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German Pages 204 [205] Year 2014
Hamid Reza Yousefi
Interkulturelle Kommunikation Eine praxisorientierte Einführung
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Inhalt
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Problemgeschichte der interkulturellen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Interkulturelle Kommunikation: Problemlage und Zielhorizont . . . . . . . . . 1.1.1 Frühe Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Neuere Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Zwischenbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12 12 14 17 22
2. Modelle von Kulturtransformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Was ist das – die Kultur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Sieben Orientierungen des Kulturbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Normengebende Kulturbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Geschlossene Kulturbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Intellektualistische Kulturbegriffe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Symbolisch-strukturelle Kulturbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Multikulturelle Kulturbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.6. Transkulturelle Kulturbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.7 Interkulturelle Kulturbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Zwischenbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25 25 29 30 32 36 37 40 44 46 50
3. Zum Entwurf der Interkulturalität als eine akademische Disziplin . . . . . . . . . . 3.1 Interkulturalität: Wege und Versuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Interkulturalität als Forschungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Interkulturalität und Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Sinn und Funktion interkultureller Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Pluralistische Methode der Interkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Orientierungsbereiche der Interkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Vergleichende Zugänge zur Interkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8 Zwischenbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51 52 53 56 59 62 65 68 70
4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Interkulturelle Kommunikation am Beispiel einer iranisch-deutschen Tauschfamilie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Auswahl der Tauschfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Was ist das – die Kommunikation?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Sach- und Beziehungsohren der Tauschfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Kulturelle und interkulturelle Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.5 Warum Situativität, Kontextualität und Individualität? . . . . . . . . . . . 4.1.6 Methoden eines kontextuellen Kommunikationsmodells . . . . . . . . . . 4.1.7 Imperativ einer interkulturellen Orientierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Wie ist Kommunikation möglich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Das Eigene und das Andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Interkulturelle Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71 71 72 75 76 78 79 81 82 83 83 90
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Inhalt
4.2.3 Interkulturelle Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Interkulturelle Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Interkulturelle Komparatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.6 Interkulturelle Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.7 Interkulturelle Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Zwischenbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95 100 106 112 123 134
5. Versuch einer Entwicklung dialogischer Pädagogik der Interkulturalität aus kulturwissenschaftlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Komponenten einer Pädagogik der Interkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Interkulturell-kontextuelle Kulturpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Interkulturell-kontextuelle Erwachsenenpädagogik . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Interkulturell-kontextuelle Berufspädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Interkulturell-kontextuelle Sozialpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.5 Interkulturell-kontextuelle Medienpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Theorie und Praxis einer interkulturell-kontextuellen Didaktik . . . . . . . . . 5.3 Pluralistische Methodenkomposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Zwischenbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
136 137 138 138 139 140 141 142 145 146
6. Theoretische und praktische Hindernisse interkultureller Kommunikation . 6.1 Zu Inklusivität und Exklusivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Zur Rolle der Vorurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Zur Geographisierung des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Zur positiven und negativen Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Zur ablehnenden Anerkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Zwischenbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
147 148 149 153 158 165 167
7. Funktionen der Medien als Aufklärungsorgane der Gesellschaft . . . . . . . . . . . 7.1 Konfliktjournalismus vs. Friedensjournalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Das Iranbild und das Deutschlandbild im Ländervergleich . . . . . . . . . . . . . 7.3 Zwischenbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
169 170 172 174
Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Begriffserklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
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„Molla Nasreddin geht auf den Markt, um seinen Truthahn zu verkaufen. Er stellt sich direkt neben den Besitzer eines Papageis, der zehn Pfund kosten soll. Der erste Kaufinteressent ruft empört: ‚Bist Du wahnsinnig? Der Papagei kann sprechen und kostet nur zehn Pfund, und du verlangst für deinen Truthahn zwanzig?‘ Molla erwidert: ,Mein Truthahn kann ja auch mehr als sprechen. Er kann zuhören.‘“ Molla Nasreddin
Einleitung
Meine Absicht ist, das Interesse an einer echten Verständigung mit kulturell und religiös Anderen zu wecken und gleichsam auf neue Grundlagen zu stellen. Dabei formuliere ich eine praktische Theorie der Kommunikation. Meine These ist: Im Weltalter der Globalisierungen, die viele Dimensionen unseres Lebens beeinflussen und verändern, besteht ein grundlegender Revisionsbedarf in der Debatte um Interkulturalität und interkulturelle Kommunikation. Wir benötigen neue Umgangsformen, um eine tragfähige Kommunikation in interkultureller Absicht gestalten und pädagogisch angemessen vermitteln zu können. Merke: Eine zentrale Aufgabe einer solchen Umgangsform besteht darin, die Wirklichkeit wissenschaftlich zu beobachten und pädagogisch-dialogisch zu vermitteln. Die tragende Theorie einer solchen Umgangsform der Interkulturalität ist das Ergebnis eines fragend-verstehenden Konzeptes, in dem sich das eigene Bild des Eigenen und des Anderen mit dem anderen Bild des Eigenen und des Anderen reziprok korrigierend ergänzen.
Dieses Vorgehen ist darauf ausgerichtet, eine Form des Wissens zu vermitteln, mit der ein ‚denkender‘, ‚lernender‘ und ‚verstehender‘ Umgang zwischen der Selbstbehauptung des Eigenen und des Anderen im Kontext der Vielfalt möglich wird. In diesem Ethos greifen Verstehen-Wollen und Verstandenwerden-Wollen des Eigenen und des Anderen kritischdialogisch ineinander, ohne sich gegenseitig aufeinander zu reduzieren. Darin liegt die zentrale Bedeutung einer Pädagogik der Interkulturalität, einer geteilten Verantwortung, deren Ausrichtung stark praxisdienlich ist. Eine solche Pädagogik der Interkulturalität tangiert im engeren Sinne Bereiche der interkulturellen Kommunikation und geht von einem spezifischen Verständnis der Pädagogik aus. Insofern ist keine Erziehungswissenschaft oder Pädagogik gemeint, auch keine ausländerpädagogische Konzeption. In meiner Studie wird der Ausdruck „Pädagogik“ im Sinne einer dialogischen Erziehung, genauer einer Begegnungspädagogik verstanden, die denkend, lernend und verstehend verfährt. Merke: Die Frage nach einer dialogischen Pädagogik der Interkulturalität ist stets mit der Frage: „Wozu Interkulturalität?“ verbunden. Diese beschreibt den Übergang von einer vergangenheitsorientierten Kommunikationsform in ein zukunftsorientiertes Miteinander durch selbstüberwindende Erziehungsmaßnahmen, die wir uns im Sinne eines interkulturellen Imperativs auferlegen, soweit ein bedingungsloses Interesse an einer kommunikativen Begegnung mit dem Anderen besteht. In dieser Aussage liegt die Begründung und zugleich die Eingrenzung meines Vorhabens.
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Einleitung
Grundlegend ist hierbei die praktisch-sachliche und ethisch-moralische Akzeptabilität einer Handlung, die von allen Kommunizierenden, wenn auch unterschiedlich, denkend und verstehend bejaht wird. Eine Aufgabe dieser Form von Pädagogik ist die kommunikationstransparente Praxis einer kontextuellen Kreativität, die sich im Sinne von Humboldts Bildungstheorie mit der Verschiedenheit von Köpfen und der Mannigfaltigkeit von Wegen in Beziehung setzt. Pädagogik wird hier somit nicht als eine Handlungslehre aufgefasst, sondern, wie Humboldt selbst erwähnt, als eine Anleitung zur Selbstreflexion. Lernender Umgang bedeutet in diesem konkreten Sinne: denkender Umgang. Ein solches pädagogisches Einwirken auf den einzelnen Menschen vermag, zur Förderung interkultureller Kommunikation beizutragen. Tauschfamilien Die Erkenntnisse dieser interdisziplinären Studie gehen auf eine Reihe von Gesprächen in den letzten fünfzehn Jahren mit deutschen und iranischen Familien, nicht zuletzt auch mit interkulturellen Familien (ein deutsches und ein iranisches Elternteil) zurück, die für kürzere oder längere Zeit im Iran oder in Deutschland gelebt haben. Die Lesenden können die Tauschfamilien freilich durch beliebige andere Tauschfamilien aus unterschiedlichen Kontinenten und Ländern ersetzen, mit denen sie ähnliche oder andere Erfahrungen gemacht haben. Die Auswahl einer deutsch-iranischen Familie beruht darauf, dass der Verfasser in einer solchen interkulturellen Partnerschaft lebt. Zahlreiche Einsichten habe ich darüber hinaus in einer Reihe von Veranstaltungen an den Universitäten Koblenz und Kaiserslautern bei Gesprächen und Diskussionen mit Studierenden gewinnen können. Ansätze des vorliegenden Studienbuches habe ich im Rahmen eines anderen Buchprojektes mit der Gymnasiallehrerin Ina Braun entwickelt, welches bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienen ist.1 Diese Ausgabe ist ein komplettierter und völlig neu strukturierter Versuch, die Thematik für Wissenschaftler, interessierte Laien, Reisenden oder Journalisten, so plausibel wie möglich und ausführlich wie nötig zu erläutern. Am Ende des Buches gibt es ein kleines Wörterbuch, in dem alle Fremdwörter erklärt sind. Merke: Mein Ansatz lehnt eine Totalität oder gar den Anspruch auf eine solche ab und stellt sich kritisch hinterfragend selbst auf die Probe, ohne dass eine strikte Dogmatik der Interkulturalität aufgestellt würde. Dieser Ansatz will andere Konzepte weder ausschließen noch ersetzen, sondern weiterführend ergänzen. Mein Ansatz versteht sich als eine dynamische Lesart, die von einer starken Standpunktbeweglichkeit getragen wird. Ein solches Vorgehen lässt daher genügend Raum für ambivalente, vielleicht sogar nonkonforme Thesen. Diese Maxime gilt für das gesamte Konzept des vorliegenden Buches.
Aufbau der Studie Die Studie ist in sieben Kapiteln untergliedert, die aufeinander aufbauen und eine heterogene Einheit bilden. Ich gehe dabei wie folgt vor: Im ersten Kapitel führe ich in die Geschichte und Gegenwart interkultureller Kommunikation ein. Dabei diskutiere ich zunächst die Kommunikationstheorien von Jürgen Habermas (*1929) und Friedemann Schulz von Thun (*1944). Es werden ihre Einseitig1 Vgl. Yousefi, Hamid Reza und Ina Braun: Interkulturalität, 2011.
Einleitung
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keiten analysiert und gleichsam begründet, warum diese, insbesondere im Sinne einer Pädagogik der Interkulturalität, einer weiterführenden Kritik zu unterziehen sind. Im zweiten Kapitel analysiere ich, kritisch weiterführend, einige moderne Theorien des Kulturbegriffs, wie normengebende, geschlossene, intellektualistische und symbolischstrukturelle, multikulturelle, transkulturelle und interkulturelle Konzepte. Es wird herausgearbeitet, dass die ersten sechs Orientierungen des Kulturbegriffes teilweise zu eng oder zu weit gefasst sind und zu einer transparenten Kommunikation in interkultureller Absicht nicht wirklich beizutragen vermögen; die ersten fünf Konzepte verfahren teilweise stufentheoretisch und kulturhierarchisch. Zur Positionierung der interkulturellen Orientierungen des Kulturbegriffs in der aktuellen Diskussion werden in einem weiteren Schritt die Ansätze der Trans- und Multikulturalität von Wolfgang Welsch (*1944), Charles Taylor (*1931) und Homi K. Bhabha (*1949) vorgestellt und mit der Disziplin der Interkulturalität in Beziehung gesetzt. Eine solche Analyse soll deutlich machen, wie diese miteinander in Beziehung stehen und wo Konvergenzen und Divergenzen sowie Schnittmengen zwischen den drei Theorien liegen. Aufbauend auf dem interkulturellem Konzept des Kulturbegriffs wird die Kulturtheorie von Dieter Senghaas (*1940) vorgestellt, die nicht nur von externen, sondern auch von internen Ausdifferenzierungen der Kulturen ausgeht. Anschließend wird im dritten Kapitel das Thema Interkulturalität aufgegriffen und diese in ihrer Struktur als akademische Disziplin auf der Grundlage eines erweiterten Kulturbegriffs eingeführt. Zur Darstellung kommen Sinn und Funktion einer interkulturell orientierten Forschung. In einem weiteren Schritt wird zwischen drei methodischen Teilbereichen der Interkulturalität unterschieden: historischer, systematischer und vergleichender Interkulturalität. Die methodische Ausrichtung der Interkulturalität ist der pluralistischen Methode der Pädagogik der Interkulturalität ähnlich, die im zweiten Kapitel vorgestellt wird. Im vierten Kapitel folgt die umfassende Erläuterung interkulturell-kontextueller Kommunikation und ihrer Dimensionen. Hierbei werden acht Korrelatbegriffe interkultureller Kommunikation vorgestellt. Es handelt sich neben der Frage nach dem Eigenen und dem Anderen auch um die Vorstellung von jeweils interkultureller Kompetenz, Semantik, Hermeneutik, Komparatistik, Toleranz und Ethik. Diese Begriffe stehen in allen Formen der interkulturellen Kommunikation auf einer spezifischen Weise miteinander in Wechselbeziehung. Hierbei werden auch die im zweiten Kapitel beschriebenen fünf Dimensionen einer Pädagogik der Interkulturalität einbezogen. Die Chancen, aber auch die Probleme interkultureller Kommunikation sollen anhand zweier Familien – einer aus Deutschland und einer aus dem Iran – verdeutlicht werden. Die Mitglieder haben sich zum „Tausch“ bereit erklärt, so dass die deutsche Mutter mit Tochter zu dem iranischen Vater mit Sohn umzieht, während die iranische Mutter mit Tochter nach Deutschland kommt. Diese als Tauschfamilien gekennzeichneten Patchwork-Gruppen sprechen verschiedene Sprachen, gehören verschiedenen Kulturregionen und Religionen an und haben verschiedene Ausbildungen genossen. Die Begegnung wird in lernender Absicht eröffnet und soll dazu führen, dass die Würde der Konvergenzen und Divergenzen anerkannt wird. Die Tauschfamilien sind nicht auf sich selbst zurückgeworfen, wenn es Unzulänglichkeiten gibt. Sie sollen sich gegenseitig unterstützen, weil sie wissen, dass nicht immer allgemeinverbindliche Lösungen bereitstehen. Darauf aufbauend wird im fünften Kapitel die Idee einer kontextuellen Pädagogik der Interkulturalität vorgestellt und die Zukunftsfrage dieser Disziplin umrissen. Kontextuell
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Einleitung
zu verfahren bedeutet, die Mannigfaltigkeit von Diskursfeldern kultursensitiv zu berücksichtigen. Zur Darstellung kommen unter jeweils kontextuellem Aspekt die Dimensionen von kulturpädagogischen, erwachsenenpädagogischen und sozialpädagogischen, berufspädagogischen sowie medienpädagogischen Positionen. Erläutert wird abschließend auch die pluralistische Methodenkomposition einer Pädagogik der Interkulturalität. Im sechsten Kapitel komme ich auf die strukturellen Probleme der interkulturellen Kommunikation zu sprechen. Hierzu gehört die Debatte um Exklusivität und Inklusivität, die Rolle von Vorurteilen sowie die Frage nach der Problematik der ablehnenden Anerkennung. Abschließend erläutere ich einige Funktionen der Macht. Dabei wird gezeigt, dass Macht die bestimmende Achse der Kommunikation auf jedwedem Gebiet bildet. Hier werden unterschiedliche Machtfunktionen diskutiert, positive wie negative Arten. Auf diesem Wege kommt auch die Idee der „Geographisierung des Denkens“ am Beispiel der west-östlichen Vernunft zur Darstellung. Sie geht auf Richard Nisbett (*1941) zurück, der der Ansicht ist, dass rationales Denken europäisch-westlich und mystisch-holistisches Denken ausschließlich asiatisch sei. Weil sich eine Reihe der Probleme interkultureller Kommunikation auf die Medienberichterstattung zurückführen lassen, wendet sich das Thema des siebten Kapitels der Beschreibung medialer Berichterstattung zu. Bei diesem Abriss wird von zwei Formen des Journalismus ausgegangen: dem Konflikt- und dem Friedensjournalismus. Während ersterer stark divergenzorientiert ist, sucht letzterer Konvergenzen und Divergenzen zugleich, um ein ausgewogenes Gesamtbild des Sachverhaltes zu gestalten. In einem zweiten Schritt wird kurz umrissen, wie der Iran in den deutschen Medien dargestellt wird und wie Deutschland in den iranischen Medien erscheint. Das Konzept des Buches auf einen Blick
Problemgeschichte der Interkulturellen Kommunikation
Modelle von Kulturtransformationen
Interkulturalität als akademische Disziplin
Interkulturelle Kommunikation als Teildisziplin der Interkulturalität
Dialogische Pädagogik der Interkulturalität
Hindernisse der Interkulturellen Kommunikation
Funktionen der Medien
Einleitung
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Meine Hoffnung ist, dass die Leser dieser Studie einen ergötzlichen Blick auf das facettenreiche Thema „Interkulturelle Kommunikation“ aus den kontextvariablen Perspektiven der Tauschfamilien erhaschen können. Für wertvolle Anregungen und Hinweise wissenschaftlicher, methodischer sowie didaktischer Art bleibe ich neben Ina Braun, Hans-Gerd Hamacher, Hans Dieter Aigner und Jürgen Pferdekamp auch Benjamin Landgrebe von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft für seine beratende Begleitung zu Dank verpflichtet. Mein Dank gilt auch den Studierenden in Koblenz, die mich seit dem Beginn dieses Projektes in meinen Seminaren mit Interesse und Bereitschaft begleiten und mich motiviert haben, dieses Buch zu verfassen. Hamid Reza Yousefi Trier, im August 2013
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1. Problemgeschichte der interkulturellen Kommunikation
1. Problemgeschichte der interkulturellen Kommunikation
Das Konzept des Kapitels auf einen Blick Problemgeschichte der Interkulturellen Kommunikation
Interkulturelle Kommunikation Problemlage und Zielhorizont
Frühe Aspekte
Neuere Konzepte
Zwischenbilanz
1.1
Interkulturelle Kommunikation: Problemlage und Zielhorizont
Kommunikation unter Menschen ist ein vielschichtiger Prozess, dessen Gelingen von vielerlei Komponenten abhängig ist.1 Es ist allgemein bekannt, dass die basale Form der Kommunikation mindestens zwischen zwei Personen stattfindet. Mit der Erweiterung um Einzelpersonen und Gruppen nimmt dieser Prozess an Komplexität zu. Kommunikation erhält durch Pluralität eine neue und kontextuell unterschiedliche Dynamik, besonders dann, wenn die Kommunizierenden aus verschiedenen Kulturregionen der Welt aufeinander treffen und unterschiedliche Faktoren, wie sozialisatorische, religiöse, kulturelle, philosophische, soziologische, sprachliche oder ethnologische, eine Rolle spielen. Diese Faktoren verändern die internen Bedingungen, unter denen Mitteilungen der Kommunikationsteilnehmer verstanden werden können. Sie verändern unter Umständen aber auch Richtung, Ziel und Stil der Kommunikation; dies wird in der Semiotik als pragmatische Dimension von Zeichensystemen bezeichnet. Nur unter Berücksichtigung dieser Elementarvorgänge, die Kommunikation konstituieren, kann überhaupt etwas Sinnvolles über einen sehr komplexen Vorgang wie interkulturelle Kommunikation gesagt werden. Betrachten wir die Geschichte der interkulturellen Kommunikation, so wird ersichtlich, dass es eine Reihe von Gründen gibt, die zum Scheitern eines jeden Dialogs führen müssen. 1 Im Rahmen anderer Studien habe ich das Konzept der interkulturellen Kommunikation ansatzweise vorgestellt und diskutiert, worauf hier grundsätzlich verwiesen sei. Vgl. Yousefi, Hamid Reza: Interkulturalität und Geschichte, 2010 und Interkulturalität (mit Ina Braun), 2011.
1.1 Interkulturelle Kommunikation: Problemlage und Zielhorizont
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Merke: Ein Kommunikationsdilemma entsteht, wenn eigenkulturelle Normvorstellungen mit denen der Anderen in Widerspruch stehen. Besonders problematisch wird es, wenn die Eigenlogik des Anderen ausschließlich durch die Brille der kulturellen, religiösen, sozialen oder politischen Eigenlogik des Eigenen betrachtet wird.
Viele Politiker oder Wissenschaftler halten bspw. Religion für eine reine Privatsache und betonen, dass die „modernen Staaten“ kein Verhältnis zur Religion hätten, weil sie säkular seien. Zugleich vertreten diese Politiker oder Wissenschaftler die Auffassung, dass ein Dialog mit Extremisten scheitern müsse, weil diese nur eigene Ansichten zuließen. Dabei sind sich diese Meinungsvertreter jedoch nicht bewusst, dass auch sie extremistisch denken, wenn sie ihrerseits nicht erkennen, dass es Staaten gibt, in denen Religion über den privaten Bereich hinaus als staatliche Angelegenheit angesehen wird, und dass ihre Auffassung hierüber ebenfalls eine rigide Komponente enthält. Das paradoxe Verhältnis expliziert sich dadurch, dass dem Ausdruck „Moderne Staaten“ die Verabsolutierung einer bestimmten Haltung immanent ist, die gutgeheißen wird. Merke: Dem kontextuellen Ansatz zufolge ist diese Verfahrensform gewaltgeladen, weil sie eine Verwirklichungsgestalt der Regierungsform verabsolutiert und universalisiert. Der Ausdruck „Kontext“ beschreibt stets ein Handlungsfeld.
Werden Kontextualitäten marginalisiert, so werden Gesellschaften, in denen Religionen lebendig sind und in allen Belangen der Menschen eine Rolle spielen, als „nicht moderne Staaten“ deklariert, somit abgewertet und dementsprechend behandelt. Hier zeigt sich ein dichotomisierender Gesinnungskampf zwischen zwei Modellen. Dieses einseitige Verhalten birgt eine dogmatische Explosivität in sich, die jederzeit zum Ausbruch kommen kann. Darin liegt eine strukturelle Gefahr der Kommunikation auf jedwedem Gebiet. Die Debatten um das Kopftuch oder das Kreuz in den deutschen Schulen sind die bekanntesten Streitfragen dieses Kampfes. Diese und ähnliche Debatten sind in erheblichem Maße ausschließlich differenzorientiert. Merke: Viele Dialogbemühungen scheitern, weil sie nach einem dichotomen Muster verfahren, das nur Wahr und Unwahr, Wir und Ihr, Gut und Böse, Richtig und Falsch oder indifferente Haltungen kennt. Diese Mentalität können wir sowohl in Wissenschaft und Politik als auch in den sozialen Gemeinschaften beobachten.
In der Geistesgeschichte der letzten siebzig Jahre findet man kaum eine Theorie der Kommunikation, welche die Kontextualitäten des Anderen responsiv aus der jeweiligen Perspektive des Anderen zu Wort kommen lässt. In der Regel werden Kontextualitäten aus dem Eigenen heraus thematisiert und als ein Akt des Pluralismus bezeichnet. Treten jedoch neben vermeintliche Divergenzen auch erhellende Konvergenzen ins Blickfeld, so wird klar, dass ein konstruktiver und weiterführender Dialog erst dann beginnen kann, wenn Menschen die Sicht des Anderen nicht missachten, sondern bedingungslos dialogbereit sind. Denn, um bei unserem Beispiel der Rolle der Religion im Staat zu bleiben, die Grenzen zwischen Tradition und Moderne sind fließend.2 2 Vgl. hierzu Zager, Werner (Hrsg.): Die Macht der Religion, 2008.
