie lehrt man interkulturelle Kompetenz? Bielefeld: transcript, S. 99-122. – Castro Varela, Maria do Mar (2013): Interkulturelles Training? Eine Problematisierung. In: Lucyna Darowska; Thomas Lüttenberg & Claudia Machold (Hg.): Hochschule als transkultureller Raum? Bielefeld: transcript, S. 117-129. – Fowler, Sandra M. & Blohm, Judith M. (2004): An Analysis of Methods for Intercultural Training. In: Dan Landis; Janet M. Bennett & Milton J. Bennett (Hg.): Handbook of Intercultural Training. Third Edition. Thousand Oaks: Sage Publications, S. 37-84. – Franz, Anja; Salzbrenner, Susan & Schulze, Tanja (2015): The Intercultural Profession in the Past Decade. In: Wenshan Jia (Hg.): Intercultural Communication for an Inclusive Global Order, Preliminary Edition. San Diego: Cognella, Inc., 2015, S. 511-524. Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung “A Status Report of the Intercultural Profession 2014”, online verfügbar unter https://fitacrosscultures.leadpages.net/statusreport/ [12.07.2015]. – Holzbrecher, Alfred & Over, Ulf (Hg.) (2015): Handbuch Interkulturelle Schulentwicklung. Weinheim, Basel: Beltz. – Leenen, W.R. (2007): Interkulturelles Training: Psychologische und pädagogische Ansätze. In: Jürgen Straub; Arne Weidemann & Doris Weidemann (Hg.): Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Stuttgart: Metzler, S. 773-784. – Littrell, Lisa N.; Salas, Eduardo; Hess, Kathleen P.; Paley, Michael & Riedel Sharon (2006): Expatriate Preparation: A Critical Analysis of 25 Years of Cross-Cultural Training Research. In: Human Resource Development Review 5 (3), S. 355-388. – Perko, Gudrun & Czollek, Leah Carola (2012): Social Justice und Diversity Training: Intersektionalität als Diversitymodell und Strukturanalyse von Diskriminierung und Exklusion. Online verfügbar unter http://www.portal-intersektionalität.de [30.11.2015]. – Rathje, Stefanie (2010): Training/Lehrtraining. In: Arne Weidemann; Jürgen Straub & Steffi Nothnagel (Hg.): Wie lehrt man interkulturelle Kompetenz? Theorien, Methoden und Praxis in der Hochschulausbildung. Ein Handbuch. Bielefeld: transcript, S. 215-240. – Riedel, Tim (2015): Internationale Personalauswahl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. – Rolston, Karen & Margolis, Rhonda (2011): Anti-Racism, Diversity and Intercultural Training in BC: Surveying the Field and Advancing the Work (Report prepared for Embrace BC, Multiculturalism Unit, Ministry of Social Development). Vancouver: University of British Columbia. Online verfügbar unter http://issuu.com/ embracebc/docs/anti-racism_diversity_intercultural_training_in_bc/9?e=0 [01.08.2015]. – Schumann, Adelheid (Hg.) (2012): Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule: Zur Integration internationaler Studierender und Förderung Interkultureller Kompetenz. Bielefeld: transcript. – Spitzberg, Brian H. & Changnon, Gabrielle (2009): Conceptualizing Intercultural Competence. In: Darla K. Deardorff (Hg.): The SAGE Handbook of Intercultural Competence. London: Sage, S. 2-52. – Thiagarajan, Sivasailam & van den Bergh, Samuel (2014): Interaktive Trainingsmethoden. Schwalbach: Wochenschau Verlag. – Thomas, Alexander & Utler, Astrid (2013): Kultur, Kulturdimensionen und Kulturstandards. In: Petia Genkova; Tobias Ringeisen & Frederick T.L. Leong (Hg.) (2013): Handbuch Stress und Kultur. Wiesbaden: Springer VS, S. 41-58. – Uske, Hans; Scheitza, Alexander; Düring-Hesse, Suse & Fischer, Sabine (Hg.) (2014): Interkulturelle Öffnung der Verwaltung. Duisburg: Oppenberg Druck + Verlag GmbH. Online verfügbar unter http://goo.gl/3CHWw5 [01.08.2015]. – Vanderheiden, Elisabeth & Mayer, Claude-Hélène (Hg.) (2014): Handbuch Interkulturelle Öffnung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Interkulturelle und interreligiöse Moderation
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106 Interkulturelle und interreligiöse Moderation Dorothea Bender-Szymanski (†)
Migrationsprozesse und -ergebnisse sind immer in einen sozio-kulturellen Kontext eingebettet, der maßgeblich auch von der (verfassungs-)rechtlichen Grundlage der jeweiligen Einwanderungsgesellschaft bestimmt wird. Es erfordert Wissen um die Verschränkungen der Vorgaben der jeweiligen Gesellschafts-, Staats- oder Regierungsform mit individuellen Ansprüchen seitens der migrierenden wie der ansässigen Menschen, um Migrationserfahrungen und Eingliederungsprozesse zu deuten, sie zu beurteilen und in Konfliktfällen Entscheidungen zu treffen. Dieser Sachverhalt wird im Folgenden am Beispiel religiös-weltanschaulicher Orientierungen der in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) lebenden ca. vier Millionen muslimischen Personen ausgefaltet. Kaum ein anderes Merkmal hat wie dieses fundamentale Auseinandersetzungen über das Demokratieverständnis im Lande hervorgerufen und die Frage nach demokratischem Handeln beeinflusst. Dieser Diskurs und seine Hintergründe werden im folgenden Beitrag vorgestellt und anhand eines Unterrichtsbeispiels illustriert.
1 Grundrechte und ihre Grenzen Das Grundgesetz (GG) der BRD hat mit Art. 1 Abs. 1 die Achtung der Menschenwürde ins Zentrum der Verfassung gestellt. Auf dieser Grundlage soll es für alle Menschen gleichermaßen eine umfassende kulturelle Entfaltungsfreiheit gewährleisten, die sich in kulturellen Grundrechten wie der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, dem Schutz von Ehe und Familie oder der Meinungsfreiheit manifestiert. Von Zuwandernden wird auf dieser Grundlage nicht die vollständige Aufgabe der Bindungen zur Herkunftskultur erwartet, sondern die Anerkennung der Verfassungsordnung; respektiert wird die Wahrung und Entfaltung eigener kultureller Identität (Langenfeld 2001). Verlangt wird die Eingliederung in die demokratische, rechtsstaatliche Ordnung der BRD. Man kann demnach von einer „kulturoffenen“ Verfassung sprechen, deren Grundlagen jedoch einem beliebigen Wettbewerb der Rechtsvorstellungen verschlossen sind (Rohe 2001, S. 68f ): „Die Rechtsordnung eines demokratischen, den Menschenrechten verpflichteten Rechtsstaats muss stabile und im Kern unveränderliche Rahmenbedingungen für ein gedeihliches Miteinander bereithalten und diese nötigenfalls auch mit staatlichen Sanktionen durchsetzen“ (Rohe 2011, S.19). Der deutsche Staat ist zudem dem Gebot zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet (Nicht-Identifikation). Das Konzept religiös-weltanschaulicher Neutralität gewinnt „Sinnidentität […] nur in den näheren Ausformungen und Ausprägungen einer konkreten, historisch, kulturell und sozial eingebetteten Rechtsordnung“ (Jestaedt 2008, S. 87). In der deutschsprachigen rechtswissenschaftlichen Literatur wird zwischen abweisend-distanzierender und offenübergreifender Neutralität unterschieden (Böckenförde 2004). Im ersten Fall werden religiösweltanschauliche Elemente aus dem öffentlichen Raum eliminiert und in den privaten Bereich verwiesen, wie z.B. in der französischen laïcité. Im zweiten Fall – dieser gilt, wenngleich in der Literatur nicht unumstritten, für die BRD – gibt der Staat jedem religiösen und weltanschaulichen Bekenntnis Entfaltungsraum. Er respektiert die verschiedenen Bekenntnisse, auch dieje-
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Dorothea Bender-Szymanski
nigen von Minderheiten. Das Grundrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit umfasst dabei nicht nur das Recht des einzelnen, sein Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln (Rohe 2001, S. 77), sondern der Staat ist darüber hinaus verpflichtet, die aktive Ausübung der Glaubensüberzeugung zu gewährleisten. Demnach haben Muslime wie Angehörige anderer religiös-weltanschaulicher Orientierungen auch einen verfassungsrechtlich geschützten Anspruch darauf, unter Beachtung der Vorschriften des Raumplanungs- und Baurechts Moscheen und religiöse Zentren einzurichten, welche die Pflege und Förderung eines religiösen Bekenntnisses zum Zweck haben (Rohe 2001, S. 78f, S. 127). Die Religions- und Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 Abs.1 und 2 GG) ist indes trotz ihrer hohen Wertschätzung kein „Ober“-Grundrecht, dem in jedem Fall Vorrang vor anderen Rechtspositionen zukommt. Wenn andere, gleichrangige Gundrechte mit der Religions- und Weltanschauungsfreiheit in Konflikt geraten, müssen die widerstreitenden Interessen durch Abwägung aller zu berücksichtigenden Gesichtspunkte zu einem schonenden Ausgleich gebracht werden. In solchen Fällen können Beschränkungen der Religionsfreiheit zulässig sein. Die religiös-weltanschauliche Neutralität ist somit „selbst innerhalb einer konkreten Rechtsordnung ein in sich spannungsreiches Konzept, welches im und für den jeweiligen Einzelfall konkretisierungsfähig und konkretisierungsbedürftig ist. Was die verfassungsrechtlich verfügte Neutralität dem Staat in concreto abverlangt und was sie ihm verbietet, lässt sich zumeist nicht schlicht an allgemeingültigen Regeln ablesen, sondern erst aufgrund komplexer Einzelfallabwägungen ermitteln. Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Verfassungsstaates ist folglich nicht schon mit der […] Proklamation derselben im Grundgesetz gesichert; um sie muss vielmehr in jedem einzelnen Fall erneut gestritten und gerungen werden“ (Jestaedt 2008, S. 87f ). Das Recht mit seinen Integrations-, Ausgleichs- und Befriedungspotenzialen kann an seine Grenzen stoßen. Selbst wenn es rechtens sein mag, einen Anspruch vor Gericht durchzusetzen, kann dies störend für das Zusammenleben in einer Gesellschaft sein. Deshalb sind gesellschaftliche Diskurse jenseits der Schwelle des Rechts erforderlich, um abzuwägen, wann es geboten ist, den Rechtsweg einzuschlagen – oder durch kommunikative Prozesse einen Kompromiß oder gar Konsens zu erzielen (Rohe 2012, S. 27f ). Unabdingbare Voraussetzung für einen gelingenden Vermittlungsprozess ist das Bemühen aller Beteiligen um den Austausch von Argumenten, welche die Regeln integren Argumentierens beachten. Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Verfassung der BRD mit ihren auf Gerechtigkeit und gegenseitige Anerkennung zielenden Bekenntnissen zu Grund- und Menschenrechten beruht auf einem hohen moralischen Anspruch – sowohl an die Instanzen des Rechtsstaates als auch an die diese tragende Gesellschaft. Sie „verlangt von der Mehrheitsgesellschaft ein erheblich größeres Maß an Toleranz und Offenheit als neutralitätsliberale Ansätze, die unter Berufung auf den Neutralitätsgrundsatz für eine strikte Trennung von Staat und Religion plädieren“ (Langenfeld & Leschinski 2003, S. 59). Nachfolgend werden Beispiele für pädagogisch-praktisches Handeln vor diesem Hintergrund präsentiert, die in der Lehreraus- und Fortbildung erprobt wurden.
2 Praxisbeispiele Von der Autorin dieses Beitrags wurden für Studierende in der universitären Aus- und späteren Fortbildung sowie für Schüler/innen zwei komplexe strukturgleiche, aber inhaltsverschiedene Lehr-Lernsequenzen entwickelt, erprobt, empirisch begleitet und evaluiert, die im schulischen Kontext angesiedelt sind. Sie haben den Anspruch, die vorgestellten Verschränkungen von Rechtsgrundlagen unseres Verfassungsstaates mit individuellen Aspirationen transparent zu ma-
Interkulturelle und interreligiöse Moderation
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chen und kommunikative Prozesse zu unterstützen, die – unter Berücksichtigung der Rechtslage – Geboten der Fairness gerecht werden.
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2.1 Schonender Interessenausgleich: Befreiung von koedukativem Sportunterricht? Im Zentrum der ersten Lehr-Lernsequenz steht der religiös begründete Antrag einer 12-jährigen muslimischen Gymnasialschülerin der 7. Klasse auf Befreiung vom koedukativen Sportunterricht. Der Antrag stellt die Schule vor die Aufgabe, zwischen zwei prinzipiell gleichgeordneten verfassungsrechtlich geschützten Grundrechten – dem Recht auf Glaubens- und Religionsausübungsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule nach Art. 7 Abs.1 GG – abwägen zu müssen. Das Unterrichtsbeispiel gliedert sich in drei Hauptphasen mit Unterphasen: –– ein Planspiel, in dem verschiedene Rollenträger mit unterschiedlichen Positionen und Argumenten das Anliegen der muslimischen Schülerin diskutieren und möglichst gemeinsam eine Entscheidung treffen sollen, –– eine theoriebasierte Vertiefungsphase, in der mögliche Entscheidungen mit ihren Konsequenzen aus interkultureller und juristischer Perspektive modelliert sowie der Verfahrensweg erarbeitet werden, welcher der Schülerin für die Durchsetzung ihres Anliegens für den Fall der Ablehnung durch die Schule offensteht, und –– eine reale Phase, in der der Fall einer muslimischen Schülerin nachgezeichnet wird, die nach Ablehnung ihres Antrags durch die Schule den Verfahrensweg zur Durchsetzung ihres Anliegens bis zum Bundesverwaltungsgericht durchläuft. Dessen Urteil und seine Begründungen werden rekonstruiert. Die folgende Abbildung (s. S. 562) ist der theoriegeleiteten Phase entnommen und stellt die Entscheidungsausgänge (Spalte 1) und -folgen (Spalte 2) sowie ihre Modellierung aus interkultureller (Spalte 3) und juristischer Perspektive (Spalte 4) dar. Die verschiedenen Rollenpositionen der im Planspiel vertretenen Personen sind in Klammern hinzugefügt (Spalte 2). Das Grundsatzurteil des BVerwG (Urteil vom 25.8.1993; vgl. Bender-Szymanski 2012) spiegelt das Ergebnis des Abwägensprozesses des Gerichts wider und verdeutlicht, was es unter einem „schonenden Interessenausgleich“ versteht (Spalte 3 Zeile 4): Es stellt fest, dass die staatliche Schulverwaltung unter Abwägung des Bildungs- und Erziehungsauftrags und der Glaubensund Gewissensfreiheit verpflichtet ist, alle ihr zu Gebote stehenden, zumutbaren organisatorischen Möglichkeiten auszuschöpfen, für Mädchen ab dem Alter der zwölfjährigen Klägerin einen nach Geschlechtern getrennten Sportunterricht einzurichten, um einen schonenden Ausgleich beider Rechtspositionen herbeizuführen. Nur dann, wenn die staatliche Schulverwaltung dieser Verpflichtung nicht nachkommt, ist der Konflikt so zu lösen, dass ein Anspruch auf Befreiung vom koedukativ erteilten Sportunterricht besteht (vgl. Uhle 2014).
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Dorothea Bender-Szymanski Entscheidung
Konsequenz
interkulturelles Modell juristisches Modell
Antrag wird gewährt
Befreiung vom Sportunterricht. Koedukation bleibt Unterrichtsprinzip (Direktor, muslimische Schülerin)
Segregation: Ausschluss
Antrag wird zurückgewiesen
Teilnahmepflicht ohne Änderung Assimilation: Anpassung Bildungs- und der Bedingungen. Koedukation Erziehungsauftrag vor Religionsfreiheit bleibt Unterrichtsprinzip (Schulsprecherin, Elternbeiratsvorsitzender)
Religionsfreiheit vor Bildungs- und Erziehungsauftrag
Antragsgründe Teilnahmepflicht unter geänderwerden abgeten Bedingungen: mildert Koedukation bleibt Unterrichtsprinzip, aber Rücksicht auf Bekleidungsvorschriften (Sportlehrer)
Integration: Kompromiss
Bildungs- und Erziehungsauftrag vor Religionsfreiheit
Antrag wird Aufgabe des Koedukationspringegenstandslos zips (Juristin)
Integration: Schonender Bildungs- und Interessenausgleich Erziehungsauftrag und Religionsfreiheit
Abb. 1: Entscheidungen und Konsequenzen aus interkultureller und juristischer Perspektive.
5.2 Faires Argumentieren: ein islamisches Kulturzentrum in unserer Stadt? Die zweite Sequenz gliedert sich ebenfalls in drei aufeinander aufbauende Hauptphasen mit jeweiligen Unterphasen: –– ein Planspiel, in dessen Zentrum der Diskurs und die Entscheidung von Rollenträgern mit unterschiedlichen Positionen und Argumenten zur Einrichtung eines islamischen Kulturzentrums in einer Kommune stehen; der Schulbezug wurde dadurch hergestellt, dass die Schule zum Diskursort bestimmt wurde, –– eine theorieorientierte Phase, in der die Adressaten mit einem Konstrukt der Argumentationsintegrität und daraus abgeleiteten und empirisch validierten Strategien unintegren Argumentierens vertraut gemacht werden (nach Groeben et al. 1993), und –– eine Anwendungsphase, in der Argumente von Politikern aus einem realen Diskurs um ein islamisches Kulturzentrum in überregionalen Tageszeitungen auf argumentative Regelverletzungen geprüft und Regelverletzungen identifiziert wurden. In der folgenden Abbildung sind Beispiele für das Begründen argumentativer Regelverletzungen erkennbar. Spalte 1 enthält fünf Argumente von Politikern; Spalten 2 und 3 zeigen an, was als Regelverletzung identifiziert und wie dies begründet wurde:
Handbuch Interkulturelle Pädagogik, 9783825286972, 2018
Entscheidung nach geltendem Recht lässt den Ausgang offen, Änderung von Bebauungsplänen präjudiziert Ablehnung. aus einem legalem Prüf- und Entscheidungsprozess: sog. Negativplanung ist unzulässig, wenn und soweit sie nur vorgeschoben wird, um eine andere Nutzung zu verhindern. Magistrat ist nicht zur Änderung von Bebauungsplänen befugt. der Stadtverordnetenversammlung.
• Konsistenzvorspiegelung: Handlungswiderspruch • Abbruch: Ausschluss …
• Verantwortlichkeitsverschiebung: unzulässige Verantwortungszuschreibung • Abbruch: Übergehen …
4 Diese Ablehnung sei auch eine Art Solidarität gegenüber den Christen in islamischen Ländern, denen unsägliches „Leid und großer materieller und geistiger Schaden zugefügt wird.“ (Fraktionsvorsitzende einer Partei)
Die in H. lebenden Muslime werden unzulässig in „Sippenhaft“ genommen und bestraft. Demokratische Prinzipien werden durch den Grundsatz der Gleichvergeltung (lex talionis) außer Kraft gesetzt.
• Konsistenzvorspiegelung: Prinzipienverschiebung
muslimischer Bürger aus geltendem Rechtsschutz und der Gesellschaft.
des Wunsches der Muslime durch Unterstellung eines Anspruchs auf dauerhafte Anwesenheit.
• Verantwortlichkeitsverschiebung: andere unzulässig verantwortlich machen
3 H. bleibe wie bisher eine tolerante und weltoffe- • Konsistenzvorspiegelung: Handlungswiderne Stadt. Jeder könne hier seine Religion frei ausspruch üben. Der Bau von Moscheen und Kulturzentren • Sinnentstellung: jedoch stelle einen Anspruch auf dauerhafte Positionsverdrehung Anwesenheit dar. „Und dies wollen wir nicht.“ (Fraktionsvorsitzende einer Partei) • Abbruch: Ausschluss …
Uneingeschränkte Toleranz vs. dauerhaft anwesende Muslime unerwünscht.
Das Gespräch als einem der wechselseitigen Verständigung dienenden Diskurs wird annonciert, das Ziel jedoch vorgegeben.
• Konsistenzvorspiegelung: Prinzipienverschiebung
2 Natürlich werde ein Antrag auf ein solches Zentrum nach geltendem Recht entschieden. „Aber wir werden auch nicht zögern, umgehend Bebauungspläne zu ändern, um solche Einrichtungen zu verhindern.“ (Bürgermeister)
aus der Kommunikation: Die Argumente der muslimischen Bürger werden nicht ernsthaft berücksichtigt.