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1. Problemgeschichte der interkulturellen Kommunikation
Ich habe das Thema Religion als Beispiel gewählt, weil die Fragen nach Werten und Normen, Toleranz und Intoleranz, Menschen- und Weltbildern sowie religiöser Selbst- und Fremdwahrnehmung in besonderer Weise hiervon abhängig zu sein scheinen. Je nach Kontext können diese Fragen unterschiedlich gestellt und beantwortet werden. Die historisch gewachsenen Muster sind zu überführen in eine dialogische Pädagogik der Interkulturalität. Damit soll der gewandelten Verfassung kultureller Kontexte Rechnung getragen und diese konstruktiv gefördert werden. Hierbei ist es von Bedeutung, zu analysieren, wie sich Konzepte zur interkulturellen Kommunikation entwickelt haben. Kommunikation zwischen Menschen, die sich mit verschiedenen Kulturen, Religionen und Traditionen identifizieren, ist ein Spezialfall von Dialogen unter besonderen Rahmenbedingungen und das Ergebnis einer höherstufigen Reflexion. 1.1.1 Frühe Ansätze Theoretische Ansätze zur Kommunikationsforschung sind aus vielerlei Disziplinen hervorgegangen. Hierzu gehören neben der Ethnologie und der Soziologie, die sich mit dem sozialen Verhalten und der Massenkommunikationsforschung beschäftigen, auch Kulturund Sprachwissenschaften, Hermeneutik, Diskursanalyse oder Sprechakttheorie. Diese Bereiche analysieren die Bedeutung der Kommunikation in unterschiedlichen Diskursfeldern. Eine weitere Entwicklung, die ebenfalls zum Kommunikations- und Verstehensprozess beiträgt, ist der moderne Konstruktivismus, nach dem das menschliche Lernen und das Erleben vor allem durch kognitive und soziale Prozesse beeinflusst wird. Einer der ersten Philosophen, die sich systematisch mit der Frage nach menschlicher Kommunikation beschäftigt haben, ist der Weltphilosoph Karl Jaspers (1883–1969). In den 1940er Jahren erhob Jaspers die Kommunikation zum zentralen Begriff seiner Philosophie. Er unterscheidet zwischen „Daseinskommunikation“ und „existentieller Kommunikation“. Während Erstere sich auf den Daseinskampf um Macht und Übermacht sowie den Zusammenschluss bestimmter Gemeinschaften bezieht, um gemeinsame Ziele zu erreichen, setzt Letztere auf die Macht des gemeinsamen Verstehens auf gleicher Augenhöhe. Hier entwickelt der Mensch seine eigene Existenz in Kommunikation mit anderen Menschen.3 Vernunft entfaltet sich am besten in der existenziellen Kommunikation, die Jaspers als „grenzenloser Kommunikationswille“ bezeichnet. Die zentrale Aufgabe der Philosophie sieht Jaspers in der Umsetzung eines solchen grenzenlosen Kommunikationswillens. Merke: Kommunikation in einem solchen Sinne macht sich bemerkbar, wenn uns nach Hans-Georg Gadamer (1900–2002) „im anderen etwas begegnet ist, was uns in unserer eigenen Welterfahrung so nicht begegnet war.“. Dialog hat „eine verwandelnde Kraft. Wo ein Gespräch gelungen ist, ist in uns etwas geblieben, das uns verändert hat.“4
Nach dem allmählichen Ende des kolonialen Zeitalters, das mit vielschichtigen Umwälzungen verbunden ist, werden nach dem Zweiten Weltkrieg im angelsächsischen Raum eine Reihe von Kommunikationstheorien entwickelt. Die Befreiung der ehemals beherrschten Völker erfordert ein neues Selbst- und Fremdverständnis, weil sich das Andere, das bislang Beherrschte, zunehmend mit eigenen Lösungsvorschlägen zu Wort meldet.
3 Vgl. Jaspers, Karl: Vernunft und Existenz, 1987 S. 72 und Philosophie, Bd. I, II und III, 31956. 4 Gadamer, Hans-Georg: Die Unfähigkeit zum Gespräch, 1999 S. 207, 211, 213 und 215.
1.1 Interkulturelle Kommunikation: Problemlage und Zielhorizont
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Die Forschungen zu jener Zeit zeigen zwei Ausrichtungen: den „Kulturellen Dialog“ und den „Kulturellen Kritizismus“. Grundlage des Kulturellen Dialogs ist die Erforschung der Bedingungen, unter denen Mitglieder verschiedener Kulturen, ohne unkorrigierbares Missverstehen, miteinander kommunizieren können. Dabei ist der Wille vorauszusetzen, überhaupt kommunizieren zu wollen. Der Kulturelle Kritizismus widmet sich Konflikt erzeugenden Elementen in Kulturen, um diese im Vorfeld von Begegnungen zu analysieren und Möglichkeiten zur Beseitigung von Dialogbarrieren aufzuzeigen. Wenngleich beide Verfahren dazu geeignet sind, die Vorbedingungen für das Gelingen interkultureller Kommunikation zu verbessern, wird der Suche nach universellen Gemeinsamkeiten, insbesondere beim kulturellen Kritizismus, kaum Bedeutung beigemessen. Außerdem gehen beide Ausrichtungen von einem essentialistischen Kulturverständnis aus, das Kulturen als Gebilde ansieht, die a) in sich selbst homogen sind und b) geschlossene Einheiten darstellen, die einander nicht durchdringen und sich deswegen mit anderen Kulturen nicht vermischen können. Edward Twitchell Hall (1914–2009) führt das Kompositum „Intercultural Communication“ in die Literatur ein. Bei seinen anthropologischen Analysen kommt er zu dem Ergebnis, dass Kultur im eigentlichen Wortsinn Kommunikation bedeutet. Dies hängt damit zusammen, dass menschliche Handlungen, gleichwie sie ausgedrückt sein mögen, stets an Bedeutungen gekoppelt sind, die er als „verborgene Signale“ bezeichnet.5 Nach diesem Muster wird Kommunikation umso verständlicher, je mehr wir diese Signale richtig interpretieren. Ward Goodenough (*1919) zählt auch zur Gründergeneration der Kommunikationsforschenden, die eine essentialistische Betrachtungsweise pflegen.6 Im Jahre 1956 lenkt er den Blick darauf, dass Kultur in großen Teilen ein kognitives Faktum ist und der sprachliche Ausdruck durch Überzeugungen und Wertvorstellungen des Individuums wie auch des Kollektivs bestimmt wird. Goodenough lenkt den Blick von der ehemals reinen Betrachtung von Kunst- und Gebrauchsgegenständen auf die Bedeutung der Kommunikation. In jenem Jahr legt ein weiteres Autorenkollektiv unter Alfred Louis Kroeber (1876– 1960) und Clyde Kluckhohn (1905–1960) Arbeiten über Werte in verschiedenen Kulturen vor.7 Sie tragen eine Reihe von Kulturdefinitionen zusammen, um die Mannigfaltigkeit der Formen von Verständnis zu demonstrieren. Danach gerät die Frage nach interkultureller Kommunikation für ein Vierteljahrhundert in den Hintergrund. Im Jahr 1981 greift Thomas Kochmann das Thema der Kommunikationsforschung erneut auf und weist unterschiedliche Frage-Antwort-Sequenzen bei Schwarzen und Weißen als Grundform „interethnischer“ Missverständnisse nach. Hiermit erweitert er die Grenzen der Kommunikationsuntersuchung um den Aspekt der Kulturgebundenheit.8 In jener Zeit nimmt das Verständnis um den Kulturbegriff für die Kommunikationsforschung an Bedeutung zu. Dabei wird das herrschende essentialistische Kulturverständnis in Frage gestellt. Kulturen werden nun als Phänomene angesehen, die a) nicht homogen, vielmehr auch in sich selbst heterogen sind und b) untereinander nicht wie Billardkugeln aufeinanderprallen, sondern von Durchlässigkeit gegenüber anderen Kulturen geprägt sind. Eine weitere
5 6 7 8
Vgl. Hall, Edward Twitchell: Verborgene Signale, 1985 S. 20. Vgl. Goodenough, Ward E.: Componential analysis and the study of meaning, 1956. Vgl. Kroeber, Alfred Louis und Clyde Kluckhohn: Culture: A Critical Review of Concepts and Definitions, 1963. Vgl. Kochman, Thomas: Black and White Styles in Conflict, 1981.
16
1. Problemgeschichte der interkulturellen Kommunikation
Erkenntnis ist die Reziprozität der Kulturentstehung: Der Mensch als kulturstiftendes und kulturempfangendes Wesen prägt zwar die Kultur und die Gesellschaft, aber auch er selbst wird von beiden geprägt und bestimmt. So bleibt selbst die Befriedigung elementarster Bedürfnisse, außer unter ungewöhnlichen Umständen, immer im Bann der Regeln, die von Gebräuchen und Gewohnheiten diktiert werden. Das Forschungsfeld der interkulturellen Kommunikation ist seit dieser Zeit konstitutiver Bestandteil einer Reihe wissenschaftlicher Disziplinen, allen voran die Medienwissenschaft, Psychologie und Anthropologie, hier insbesondere die kognitive Anthropologie. Die Kommunikationswissenschaften wirken in letzterer Disziplin expandierend insofern, als sie den anthropologischen Blick schärfen. Die Konstitution ethnischer Identität wird nun endgültig als ein sprachlicher Prozess aufgefasst.9 Edward Stuart schafft im Jahr 1973, mit der Zusammenführung einzelner Forschungsrichtungen, die theoretische Basis einer Disziplin der interkulturellen Kommunikation als eines interdisziplinären Forschungsfeldes.10 Er erhebt Kultur zu einem Schlüsselbegriff. Unter interkultureller Kommunikation wird nunmehr das Verhältnis zwischen Kultur und menschlicher Interaktion verstanden. Im Iran wird 1977 das erste Iranische Zentrum für Studien der Kulturen gegründet, das bis heute fortbesteht.11 Zu den Aufgaben dieses Zentrums gehört die Förderung des Dialogs der Kulturen durch die Übersetzung von Werken der Philosophen im Weltkontext in die persische Sprache, wie auch die systematische Erforschung des Eurozentrismus in der Weltliteratur und insbesondere in der Wissenschaft. Im gleichen Jahr entwickelt Munasu L. J. Duala-M’bedy (*1939) die Xenologie als eine wissenschaftliche Disziplin, um Einseitigkeiten in der Sichtweise der europäisch-westlichen Ethnologen zu überwinden. Er stellt sich die Aufgabe, „unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten das Problem der geistigen Konfrontation mit Völkern zu untersuchen, die bis dato am Rande europäischer Geschichtsphilosophie behandelt worden sind und damit grundsätzlich eine menschlich derogative Sonderstellung entweder eingenommen haben oder noch nehmen. Das Thema […] ist also implizit die Kritik an einer Verzerrung des Menschenbildes, die […] seit der europäischen Renaissance zu einem Charakteristikum des europäischen Denkens geworden ist.“12
Für Duala-M’bedy gibt es „keinen Identitätsbezug für die Fremdheit, insofern ist das Fremde ein relativer Begriff.“13 In einer umfassenden Quellendokumentation zeigt er auf, dass das seit der Renaissance das aufkommende Menschenbild unter ethnologischen Gesichtspunkten zur Polarisierung der Welt in einerseits die „wilden und primitiven Naturvölker“ und andererseits die „kultiviert-zivilisierten Europäer“ gebraucht wurde. Duala-M’bedy ist der Ansicht, dass es „so etwas wie einen kategorischen Fremden in der Welt und in der Geschichte nicht gibt. […] Da es keinen Fremden per se gibt, wird Fremdheit erzeugt […], zum Fremden wird durch den geschichtlich erzielten Umstand des Milieudenkens gemacht.“14
9 Vgl. hierzu Moosmüller, Alois: Kulturelle Differenz, 2009. 10 Vgl. Stewart, Edward: Outline of Intercultural Communication, 1973. 11 Die Bibliothek dieses Zentrums umfasste etwa 40 000 Bücher aus dem Bereich der Geistes- und Humanwissenschaften in verschiedenen Sprachen, darunter Französisch, Deutsch, Englisch, Arabisch, Hindi und Farsi. Vgl. Gächter, Afsaneh: Daryush Shayegan interkulturell gelesen, 2005. 12 Duala-M’bedy, Munasu L. J.: Xenologie, 1977 S. 13. 13 Duala-M’bedy, Bonny L. J.: Was ist die Wissenschaft von der Xenologie, 1992 S. 19. 14 Vgl. Duala-M’bedy, Munasu: Xenologie, 1977 S. 14 und 17.
1.1 Interkulturelle Kommunikation: Problemlage und Zielhorizont
17
Die systematische Einführung der Xenologie ändert den wissenschaftlichen Blick über Themenbereiche der interkulturellen Kommunikation, weil das Andere sich mit eigenen Lösungsvorschlägen zu Wort meldet. John Condon und Fatih Yousef sind im Jahre 1975 bestrebt, die bestehenden Kulturtheorien zu erweitern.15 Sie gehen von der völligen Gleichwertigkeit aller Kulturen aus und verstehen unter Kultur ein allumfassendes System, das Menschen grundlegend prägt und beeinflusst. Dadurch, dass für die Autoren alles gleich richtig und gleich gut ist, verfahren sie stark relativierend. Mit dem „Handbook of Intercultural Communication“ von Molefi Kete Asante (*1942) gewinnt die interkulturelle Kommunikation im Jahre 1979 eine neue Dimension. Die Maxime dieses Handbuches ist: „Lebe, was du predigst“16, und zielt darauf ab, zu einer Übereinstimmung von theoretischer und praktischer Lebensführung zu gelangen. Abdoldjavad Falaturi (1926–1996) entwickelt im Laufe der 1980er Jahre das weltweit erste Forschungsprojekt: „Der Islam in den Schulbüchern der Bundesrepublik Deutschland“.17 Das zentrale Ziel Falaturis ist die Überwindung von Vorurteilen über den Islam in den deutschen Schulbüchern und die Praxis eines okzidentalisch-orientalischen Dialogs auf der Grundlage des gegenseitigen Respekts. Er setzt sich für konfessionellen Religionsunterricht ein, da Vergleiche zu anderen Religionen erst mit der Kenntnis des eigenen Glaubens möglich seien.18 Heute gilt Falaturi als ein Begründer des interreligiösen Dialogs. 1.1.2 Neuere Konzepte In den 1990er Jahren stellt sich die Forschungslage um die interkulturelle Kommunikation zwar breit gefächert, aber uneinheitlich dar. Neben der Entwicklung interkultureller Konzepte der Kommunikation wandeln sich zunehmend die bildungstheoretischen Ansätze zur Erziehung im multikulturellen Kontext. In dieser Zeit entsteht zudem, als Reaktion auf die Einwanderung der Gastarbeiter, eine Art pädagogischer Ausländerpolitik. Ein bedeutender Vertreter ist Georg Auernheimer (*1939), der mit einer Reihe von Veröffentlichungen praktische Konzepte zur Integration der Einwanderer in Deutschland entwickelt.19 Die pädagogische Ausländerpolitik von Forschern wie Auernheimer weicht bald einer konzeptuellen Fassung interkulturell-pädagogischer Ansätze. Diese Fortentwicklung beruht auf der Tatsache, dass sich in jener Zeit das weltweite Migrationsverhalten verändert. Migration umfasst Wanderbewegungen aus politischen Gründen, aber auch die Pflege von Geschäftsbeziehungen im Weltkontext. Unter „Immigration“ im vorliegenden Kontext soll der Aufenthalt einer Person oder auch einer Gruppe im Ausland verstanden werden, der es aufgrund seiner Beschaffenheit oder Länge erforderlich macht, sich mit der Aufnahmegesellschaft auseinanderzusetzen. Dies kann aus wirtschaftlichen Gründen, zur Aufnahme eines Studiums oder zur Gründung einer neuen Existenz geschehen.20 Um erfolgreich in einer Aufnahmegesellschaft bestehen zu können, werden zwar fundierte Kenntnisse von Kultur, Religion und Mentalität des Anderen benötigt, eine einigermaßen erfolgreiche Integration bedarf jedoch einer weiteren Fertigkeit: Es geht darum, eine neue Fremdwahrnehmung zu erwerben, die auf 15 16 17 18 19 20
Vgl. Condon, John und Fatih Yousef: Introduction to Intercultural Communication, 1975. Vgl. Asante, Molefi Kete u. a.: Handbook of Intercultural Communication, 1979. Vgl. Falaturi, Abdoldjavad (Hrsg.): Der Islam in den Schulbüchern der Bundesrepublik Deutschland, 1986–1990. Vgl. Falaturi, Abdoldjavad: Der Islam im Dialog, 1979 S. 5. Vgl. Auernheimer, Georg: Interkulturelle Jugendarbeit muß Kulturarbeit sein, 1992. Vgl. Hamburger, Franz: Abschied von der Interkulturellen Pädagogik, 2009.
18
1. Problemgeschichte der interkulturellen Kommunikation
das immigrierte Individuum derart zurückwirkt, dass dieses auch zu einer neuen Selbstwahrnehmung gelangt. Es ist das Verdienst von William B. Gudykunst (*1947) in seinem Werk „Intercultural Communication Theory. Current Perspectives“ (1983), verstreute Konzepte zu einem konsistenten theoretischen Rahmen zusammengefügt zu haben.21 Teun van Dijk (*1943) und Walter Kintsch (*1932) problematisieren im Jahre 1983 das „Diskursverständnis“.22 Die These der beiden Wissenschaftler beruht auf der Erkenntnis, dass sich interkulturelle Kommunikation aus einem kollektiven Gedächtnis speist, das unterschiedlichen Begebenheiten eine überragende Bedeutung beimisst, je nach den politischen Wünschen des Diskurspartners, der sie in Umlauf bringt. So entwickeln sich aus Stereotypen und Vorurteilen Diskurse, wie die Vorstellung, andere Völker seien kriminell und ähnliches, die sich erheblich auf die interkulturelle Kommunikation auswirken.23 Zu jener Zeit entstehen in Deutschland Konzepte, die darauf ausgerichtet sind, den Umgang mit Konfliktsituationen und die Kulturgebundenheit von Entscheidungs- und Problemlösungsstrategien zu thematisieren. Zu nennen ist Jochen Rehbeins Studie „Interkulturelle Kommunikation“ aus dem Jahre 1985.24 Sein Anliegen ist es, durch diskursanalytische Interpretation zusammenhängender Kommunikationsabschnitte die Zwischenräume zwischen sprachlichen Gruppen bewusst zu machen, Diskriminierungspraktiken gegenüber sprachlichen Minderheiten aufzudecken und Bedingungen für eine mehrsprachige Verständigung zu skizzieren. Ferner lehren einige kulturwissenschaftliche Institute und Technische Fachhochschulen sowie private Einrichtungen in München, Hamburg, Hildesheim, Passau oder in Wildau Theorien und Praxisformen interkultureller Kommunikation. Häufig geht es darum, zu zeigen, wie und unter welchen Voraussetzungen interkulturelle Geschäftsbeziehungen funktionieren. Olga Rösch bringt bspw. in Wildau eine wissenschaftliche Reihe über Forschungsfragen zur interkulturellen Kommunikation heraus.25 Eine Reihe von weiteren Theorien wird entwickelt, um Hindernisse in der Kommunikation zu beheben. Diskurs- und sprachliche Äußerungsformen lassen sich unter verschiedenen Aspekten aus unterschiedlichen Perspektiven heraus thematisieren.26 Zu nennen sind vor allem die Theorien von Jürgen Habermas und Friedemann Schulz von Thun. Während Habermas von einer idealen Gesprächssituation ausgeht, ist Schulz von Thun bemüht, eine Theorie des Dekodierungsprozesses zu formulieren. Jürgen Habermas und der herrschaftsfreie Diskurs Zur Beschreibung der reziproken Funktionalität von Kommunikation entwickelt Habermas eine „Theorie des kommunikativen Handelns“.27 Im Rahmen des praktischen Handelns unterscheidet er zwischen einer strategischen und einer kommunikativen Handlungsform. Das Kommunikationsmodell des strategischen Handelns ist eine bestimmte Form von erfolgsorientiertem Handeln. Es hat nur sein eigenes Ziel vor Augen. Solche Kommunika-
21 22 23 24 25 26 27
Vgl. Gudykunst, William B.: International and Intercultural Communication, 1976. Vgl. Dijk, Teun A. van und Walter Kintsch: Strategies of Discourse Comprehension, 1983. Vgl. die Ausführungen zur interkulturell-kontextuellen Medienpädagogik in Kapitel 2, 3 und 5. Vgl. Rehbein, Jochen (Hrsg.): Interkulturelle Kommunikation, 1985. Vgl. Rösch, Olga: Interkulturelle Kommunikation, 1999. Vgl. Liedke, Martina u. a.: Interkulturelles Handeln lehren – ein diskursanalytisher Trainingsansatz, 2002 (148–179). Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1, 1981 S. 395.
1.1 Interkulturelle Kommunikation: Problemlage und Zielhorizont
19
tionsmodelle können wir in politischen Institutionen, Beziehungen und vielen gesellschaftlichen Strukturen beobachten. Die Duskursteilnehmenden sind bestrebt, die jeweils eigene Lebenswelt als einen Ort der Verständigung mit dem Anderen zu verfestigen. Kommunikatives Handeln ist hingegen verständigungsorientiert. Es berücksichtigt umfassend viele Faktoren und deren gegenseitige Beeinflussung, die den interkulturellen Dialog als eine ethische Qualität implizieren und eine „theoretisch-praktische Haltung bestimmen“.28 Die Diskursteilnehmenden in diesem Rahmen verständigen sich, nach Habermas, stets im „Horizont zweier Lebenswelten“, nämlich der eigenen und der anderen, die sich an einem Ort, dies ist der Ort der Verständigung, begegnen.29 Um eine kommunikative Einstellung im Gespräch zu pflegen, müssen nach Habermas erstens alle Teilnehmer eines Diskurses die gleiche Chance haben, verschiedene Sprechakte in kommunikativer Absicht zu verwenden, so dass sie jederzeit Diskurse eröffnen sowie durch Rede und Gegenrede, Frage und Antwort den Diskurs offenhalten können. Zweitens müssen alle Diskursteilnehmer die gleiche Chance haben, Deutungen, Behauptungen, Empfehlungen, Erklärungen und Rechtfertigungen aufzustellen und deren Geltungsanspruch zu problematisieren, zu begründen oder zu widerlegen, so dass keine Vormeinung auf Dauer der Thematisierung und Kritik entzogen bleibt. Habermas legt zwei weitere Diskursvoraussetzungen fest, die Haltungen ausschließen sollen, die einem kommunikativen Dialog willentlich oder unbewusst im Weg stehen. Im Kontext kommunikativen Handelns, das Verzerrungen und erzwungenen Konsensus ausschließen soll, sind zugelassen: 1. Menschen, „die als Handelnde die gleiche Chance haben, repräsentative Sprechakte zu verwenden, d. h. ihre Einstellungen, Gefühle und Wünsche zum Ausdruck zu bringen. Denn nur das reziproke Zusammenstimmen individueller Äußerungen und das komplementäre Einpendeln von Nähe und Distanz in Handlungszusammenhängen bietet die Garantie dafür, dass die Handelnden als Diskursteilnehmer sich selbst gegenüber wahrhaftig sind und ihre innere Natur transparent machen.“30
2. Menschen, „die als Handelnde die gleiche Chance haben, regulative Sprechakte zu verwenden, d. h. zu befehlen und sich zu widersetzen, zu erlauben und zu verbieten, Versprechen zu geben und abzunehmen, Rechenschaft abzulegen und zu verlangen usf. Denn nur die vollständige Reziprozität der Verhaltenserwartungen, die Privilegierungen im Sinne einseitig verpflichtender Handlungs- und Bewertungsnormen ausschließen, bieten die Gewähr dafür, dass die formale Gleichverteilung der Chancen, eine Rede zu eröffnen oder fortzusetzen, auch faktisch dazu benutzt werden kann, Realitätszwänge zu suspendieren und in den erfahrungsfreien und handlungsentlasteten Kommunikationsbereich des Diskurses überzutreten.“31
Habermas versteht unter Sprechakten die Grundeinheiten der menschlichen Rede, die er in drei universalen Typen unterteilt: Merke: Repräsentativa beziehen sich auf Einstellungen und Intentionen, wie Eingestehen, Wünschen oder Hoffen; der Maßstab der Geltung bei dieser Sprechaktform ist die Wahrhaftigkeit.
28 29 30 31
Fornet-Betancourt, Raúl: Philosophische Voraussetzungen des interkulturellen Dialogs, 1998 S. 47. Vgl. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1, 1981 S. 107. Habermas, Jürgen: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, 1984 S. 177. Ebenda, S. 178.
20
1. Problemgeschichte der interkulturellen Kommunikation
Konstativa beruhen auf der kognitiven Ebene, wie Berichten, Erklären oder Beschreiben; der Geltungsmaßstab hierbei ist die Wahrheit. Regulativa sind auf soziale Normen und Intentionen, wie Befehlen, Warnen, Versprechen bezogen; hier ist der Geltungsmaßstab die Richtigkeit. Die Forderung nach gleichen Chancen aller, repräsentative und regulative Sprechakte zu verwenden, erklärt sich dadurch, dass viele zwar meinen, einen Dialog zu führen, in Wirklichkeit aber unter Handlungszwängen verkappte Monologe führen, da sie nicht offen für die Ausführungen des Anderen sind oder im Kreis denken.
Schulz von Thun und das „Vier-Ohren-Modell“ Schulz von Thun stellt in seinem Kommunikationsquadrat, das auch als „Vier-OhrenModell“ bekannt geworden ist, vier Ebenen der Verständigung dar.32 Mit dem Beispiel eines Auto fahrenden Paares lassen sich in diesem Modell die Seiten des Miteinander-Redens verdeutlichen: Merke: Der Mann weist die am Steuer sitzende Frau darauf hin: „Du, da vorne ist rot!“, während die Frau antwortet: „Fährst du oder fahr’ ich?“ Die Ebene des Sachinhaltes klärt, was auf sachlicher Ebene gemeint ist (hier: Da ist eine Ampel, die rot ist). Die Ebene der Selbstoffenbarung gibt Auskunft über den Sprecher, seine Bedürfnisse, Werte, Überzeugungen und Gefühle (etwa: Ich habe Angst, dass du diese Ampel übersiehst und uns in Gefahr bringst). Die Appell-Ebene bringt zum Ausdruck, zu welcher Handlung der Sender den Empfänger bewegen will (hier: Bremse bitte!). Die Beziehungsebene gibt an, wie der Sender zum Empfänger steht (etwa: Ich als dein Mann und besserer Autofahrer halte mich für befugt, dir solche Ratschläge zu erteilen).
Störungen ergeben sich hauptsächlich, wenn sachliche Aussagen auf Beziehungsebene verstanden werden (hier z. B. die Verärgerung der Frau über die vermeintliche Zurechtweisung des Mannes). Die theoretische und praktische Verschränkung der Theorie von Schulz von Thun lassen sich folgendermaßen visualisieren: Senderhorizont
Beziehung Wie stehe ich zu ihm?
Sachinhalt Was meine ich in Bezug auf Fakten?
Appell Was erwarte ich von ihm?
Eigenkundgabe Was geht in mir vor?
32 Vgl. Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander reden, 1981.
1.1 Interkulturelle Kommunikation: Problemlage und Zielhorizont
21
Der Weg zur interkulturellen Kommunikation nach diesem Muster, in dem sich die Horizonte des Senders und Empfängers überlappen, wird wesentlich von der Analyse der Vorverständnisse geleitet. Dieses Modell wurde von Richard Friedli (*1937) entwickelt.33 Diese dominiert alle genannten Ebenen, besonders jedoch die Beziehungsebene. Eine Reihe von weiteren Studien aus den Gebieten der Geistes- und Sozialwissenschaften beschäftigen sich, in Deutschland seit den 1990er Jahren, mit der Integration und Thematik interkultureller Kommunikation, indem sie diese in allen ihren Formen untersuchen. Auf dem Gebiet der Integrationsforschung ist Wilhelm Heitmeyer (*1945) zu nennen, der 1997 eine Reihe moderner Theorien formuliert, die Rechtsextremismus, Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, ethnisch-kulturelle Konflikte und soziale Desintegration thematisieren.34 Weitere sozialpsychologische Richtungen befassen sich mit kognitiven Mechanismen, die entweder zu einem aggressiven und konfliktgeladenen oder eher zu einem konsens- oder verhandlungsorientierten Verhalten führen. Zur Rolle des Vorurteils bei der Genese intoleranten Verhaltens im Rahmen der Integration und Kommunikation leisten Soziologen wichtige Beiträge. Ihre Forschungen sind Schritte zu einem besseren Verständnis von Funktionen, Erscheinungsformen, strukturellen Bedingungen und Störungen, von kognitiven Grundlagen sowie von der geistesgeschichtlichen Bedeutung und der normativen Basis der Integration. Sie beschreiben als solche einen dynamisch differenzierten Prozess des Zusammenfügens und Zusammenwachsens der Individuen innerhalb einer Gesellschaft. Zu erwähnen ist das zweibändige „Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation“, das 2003 von Alexander Thomas (*1939) und Anderen herausgegeben worden ist. In einer Reihe von Beiträgen befassen sich Autoren mit theoretischen Grundlagen interkultureller Kommunikation und Kooperation sowie mit Praxisfeldern, Kulturunterschieden und interkulturellen Tätigkeitsfeldern. Das Werk vermittelt theoretisches und methodisches Wissen und stellt Hilfsmittel zur eigenständigen Problemanalyse und Problembearbeitung bereit.35 Mark Einig stellt 2005 eine Reihe von Theorien antirassistischer Erziehung kritisch vor und analysiert sie aus pädagogischer Sicht. Rassismus ist ein Phänomen, das wir überall in unterschiedlicher Form beobachten können. Rassismus hat einen dichotomisierenden Charakter und teilt Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Nationalität, Herkunft, Kultur oder Religion in höher- und minderwertige Gruppen ein.36 Einig setzt die Superiorität der eigenen Gruppe über die Anderen voraus. Ethnisierungen oder Kulturalisierungen sind ein Ausdruck dieser Denkweise.37 Das Bildungssystem hat es, Einig zufolge, bislang versäumt, auf die Herausforderungen von Rassismus sowie auf die durch Migration, Fremdheit und Abweichung bedingten Vorurteile angemessen zu reagieren. In der Demokratisierung der Institutionen sieht er eine Möglichkeit, Partizipation und selbstbestimmtes Lernen zu ermöglichen.38 Integration als eine Form interkultureller Verständigung hängt eng mit Bildung zusammen. Viele Bildungstheoretiker greifen im Zuge dieser weltkulturellen Umwälzung zu 33 34 35 36 37 38
Vgl. Friedli, Richard: Zwischen Himmel und Hölle, 1986 S. 97. Vgl. Heitmeyer, Wilhelm: Was treibt die Gesellschaft auseinander? 1997. Vgl. Thomas, Alexander u. a.: Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation, 2003. Vgl. Hall, Stuart: Ideologie, Kultur, Medien, Neue Rechte, Rassismus, 1989. Vgl. Bukow, Wolf-Dietrich: Feindbild: Minderheit, 1996. Vgl. Einig, Mark: Modelle antirassistischer Erziehung, 2005.
22
1. Problemgeschichte der interkulturellen Kommunikation
Recht auf die von Wilhelm von Humboldt (1767–1835) entwickelte „Theorie der Bildung des Menschen“ zurück. Humboldt weist vortrefflich darauf hin, dass wir auf die „Verschiedenheit der Köpfe und die Mannigfaltigkeit der Weisen“ Rücksicht nehmen sollten, „wie sich die Welt in verschiedenen Individuen spiegelt.“39 Humboldt verweist hier auf die innere Gestaltungskraft des Geistes. Individualität ist demnach ein Auftrag, der nur in der Auseinandersetzung des Einzelnen mit der Welt einlösbar ist.40 Humboldts Bildungstheorie ist nicht kulturspezifisch. Unter Bildung versteht er die Anregung aller Kräfte des Menschen auf dem Wege seiner selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit. Bildung bedeutet somit Förderung der Gesamtheit von Fähigkeiten und Eigenschaften des Menschen.41 Neuere Ansätze der Pädagogik befassen sich mit diesem Themenkomplex und gehen von unterschiedlichen bildungstheoretischen Annahmen aus, um Integration zu fördern. Zu erwähnen sind hier neben Auernheimer auch Eva Eirmbter-Stolbrink (*1947). Beide heben auf unterschiedlichen Wegen die Bedeutung der interkulturellen Kommunikation hervor. Auernheimer geht 1990 von einem bildungstheoretischen Ansatz im Rahmen der Ausländerpolitik aus und beschreibt hierbei die Rolle des sozialen Lernens, des Umgangs mit Differenzen, der multiperspektivischen Bildung und antirassistischen Erziehung als Ziele interkultureller Pädagogik.42 Eirmbter-Stolbrink schlägt 2005 den Entwurf eines rationalpädagogischen Ansatzes der Interkulturalität zur Förderung interkultureller Kommunikation vor.43 Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang weiterhin Yasemin Karaka¸so˘glu (*1965) und Arnd-Michael Nohl (*1968). Während Karaka¸so˘glu sich mit interkultureller Pädagogik sowie Erziehung und Bildung in Migrationsprozessen befasst44, thematisiert Nohl eine Reihe von Theorien interkultureller Pädagogik.45
1.2
Zwischenbetrachtung
Betrachten wir die Ansätze der interkulturellen Kommunikation der letzten 60 Jahre, wenn auch teilweise nur recht oberflächlich, so ist festzuhalten, dass Forschungen in enormer Bandbreite die Kenntnisse um die interkulturelle Kommunikation stark erweitert zu haben scheinen. Bei genauerer Durchsicht zeigt sich, dass viele dieser Theorien zwar vorgeben, „interkulturell“ zu verfahren, sie jedoch häufig eine Neuauflage einseitiger Abhandlungen sind, die bis in das Zeitalter der europäischen Aufklärung zurückreichen. Sie vernachlässigen insbesondere zwei Voraussetzungen, die nicht unberücksichtigt bleiben dürfen: einen offenen Kulturbegriff sowie ein offenes, enzyklisch-hermeneutisches Verständnis.
39 Humboldt, Wilhelm von: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, 1980 S. 239. 40 Vgl. Blankertz, Herwig: Die Geschichte der Pädagogik, 1992 S. 103. 41 Vgl. Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1793), 1967. 42 Vgl. Auernheimer, Georg: Einführung in die Interkulturelle Erziehung, 1990 und Einführung in die Interkulturelle Pädagogik, 2007. 43 Vgl. Eirmbter-Stolbrink, Eva: Wilhelm von Humboldt interkulturell gelesen, 2005. 44 Vgl. Karaka¸so˘glu, Yasemin: Identität und die Rolle der Religion aus interkulturell-pädagogischer Perspektive, 2010. 45 Vgl. Nohl, Arnd-Michael: Konzepte interkultureller Pädagogik, 2006.
1.2 Zwischenbetrachtung
23
Merke: In der Mehrzahl der beschriebenen Theorien geht es um die eigene Selbst- und Fremdwahrnehmung, ohne auch nur im Ansatz außereuropäisch-westliche Fragen und Antworten sowie deren Selbst- und Fremdwahrnehmung zu berücksichtigen. Werden diese Komponenten unberücksichtigt gelassen, so wird eine lange Tradition des Monologs unbeirrt fortgesetzt. Insofern wäre die Bezeichnung „interkulturell“ durchaus verzichtbar, weil dies auf eine hermeneutische Wende hinweist, der bisher nur von wenigen Forschenden ansatzweise Rechnung getragen wurde.
Die Darstellung der Ansätze dürfte, wenn auch nur ansatzweise, deutlich gemacht haben, dass jede Kommunikation eine Reihe von Komponenten aufweist, deren Marginalisierung oder Nichtberücksichtigung mit Folgen verbunden sein wird. Wollen wir diese Ansätze auf eine interkulturell ausgerichtete Kommunikationsform anwenden, so wird ersichtlich, dass diese in der Regel die europäisch-westlichen Denk- und Handlungsstrukturen vor Augen haben. Sie übersehen die Vielfalt der kulturellen Kontexte. Eine Ausnahme von solchen einseitigen Denkstrukturen bilden vor allem Jaspers, Falaturi und Duala-M’bedy. In den Theorien dieser Denker liegt eine Zukunftsperspektive begründet, die für einen neuen Entwurf interkultureller Kommunikation weiterentwickelt werden kann. Neben Jaspers’existenziellem Kommunikationsmodell sei Martin Bubers Ich-Du-Dialog (1878–1965)46 und der hermeneutische Ansatz von Hans-Georg Gadamer47 genannt. Zur Theorie von Schulz von Thun reicht es, darauf hinzuweisen, dass diese auf eine indirekte Kommunikation Anwendung finden kann, die keine ausdrückliche, sondern zweideutige Sprechakte enthält. Für eine Anwendbarkeit der Theorie von Schulz von Thun benötigen wir eine Reihe von weiteren interkulturell und interreligiös sensibilisierten Ohren bzw. Verstehensebenen. Von Bedeutung ist eine argumentative Hermeneutik, auf die ich noch im fünften Kapitel zu sprechen kommen werde. Es geht hier konkret darum, a) wie ich meine eigene Denkform betrachte, b) wie ich die anderen Denkformen sehe, c) wie die anderen Denkformen ihre eigene Denkform wahrnehmen und d) wie die anderen Denkformen meine Denkform beurteilen. Merke: In jeder ernstzunehmenden Kommunikationstheorie dürfen die Komponenten der Macht und der unergründlichen Lebensdynamik des Menschen nicht vernachlässigt werden. Theorien, die diese Komponenten nicht beachten oder marginalisieren, bezeichne ich als eine theoretische Form organisierter Verständigung, die schematisch verfährt.
Das kommunikative Modell von Habermas ist deshalb zu erweitern, weil darin die Komponenten der Macht und unergründlichen Lebensdynamik des Menschen keine Berücksichtigung finden. Ihm geht es hauptsächlich darum, einen idealtypisch „herrschaftsfreien Diskurs“ zu formulieren. Auch bei der Beantwortung der Frage nach der Eingliederung des Anderen in die Aufnahmegesellschaft werden Integrations- und Desintegrationsprozesse kaum zusammengedacht. Hier könnten die fundierten Studien von Forschenden mit Migrationshintergrund in Lehre und Forschung zur vertiefenden Förderung der Verständigung und dadurch auch der interkulturellen Kommunikation beitragen. Ihnen liegen weniger verschiedene Denkstrukturen im Vergleich und im Verständnis der Völker zugrunde als vielmehr einige 46 Vgl. Buber, Martin: Zwiesprache, 1978. 47 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, 1972.
24
1. Problemgeschichte der interkulturellen Kommunikation
unterschiedlich aufeinander aufbauende Herausforderungen, die immer auf eigenen Sichtweisen beruhen. Auf diesem Feld ragt Auernheimers Auffassung ebenfalls als eine Ausnahme heraus, da er beabsichtigt, die vernachlässigte oder marginalisierte Stimme des Anderen aktiv hörbar zu machen. Wir bedürfen einer verstehenden Darstellungsweise, in der das Andere nicht lediglich als ein Objekt der Forschung betrachtet wird. Wer das Andere in seiner Andersheit theoretisch wie praktisch objektivieren bzw. verdinglichen will, wird sich zwangsläufig von ihm distanzieren. Ziel einer verstehenden und lernenden Darstellungsweise wird stets bleiben, jede Form von Bevormundung des Anderen, theoretisch wie praktisch, zu vermeiden. In der Vermittlungsform solcher theoretischer Ansätze, für den praktischen Umgang miteinander, liegt die Bedeutung einer Pädagogik der Interkulturalität, die uns im fünften Kapitel beschäftigen werden wird.
2.1 Was ist das – die Kultur?
25
2. Modelle von Kulturtransformationen
Das Konzept des Kapitels auf einem Blick Modelle von Kulturtransformationen
Was ist das – die Kultur?
Sieben Perspektivierungen des Kulturbegriffs
Normengebende Kulturbegriffe
Symbolischstrukturelle Kulturbegriffe
Geschlossene Kulturbegriffe
Interkulturelle Kulturbegriffe
2.1
Multikulturelle Kulturbegriffe
Intellektualistische Kulturbegriffe
Transkulturelle Kulturbegriffe
Was ist das – die Kultur?1
Beschäftigen wir uns mit dem Phänomen „Kultur“ in all seinen Erscheinungsformen, so werden wir mit einer beinahe unüberschaubaren Literatur konfrontiert, die Kultur aus unterschiedlichen Perspektiven heraus betrachtet und eine breite Vielfalt von Dimensionen des Kulturbegriffs präsentiert. Beispiele hierfür sind die differierenden Kulturbegriffe der Psychologen, Soziologen, Ethnologen, Anthropologen, Pädagogen oder Philosophen. Spannend und zugleich problematisch sind dabei interne Konflikte innerhalb der einzelnen Fachgebiete, die – trotz ihrer offensichtlichen Ergänzungs- und Revisionsbedürftigkeit – bisweilen einen verbindlichen Anspruch erheben. Kultur bestimmt unsere Wertvorstellungen und Normen sowie unsere Identität, unseren Glauben, unser Weltbild, unsere Sprache. Sie nimmt Einfluss auf unser soziales Umfeld und bestimmt, was gut oder nicht gut ist, was normal oder nicht normal ist. Kultur prägt auch unser Verhältnis zu Menschen, die aus anderen Regionen kommen. Metaphorisch lässt sich Kultur wie ein Baum betrachten. Die Wurzeln werden lang und gehen tief in den Boden, auf dem wir als Mensch stehen. An den Ästen gibt es Früchte, die zumeist unterschiedlich sind. Wo immer wir auch hingehen, nehmen wir, wie die Abbildung visualisiert, die Wurzeln, also unsere kulturelle Vorprägung, mit. Kulturelle Wurzeln treten hervor hervor, wenn wir mit Menschen anderer Herkunft zusammentreffen. Betrachten wir das Gesamtpanorama der Kulturtheorien im Weltkon1 Am Ende dieses Buches habe ich ein kleines Wörterbuch aufgenommen, in dem Fachbegriffe erklärt sind. Dieses Verzeichnis finden Sie auch am Ende meines Werkes: Die Bühnen des Denkens, 2013.
26
2. Modelle von Kulturtransformationen
text, so reicht das Bild zur Kultur von geschlossenen Einheiten bis hin zu Gebilden mit offenen, ineinander fließenden Grenzen. Aus der Fülle der Kulturdefinitionen seien hier folgende genannt: Zivilisierungsprozess Gefüge von Symbolsystemen
Menschliches Erzeugnis
Substanz eines Volkes
Was ist Kultur?
Ensemble von Texten
Sphären von Erfahrungen
Grenzenlose Sphären Orientierungssystem
Alle Theorien verfolgen gemeinsame Erkenntnisziele, wenn auch auf unterschiedlichen Wegen. Sie wollen erfassen, was Kultur ist bzw. nicht ist, welche symbolischen Formen, Sitten und Gebräuche bestimmend sind. Hierzu gehört die Frage nach sozialen Ordnungsrahmen, politischen Organisationen, Wirtschaftsformen, moralischen Traditionen sowie Wissen und Kunst. Gemeinsam ist allen diesen Fragen die Bestimmung der Stellung und Funktion des Menschen innerhalb einer Kultur oder Subkultur, im Kontext einer bestimmten Gesellschaft, Gruppe oder Gemeinschaft. Dies geht mit dem Erkenntnisziel einher, ob und inwieweit der Mensch Kultur hervorbringt und zugleich von ihr selbst beeinflusst wird. Zur Debatte steht auch, wie sich Subkulturen innerhalb einer Kultur oder mehrere Kulturen zueinander verhalten.
Mensch-Kultur-Verhältnis Als ein Lebewesen ist der Mensch mit allen seinen biologischen Funktionen ein Bestandteil der Natur, der in ein bestimmtes kulturelles Milieu hineingeboren und hineinsozialisiert wird, das sein Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Handeln, sein Menschenbild, seine Wer-
2.1 Was ist das – die Kultur?
27
te, seine Sprache und Toleranz sowie die Begegnung mit dem Anderen in vielerlei Hinsicht prägt. Nach erfolgter Primärsozialisation ist der Einzelne dazu fähig, den kulturellen Prozess mitzugestalten und das System, in dem er lebt, maßgeblich mitzubestimmen oder gar zu verändern. Die Erkenntniswurzeln und kulturellen Lebensfrüchte sind ausschließlich anthropologisch verankert. Der handelnde und gestaltende Mensch ist ein naturhaftes und kulturstiftendes Wesen. Der Mensch ist zwar ein Teil der Natur, steht ihr aber auch leibhaftig gegenüber und reflektiert über sie. Wie Menschen insgesamt über eine ähnliche kognitive Ausstattung verfügen, sind auch ihre kulturellen Fähigkeiten in unterschiedlichen Kulturregionen ähnlich. Beispiele hierfür sind Denken, Fühlen, Handeln, Sprechen und Schreiben, Vergessen, Heiraten, Trauern, Freude oder Tabubereiche. Vom menschlichen Standpunkt aus ist Kultur ein endlicher Ausschnitt aus der nicht erfassbaren Unendlichkeit des Weltgeschehens, der mit Sinn und Bedeutung bedacht ist.2 Merke: Kultur ist Teil unserer Entwicklungsgeschichte, sie beeinflusst die Innen- und Außenperspektive unseres Denkens, Wahrnehmens, Handelns und die Empathiefähigkeit, die für die zwischenmenschliche Kommunikation wesentlich ist. Sie ist kein objektiv greifbares Phänomen. Das Mensch-Kultur-Verhältnis ist stets synergetisch, beide fördern sich gegenseitig.
Die Frage, ob es fixe Kulturstandards gibt oder nicht, ist für die Kommunikation in interkultureller Absicht grundlegend. Alexander Thomas geht von einer solchen Annahme aus und hält fest: „So wie ein Standard angibt, wie ein Gegenstand normalerweise beschaffen zu sein hat, wie ein häufig vorkommendes Ereignis normalerweise abläuft, so legt ein Kulturstandard den Maßstab dafür fest, wie Mitglieder einer bestimmten Kultur sich zu verhalten haben, wie man Objekte, Personen und Ereignisse zu sehen, zu bewerten, zu behandeln hat.“3 Es ist zunächst festzustellen, dass zwischenmenschliche Kommunikation sich vom Informationsaustausch zwischen zwei Rechnern radikal unterscheidet. Technische Standardisierung macht es möglich, dass der Code, indem eine Nachricht verschlüsselt ist, exakt dem Code entspricht, den andere Systeme verwenden, um die Nachricht im Sinne des Senders lesen zu können. Eine solche Isomorphie lässt sich bei der zwischenmenschlichen Kommunikation kaum erfüllen. Denn: Menschen sind kein Rechner. Jedes Individuum besitzt eine eigene kognitive Landkarte, ein einzigartiges Repertoire interner Konstruktionen seiner Wirklichkeit, wobei nicht zu leugnen ist, dass es gewisse Verhaltensformen gibt, die man nicht problemlos generalisieren kann. Merke: Die generalisierende Annahme eines Kulturstandards ist der Kommunikation nicht förderlich, weil im Vorfeld mit Klischees und Stereotypen gearbeitet wird. Eine solche Annahme kann nur als ein vorläufiges und damit standpunktbewegliches Vorverständnis bezeichnet werden. Dies hängt damit zusammen, dass Situationen, Kontexte und Individuen variieren.
Kulturstandards in ihrer Radikalität gibt es nur, wenn wir von einem geschlossenen Kulturbegriff ausgehen. Die Frage, ob es einen typisch deutschen, iranischen oder amerikani2 Weber, Max: Rationalisierung und entzauberte Welt, 1989 S. 78 und 83. 3 Thomas, Alexander (Hrsg.): Psychologie interkulturellen Handelns, 1991 S. 5.
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2. Modelle von Kulturtransformationen
schen Musikstil gibt, wird mit „Ja“ beantwortet, wenn wir Kulturen essentialistisch auffassen. Sie wird mit „Nein“ beantwortet, wenn wir Kulturen als offene Sinn- und Orientierungssysteme begreifen. Man kann zwar durch das Erlernen von musikalischen Fertigkeiten bestimmte Musikrichtungen, die als deutsch usw. deklariert werden, erlernen. Offen bleibt dabei, ob diese Musik, die als deutsch usw. definiert wird, ursprünglich deutsch gewesen ist. Wir müssen über die Frage reflektieren, wie deutsch bspw. die Musik von Johann Sebastian Bach war. Dabei spielen immer transkulturelle, also kulturübergreifende Momente eine Rolle. Die Kultur einer Gemeinschaft spezifiziert sich durch eine Reihe von Adjektiven wie „religiös“, „politisch“, „weltanschaulich“, „wissenschaftlich“ mit vielen Kontexten usw., ohne in einem dieser Adjektive oder Kontexte restlos aufzugehen. Intern verändert sich Kultur durch Austausch- und Überlappungsprozesse kontinuierlich. Das folgende Schaubild zeigt ihre zentralen Einflussbereiche:
Religion Alltag und Familie
Geschichte
Sprache
Einflussbereiche der Kultur
Tradition
Wissenschaft
Kunst
Gemeinsame Grundüberzeugungen
Betrachten wir das Mensch-Kultur-Verhältnis im Vergleich der Kulturen, so werden wir mit einer reichhaltigen Vielfalt konfrontiert. Uns wird dabei bewusst, dass Kulturen in der Tat aus einer Reihe von Komponenten bestehen, welche die Stellung und Funktion des Menschen und sein Verhältnis zu sich und seiner Umwelt beeinflussen. Dementsprechend lässt sie sich folgendermaßen auffassen: Merke: Kultur ist ein offenes und dynamisch veränderbares Sinn- und Orientierungssystem, das 1. sich entwicklungsgeschichtlich vor allem durch Religion und Wissenschaft sowie im Medium der Kunst ausprägt; 2. es uns ermöglicht, eigenes Verhalten so zu planen, dass es von anderen Angehörigen unserer Kultur deckungsgleich verstanden und interpretiert werden kann; 3. uns zugleich die Möglichkeit einräumt, das Verhalten anderer Menschen, welcher Herkunft und Hautfarbe auch immer, einzuschätzen und entsprechend zu bewerten; 4. kollektive Identitäten, vornehmlich durch Herausbildung kultureller Traditionen, konstituiert.
2.2 Sieben Orientierungen des Kulturbegriffs
29
Die Mannigfaltigkeit kultureller Prozesse stellt die traditionellen Formen des Kulturbegriffs in ein neues Licht. René König hat darauf hingewiesen, dass es die Kultur nicht gebe, dass sie nicht „allgemein und einheitlich sei. […] Es gibt in Wahrheit so starke kulturelle Unterschiede innerhalb einer Gesellschaft zwischen ihren unterschiedlichen Teilen, dass sie unter Umständen größer sind als die Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen.“4 Kulturen verändern sich kontinuierlich gegenseitig durch Austausch- und Überlappungsprozesse.