• Abbruch: Ausschluss …
1 „Wir führen natürlich mit solchen Organisationen auch Gespräche. Aber das Ziel dieser Treffen kann nur sein, sie von ihren Plänen abzubringen.“ (Bürgermeister)
Begründung?
Welche Regelverletzungen?
Argumente aus Tageszeitungen
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Interkulturelle und interreligiöse Moderation
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Handbuch Interkulturelle Pädagogik, 9783825286972, 2018
Was für Christen unhinterfragt gilt, wird Muslimen nicht zugestanden. Integrationsbereitschaft führt nicht zum Verzicht auf religiöse Bindungen und die Ausübungsberechtigung nach Art. 4 GG. Gegenseitige Achtung und Integration hätte bei dieser Argumentation auch die Verwehrung christlicher und anderer religiöser „Treffpunkte“ wegen desintegrierender Wirkung zur Folge.
• Konsistenzvorspiegelung: Prinzipienverschiebung • Diskreditieren: Absprechen der Legitimität
• Abbruch: Ausschluss aller Religionsgemeinschaften
Abb. 2: Argumente von Politikern zum Anliegen der muslimischen Gemeinde, Regelverletzungen und Begründungen
5 „Die gegenseitige Achtung ist die Grundlage von Integration. Isolation und Absonderung bewirken das Gegenteil.“ Das islamische Kulturzentrum wäre nur ein Treffpunkt für Muslime. Als solches würde es – statt intensiver Integration – lediglich das multikulturelle Nebeneinander fördern. (stellvertretende Vorsitzende der Jugendorganisation einer Partei)
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564 | Dorothea Bender-Szymanski
Sprachlehrkräfte für Deutsch als Zweitsprache
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3 Fazit Die Beispiele der Lehr-Lernsequenzen sollten illustrieren, wie es gelingen kann, Rechtsnormen mit individuellen Ansprüchen zu verknüpfen und in pädagogisch relevanten Zusammenhängen exemplarisch ‚durchzuspielen‘. Die sorgfältige Durchdringung von Einzelfällen ermöglicht (selbst-)reflexive Prozesse und Erkenntnisgewinne, die für praktisches pädagogisches Handeln im interkulturellen, interreligiösen Kontext Grundlagen bieten.
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Literatur
Bender-Szymanski, Dorothea (2012): Assimilation, Integration or Segregation? A teaching project examining approaches to religious and ideological diversity in the classroom. In: Intercultural Education 23 (4), S. 325-340. – Böckenförde, Ernst-Wolfgang (2004): Bekenntnisfreiheit in einer pluralen Gesellschaft und die Neutralitätspflicht des Staates. Vortrag. Online verfügbar unter http://www.irh-info.de/nachrichten/nachrichten/2004/dok/ ProfDrBueckenfuerdeZuBekenntnisfreiheitKopftuch.pdf [30.07.2014]. – BVerwG, Urteil vom 25.8.1993, Akt.Z.: 6 C 8. 91. Siehe auch: Sammlung schul- und prüfungsrechtlicher Entscheidungen, n. F. 882, Nr. 10. Online verfügbar unter http://www.igmg.de/fileadmin/pdf/teskilat/f1_befreiung_vom_sportunterricht.pdf [30.07.2014]. – Groeben, Norbert; Schreier, Margrit; Christmann, Ursula (1993): Fairneß beim Argumentieren: Argumentationsintegrität als Wertkonzept einer Ethik der Kommunikation. In: Linguistische Berichte 147, S. 355-382. – Jestaedt, Matthias (2008): Recht und Religion. In: Andreas Nehring & Joachim Valentin (Hg.): Religious Turns, Turning Religions: Veränderte kulturelle Diskurse, neue religiöse Wissensformen. Stuttgart: Kohlhammer, S. 67-93. – Langenfeld, Christine (2001): Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten. Eine Untersuchung am Beispiel des allgemeinbildenden Schulwesens in der Bundesrepublik Deutschland. Tübingen: Mohr Siebeck. – Langenfeld, Christine & Leschinski, Achim (2003): Religion – Recht – Schule. In: Zeitschrift für Pädagogik 49 (47. Beiheft), S. 49-65. – Rohe, Matthias (2001): Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen. Rechtliche Perspektiven. Freiburg: Herder. – Rohe, Matthias (2011): Religion und Zuwanderung: Rechtliche und gesellschaftliche Perspektiven am Beispiel des Islam in Deutschland. In: Amt für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt a.M. – Mechthild M. Jansen (Hg.): Religion und Migration. Wiesbaden: Hessische Landeszentrale für politische Bildung. – Rohe, Matthias (2012): Der Islam im demokratischen Rechtsstaat. Erlanger Universitätsreden Nr. 80, 3. Folge. – Uhle, Arnd (2014): Integration durch Schule. Die Urteile des BVerwG in den Verfahren „Burkini“ und „Krabat“ (6 C 25/12 und 6 C 12/12). In: NVwZ, Heft 9, S. 541-548.
107 Sprachlehrkräfte für Deutsch als Zweitsprache Claudia Riemer
1 Begriffsbestimmung: Deutsch als Fremdsprache – Deutsch als Zweitsprache Wird Deutsch von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit anderen Muttersprachen gelernt, spricht man dann von „Deutsch als Fremdsprache“ (DaF), wenn die Sprache Deutsch in der Lebenswelt der Lernenden keine funktionale Rolle spielt. Dies ist gewöhnlich dann der Fall, wenn sie außerhalb deutschsprachiger Länder, z.B. im schulischen Fremdsprachenunterricht
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Claudia Riemer
oder an einem Goethe-Institut, gelernt wird und nicht unmittelbar im Alltag eingesetzt werden kann. In Abgrenzung dazu und in Betonung des Lern- und unmittelbaren Verwendungsorts der Sprache wird der Begriff „Deutsch als Zweitsprache“ (DaZ) dann verwendet, wenn die deutsche Sprache für das alltägliche Leben, die Teilhabe und Verwirklichung in einem Land, in dem sie als Mehrheitssprache und Umgebungssprache fungiert, von unverzichtbarer Bedeutung ist. DaZ ist dann Teil von lebensweltlicher Mehrsprachigkeit.
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2 Das akademische Fach DaF/DaZ „Deutsch als Fremdsprache“ ist außerdem die Bezeichnung für das akademische Fach, dessen zentraler Gegenstand die sprachlichen und kulturellen Lehr- und Lernprozesse in Bezug auf die Zielsprache Deutsch sind. Wichtige Bezugswissenschaften des Fachs sind zum einen die Fremdsprachendidaktik und Sprachlehr- und -lernforschung, die sich mit dem Lehren und Lernen von Fremdsprachen in institutionellen Kontexten befasst, und zum anderen die (insbesondere germanistische) Sprach- und Literatur-/Kulturwissenschaft sowie Psycholinguistik, Lernpsychologie und (interkulturelle) Pädagogik. Das Fach ist noch relativ jung und mit Blick auf seine Ausstattung und Verbreitung als eher kleines Fach zu bezeichnen. Es hat sein Lehr- und Forschungsprofil seit seiner Begründung gegen Ende der 1970er Jahre an deutschen Universitäten im Rahmen kontinuierlicher Konstituierungsdiskussionen bis heute stetig weiterentwickelt und geschärft (vgl. Fandrych et al. 2010). Seine Wurzeln hat das Fach DaF in der Sprachvermittlungspraxis; Tätigkeiten in der Sprachvermittlung sind damit ein wichtiges Berufsfeld, auf das die vom Fach angebotenen Studiengänge vorbereiten. Stand im Fach zunächst die Auslandsperspektive im Vordergrund, wurde parallel zur Entwicklung Deutschlands zu einem Einwanderungsland der Bereich „Deutsch als Zweitsprache“ zunehmend wichtig – was die immer häufiger anzutreffende erweiterte Fachbezeichnung „Deutsch als Fremd- und Zweitsprache“ (DaF/DaZ) verdeutlicht. Die Erforschung der Spracherwerbsprozesse, der (nicht nur) sprachlichen Situation von Migrant(inn)en und ihrer Familien sowie Konzeption und Begleitung von Angeboten zur Sprachförderung – sowie deren sprachen- und bildungspolitischen Implikationen – sind wichtige Arbeitsschwerpunkte des Faches geworden (vgl. exemplarisch Ahrenholz & Oomen-Welke 2008).
3 Studiengänge DaF/DaZ Adressat(inn)en der vom Fach angebotenen fachwissenschaftlichen Bachelor- und Masterstudiengänge für DaF/DaZ sind deutsche Muttersprachler(innen) und Mehrsprachige, die ihre Muttersprache bzw. eine ihrer Sprachen als Fremd- oder Zweitsprache vermitteln möchten. Bachelor- und direkt darauf aufbauende Masterstudiengänge gibt es in DaF/DaZ nur an wenigen Hochschulstandorten. Häufiger sind Masterstudiengänge, die für Studierende mit einem ersten Hochschulabschluss in Germanistik oder in anderen Philologien, seltener in ganz anderen Fächern, angeboten werden. In den letzten Jahren wurden zunehmend spezifisch auf DaZ ausgerichtete Studiengänge eingerichtet (vgl. die durch den Fachverband Deutsch als Fremdsprache geführte Übersicht der Studiengänge in Deutschland und Europa unter http://www.fadaf.de/ hochschul-wiki/). Trotz aller Unterschiede, die es zwischen den vorhandenen DaF/DaZ-Studiengängen gibt, stehen folgende Kernkompetenzen, in unterschiedlicher Gewichtung, im Zentrum des Ausbildungsprofils (vgl. Krumm & Riemer 2010): (1) sprachwissenschaftliche Kompetenz inkl. der Befähigung, Formen und Funktionen der deutschen Sprache aus der Fremdperspektive analy-
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Sprachlehrkräfte für Deutsch als Zweitsprache
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sieren, beschreiben und erklären zu können; (2) Wissen über Prozesse des Sprachenlernens inkl. der Befähigung, sich langfristig selbstständig und kritisch mit Forschungsergebnissen auseinandersetzen zu können und diese bei der Planung, Durchführung und Evaluation von Unterricht anwenden zu können; (3) landeskundliche Kompetenz in Bezug auf deutschsprachige Länder inkl. der Fähigkeit, Stereotypisierungen und Muster zu reflektieren; (4) didaktisch-methodische Kompetenz; (5) Schlüsselkompetenzen wie interkulturelle Kompetenz und Medienkompetenz; (6) Kenntnisse über grundlegende sprachenpolitische, bildungs- und sozialpolitische Entwicklungen. Für die Ausbildung all dieser unterschiedlichen Kompetenzen gelten studienbegleitende Praktika im In- und Ausland, und dabei insbesondere Unterrichtspraktika, als unverzichtbares Studien element. Hinzu kommen sprachpraktische Studienanteile, z.B. die Forderung an Studierende, eine weitere Fremdsprache zu lernen, bevorzugt eine Migrantensprache. Aufgrund des bislang an den Schulen kaum vorhandenen Unterrichtsfachs DaZ existieren (bis auf verschwindend wenige Ausnahmen) keine Lehramtsstudiengänge DaZ. Dagegen gibt es mit steigender Tendenz in einigen Bundesländern (z.B. Berlin, NRW) zumindest kleine Studienanteile in DaZ, die Lehramtsstudierende absolvieren müssen (vgl. Baumann & Becker-Mrotzek 2014). Teilweise werden diese Studienmodule durch das Fach DaF/DaZ betreut oder als Bereich der Germanistik oder Erziehungswissenschaft verantwortet.
4 Tätigkeitsfelder im Bereich DaZ Fragen rund um Mehrsprachigkeit und den Erwerb von deutschen Sprachkenntnissen sowie deren institutionelle Unterstützung im Rahmen von Programmen zur Sprachförderung und sprachlichen Bildung sind Gegenstand bildungspolitischer und wissenschaftlicher Diskussionen geworden. Unbestritten ist die Notwendigkeit, für die Gruppe der Migrant(inn)en einschließlich ihrer Kinder entsprechende Angebote zu Spracherwerb und sprachlicher Bildung bereit zu stellen – was aber hinsichtlich Systematizität, Niederschwelligkeit, Passgenauigkeit, Durchgängigkeit und Nachhaltigkeit in vielerlei Hinsicht noch eine Entwicklungsaufgabe darstellt. Solchen Bildungsangeboten werden gern weitreichende Funktionen zugeschrieben, die von Schlagworten wie „Integration durch Sprache“, „Bildungs- und Chancengerechtigkeit“ bis zu „gesellschaftlicher Teilhabe“ reichen. Problematisch sind häufig mitschwingende, ausgeprägt defizitorientierte Sichtweisen in Hinblick auf die vorhandenen Deutschkompetenzen sowie die Beschränkung auf die Mehrheitssprache des Einwanderungslands, während Fragen der Anerkennung lebensweltlicher Mehrsprachigkeit durch Wertschätzung und Förderung der Familiensprachen oft randständig oder ganz ausgeblendet bleiben. Sprachangebote gibt es für unterschiedliche Zielgruppen: für erwachsende Migrant(inn)en und ihre Angehörigen, auch im Familiennachzug, für Asylbewerber(innen) und -berechtigte und ihre Kinder, für unbegleitet eingereiste Jugendliche, für Spätaussiedler(innen), für Fachkräfte (deren Zuwanderung gefördert wird) sowie EU-Bürger(innen). Sie reichen von Sprachförderung in der Kindertagesstätte bis zur „nachholenden“ Sprachförderung langjährig in deutschsprachigen Ländern Angesiedelter. Für entsprechende Angebote gelten unterschiedliche rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen. Das alle Zielgruppen verbindende Stichwort ist Heterogenität in Bezug auf sozialen Status, berufliche Qualifikation und Bildungskapital sowie (beabsichtigte bzw. unsichere) Aufenthaltsdauer. Die verschiedenen Bereiche erhalten je nach aktueller politischer und gesellschaftlicher Aufmerksamkeit besondere Unterstützung (oder auch nicht). Nach dem Pisa-Schock rückten Kinder und Jugendliche im Sekundarschulbereich ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Zudem setzt man stark auf den Elementarbereich, was sich in obligatorischen
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Claudia Riemer
vorschulischen Sprachstandsdiagnosen und Sprachförderung in Kindertagesstätten in unterschiedlichen Bundesländern spiegelt. Wenig Unterstützung erhält derzeit noch der Übergang von der Schule in den Beruf inkl. der Berufsschule. Solche Sprachprogramme benötigen Expert(inn)en, sowohl in der Konzeption und Organisation, als auch in der Durchführung, Evaluation und Weiterentwicklung. Absolvent(inn)en des Fachs DaF/DaZ, die keine Berufsperspektive im Ausland (z.B. beim Goethe-Institut) anstreben, finden v.a. hier ihre Tätigkeitsfelder, beispielsweise als Lehrkräfte von Sprachkursen sowie im breiten Feld häufig projektförmiger Angebote schulvorbereitender, -begleitender und schulnaher Fördermaßnahmen. Es existiert hierfür keine feste, geschweige denn geschützte Berufsbezeichnung – „DaZ-Lehrkraft“, „Sprachlehrkraft“, „Sprachförderkraft“ sind häufig anzutreffende Bezeichnungen. Ein klar konturiertes Berufsbild der „DaZ-Lehrkraft“ mit weithin akzeptierten und vorausgesetzten Qualifikationsmerkmalen existiert allenfalls in Ansätzen. Im Rahmen außerschulischer Angebote und in der Erwachsenenbildung gibt es nur an wenigen Stellen systematisch qualitätssichernde Qualifikationsanforderungen bei der Rekrutierung von Personal. Beispielsweise muss lediglich für den Unterricht in Integrationskursen (s.u.) ein Nachweis über eine akademische DaF/DaZ-Ausbildung erbracht werden; ersatzweise muss zumindest eine Zusatzqualifikation vorhanden sein. Eine besondere Problematik stellt die unzureichende strukturelle und finanzielle Ausstattung der Sprachangebote dar. Tätigkeiten im Berufsfeld DaZ sind sehr häufig im Rahmen prekärer und ungesicherter Arbeitsverhältnisse angesiedelt. Die Formate der Sprachförderung und sprachlichen Bildung unterliegen teilweise genauen gesetzlichen Vorschriften und kommunalen Regelungen, teilweise liegen sie aber auch völlig im Bereich von Selbstorganisation bis hin zu ehrenamtlichem Engagement – ein Spiegelbild der erkannten Bedarfslage und der gleichzeitig völlig unzureichenden gesamtgesellschaftlichen und politischen Investitionen. Hier sei besonders auf die mit Abschluss des Zuwanderungsgesetzes eingerichteten sogenannten „Integrationskurse“ für Migrant(inn)en verwiesen, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) koordiniert werden. Dieses Feld stellt derzeit eines der größten Tätigkeitsfelder für DaF/DaZ-Absolvent(inn)en dar: Seit 2005 wurden 97.408 Integrationskurse begonnen, allein 2015 waren es 11.739 Kurse (vgl. BAMF 2016). Die Integrationskurse umfassen ein Volumen von insgesamt 660 Stunden, davon 600 Stunden (Anfänger-) Sprachkurs, der zum Niveau B1 – Fortgeschrittene Sprachverwendung – des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER) führen soll, sowie 60 Stunden „Orientierungskurs“; letzterer vermittelt Themen der deutschen Rechtsordnung, Geschichte, Kultur sowie Werte. Beide Kursteile schließen mit einem Test ab, eine Bestehensbedingung für die Einbürgerung. Es gibt Sonderformen des Integrationskurses für die Zielgruppen Frauen, Eltern, junge Erwachsene; daneben auch Integrationskurse mit Alphabetisierung und auch „Förderkurse“, die für Migrant(inn)en angeboten werden, die schon längere Zeit in Deutschland leben. Teilnahme und Kosten sind – je nach Aufenthaltsstatus – gesetzlich geregelt, die Teilnahme kann auch durch die Behörden auferlegt werden, z.B. wenn Arbeitslosengeld II bezogen wird. Asylbewerber(innen) waren bis Oktober 2015 in der Regel von der Teilnahme an Integrationskursen ausgeschlossen. Erst in Folge der seit Sommer 2015 starken Zuwanderung von Geflüchteten und damit verbundenen allgemeingesellschaftlichen und politischen Diskussionen wird Asylbewerbern und Geduldeten mit „guter Bleibeperspektive“ im Rahmen vorhandener Kursplätze der Zugang zu Integrationskursen gestattet.
Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen
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Absolvent/innen der DaF/DaZ-Studiengänge erhalten keinen Zugang zum Regelsystem der Schule. Der Einsatz von DaZ-Sprachlehrkräften in diesem Handlungsfeld wird seit langer Zeit durch das Fach gefordert und entspricht auch dem Bedarf der Schulen, die angesichts wachsender Zahlen von Seiteneinsteigern in der Sekundarstufe, aber auch grundständigem Förderbedarf am Übergang Kita-Schule und schulbegleitend lokale und unsystematische Strukturen der Sprachförderung und Sprachbegleitung schaffen. Parallel wächst die Einsicht, dass systematisch verschränkte sprachliche und fachliche Förderung zur Regelaufgabe des schulischen Fachunterrichts in allen Schulformen wird. Der systematische Einbezug spezifisch qualifizierter Sprachvermittlungsexpert(inn)en im Regelsystem Schule stellt aber – insbesondere mit Blick auf die Forderung nach einer inklusiven Schule, die sämtliche Heterogenitätsdimensionen ernst nimmt – noch eine Entwicklungsaufgabe dar. Literatur
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5 DaZ-Lehrkräfte an Schulen
Ahrenholz, Bernt & Oomen-Welke, Ingeborg (Hrsg.) (2008): Deutsch als Zweitsprache. Baltmannsweiler: Schneider. – BAMF (2016): Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Schlüsselzahlen Integrationskurse. Online verfügbar unter: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Flyer/flyer-schluesselzahlen-integrationskurse.html [13.09.2016]. – Baumann, Barbara & Becker-Mrotzek, Michael (2014): Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache an deutschen Schulen. Was leistet die Lehrerausbildung? Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache. Online verfügbar unter: http://www.mercator-institut-sprachfoerderung.de/themen/sprachfoerderung-und-deutsch-als-zweitsprache-in-der-lehrerbildung/studie-was-leistet-die-lehrerbildung/ [15.02.2015]. – Fandrych, Christian; Hufeisen, Britta; Krumm, Hans-Jürgen & Riemer, Claudia (2010): Perspektiven und Schwerpunkte des Faches Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. In: Hans-Jürgen Krumm, Christian Fandrych, Britta Hufeisen & Claudia Riemer (Hrsg.): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch, Bd. 1. Berlin: de Gruyter, S. 1-18. – Krumm, Hans-Jürgen & Riemer, Claudia (2010): Ausbildung von Lehrkräften für Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache. In: Hans-Jürgen Krumm, Christian Fandrych, Britta Hufeisen & Claudia Riemer (Hrsg.): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch, Bd. 2 Berlin: de Gruyter, S. 1340-1351.
108 Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen Hanna Rettig und Wolfgang Schröer
Die Berufsgruppe der Sozialpädagog/innen hat sich in der heute bekannten Form und Ausbreitung vor allem im 20. Jahrhundert entwickelt. Es wird darum mitunter vom „sozialpädagogischen Jahrhundert“ (Thiersch 1992) gesprochen. Mit dem Ausbau und der Ausdifferenzierung sozialstaatlicher Leistungen wurde die Sozialpädagogik zum „lebendigen Inventar“ (Böhnisch et al. 1999) des Sozialstaats. Dennoch haben Sozialpädagog/innen im 20. Jahrhundert in Deutschland nur langsam die interkulturellen Lebenswirklichkeiten systematisch reflektiert. Auch in
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Hanna Rettig und Wolfgang Schröer
den Ausbildungs- und Studiengängen für die sozialen Berufe wurden „Migration“ und „interkulturelle Kompetenzen“ erst in den 1980er Jahren grundsätzlich zum Lehr- sowie Studieninhalt gemacht. Zudem repräsentiert das Personal in den Sozialen Diensten bis heute kaum die interkulturellen Lebenswirklichkeiten und Migrationsgeschichten in der Bevölkerung. So kann in der professionstheoretischen, der organisationalen und berufspolitischen Entwicklung in Deutschland noch nicht davon ausgegangen werden, dass eine interkulturelle Öffnung bereits umfassend vollzogen wurde: Ob dies nachhaltig gelingt, wird sich in den kommenden Jahren zeigen.
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1 Arbeitsansätze Im Kern der professionstheoretischen Reflexionen der Sozialpädagogik in Deutschland stand im 20. Jahrhundert vor allem die Arbeit mit sogenannten „Fällen“ sowie hier die Auseinandersetzung mit „klassischen“ Professionsmodellen, wie sie dem Arzt- oder Therapeutenberuf zugrunde liegen. Dabei wird der Prozess des Fallverstehens (Kasuistik) in der Regel dreidimensional beschrieben: als Spannungsfeld zwischen der äußeren sozialen Erscheinungsform des „Falls“ (1), dem inneren Erleben der Adressat/innen (2) und der Entwicklung einer Hilfebeziehung (3) zwischen Sozialarbeiter/innen und Adressat/innen (vgl. Hörster 2001). Interkulturelle Dynamiken und Lebenslagen von Migrant/innen wurden in diesen Modellen nur selten reflektiert. Ansätze, die stärker von interkulturellen Dynamiken im Alltag der Menschen ausgingen, wurden entweder nur randständig aufgenommen oder erst spät systematisch mit dem „Fallverstehen“ verknüpft. Diese z.B. in der Gemeinwesenarbeit, der sozialen Gruppenarbeit oder der sozialen Unterstützungsforschung entwickelten Perspektiven führten im angelsächsischen Kontext, aber nicht nur dort, schon wesentlich früher zu einer Auseinandersetzung mit interkulturellen Lebenswirklichkeiten und zu Ansätzen des „Lobbying“, der „Advocatory Social Work“ sowie „Community Social Work“. Soweit diese Ansätze bis in die 1980er Jahre hinein in den Rahmen der Sozialpädagogik in Deutschland übertragen wurden, wurden sie aber ebenfalls in den Rahmen einer nationalkulturellen „Homogenitätsfiktion“ (Hamburger 1999) übersetzt. Es kann darum in der Sozialpädagogik in Bezug auf die professionelle Entwicklung von einer interkulturellen Blindheit bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein ausgegangen werden. Seither bearbeiten Ansätze wie interkulturelle Soziale Arbeit, diversitätsbewusste Soziale Arbeit oder antirassistische Soziale Arbeit dieses Defizit. Sie verorten die professionellen Herausforderungen in den interkulturellen sozialen Alltagsbeziehungen und -verhältnissen. Dabei wird immer wieder darauf verwiesen, dass die Rede von Inter- also Zwischenkulturalität (Gemende 2002) dazu führen könnte, „Kultur“ erstens als relativ homogenes und abgrenzbares Konstrukt zu entwerfen, das zweitens auf Ethnizität und Nationalität in eben dieser Orientierung basiere. Kultur werde dabei mitunter in einem Verhältnis von (nationaler) Mehrheits- zu ethnisierter Minderheitsgesellschaft verortet und damit zu einer machtvollen Fremdheitszuschreibung. Von solcher Art Zuschreibung seien die Sozialpädagog/innen, die sich überwiegend als Vertreterinnen einer Mehrheitsgesellschaft herstellen, in ihrer Arbeit mit ihren Adressat/innen nicht frei (vgl. Hamburger 2009). Eine interkulturelle Soziale Arbeit erfordere darum einen reflexiven Kulturbegriff, der Verhältnisse zwischen unterschiedlichen Lebensformen und weitere Differenzkategorien wie Geschlecht, Alter, Religion, Sexualität, sozioökonomische Faktoren etc. aufnimmt (vgl. Schröer 2011). Dies ermögliche kategoriale Zuschreibungen von Kultur in ihren situativen Verflechtungen wahrzunehmen (vgl. Lutz & Wenning 2001).
Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen
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2 Sozialpädagog/innen als Übersetzer/innen Daran anknüpfend wird gegenwärtig diskutiert, dass Sozialpädagog/innen heute mit unterschiedlichen Formen von interkultureller Grenzarbeit konfrontiert seien. Der Begriff „Grenzarbeit“ wurde in der Wissenschaftssoziologie geprägt und bezieht sich dabei nicht nur auf Identitäts- und Distinktionsgewinne durch Abgrenzung, sondern generell auf grenzbezogene und grenzüberschreitende soziale Kommunikationen. Durch „Grenzarbeit“ würden dabei nicht nur territoriale Grenzen überschritten, sondern unterschiedliche soziale, rechtliche und biographische Zusammenhänge, die durch nationalstaatliche Grenzziehungen bedingt seien, bearbeitet und miteinander „verflochten“. Der Begriff mache ebenso auf die Analyse struktureller Gegebenheiten (Grenzen) wie auch auf die Handlungsmöglichkeiten der jeweiligen Akteure (Arbeit) aufmerksam (vgl. Mangold 2013). In sozialpädagogischen Handlungsvollzügen werden demnach alltäglich Grenzverflechtungen hergestellt (vgl. Pries 2002). Dem entsprechend sind Sozialpädagog/innen in verschiedene interkulturelle Handlungskontexte und Referenzsysteme eingebunden. Sie müssen Inkompatibilitäten zwischen sozialen, politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und rechtlichen Systemen moderieren und ausgleichen (vgl. Mau 2007, S. 61). Diese interkulturelle Grenzarbeit lässt sich ebenfalls über Formen professionsbezogener Wissensproduktion reflektieren. Wissen wird dabei modifiziert, übersetzt oder neu generiert (vgl. Köngeter 2012; Duscha 2012). Interkulturelle Grenzarbeit ist dabei auch Arbeit an Grenzen als strukturellen Gegebenheiten, die die Sozialpädagog/innen selbst mit herstellen. Diese Grenzen zu bearbeiten – im Bewusstsein der Wirksamkeit hergestellter Grenzen Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln – kann als „Übersetzung“ gefasst werden. Der Ansatz der „Übersetzung“ ist im Kontext der sog. „transnational studies“ entstanden und verweist darauf, dass Soziale Arbeit in den jeweiligen Kontexten mithandelt, diese mitherstellt und Grenzbearbeitung leistet (vgl. Schröer & Schweppe 2013; Köngeter 2014; Rettig & Schröer 2015). Interkulturelle Grenzbearbeitung als „Übersetzung“ würde davon ausgehen, dass der Ausgangspunkt das „,inter‘ – das Entscheidende am Übersetzen und Verhandeln, am Raum da-zwischen – ist“ (Bhabha 2000, S. 58; Hervorh. i. O.). Sozialpädagog/innen als Übersetzer/innen können inter weniger als Abgrenzung und mehr als ein zwischen begreifen, in welchem sich nicht Kulturen vermischen, sondern in dem Kultur erst hervorgebracht wird.
3 Aktuelle Herausforderungen Zudem sind die Sozialpädagog/innen gegenwärtig mit neuen Herausforderungen in der professionellen Ordnung von sozialen Dienstleistungen konfrontiert. Soziale Arbeit wird nicht nur in etablierten berufsständischen Formen geleistet. Sozialpädagog/innen sind z.B. in der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen geradezu gezwungen, politisch aktiv zu werden, und dies häufig mit sehr begrenzten Ressourcen im Kontext von bürgerschaftlichem Engagement oder unter prekären Arbeitsbedingungen. Weiterhin finden sich Sozialpädagog/innen ebenfalls in einem neuen „welfare mix“ wieder (Krawietz & Schröer 2011). Im Kontext der so genannten „neuen Dienstmädchenfrage“ wird z.B. von einem veränderten Versorgungs-, Betreuungs-, Erziehungs- und Pflegebedarf privater Haushalte vor allem in reichen Ländern infolge familiärer Strukturveränderungen, steigender Frauenerwerbsarbeit, des wachsenden Bedarfs der Altenbetreuung und Altenpflege sowie der fortschreitenden Privatisierung im öffentlichen Betreuungs-, Versorgungs- und Pflegesystem ausgegangen (vgl. z.B. Geissler 2002). Es entstehen neue Formen von „ethnic care“ und es kommt dem Rückgriff auf soziale
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Hanna Rettig und Wolfgang Schröer
Haushaltsarbeiterinnen vor allem aus unterschiedlichen europäischen Ländern eine bedeutende Rolle zu, weil sie, im Gegensatz zu einheimischen Arbeitskräften, die diesbezüglich eingerichteten, schlecht bezahlten, ungesicherten und prekären Arbeitsverhältnisse akzeptieren müssen. Die internationale Forschung zum grenzüberschreitenden Care-Markt hat sich dabei in den vergangenen Jahren vor allem auf die Erbringung von Sorgetätigkeiten konzentriert. Mit dem Begriff „global care chains“ – „a series of personal links between people across the globe based on paid or unpaid work of caring“ (Hochschild 2000, S. 131) – macht die Forschung deutlich, dass das Phänomen der neuen Dienstmädchen nicht einen Einweg-Prozess von ärmeren in reichere Länder bedeutet, sondern damit die Verkettung von bezahlten und unbezahlten Sorgetätigkeiten zwischen den Ländern einhergeht. Es kann von einer europäischen „care circulation“ (Weltkommission für Migration 2005) gesprochen werden. Entsprechend steht die Sozialpädagogik einerseits vor der Herausforderung das „lebendige Inventar“ des Sozialstaats nachhaltig interkulturell zu öffnen und sich politisch zu engagieren sowie andererseits die professionelle Ordnung sozialer Dienstleistungen zu reflektieren. Diese Perspektiven weisen auch darauf hin, dass nicht nur die „klassischen“ Sozialen Dienste (Migrationssozialdienst etc.), sondern ebenso bspw. die Schulsozialarbeit (z.B. angesichts einer durchgängig heterogenen und mobilen Schülerschaft), die Pflege im Alter, die Familien- oder auch die Schuldnerberatungen gegenwärtig herausgefordert sind, sich den interkulturellen Lebenswirklichkeiten gegenüber zu öffnen. Negi und Furman (2010) haben z.B. die Diskussionen um „Transmigration in Nordamerika“ zum Anlass genommen, die „Transnational Social Work Practice“ (2010) als systematischen Zugang der Sozialen Arbeit zu etablieren. Sie entwickeln damit eine eigenständige Reflexionsperspektive für Soziale Dienste im Horizont praktischer Methodenentwicklung Sozialer Arbeit, was sie in der These zusammenfassen: „Every form of social work practice is, in reality, transnational practice“ (S. 186). Literatur
Bhabha, Homi (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg. – Böhnisch, Lothar; Arnold, Helmut & Schröer, Wolfgang (1999): Sozialpolitik. Eine Einführung. Weinheim: Juventa. – Duscha, Annemarie (2012): Die Konstruktion von Transnationalität im Wissen: ein zentrales Element in den Unterstützungsprozessen einer brasilianischen Migratinnenorganisation? In: Désirée Bender; Annemarie Duscha; Lena Huber & Kathrin KleinZimmer (Hg.): Transnationales Wissen und Soziale Arbeit. Weinheim: Beltz Juventa, S. 206-226. – Geissler, Birgit (2002): Die Dienstmädchenlücke im Haushalt. Der neue Bedarf nach Dienstleistungen und die Handlungslogik der privaten Arbeit. In: Claudia Gather; Birgit Geissler & Maria S. Rerrich (Hg.): Weltmarkt Privathaushalt. Bezahlte Hausarbeit im globalen Wandel. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 30-49. – Gemende, Marion (2002): Interkulturelle Zwischenwelten. Bewältigungsmuster des Migrationsprozesses bei MigrantInnen in den neuen Bundesländern. Weinheim: Juventa. – Hamburger, Franz (1999): Modernisierung, Migration und Ethnisierung. In: Marion Gemende; Wolfgang Schröer & Stephan Sting (Hg.): Zwischen den Kulturen. Pädagogische und sozialpädagogische Zugänge zur Interkulturalität. Weinheim: Juventa, S. 37-53. – Hamburger, Franz (2009): Abschied von der interkulturellen Pädagogik. Weinheim: Juventa. – Hochschild, Arlie Russel (2000): Global Care Chains and Emotional Surplus. In: Will Huton & Anthony Giddens (Hg.): On the Edge: Living with Global Capitalism. London: Jonathan Cape, S. 130-146. – Hörster, Reinhard (2001): Kasuistik/Fallverstehen. In: Hans-Uwe Otto & Hans Thiersch (Hg.): Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik. Neuwied: Reinhardt. – Köngeter, Stefan (2012): Paradoxes of transnational production of knowledge in social work. In: Adrienne Chambon; Wolfgang Schröer & Cornelia Schweppe (Hg.): Transnational Social Support. New York: Routledge, S. 187-210. – Köngeter, Stefan (2014): Die transnationale Produktion sozialpädagogischen Wissens. Habilitationsschrift Universität Hildesheim. – Krawietz, Johanna; Schröer, Wolfgang (2011): Transnationale Sorge im lokalen Dienstleistungsmix – Neue Forschungsperspektiven Sozialer Arbeit. In: Christian Reutlinger; Nadia Baghdadi & Johannes Kniffki (Hg.): Die soziale Welt quer denken. Transnationalisierung und ihre Folgen für die Soziale Arbeit. Berlin: Frank & Timme, S. 207-220. – Lutz, Helma (2007): Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Die neuen Dienstmädchen im Zeitalter der Globalisierung. Leverkusen Opladen: Budrich. – Lutz, Helma & Wenning, Norbert (2001): Differenzen über Differenz – Einführung in die Debatten. In: Helma Lutz & Norbert Wenning (Hg.): Unterschiedlich verschieden.
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Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske und Budrich, S. 11-24. – Mangold, Katharina (2013): Inbetweenness: Jugend und Transnationale Erfahrungen. Weinheim: Beltz Juventa. – Mau, Steffen (2007): Transnationale Vergesellschaftung. Die Entgrenzung sozialer Lebenswelten. Frankfurt a.M.: Campus. – Negi, Nalini Junko & Furman, Rich (2010): Transnational Social Work Practice. New York: Columbia University Press. – Pries, Ludger (2002): Transnationalisierung der sozialen Welt? In: Berliner Journal für Soziologie, Jg. 11 Heft 2, S. 263-272. – Rettig, Hanna & Schröer, Wolfgang (2015): Soziale Arbeit als Übersetzungsarbeit in multireligiösen Gesellschaften. In: Migration und Soziale Arbeit Heft 1, S. 54-59. – Schröer, Hubertus (2011): Interkulturalität - Schlüsselbegriffe der interkulturellen Arbeit. In: Thomas Kunz & Ria Puhl (Hg.): Arbeitsfeld Interkulturalität - Grundlagen, Methoden und Praxisansätze der Sozialen Arbeit in der Zuwanderungsgesellschaft. Weinheim: Juventa. – Schröer, Wolfgang & Schweppe, Cornelia (2013): Die Transnationalität Sozialer Dienstleistungen – Die Herstellung von Handlungsfähigkeit (Agency) als Grenzarbeit in transnationalen Alltagswelten. In: Gunther Graßhoff (Hg.): Adressaten, Nutzer, Agency. Wiesbaden: Springer, S. 244-253. – Thiersch, Hans (1992): Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel. Weinheim: Juventa. – Weltkommission für internationale Migration (2005): Migration in einer interdependenten Welt: Neue Handlungsprinzipien. New York. Online verfügbar unter: https://heimatkunde.boell.de/sites/default/files/downloads/migration/gcim-reportdeutsch-2005.pdf [19.04.2016].
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Erwachsenenbildnerinnen und Erwachsenenbildner
109 Erwachsenenbildnerinnen und Erwachsenenbildner Alisha Heinemann und Annette Sprung
Die professionellen Handlungskontexte pädagogischer Fachkräfte im Feld der Erwachsenenbildung sind äußerst vielfältig. Das gilt für die zu vermittelnden Inhalte und zu erreichenden Zielgruppen ebenso wie für das institutionelle Umfeld bzw. die Beschäftigungsformen. Sie sind unter anderem durch einen hohen Anteil an nebenberuflich Tätigen charakterisiert (vgl. Kraft 2010, S. 406ff). Dementsprechend breit ist das Spektrum an Qualifizierungspfaden für eine Tätigkeit in der Erwachsenenbildung. Der Zugang zur Erwachsenenbildung und somit Bestimmungen darüber, welche Bildungsabschlüsse als Voraussetzung erwartet werden, ist nicht allgemein geregelt. Eine Beschreibung des beruflichen Feldes kann daher im Folgenden lediglich in Annäherungen erfolgen.
1 Handlungsfelder und Herausforderungen an das Personal Tätigkeiten im Bereich der Erwachsenenbildung sind in vielerlei Hinsicht mit migrationsspezifischen Fragestellungen assoziiert. Erwachsenenbildner/innen sind im weitesten Sinn gefordert, mit heterogenen Lerngruppen umzugehen. Diese zunehmende Diversität muss selbstverständlich nicht notwendigerweise problematische Folgen haben und auch nicht zwingend mit speziellen Kompetenzen beantwortet werden, sondern es entstehen hier potenziell neue Aufgaben.
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Alisha Heinemann und Annette Sprung
Migrationsgesellschaftlich bedingte Herausforderungen ergeben sich beispielsweise in Bezug auf die sprachlich angemessene Gestaltung des Unterrichts oder auf eine bedarfsorientierte Programmplanung angesichts heterogener Gruppen von Adressat/inn/en. Sie bestehen ferner im Vermeiden diskriminierenden Handelns (als individuelle und institutionelle Aufgabe) oder im Umgang mit Rassismuserfahrungen bzw. mit Diskriminierungsprozessen innerhalb von Gruppen (vgl. Kalpaka 2009). Zum anderen sind durch Migration und Transnationalisierungsprozesse neue, spezifische Tätigkeitsfelder für Erwachsenenbildner/innen entstanden: • Dies sind erstens allgemeine und berufliche Bildungs- und Beratungsmaßnahmen, die sich exklusiv an Migrant/inn/en richten und deren Partizipation fördern sollen (z.B. Deutschkurse oder andere sogenannte Integrationsangebote). • Es handelt sich zweitens um allgemeine und politische Bildung, die alle Gesellschaftsmitglieder adressiert und sich im Sinne der Bewusstseinsbildung und der Bekämpfung von Rassismen als Beitrag zu einem gewaltfreien und demokratischen Umgang mit dem migrationsgesellschaftlichen Wandel versteht. • Drittens werden im Rahmen der beruflichen Aus- und Weiterbildung unterschiedlichste Berufsgruppen für Tätigkeiten im Zusammenhang mit Migration qualifiziert – die Bandbreite umfasst beispielsweise Personal in der Verwaltung, im Gesundheits- und Bildungswesen, uvm. • Viertens werden Arbeitskräfte auf Auslandsaufenthalte und internationale Kooperationen vorbereitet (etwa in Form innerbetrieblicher Weiterbildung). Derartige Programme, meist in internationalen Wirtschaftskontexten angesiedelt, firmieren oftmals unter dem Schlagwort der „interkulturellen Kommunikation“ bzw. der „interkulturellen Kompetenz“. Sie werden in vielen Fällen durch Fachkräfte aus den Bereichen Psychologie oder Kommunikationswissenschaft im Rahmen von Trainings oder Coachings begleitet. Entsprechend liegt aus den genannten Disziplinen auch einschlägige Fachliteratur vor (vgl. Straub et al. 2007).