2.2
Sieben Orientierungen des Kulturbegriffs
Betrachten wir die frühen Kulturtheorien, so weisen viele dieser Theorien aus heutiger Sicht Defizite auf, weil deren Erkenntnisse vorwiegend aus zweiter Hand stammen und auf den Berichten von Missionaren oder Weltreisenden beruhen. Die Fortentwicklung der Theorien trug zur Ausräumung erkannter Defizite bei, häufig verfielen diese jedoch den Vorstellungen und damit zusammenhängenden Unzulänglichkeiten ihrer eigenen Zeit. Während meist die frühen Kulturtheorien von einer statischen, sich selbst gleichbleibenden Kultur ausgehen, betrachten spätere Forscher die Kultur als ein Sinn- und Orientierungssystem. Im Folgenden werden solche und ähnliche Kulturkonzepte in sieben Orientierungen zugeordnet und kritisch erläutert.5 Die folgende Abbildung fasst diese Kulturkonzepte zusammen:
Multikulturelle Perspektivierungen
Interkulturelle Perspektivierungen
Kugelhafte Perspektivierungen
Intellektualistische Perspektivierungen
Symbolisch-strukturelle Perspektivierungen
Normengebende Perspektivierungen
Transkulturelle Perspektivierungen
Merke: Ausdrücklich ist darauf hinzuweisen, dass diese siebenfache Orientierung des Kulturbegriffs keine Vollständigkeit beansprucht. Mir geht es in erster Linie darum, die bestehenden Kulturtheorien auf ein handliches Format zu bringen. 4 König, René: Einleitung: Über einige Fragen der empirischen Kulturanthropologie, 1972 S. 35. 5 Andreas Reckwitz (*1970) unterscheidet vier Kulturkonzepte, das normativ orientierte, das bedeutungs-, und wissensorientierte, das totalitätsorientierte und das differenzierungstheoretisch orientierte Konzept. Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien, 2006. Eine Unzulänglichkeit seiner Klassifikation besteht in dem generalisierenden Versuch, Kulturkonzepte hermetisch voneinander abzuriegeln und in der Vernachlässigung der Kulturbegriffe bei Trans- Multi- und Interkulturalität. Überdies lässt Reckwitz die Frage unbeantwortet, welcher Kulturbegriff den globalen Herausforderungen Rechnung zu tragen vermag.
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2. Modelle von Kulturtransformationen
2.2.1 Normengebende Kulturbegriffe Nicht nur ältere Kulturtheorien, sondern auch viele Ansätze der Gegenwart sind normengebend. Erklärungsversuch: Der normengebende Kulturbegriff ist ein nach festen Regeln beurteilendes und wertendes Konzept. Es setzt einen Lebensentwurf nach idealistischen Prinzipien voraus, der einen universalistischen Anspruch erheben kann, es aber nicht muss.
Aufgrund seiner affirmativen Grundhaltung ist das Hauptmerkmal bzw. die Hauptfunktion des normengebenden Kulturkonzepts ein Selbstbild, das häufig „Fremdkritik“ zur Folge hat. Weil hier eine bestimmte Handlungsart für erstrebenswert gehalten wird, werden andere Lebensentwürfe schlichtweg entweder nicht zur Kenntnis genommen oder als nicht erstrebenswert zurückgewiesen. Heuristische Verfahren, mit denen aufgezeigt wird, auf welchem Weg Erkenntnisse entdeckt und weitergeführt worden sind, decken dieses Merkmal auf.6 Hierzu ein Beispiel: Immanuel Kant (1724–1804) und Norbert Elias (1897–1990) sind zwei Vertreter der normengebenden Orientierung des Kulturbegriffs. Nach Kants Verständnis besteht der erste wahre Schritt „aus der Rohigkeit zur Cultur […] in dem gesellschaftlichen Wert des Menschen“ als Gattung, die als „Naturbegebenheit“ existiert.7 Der Kultur kommt in diesem Kontext die Aufgabe zu, zwischen der „sinnlichen Natur“ des Individuums und seiner „Moralität“ zu vermitteln: „Wir sind zivilisiert bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns schon für moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Cultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht blos die Zivilisierung aus.“8 Der Bezug auf die „Idee“ der Moral in Kants normativem Kulturkonzept verweist auf einen idealisierenden Zug. Hier wird eine Form der Daseinsführung favorisiert, die nicht immer den realen Umständen des Lebens entspricht. Kant kommt ferner zu dem Ergebnis, dass „der Europäer einzig und allein das Geheimnis gefunden hat, sinnlichen Reiz einer mächtigen Neigung mit so viel […] Moralischem zu durchflechten […]. Der Bewohner des Orients ist in diesem Punkte von sehr falschem Geschmacke. Indem er keinen Begriff hat von dem sittlich Schönen […], so büßt er auch sogar den Werth des sinnlichen Vergnügens ein.“9 Indem er einen bestimmten Lebensentwurf für geboten oder gut hält, tendiert Kant zu einer Theorie der kulturellen Überlegenheit. Hierzu ist zu bemerken, dass der Königsberger Philosoph seine Heimatstadt bekanntlich nie verlassen und sich seine Urteile lediglich aufgrund der Kenntnis indirekter Quellen – etwa Reiseberichte von Händlern und Missionaren oder Berichte der Kolonialverwaltung – gebildet hat. 6 Ein grundsätzlicher Mangel der heutigen Sozialtheorie besteht darin, dem Kulturbegriff eine heuristische Bedeutung für sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen zu geben. 7 Kant, Immanuel: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1923 S. 21 und 17 f. 8 Ebenda, S. 26. 9 Kant, Immanuel: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, 1902 S. 254.
2.2 Sieben Orientierungen des Kulturbegriffs
31
Kants Kulturauffassung bestätigt das Normengebende und Beurteilende von Kulturauffassungen, die in der Literatur als eurozentrisch kritisiert werden. Derartige Theorien übersehen, dass die Grenzen zwischen Vernunft und Neigung in vielerlei Hinsicht fließend sind. Merke: Eine solche Verankerung setzt voraus, dass alle Menschen, weil sie vernunftbegabt sind, aus der reinen Vernunft heraus handeln müssen. Auch hier wird vernachlässigt, dass es zwar eine universale Vernunft gibt, zugleich aber die Existenz vieler Denkformen im Vergleich und Verständnis kultureller Kontexte nicht zu leugnen ist.
Elias, der dem Inhalt nach wie Kant argumentiert, geht bei seinem Entwurf von einer „Theorie der Zivilisation“ von einer „abendländisch zivilisierten Verhaltensweise“ aus, die universal auf die gesamte Welt übertragen werden könne: „Von der abendländischen Gesellschaft – als einer Art Oberschicht – breiten sich heute, sei es durch die Besiedlung mit Occidentalen, sei es durch die Assimilierung von Oberschichten anderer Völkergruppen, abendländisch ‚zivilisierte‘ Verhaltensweisen über weite Räume jenseits des Abendlandes hin aus, wie sich ehemals innerhalb des Abendlandes selbst von dieser oder jener gehobenen Schicht, von bestimmten, höfischen oder kaufmännischen Zentren her Verhaltensmodelle ausbreiteten.“10 Elias misst dem „Abendland als Ganzem“ im Weltkontext eine Oberschichtfunktion zu. Die zivilisierten Konkurrenzkämpfe der abendländischen Nationen bilden, ihm zufolge, einen „globalen Königshof“ der Weltgesellschaft, zu dem lediglich die Oberschicht anderer Gesellschaften „als untere, aufsteigende Schicht“ Zugang erhält. Für ihn nähern sich die orientalischen und afrikanischen Bevölkerungsschichten den „abendländischen Verhaltensstandards“11, deren ehemalige Oberschicht repräsentiere im Vergleich zur abendländischen Oberschicht nun die aufsteigende Unterschicht. Obwohl der Kulturbegriff bei Elias als Kontrast zum Terminus „Zivilisation“ eine Rolle spielt, hat er für seine Theorie keine Bedeutung. Es bleibt eine offene Frage, ob Elias seine These in diesem Zusammenhang als deskriptiv oder normsetzend auffasst. Elias lässt als wertende Frage bewusst offen, inwieweit der von ihm beschriebene „Figurationswandel“, den der Prozess der Zivilisation darstellt, als Fortschritt anzusehen ist. Alle Vergleiche zwischen Epochen oder Regionen bleiben daher relational, da zwar im Untersuchungsbereich des Sozialwissenschaftlers Andere als inferior, weil „unzivilisiert“, bewertet werden, diese Verknüpfung von deskriptiven und normativen Begriffsanteilen zugleich aber für den Sozialwissenschaftler unstatthaft ist. Normengebende Kulturkonzepte sind in der Regel eindimensional, weil sie nur eine bestimmte Lebensform favorisieren und damit jede Interdependenz übersehen oder vernachlässigen. Merke: Das zentrale Problem der Zivilisationstheorie von Elias besteht darin, dass er Europa als „globalen Königshof“ und als Maßstab der Weltentwicklung betrachtet. Diese Identifizierung und Unterscheidung neigt zu einer Kulturhierarchie, die problematisch ist.
10 Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation, Bd. 2, 1978 S. 345. 11 Ebenda, S. 348.
32
2. Modelle von Kulturtransformationen
2.2.2 Geschlossene Kulturbegriffe Eine Reihe von Wissenschaftlern, die die historisch-spezifische Lebensweise einer sozialen Gruppe im Vergleich zu anderen Gruppen in den Mittelpunkt stellen, vertreten ein geschlossenes Kulturkonzept. Erklärungsversuch: Der geschlossene Kulturbegriff ist ein regionalisierendes und nationalisierendes Konzept, das die spezifische Lebensform eines Kollektivs in einer bestimmten historischen Epoche in den Vordergrund stellt, und nach dem Kulturen wie Kugeln aufgefasst werden, die aufeinanderprallen und ohne Bezug zueinander sind.
Unter Kultur wird hier die spezifische Lebensform eines Kollektivs bzw. die Totalität der kollektiven Lebensformen einer Nation oder einer Gemeinschaft verstanden. Hierbei wird von der grundsätzlichen Verschiedenartigkeit der Kulturen ausgegangen, wobei Kultur und Gesellschaft miteinander identifiziert werden. Hierzu einige Beispiele: Johann Gottfried Herder (1744–1803), Bronislaw Malinowski (1884–1942), Oswald Spengler (1880–1936), Arnold Joseph Toynbee (1889–1975) und Samuel P. Huntington (1927–2008) gehören zu den prominenten Vertretern einer geschlossenen Orientierung des Kulturbegriffs. In seinen „Briefen zur Beförderung der Humanität“ definiert Herder seinen Kulturbegriff und meint, Kultur gedeihe einzig „auf dem eigenen Boden der Nation, in ihrer ererbten und sich forterbenden Mundart“.12 Eine Mischung von Kulturen bedeutet für ihn Verlust an „Eindrang, Tiefe und Bestimmtheit“.13 Dabei betrachtet Herder die Kulturen als in sich abgeschlossene Sphären, gewissermaßen als einheitlich-unveränderbare Kugeln. Diese Sphären teilt er, in der Tradition normengebender Kulturkonzepte, in „rohe“ und „andere“ Völker auf. Für ihn ist die Kultur eines Volkes „die Blüte seines Daseins, mit welcher es sich zwar angenehm, aber hinfällig offenbaret. Wie der Mensch, der auf die Welt kommt, nichts weiss – er muss, was er wissen will, lernen –, so lernt ein rohes Volk durch Übung für sich oder durch Umgang mit anderen. Nun aber hat jede Art der menschlichen Kenntnisse ihren eigenen Kreis, d.i. ihre Natur, Zeit, Stelle und Lebensperiode.“14 Merke: Herder stützte sich mit seinen Urteilen, wie Kant, vorwiegend auf indirekte Reiseberichte Dritter. Ethnologen des 19. Jahrhunderts untersuchten traditionell Stammesgesellschaften oder außereuropäische, schriftlose Völker, die selbstredend als „rohe“ Völker galten, und betrachteten Kulturen im Geist von Herders geschlossener Kulturauffassung in der Regel als statische Gebilde und homogene Gefüge.
Eine solche reine eigene oder eine reine andere Kultur existiert jedoch nur als Privatanthropologie, d. h. als ein privat erdachtes Menschenbild. Wir sprechen zwar über Kultur oder Kulturen, es geht dabei aber immer um Menschen als Träger unterschiedlicher Sinn- und 12 Herder, Johann Gottfried: Sämtliche Werke, 1968 S. 46 ff. und 59. 13 Herder, Johann Gottfried: Ueber die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten, 1967 S. 423. 14 Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1903 S. 157.
2.2 Sieben Orientierungen des Kulturbegriffs
33
Orientierungssysteme. Der Kern eines geschlossenen Kulturverständnisses besteht darin, die Lebensform eines Volkes, einer Nation oder einer Gemeinschaft als in sich abgeschlossen zu betrachten. Solcherlei Grenzen, die Herder hier aufbaut, wirken freilich auch positiv, weil durch sie die interne Einheit gestärkt wird. Ein Negativum ist allerdings, dass sie eine Abgrenzung hervorrufen, die dogmatisch wirkt und trennt. Grenzen geben dem Menschen zwar Orientierung oder Struktur, zugleich aber verursachen sie Konflikte. Malinowski steht mit seiner Auffassung, Kulturen seien Sphären, die an Nationen gebunden sind, in der Tradition Herders. Aufgrund verbesserter verkehrstechnischer Mittel und Wege hatte er jedoch die Möglichkeit, die Kulturgebiete, über die er berichtete, persönlich zu bereisen. Er führte im Rahmen seines „ethnographischen Realismus“ die Praxis der Feldforschung ein. Hier erschloss der Forscher die Lebenswelt des Anderen durch Erfahrung und Empathie erstmals unmittelbar.15 Für Malinowski ist Kultur „ein umfassendes Ganze[s]“.16 Er ist der Ansicht, dass der instrumentelle Apparat von Kultur – worunter er Wissens-, Moral- und Glaubenssysteme wie auch Erziehung und Wirtschaft versteht – entstanden sei, um menschliche Bedürfnisse zu befriedigen und Probleme zu lösen. Jeglichem menschlichen Handeln unterstellt er radikale Kulturabhängigkeit. Kulturen werden nach diesem Verständnis als Organismen, als geschlossene statische Kreise, aufgefasst. Trotz der neu erschlossenen Möglichkeiten der Feldforschung erhebt Malinowski, wie seine Vorgänger, eigenkulturelle Erfahrungen zum Maßstab und vergleicht sie mit der Praxis der Anderen. Er macht das Andere ausschließlich zum Objekt seiner Forschung, ohne dieses zu Wort kommen zu lassen. Obwohl er nun sein Erleben aus erster Hand berichtet, verharrt der Forscher in der Rolle einer Art von Vormund des Anderen. Spengler betrachtet in seiner Theorie die Kulturen und ihre Beziehungen zueinander. Die einzelnen Kulturen sind für ihn „Organismen“ und die „Weltgeschichte […] ihre Gesamtbiographie“.17 Er vertritt den in seiner Zeit entstehenden darwinistischen Kulturbegriff in Anlehnung an den Begriff des „Typus“ von Wilhelm Dilthey (1833–1911) und Max Weber (1864–1920), den er zur These der „totalen Andersartigkeit der Kulturen“ weiterentwickelt. Jede Kultur besitze eine „Seele“, die in ihrem Stil und ihrer Denkweise zum Ausdruck komme. Folglich entstünden Kulturen unabhängig voneinander und seien untereinander wesensfremd. Wie ein Mensch würden sie mehrere Lebensstadien durchlaufen und am Ende stehe unweigerlich ihr Verfall und damit ihre Ablösung durch eine neue Kultur. Die Weltgeschichte sieht Spengler als einen ewigen Kreislauf von Kulturen, die in Abfolge entstehen und vergehen. Der Mensch sei als Träger der Welt ein Glied der Geschichte, in der es „um das Leben und immer nur um das Leben, die Rasse, den Triumph des Willens zur Macht“ gehe, „und nicht um den Sieg von Wahrheiten, Erfindungen oder Geld. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht: sie hat immer dem stärksten, volleren, seiner selbst gewisseren Leben Recht gegeben, Recht nämlich auf das Dasein.“18 Spengler sieht den „westeuropäisch-amerikanischen Kulturraum“ seiner Zeit als den machtvollsten Raum an und will an diesem „das Schicksal einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute auf diesem Planeten in Vollendung begriffen ist, […] in den noch nicht
15 16 17 18
Vgl. Malinowski, Bronislaw: Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur, 1975 S. 74 f. Vgl. Ebenda, S. 74 f. Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes, 172006 S. 140. Ebenda, S. 1194.
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2. Modelle von Kulturtransformationen
abgelaufenen Stadien […] verfolgen“.19 Auch die deutsche Kultur, als Repräsentantin eines „Herrenvolkes“, sieht er berufen zur Macht. Mit diesem Konzept verschaffte Spengler den Kriegen und Kolonialisierungsabsichten seiner Zeit die Legitimation des Naturnotwendigen. Toynbee argumentiert mit einer anderen Intensität und Schwerpunktsetzung ähnlich. Er verfolgt das Ziel, eine philosophische Deutung der großen Entwicklungslinien der Menschheitsgeschichte herauszuarbeiten. Er analysiert Kulturbegegnungen, Bedingungen der Entstehung, des Aufstiegs und Verfalls von Kulturen und geht grundsätzlich von einer Interdependenz von Kulturen aus, die keinen Zweifel daran lässt, dass das Verstehen der einen Kultur die fundierte Kenntnis der anderen zur Voraussetzung hat. Geschichte verläuft ihm zufolge im Wechsel dynamischer Zeiten und Phasen des „Beharrens“. Dabei widmet Toynbee, in Abkehr von einer euro- bzw. ethnozentrischen Geschichtsschreibung, außereuropäischen Kulturen ebenso viel Aufmerksamkeit wie der europäischen.20 Diese innovative innere Logik der universalgeschichtlichen Auffassung offenbart jedoch eine weitere Einseitigkeit: Sie ist ausschließlich christlich motiviert. Die Darstellung außereuropäischer Länder erfolgt aus dieser Perspektive, was häufig zu Einseitigkeiten verleitet. Merke: Toynbee, wie auch Spengler, gehört zu den spekulativen Geschichtsphilosophen wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), die eine teleologische Totale in Form einer geschichtsdeterministischen Auffassung vertreten. Die Weltgeschichte besteht dieser Auffassung zufolge aus einem „rhythmisch geordneten Ablauf“.21
Samuel P. Huntington führte 1993 mit seiner Kulturkampfrhetorik die These eines „clash of civilizations“, d. h. eines Zusammenpralls oder „Kampfes der Kulturen“ in die Diskussion ein. Nach dieser These ist die Welt nach der Beendigung des Ost-West-Konflikts in ein neues Zeitalter des Kulturkampfes eingetreten. Für Huntington ist die gegenwärtige Welt in zwei Lager aufgeteilt, nämlich den „Westen“ und den Rest der Welt. Für die westlichen Länder seien große politische Ideen wie Nationalismus, Sozialismus oder christliche Demokratie prägend, alle Religionen hingegen seien in nichtwestlichen Kulturen entstanden.22 Huntington geht von einem geschlossenen und kreisförmigen Verständnis von Kultur aus. Er spricht von „Kulturkreisen“ als abgegrenzte Einheiten und betont die „kulturellen Eigenheiten“. Huntington unterstellt, dass wir uns in einem Kampf der Kulturen befinden. Nach diesem kulturalistischen Weltbild bestimmt er fünf „Kulturkreise“23, die sich gegenseitig bekämpfen (Folgeseite oben). Huntington unterstellt zwangsläufig, um seine Kulturkampftheorie zu begründen, einen Kampf der Kulturen, den es in dieser Form nicht gibt. In Wirklichkeit handelt es sich um einen Kampf der Ideologien, um politischen Einfluss und wirtschaftliche Interessen und damit letzten Endes um die Weltbeherrschung. Dieser Kampf hat mit Kulturen nichts zu tun.
19 20 21 22 23
Ebenda, S. 3. Vgl. Toynbee, Arnold Joseph: Der Gang der Weltgeschichte, 1949 und 1958. Scheler, Max: Philosophische Weltanschauung, 31968 S. 99. Vgl. Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen, 51997 S. 252. Vgl. Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen, 51997 S. 57 ff.
2.2 Sieben Orientierungen des Kulturbegriffs
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Lateinamerikanischer Kulturkreis
Asiatischer Kulturkreis
Islamischer Kulturkreis
Huntingtons Modell der Kulturkreise Westlicher Kulturkreis
Afrikanischer Kulturkreis
Merke: Franz Boas (1858–1942) kritisiert evolutionistische Kulturtheorien, welche die Menschheit in „zivilisiert“ und „primitiv“ unterteilen. Er geht von einem historischen Partikularismus aus, nach dem Kulturen nur aus sich selbst heraus zu verstehen sind.24 Im Gegensatz zu Malinowski und Spengler sind für Boas kulturelle Divergenzen weder biologisch-deterministisch bedingt noch von rassischen Vorstellungen ableitbar, sondern ausschließlich kulturell und damit kontextspezifisch. Mit seinem Konzept weist Boas Kulturessentialismus zurück, mit dem allen Kulturen ein inneres Wesen unterstellt wird.
Die Bewertung von Kulturen kann, wie Toynbee behauptet, nicht aus einer „kontinuierlichen Bewegung“ mit einer a priori bestimmten Zielgerichtetheit aufgefasst werden. Max Scheler (1874–1928) bezeichnet solche Sichtweisen, bezogen auf Europa, als europäisch eingeengte Geschichtsauffassungen. Die weltgeschichtliche Struktur gleiche vielmehr, in einem noch immer geschlossenen Verständnis, „einem Flusssystem, in dem eine große Anzahl von Flüssen Jahrhunderte ihren besonderen Lauf verfolgen, die sich aber, von unzähligen Nebenflüssen gespeist, schließlich in steigendem Neigungswinkel zueinander zu einem großen Strome zu vereinen streben.“25 Der geschlossenen Kulturbegriff definiert sich im Gegensatz zum normengebenden Kulturkonzept nicht mehr als eine für „jedermann“ erstrebenswerte Lebensform, sondern als mannigfaltige und spezifische Lebensformen verschiedener Kollektive an diversen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten. Geschlossene Kulturkonzepte sind problematisch, weil sie zu Kulturfundamentalismus und der Forderung nach der Reinheit einer Rasse verleiten können. Dass hier stufentheoretisch verfahren werden muss, ist eine Folge der inneren Logik des totalitären Orientierungssystems. Ein geschlossenes Kulturverständnis unterliegt, wie das normengebende, einem Imperativ, weil Kultur als eine bestimmte unverwechselbare Lebensform betrachtet wird und mit anderen Kulturen in Konkurrenz tritt.
24 Vgl. Boas, Franz: Kultur und Rasse, 1922. 25 Scheler, Max: Philosophische Weltanschauung, 31968 S. 99.
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2. Modelle von Kulturtransformationen
2.2.3 Intellektualistische Kulturbegriffe Dieses Kulturkonzept unterteilt die Bereiche, die vorher unter dem Sammelbegriff „Kultur“ vereint waren, und bezieht sich auf einzelne Aspekte. Im Vergleich zu den dargestellten Ansätzen geht es in eine offenere Richtung. Erklärungsversuch: Ein intellektualistischer Kulturbegriff wird von seinem Bezug auf ganze Lebensweisen bzw. die gesamten Erscheinungen des Lebens abgekoppelt und hauptsächlich auf intellektuelle und künstlerische Aktivitäten bezogen. Er ist intellektualistisch in der Theorie beheimatet, kann aber praktisch unter normativen Aspekten gedeutet werden.
Der Schwerpunkt dieses Konzepts liegt auf Kunst, Bildung oder Wissenschaft.26 Dies bleibt eine wertneutrale „Identifikation von Kultur mit jenem gesellschaftlichen Handlungsfeld, in dem die Produktion, Verteilung und Verwaltung von ‚Weltdeutungen‘ intellektueller, künstlerischer, religiöser oder massenmedialer Art stattfindet“.27 Dementsprechend wird Kultur als ein „soziales Teilsystem“ betrachtet, das sich auf einem Umweg mit Weltdeutungen befasst. Hierzu einige Beispiele: Friedrich Tenbruck (1919–1994) und Niklas Luhmann (1927–1998) vertreten einen derartigen Kulturbegriff. Tenbruck strebt eine Neubesinnung der Rolle der Sozialwissenschaften gegenüber dem Szientismus der 1970er Jahre an, d. h. die Beantwortbarkeit aller menschlichen Fragen durch die Wissenschaft und den ‚gesellschaftlichen Machbarkeitswahn‘, der der Wissenschaft alles erlaubt. Für ihn steht die Wissenschaft nach wie vor im Dienst der Aufklärung. Sein Streben gilt, die deutsche Kultursoziologie empirisch auszurichten. Tenbruck steht unter dem Eindruck Georg Simmels (1858–1918) und Webers. Er unterscheidet zwischen Kultur als „Erbe von Fertigkeiten, Einrichtungen, Kenntnissen und Werten, das über Generationen hinweg entstanden ist und weitergegeben wird“, gewissermaßen einer „Basiskultur“, und einer „geistigen Kultur“, die sich in Religion, Mythos, Kunst, Literatur, Musik, Philosophie und Ideologie ausdrückt.28 Er verweist auf die Asymmetrie zwischen Kulturproduzenten und Kulturkonsumenten der Gegenwart und bezeichnet die „moderne Kultur“ als eine „repräsentative Kultur“, die die Kulturintelligenz kreiert und über die Massenmedien verbreitet. Tenbruck erkennt hellsichtig, dass deren Weltdeutung nicht das Produkt aller sozialen Gruppen gleichermaßen ist und dass in den Medien eine verzerrte Kultursicht vertreten wird.29 Merke: Tenbrucks Denken ist darauf ausgerichtet, die Soziologie von der Verabsolutierung der Rollentheorie zu befreien. Mit der Ablehnung des in seiner Zeit geltenden Begriffs von Kultur gilt er als ein Modernisierer der Kultursoziologie.