2 Professionalisierung – Qualifizierung des Personals in der Erwachsenenbildung Professionelles Handeln im migrationsgesellschaftlichen Kontext basiert – neben allgemeinem Professions-Wissen des Berufsfeldes Erwachsenen- und Weiterbildung – auch auf spezifischen Wissensbeständen bzw. Einstellungen und Haltungen. Wenngleich „interkulturelle Kompetenz“ häufig als Schlüsselqualifikation für pädagogische Berufe bezeichnet wird, verweisen wir dezidiert auf die kritische Debatte über interkulturelle Kompetenz bzw. einen teilweise verbreiteten Gebrauch dieses Begriffes (vgl. Mecheril et al. 2010). Demnach basiert kompetentes pädagogisches Handeln im Migrationskontext nicht auf eindimensionalen kulturkundlichen Wissensbeständen oder einem vereinnahmenden Anspruch des „Verstehens der Anderen“ (vgl. Broden 2009). Es beinhaltet vielmehr die Fähigkeit, Differenz anzuerkennen und zugleich die Prozesse der Differenzproduktion kritisch zu reflektieren. In Bezug auf spezifische thematische Felder sei hier die Relevanz von Wissen über Lebensbedingungen von Migrant/inn/en, über Diskriminierungsverhältnisse, über strukturelle/institutionelle Anerkennungsfaktoren und symbolische Ordnungen in Migrationsgesellschaften genannt (vgl. Sprung 2011; Heinemann 2014). Das für die oben angeführten Tätigkeitsbereiche erforderliche Wissen bzw. die Kompetenzen und Reflexionen werden sowohl in diversen Ausbildungsgängen als auch im Zuge der beruflichen Weiterbildung sowie in informellen Kontexten erworben. Für das umfangreiche Handlungsfeld des Sprachenlernens von Migrant/inn/en sei zunächst auf die spezifische Ausbildung
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von Trainer/inne/n für Deutschkurse (DaF/DaZ) hingewiesen. Wir betrachten in weiterer Folge allgemeinere Qualifizierungsmöglichkeiten für Erwachsenenbildner/innen.
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2.1 Ausbildung Geht man von den realen demographischen Veränderungen sowie dem Wandel der Arbeitswelt aus, liegt nahe, dass Kompetenz im Umgang mit migrationsbezogenen bzw. interkulturellen Aufgaben heute potenziell in allen Bereichen der Erwachsenenbildung gefordert ist. Somit müssten entsprechende Inhalte auch durchgängig in einschlägigen Ausbildungs- und Studiengängen verankert sein. Inwieweit dies bereits der Fall ist, kann mangels empirischer Daten und angesichts der Vielfalt der Ausbildungswege allerdings nicht eindeutig beurteilt werden. Unseren Recherchen zufolge ist jedoch anzunehmen, dass einschlägige Themen derzeit in unterschiedlichem Umfang Bestandteil von Qualifizierungsprogrammen für Erwachsenenbildner/ innen sind, aber noch nicht selbstverständlich als verpflichtendes Element in Curricula angesehen werden (vgl. Kukovetz et al. 2014). Abgesehen von Lehrgängen für die Erwachsenenbildung sind spezifischere Ausbildungen für den interkulturellen Bereich, wie etwa Studiengänge mit einem Schwerpunkt auf interkultureller Pädagogik, potenziell ebenso Qualifizierungspfade, die in die Erwachsenenbildung münden. Nicht immer weisen diese Lehrangebote aber auch einen ausgeprägten Erwachsenenbildungs-Schwerpunkt auf. 2.2 Weiterbildung Für die Weiterbildung des pädagogischen Personals ist das Angebotsspektrum zur Vermittlung interkultureller Kompetenz in den vergangenen Jahren stark expandiert. Die Programme reichen von Workshops (z.B. zweitägige Fortbildungen in den Jobcentern und Arbeitsagenturen Hamburgs des Projekts „migration works“ aus dem Netzwerk Integration durch Qualifizierung) über Lehrgänge mit mehreren Modulen (z.B. Weiterbildung zum pädagogischen Handeln in der Einwanderungsgesellschaft an der Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg) bis hin zu universitären Studiengängen. Hierfür sei als Beispiel der Bachelorstudiengang „Interkulturelle Bildung und Beratung“ an der Universität Oldenburg genannt, dessen Zielgruppe explizit Fachkräfte mit einer Migrationsbiografie sind. In jüngster Zeit ist ein Trend zu beobachten, wonach interkulturelle bzw. migrationsbezogene Inhalte verstärkt mit Gender-Aspekten gekoppelt bzw. unter der allgemeineren Kategorie von „Diversity“ subsumiert werden. In einzelnen Arbeitsfeldern sind Erwachsenenbildner/innen sogar verpflichtet, in regelmäßigen Abständen Gender- und Diversitätstrainings zu absolvieren, wie z.B. Trainer/innen in staatlich finanzierten Schulungsmaßnahmen für Erwerbslose. Der Umfang dieser Trainings ist festgelegt (16 Unterrichtseinheiten), nicht aber deren Inhalte oder Qualität. 2.3 Informelles Lernen Nicht zuletzt erwerben Erwachsenenbildner/innen auf vielfältigen informellen Lernwegen Kompetenzen für die interkulturellen bzw. migrationsgesellschaftlichen Aufgaben. Unter anderem sei hier auf biografische Wissensbestände verwiesen, wie sie Migrant/inn/en und deren Nachkommen – potenziell – aufgrund ihrer Erfahrungen entwickeln und konstruktiv in die erwachsenenpädagogische Arbeit einbringen. Es handelt sich dabei beispielsweise um Mehrsprachigkeit, das Wissen über die Lebenslagen und Bildungsbiografien der Teilnehmer/innen
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etc. Ohne behaupten zu wollen, dass eine Migrationsbiografie automatisch zu einer professionellen Tätigkeit in der Erwachsenenbildung befähigt, soll umgekehrt aber auch anerkannt werden, dass damit zumindest potenzielle Ressourcen vorliegen, die entsprechend anerkannt und entwickelt werden können. Unter anderem erfolgt eine konkrete Umsetzung dieser Idee in Selbstorganisationen von Migrant/inn/en. Sie fungieren u.a. als Träger der Erwachsenenbildung und beschäftigen beispielsweise Fachkräfte, die sowohl über Migrationserfahrung als auch über einschlägige pädagogische Qualifikationen verfügen. Es muss jedoch betont werden, dass diese Organisationen häufig unter prekären Bedingungen arbeiten und stetig um Anerkennung zu kämpfen haben.
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3 Diversität des Personals in der Erwachsenenbildung Abschließend soll gefragt werden, inwieweit das Personal in der Erwachsenenbildung selbst die gesellschaftliche Diversität – hier bezogen auf die Thematik Migration – widerspiegelt (vgl. dazu auch Georgi et al. 2011). Diese Frage erscheint zunächst auf Basis repräsentations- und gerechtigkeitstheoretischer Überlegungen relevant. Sie beschäftigt Bildungsinstitutionen aber ebenso in Hinblick auf die Erschließung neuer Marktsegmente – etwa zur Entwicklung spezieller Angebotsschwerpunkte oder zum Erreichen neuer Zielgruppen, wenn dafür eine diverse Belegschaft als Vorteil gesehen wird. Allerdings liegen bislang keine umfassenden Daten über die hier interessierenden Merkmale von Fachkräften in der Erwachsenenbildung vor. Ergebnisse einer Studie, in der die Repräsentation von Personal mit Migrationsbiografien in österreichischen Weiterbildungsinstitutionen analysiert wurde, deuten auf Barrieren im Zugang zum Berufsfeld hin (vgl. Kukovetz et al. 2014). So zeigen sich unter anderem Unterschiede je nach Handlungsfeld oder Institution. Barrieren im Zugang zum Berufsfeld wurden etwa in Form rassistischer Ausgrenzung, mangelnden Sozialkapitals, institutioneller Diskriminierung (u.a. bei der Anerkennung von Bildungsabschlüssen) und anhand weiterer Faktoren identifiziert (vgl. ebd.). Zum Abbau der genannten Barrieren für Erwachsenenbildner/innen mit Migrationsgeschichte wäre eine Vielzahl an institutionellen Strategien notwendig (vgl. Gomolla 2013; Hessische Blätter für Volksbildung 2013). Entsprechende Modelle sind in der Praxis allerdings noch wenig entwickelt. Literatur
Basis & Woge e.V./ migration.works: Online verfügbar unter http://www.basisundwoge.de/angebote/antidiskriminierung/migrationworks-diskriminierung-erkennen-und-handeln/ [10.09.2014]. – Georgi, Viola; Ackermann, Lisanne & Karakaş Nurten (2011): Vielfalt im Lehrerzimmer. Selbstverständnis und schulische Integration von Lehrenden mit Migrationshintergrund in Deutschland. Münster: Waxmann. – Gomolla, Mechtild (2013): Interventionen gegen Diskriminierung und Ungleichheit als Aufgabe pädagogischer Organisationen: Konzeptionelle Überlegungen und Praxisbeispiele. In: Michael Göhlich; Susanne Weber; Halit Öztürk & Nicholas Engel (Hg.): Organisation und kulturelle Differenz. Diversity, Interkulturelle Öffnung, Internationalisierung. Wiesbaden: Springer VS, S. 25-36. – Hessische Blätter für Volksbildung (2013): Perspektiven der interkulturellen Öffnung, Ausgabe 1/2013. Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag. – Heinemann, Alisha M.B. (2014): Teilnahme an Weiterbildung in der Migrationsgesellschaft. Perspektiven deutscher Frauen mit „Migrationshintergrund“. Bielefeld: transcript. – Kalpaka, Annita (2009): Institutionelle Diskriminierung im Blick - Von der Notwendigkeit Ausblendungen und Verstrickungen in rassismuskritischer Bildungsarbeit zu thematisieren. In Wiebke Scharathow & Rudolf Leiprecht (Hg.): Rassismuskritische Bildungsarbeit Schwalbach: Wochenschauverlag, S. 25-40. – Kraft, Susanne (2010): Berufsfeld Weiterbildung. In: Rudolf Tippelt & Aiga Hippel (Hg.): Handbuch Erwachsenenbildung/ Weiterbildung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 405-426. – Kukovetz, Brigitte; Sadjed, Ariane & Sprung, Annette (2014): (K)ein Hindernis? Fachkräfte mit Migrationsgeschichte in der Erwachsenenbildung. Wien: Löcker. – Mecheril, Paul; Kalpaka, Annita; Castro Varela, Maria do Mar; Dirim, İnci & Melter, Claus (Hg.) (2010): Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz (Bachelor/Master). – Sprung, Annette (2011): Zwischen Diskrimi-
Erzieherinnen und Erzieher
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110 Erzieherinnen und Erzieher Anke König Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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nierung und Anerkennung. Weiterbildung in der Migrationsgesellschaft. Münster: Waxmann. – Straub, Jürgen; Weidemann, Arne & Weidemann, Doris (Hg.) (2007): Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Stuttgart: J. B. Metzler. – Zentrum für Praxisentwicklung an der HAW Hamburg. Online verfügbar unter http://www.zepra-hamburg.de/bildungsangebot/paedagogisches-handeln-in-der-einwanderungs-gesellschaft/allgemein/ [22.06.2016].
Das Qualifikationsprofil von Erzieherinnen und Erziehern gilt als zentrales Berufsprofil in der Kinder- und Jugendhilfe, wo es sich überwiegend im Arbeitsfeld Kindertagesbetreuung durchgesetzt hat. Im Verlauf der Post-PISA-Debatten formulierten Wissenschaft und Politik erhöhte Ansprüche an diesen Bildungssektor und förderten dadurch im letzten Jahrzehnt den Prozess einer Teilakademisierung (Pasternack 2015). Diese Entwicklung belebt die Professionalisierungsdiskussion (König 2015).
1 Daten und Fakten Erzieherinnen und Erzieher werden für das gesamte Feld der Kinder- und Jugendhilfe ausgebildet. Der Kinder- und Jugendhilfestatistik von 2010 zufolge ergibt sich folgende Verteilung: 83% der Erzieherinnen und Erzieher sind in Kindertageseinrichtungen tätig, 8% im Sektor der Frühen Hilfen zur Erziehung, 5% als Leitungen in Kitas und Verwaltung, 2% in der Jugendarbeit und weitere 2% sind in der Sonderpädagogik oder mit „sonstigen Tätigkeiten“ beschäftigt (Rauschenbach & Schilling 2013, S. 106). Eine weitere Möglichkeit, in den Arbeitsmarkt einzumünden, bietet der schulische Ganztag. Mit über 20% bilden Erzieherinnen und Erzieher hier die größte Teilgruppe des pädagogischen Personals (Höhmann et al. 2008). Dennoch sind die weiteren Berufsfelder im Vergleich zu dem der Kindertagesbetreuung relativ überschaubar. In Letzterem ist allein bei den Fachkräften mit einschlägigem Fachschulabschluss zwischen den Jahren 1998 bis 2014 ein Plus von 58% zu verzeichnen (Autorengruppe Fachkräftebarometer 2014). Auch die Ausbildungskapazitäten sind in dieser Berufsgruppe zwischen den Schuljahren 2007/2008 und 2012/2013 um 60% gestiegen. Diese Expansionsbewegung im Feld der Kindertagesbetreuung, vorangetrieben durch die Rechtsansprüche auf einen Kindergarten- bzw. Krippenplatz im Jahr 1996 bzw. 2013, hat die Akteurinnen und Akteure in den letzten Jahren vor enorme Herausforderungen gestellt. Das Arbeitsfeld hat sich inzwischen zum zentralen Sektor der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt, denn heute zählt der Besuch einer Kindertageseinrichtung zur Normalbiographie eines Kindes in Deutschland.
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Anke König
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2 Ausbildungskonzeption Die Ausbildung ist auf Fachschulniveau im tertiären Bereich des Bildungssystems verortet und zählt damit zur beruflichen Weiterbildung (KMK 2002). Die Ausbildung unterliegt nicht dem Berufsbildungsgesetz (BBiG) und der Handwerksordnung (HwO), sondern untersteht der Länderhoheit und orientiert sich an Beschlüssen der Kultusministerkonferenz (KMK), was die Entwicklung eines einheitlichen Berufsprofils erschwert. Eine weitere Besonderheit der Ausbildung liegt darin, dass sie zu großen Teilen in der Regie nicht staatlicher Träger angeboten wird. Historisch geht das Qualifikationsprofil auf die Ausbildung zur Kindergärtnerin, einer der ersten Frauenberufe in Deutschland, zurück und ist eng mit der Emanzipationsbewegung der bürgerlichen Frauen im 19. Jahrhundert verbunden. Die Geschlechtersegregation zeigt sich in diesem Arbeitsfeld bis heute: Im Bereich der Kindertagesbetreuung lag der Männeranteil 2014 bei knapp 5% (Autorengruppe Fachkräftebarometer 2014). Die staatliche Anerkennung wird seit 1911 für diese Berufsgruppe vergeben. Die Ausbildung zur Erzieherin und zum Erzieher zählt seither zu den „reglementierten“ Ausbildungsberufen (staatliche Anerkennung ohne Studium), was die besonders hohe gesellschaftliche Bedeutung des Berufes verdeutlicht. Seit der Ausbildungsreform in den 1960er und 1970er Jahren (KMK 1967) ist dieser Beruf als sogenannte Breitbandausbildung organisiert. Um den Absolventinnen und Absolventen den Zugang zu unterschiedlichen Arbeitsfeldern in der Kinder- und Jugendhilfe zu eröffnen und damit ihre Berufsperspektiven zu weiten (Rauschenbach et al. 1995), wurden die Ausbildungen zur pädagogischen Fachkraft in Kindergarten/Hort und im Heim zusammengelegt. Bereits Mitte der 1990er Jahre stellte sich jedoch die Frage, ob diese Ansprüche an das Ausbildungsprofil tatsächlich erfüllt werden. Auch nach den aktuellen Reformen der Ausbildung und den erhöhten Erwartungen, die an die Frühe Bildung heute herangetragen werden, bleibt die Ausbildung am Achten Sozialgesetzbuch (SGB VIII) ausgerichtet, das Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsaufgaben für Kinder und junge Erwachsene von der Geburt bis zum 27. Lebensjahr fokussiert. Leitend für die aktuelle Ausrichtung der Ausbildung an Fachschulen ist die Empfehlung der Kultusministerkonferenz (KMK) aus dem Jahr 2002. In der „Rahmenvereinbarung über Fachschulen“ (KMK 2002) wurde ein Minimum von 2400 Stunden Unterricht und 1200 Stunden Berufspraxis festgelegt und der Fächerunterricht in Lernbereichen formuliert. Diese Empfehlung hat die Einführung der sogenannten Lernfelddidaktik an den Fachschulen für Sozialpädagogik befördert. Trotz dieser länderübergreifenden Empfehlungen wird bis heute die Heterogenität der Ausbildungskonzeptionen zur Erzieherin und zum Erzieher bemängelt (Janssen 2011). Neue Schubkraft könnte durch das „Kompetenzorientierte Qualifikationsprofil“ (KMK 2011) entstehen, welches auf den „Gemeinsamen Orientierungsrahmen Bildung und Erziehung in der Kindheit“ (KMK-JFMK 2010) zurückgeht. Hier wurde die „Professionelle Haltung“ als zentrale Dimension frühpädagogischer Ausbildungen herausgearbeitet. Diese Dimension steht in engem Bezug zu den persönlichkeitsorientierten Didaktiken in der Sozialpädagogik. Des Weiteren werden als wesentliche sogenannte Querschnittsaufgaben für die sozialpädagogische Ausbildung Partizipation, Inklusion, Prävention, Sprachliche Bildung und Wertevermittlung genannt (KMK 2011). Die Querschnittsaufgabe Inklusion wird auch in Verbindung mit kulturellen, sprachlichen und ethnischen Hintergründen gesetzt. Obwohl der bildungspolitischen Programmatik Inklusion eine wesentliche Bedeutung zugeschrieben wird, bemängeln aktuelle Studien, dass die Ausbildung noch immer an dem Konzept der „gesunden Normalentwicklung“ ausgerichtet ist (Haude & Volk 2015). Basierend auf dem Kompetenzorientierten Qualifikationsprofil (KMK 2011) wurde ein länderübergreifender Lehrplan für die Fachschulen (Länderoffene Arbeitsgruppe 2012) entwickelt. 14 von 16 Bundesländern arbeiten derzeit an dessen Implementierung.
Erzieherinnen und Erzieher
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3 Interkulturalität und Mehrsprachigkeit Die Auseinandersetzung mit kultureller Vielfalt gehört zu den festen Bestandteilen der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern. Im Kompetenzorientierten Qualifikationsprofil soll mit den o.g. Querschnittaufgaben dem gesellschaftlichen Wandel Rechnung getragen werden. Hier spiegeln sich Akzente von Theorien zur Interkulturalität. Allerdings zeigt sich bislang u.a. in der Querschnittaufgabe Sprachliche Bildung keine differenzsensible Haltung bezüglich pädagogischer Settings unter Einbeziehung von Mehrsprachigkeit. Verwiesen wird auf die Sprachentwicklung im Allgemeinen und den Erwerb von „weitreichenden sprachlichen Kompetenzen“ (KMK 2011). Im Handlungsfeld „Entwicklungs- und Bildungsprozesse anregen, unterstützen und fördern“ wird dem Bildungsbereich Sprache neben ca. 15 weiteren Schwerpunkten explizit Raum gegeben. Unter den Wissensfacetten findet sich konkret: „fachtheoretisch vertieftes Wissen zur Sprachkompetenzentwicklung“. Im Rahmen der Ausbildung steht für dieses Handlungs- bzw. Lernfeld im Länderübergreifenden Lehrplan (Länderoffene Arbeitsgruppe 2012) ein Kontingent von 600 bis 680 Unterrichtsstunden für alle Bildungsbereiche zur Verfügung. Interkulturalität und Mehrsprachigkeit finden in den kompetenzorientierten Lehrplänen der Ausbildung zur Erzieherin und zum Erzieher zwar Berücksichtigung, die Aneignung vertieften Wissens sowie die Erweiterung des Repertoires an Fähigkeiten sind aber über das Stundenkontingent eingeschränkt. Dass die Ausbildungssituation als unbefriedigend angesehen wird, zeigt sich an den Bund- und Länderinitiativen, die hier Weiterbildungen für diesen Sektor mit dem Schwerpunkt Sprachbildung und -förderung anstoßen. Exemplarisch stehen dafür Projekte wie „Frühe Chancen“ (BMFSFJ www.fruehe-chancen.de) und „Bildung durch Sprache und Schrift“ (BMBF www. biss-sprachbildung.de). Interkulturalität erfährt hier nur indirekt Beachtung. Befördert wurde die Diskussion zur sprachlichen Bildung und Förderung über die Einführung von verschiedenen Sprachstandserfassungsverfahren im Elementarbereich. Auch auf der Plattform „Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte“ (WiFF) (BMBF www.weiterbildungsinitiative.de) wurden und werden die Schwerpunkte Interkulturalität und Mehrsprachigkeit explizit bearbeitet. So geben Expertisen und sogenannte „Wegweiser Weiterbildung“ Impulse für die Aus- und Weiterbildung frühpädagogischer Fachkräfte. Diese Bewegungen verdeutlichen, dass ein Paradigmenwechsel hin zu einer Diversity Pädagogik bisher noch nicht vollzogen wurde.
4 Teilakademisierung Auf die erhöhten bildungspolitischen Forderungen an die Frühe Bildung wurde im Jahr 2004 mit der Akademisierung dieses Bildungssektors, d.h. der Gründung mehrerer Studiengänge, reagiert (OECD 2004). Die Studiengänge zeichnen sich durch eine hohe Durchlässigkeit auf struktureller Ebene aus, so können bis zu 50% der Studienleistungen durch außerhochschulisch erworbene Kenntnisse und Fertigkeiten angerechnet werden (KMK-JFMK 2010). Heute qualifizieren die Studiengänge für das Berufsprofil „Kindheitspädagogin“ und „Kindheitspädagoge“ und können an fast allen Standorten mit der Staatlichen Anerkennung abgeschlossen werden. Die Ausrichtung der Studiengänge orientiert sich wie die fachschulische Ausbildung am „Gemeinsamen Orientierungsrahmen Bildung und Erziehung in der Kindheit“ (ebd.). Dennoch wird auf die hohe Heterogenität bei der Ausgestaltung der Studienprofile hingewiesen (Reitzner 2015; Pasternack 2015). 70% der Absolventinnen und Absolventen münden gegenwärtig in das Berufsfeld der Kindertageseinrichtungen ein. Derzeit werden 53 Standorte größtenteils an Fachhochschulen mit diesem Studienprofil gezählt (Autorengruppe Fachkräftebarometer 2014).
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Anke König
Trotz der enormen Expansion werden auch in Zukunft die Kapazitäten nicht ausreichen, um eine Akademisierung des gesamten Berufsfeldes umzusetzen. Daher wird in jüngster Zeit von einer Teilakademisierung im Bereich der Kindertagesbetreuung gesprochen (Pasternack 2015), die sich überwiegend auf Bachelorniveau vollzieht. Es zeigt sich ein moderater Anstieg des hochschulisch ausgebildeten Personals (Sozialpädagog/innen; Erziehungswissenschaftler/innen; Kindheitspädagog/innen; Heilpädagog/innen) von 3% im Jahr 1998 auf 6% im Jahr 2014 (Autorengruppe Fachkräftebarometer 2014).
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Literatur
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Lehrkräfte
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111 Lehrkräfte Yasemin Karakaşoğlu und Aysun Doğmuş
Lehrkräften kommt eine zentrale Rolle für die Erfüllung des schulischen Bildungsauftrages zu. In der empirischen Bildungsforschung gelten Lehrkräfte außerdem als diejenigen, von denen Innovationen in Schule und Unterricht maßgeblich abhängen (Terhart et al. 2011). Zusätzlich gewinnen als Zielrichtung in den letzten 15 Jahren sowohl bildungspolitisch als auch erziehungswissenschaftlich outputorientierte Standards und Kompetenzmodelle an Bedeutung, die dazu beitragen sollen, Schüler/innenleistungen zu verbessern, Unterrichtspraxis zu verändern und so auch Lehrkräfte in ihrem Kerngeschäft zu unterstützen. Dieses Verständnis eines schulischen Bildungsauftrags und der Qualifikation von Lehrkräften zeigt allerdings aus Sicht der interkulturellen Bildung zwei relevante Verkürzungen: (1) Leistungsrückstände werden zu einem Merkmal bestimmter Schüler/innengruppen, im PISA-Diskurs verdichtet in der Figur der (in der deutschen Sprache) förderbedürftigen Schüler/innen mit Migrationshintergrund, auf die Lehrkräfte allenfalls mit einer „effektiven Sprachförderung“ professionell reagieren können. Routinen und Strukturen der Schule als Organisation und der darin handelnden Lehrer/innen, die zu einer Bildungsbenachteiligung führen, bleiben so eher ausgeblendet. (2) Der Fokus auf die Verbesserung von Schulleistungen führt im Sinne eines ganzheitlichen, humanistischen und damit emanzipatorischen Bildungsverständnisses zu einem Bedeutungsverlust von Lehrkräften für Schüler/innen im Erwerb von akademisch fundiertem Wissen über die Welt, Wissen über sich selbst und in der Persönlichkeitsbildung. Für Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft beinhaltet dies insbesondere Erfahrungen der Ausgrenzung und „Besonderung“, an der die Schule nicht unbeteiligt ist (Jenessen et al. 2013). Der Beitrag fokussiert die Frage der Qualifikation von Lehrkräften und ihre Innovationspotentiale in Schule und Unterricht aus der Perspektive der interkulturellen Bildung. Ein erster Zugang wird über Forschungsbefunde deutlich, die sich den Sicht- und Handlungsweisen von Lehrkräften im Hinblick auf die migrationsbedingte Heterogenität in der Schule widmen. Von Bedeutung ist hier auch die spezifische Betrachtung von Lehrkräften mit Migrationshintergrund. Auf dieser Grundlage wird die Diskussion um die Qualifikation von Lehrkräften in migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen nachgezeichnet und Bestimmungsversuche der Qualifikation, des pädagogischen Könnens, in der Migrationsgesellschaft skizziert.
1 Befunde zu Sicht- und Handlungsweisen von Lehrkräften im Hinblick auf migrationsbedingte Heterogenität in der Schule Untersuchungen, die Sicht- und Handlungsweisen von Lehrkräften im Hinblick auf migrationsbedingte Heterogenität in der Schule in den Blick nehmen, wurden erst seit Mitte der 1990er Jahre in Deutschland durchgeführt. Auernheimer fasst Ergebnisse verschiedener Studien zusammen und kennzeichnet diese als: • „Fixierung auf fremde ‚Mentalitäten‘ oder ‚Sitten‘, • Differenzblindheit, • generalisierende Erklärungen für fremdartiges Verhalten,
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Yasemin Karakaşoğlu und Aysun Doğmuş
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• pauschaler Fundamentalismus-Verdacht, • Infantilisierung von Migranteneltern, • die barsche Forderung nach Assimilation, • folgenlose bzw. ausgrenzende ‚Toleranz‘, • die Tendenz zu zivilisatorischer Mission, • kein Infragestellen eigener Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster, • kein Eingeständnis eigenen Befremdens“ (Auernheimer 2009, S. 133). Steinbach resümiert ähnlich mit Blick auf aktuelle Studien, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund von Lehrkräften in der schulischen Praxis als förderungsbedürftige Schüler/innen und so vor allem im Hinblick auf ihre „Nicht-Passung“ zu Normalitätsvorstellungen eingeordnet werden (Steinbach 2015). Auch internationale Forschungsbefunde verweisen darauf, dass Lehrkräfte spezifische Vorbehalte gegenüber Schüler/innen mit Migrationshintergrund sowie deren Eltern aufweisen, die sich negativ auf ihr Handeln im Unterricht, auf Übergangsempfehlungen, wie auch auf die Kontakte zu den Eltern und somit auf die gesamte Bildungslaufbahn dieser Schüler/innen auswirken können (Schofield 2006). Schofield diskutiert diese Vorbehalte als stereotypisierende Erwartungen von Lehrkräften, die sowohl einen Einfluss auf das Selbstwertgefühl als auch auf die Leistungsfähigkeit von Schüler/innen haben. Diesen Effekt bezeichnet Schofield als „Stereotype Threat“, der auch hinsichtlich der in Teilen nicht erklärbaren herkunftsspezifischen Unterschiede in der Schulleistungsstudie PISA vermutet wird. Gomolla und Radtke haben für Deutschland nachweisen können, dass Lehrer/innenhandeln – eingebunden in Mechanismen „Institutioneller Diskriminierung“ (Gomolla & Radtke 2009) – Bildungschancen vermindernd wirken kann, indem sich die von Lehrer/innen repräsentierten ethnospezifischen Einstellungen und Haltungen mit marktökonomischen Handlungslogiken von Schulen verbinden und damit den selektiven Zugang von Schüler/innen sowohl zu Förderschulen wie auch zu weiterführenden Schulformen steuern. Mit der Adaptation des in den USA entwickelten Ansatzes der institutionellen Diskriminierung können sie aufzeigen, dass in den Routinen der Schulpraxis nicht nur andere Bildungsentscheidungen getroffen werden (z.B. signifikant häufigere Überweisung von Kindern „mit Migrationshintergrund“ und Deutsch als Zweitsprache auf Sonderschulen für Lernbehinderte), sondern dass diese darüber hinaus mit dem Verweis auf migrationsbedingte Sozialisationsdefizite anders begründet werden. Wenngleich sie institutionelle Diskriminierung nicht in erster Linie auf die Einstellungen von Lehrer/ innen zurückführen, sind diese durch ihr Handeln gleichwohl an der Reproduktion von Ungleichheit beteiligt. Allerdings werden die (auch unbeabsichtigten) Diskriminierungen durch Lehrer/innen häufig ausgeblendet, wodurch in den Hintergrund tritt, dass eine Veränderung der Professionalität eine zentrale Voraussetzung für den Abbau von sozialen Bildungsungleichheiten darstellt. Hierzu gehören auch Ignoranz gegenüber unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen und eine auf Mehrsprachigkeit bezogene Adressierungs- und Kategorisierungspraxis, die Dirim als (Neo-)Linguizismus, also die unreflektierte Privilegierung bestimmter Sprachen gegenüber anderen und hegemoniale Umgangsweise mit nicht-deutschsprachigen bzw. mehrsprachigen Voraussetzungen im schulischen Kontext beschreibt (Dirim 2010). Auch die im gesellschaftlichen wie in Teilen des wissenschaftlichen Diskurses vorgenommene Gleichsetzung von „Migrant“ und „Muslim“ findet in der Schule ihren Niederschlag in negativ konnotierten Adressierungspraxen und Deutungsmustern verantwortlicher Akteur/innen angesichts vorgeblich religiös-kulturell bedingter „Konfliktsituationen“. Die skizzierten Praxen und Einstellungsmuster verweisen auf das Problem, unter dem Einfluss emotional aufgeladener gesellschaftlicher Migrationsdiskurse die pädagogische Professionalität aufrecht zu erhalten.
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Studien zu Adressierungspraxen gegenüber Personen „mit Migrationshintergrund“ in pädagogischen Kontexten belegen zudem, dass generalisierende und pauschalisierende Zuschreibungspraxen mit negativ konnotierten Attribuierungen für „Migranten“ in den Schulalltag eingeschrieben sind und dass diese von den relevanten Akteur/innen als solche kaum reflektiert werden. Dabei nehmen Lehrkräfte, darauf verweisen Befunde der COACTIV und COACTIV-R Studie, ihre eigene Verunsicherung im Umgang mit den heterogenen Sprachvoraussetzungen ihrer Schüler/innen hinsichtlich der Unterrichtssprache Deutsch durchaus wahr, erleben sich hier also als professionell defizitär (Hachfeld 2012, S. 54). Die damit durchaus auch verbundenen pädagogisch-praktischen Handlungsweisen im Unterrichtsalltag, die eigenen Anteile an der Verunsicherung, finden kaum Reflexionsraum.
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2 Der Diskurs um Lehrkräfte mit Migrationshintergrund Mit dem (möglichen) Beitrag von Angehörigen natio-ethno-kultureller Minderheitengruppen als Lehrer/innen zur Minderung von Diskriminierung und Stärkung der Anerkennung sprachlich-kultureller Vielfalt in Schulen befasst sich eine noch relativ junge Forschungsrichtung in Deutschland. Im angelsächsischen Raum wurde dies für „visible ethnic minorities“ ca. zehn Jahre früher untersucht. Aus diskriminierungskritischer Perspektive stellt diese Forschung zunehmend die Prämisse infrage, dass das Ziel der Minderung von Diskriminierung und Stärkung der Anerkennung sprachlich-kultureller Vielfalt in Schulen schlicht durch den Einsatz von Lehrpersonal mit Migrationshintergrund tatsächlich erreicht werden könnte (Bräu et al. 2013). Nötig sei es hingegen, dass die Schule und die in ihr verantwortlich Handelnden sich ihrer Diskriminierung begünstigenden Strukturen und Routinen bewusst werden. Es gibt hingegen Hinweise darauf, dass gerade die Zuweisung der Verantwortung für die Schaffung von mehr Bildungsgerechtigkeit gegenüber Schüler/innen „mit Migrationshintergrund“ an die Lehrkräfte mit Migrationshintergrund mit einer höheren emotionalen Belastung für diese einhergeht (ebd.). Sie erleben einen Druck, die Herausforderungen mit migrationsbedingter Heterogenität in der Schule zu bewältigen und in sogenannten interkulturellen Konfliktsituationen qua Herkunft „kulturelle Kenntnisse“ und Erfahrungen mit einer „persönlichen Betroffenheit“ einbringen und damit helfen zu müssen. Die bereits erwähnte empirische Studie von Hachfeld (2012, S. 54) gibt Hinweise darauf, dass sprachlich-kulturelle Heterogenität in Klassen von angehenden Lehrkräften mit und ohne Migrationshintergrund zwar in gleicher Weise überwiegend positiv bewertet wird, Lehrkräfte ohne Migrationshintergrund allerdings weniger Vertrauen in ihre Fähigkeiten haben, Unterricht in Klassen mit hohem Anteil an Migrant/innen angemessen gestalten zu können. Bei Lehrkräften mit Migrationshintergrund erwies sich die Selbstwirksamkeit im Hinblick auf Überzeugungen über kulturelle Heterogenität als höher. Die Autorin wertet dies als Beleg dafür, dass in der Lehrerbildung stärker als bisher die Kompetenz über eine Reflexion der eigenen Überzeugungen zu kultureller Heterogenität vermittelt werden müsste (ebd., S. 61). In diesem Kontext steht auch eine Schweizer Studie zur pädagogischen Professionalität im transnationalen sozialen Raum. Sie geht der Frage nach, wie Primarlehrer/innen die kulturelle Heterogenität ihrer Klassen pädagogisch interpretieren (Edelmann 2007) und arbeitet sechs „Typen“ heraus, die jeweils ein Lehrer/innenprofil darstellen und ein Bild der Zusammenarbeit im Kollegium und der Ansätze der jeweiligen Schulen skizzieren. So kann sie feststellen, dass es zum einen für die Schüler/innen bedeutsam ist, von welchen Lehrkräften sie unterrichtet werden und zum anderen, dass die spezifische pädagogische Zusammenarbeit im Kollegium bedeutsam für den gesamtschulischen Umgang mit der kulturellen Heterogenität der Schüler/innen ist (ebd.,
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Yasemin Karakaşoğlu und Aysun Doğmuş
3 Interkulturelle Kompetenz als professionelle Haltungs- und Handlungskompetenz von Lehrkräften in der Migrationsgesellschaft?
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S. 191ff). Edelmann nimmt in ihrer Studie eine Differenzierung von Lehrkräften ohne und mit Migrationshintergrund vor und verdeutlicht, dass letztere sich aufgrund ihrer Biografie mit migrationsbedingter Heterogenität auseinandersetzen. Weiterhin bringen sie eine höhere Empathiefähigkeit mit als Lehrkräfte ohne Migrationshintergrund, sie verstehen sich als Vorbilder und tragen dazu bei, sowohl im Kollegium als auch in der Interaktion mit Schüler/innen Interkulturalität zu thematisieren und (zukünftig) einen professionellen Umgang zu finden (ebd., S. 60, S. 193ff). Zur bildungspolitischen Forderung akzentuiert Edelmann jedoch, dass es Lehrkräften mit Migrationshintergrund in ihrer Studie ein Anliegen ist, keinen Sonderstatus an ihrer Schule einzunehmen und weder als Vertreter/in einer bestimmten Kultur verstanden zu werden, noch für alle Schüler/innen mit Migrationshintergrund die Verantwortung zu übernehmen.
Die in den skizzierten Studienbefunden zum Ausdruck kommende Sicht- und Handlungsweise von Lehrkräften verdeutlicht in erster Linie die Relevanz der Professionalisierungsbedürftigkeit von Schule und Lehrkräften im Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität, die sich nicht selbstläufig und ohne weiteres durch Kompetenzerwerb und Standards ausgleichen lässt. Überlegungen zu migrationspädagogischer Professionalität von Lehrkräften werden in Deutschland häufig unter dem Begriff „Interkulturelle Kompetenz“ diskutiert. Damit verbunden ist die Vorstellung eines angemessenen, professionellen Umgangs mit kultureller, ethnischer, sprachlicher oder religiöser Vielfalt. Bundesweit erstmalig wurde Interkulturelle Kompetenz in den Empfehlungen der KMK zu Interkultureller Bildung und Erziehung in der Schule 1996 als Kernkompetenz von Lehrenden bezeichnet. Dabei muss aber berücksichtigt werden, dass es sich hier um eine normative Forderung nach einer Notwendigkeit und Nützlichkeit des Erwerbs „Interkultureller Kompetenzen“ als Schlüsselkompetenz für einen professionellen Umgang mit sprachlich-kultureller Heterogenität in pädagogischen Berufsfeldern handelt. Diesem können bislang kaum empirische Studien zur tatsächlichen Existenz und Ausprägung sowie zur Relevanz dieser Kompetenz für die Unterstützung von Entwicklungs- sowie Lehr- und Lernprozessen beiseite gestellt werden (Straub et al. 2010). Vielmehr zeigt die pädagogische Praxis die Gefahr der Gleichsetzung mit „Wissen über andere Kulturen“ und der notwendigen Berücksichtigung der „kulturellen“, darunter auch „religiösen“ bzw. „ethnischen“ Besonderheiten von Migrant/innen. In dieser Betrachtung erscheint Interkulturelle Kompetenz als eine Art Sonderkompetenz, die auf die zielgruppenbezogene und auf spezifische kulturelle Besonderheiten Rücksicht nehmende Förderung von Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund beschränkt wird. Allerdings besteht auch Forschungsbedarf bezüglich der Identifikation effektiver Strategien zum Umgang von Lehrenden mit Diversität und hinsichtlich der Professionalität der Lehrenden, bezogen auf ihre Unterrichtsgestaltung, Fachkompetenz und ihre Fähigkeit, mit migrationsbedingter Heterogenität der Schülerschaft im Sinne der optimalen Förderung aller Schüler/innen gemäß ihren Bedürfnissen umgehen zu können. Allgemeine professionalitätstheoretische Überlegungen etwa zur Unbestimmtheit pädagogischen Handelns (Helsper et al. 2005) wurden allerdings in Konzepte Interkultureller Kompetenz, auch in der Forschung, bislang kaum übersetzt. Auf diese Kritik wurde auf bildungspolitischer Ebene mit der Empfehlung der KMK (2013) reagiert, indem dort betont wird, dass die Notwendigkeit des Erwerbs Interkultureller Kompetenz bei Lehrenden und Lernenden „nicht nur die Auseinandersetzung mit anderen Sprachen und Kulturen (bedeute), sondern vor allem
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die Fähigkeit, sich selbstreflexiv mit den eigenen Bildern von Anderen auseinander und dazu in Bezug zu setzen sowie gesellschaftliche Rahmenbedingungen für die Entstehung solcher Bilder zu kennen und zu reflektieren“ (KMK 2013, S. 2). Damit ist freilich noch nicht die Fähigkeit verbunden, Verunsicherung im Situationshandeln als Teil der professionellen Realität anzuerkennen. In Publikationen zur interkulturellen Lehrer/innenbildung wird jedoch zunehmend die Bezeichnung „interkulturell“ wie auch die daraus abgeleitete „Interkulturelle Kompetenz“ kritisch reflektiert. Das sich in diesem Begriff (implizit oder explizit) artikulierende Kultur- und Professionalitätsverständnis erscheint als Perspektive für die Beschäftigung mit von Migrationsprozessen hervorgebrachter Pluralität vielfach eingeschränkt und einseitig, da der Begriff die als kulturell adressierten Besonderheiten „der Migranten“ fokussieren kann, ohne weitere Perspektiven einzubeziehen und damit zur Kulturalisierung des Sozialen beiträgt. Stattdessen wird eine differenzsensible und diskriminierungskritische Haltung als Grundvoraussetzung und Ausdruck des professionellen Handelns von Lehrer/innen in der Schule der Migrationsgesellschaft eingefordert (Mecheril et al. 2010). Die Qualifikation von Lehrkräften in migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen kann vor diesem Hintergrund als ein professionelles Bewusstsein beschrieben werden, mit dem das pädagogische Handeln und seine Involviertheit in benachteiligenden Strukturen mit Blick auf das Innovationspotential von Schule und Unterricht reflektiert wird. Eine Verbreitung des Begriffs der Diversität, vor allem im anglo-amerikanischen Raum (u.a. Banks 2007), der zunehmend auch in Deutschland an die Stelle von Interkulturalität zu treten scheint, birgt Chancen wie Risiken. Chancen ergeben sich in der Erweiterung des Blicks von migrationsbedingter Heterogenität auf andere Dimensionen von Heterogenität wie Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung, Behinderung. Risiken bestehen darin, dass die jeweils spezifischen rechtlichen, gesellschaftlichen und individuellen Herausforderungen, die mit der Berücksichtigung der genannten Dimensionen verbunden sind, hinter das allgemeine Postulat, Diversität als solche anzuerkennen und wertzuschätzen, zurücktreten könnten. Intersektionalität soll einen Ausweg aus diesem Dilemma der bloß additiven Aufzählung und Berücksichtigung von Diversitätsdimensionen bieten. Das dahinter liegende komplexe Modell vielfältiger Verflechtungen und Verschränkungen der Diversitätsdimensionen, die auch situationsbezogen und individuell in unterschiedlicher Weise wirksam werden, erweist sich allerdings nach wie vor als noch nicht bewältigte Herausforderung sowohl für Theoriebildung wie auch empirische Forschung und nicht zuletzt als schwer vermittelbar für die Praxis, die gerne in klaren Kategorien denkt (Schmidt 2015). Bundesweit sind verschiedene Modelle der Implementation Interkultureller Bildung in die Lehrer/innenbildung und damit der Vermittlung von (Teilbereichen) Interkultureller Kompetenz entwickelt worden, die der Anforderung von Interkultureller Bildung als zugleich Schlüssel- und Querschnittdimension gerecht zu werden versuchen. Vorhanden sind im Studium Pflicht- oder Wahlpflichtanteile zur Befassung mit „Heterogenität in der Schule“, darunter auch Vertiefungsseminare zu migrationsbedingter Heterogenität. Zumindest im Bereich der Wahlpflicht sind solche Anteile an den meisten lehrerbildenden Hochschulen etabliert, wenngleich auch nicht flächendeckend und eben nur selten als Teil eines inhaltlich durchdachten Curriculums, in dem es um einen schrittweise anzubahnenden Kompetenzerwerb im Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität im Sinne interkultureller Bildung der Lehrkräfte geht. Allzu häufig sind die Inhalte immer noch begrenzt auf die Betrachtung der Lebens- und Bildungssituationen von Migrant/innen und weniger auf eine professionelle Reflexion von Vorannahmen über und Handeln in migrationsgesellschaftlich geprägten Schulsituationen.