26 Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien, 2006 S. 79. 27 Ebenda, S. 79. 28 Vgl. Schmidt, Siegfried J.: Kognitive Autonomie und soziale Orientierung: Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur, 1994 S. 214. 29 Vgl. Tenbruck, Friedrich H.: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft, 1990.
2.2 Sieben Orientierungen des Kulturbegriffs
37
Luhmann geht noch weiter und distanziert sich sogar förmlich von dem vor seiner Zeit gebräuchlichen Kulturbegriff. Er bezeichnet diesen als „einen der schlimmsten Begriffe, die je gebildet worden sind […]. Die Erfindung von ‚Kultur‘ am Ende des 18. Jahrhunderts, die Erfindung einer Form der Reflexion, die alles, was nicht Natur ist, als Kultur reflektiert […], diente historischen oder nationalen Kulturvergleichen, eine Veranstaltung des ‚gebildeten Europas‘ […], bei aller vergleichenden Relativierung blieb Kultur ein Gegenstand für Seinsaussagen.“30 Dieses Unbehagen hängt damit zusammen, dass ein statischer Kulturbegriff zur Legitimierung kolonialistischer Expansion und Machtdemonstration führte. Vergleiche seien meist kulturspezifisch angelegt, „und je differenzierter der Vergleich ausfällt, umso deutlicher wird, dass die eigene Kultur nicht auf allen Dimensionen als überlegene gelten kann. Kultur motiviert kritische Selbstreflexion, nostalgische Rückblicke oder auch Artikulation von Problemen, die für eine künftige Lösung anstehen.“31 Sein eigenes Verständnis von Kultur knüpft an seiner gesellschaftlichen Systemtheorie an. Für Luhmann bedeutet Kultur das Gedächtnis sozialer Systeme bzw. Gesellschaftssysteme.32 Systeme bringen sich, nach ihm, selbst hervor und sind im Kontext der Gesellschaft real, weil sie mithilfe semantischer Unterscheidungen in unterschiedlichen Kontexten über ein Thema kommunizieren. Bei seinem Kulturbegriff bezieht sich Luhmann ausschließlich auf soziale Kommunikationssysteme und nicht auf den Menschen als leibliche Existenz. Von dieser Annahme ausgehend kommt es ihm nicht auf Rollen und Handlungen von Individuen an, sondern auf Funktionen und Beziehungen in sozialen Systemen. Merke: Die allzu starke Bindung des Kulturbegriffs an Gesellschaften als Systeme lässt in Luhmanns Systemtheorie den Menschen in den Hintergrund treten und räumt ihm lediglich einen Platz als funktionierendes Element ohne Bewusstsein und leibliche Existenz in einem System ein.
Das intellektualistische Kulturkonzept verweist erstmals auf die mit Kulturtheorien verbundenen Machtverhältnisse. Im Unterschied zum normengebenden und geschlossenen Kulturkonzept, die von zwei unterschiedlichen Imperativen ausgehen, entspricht es eher den Grundpositionen der Interkulturalität. Insgesamt ist aber auch dieses Kulturkonzept recht eng gehalten. Es besteht die Gefahr, dem Menschen als Teil eines Systems ohne eigene Initiative zu wenig Raum zu geben. 2.2.4 Symbolisch-strukturelle Kulturbegriffe Dieses Kulturkonzept verweist auf einen weiteren Kulturbegriff und besteht aus unterschiedlichen Komponenten: Erklärungsversuch: Der symbolisch-strukturelle Kulturbegriff umfasst ein Konzept, nach dem Akteure die Bedeutung ihrer Handlungen mit symbolischen Ordnungen identifizieren und die Bedeutung dieser Handlung auf Strukturen beschränken.
30 Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, 1999 S. 398. 31 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997 S. 958. 32 Luhmann bezeichnet Kultur auch als „eine besondere, klassifizierbare Menge von Gegenständen, als eine ontologische Region der Welt im Unterschied zu anderen Gegenständen bzw. Regionen“. Luhmann, Niklas: Kultur als historischer Begriff, 1995 S. 31 f.
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2. Modelle von Kulturtransformationen
Dieses Konzept betrachtet Kultur als ein Konglomerat von Sinnsystemen, die als symbolische Ordnungen verstanden werden. Nach dieser Orientierung des Kulturbegriffs schaffen sich die Menschen ihre Wirklichkeit als bedeutungsvoll und richten ihr Leben hiernach aus. Hierzu ein Beispiel: Nach Clifford Geertz (1926–2006) ist Kultur eine dynamische und überdauernde Gesamtheit aller von den Mitgliedern eines Kollektivs geteilten Bedeutungen, die für sie als Deutungsweise und Handlungsmuster verhaltensbestimmend sind.33 Für ihn bedeutet Kultur „ein historisch überliefertes System von Bedeutungen, die in symbolischer Gestalt auftreten, ein System überkommener Vorstellungen, die sich in symbolischen Formen ausdrücken, ein System, mit dessen Hilfe die Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln“.34 Fahnen oder Nationalhymnen sind Beispiele solcher symbolischer Systembedeutungen. Mit der Deutung von Symbolsystemen und semiotischen Mitteln, die einer Kultur zur Wahrnehmung und Beschreibung der Welt dienen, löst Geertz in einer hermeneutischen Wende den ethnographischen Realismus Malinowskis ab. Nicht nur grundlegende Werte, Normen oder Welt- und Menschenbilder werden berücksichtigt, sondern auch Muster und Standards des alltäglichen Wahrnehmens, Fühlens, Denkens und Handelns. Für Geertz sind Kulturen von Spezifizitäten geprägt, die für das Verstehen der Kulturen grundlegend sind. Die Aufgabe besteht immer darin, auf diesem Wege diese Spezifizitäten zu identifizieren: „Wenn wir entdecken wollen, was den Menschen ausmacht, können wir das nur finden, in dem, was die Menschen sind: Und was die Menschen sind, ist höchst unterschiedlich. Indem wir die Verschiedenheiten verstehen – ihr Maß, ihre Kultur, ihre Basis und ihre Implikationen – können wir ein Konzept der menschlichen Natur erstellen, mehr ein statistischer Schatten als ein primitivistischer Traum, das beides beinhaltet. Substanz und Wahrheit.“35 Merke: Im Denken von Geertz spielt der Ausdruck „Dichte Beschreibung“ eine tragende Rolle. Hierunter versteht er die interpretierende Erfassung von Kulturen als Bedeutungsgewebe oder als geformte Texte, die es zu verstehen gilt. Als Voraussetzung gilt ein Kulturverständnis mit einem zeichenhaft-semiotischen Charakter. Jeder Mensch erschafft sich ein „selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe“ aus eigenen Eindrücken und Interpretationen, gepaart mit seinen kulturellen Vorprägungen. Diese befindet sich, je nach den gemachten Erfahrungen, permanent im Wandel.
Dass Kulturen gewisse Spezifizitäten aufweisen, ist unbestreitbar. Jedoch ist ein Denkansatz fraglich, in dem diese Spezifizitäten hypostasiert werden. Das Gleiche gilt für die Verschiedenheit der Menschen. Wenn wir Verschiedenheit überbetonen, dann essentialisieren wir und blenden das Gemeinsame zwischen Kulturen und Menschen aus. Wir können bspw. nicht vom Muttermal, das ein Franzose an der linken Wade hat, darauf schließen, alle Franzosen hätten an dieser Stelle Muttermale, wobei es auch Deutsche mit solchen Flecken an den Waden gibt. Interkulturelle Begegnungen, in welchem Kontext auch immer, speisen sich aus solchen Schnittmengen, die wir nicht problemlos reduzieren können.
33 Vgl. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung, 1987 S. 46. 34 Ebenda, 1987 S. 46. 35 Ebenda, 1987 S. 9.
2.2 Sieben Orientierungen des Kulturbegriffs
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Ferner sieht Geertz Sinnmuster als ein Kollektivphänomen, das sich in öffentlich wahrnehmbaren Symbolen zeigt, die in eine gemeinsame soziale Handlungspraxis eingehen. Mit diesem Ansatz betreibt er eine „Historisierung“ und „Entindividualisierung“ der Kulturanalyse, indem er weltanschauliches Orientierungswissen religiöser oder politischideologischer Art herausarbeitet. Auch befasst sich Geertz mit kultureller Ordnung und Stabilität und hält kulturelle Interferenzen und Mehrdeutigkeiten für normale Gegebenheiten. Diese Auffassung neigt gelegentlich zu einer interpretativ-hermeneutischen Version eines „Textualismus“, in dem den öffentlich produzierten symbolischen Praktiken unmittelbar ein „objektiver Sinn“ zugeschrieben wird. Dieser existiere unabhängig von subjektiven Sinnzuschreibungen und dem Hintergrundwissen der Teilnehmer. Dieser kulturtheoretische Ansatz ist hermeneutisch orientiert und basiert auf dem Verständnis einer interpretativ-verstehenden Sozialwissenschaft, die einen Standpunkt „aus der Sicht des Handelnden“36 einnimmt. Aber auch sie kann sich der Problematik nicht erwehren, die mit der Einnahme der Eigenperspektive verbunden ist, und macht teilweise das Andere zum Objekt der Betrachtungen eines vermeintlich überlegenen Subjekts. Merke: Es liegt nahe, a) dass alle Kulturen derselben Logik auf unterschiedlichem Wege folgen, b) dass diese Logik zwar in sich stimmig ist, sich häufig von außen betrachtet jedoch als pure Willkür erweist.
Ein Beispiel: Die Zande, eine zentralafrikanische Bevölkerungsgruppe, sind der Auffassung, dass es Menschen mit übersinnlichen Fähigkeiten, also Hexer, gibt und sich die Anlage zur Hexerei auf männliche Nachfahren vererbt. Demnach müssten sie anerkennen, dass alle männlichen, miteinander verwandten Mitglieder ihres Stammes ipso facto Hexer sind. Da dies in der Praxis aber nicht der Fall ist, lehnen sie diesen logischen Schluss ab, der eine ihrer wichtigsten sozialen Institutionen unhaltbar machen würde.37 Dass nicht der gesamte Stamm aus Hexern besteht, erklären sie sich dadurch, dass manche zwar das Potenzial zum Hexer haben, es in ihnen aber noch nicht wirksam geworden ist. Innerhalb ihrer Grenzen bildet diese Logik ein sich selbst genügendes Ganzes, das nur dann verfälscht wird, wenn es als Bruchstück eines größeren oder eines anderen Ganzen angesehen wird. In der westlichen Welt ist die Anwendung logischer Schemata kaum anders. So gilt als ein Mörder jemand, der einen anderen Menschen absichtlich tötet. Ein Bomberpilot wird hingegen nicht als Mörder angesehen. Zur Rechtfertigung hierfür dient eine Fülle an Unterscheidungen und logischen Argumenten. Die Infragestellung der institutionell sanktionierten „Arbeit“ eines Bomberpiloten käme nämlich einer Revolution gleich. David Bloor (*1942) resümiert, die Anwendung von Logik unterliege immer und überall unlogischen Motiven. Grenzen und Gehalt logischer Begriffe würden nicht entdeckt, sondern geschaffen werden. Der Aufbau logischer Schemata sei nur ein Weg, um Gedanken nachträglich zu ordnen. Sie seien als Verhandlungsgegenstand anzusehen, der durch andere, ebenso logisch erscheinende Strukturen ersetzt werden könne.
36 Vgl. Geertz, Clifford: ‚From the native’s point of view‘: On the nature of anthropological understanding, 1993. 37 Vgl. Bloor, David: Die Logik der Zande und die westliche Logik, 1984 S. 158.
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2. Modelle von Kulturtransformationen
Merke: Der Kulturbegriff von Geertz weist kulturessentialistische Dimensionen auf. Er verfährt ähnlich wie Malinowski, indem er unter gleichen Voraussetzungen symbolische Ordnungen anderer Kulturen betrachtet, die er letzten Endes nach eigenem Vergleichsmaßstab miteinander in Beziehung setzt. Ein System kann jedoch nur innerhalb seiner eigenen sozialen Hintergründe und traditionellen Vorstellungen die ihm zugrunde liegende Logik offenbaren.
2.2.5 Multikulturelle Kulturbegriffe Eine Folge der „Globalisierungen“ besteht darin, dass die meisten Gesellschaften heute multikulturelle Gesellschaften in dem Sinn darstellen, dass in ihnen Gruppen unterschiedlicher ethnischer, kultureller, religiöser und nationaler Herkunft leben. Die multikulturelle Gesellschaft ist somit eine Gesellschaftsform, in der Menschen unterschiedlicher Herkunft, samt ihrer Religionen und Sprachen, zusammenleben: Erklärungsversuch: Der multikulturelle Kulturbegriff kennt verschiedene Orientierungen des Kulturbegriffs: von Offenheit bis zur Geschlossenheit. Ihre Extremform geht von Kulturen als homogenen, „separaten Einheiten“ bzw. „geschlossenen Systemen“ aus. In diesem Sinne artikuliert sie Schutz und Anerkennung kultureller Unterschiede. Danach existieren Kulturen nebeneinander und sind einander wesensfremd.
Die folgende Abbildung visualisiert die Extremform dieser Orientierung, die ich als Modell vom „Nebeneinander der Kulturen“ bezeichnen möchte:
KA
KB
KC
Die Buchstaben A, B, C können freilich wahllos ersetzt werden durch Kontinente, Gesellschaftsstrukturen, Wissenschaftszweige, Fakultäten, Einzelfächer, Gemeinschaften, Gruppen, Personen, Denkformen, Religionen, Philosophien oder Weltanschauungen. Ein solches Modell der Multikulturalität lässt sich unter empirischen Gesichtspunkten nicht halten. Merke: Der Ausdruck „Multikulturalität“ lässt sich in seiner Extremform einerseits als Existenz einzelner Kulturen auffassen, die mit geschlossenen Grenzen nebeneinander stehen, oder als Auftreten für den Schutz kultureller Divergenzen.
Multikulturalität steht somit für eine Reihe von Theorien mit unterschiedlichen Handlungsimplikationen. Hier seien sechs weitere verschiedene Auffassungen von Multikulturalismus kurz erläutert38, die im Gegensatz zur Kulturtheorie von Huntington offener gestaltet sind: 38 Zu den folgenden sechs Dimensionen vgl. Neubert, Stefan u. a.: Multikulturalität in der Diskussion, 22008 S. 20 f.
2.2 Sieben Orientierungen des Kulturbegriffs
41
1. Der „tolerant-pluralistische Multikulturalismus“ hält jede Form von Kulturmischung, im Gegensatz zur Kulturtheorie Herders und Huntingtons, für eine Bereicherung der eigenen Kultur. 2. Der „Multikulturalismus als Chance zur Demokratisierung“ ist darauf ausgerichtet, die Ausländerpolitik durch Minderheitenpolitik zu ersetzen und auf politischer Ebene einen realistischen Umgang mit Einwanderern zu ermöglichen, um von der Kunstfigur des „Ausländers“ und sozialer Ungleichheit Abschied nehmen zu können. Auf kultureller Ebene wird eine autonome Entfaltungsmöglichkeit eingewanderter Minderheiten vorgeschlagen. 3. Der „radikal-universalistische Multikulturalismus“ verteidigt das universalistische Projekt der Aufklärung und ist darauf ausgerichtet, die Integrationsfragen nach den Maßstäben der europäischen Aufklärung zu diskutieren. Die Debatte um den EuroIslam fußt auf einem solchen Ansatz. 4. Der „lebenspraktische Multikulturalismus“ untersucht das Alltagsleben. Praktische Multikulturalität bedeutet, individuelle Lebensstile zu entfalten, Biographien zu entwerfen und diese immer wieder neu durch Transformationsprozesse zu verbinden. Der Alltag wird als Ort definiert, an dem verschiedene Traditionen oder Kulturen neu verschmolzen werden. Multikulturalität wird als eine Dimension des Zusammenlebens verstanden, die für die einzelnen Gesellschaftsmitglieder im Alltag zunehmend belanglos wird, d. h., dass primär egalitär organisierte Strukturen gefördert werden, die die Bedingungen zur persönlichen und kulturellen Entfaltung einzelner Gesellschaftsmitglieder erleichtern. 5. Eine „poststrukturalistische Position von Multikulturalismus“ setzt beim Anderen an und betont die kommunikative Inkommensurabilität des Anderen, der stets der Andere bleibt und der sich nicht ins Eigene verwandeln lässt. Nach diesem Ansatz finden Ost und West nie zusammen, weil sie als artverschieden und als unterschiedliche Universen betrachtet werden. 6. Der „Multikulturalismus als Bedrohung“ geht von einem ethnisch-homogenen Nationenkonzept aus und hält jegliche Mischung der Kulturen, wie der Ansatz von Herder, für eine Bedrohung, weil die Idee der Homogenität des Volkes im Vordergrund steht. Dieser Ansatz tendiert zum Rassismus, einem Phänomen, das wir überall in unterschiedlicher Form beobachten können. Rassismus hat einen dichotomisierenden Charakter und teilt Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Nationalität, Herkunft, Kultur oder Religion in höher- und minderwertige Gruppen ein. Er setzt die Superiorität der eigenen Gruppe über die anderen voraus. Charles Taylor und Homi K. Bhabha: Verfechter und Gegner Der Ansatz der „Multikulturalität“ wird in der Fachwelt unterschiedlich diskutiert. Als prominenter Vertreter dieser Theorie soll Charles Taylor (*1931) vorgestellt werden, als Kritiker Homi K. Bhabha(*1949). Taylor thematisiert die Gleichbehandlung von Individuen bei gleichzeitiger Achtung kultureller und ethnischer Identitäten. Er geht mit seiner „Politik der Anerkennung“ davon aus, dass Solidarität in modernen Staaten unter Ungleichen verwirklicht werden kann, wenn ihre kulturellen Lebenswelten anerkannt werden. Taylor unterscheidet drei Dimensionen der Identität: eine moralische und eine expressive Dimension sowie eine Gruppenidentität. Auf diesem Vorverständnis beruht seine Anerkennungstheorie von Minderheiten.
42
2. Modelle von Kulturtransformationen
Am Beispiel Kanadas beschreibt Taylor die dortige multikulturelle Gesellschaft in einem ideengeschichtlichen und politisch-praktischen Zusammenhang. Er analysiert den Wertewandel sowie Widersprüche in den Autonomiebestrebungen von Volksgruppen. Taylor sieht die Selbstbehauptungswünsche von Minderheiten in Kanada, besonders der sprachlich und kulturell französisch geprägten Minderheit innerhalb der englisch sprechenden Mehrheit, verwirklicht und eine multikulturelle Gesellschaft realisiert. Sein Kanadamodell versucht er nun, als Prototyp auf alle anderen Kulturen anzuwenden.39 Als weitere Begründung seiner Theorie beschreibt Taylor das Phänomen des Multikulturalismus am Beispiel eines demokratischen und eines frühen autokratischen Staates. Während in den alten autokratischen Staaten das friedliche Zusammenleben dadurch gewährleistet gewesen sei, dass der Zugang zu den Ressourcen geregelt wurde, stünden Menschen in demokratischen Staaten zueinander in starker Konkurrenz um Ressourcen, wodurch rivalisierende kulturelle Identitäten entstehen. Taylor ist der Auffassung, Solidarität sei nur in demokratischen Staaten gefordert. Als Beispiel betrachtet er die autokratische Staatsform des Osmanischen Reiches. Allerdings ist diese Feststellung sehr plakativ. Solidarität, die Taylor der Demokratie zuschreibt, war im Osmanischen Reich nicht weniger gefordert. Solidarität existiert in allen Staatsformen in unterschiedlicher Intensität und Ausformung. Es ist eine Tatsache, dass Theorien in unterschiedlichen Gesellschaften nur unter bestimmten Bedingungen funktionalisiert werden können. Wenn ein Modell in einer Gesellschaft praktische Anwendung findet, heißt es nicht, dass diese Applikation in einer anderen Staatsform, die unterschiedlichen Voraussetzungen unterliegt, verwirklicht werden kann. Daran krankt Taylors Politik der Anerkennung sowie sein Solidaritätsbegriff. Eine offene Frage ist, ob multikulturelle Interkulturalität in Vielvölkerstaaten wie dem Iran, in dem 30 Völker mit verschiedener Sprache und Kleidung friedlich zusammenleben und im Parlament ihre Vertreter haben, weniger solidarisch ist als liberaldemokratische Modelle. Bhabha weist in seiner Theorie der „kulturellen Differenz“ diesen Ansatz grundsätzlich zurück. Er betrachtet diese Konzeption als Grundlage der neoliberalen Identitätspolitik, die sich verabsolutiert und andere Ansätze nach eigener Definition beurteilt. Liberale Multikulturalität geht Bhabha zufolge auf politischer Ebene von einer Festschreibung von Identitäten, auf theoretischer Ebene von einer illusorischen Simultanität aus. Dies bedeutet, dass Kulturen geschlossen mit konstanten Merkmalen seien, die miteinander nichts zu tun haben. Bhabha kritisiert diejenigen Theorien, die Kulturen in dieser Form betrachten. In der Hybridität sieht er eine prozesshafte Neukonstruktion von Identitäten.40 Bhabhas Vorstellungen von „Kultur als Differenz“ und „kultureller Hybridität“ intendieren, die alten Muster des Kulturbegriffs als statischen Gebilden zu revidieren. Wie auch Senghaas ist Bhabha der Auffassung, dass Divergenzen innerhalb einer Kultur größer sein können als Konvergenzen zwischen Kulturregionen. Kulturelle Differenz bedeutet für beide, dass Interpretationsprozesse stets Divergenzen und Konvergenzen hervorbringen, und die Aufgabe besteht darin, sich zwischen beiden in den neu hervorgebrachten Sinnhorizonten immer neu zu orientieren. Die Theorie einer kulturellen Diversität sieht Bhabha problematisch, weil sie von Kulturen und Traditionen als geschlossene Einheiten ausgeht. Dies ist ein Grund, dass Bhabha 39 Vgl. Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, 1992. 40 Vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, 2000.
2.2 Sieben Orientierungen des Kulturbegriffs
43
dem Multikulturalismus ablehnend gegenübersteht, die ihm zufolge eine neue Form des Rassismus begründet. Das multikulturelle Konzept neigt, Bhabha zufolge, weiterhin vorwiegend zur Homogenisierung. Dies sei problematisch, weil sie zur Reduktion von Verschiedenheiten und der willkürlichen Bestimmung von Minoritätsrecht und Handlungspraxis des Anderen führe und weil in ihr der Versuch vorherrsche, die Menschen auf eine bestimmte kulturelle Identität zu fixieren.41 Da mit dem Ansatz der Multikulturalität die Idee einer Leitkultur verbunden ist, kritisiert Andreas Ackermann die Idee einer „ethnisch-kulturellen Homogenität“, die einer solchen Leitkultur zugrunde liegt. Diese gehe von der „Reinheit“ und „Unvermischtheit“ aus, bei der jede Vermischung als „Verunreinigung“ gilt. Wir könnten nicht eine Kultur, die ihre eigene Kulturvorstellung gewissermaßen als „Hardware“ pflegt, universalisieren und hoffen, dass mit ihr die Vielfalt der „Software“ anderer Kulturen funktionieren werde. Eine derartige Konzeption müsse zwingend von einem Kulturzentrum als Spitze der Zivilisation und einer Kulturperipherie ausgehen. Defizit- und Differenzhypothese Ein zentrales Problem fast aller genannten Auffassungen besteht darin, dass der Kulturbegriff ins Politische übersetzt und dabei unter den vorgegebenen Bedingungen ethnisch definiert wird. Die „Defizithypothese“ von Basil Bernstein (1924–2000) macht dies deutlich. Für ihn ist der Sprachgebrauch der sozialen Unterschicht defizitär. Zu dieser Bevölkerungsgruppe zählten seinerzeit die Gastarbeiter mitsamt ihren Familien. Auf politischer Ebene wurde beschlossen, eine kompensatorische Ausländerpolitik zu betreiben, um die sprachliche und kulturelle Einbindung von Minderheiten in die deutsche Mehrheitsgesellschaft anzustreben.42 Solche Integrationskonzepte betrachteten Fremdheit als ein Defizit gegenüber der Zielkultur, das durch gezielten Unterricht überwunden werden sollte. Diesem Konzept steht die Forderung dieser Minderheiten nach bikultureller und bilinguistischer Erziehung gegenüber. Mit der „Differenzhypothese“ von William Labov (*1927) aus den 1970er Jahren, die der Debatte um die Multikulturalität zuzuordnen ist, wird der Sprachgebrauch dieser Schichten hingegen positiv bewertet. Gemäß Labovs Hypothese sind alle Sprachgebrauchsformen, die unterschiedliche soziale Gruppen verwenden, in ihrem Verwendungsfeld funktional, ohne Rücksicht auf ihr stilistisches Niveau. Dies gilt für die Breite und Differenziertheit der Ausdrucksmöglichkeiten sowie die Erfassung logischer Zusammenhänge. Eine Bestätigung hierfür ist bspw. die „Kanak Sprak“ des Feridun Zaimoglu (*1964)43, die Sprache der türkischen Einwanderer. Da dieser Slang mittlerweile in die deutsche Umgangssprache, insbesondere in die Jugendsprache, Eingang gefunden hat, scheint das Verständnis von Kulturen als Monaden illusorisch. Für Labov, der Bernsteins Defizithypothese in Abrede stellt, ist die Sprache der sozialen Unterschicht zwar anders als der Sprachgebrauch der Mittel- und Oberschicht, in ihrem Bezugssystem jedoch ebenso funktional.44 Labovs Ansatz entspricht eher den kommunikativen Anforderungen interkultureller Begegnungen, während Bernstein zu einer gewissen Essentialisierung der Sprache tendiert.