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Vom Zusatzstudium zum Masterprogramm
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112 Studienangebote in Interkultureller Bildung: Vom Zusatzstudium zum Masterprogramm Hans-Joachim Roth und Tim Wolfgarten
Interkulturelle Bildung hat sich ursprünglich nicht als Daueraufgabe verstanden, sondern als Interim: Ziel war das Einfädeln der Bearbeitung kultureller, sprachlicher und sozialer Diversität im Kontext von Migration als allgemeine Aufgabe der Bildung. In den 1980er Jahren wurden in mehreren Bundesländern weiterqualifizierende Studienangebote in erster Linie für Lehrkräfte geschaffen, die aufgrund genannter Bestrebungen lediglich auf Zeit angelegt waren. So gab es 2001 an 25 Hochschulen lehramtsbezogene Zusatzstudiengänge, davon 16 als eigenständiges oder mit sprachlicher Bildung kombiniertes Angebot der Interkulturellen Pädagogik (KrügerPotratz & Reich 2001). Die Zusatzstudiengänge sind inzwischen alle eingestellt worden – allerdings nicht, weil Interkulturelle Bildung breit im Bildungssystem verankert ist, sondern, weil sie nicht mehr in die neue ‚Bolognawelt‘ passten. Seit 2001 hat sich vieles geändert: strukturell, curricular und politisch. Interkulturalität scheint im Mainstream der universitären Bildung in Deutschland angekommen zu sein: Aktuell sind es 222 Ergebnisse, die zur Schlagwortsuche „interkult“ auf der elektronischen Informationsplattform des Hochschulkompasses angezeigt werden. Überwiegend sind es Studienangebote aus den Disziplinen der Sozial- und Kulturwissenschaften wie auch aus den Bereichen der Linguistik und der Ökonomie. Eine Recherche mit systematischer Suche im bundesweiten Studienangebot auf 393 Hochschulseiten (vgl. Roth & Wolfgarten 2016b) ergab 14 Ein-Fach-Studiengänge (siehe Tab. 1, S. 588) im Feld der Interkulturellen Bildung, davon zwölf Masterstudiengänge und zwei Bachelorstudiengänge. Tab. 1: Übersicht über die Hochschulstandorte mit einschlägigen Studiengängen, Stand: Januar 2015 Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
B.A. Interkulturelle Bildung und Beratung European Master in Migration and Intercultural Relations
Europa Universität Viadrina Frankfurt/ Oder
M.A. Intercultural Communication Studies
Freie Universität Berlin
European Master in Intercultural Education
Ludwig-Maximilians-Universität München
M.A. Interkulturelle Kommunikation
Pädagogische Hochschule Karlsruhe
M.A. Interkulturelle Bildung, Migration und Mehrsprachigkeit
Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd
M.A. Interkulturalität und Integration
Alice Salomon Hochschule Berlin
M.A. Intercultural Conflict Management
588 |
Hans-Joachim Roth und Tim Wolfgarten B.A. Interkulturelle Kommunikation M.A. Interkulturelle Kommunikation – Interkulturelle Kompetenz
Universität Hamburg
M.A. Mehrsprachigkeit und Bildung MOTION: Master of Multilingual Educational Linguistics
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
M.A. Migration und Diversität
Universität Osnabrück
M.A. Internationale Migration und Interkulturelle Beziehungen
Universität zu Köln
M.A. Interkulturelle Kommunikation und Bildung
Neben den 14 einschlägigen Studiengängen gibt es 27 Studiengänge mit einem Profil im Bereich der Interkulturellen Bildung. Weiterhin sind 34 Studiengänge mit einzelnen obligatorischen oder fakultativen Modulen zu finden. Eine letzte Gruppe bilden solche, in denen lediglich einzelne inhaltlich interkulturell ausgerichtete Veranstaltungen im Kontext von übergeordneten Modulen wie z.B. unter dem Dach des Themas ‚Inklusion’ oder ‚Heterogenität’ angeboten werden. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Technische Universität Chemnitz
Die Themen in den ‚einschlägig’ angeführten Studiengängen lassen sich in eine Klassifikation bringen (vgl. ebd.), anhand derer sich die seit 30 Jahren bekannte Struktur des Feldes Interkultureller Bildung erkennen lässt und die auch viele der Zusatzstudiengänge aufwiesen: 1. ‚Interkulturelle Pädagogik‘: Neben den Grundlagen und Theorien der Interkulturellen Bildung sind es vor allem pädagogische Handlungsorientierungen und praxisrelevante Kompetenzen, die in diesem Bereich vermittelt werden (Mediation, Konfliktmanagement, Qualitätsmanagement). 2. Im sozialwissenschaftlichen Bereich ‚Migration und Gesellschaft‘ treten zwei Tendenzen stark hervor: die Thematisierung des strukturell durch Migration hervorgerufenen Wandels innerhalb wie zwischen Gesellschaften (Diversität, Transnationalität) und der dadurch entstehenden Differenzlinien sowie der damit in Verbindung stehenden gesellschaftlichen Probleme wie soziale Ungleichheit, Marginalisierung, Diskriminierung, Rassismus und Exklusion. 3. Das Angebot im Bereich ‚Sprachliche Bildung im Kontext von Zwei- und Mehrsprachigkeit‘ umfasst neben einführenden sprachwissenschaftlichen und allgemeinen Fragen zur Erziehung in mehrsprachigen Lebenswelten die Gegenstände der Didaktik des Deutschen als Zweit- und Fremdsprache, des (Zweit-)Spracherwerbs sowie des Erwerbs von Fremdsprachen und der Sprachdiagnostik (Schulz & Gogolin 2012). 4. Hinzu kommen einzelne, nicht über die drei zuvor genannten Kategorien klassifizierbare Inhalte wie methodische und praxisbezogene Studien, Ausweitungen in Richtung der Kulturwissenschaften oder der Sozialpsychologie, Gender Studies, Gesundheit u.a., die aus Profilbesonderheiten und internen Kooperationen einzelner Standorte resultieren. Stärkere Veränderungen in der Struktur und den Kernthemen zu den damaligen Zusatzstudiengängen sind in der Gruppe der Studiengänge mit einem Profil im Bereich Interkulturelle Bildung zu erkennen. Neben den erziehungswissenschaftlichen Masterstudiengängen, in denen Studierende – wie schon in den alten Diplomstudiengängen – Interkulturelle Bildung als Schwerpunktsetzung wählen konnten, sind seit der Bologna-Reform Studiengänge entstanden, die auch andere Fokussierungen erkennen lassen (z.B. „Intercultural Humanities“, „Empowerment Studies“, „Interkulturelle Gender Studies“). Des Weiteren wurde der strukturelle Prozess
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Vom Zusatzstudium zum Masterprogramm
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an drei Hochschulstandorten genutzt, um über den Begriff der Diversität im Titel eine Weiterung des Studienangebots zu markieren. In dieser Gruppe mit einem Profilbereich Interkulturelle Bildung werden in nächster Zeit vermutlich weitere Studiengänge entstehen, deren Titel auf Nachbarwissenschaften, Zielgruppen und Zielvorstellungen verweisen. Die 16 von Krüger-Potratz und Reich (2001) gelisteten Zusatzstudiengänge aus dem Bereich der Interkulturellen Bildung sind, wie bereits erwähnt, nicht mehr vorhanden; sie wurden in den letzten fünf Jahren eingestellt. Die neu entstandenen Masterstudiengänge schließen zwar an Erfahrungen aus den eingestellten Zusatzstudiengängen an, sind aber strukturell sowie curricular in der Regel anders konzipiert und organisiert. Explizite Angebote für den Schulbereich gibt es nicht mehr. Blickt man auf die Einbeziehung Interkultureller Bildung in den Bildungswissenschaften der Bachelor- und Masterstudiengänge des Lehramts, so werden an 30 von insgesamt 70 über den Monitor Lehrerbildung erfassten Hochschulstandorten Themen aus dem Feld Interkultureller Bildung angeboten (Stand: 2. Dezember 2015). An 13 Studienstandorten wird dies über Pflichtmodule organisiert, an 17 über den Wahl(pflicht)bereich. Grundsätzlich hat die Umstellung der Lehrer/innenbildung auf Bachelor und Master in den Bildungswissenschaften eine starke Konzentration, aber auch Vereinheitlichung, wenn nicht gar Engführung bewirkt. Einer der Gründe liegt in der Implementierung der Standards für die Lehrerbildung (KMK 2004), deren Gliederung nach grundlegenden Handlungskompetenzen erfolgt (erziehen, beurteilen, unterrichten, innovieren, diagnostizieren und fördern). Im Gegensatz zum intendierten Ziel führte das nicht auf breiter Basis zu einer Stärkung der didaktischen Kompetenzen von angehenden Lehrkräften in der Ausbildung, sondern partiell auch zu deren Schwächung. Betrachtet man z.B. das Bundesland Nordrhein-Westfalen, in dem die meisten Zusatzstudiengänge angeboten wurden, so lässt sich ein Ausbau der bildungswissenschaftlichen Anteile für die Lehrämter an Grund-, Haupt und Realschulen erkennen, der die Implementierung von Modulen zur Interkulturellen Bildung erlaubt, hingegen eine gravierende Kürzung auf den Kernbestand der Standards für alle anderen Lehrämter. Seitdem sind für die Lehrämter Gymnasium und Sonderpädagogik inhaltlich interkulturelle Aspekte des Studiums als Module genauso wenig belegbar wie GenderFragen o.a. Es wäre jedoch falsch, die KMK-Standards für diese Entwicklung verantwortlich zu machen; tatsächlich war es die Kombination aus deren Einführung mit der Reduktion der bildungswissenschaftlichen Anteile in den genannten Lehrämtern. Interkulturelle Bildung ist heute in den Hochschulen – wie noch in den 1980er Jahren – kein Randphänomen mehr. Sie gilt als etabliert und ist auch in fast allen Curricula für Schule und Unterricht Bestandteil von Bildung (vgl. Gogolin et al. 2001). Der Arbeitsbereich ist also anerkannt. In einer historischen Perspektive auf diese Anerkennung war in den 1980er Jahren das „Einfädeln“ in andere bestehende Studiengänge eine wichtige Strategie (vgl. Roth & Wolfgarten 2016a), denn die Zusatzstudiengänge mussten sich inneruniversitär immer wieder legitimieren und verteidigen. Daher ergibt sich ein doppelbödiges Ergebnis in Bezug auf Akzeptanz und Anerkennung des Interkulturellen an den Hochschulen: Die Einstellung der Zusatzstudiengänge und die Umstellung auf die Masterstruktur im außerschulischen Bereich sowie die Einreihung in Lehramtsmodule – z.T. explizit, z.T. unter den Labeln ‚Heterogenität’, ‚Diversität’ oder ‚Inklusion’ –, zeigt, dass der Arbeitsbereich etabliert ist. Die Zusatzstudiengänge dienten jahrelang als Sprungbrett, interkulturelle Inhalte in traditionell bestehende Studiengänge einzubringen. Dabei sollte allerdings auch bedacht werden, dass es in der Lehrer/innenbildung an 40 Standorten überhaupt keine strukturierten Angebote zur interkulturellen Bildung gibt; für Deutsch als Zweitsprache sind es 35 Hochschulstandorte (vgl. Roth & Wolfgarten 2016b).
Hans-Joachim Roth und Tim Wolfgarten
Die Verankerung des Interkulturellen ist vielfältig. Neben kompletten Studiengängen, Fächern oder Schwerpunkten gibt es einzelne Module oder Kombinationsmodule, z.T. unter dem Dach des Themas Inklusion. De facto ist das Einfädeln des Interkulturellen als Bestandteil der Allgemeinen Erziehungswissenschaft bzw. den Bildungswissenschaften zwar an vielen Standorten gelungen, aber nach wie vor nicht überall. Experteninterviews mit studiengangsverantwortlichen Personen ergaben eine starke Abhängigkeit vom jeweiligen Hochschulstandort (vgl. Roth & Wolfgarten 2016a). Die Ergebnisse dieser Befragung kann man für weitere Planungen in Fragen zusammenfassen: Gibt es eine kooperierende interdisziplinäre Gruppe von Wissenschaftler/ innen, die sich das Thema zu Eigen macht? Gibt es Personen, die auch bereit sind, in der Hochschule Funktionen zu übernehmen und entsprechende Strukturen zu schaffen? Passt das Studienangebot in das Profil einer Hochschule? Gibt es die Möglichkeit, eine einigermaßen tragfähige finanzielle und personelle Ausstattung für ein Studienangebot zu sichern? Offen bleibt die Frage, wie es am besten gelingen kann, über die Lehrer/innenbildung breit in das Bildungssystem hineinzuwirken, zugleich aber Spezialist/innen für besondere Aufgaben – wie etwa den Unterricht des Deutschen als Zweitsprache – auszubilden. Literatur Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Gogolin, Ingrid; Neumann, Ursula & Reuter, Lutz (2001): Schulbildung für Kinder aus Minderheiten in Deutschland 1989-1999. Schulrecht, Schulorganisation, curriculare Fragen, sprachliche Bildung (=Interkulturelle Bildungsforschung, 8). Opladen: Leske + Budrich. – Krüger-Potratz, Marianne & Reich, Hans H. (2001): Lehrerbildung interkulturell. Materialien, Empfehlungen und Stellungnahmen; Dokumente, Studienangebote und Erlasse zur Fortbildung; Bibliografie (=Interkulturelle Studien, 34). Münster: Arbeitsstelle Interkulturelle Pädagogik, Westfälische Wilhelms Universität, Münster. – Roth, Hans-Joachim & Wolfgarten, Tim (2016a): Eine strategische Wende und ihre Erzählungen: Von der Ausländerpädagogik zur Interkulturellen Pädagogik. In: Sandra Aßmann; Peter Moormann; Karina Nimmerfall & Mirjam Thomann (Hg.): wenden. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Phänomen turn. Wiesbaden: Springer VS, (i.E.). – Roth, Hans-Joachim & Wolfgarten, Tim (2016b): Interkulturelle Bildung als Hochschulangebot: Organisatorische und curriculare Beobachtungen zur Lehre sowie ihrer strukturellen Verankerung. In: Aysun Doğmuş; Yasemin Karakaşoğlu & Paul Mecheril (Hg.): Pädagogisches Können in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS, S. 107-140. – Schulz, Monika & Gogolin, Ingrid (2012): Der LiMA-Masterstudiengang Mehrsprachigkeit und Bildung. Eine interdisziplinäre Perspektive auf Mehrsprachigkeit. In: Sara Fürstenau (Hg.): Interkulturelle Pädagogik und Sprachliche Bildung. Wiesbaden: Springer VS, S. 201-216. – Sekretariat der Kultusministerkonferenz (2004): Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaft. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16.12.2004 i. d. F. vom 12.06.2014. Online verfügbar unter http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004_12_16-Standards-LehrerbildungBildungswissenschaften.pdf [09.03.2016].
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Sachregister
Abschiebung 284,312 Affordanz 430 Akkulturation 45ff, 94, 515 Alevitischer Religionsunterricht (ARU) 535 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz 265 Alltagswelten, interkulturelle 222f Alphabetisierung 483 Alphabetisierungskurse 407, 413 Alterität 419 Antisemitismus 85 Anerkennung 583 Anerkennung ausländischer Schulabschlüsse 335 Anerkennungskultur 281 Anrechnung von Ausbildungszeiten im Ausland 317 Anti-Bias-Ansatz 257 Anwerbeabkommen 262 Anwerbestopp 11f, 263, 446 Arbeitnehmerfreizügigkeit 290 Arbeitsmigration 269, 296ff Assimilation 43, 45ff, 110ff Assimilationsformen 46f Asyl 268, 304ff Asylberechtigte 300 Asylerstanträge 453 Asylpolitik 272, 304ff Asylrecht 284, 305 Asylsuchende 32 Aufenthaltsbeendigung 310 Aufenthaltserlaubnis 299 Aufenthaltsrecht 287, 291 Aufenthaltsstatus 309ff Aufenthaltstitel 310f Aufnahmegesellschaft 452 Ausbildung von Erzieher/innen 578ff Ausländerklassen 262 Ausländerpädagogik 187 Ausländerrecht 286, 309,321 Ausweisung 284,312 Begegnungssituationen im Ausland 435 Begleitforschung 344 Behinderung 225 Beobachtung kommunikativer Praktiken 431f Berufliche Handlungskompetenz, interkulturelle 355ff
Berufsabschluss, Anerkennung 314ff Betreuungsqualität 457 Betreuung und Bildung unter Dreißigjähriger 457ff Bewusstsein 542 Beziehungen, transnationale 223 Bibliotheksdienstleistungen für Migranten/innen 412 Bi-kulturelle Partnerschaften und Ehen 97ff Bildung, berufliche 354 Bildung für nachhaltige Entwicklung 251ff, 253 Bildung, frühkindliche 441 Bildung, interkulturelle 392, 405 Bildung, interreligiöse 530ff Bildung, migrationspolitische 498 Bildung, politische 362 Bildung, sprachliche 67ff, 371 Bildungsabschlüsse 335 Bildungsabschlüsse, ausländische 315 Bildungsabschluss, Anerkennung 314ff Bildungsangebote, interkulturelle 362 Bildungsarbeit, interkulturelle 413 Bildungsbenachteiligung 265 Bildungsbenachteiligung, familienbedingte 389 Bildungsberichterstattung 12 Bildungsbeteiligung 12f, 208ff, 340 Bildungserfolg 227 Bildungsforschung, interkulturelle 194ff Bildungsgerechtigkeit 208f, 229 Bildungshabitus 378, 380 Bildungslandschaften, kommunale 369ff Bildungsmarkt, lokaler 227 Bildungsmigration 299 Bildungsmöglichkeiten, nonformale 401 Bildungsnetzwerke, lokale 345 Bildungsnetzwerke, regionale 369ff Bildungspartnerschaften 390 Bildungspläne 340 Bildungspläne für die Kindertagesbetreuung 441ff Bildungspolitik 274ff Bildungspolitik, Europäische Union 274ff Bildungspolitische Zielsetzungen 445ff Bildungspraxis, antirassistische 256f Bildungssprache 346
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Sachregister
Bildungsstandards 445ff Bildungssystem, Schnittstellen 476 Bildungsteilhabe / Bildungsbeteiligung 224 Bildungstheorie 377 Bildungsvoraussetzung 479 Bilinguale Kitas 472 Bilinguale Schulen 349ff Binnenflüchtlinge 305 Bücher, zweisprachig 471 Bürgerzentren 392ff Chancengleichheit 229,389 Community Education 344 Critical Whiteness 257 Cultural Studies, Diskurstheorien 177ff Curriculumtheorie 357ff Daueraufenthaltsrecht 292 DaZ-Förderung, Methoden 489 DaZ, Tätigkeitsfelder 567 Defizitperspektive 386 Demografischer Wandel 451 Demographie 87ff Deutsch als Fremdsprache (DaF) 485, 565ff Deutsch als Fremdsprache, landeskundliche und interkulturelle Lernziele 141f Deutsch als Zweitsprache (DaZ) 485ff, 566ff Deutsch als Zweitsprache, Niveaubeschreibungen 478 Deutsch-Test für Zuwanderer (DTZ) 407 Deutschunterricht 481ff Deutschunterricht, vielsprachiger 481 Developmental Model of Intercultural Sensitivity 506 Dialekte 487 Differenz 419 Differenz, nationalkuturell 236f Differenzen, migrationsgesellschaftliche 385 Differenzerfahrungen 493 Digitale Medien und Interkulturalität 428ff Dilemmadiskussion 507 Diskriminierung 8ff, 86, 555 Diskriminierung im Gesundheitssystem 168f Diskriminierung, institutionelle 347,582 Diskriminierungsverbot 331 Diversität, kulturelle 442f, 542 Diversität, sprachliche 68f, 493 Diversity/Diversität 21, 61ff, 222, 233, 257, 367f Diversity education 189 Diversity Management 158, 232, 555 Drittstaat, sicherer 301 Drittstaatsangehörige 295ff Dual Language-Programs 351
Duldung 311 Durchgängige Sprachbildung 488 Ehrenamtliche 451ff Einbürgerung 309ff Einsprachigkeit, doppelte 134 Einstellungen, ausgrenzende 246 Einwanderung, politische 264 Einwanderungsland 58, 321 Einwanderungspolitik 261ff, 267ff Eltern als Bildungspartner 388ff Elternarbeit 389 Elternbeteiligung 391 Elternbildung 388f Elterntrainings 389 Empowerment 249 Engagement, bürgerschaftliches 279 Entwicklung bildungssprachlicher Fähigkeiten 477f Entwicklung, sozial-emotionale 457 Entwicklungen, transnationale 220f Ergänzungsunterricht, muttersprachlicher 263 Erinnerungsorte 425ff Erwachsenenbildner/innen, Tätigkeitsfelder 574ff Erwachsenenbildung 228ff, 361, 568, 573ff Erwachsenenbildung, Personal 574ff Erwerb inländischer Berufsabschlüsse 317 Erzieher/in-Eltern Kooperation 458 Erzieher/in-Kind-Beziehung 458 Erzieher/innen, Qualifikationsprofil 577ff Erziehung, internationale 505 Erziehung, interreligöse 443 Erziehung, kompensatorische 199 Erziehung, permissive 459 Erziehungspartnerschaften 390 Erziehungsrecht, elterliches 329 Erziehungsstil, familialer 379 Erziehungsvorstellungen 458 Ethnic Monitoring 348 Ethnisierung 76f Ethnizität 34ff Ethnizitätsforschung 34ff Ethnomathematik 518 Ethnozentrismus 506 Ethos der Pluralität 526 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 284, 305, 306 Europäische Migrationsagenda 269 Europäische Union 268 Fähigkeiten, sprachliche 475f Fachkräfte, qualifizierte 297 Fallverstehen (Kasuistik) 570
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Sachregister Familie als Sozialisationsinstanz 375ff Familiennachzug 300, 303 Familiensystemtheorie 377 Familienzentren 339, 342 Flucht 304ff Fluchtmigration 300, 452 Fluchtursachen 452 Flüchtlinge 32 Flüchtlinge im Kindes- und Jugendalter 451ff Flüchtlinge, minderjährig und unbegleitet 451 Flüchtlingsbegriff 284 Förderung der Mehrsprachigkeit, Elternzentrierte Programme 470 Förderung, koordinierte 479 Förderung, vorschulische 200 Frauenerwerbsarbeit 571 Freizügigkeit 276, 289ff, 291 Freizügigkeitsrecht 289 Fremdsprachenunterricht 491f Fremdverstehen 528 Frühe Kindheit 461 Frühpädagogik 341f, 458 Ganztagsschulen 377 Gebärdensprache 469 Gedenkstätten 425ff Gedenkstättenpädagogik 427 Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) 268 Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen (GER) 488, 568 Gemeinwesenarbeit 462 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) 306 Geographie, interkulturelle Konzepte 150ff Geographiedidaktik, interkulturelle Lernziele 151f Geographieunterricht 505ff Georg-Eckert-Institut für Schulbuchforschung (GEI) 235 Germanistik und Interkulturalität 140ff Gesamtsprachencurriculum 495 Geschichtsbewusstsein 500 Geschichtslernen, interkulturelles 499ff Geschichtsunterricht 499ff Geschichtsunterricht, eurozentrischer 502 Geschlechtergerechtigkeit 527 Glaubensbekenntnisse 528 Glaubensfreiheit 329 Globales Lernen 251ff, 362 Globalisierung 95 Grenzarbeit, interkulturelle 571 Grundgesetz 283
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Grundmodelle, schulorganisatorische 453 Grundrechte 283, 287 Grundrechte, kulturelle 559 Handlungskompetenz von Lehrkräften 584 Heimatkunde 510f Heiratsmigration 103 Herkunftssprachen 469 Herkunftssprache im Unterricht 68ff Herkunftssprachenunterrricht 352 Herkunftsstaaten, sichere 297 Heterogenität, sprachlich-kulturelle 516 Hochschulen: Internationalisierung 365ff Hochschulabschlüsse, ausländische 315f Hybridkulturalität 419 Identität, religiöse 72ff Immersionsmodelle 351 Inklusion 41ff, 226f, 467 Integration 41ff, 121f, 148f, 226f, 265, 269, 318ff Integration als Rechtsbegriff 318ff Integration in den Arbeitsmarkt 455 Integration, rechtliche 286 Integration, soziale 226 Integration von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen 451ff Integrationsauftrag, staatlicher 319 Integrationsbegriff 409 Integrationsgesetz 298, 300 Integrationskurse 110f, 231, 265, 319, 407ff, 568 Integrationsmonitoring 90 Integrationspolitik 114ff, 245, 261ff, 267ff, 265, 269, 279ff, 404, Integrationspolitik, kommunale 278ff Integrationspolitik, kommunale Querschnittsaufgabe 279 Integratives Modell 454 Intensivkurse 446 Interdependenzhypothese 350 Interkulturalität 55ff, 148f, 220, 229, 230, 233, 579 Interkulturalität als berufliche Schlüsselkompetenz 354 Interkulturalität und Ethnologie 170ff Interkulturalität, Betriebswirtschaftslehre 155f Interkulturelle Bibliotheksangebote in Deutschland 414f Interkulturelle Bildung 239, 240ff Interkulturelle Bildung als Querschnittsaufgabe 239f, 442 Interkulturelle Bildung, Konzepte 461ff Interkulturelle Bildung, Konzepte in Kitas 461
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Sachregister
Interkulturelle Bildung in den Bildungswissenschaften 589 Interkulturelle Bildung in der Lehrer/innenbildung 585 Interkulturelle Germanistik 141 Interkulturelle Kompetenz 243f, 584 Interkulturelle Kompetenz im Gesundheitswesen 166 Interkulturelle Lernorte, Bibliotheken 412ff Interkulturelle Musikpädagogik 545ff Interkulturelle Öffnung 220ff, 232f, 233, 278, 371, 395, 422 Interkulturelle Öffnung der Verwaltung 279 Interkulturelle Pädagogik 13f, 180, 183ff, 192, 202ff, 401 Interkulturelle Pädagogik, Konzepte und Ansätze 239f Interkulturelles Lernen 392 Interreligiöser Religionsunterricht 531 Intersektionalität 257 Intersektionalitätsansatz 555 Intervention, interkulturelle 359 Islam 386, 531 Islamunterricht 525 Jugend 382ff Jugendarbeit, internationale 399ff Jugendaustausch 398ff Jugendbegegnungen 398 Jugendforschung 383, 385f Jugendphase 383 Jugendzentren 392ff Kampf der Kulturen 17 Kapital, soziales 379 Kindertagesbetreuung 339ff Kindertagesstätten 453 Kindheitskonzeptionen 459 Kindheitspädagogin, Berufsprofil 579 KMK-Empfehlungen (1971) 446 KMK-Empfehlungen (1996) 447 Kolonialpädagogik 262 Kommunikation, interkulturelle 56f, 136f Kommunikationswissenschaft 119ff Kommunikation, digitale 428f Kompetenz, interkulturelle 49ff, 216, 231f, 355, 447, 505 Kompetenzen, bildungssprachliche 448 Konstrukt transkultureller Begegnungen 527 Kontextualismus 178f Konventionsflüchtlinge 300, 302 Kooperation 478 Kooperation mit Eltern 463
Krisenregionen 527 Kühn-Memorandum 263f Kultur 17ff Kultur der Anerkennung 466 Kultur, psychologische Perspektiven 126ff Kulturalisierung 76f Kulturanthropologie 171 Kulturbegriff 18f, 246, 546 Kulturelle Bildung 412f, 544 Kulturerdteilkonzept 505 Kulturkonzepte, wirtschaftswissenschaftliche 156ff Kulturpsychologie 129f Kulturrassismus 256 Kulturtheorie 160f Kulturzentrum, islamisches 562f Kunstdidaktik 542 Kunstunterricht 541ff Landeskunde 492 Language Awareness 344, 481 Lebenslanges Lernen 362 Lebenswelten, mehrsprachige 588 Lehr- und Lernziele 358 Lehrkräfte 581ff Lehrkräfte mit Migrationshintergrund 583f Lehrpläne 445ff Lernen, internationales 400 Lernen, interkulturelles 236, 400 Lernen, globales 505 Lernen, interreligiöses 465ff, 530ff Lernprozesse, interkulturelle 435 Lernstandsdiagnostik 516 Lerntagebücher, digitale 435f Lesen, dialogisches 471 Lingua franca 137 Literacy-Erziehung 463, 471 Literatur, mehrsprachige 482 Management, interkulturelles 158 Mathematikunterricht 518ff Mathematikunterricht, differenzorientierte Ansätze 523 Mathematikunterricht, interkultureller 523 Mathematikunterricht, Leistungsdisparitäten 519 Mathematik, interkulturelle Perspektiven 519 Mathematikunterricht, Sprachförderung 524 Medien, digitale 429 Mehrsprachigkeit 69f, 133ff, 217, 344, 443f, 579 Mehrsprachigkeit, Förderung 469 Mehrsprachigkeit, natürliche 481 Menschenrechte 247, 285, 540 Menschenrechtsbildung 247ff
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Sachregister Menschenrechtsperspektive 62, 137f Migrant Integration Policy Index 410 Migrant/in 30ff Migrant/in, erste, zweite und dritte Generation 31 Migrantenorganisationen 394, 403 Migrantenorganisationen, religiöse 72ff Migrantenselbstorganisationen (MSO) 403ff Migration 24ff, 67ff, 72ff, 87ff, 92ff, 148, 204ff Migration und Geschlecht 76ff Migration und Gesundheit 163ff Migration und Medien 119ff Migration, DDR 185f Migration, Formen und Strukturen 25f, 146 Migration, Motive und Ursachen 25f Migration, transnationale 109f Migrationsbedingte Heterogenität, Sicht- und Handlungsweisen von Lehrkräften 581 Migrationsentscheidungen 78 Migrationsforschung 26ff, 107ff, 144ff Migrationsforschung, transnationale 405 Migrationshintergrund 229f, Migrationsmuseen 421 Migrationspädagogik 188, 241, 401 Migrationspädagogische Professionalität von Lehrkräften 584 Migrationspolitik 264f, 404 Migrationspolitische Bildung 118f Migrationsprozesse, politische Steuerung Migrationsrecht 319 Migrationssozialdienst 572 Migrationssoziologie 107ff Minderheiten 37ff, 323 Minderheiten als benachteiligte Gruppen 38 Minderheiten als Machteliten 38 Minderheiten, ethnische 39 Minderheiten, kolonisierte 40 Minderheiten, nationale und regionale 38 Minderheiten, religiöse 39f Minderheiten, sprachliche 184f Minderheit 323 Minderheitenschutz 323ff Modelle, bilinguale 475 Monolingualer Habitus 481 Mündigkeit, politische 246 Multikulturalismus 271 Multikulturalität 55ff, 527 Museum 421ff Musik(en) der Welt 546 Musik in der Migrationsgesellschaft 547 Nationaler Aktionsplan Integration 550
Nationalklassen 262 Nationalkultur 492 Nationalsprachen 492 Nationalstaaten 108f, 492 Netzwerke, lokale 279 Neutralität, religiös-weltanschauliche 559 Niederlassungserlaubnis 300, 302, 309 Normalitätserwartungen 523 Ökonomisierung der Bildungspolitik 277 Orientierungskurs 407f Othering 257 Pädagogik der frühen Kindheit 198ff Paralleles Modell 454 Paralleles Modell Schulabschluss 454 Partizipation, digitale 429 Partnerwahlpräferenzen 95f, 97ff Partnerwahlprozesse, interkulturelle 100f Peers 382ff Perspektiven im Geschichtsunterricht, globalhistorische 502 Philosophie, interkulturelle 159ff Philosophiedidaktik 526f Philosophie- und Ethikunterricht 526ff PISA-Schock 264f Politikkompetenz 244, 245 Politische Bildung 243ff, 496ff Politische Bildung, Zielsetzungen 245 Politikwissenschaft 113ff Polylog, interkultureller 526 Postkolonialismus 176ff Privatschulen 334f Produktion, schriftsprachliche 476 Professionalisierung 574ff Professionalisierung des Fachpersonals 462 Professionalität, pädagogische 583 Professionsentwicklung 342 Programm Griffbereit 470 Programm Rucksack 470 Projektarbeit 462 Projektarbeit: Sprachfamilien und Einzelsprachen 483 Psychologie, indigene 130f Qualifikation von Lehrkräften, interkulturelle 581ff Race Relation Cycle 46 Rassismus 81ff, 255ff, 264 Rassismus ohne Rassen 85 Rassismus, transnationaler 258 Rassismuskritische Bildungsarbeit 255ff Rational Choice Theorie 377 Raumwahrnehmung 507f
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Sachregister
Recht auf Bildung 248 Rechtsextremismus 255 Rechtsprobleme von Migrationskindern in der Schule 328ff Reggio-Pädagogik 469 Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) 264 Regionale Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwanderfamilien (RAA) 470 Religiöse Rechte 333ff Religion 72ff Religions-Bildung, inklusive 467 Religionsfreiheit 333 Religionsgemeinschaften 530ff Religions- und Weltanschauungsfreiheit 560 Religionsunterricht 530ff Religionsunterricht für alle 532,535 Religionsunterricht, islamischer 334, 534ff Ressourcen, alltagsmathematische 521 Rotationsprinzip 262, 446 Sachfachunterricht, bilingualer 351 Sachunterricht, interkultureller 510ff Scaffolding 478 Schriftlichkeit, mehrfache 137f Schriftspracherwerb 476 Schüleraustausch 399 Schüler/innen mit Migrationshintergrund 208ff Schülerheterogenität 202ff Schulbuchforschung 235ff Schulbücher 235 Schule als Lern- und Lebensort 447 Schule der Vielfalt 447 Schuleffektivität 208, 212f Schule mit Courage 345 Schulentwicklung in sozial benachteiligten Regionen 213f Schulentwicklung, interkulturelle 214 Schulentwicklungsforschung 211ff Schule ohne Rassismus 264, 345 Schulfremdsprachen 350 Schulische Integration 453 Schulleistungsstudien 195, 212, 343 Schulmodelle, bilinguale 350 Schulmodelle in der Migrationsgesellschaft 343ff Schulnetzwerke, interkulturelle 455 Schulpädagogik 202ff Schulpartnerschaften 399 Schulpflicht 328ff, 446 Schulprogramme, bilinguale 483 Schulqualitätsforschung 207ff
Schulsozialarbeit 572 Schulzugang 330 Segregationsverbot 331 Selbstverständnis 528 Selbstverstehen 528 Situationsansatz 341 Sonderpädagogik 224ff Sonderpädagogische Selektion 224 Sonderschulbesuchsquote 227 Soziale Arbeit, diversitätsbewusste 221f Soziale Arbeit, interkulturelle 570 Soziales Kapital 379 Sozialisation 92ff, 375 Sozialisation, interkulturelle 92f Sozialpädagogik 219ff, 570 Sozialpädagog/innen 569ff Sport, interkulturell 549ff Sportvereine 395f Sportunterricht 549ff Sprachaneignungsprozesse 486 Sprachaufmerksamkeit 475 Sprachbeobachtung, lernbegleitende 478 Sprachbetrachtung, kontrastive 482 Sprachbildung 469ff Sprachbildung, durchgängige 474ff Sprachbildung, Kontinuität 477 Sprachbildungskonzepte 470 Sprachbildungsnetzwerke 346 Spracherwerb 350 Spracherwerb, Grundlagen 486f Spracherwerbsmodelle 349 Sprachförderung 346, 409, 488 Sprachförderung, fachbezogene 524 Sprachförderung, vorschulische 332 Sprachgebrauch, mündlicher 476 Sprachkurse 231, 407f Sprachlehrkräfte 565ff Sprachlernklassen 333 Sprachlernmodelle 349 Sprachportfolio 471 Sprachstandsdiagnostik 489f Sprachstandserhebungen, vorschulische 200 Sprachstandsfeststellung 332 Sprachvergleich 482 Strukturveränderungen, familiäre 571 Studienangebote in Interkultureller Bildung 587ff Studiengänge DaF/ DaZ 566 Subjektivationssprache 486 Submersives Modell 454 Subsidiär Geschütze 302 Superdiversität 352
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Sachregister Superdiversity 65 Teilintegratives Modell 454 Texte, literarische 494 Theater, interkulturelles 417ff Theater, transkulturelles 417ff Theaterpädagogik, interkulturelle 420 Theoriebildung, postkoloniale 501 Toleranzerziehung 539ff Toleranzerziehung, transzendentale 539 Traditionen, kulturelle 492 Trainer/innen, interkulturelle 557 Trainings, interkulturelle 555ff Trainings, kulturraumallgemeine 556 Trainings, kulturraumspezifische 556 Transitionsprozess 463 Transkulturalität 55ff, 544 Translanguaging 472 Transmigration 95 Traumatisierung 454 Umgang, interkultureller 173 Ungleichheit 515 Unionsbürger 295ff Unionsbürgerschaft 289 Unterricht, islamkundlicher 535 Unterricht, muttersprachlicher 264, 446 Unterrichtsfächer, naturwissenschaftliche 514ff Unterrichtsforschung 216f Unterrichtsforschung, interkulturelle 216f Unterrichtskultur 523 Unterrichtssprache 332 Urteilskompetenz, ethische 507
Vergeschlechtlichung 76f Vergleich, interkultureller 172f Vergleichende Erziehungswissenschaft 191ff Vereine 392ff Vernunft, transnationale 527 Vielsprachigkeit 475 Völkerkundemuseen 544 Völkerrecht 287, 323ff Volkshochschulen 361 Vorbereitungsklassen 263, 446, 454 Vorurteilsforschung 82f Wanderungssysteme 146 Weiterbildung 228ff, 363 Weiterbildungsteilnahme 230 Wellcome-Studie 453 Weltbürger 542 Welterbepädagogik 544 Werte, säkulare 467 Willkommenskultur 281 Wirtschaftskulturen 153f Wirtschaftswissenschaften, interkulturelle 153ff Wissen über Sprache 475 Wissensgesellschaft 365 Zentren für Islamische Theologie 536f Zielsprache, Deutsch 487 Zusatzstudiengänge 589 Zuwanderungsgesetz 265 Zuwanderungssteuerung 271 Zweitsprache Deutsch 469 Zweitspracherwerb 487
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Achour, Sabine, Dr. Professorin für Politikdidaktik und Politische Bildung; Freie Universität Berlin. Androutsopoulos, Jannis, Dr., Professor für Linguistik des Deutschen und Medienlinguistik; Universität Hamburg.