41 42 43 44
Vgl. Peplow, Ronnie M.: Interkultureller Dialog, 2002 S. 62. Vgl. Krumm, Hans-Jürgen: Interkulturelles Lernen und interkulturelle Kommunikation, 1995 S. 156. Vgl. Zaimoglu, Feridun: Kanak Sprak, 1995. Vgl. Nicklas, Hans u. a.: Interkulturell handeln und denken, 2006 S. 173 ff.
44
2. Modelle von Kulturtransformationen
2.2.6. Transkulturelle Kulturbegriffe Der Begriff der „Transkulturalität“ wird ebenfalls im Rahmen der Globalisierungen als ein Schlüsselbegriff diskutiert. Der Ausdruck „Transkultur“ lässt sich auffassen als völliges Auslaufen der Kulturen ineinander, Grenzenlosigkeit der Kulturen, jenseits der Kulturen oder über Kulturen hinaus: Erklärungsversuch: Die transkulturelle Orientierung des Kulturbegriffs geht von der völligen Grenzenlosigkeit der Kulturen aus. Nach dieser Auffassung nimmt der Ansatz der Transkulturalität eine gemeinsame Kultur jenseits bestehender kultureller Eigenheiten an. Die Kombination von Elementen verschiedener Herkunft kann so ein Individuum transkulturell erscheinen lassen.
Die folgende Abbildung zeigt dieses Modell vom „Durcheinander der Kulturen“:
KA KB KC
Es gibt eine Reihe von Theorien, die dieses Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven heraus betrachten. Transkulturelle Ansätze gehen grundsätzlich von Universalien aus und unterstellen, „dass historisch sowohl die einzelnen Systeme als auch die individuellen Denk- und Handlungsmuster innerhalb eines universalen Gesamtsystems integriert und vereinheitlicht werden, wodurch sich allgemein gültige Strukturen ausformen“.45 Eine Folge dieser Entwicklung ist die Überwindung der bestehenden Kulturbegriffe und Identitäten zu Gunsten einer transkulturellen Identität. Ich beschränke mich auf den Ansatz von Wolfgang Welsch, einem Hauptvertreter der Transkulturalität. Die Entstehung einer transkulturellen Idee, auf die Welsch zurückgreift, hat eine eigentümliche Vorgeschichte. In Europa wurde der Begriff zur Bezeichnung von Zusammenhängen eingesetzt, in denen Bevölkerungen in föderierten Staaten wie Katalonien, Flandern oder Wallonien ihre Autonomie erstreiten wollten.46 Welsch differenziert den Kulturbegriff in einen „partikularistischen“ und einen „hybridisierten“ Begriff und geht davon aus, dass im Konzept der Transkulturalität die Komplexität von partikularisierter Kultur und die zahlreichen hybriden Übergänge, Binnendifferenzierungen und kulturellen Vernetzungen angemessen reflektiert werden. Allein so werde der „geschichtlich veränderten Verfassung heutiger Kulturen Rechnung“47 getragen und ein Denken von Kulturen als „separaten Einheiten“ überwunden.48 Mit Recht verweist Welsch darauf, dass die konstruierte „Trennschärfe zwischen Eigenkultur und Fremdkultur dahin“49 ist. 45 Kiesel, Doron: Das Dilemma der Differenz, 1996 S. 112. 46 Vgl. Demorgon, Jacques u. a.: Multikultur, Transkultur, Leitkultur, Interkultur, 2006 S. 31. 47 Welsch, Wolfgang: Transkulturalität, 2000 S. 336. Vgl. auch die ähnliche Auffassung von Antor, Heinz: Inter- und Transkulturelle Studien, 2006. 48 Welsch, Wolfgang: Transkulturalität, 2000 S. 330. 49 Ebenda, S. 339.
2.2 Sieben Orientierungen des Kulturbegriffs
45
Multikulturalismus und Interkulturalität sieht Welsch davon geprägt, dass dort eine Vorstellung von Kulturen als separate Entitäten und deren Nebeneinander bzw. dialogischem Miteinander zugrunde liegt.50 Beide würden noch die Prämisse einer „insel- oder kugelartigen Verfassung“ der Kulturen mit sich schleppen. Welsch vergleicht dies mit Herders Kulturbegriff, der, wie weiter oben behandelt, jede Mischung von Kulturen als Verlust an „Eindrang, Tiefe und Bestimmtheit“51 bezeichnet. Merke: Welschs Kritik am Ansatz der Interkulturalität umfasst zwei Stufen: Interkulturalität gehe von wohl abgegrenzten und sehr verschiedenen Kulturen aus; ferner frage sie dann, wie diese Kulturen sich miteinander vertragen, wie sie miteinander kommunizieren, einander verstehen, einander ergänzen oder anerkennen können.
Die erste Annahme Welschs ist so nicht haltbar und macht dessen Kritik obsolet. In diesem Sinne weist Fornet-Betancourt den Vorwurf der Monadenhaftigkeit der Interkulturalität zurück.52 Ralf Elm (*1958) bemerkt zur Transkulturalität, dass dieser Ansatz „nicht die kulturellen Tiefenstrukturen und Grundorientierungen zu erfassen vermag“.53 Solche Ansätze lassen sich von den oftmals technologisch initiierten Oberflächendurchdringungen bzw. von den exzeptionellen Erscheinungen des Künstlerischen leiten. Von Bedeutung in diesem Ansatz ist, dass nicht nur kulturelle Divergenzen ausgeblendet werden. Auch die Fragen nach Gerechtigkeit und die Kategorie der Macht werden begraben, welche für die Kommunikation in interkultureller Absicht zu berücksichtigen sind. Bernhard Waldenfels (*1934) weist darauf hin, dass sich die „Kluft zwischen Eigenwelt und Fremdwelt, zwischen Eigenkultur und Fremdkultur […] nicht schließen“ lasse, „und doch wird immer wieder der Versuch gemacht, sie auf diese oder jene Weise zum Verschwinden zu bringen.“ Für ihn bedeutet „Interkulturalität mehr als Multikulturalität im Sinn einer kulturellen Vielfalt, mehr auch als Transkulturalität im Sinn einer Überschreitung bestimmter Kulturen“.54 An anderer Stelle vertritt er die Ansicht, dass es „keinen Ort jenseits der Kulturen“ gebe, „den man als transkulturell bezeichnen könnte“.55 Wimmer hält das Adjektiv „transkulturell“ als ein Synonym für den Ausdruck „überlappend“56, während Christoph Antweiler (*1956) diesen Ansatz als „arg idealistisch“ bezeichnet, der nicht „zur Beschreibung realer interkultureller Umgangsmuster“57 geeignet sei.
50 Mecklenburg geht davon aus, dass ‚Interkulturalität‘ und ‚Transkulturalität‘ den Begriff der „Kultur im Singular“ voraussetzen. Er begründet seine These mit Beispielen aus der Physik und Literaturwissenschaft. Erstere sei transkulturell und letztere interkulturell. Vgl. Mecklenburg, Norbert: Das Mädchen aus der Fremde, 2008 S. 92. 51 Vgl. Herder, Johann Gottfried: Ueber die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten, 1967 S. 423. In seinen Briefen zur Beförderung der Humanität ergänzt Herder seinen Kulturbegriff und meint, Kultur gedeihe einzig „auf dem eigenen Boden der Nation, in ihrer ererbten und sich forterbenden Mundart“. Herder, Johann Gottfried: Sämtliche Werke, 1968 S. 46 ff. und 59. 52 Vgl. Fornet-Betancourt, Raúl: Unterwegs zur interkulturellen Philosophie, 1998 S. 16. 53 Elm, Ralf: Notwendigkeit, Aufgaben und Ansätze einer interkulturellen Philosophie, 2001 S. 14. 54 Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden, 1997 S. 110. 55 Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 2006 S. 109. Jacques Demoron und Hagen Kordes weisen die Idee der Transkulturalität zurück und sprechen von „Paradoxien der transkulturellen Perspektive“. Demorgon, Jacques u. a.: Multikultur, Transkultur, Leitkultur, Interkultur, 2006 S. 31. 56 Vgl. Wimmer, Franz Martin: Interkulturelle Philosophie, 2004 S. 19 und 51. 57 Antweiler, Christoph: Grundpositionen interkultureller Ethnologie, 2007 S. 91.
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2. Modelle von Kulturtransformationen
Kritik der Transkulturalität Die Struktur der Transkulturalität ist wie jene der Multikulturalität ambivalent, geht im Vergleich zu diesem Ansatz aber noch radikaler von einem Ideal der Homogenisierung aus. Indem dieser Ansatz eine radikale Vermischung der Kulturen voraussetzt, unterstellt er zugleich die Aufhebung kultureller Grenzen innerhalb einer Gesellschaft, die nun transkulturell geworden ist. Was hier übersehen wird, sind unaufhebbare Differenzen. Dies gilt nicht nur für interindividuelle Begegnungen insgesamt, sondern auch für Begegnungen zwischen Menschen, die aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten zueinander gefunden haben. Für die Begründung selbstverständlicher Hybridität der Kulturen und ihrer Kontexte bedürfen wir keiner transkulturellen Theorie. Es geht vielmehr um die Beantwortung der Frage, wie Menschen als transkulturelle Wesen miteinander in einen interkulturellen Dialog treten. Hierbei kann niemand endgültig beweisen, dass Menschen keine kulturellen Mischwesen seien. Es ist möglich, Differenzen durch konstruierte Idealsituationen auszublenden, gewissermaßen Evidenzen unter den Teppich zu kehren, die in realen Begegnungen unübersehbar sind. Haben etwa Juden in Europa oder Inder, die seit mehr als hundert Jahren in Kanada ihre Heimat gefunden haben, ihre Traditionen aufgegeben? Sind Türken, die vor etwa 50 Jahren die Bundesrepublik mit aufgebaut haben und heute ein „Teil“ dieser Gesellschaft geworden sind, transkulturell? Hier liegt der eigentliche Unterschied zwischen dem trans- und dem multikulturellen Ansatz zur Interkulturalität als einer wissenschaftlichen Lehrdisziplin. Interkulturalität sucht weder Homogenisierung oder Assimilation noch Zwangsintegration, sondern dialogische Zivilisierung. Es geht ihr im Wesentlichen darum, die Verhältnisse interkulturell neu zu durchdenken und durch die Korrelatbegriffe interkultureller Kommunikation eine Antwort auf die unaufhebbaren Differenzen in der Pluralität der Einstellungen und Überzeugungen zu formulieren.58 Dem transkulturellen Ansatz bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder erklärt er sich für eine Tautologie oder er wird in die Interkulturalität überführt werden müssen. Letzten Endes geht es um die Kommunikation, die sich zwischen zwei oder mehreren Individuen vollzieht. Man könnte formulieren: Transkulturelles bzw. kulturübergreifendens Denken ist die Voraussetzung des interkulturellen Handelns. 2.2.7 Interkulturelle Kulturbegriffe Lange wurde die Ansicht vertreten, einzelne Kulturen seien in sich abgeschlossene Gebilde mit eigenen Lebensfrüchten und Erkenntniswurzeln, die gewissermaßen wie Billardkugeln aufeinanderprallen. Ein solches Verständnis, das nicht vom menschlichen Wesen, sondern von Kulturen als in sich abgeschlossenen Universen mit konstanten, unveränderbaren Merkmalen ausgeht, ist mittlerweile als empirisch inadäquat kritisiert worden, weil hier eine Realität konstruiert wird, die es so nicht gibt. Neuere Forschungsrichtungen entwickelten deshalb das Modell eines offenen Kulturbegriffs, welcher sowohl zwischen einzelnen Kulturen als auch innerhalb jeder Kultur von durchlässigen Strukturen ausgeht. Trotz bestehender Divergenzen und Konvergenzen
58 Vgl. hierzu Yousefi, Hamid Reza: Verstehen und Verständigung in einer veränderten Welt, 2013.
2.2 Sieben Orientierungen des Kulturbegriffs
47
scheint das folgende, einigermaßen offen formulierte Kulturverständnis alle Theorien zumindest teilweise anzusprechen: Erklärungsversuch: Die interkulturelle Orientierung des Kulturbegriffs fasst den Begriff der „Kultur“ als ein offenes und dynamisch-veränderbares Sinn- und Orientierungssystem auf. Sie verkörpert einen offenen Überlappungs-, Übersetzungs- und Aushandlungsprozess.
Dieser Kulturbegriff bildet die Grundlage aller Erkenntnisse meiner Studie. Das folgende Schaubild visualisiert diesen offenen Kulturbegriff:
Y D
M E
Z
H
P S
W V
Diese Abbildung zeigt, dass Kulturen nach außen und innen offen, dynamisch und veränderbar sind. Bei der internen Eigendynamik kultureller Kontexte wird hier deutlich, dass Bereiche wie E, H und S sich innerhalb der offenen Großraumkultur von den übrigen Subkulturen abheben, eine Selbständigkeit oder sogar Reinheit demonstrieren. Besonders trifft dies auf extremistische Richtungen im Vergleich und Verständnis der Kulturen zu. Ausgehend von diesem offenen und dynamisch-veränderbaren Vorverständnis als Arbeitshypothese besteht die Aufgabe darin, zunächst das Mensch-Kultur-Verhältnis zu erläutern und in gebotener Kürze diskurshistorisch verschiedene Theorien vorzustellen. Hierzu einige Beispiele: Bekannte Befürworter dieser Kulturtheorie sind Mohammad Ali Mehimani (*1964) und Dieter Senghaas (*1940). Mehimani geht im Vergleich zu Malinowski und Geertz von einer offeneren Kulturtheorie aus. Er thematisiert die Struktur und Bedeutungsvielfalt des Zivilisations- und Kulturbegriffs im Kontext des west-östlichen Verständnisses. Mehimani unterscheidet zwischen tamaddon, Zivilisation, und farhang, Kultur, aus der die Zivilisation hervorgeht. Wie Geertz hält er Kulturen für dynamisch. Diese Dynamik ermöglicht, Vergangenheit und Gegenwart zu verbinden. Mehimani unterscheidet drei Kulturformen: farhange karbordi, musei, und armani, angewandte, museale und idealistische Kulturform.59 Angewandte Kulturformen beziehen sich auf die aktuellen Anwendungen kultureller Erscheinungen wie Autos, Mode, Architektur, Handwerk usw. Museale Kulturformen bezeichnen die archäologisierten Erscheinungen von Kultur wie Kunstwerke oder Monumente der Vergangenheit, die in dieser Form nicht mehr dieselbe Bedeutung haben. Idealistische Kulturformen sind zukunftsori59 Vgl. Mehimani, Mohammad Ali: Goftoguje tamaddonha wa farhangha, 2001 S. 263–280.
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2. Modelle von Kulturtransformationen
entiert. Ihr Ziel besteht darin, Herrschaftsfreiheit anzustreben, in der ein Dialog zwischen Kulturen und Zivilisationen auf gleicher Augenhöhe ermöglicht wird.60 Nach Mehimani geht Zivilisation aus der Kultur hervor und stellt eine säkularisierte Kultur dar: Ohne Kultur keine Zivilisation, lautet sein Fazit.61 Dieses Konzept will dazu beitragen, verschiedene Sinngebungen und Sinnfindungen im Rahmen eines polyphonen Dialogs gleichermaßen zum Tragen zu bringen. Mehimani sucht diese Praxis weder in der Moderne noch in der Postmoderne, sondern in einer dialogischen Toleranz gegenüber unterschiedlichen Kontexten. Merke: Die Kulturtheorie von Mehimani ist offen, weil sie Kulturen als unterschiedliche Sinnsysteme betrachten. Seinem Verständnis nach sind kulturelle Zugehörigkeiten zufällig und zeigen Differenzen.
Obwohl die vier vorgestellten Orientierungen des Kulturbegriffs zahlreiche Dimensionen und Strukturen der Kulturen beschreiben, vernachlässigen alle eine zentrale Dimension des Sachverhaltes: Sie betrachten Kulturen vorwiegend als „eigenständige Sozialsphären“, monolithische Gebilde oder „Großakteure der internationalen Politik“. Diese Einstellung wird in Fernsehdiskussionen, aber auch in Einzelstudien dann vertreten, wenn mit dem Begriff „Deutschland“ der Monolith „Christentum“ oder „Technokratie“ verbunden wird, mit dem Begriff „Iran“ hingegen die Monolithe „Islam“ und „Theokratie“. Auch zeigt sie sich, wenn über „asiatische“ und „islamische“ oder über „europäisch-westliche Werte“ in Form von „Kulturkreisen“ gesprochen wird. Interne Eigendynamik der Kulturen Dieter Senghaas greift ausgehend von einer interkulturellen Orientierung des Kulturbegriffs diese Denk- und Wahrnehmungsform auf und bezeichnet Theorien, die mit solchen Ausdrücken operieren, als „kulturessentialistisch“, weil sie in hohem Maße den Diskurs über Kultur bestimmen, indem „homogene und kohärente Kulturprofile einander gegenübergestellt und in aller Regel gegeneinander ausgespielt“62 werden. Ein solches Vorgehen widerspreche jedoch der konfliktiven Vielfalt kultureller Formationen, die seit Menschengedenken ein fester Bestandteil der Kulturerrungenschaften gewesen ist. Merke: Senghaas entwickelt eine Kulturvorstellung, die ich als „Konfigurationstheorie“ bezeichne, um auf die interne Pluralität und Konflikthaftigkeit in Kulturen hinzuweisen.
In gängigen Diskussionen erscheint Deutschland als eine Kultur, „für die immer schon Aufklärung, Individualismus, Demokratie, Menschenrechte, Religionsfreiheit, Pluralismus, freie Meinungsäußerung, die Gleichheit der Geschlechter u. Ä. repräsentativ und selbstverständlich gewesen sein sollen“.63 Der Iran hingegen wird als eine Kultur gesehen, für die immer schon Rückständigkeit, Kollektivismus, Tyrannei, Menschenrechtsverletzungen, Religionsunfreiheit, Einparteienherrschaft, Zensur, Ungleichheit der Geschlechter u. Ä. repräsentativ und selbstverständlich sind und gewesen sein sollen. 60 61 62 63
Vgl. Ebenda, S. 290 ff. Vgl. Ebenda, S. 202 und 272 f. Senghaas, Dieter: Zivilisierung wider Willen, 1998 S. 7. Ebenda, S. 8.
2.2 Sieben Orientierungen des Kulturbegriffs
49
Beide Interpretationen hält Senghaas für falsch, weil die vielgerühmten westlichen Errungenschaften das Ergebnis langer und harter Kämpfe waren, in denen sich Parteien mit unterschiedlichen kulturprägenden Auffassungen gegenüberstanden. Die Aufklärung war von gegenaufklärerischen Strömungen begleitet, soziale Verbesserungen wurden gegen heftige Widerstände ausgefochten und gerade heute zeigt sich auf dem Gebiet der harten sozialpolitischen Einschnitte, dass diese nicht unumkehrbar sind. Unterschiede politischer oder weltanschaulicher Auffassungen widersprechen der monolithartigen Auffassung einer Kultur. Sie gehen bis in Familien hinein – man betrachte etwa die Brüder Thomas und Heinrich Mann, die einst, zumindest in ihrer frühen Zeit, unterschiedliche Wertvorstellungen pflegten. Im Hinblick auf den Iran lässt sich der gleiche Sachverhalt beobachten. Spätestens ab Mitte des 8. Jahrhunderts, also etwa zweihundert Jahre nach der Entstehung des Islam, entwickelten sich fünf Rechtsschulen: die Hanafiten, die Malikiten, die Shafiiten, die Hanbaliten und die Djafariten, die sich teilweise radikal widersprechen, weil sie von unterschiedlichen gesellschaftlichen Ordnungen ausgehen. Seit der enqelabe-mashrute, der Verfassungsrevolution im Iran von 1907, herrscht bis in unsere Tage hinein eine heftige Kontroverse um die mardomsalarije eslami, also die islamisch-demokratische Ausgestaltung des Landes. Konflikte vergleichbarer Stoßrichtung lassen sich in vielen Gesellschaften in der Folge eines tiefgreifenden sozialen Wandels beobachten, so auch in China seit dem späten 19. Jahrhundert. Senghaas führt mit seiner auf innere Differenzen ausgerichteten Konfigurationstheorie vor Augen, dass interne Unterschiede von Kulturen häufig gravierender sind als Divergenzen zwischen den Kulturen. Wolfgang Welsch (*1946) macht mit Recht darauf aufmerksam, dass „die Kultur eines Arbeitermilieus, eines Villenviertels und der Alternativszene […] kaum noch einen gemeinsamem kulturellen Nenner aufweisen.“64 Das folgende Schaubild zeigt die interne Eigendynamik der Kulturen, also diverse Subkulturen innerhalb einer Kulturregion, die kontextuell unterschiedlich heterogen sind:
X
Y
F
M
G D C
P
R
H
P
N T K
E
Z
S
W V
Kultur A
Kultur B
Senghaas lenkt die Aufmerksamkeit, wie dieses Schaubild demonstriert, auf die interne Diversität von Kulturen, die für alle Formen der Kommunikation innerhalb und zwischen unterschiedlichen Traditionen grundlegend ist. Dies hängt damit zusammen, dass bei einer monolithhaften Selbst- und Fremdwahrnehmung die innere Differenzierung der Kulturen, der Kulturkampf unterschiedlicher Denkformen vor Ort, übersehen wird. Ein
64 Welsch, Wolfgang: Transkulturalität, 2000 S. 330.
50
2. Modelle von Kulturtransformationen
realistisches Selbst- und Fremdbild ist jedoch die Grundvoraussetzung einer fruchtbaren Kommunikation. Die Konfigurationstheorie von Senghaas weist darauf hin, dass Kulturwandel stets eine Folge tiefgreifenden sozialen Wandels ist. Betrachtet man die Französische Revolution als zugespitzten, d. h. besonders virulenten Kulturkonflikt, so ist festzustellen, dass die jeweilige Verankerung der Menschen- und Staatsrechte, die heute als europäisch-westlich gelten, vor 1789 keineswegs Bestandteil oder gar Inbegriff der Kultur in westlichen Gesellschaften war. Ähnliche interne Umbrüche sind gegenwärtig in Ländern wie China und dem Iran zu beobachten. Diese hinterfragen, erschüttern und bekämpfen die politisch-öffentliche Ordnung. Ein weiteres Ziel der Konfigurationstheorie besteht darin, die Aufmerksamkeit der Diskurse auf die Frage zu richten, ob und inwieweit die Kulturen ihre Fehlentwicklungen offenlegen und ihre Erfahrungen der anderen Kultur zur Verfügung stellen. Darin sieht Senghaas die produktive Ausrichtung einer Erfolg versprechenden interkulturellen Kommunikation. Die Konfigurationstheorie von Senghaas lenkt die Aufmerksamkeit auf die interne Diversität von Kulturen und fordert dazu auf, von einer Monolithhaftigkeit Abstand zu nehmen, die auf politischer Ebene als Instrument der Spaltung eingesetzt wird.
2.3
Zwischenbetrachtung
Bei der vergleichenden Analyse moderner Kulturtheorien der Gegenwart diskutierten wir zunächst das Mensch-Kultur-Verhältnis und die Erkenntniswurzeln und Lebensfrüchte der Kultur. Auf diesem Wege wurden sieben Orientierungen des Kulturbegriffs analysiert: normengebende, geschlossene und intellektualistische sowie symbolisch-strukturelle, multikulturelle, transkulturelle und interkulturelle Kulturbegriffe. Der letzte Kulturbegriff macht deutlich, dass Kulturen voneinander hermetisch nicht abzuriegeln, sondern von offenen Grenzen geprägt sind. Gemeinsam ist diesen Kulturtheorien der Versuch, zu erfassen, was Kultur ist, welche symbolischen Formen, Sitten, Gebräuche sowie Normen und Werte dabei bestimmend sind, und welche Stellung und Funktion dem Menschen innerhalb einer Kultur oder Subkultur unter Berücksichtigung von Kontextualitäten zukommt. Festgestellt wurde auch, dass diese Kulturtheorien von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen. Bei den vier ersten Kulturbegriffen wird bspw. die interne Ausdifferenzierung der Kulturen mehr oder minder vernachlässigt. Um diese Lücke zu schließen, stellten wir die Konfigurationstheorie von Senghaas vor, der auf diese interne Eigendynamik der Kulturen strukturell hinweist und der Debatte um den Kulturbegriff neue Dimensionen eröffnet. Insgesamt geht es nicht darum, diese Orientierungen des Kulturbegriffes zu überwinden, sondern diese für ein interkulturelles Miteinander fruchtbar zu machen.
2.3 Zwischenbetrachtung
51
3. Zum Entwurf der Interkulturalität als eine akademische Disziplin
Das Konzept des Kapitels auf einen Blick
Kultur als offenes Sinn- und Orientierungssystem
Interkulturalität: Wege und Versuche
Interkulturalität als eine akademische Disziplin
Orientierungsbereiche der Interkulturalität
Interkulturalität und Menschenwürde
Pluralistische Methode der Interkulturalität
Sinn und Funktion interkultureller Forschung
Zugänge zur Interkulturalität
Das Thema Interkulturalität wird unter mannigfaltigen Voraussetzungen betrachtet. Dazu gehören religiöse, ethnologische, soziologische sowie pädagogische, psychologische, linguistische, philosophische und auch politische, wirtschaftliche, historische und kulturelle Komponenten. Die bestehenden Theorien spiegeln alle diese unterschiedliche Richtungen wider. Auf praktischer Ebene etablieren sich zunehmend staatlich anerkannte Weiterbildungsmöglichkeiten zur Förderung der Interkulturalität und des interkulturellen Lernens. Die Teilnehmer solcher Weiterbildungen sind, neben engagierten Laien, in erster Linie Hochschulangehörige, Lehrpersonal von Schulen sowie Führungskräfte aus Wirtschaft, Verwaltung und sozialen Einrichtungen. Diese lassen sich zu interkulturellen Coaches oder Mediatoren ausbilden. Von historischer Warte aus wird die Entstehung der Interkulturalität mit Ereignissen und Erscheinungen, wie der Auflösung der Sowjetunion, der Gastarbeiterbewegung, der Migrationswelle, der Globalisierung oder der rasanten Entwicklung von Kommunikationssystemen seit Mitte des 20. Jahrhunderts verknüpft.1 Gesellschaftswissenschaftliche Theorien stellen interkulturelle Kontroversen in den Horizont ausländerpädagogischer und -politischer Problemstellungen. Sind einige Theorien der Auffassung, Interkulturalität
1 Vgl. hierzu Kür¸sat-Ahlers, Elçin (Hrsg.): Globalisierung, Migration und Multikulturalität, 1999 und Barloewen, Constantin von: Anthropologie der Globalisierung, 2007.
52
3. Zum Entwurf der Interkulturalität als eine akademische Disziplin
komme ohne eine „rationale Grundlage“ nicht aus2, charakterisieren andere Richtungen diese wiederum als eine neuzeitliche Zwischenperspektive, die den kulturellen Zerstörungs- und Verschmelzungstendenzen sozialer Gruppen und Gesellschaften Einhalt gebieten soll.3 Interkulturalität als eine Realität, die in allen Gesellschaften seit Menschengedenken anzutreffen ist, lässt sich aus vielerlei Gründen kaum auf weltweite Migrationsbewegungen und die Berührung mit dem kulturell Anderen beschränken. Eine solche Annahme würde die grundsätzliche Homogenität aller Kulturen als geschlossene Gebilde voraussetzen oder zur Folge haben. Indes gibt es, wie wir gesehen haben, innerhalb eines Landes oder einer Kulturregion auch Subkulturen und kulturelle Kontexte, die sich gegenseitig ausschließen, weil deren Divergenzen größer sind als die der kulturell Anderen. Die Aufgabe besteht nun darin, den Gegenstandsbereich der Interkulturalität zu erläutern und eine eigenständige Disziplin der Interkulturalität zu entfalten, die ihre Heimat in der Kulturwissenschaft hat.4
3.1
Interkulturalität: Wege und Versuche
Innerhalb der Debatte um interkulturelle Bildung hat sich ein Diskursfeld über die dargestellten Ansätze der Multikulturalität, Transkulturalität und Interkulturalität entwickelt. Diese Themen werden von Philosophen, Soziologen, Ethnologen, Medienwissenschaftlern, Theologen, Psychologen, Germanisten (hier insbesondere Deutsch als Fremdsprache) sowie Sprachwissenschaftlern und Pädagogen behandelt. Die bestehenden Ansätze haben bedeutende, interdisziplinäre Detailergebnisse erbracht, deren Systematisierung unter einem Dach allerdings noch eine Aufgabe der Zukunft ist. Wolfgang Welsch vertritt, wie wir sahen, den Ansatz der Transkulturalität und betont eine Grenzenlosigkeit der Kulturen, in der sich im Durcheinander alles mischt. Zugleich weist er die Ansätze der Multi- und Interkulturalität zurück und unterstellt, dass letztere Theorien die Kulturen als „separate Einheiten“ betrachteten.5 Heinz Kimmerle befürwortet dagegen den Ansatz der Interkulturalität, der auf einem offenen Kulturbegriff basiert und für ein Miteinander der Kulturen in dialogischer Verbundenheit steht.6 Er verwirft wiederum die Theorie Welschs mit der Begründung, er nehme mit der Vorsilbe „Trans“ einen unbestimmbaren Ort an. Die Befürworter der Multikulturalität, die eher nach politischen Lösungen für eine Koexistenz der Kulturen suchen, gehen davon aus, dass es für ein friedliches Nebeneinander der Kulturen, die gegenseitige Toleranz und Anerkennung verlangen, keiner Vermischung bedürfe. Sie pflegen damit ein Verständnis von Kulturen als separate Systeme. Der Ansatz der Multikulturalität nimmt im Allgemeinen eine relativierende Position ein und
2 Vgl. hierzu Auernheimer, Georg: Einführung in die interkulturelle Erziehung, 2007 und Eirmbter-Stolbrink, Eva und Claudia König-Fuchs: Ideen zur interkulturellen Pädagogik – abgeleitet aus der Erziehungswissenschaft, 2008. 3 Vgl. Kordes, Hagen und Jacques Demoron: Interkulturelle Geschichte zwischen Aussonderung und Verschmelzung, 2006 S. 55 f. 4 Hierzu gibt es eine Reihe von Komponenten und Auffassungen, die hier nicht diskutiert werden können. Verwiesen sei daher auf den grundlegenden Beitrag von Moosmüller, Alois: Perspektiven des Fachs Interkulturelle Kommunikation aus kulturwissenschaftlicher Sicht, 2000. 5 Vgl. Welsch, Wolfgang: Transkulturalität, 1992. 6 Vgl. Kimmerle, Heinz: Das Multiversum der Kulturen, 1996.
3.2 Interkulturalität als Forschungsgegenstand
53
hält alle Meinungen für gleich gut und gleich gültig. Zu den Hauptvertretern dieses Ansatzes gehört Charles Taylor.7 Merke: Die Befürworter und Kontrahenten von Trans-, Multi- und Interkulturalität gehen von unterschiedlichen Kulturbegriffen aus, die sich teilweise gegenseitig ausschließen: Durcheinander der Kulturen – Nebeneinander der Kulturen – Miteinander der Kulturen.
Einige weitere Ansätze, die aus unterschiedlichen Disziplinen stammen, sind stark ihren eigenen Fachrichtungen verbunden und beschäftigen sich mit Modellen der Interkulturalität nur aus ihrer jeweiligen Sicht. Aus dem Blickwinkel des Germanisten begründet Alois Wierlacher (*1936) seinen Ansatz der Interkulturalität. Mit seinem Konzept der Interkulturellen Germanistik hat er für die Etablierung interkultureller Ausrichtungen wichtige Beiträge geleistet. Zu erwähnen ist sein „Handbuch der Germanistik“, in dem er den Ausdruck Interkulturelle Germanistik als „Dach- und Fachbegriff“ und „eine interdisziplinäre germanistische Fremdkulturwissenschaft“ bezeichnet, „die in Forschung, Lehre und Organisation von Kultur(en)gebundenheit germanistischer Arbeit ausgeht“.8 Auch Csaba Földes (*1958) und Gerd Antos (*1949) stellen in einem Sammelband zahlreiche Forschungskontexte bzw. -konzepte zu Inhalten und paradigmatischen Fragestellungen einer interkulturellen Betrachtungsweise aus der Perspektive der Sprach- und Literaturwissenschaft sowie der Didaktik zusammen.9 Zu Recht weist Földes darauf hin, dass es bislang nichts Anwendbares, sondern vielmehr Verzichtbares und im besten Falle „eher deklarative Erklärungen statt schlüssiger Theoreme und verifizierbarer Ergebnisse“ über die Interkulturalität gibt.10 Diese Feststellung verweist auf eine Lücke, die es dringlich zu schließen gilt. Deshalb ist ein zentrales Ziel dieser Studie der konzeptionelle Entwurf einer Theorie der Interkulturalität als wissenschaftlicher Disziplin, auf die ich noch ausführlich zu sprechen kommen werde.
3.2
Interkulturalität als Forschungsgegenstand
Bei einer Reise ins Ausland, aber auch bei Begegnungen im eigenen Land haben wir uns bestimmt schon einmal im Gespräch mit dem Anderen in Situationen befunden, in denen wir unser Verständnis oder Unverständnis zu einer Einstellung oder Überzeugung zustimmend oder mit Kopfschütteln zum Ausdruck gebracht haben. Möglicherweise gab es auch Momente, in denen wir der Auffassung eines Ausländers näherstanden als der eines Deutschen. Situationen der einen wie der anderen Art weisen starke Differenzen in Einstellungen oder Überzeugungen auf. Hängebauchschwein und das Wagnis des Neuen Um das Anliegen der Interkulturalität zu verdeutlichen, stelle ich meinen Überlegungen folgendes Beispiel voran:
7 8 9 10
Vgl. Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, 1992. Vgl. Wierlacher, Alois: Handbuch interkulturelle Germanistik, 2003. Vgl. Földes, Csaba und Gerd Antos: Interkulturalität: Methodenprobleme der Forschung, 2007. Földes, Csaba: Black Box ‚Interkulturalität‘, 2009 S. 504.
54
3. Zum Entwurf der Interkulturalität als eine akademische Disziplin
Beispiel: Einige Menschen bekommen zum ersten Mal ein Hängebauchschwein zu Gesicht. Zunächst sind sie verblüfft, doch dann behauptet einer von ihnen felsenfest, es handele sich hierbei um eine Ratte, die zu viel gefressen habe. Ein anderer meint ebenso überzeugt, dies sei ein Elefant, der vor Hunger geschrumpft sei.
Was geschieht hier? Diese Geschichte vermittelt uns eine Situation, in der zwei Gruppen von Menschen unterschiedlicher Kultur bzw. Wahrnehmung mit einem Sachverhalt konfrontiert werden, der offensichtlich beiden Parteien unbekannt ist; beide sind bestrebt, diesen in das eigene Bezugssystem zu stellen und aus dessen innerer Logik heraus zu bestimmen. Die folgende Abbildung visualisiert den kommunikativen Charakter einer solchen Sehenslogik: Kultur A Eigene Sehenslogik: Richtig
Kultur B Kommunikationskanal
Andere Sehenslogik: Falsch
Kultur A
Kultur B
Andere Sehenslogik: Falsch
Eigene Sehenslogik: Richtig
Kommunikationskanal
In beiden Fällen ist ein vordefiniertes Verständnis bestimmend. Dies hat zur Folge, dass die Sichtweise des Anderen auf der Grundlage des eigenen Bezugssystems beurteilt wird. Das heißt: Man entscheidet für den Anderen mit und unterstellt ihm zugleich, er habe das Phänomen falsch verstanden. In dieser Begegnungssituation, in der unterschiedliche Formen des Wahrnehmens und Bewertens aufeinandertreffen, nehmen die Urteilenden nicht wahr, dass es sich bei der Erscheinung Hängebauchschwein um eine völlig neue Erfahrung handeln könnte. Darüber hinaus ignorieren beide, dass diese Erfahrung mit ihrem eigenen Bezugssystem nicht unbedingt angemessen beurteilt werden kann. Eine solche dichotomisierende Struktur ist in weiten Bereichen des menschlichen Lebens anzutreffen. Sie zeigt sich in unterschiedlichen wissenschaftlichen Vorgehensweisen, die zwar ein gemeinsames Ziel verfolgen, aber in ihren methodischen Ausrichtungen differieren, oder in unterschiedlichen Konzepten zur Bekämpfung gesellschaftlicher Missstände sowie in internationalen Beziehungen, die einer unterschiedlichen Logik der beteiligten Nationen unterliegen. Dieses Verhalten verweist auf ein Problem, das eine unmittelbare Auswirkung auf die Kommunikation als Ausgangsposition der Interkulturalität hat. Was bedeuten das Adjektiv „interkulturell“ und das Substantiv „Interkulturalität“? Erklärungsversuch: Das Adjektiv „interkulturell“ bezeichnet einen Raum, in dem ein Austauschprozess stattfindet, durch den Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund miteinander in Kontakt treten.
3.2 Interkulturalität als Forschungsgegenstand
55
Das Adjektiv „interkulturell“ hat einen verbindenden Charakter. Die Vorsilbe „inter“ verweist auf eine Tätigkeit, die darauf ausgerichtet ist, die Verschiedenheit der Köpfe und die Mannigfaltigkeit der Wege im menschlichen Leben miteinander ins Gespräch zu bringen. Mit Molla Sadra (1571–1640) lässt sich dies wie folgt begründen: Merke: „Der Mensch ist ein soziales Wesen, weil er zur Erhaltung seines Lebens der Unterstützung und des Zusammenwirkens mit anderen Menschen bedarf.“11
Diese erkenntnisleitende Überlegung Molla Sadras ist für die Kommunikation in jeder Hinsicht grundlegend. Der kulturelle Hintergrund umfasst vor allem religiös-kulturelle Zugehörigkeiten, mystisch-philosophische Wahrnehmungen, Sprachkunst und Rechtssysteme sowie unterschiedliche Denk- und Lebensentwürfe. Hierzu gehört auch die Praxis im Umgang mit dem Anderen, die erheblich differieren kann. Dieser Themenkomplex wird später noch weiter dargestellt werden. Was ist das – die Interkulturalität? Erklärungsversuch: Interkulturalität ist der Name einer Theorie und Praxis, die sich mit dem historischen und gegenwärtigen Verhältnis aller Kulturen und der Menschen als deren Träger auf der Grundlage ihrer völligen Gleichwertigkeit beschäftigt. Sie ist eine wissenschaftliche Disziplin, sofern sie diese Theorie und Praxis methodisch untersucht.
Die Stärke der Interkulturalität als akademische Disziplin ist eine transdisziplinäre, fachübergreifende Analyse und Reflexion. Auf der interkulturellen Ebene ist die gesamte Methode beheimatet, mit einer starken Prägung von Normativität, weil es sich um die Begegnung von Menschen handelt, die mit unterschiedlichen Forderungen aufeinandertreffen. Transkulturelles Denken bedeutet auf dem Wege dieser Analyse und Reflexion die kulturübergreifende Überwindung des reinen Kulturalismus, der ausschließlich divergenzorientiert ist. Insofern sind transkulturelles Denken und interkulturelles Handeln zwei Seiten derselben Medaille. Das Prinzip des „Modells des offenen Kulturbegriffs“ gilt, wie das folgende Schema darstellt, auch für alle anderen Kulturen im Weltkontext:
I D
Y
A H
Z
B
W U
E
V
C H
T
M
Ü
P K
Ö V
Die Folge dieses offenen Kulturverständnisses ist für die Forschung außerordentlich bedeutsam. Bestehende Forschungsergebnisse aller Wissensgebiete sind daraufhin zu untersuchen, nach welchem Kulturbegriff sie aufgebaut und begründet wurden, und ggf. interkulturell neu zu durchdenken. Bei dieser Forderung gilt es hervorzuheben, dass die 11 Molla Sadra: Das philosophische System von Schirazi, 1913 S. 259.
56
3. Zum Entwurf der Interkulturalität als eine akademische Disziplin
hier bevorzugte Kulturauffassung nicht die traditionellen Theorien paradigmatisch ablösen, sondern sie korrigieren, ergänzen und erweitern will. Auch Auernheimer, Alexander Thomas, Christoph Barmeyer und Petia Genkova gehen von einem solchen Kulturbegriff aus. Während Auernheimer Kultur als ein „Bedeutungssystem“ auffasst, „das sich die Menschen in der Auseinandersetzung mit ihren Lebensbedingungen zu ihrer Orientierung schaffen“12, so ist Kultur für Thomas „ein universelles […] Orientierungssystem“, dass „aus spezifischen Symbolen gebildet und in der jeweiligen Gesellschaft usw. tradiert“13 wird. Barmeyer und Genkova argumentieren ähnlich und verstehen unter Interkulturalität „einen gegenseitigen Verständigungsprozess von Personen, die verschiedenen Kulturen zugehörig sind und insofern nicht über dieselben Wertorientierungen, Bedeutungssysteme und Wissensbestände verfügen“.14 Interkulturalität als eine wissenschaftliche Disziplin ist für jede Form von Phänomenologie, Anthropologie, Soziologie und Kulturphilosophie relevant. Wenn im Kontext der Interkulturalität von Kultur oder Kulturen geredet wird, so ist stets ein Verständnis gemeint, das den Kulturbegriff als ein dynamisch-veränderbares Sinn- und Orientierungssystem mit offenen Grenzen versteht. Dies schließt im Sinn der Konfigurationstheorie von Senghaas auch ihre inneren Differenzierungen ein.
3.3
Interkulturalität und Menschenwürde Erklärungsversuch: Die Menschenwürde ergibt sich daraus, dass der Mensch nicht ohne Bewusstsein lebt, sondern sich denkend, lernend, verstehend und fühlend mit seinen Mitmenschen in Beziehung setzt. Das Gefühl der Achtung zu sich selbst und anderen gegenüber, das Pflichtgefühl, sich am Leben zu erhalten und gewissenhaftes sowie verantwortungsvolles Handeln sind Eigenschaften, die nur im Menschen ihren Ausdruck finden. Diese variablen Attribute machen die Einzigartigkeit der menschlichen Gattung und ihre Würde aus. Freiheit, dem ureigenen Bedürfnis des Menschen, sich selbstbestimmend zu entfalten, ist ein Bestandteil der Menschenwürde.
Jeder Mensch besitzt, unabhängig von seinem Geschlecht, seiner Herkunft, Religion, Nationalität oder ähnlichen Unterscheidungsmerkmalen, allein durch seine Existenz eine unveräußerliche Würde. Merke: Es gibt einen zweifachen Begriff der „Würde“: angeborene und erworbene Würde: 1. Angeborene Würde ist universell und liegt im menschlichen Wesen begründet. Selbstachtung und Autonomie sowie Überlebensinteresse sind Charakteristika dieser Würde. 2. Erworbene Würde wird dem Menschen durch das Grundgesetzt zuerkannt, um die angeborene Würde zu schützen.
Menschenwürde beschreibt somit eine notwendig gegebene Eigenschaft, die ihre Heimat in der menschlichen Seele hat. Aus dieser Würde speist sich eine Reihe von unveräußerlichen Rechten. 12 Vgl. Auernheimer, Georg: Einführung in die Interkulturelle Erziehung, 1990 S. 84. 13 Vgl. Thomas, Alexander: Psychologie interkulturellen Lernens und Handelns, 1993 S. 380. 14 Barmeyer, Christoph und Petia Genkova: Wahrnehmung, Stereotypen und Vorurteile, 2010 S. 35 f.
3.3 Interkulturalität und Menschenwürde
57
Interkulturelle Forschung orientiert sich in allen ihren Kontextualitäten an dem Bezugssystem der Menschenwürde. Die Interkulturalität der Menschenwürde, auf die ich im fünften Kapitel ausführlicher zu sprechen kommen werde, ergibt sich aus den begrifflichen Systemen der jeweiligen Kulturen, Religionen und Denktraditionen, unter Berücksichtigung ihrer Kontexte. Indes kann kein Kulturraum die Universalität der Menschenwürde, auf die noch bei der Analyse interkultureller Ethik eingegangen werden wird, für sich reklamieren; sie ist niemandes Besitz alleine. Merke: Die tragenden Säulen der Interkulturalität bilden das Prinzip der Unverfügbarkeit des Individuums und die Unantastbarkeit seiner Würde, jenseits kultureller, religiöser und nationaler Grenzen. Dies hängt damit zusammen, dass das Subjekt der Interkulturalität immer nur der Mensch mit all seinen Eigenschaften ist. Der Ausdruck „Würde“ bezeichnet eine anthropologische Eigenschaft, die einem autonomen Subjekt zukommt, der über Vernunft und Verstand sowie über Gewissen und Willen verfügt.
Die folgende Abbildung demonstriert das Wesen der Interkulturalität: Auf dem Menschenbild baut die Menschenwürde auf, die eine zentrale Säule der Interkulturalität und ihrer Teildisziplinen darstellt. Darauf fußen polyphone Dialoge.
Polyphoner Dialog
Menschenwürde Menschenbild
Interkulturalität hält jede Form von Verabsolutierung eigener Auffassungen für unfruchtbar, die das eigene Verhältnis zu anderen Gruppen ausschließlich durch das eigene Referenzsystem bestimmt.15 Deshalb ist sie mit keinem Namen und keiner Epoche, wie der europäischen oder einer außereuropäischen, verknüpft, gewissermaßen eine „kontextgebundene Ortsungebundenheit“. Interkulturalität erstrebt durch ihre Methode einen kritisch-argumentativen Dialog zwischen und innerhalb unterschiedlicher Denkstrukturen und Weltanschauungen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten, um den Weg zu reziproken Plänen, Modellen und Lösungen zu bahnen. Sie vollzieht sich durch eine Vielzahl von Dialogen zwischen und innerhalb der Kulturen und Traditionen. Dadurch will Interkulturalität bestehende Diskurse aus ihrer Monokausalität befreien und einen Paradigmenwechsel und eine Bewusstseinserweiterung im Wahrnehmen und Begegnen der Individuen in allen kulturellen Kontexten herbeiführen. Mit ihr wird eine interkulturelle Kommunikation angestrebt, in der sich Verstehen-Wollen und Verstandenwerden-Wollen des Eigenen und des Anderen bedingen.
15 Vgl. Kiesel, Doron: Das Dilemma der Differenz, 1996.
58
3. Zum Entwurf der Interkulturalität als eine akademische Disziplin
Merke: Interkulturelle Dialoge lassen sich unterscheiden in 1. kulturelle Dialoge, die keine Tradition bevorzugen, aber eine wechselseitige Bereicherung durch Kommunikation und Interaktion intendieren, 2. philosophische Dialoge, die die Einsicht kultivieren, dass die „Wahrheit“ von allen gesucht wird, aber niemandes Besitz allein ist, 3. philosophiegeschichtliche Dialoge, die von einer Pluralität der Geschichten ausgehen und jede Privilegierung oder Verabsolutierung einer bestimmten Geschichte zurückweisen, 4. religiöse Dialoge, die aufzeigen, dass Erleuchtung unabhängig von der jeweiligen Gottesvorstellung oder Antwort auf die Gottesfrage möglich ist, 5. religionswissenschaftliche Dialoge, die beinhalten, dass Religionen und Kulturen in gemeinsamen „Lebenswelten“ verwurzelt sind, die sie miteinander verbinden, 6. geschichtliche Dialoge, die sich mit den Folgen gewaltsamer Auseinandersetzungen beschäftigen und darauf ausgerichtet sind, Überlappungen und Differenzen in Geschichte und Gegenwart der Kulturen herauszuarbeiten, 7. wirtschaftliche Dialoge mit dem Ziel, Grundprobleme wie das der Globalisierung und einer Wirtschaftsethik wie vor allem die Lösung der Verteilungskonflikte im Kontext der Weltwirtschaft darzustellen, 8. erzieherische Dialoge mit dem Ziel, vom Kindergarten bis zur Erwachsenenbildung eine Einstellung wechselseitiger Toleranz zu fördern, 9. psychologische Dialoge, die die Grundzüge des seelischen Verhaltens der Menschen und ihrer verschiedenen Erscheinungsformen auf der Ebene der Gleichheit analysieren wollen, 10. soziologische Dialoge, welche die Soziologie der Kulturen und die Auswirkungen intra- und interkulturellen Verhaltens auf gesellschaftliche Strukturen untersuchen.