Barth, Dorothee, Dr., Professorin für Musikpädagogik und Musikdidaktik; Universität Osnabrück. Bartsch, Markus, Dr. phil., Pädagogischer Referent in der Lehrerfortbildung, Mitglied des Forums Didaktik der Philosophie und Ethik an der Ruhr-Universität Bochum; Lehrer (Gesamtschule/Gymnasium) in Nordrhein-Westfalen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Baros, Wassilios, Dr., Professor für Pädagogik mit Schwerpunkt Vergleichende Bildungsforschung; Universität Augsburg.
Becker, Peter, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP); Berlin. Bender-Szymanski, Dorothea, Dr., Privatdozentin, Wissenschaftlerin am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF); Frankfurt/M. (verstorben 2015) Blanco López, Julia, M.A., Koordinatorin der Internationalen Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit; Ludwig-Maximilians-Universität München. Bostancı, Seyran, M.A., Promotionsstipendiatin im Promotionskolleg Bildungsintegration; Stiftung Universität Hildesheim. Brade, Janine, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Schulpädagogik der Primarstufe; Technische Universität Chemnitz. Bremm, Nina, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Bildungsforschung; Universität Duisburg-Essen. Cloos, Peter, Dr., Professor für Pädagogik der frühen Kindheit; Stiftung Universität Hildesheim. Cremer, Hendrik, Dr., Mitarbeiter am Institut für Menschenrechte, Schwerpunktthemen Recht auf Asyl und Rechte in der Migration, Recht auf Schutz vor Rassismus und Kinderrechte; Berlin. Dirim, İnci, Dr., Professorin für Deutsch als Zweitsprache; Universität Wien. Dommel, Christa, Dr., Religionswissenschaftlerin und freie Autorin. Doğmuş, Aysun, Dipl.-Soz., Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lektorin im Arbeitsbereich Interkulturelle Bildung; Universität Bremen. Duarte, Joana, PhD, Professorin für Mehrsprachigkeit an der Stenden University of Applied Sciences in Emmen und Dozentin für Mehrsprachigkeit und Bildung an der Universität Groningen. Dühlmeier, Bernd, Dr., Professor für Schulpädagogik der Primarstufe; Technische Universität Chemnitz.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Escher, Anton, Dr., Professor für Kulturgeographie, Sprecher des Zentrums für Interkulturelle Studien (ZIS); Johannes Gutenberg Universität Mainz. Fürstenau, Sara, Dr., Professorin für Interkulturelle Bildungsforschung; Universität Hamburg. Geisen, Thomas, Dr., Professor für Arbeitsintegration und Eingliederungsmanagement / Disability Management; Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz, Olten. Georgi, Viola B., Dr. Professorin für Diversity Education, Direktorin des Zentrums für Bildungsintegration – Diversity und Demokratie in Migrationsgesellschaften; Stiftung Universität Hildesheim.
Göbel, Kerstin, Dr., Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Unterrichtsentwicklung; Universität Duisburg-Essen. Gogolin, Ingrid, Dr. Dr. h.c., Professorin für Interkulturelle und international Vergleichende Erziehungswissenschaft; Universität Hamburg. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Gesemann, Frank; Dr., Mitbegründer und Geschäftsführer des Instituts für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration (DESI); Berlin.
Heckmann, Friedrich, Dr., Professor (em.) der Soziologie, Co-Leiter des Europäischen Zentrums für Migrationsstudien; Universität Bamberg. Heinemann, Alisha M. B., Dr., Universitätsassistentin am Institut für Germanistik im Arbeitsbereich Deutsch als Zweitsprache; Universität Wien. Henze, Jürgen, Dr., Professor i.R. für Vergleichende Erziehungswissenschaft (Seniorprofessor), Humboldt Universität zu Berlin. Herwartz-Emden, Leonie, Dr., Professorin (em.) für Pädagogik der Kindheit und Jugend; Universität Augsburg. Herz, Andreas, Dr., Vertretung der Professur empirische Pädagogik und Forschungsmethoden; Universität Marburg (beurlaubt als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik; Stiftung Universität Hildesheim). Herzog-Punzenberger, Barbara, Dr., Leiterin des Bereichs „Migration und Bildung“, Linz School of Education; Johannes Kepler Universität Linz. Hess, Sabine, Dr., Professorin für Kulturanthropologie; Georg-Augst-Universität Göttingen. Hintermann, Christiane, Dr., Assistenzprofessorin am Institut für Geographie und Regionalforschung, Leiterin der Arbeitsgruppe Fachdidaktik Geographie und wirtschaftliche Bildung; Universität Wien. Höhne, Thomas, Dr., Professor für Erziehungswissenschaft, insbesondere gesellschaftliche, politische und rechtliche Grundlagen von Bildung und Erziehung; Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Höttecke, Dietmar, Dr., Professor für Didaktik der Physik; Universität Hamburg. Hormel, Ulrike, Dr., Professorin für Soziologie; Pädagogische Hochschule Ludwigsburg. Hornberg, Sabine, Dr., Professorin für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik im Kontext von Heterogenität; Technische Universität Dortmund.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Hunger, Uwe, Dr., Vertretungsprofessor am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Sprecher des Arbeitskreises „Migrationspolitik“ in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW). Huxel, Katrin, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Allgemeine, Interkulturelle und International Vergleichende Erziehungswissenschaft; Universität Hamburg. Karakaşoğlu, Yasemin, Dr., Professorin für Interkulturelle Bildung; Universität Bremen.
Keller, Heidi, Dr., Professorin (em.) der Psychologie an der Universität Osnabrück, Direktorin von Nevet – Greenhouse of Context-Informed Research and Training for Children in Need; Hebrew University Jerusalem. Kemmerer, Hartwig, freier Autor, Geschäftsführer i. R. VHS Hildesheim gGmbH. Klein, Uta, Dr., Professorin für Soziologie, Gender und Diversity; Christian-Albrecht-Universität Kiel. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Keküllüoğlu, Filiz, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Bildungsintegration – Diversity und Demokratie in Migrationsgesellschaften; Stiftung Universität Hildesheim.
Klopsch, Britta, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Bildungswissenschaft; Universität Heidelberg. Klotz, Sabine, Dipl.-Pol., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik; Emerging Field Initiative-Projekt „Human Rights in Healthcare“; Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg. Knauth, Thorsten, Dr., Professor für Evangelische Theologie/Religionspädagogik. Leiter der Arbeitsstelle Interreligiöses Lernen; Universität Duisburg Essen. König, Anke, Dr., Professorin an der Universität Vechta und Leiterin der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WIFF) am Deutschen Jugendinstitut e.V.; München. Kollender, Ellen, Dipl.-Pol., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich für Erziehungswissenschaft insbesondere interkulturelle und vergleichende Bildungsforschung; Helmut-SchmidtUniversität Hamburg. Kotthoff, Hans-Georg, Dr., Professor für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt International Vergleichende Bildungsforschung; Pädagogische Hochschule Freiburg. Kröhnert, Steffen, Dr., Professor für das Lehrgebiet Demografischer Wandel und Soziale Arbeit; Hochschule Koblenz. Kronig, Winfried, Dr., Professor für Sonderpädagogik am Heilpädagogischen Institut und Departement für Heil- und Sonderpädagogik; Universität Fribourg/Freiburg. Krüger-Potratz, Marianne, Dr., Professorin i. R. für Interkulturelle Pädagogik; Westfälische Wilhelms-Universität Münster. Lange, Dirk, Dr., Professor für Didaktik der Politischen Bildung; Leibniz Universität Hannover. Langenfeld, Christine, Dr., Professorin für Öffentliches Recht, Richterin des Bundesverfassungsgerichts; Georg-August-Universität Göttingen.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Lehner, Roman, Dr., Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Öffentliches Recht; GeorgAugust-Universität Göttingen. Leiprecht, Rudolf, Dr., Professor für Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt Diversity Education; Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Lengyel, Drorit, Dr., Professorin für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Erziehung und Bildung in multilingualen Kontexten; Universität Hamburg. Lindemann, Uta, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Sport und Erziehung; Universität Bielefeld.
Lotter, Vivian, M.A., Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Soziologie; MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg. Lüdi, Georges, Dr., Professor (em.) für Französische Sprachwissenschaft am Französischen Seminar, Universität Basel. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Lohrenscheit, Claudia, Dr., Professorin für Internationale Soziale Arbeit und Menschenrechte; Hochschule für angewandte Wissenschaften Coburg.
Lutz, Helma, Dr., Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung; Goethe Universität Frankfurt/M. Maksimovic, Aleksandra, Dr., Professorin für Angewandte Wissenschaften an der Universität Sabac, Serbien. Maletzky, Martina, Dr., Akademische Rätin am Lehrstuhl für Interkulturelle Kommunikation; Universität Passau. Marx, Reinhard, Dr., Publizist und Rechtsanwalt mit dem Schwerpunkt Ausländer-, Asyl- und Flüchtlingsrecht sowie Staatsangehörigkeitsrecht; Frankfurt/M. Mehringer, Volker, Dr., Akademischer Rat im Fachgebiet Pädagogik der Kindheit und Jugend; Universität Augsburg. Messerschmidt, Astrid, Dr., Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Geschlecht und Diversität; Bergische Universität Wuppertal. Metzger, Stefan, Dr., Postdoc am Forschungskolleg „Zukunft menschlich gestalten“; Universität Siegen. Meyer-Hamme, Johannes, Dr., Professor für Theorie und Didaktik der Geschichte; Universität Paderborn. Mösko, Mike, Dr., Psychologischer Psychotherapeut, Leiter der Arbeitsgruppe Psychosoziale Migrationsforschung am Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie; Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Montanari, Elke, Dr., Professorin für Deutsch als Zweitsprache; Stiftung Universität Hildesheim. Nagel, Alexander-Kenneth, Dr., Professor für Religionswissenschaft mit dem Schwerpunkt sozialwissenschaftliche Religionsforschung; Georg-August-Universität Göttingen.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Nauck, Bernhard, Dr., Professor für Soziologie, Leiter der Forschungsgruppe „Familie und Migration“; Technische Universität Chemnitz. Neubert, Stefan, Dr., apl. Professor im Lehr- und Forschungsbereich Internationale Lehr- und Lernforschung, Leiter des Kölner Dewey-Centers und des Zentrums für Internationale Beziehungen der Humanwissenschaftlichen Fakultät; Universität zu Köln. Neumann, Ursula, Dr., Professorin i. R. am Fachbereich für Allgemeine, Interkulturelle und International Vergleichende Erziehungswissenschaft; Universität Hamburg.
Oleschko, Sven, bis 10/2016 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen, seit 11/2016 Lehramtsanwärter an einer Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Oltmer, Jochen, Dr., apl. Professor für Historische Migrationsforschung, Mitglied des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien; Universität Osnabrück. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Oeter, Stefan, Dr., Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht, geschäftsführender Direktor des Instituts für Internationale Angelegenheiten; Universität Hamburg.
Otyakmaz, Berrin Özlem, Dr., Co-Leitung Forschungsprojekt zur frühen Kindheit am Fachbereich Sozialisation mit dem Schwerpunkt Migration und interkulturelle Bildung; Universität Kassel. Overwien, Bernd, Dr., Professor für Didaktik der Politischen Bildung; Universität Kassel. Öztürk, Halit, Professor Für Erwachsenenbildung/Weiterbildung; Westfälische Wilhelms-Universität Münster. Pahmeier, Iris, Dr., Professorin für Sportwissenschaft; Universität Vechta. Peez, Georg, Dr., Professor für Fachdidaktik Kunst; Goethe Universität Frankfurt/M. Prediger, Susanne, Dr., Professorin für Grundlagen der Mathematikdidaktik am Institut für Erforschung und Entwicklung des Mathematikunterrichts (IEEM); Technische Universität Dortmund. Pries, Ludger, Dr., Professor der Soziologie, Inhaber des Lehrstuhls Soziologie / Organisation, Migration, Mitbestimmung; Ruhr-Universität Bochum. Reinhardt, Anna Cornelia, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kooperativen DFG-Graduiertenkolleg „Doing Transition. Formen der Gestaltung von Übergängen im Lebenslauf“ der Goethe-Universität Frankfurt/M. und der Eberhard Karls Universität Tübingen. Rettig, Hanna, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik; Stiftung Universität Hildesheim. Riegel, Christine, Dr. habil., Professorin für Sozialpädagogik, Arbeitsschwerpunkte: Bildung und Soziale Arbeit im Kontext von Dominanzverhältnissen und sozialer Ungleichheit, Migrations-, Rassismus-, Jugend- und Intersektionalitätsforschung; Pädagogische Hochschule Freiburg. Riehl, Claudia Maria, Prof. Dr., Professorin für Germanistische Linguistik mit Schwerpunkt Deutsch als Fremdsprache, Leiterin des Instituts für Deutsch als Fremdsprache; Ludwig-Maximilians-Universität München.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Riemer, Claudia, Dr., Professorin für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache; Universität Bielefeld. Römhild, Regina, Dr., Professorin für Europäische Ethnologie; Humboldt-Universität zu Berlin. Rosen, Lisa, Dr. phil., Professorin für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft, Mitglied des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS); Universität Osnabrück.
Rudolph, Margitta, Dr., Geschäftsführerin des Bildungs- und Beratungszentrums VHS Hildesheim gGmbH. Ruhrmann, Georg, Dr., Professor für Kommunikationswissenschaft, Inhaber des Lehrstuhls Grundlagen der medialen Kommunikation und der Medienwirkung; Friedrich-Schiller-Universität Jena. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Roth, Hans-Joachim, Dr., Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik; Universität zu Köln.
Salem, Tanja, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Freudenberg Stiftung, Arbeitsschwerpunkte Mehrsprachigkeit und Sprachaneignung; Weinheim. Sandfuchs, Uwe, Dr., Professor (i.R.) für Grundschulpädagogik und Historische Pädagogik; Technische Universität Dresden. Sauerwein, Markus, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), Frankfurt/M. Schammann, Hannes, Dr., Jun.-Professor für Migrationspolitik; Stiftung Universität Hildesheim. Scharathow, Wiebke, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft, Schwerpunkte diversitätsbewusste (Sozial-)Pädagogik, Migrationspädagogik und Rassismusforschung; Pädagogischen Hochschule Freiburg. Schlegl, Christina, Produktmanagerin bei der Westermann Gruppe; Braunschweig. Schmidt, Thilo, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Pädagogik der frühen Kindheit; Universität Koblenz Landau. Schönhuth, Michael, Dr., Professor für Ethnologie mit dem Schwerpunkt kulturelle Vielfalt und Entwicklungsprozesse; Universität Trier. Schondelmayer, Anne-Christin, Dr., Jun.-Professorin für Interkulturelle Pädagogik; Technische Universität Chemnitz. Schramm, Karen, Dr., Professorin für Deutsch als Fremdsprache; Universität Wien. Schröer, Wolfgang, Dr., Professor für Sozialpädagogik; Stiftung Universität Hildesheim. Schrüfer, Gabriele, Dr., Professorin für Geographiedidaktik; Westfälische Universität Münster. Schüler-Meyer, Alexander; Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklung und Erforschung des Mathematikunterrichts (IEEM); Technische Universität Dortmund.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Schulte, Axel, Dr., apl. Professor i.R. am Institut für Politische Wissenschaft; Leibniz Universität Hannover. Schumann, Silke, Dr., Mitarbeiterin Stadtbücherei Frankfurt/M. Schweiger, Hannes, Dr., Universitätsassistenz am Fachbereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache; Universität Wien. Siegel, John, Dr., Professor für Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften, insbesondere Public Management; Hochschule der Angewandten Wissenschaften Hamburg. Sliwka, Anne, Dr., Professorin für Bildungswissenschaft; Universität Heidelberg.
Spielhaus, Riem, Dr., Professorin für Islamwissenschaft mit dem Schwerpunkt Bildung und Wissenskulturen, Georg-August-Universität Göttingen und Leiterin der Abteilung Schulbuch und Gesellschaft am Georg-Eckert-Institut, Leibniz-Institut für Internationale Schulbuchforschung. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
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Sommerlad, Elisabeth, Dipl.-Geogr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geographischen Institut, Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Sprung, Annette, Dr., Professorin am Arbeitsbereich Erwachsenenbildung/Weiterbildung des Instituts für Erziehungs-und Bildungswissenschaft; Karl-Franzens-Universität Graz. Stender, Wolfram, Dr., Professor für Soziologie an der Fakultät Diakonie, Gesundheit und Soziales; Hochschule Hannover. Sting, Wolfgang, Dr., Professor für Theaterpädagogik, Leitung des M.A.-Studiengangs Performance Studies; Universität Hamburg. Tiedemann, Markus, Dr., Professor für Philosophiedidaktik und für Ethik; Technische Universität Dresden. Thimmel, Andreas, Dr., Professor für Wissenschaft der Sozialen Arbeit, Leiter des Instituts für Kindheit, Jugend, Familie und Erwachsene; Technische Hochschule Köln. Trautmann, Matthias, Dr., Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik der Sekundarstufe I; Universität Siegen. Ueffing, Claudia M., Dr., Professorin für Interkulturelle Pädagogik in Bildung und Erziehung/ Soziale Arbeit; Hochschule für angewandte Wissenschaften München. Vieluf, Svenja, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), Frankfurt/M. Vieregge, Dörthe, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Projekt „Religion und Dialog in modernen Gesellschaften“; Universität Hamburg. Volkmann, Vera, Dr., Professorin für Sportdidaktik; Stiftung Universität Hildesheim. Weber, Susanne, Dr., Professorin für Wirtschaftspädagogik; Ludwig-Maximilians-Universität München. Weizsäcker, Esther, Dr., Rechtsanwältin mit den Schwerpunkten Arbeits- und Ausbildungsmigration, Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen und Staatsangehörigkeitsrecht; Berlin.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Westphal, Manuela, Dr., Professorin für Sozialisation mit dem Schwerpunkt Migration und interkulturelle Bildung; Universität Kassel. Wimmer, Franz Martin, Dr., Professor i. R. der Philosophie an der Universität Wien; Mitbegründer der Wiener Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie (WIGIP). Wischer, Beate, Dr., Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Profession und Organisation im Kontext von Inklusion; Universität Bielefeld.
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Wolfgarten, Tim, Dipl.-Päd., Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Interkulturelle Bildungsforschung; Universität zu Köln.
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Handbuch Interkulturelle Pädagogik
Migrationsbewegungen und Globalisierungsprozesse haben die kulturelle, sprachliche und soziale Vielfalt nachhaltig verstärkt. Die Folgen sind in allen gesellschaftlichen Bereichen, gerade auch in Bildung und Erziehung zu sehen. Über die Bildungs institutionen müssen die erforderlichen Kenntnisse, Kompetenzen und Haltungen vermittelt werden. Zugleich sollte damit ein Beitrag zum Abbau von Bildungsdisparitäten verbunden sein. Die Interkulturelle Pädagogik hat sich in den letzten Jahrzehnten als eigenständige Teildisziplin der Erziehungswissenschaft etabliert. Sie befasst sich speziell mit den migrationsbedingten Folgen für Erziehung und Bildung. Sie tut dies in engem diszip linären Kontakt mit anderen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen sowie Nachbarwissenschaften, die unter ihrer fachlichen Perspektive interkulturelle Fragestellungen aufgreifen. Das Handbuch spiegelt den erreichten Wissensstand und führt unterschiedliche Zugänge und Sichtweisen zusammen. In über 100 Beiträgen stellen etwa 150 Autorinnen und Autoren ihr Fachwissen und ihre Perspektive dar.
Ingrid Gogolin | Viola B. Georgi Marianne Krüger-Potratz Drorit Lengyel | Uwe Sandfuchs (Hrsg.)
Handbuch Interkulturelle Pädagogik
Das Handbuch wendet sich an alle, die sich im Studium, in der Praxis und in der Forschung mit den Folgen von sprachlicher, kultureller und sozialer Diversität für Erziehung und Bildung befassen.
Dies ist ein utb-Band aus dem Verlag Klinkhardt. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen.
ISBN 978-3-8252-8697-2
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Gogolin | Georgi Krüger-Potratz | Lengyel Sandfuchs (Hrsg.)
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Handbuch Interkulturelle Pädagogik, 9783825286972, 2018
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Pädagogik
09.01.18 15:29