Die folgende Abbildung visualisiert die Komplexität und Mehrdimensionalität der Teilnehmer an polyphonen Dialogen, die eine Vielzahl von Methoden und strukturellen Bedingungen zur Voraussetzung haben:
I
Y
A
D
C
Z
H
H
P
B
W
E
V
H
T
M
K
Ö
U
V
Polyphoner Dialog Y G
E
N E
A
Ö
S
W X
E
Z
M
P
Q
F
L P
Ä Ü
Der Prozess solcher Dialoge verläuft, wie die unterschiedlichen Rasterungen in Schaubild verdeutlichen, oft nicht kontinuierlich, denn er wird stets von einer Vielzahl von systemstrukturellen und kontextuellen Bezugsfeldern, Problemen und Hindernissen begleitet, die ihn und seine Zielrichtung beeinflussen oder gar bestimmen können. Interkulturalität bildet die Grundlage zahlreicher geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Teilbereiche, die mit dem Adjektiv „interkulturell“ gekennzeichnet sind. Die
3.4 Sinn und Funktion interkultureller Forschung
59
Bezüge zwischen den Fachgebieten und ähnlichen Teilgebieten lässt sich wie folgt visualisieren:
Philosophie Kommunikation
Psychologie
Religionswissenschaft
Teilgebiete der Interkulturalität
Theologie
Sprachwissenschaften
Soziologie Pädagogik
Diese Fachgebiete unterscheiden sich von traditionellen Formen durch ihren Umgang mit dem Anderen. Wurde die Äußerung des Anderen bisher vernachlässigt, so lassen sie das Andere im vollen Sinn zu Wort kommen. Ein wesentliches Merkmal dieser Fachgebiete ist ihre Interdisziplinarität. Interkulturalität als akademische Disziplin ist eine erkenntnistheoretische Antwort auf die gewandelten kulturellen Kontexte, die nicht hermetisch voneinander abgeriegelt sind. Sie umfasst eine Reihe von Teildisziplinen, die eine offene und kritikorientierte Kommunikation innerhalb und zwischen diesen Kontexten methodisch wie didaktisch erleichtern sollen.
3.4
Sinn und Funktion interkultureller Forschung
Im „Weltalter der Globalisierungen“ bedürfen wir neuer Denk- und Vorgehensweisen. Die Bezeichnung „Weltalter“ ist besser als die des „Zeitalters“, weil erstere den weltumfassenden Charakter der Globalisierungen, die viele Dimensionen des menschlichen Lebens beeinflussen, treffend zum Ausdruck bringt. Begriffliche Neuorientierung Eine Möglichkeit ist, die vorhandenen Begrifflichkeiten interkulturell neu zu durchdenken, die bereits teilweise Eingang in die Forschung und Lehre gefunden haben. Hier geht es um eine interne und externe Interkulturalisierung der Forschungen. Erklärungsversuch: Interkulturelle Forschung ist der Name einer Tätigkeit mit einem dialogtheoretischen und dialogpraktischen Charakter, die darauf ausgerichtet ist, traditionelle Methoden und Theorienansätze, die außereuropäische Traditionen nicht angemessen kritisch gewürdigt haben, interkulturell neu zu durchdenken, um neue Wege in Aussicht zu stellen.
60
3. Zum Entwurf der Interkulturalität als eine akademische Disziplin
Mit den bisherigen Forschungsmethoden wurde ausschließlich das „Fremde“ als Objekt eigener Forschung betrachtet. Auch wurde weniger der Versuch unternommen, den ethnologischen Blick auf die eigene Kulturregion zu richten. Forschungen aus einer eigenen Perspektive, die zudem häufig einen eurozentrischen Charakter besitzen, haben zu Ergebnissen geführt, denen allzu häufig Einseitigkeit und eine gewisse Überheblichkeit anhaftet. Interkulturelle Forschung zielt auf das Verstehen der Kulturschöpfungen ab. In einem solchen Prozess stehen mehrere Diskursteilnehmer, trotz irreduzibler Unterschiede, miteinander in einer ergebnisreichen Verständigung. Interkulturelle Forschung reduziert nicht „alle Arten von Dyaden und Polaritäten auf einen einzigen fundamentalen Typ“.16 Wichtige Werke zu Kulturtheorien weisen indessen ein solches Defizit auf. Beispiel: Außereuropäische Kulturtheorien werden im Kontext europäisch-westlicher Forschung kaum zur Kenntnis genommen. Dieses Defizit lässt sich an dem dreibändigen „Handbuch der Kulturwissenschaft“ verdeutlichen, dessen programmatische Haltung im Eingangsartikel des ersten Bandes ihre Verankerung findet.17 Der Kulturbegriff wird aus dem Lateinischen abgeleitet, die Folgerung aus dieser etymologischen Herleitung ist eine Fokussierung des Kulturbegriffs auf die vom Lateinischen beeinflussten westeuropäischen Kulturgebiete.
In diesem und weiteren Bänden des Handbuches kommen Vertreter außereuropäischer Kulturregionen wie Asien, Afrika oder die islamischen Länder nicht zu Wort. Eine solche, als „eurozentrisch“ kritisierte Sichtweise ist normativ irreführend und empirisch unangemessen, weil hier vorausgesetzt wird, dass alle Völker von diesem Begriffsverständnis der Kultur ausgehen und darunter das Gleiche verstehen. Das „Lehrbuch Kultur“ von Dietmar Treichel und Claude-Hélène Mayer ist eine kritische Korrektur und konstruktive Erweiterung dieses Kompendiums, in dem sowohl interkulturelle Ansätze als auch, wenn nicht signifikant, außereuropäische Kulturtheorien zur Darstellung kommen. Diese Aufsatzsammlung ist ein programmatischer Versuch, eine Reihe von Kulturtheorien darzustellen, die von Konvergenzen und starken Divergenzen geprägt sind. Das Lehrwerk beginnt mit einer grundsätzlichen Klärung des Kulturbegriffs, ohne diesen einer bestimmten Kultur oder Tradition zuzuschreiben. Zutreffend bezeichnen die Herausgeber den Band „als Mosaik und die Beiträge als Puzzlesteine“ oder, an anderer Stelle, als „ein Angebot“.18 Verknüpfung von Innen- und Außenperspektiven Interkulturelle Forschung blickt möglichst nach allen Seiten und fragt nach den Konsequenzen solcher Betrachtungsweisen für die Zielsetzung im Inneren. Sie verweist auf die Pluralität unterschiedlicher Geschichten, Sichtweisen, Zugänge und methodischer Ausrichtungen, die sich ergänzen, überlappen oder bekämpfen. Ihre Notwendigkeit besteht in der veränderten Verfassung kultureller Kontexte und immer intensiverer Begegnung von Kulturen und Weltanschauungen, die über unterschiedliche Vernunftmodelle sowie deren jeweils mannigfaltige Begründungen verfügen. 16 Eliade, Mircea: Die Sehnsucht nach dem Ursprung, 1973 S. 208 und S. 83 f. Hermeneutik fordert nach Helmuth Plessner (1892–1985) „eine Lehre vom Menschen mit Haut und Haaren, eine Theorie seiner Natur, deren Konstanten allerdings keinen Ewigkeitsanspruch gegenüber der geschichtlichen Variabilität erheben, sondern sich selber zu ihr offenhalten, indem sie ihre Offenheit selber gewährleisten“. Plessner, Helmuth: Die Frage nach der Conditio Humana, 1976 S. 27. 17 Vgl. Jaeger, Friedrich u. a.: Handbuch der Kulturwissenschaften, 2004. 18 Treichel, Dietmar und Claude-Hélène Mayer (Hrsg.): Lehrbuch Kultur, 2011 S. 13.
3.4 Sinn und Funktion interkultureller Forschung
61
Sowohl die Überschreitung der Grenzen verschiedener Disziplinen als auch die daraus resultierende interdisziplinäre Forschungstätigkeit „erfordert eine gemeinsame Sprache, die über die Fächergrenzen hinweg verständlich ist und es ermöglicht, Anschlussstellen zu bilden und die Einsichten und Ergebnisse anderer Fächer produktiv in die eigene Arbeit aufzunehmen.“19 Dies geht mit dem Prinzip einher, dass interkulturelle Forschung keinen bestimmten Kulturstandard ab ovo privilegiert, und dies sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Im Rahmen einer interkulturellen Forschung ist eine Aufstellung von Meinungen, Äußerungen und Interpretationen historischer und gegenwärtiger Gestalten sowie Sachverhalte nicht endgültig. In weit größerem Maß als in anderen Forschungsgebieten muss hier darauf geachtet werden, dass sie gegenüber ihren Ergebnissen offen bleibt. Eine solche Bestimmung der Funktion und Praxis der Forschung ist ein Hilfsmittel, historisch und gegenwärtig Tiefe und Breite in unterschiedliche Problematiken und Fragestellungen einzubringen. Interkulturelle Forschung geht von neuen Voraussetzungen aus, die Umstellungen im Denken und Handeln nach sich ziehen. Sie ist stets der Kommunikation zwischen und innerhalb unterschiedlicher Denk- und Begründungsformen, Wert- und Weltorientierungen auf der Grundlage weitgehender Unparteilichkeit verpflichtet. Dies bedeutet, dass man als Forscher und zugleich als Angehöriger einer Kultur, Religion oder Philosophie ein Kritiker dieser Traditionszusammenhänge sein kann. Fremd- und Selbstkritik sind im Kontext einer jeden Forschung zwei Seiten derselben Medaille. Insofern bedeutet interkulturelle Forschung, gerade durch das wissenschaftliche Vorgehen, die Freiheit von essentialistischen und teleologischen Denksystemen. Dabei geht es nicht nur um die Berücksichtigung der gegenwärtigen Entwicklungen, sondern auch um die Aufklärung historischer Bedingtheiten der Wirklichkeitsauffassungen und der unterschiedlichen erkenntnisleitenden Motive und Wege, die diesen zugrunde liegen. Die folgende Abbildung artikuliert ein Verhältnis im Vergleich und Verständnis der Individuen, die einen Sachverhalt aus eigenkultureller Sicht heraus betrachten, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass es einen Standpunkt jenseits ihrer eigenen Wahrnehmung gibt. Das Schaubild zeigt die Möglichkeit eines gemeinsam erarbeiteten Standpunktes, in dem die Haltungen und Interessen beider Parteien integriert sind:
Das Ergebnis einer aktiven Reziprozität kann durchaus ein anderes sein: ein Ergebnis, das auf mehr als eine Quelle zurückgeht. Wir können nicht Phänomene, die uns offensichtlich 19 Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft, 2006 S. 15.
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3. Zum Entwurf der Interkulturalität als eine akademische Disziplin
unbekannt sind, für unsere eingefahrenen Denkwege vereinnahmen. Zu den zentralen Aufgaben eines interkulturellen Forschungsvorhabens gehört es deshalb, unerwartete und bis dahin unbekannte Phänomene sowie disparate Haltungen, unterschiedliche Geschichten, Traditionen und die ihnen zugrunde liegenden erkenntnisleitenden Motive zunächst wahrzunehmen, sie dann in den Blick zu nehmen und kritisch zu analysieren. Der Sinn interkultureller Forschung besteht gerade darin, inhaltliche Vielfalt und methodischen Pluralismus anzustreben und das Prinzip „Reziprozität“ im Auge zu behalten. Definitionsoffenheit der Interkulturalität Es gibt gute Gründe, weshalb im Kontext der Interkulturalität eine grundsätzliche Definitionsoffenheit bevorzugt wird: Erklärungsversuch: Der Begriff „Definition“ bedeutet den offenen Versuch, die inhaltliche Bedeutung eines Ausdrucks, eines Systems oder einer Reihe von Ereignissen so klar wie möglich und eindeutig wie nötig auf eine Formel zu bringen.
Eine gute Definition umfasst möglichst alle Merkmale des zu Definierenden. Ihre Form und ihre Bestandteile werden stets durch mannigfaltige Intentionen des Autors getragen, die mit den gewählten Begriffen verbunden sind.20 Die Widerspruchs- und Zirkularitätsfreiheit einer Definition ist zwar eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung. Von Bedeutung ist auch ihre praktische Relevanz. Eine interkulturell ausgerichtete Forschung, die Konvergenzen und Divergenzen gleichermaßen sucht, verfährt interdisziplinär. Sie beschreibt, begründet und erklärt Beobachtungen, Erlebnisse, Erfahrungen, Erkenntnisse und Strukturen sowie Theorien, um Schnittmengen und neue Dimensionen in unterschiedlichen Kontexten festzustellen und diese für eine interkulturelle Kommunikation fruchtbar zu machen. Interkulturelle Forschung ist methodisch darauf ausgerichtet, die bisherigen sozial-, geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen, die das „Fremde“ ausschließlich als Objekt eigener Forschung betrachten, intern auf struktureller Ebene und extern auf begrifflicher Ebene als eigenständige Phänomene wahrzunehmen. Weil das Eigene und das Andere die gleichwertigen Seiten derselben Medaille „Mensch“ darstellen, ist es der interkulturellen Kommunikation förderlich, nicht vom „Eigenen“ und „Fremden“, sondern vom „Eigenen“ und „Anderen“ auszugehen.
3.5
Pluralistische Methode der Interkulturalität
Wissenschaftliches Arbeiten hat einen kumulativen Charakter. Kumulativ vorzugehen bedeutet hier, die gewonnenen Inhalte in sinnstiftenden Zusammenhängen miteinander zu vernetzen und an den vorhandenen Erfahrungen zu verknüpfen. Die kumulative Methode der Interkulturalität, die stets pluralistisch ist, findet ihre systematischen Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten in unterschiedlichen Diskurs- und Forschungsfeldern dieser Disziplin. Bevor ich auf die Methodenfrage eingehe, soll erläutert werden, was der Begriff der Methode bedeutet: 20 Vgl. Pawtowski, Tadeusz: Begriffsbildung und Definition, 1980.
3.5 Pluralistische Methode der Interkulturalität
63
Erklärungsversuch: Methode ist eine strukturierte Verfahrensweise. Sie bringt zum Ausdruck, wie eine Klasse von Aufgaben formuliert und mit Aussicht auf Erfolg angegangen werden kann, und befähigt dazu, Erkenntnisse zu gewinnen, zu sammeln, auszuwerten, einzeln zu verstehen, zu analysieren, zu kontrollieren und schließlich in einem planvollen Vorgehen in den Kontext einzuordnen.
Die Auswahl und das Zusammenfügen der Methoden zu einem planvollen Vorgehen sind derart vorzunehmen, dass zweckdienliche Aspekte anderer Methoden ebenfalls in die Gesamtstruktur integriert werden. Sicherlich kennen viele aus eigener Erfahrung, dass Streit entstehen kann, wenn zwei Parteien für die Lösung eines Problems unterschiedliche Methoden und Lösungswege vorschlagen. Wichtig ist das Wissen darum, dass die Richtigkeit der eigenen Methode nicht die Falschheit anderer Methoden bedeuten muss. Merke: Es gibt mehrere Lernmethoden. Kognitivisten fassen das Phänomen Lernen bspw. als Informationsverarbeitung auf, während Konstruktivisten der Ansicht sind, dass Informationen ausschließlich vom autopoietischen, psychophysischen System selbst erzeugt werden. Dies hängt damit zusammen, dass der Mensch hier als ein informationell geschlossenes System betrachtet wird. Weil diese Lernmethoden unterschiedlich sind, können wir sie nicht als ausschließlich falsch oder richtig auffassen, sondern als Wege, die das Phänomen Lernen unterschiedlich erklären.
Bei interpersonaler Kommunikation, intertextueller Analyse oder der Ausarbeitung interkultureller Studien wird uns durch die Wahl einer Reihe zusammenhängender Methoden die Konstruktion von Zusammenhangsstrukturen ermöglicht, um die Informationen als solche zu erfassen, zu systematisieren und zu interpretieren. Merke: Die Methode der Interkulturalität ist pluralistisch ausgerichtet. Sie ist nicht nur transdisziplinär, fachübergreifend, sondern auch transkulturell, also kulturübergreifend ausgerichtet. Im Adjektiv „kulturübergreifend“ sind alle Momente des Interkulturellen wirksam vorhanden: transkulturelles Denken und interkulturelles Handeln.
Dieser Methodenpluralismus ist aus den unterschiedlichen aufgeführten Komponenten zusammengesetzt, die aufeinander aufbauen und ineinander verflochten sind. Sie ist aufgrund ihrer Beschaffenheit dazu geeignet, den Boden zur Aneignung von unterschiedlichen „Faktoren der kulturspezifischen und individuell geprägten Lebenserfahrung und Lerngeschichte“21 des Eigenen und des Anderen sowie des Wissens über diverse Denk- und Lerntraditionen kommunikativ zu ebnen. Sie hat einen responsiven, antwortenden Charakter, der Verstehen-Wollen und Verstandenwerden-Wollen des Eigenen und des Anderen gleichermaßen berücksichtigt. Die Methoden der Interkulturalität können wie folgt zusammengefasst werden: – Analytisch vorgehen bedeutet, das Untersuchungsobjekt gedanklich in seine Bestandteile zu zerlegen, um es zu verstehen. – Historisch vorgehen bedeutet, das Untersuchungsobjekt in einen historischen Zusammenhang zu stellen und es aus dieser Perspektive heraus zu erfassen. Es geht um eine Geschichtspathologie und -diagnostik.
21 Neuner, Gerhard und Hans Hunfeld: Methoden des fremdsprachlichen Deutschunterrichts, 1993 S. 124.
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3. Zum Entwurf der Interkulturalität als eine akademische Disziplin
– Komparatistisch vorgehen bedeutet, unterschiedliche Modelle miteinander in Beziehung zu setzen, Übereinstimmungen und Unterschiede zu konstatieren, ohne diese gegenseitig aufeinander zu reduzieren oder gegeneinander auszuspielen. – Semantisch vorgehen heißt, Begriffsbedeutungen einzelner sprachlicher Äußerungen zu klären und miteinander in einen reziproken Zusammenhang zu setzen. – Enzyklisch vorgehen bedeutet (darüber später mehr), das Untersuchungsobjekt umfassend in den Blick zu nehmen und verstehend zu begreifen. – Empirisch vorgehen bedeutet, von Erfahrungen auszugehen, dabei Wertungen zu vermeiden und bemüht zu sein, gewonnene Erfahrungen systematisch zu erfassen und auszuwerten. – Wissenschaftstheoretisch vorgehen bedeutet, den Fragen nach Theoriebildung, der Bestimmung von Begriffsapparaten und der Explikation von Vorannahmen nachzugehen. – Normativ vorgehen bedeutet, den Untersuchungsgegenstand vor dem Hintergrund der Wertvorstellungen zu untersuchen, auf denen er beruht. Dies hängt damit zusammen, dass Interkulturelle Philosophie die Arena des Denkens nicht einem reinen szientifischen Ansatz überlassen will, da auch diesem selbst metaphysikverdächtige Momente inhärent sind. – Rationalistisch vorgehen bedeutet, die Fähigkeiten der Vernunft zu benutzen und zu beachten, welche unterschiedlichen Argumentationsformen die Denkformen im Vergleich und Verständnis der Kulturen hervorbringen. – Dialektisch vorgehen bedeutet, die internen Gegensätze in einem Untersuchungsobjekt aufzuspüren und die darin enthaltene Dynamik im Rahmen eines umfassenden Ganzen herauszustellen. Das folgende Schaubild visualisiert diese pluralistische Methodenkomposition: analytisch-empirisch wissenschaftstheoretisch
normativ
komparatistisch
Methoden der Interkulturalität
semantisch
historisch
rationalistisch enzyklisch-dialektisch
Die hier aufgeführten Methoden der Interkulturalität sind ergänzbar und lassen sich auch auf andere Teilgebiete ausdehnen. Im Rahmen einer jeden Kommunikation mit interkultureller Absicht ist diese Methoden-Kompensation wirksam und anwendbar. Merke: Wir nennen die Methode der Interkulturalität deshalb „pluralistische Methode“, weil sie aus unterschiedlichen Komponenten besteht.
3.6 Orientierungsbereiche der Interkulturalität
65
Die pluralistisch kompositorische Methode der Interkulturalität fußt auf den Erkenntnissen interkultureller Forschung. Zu ihrem Selbstverständnis gehört eine Erweiterung der Wahrnehmungsstruktur in Begegnung und Bewertung des Eigenen und des Anderen.
3.6
Orientierungsbereiche der Interkulturalität
Wissenschaftlich vorzugehen bedeutet, stets bestrebt zu sein, Regularitäten und Muster von Phänomenen zu identifizieren und diese unter Beachtung der Kontextualitäten zu erklären. Die Verfahrensweise der Interkulturalität umfasst drei methodische Orientierungsbereiche, die miteinander verschränkt sind: historische, systematische und vergleichende Interkulturalität. Historische Interkulturalität Im Rahmen einer jeden Form interkultureller Kommunikation sind die überlieferten Begegnungen grundlegend, weil Gesellschaften in der Regel „durch eine Pluralität konjunktiver Transaktionsräume strukturiert“ sind. „Zugleich ragen in die gegenwärtige Gesellschaft immer auch die Überreste vergangener Transaktionsräume.“22 Dies macht den historischen Bezug in die gegenwärtige Diskussion notwendig. Erklärungsversuch: Historische Interkulturalität untersucht im Kontext der sozial-, geistes- und kulturwissenschaftlichen Geschichtsschreibungen interkulturelle Begegnungen und analysiert ihre Kontinuität und Diskontinuität.
Dabei geht es bspw. um die Beantwortung der Frage, wie sich historische Begegnungen ereignet haben und wie sie für die gegenwärtige Situation fruchtbar gemacht werden können. Viele dieser Begegnungen verliefen aggressiv und endeten mit einer mehr oder weniger praktizierten Unterdrückung der anderen Kulturen, wie bspw. bei der Eroberung des amerikanischen Kontinents. Beispiele: 1. Begegnungen, die eher friedlich waren, wie sie etwa beim Einzug des indischen Buddhismus in China verlaufen sind. Diese Weltanschauung erlebte mit Konfuzianismus und Taoismus ein relativ spannungsfreies Neben- und Miteinander. 2. Begegnungen, die zu Beginn nicht friedlich verliefen, aber auch nicht zerstörerisch wirkten und in der Aufnahme von Elementen beider aufeinandertreffender Kulturgebiete zur Hybridität führten. Wie das Zusammentreffen der arischen Kultur mit der des alten Indiens oder die Begegnung der Griechen mit den Persern und Ägyptern zur Zeit Alexanders des Großen, oder der persische Mithraskult, der über Griechenland nach Rom wanderte, wo er im 3. Jahrhundert sogar Staatsreligion war und von dort aus in die keltisch-germanischen Regionen getragen wurde. 3. Begegnungen, die weniger den Niedergang der einheimischen Kultur und Religion bedeuteten, dessen Volk aber in dem der Eroberer aufging, wie etwa beim Einzug der arabisch-islamischen in die zarathustrische Kultur im alten Persien.
22 Nohl, Arnd-Michael: Pädagogik der Dinge, 2011 S. 198.
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3. Zum Entwurf der Interkulturalität als eine akademische Disziplin
Als Beispiele von gelungenem interkulturellen Handeln kann hier in diesem Zusammenhang die Staatsführung des persischen Königs Kyros (559–529 v. u. Z.) oder des kastilischen Königs Alfons X. (1221–1284) genannt werden. Kyros war mithilfe seiner Ethikkommissionen stets darauf bedacht, im persischen Vielvölkerstaat unterschiedliche Nationen, unter Berücksichtigung ihrer Riten und kulturellen Eigentümlichkeiten, zu einer gewaltlosen politischen und sozialen Koexistenz zu motivieren. Alfons X. gab der Übersetzerschule von Toledo wegweisende Impulse, und unter seiner Herrschaft übersetzten Christen, Moslems und Juden zusammen alte Schriften aus dem Griechischen, Sanskrit, Arabischen und Hebräischen. Nohl weist zu Recht darauf hin, dass „Erziehung innerhalb konjunktiver Transaktionsräume stattfinden“23 kann. Systematische Interkulturalität Die Systematische Methode der Interkulturalität ist von besonderer Bedeutung, weil diese ein Bindeglied der historischen und vergleichenden Art derselben ist. Erklärungsversuch: Systematische Interkulturalität umfasst alle kultur-, sozial- und geisteswissenschaftlich relevanten und für die interkulturelle Verständigung erforderlichen Terminologien. Zu diesen Terminologien gehören bspw. die weiter unten darzustellenden Korrelatbegriffe des Eigenen und des Anderen, der interkulturellen Kompetenz, Semantik, Hermeneutik, Komparatistik, Toleranz und der interkulturellen Ethik. Ferner sind in diesem Kontext Begriffe wie Frieden, Krieg, Toleranz, Philosophie, Religion, Djihad, Scharia, Menschenrechte, Menschenwürde usw. von besonderer Bedeutung.
Die Systematische Interkulturalität bildet die konzeptionelle Grundlage der Entwicklung einer interkulturellen Begriffsenzyklopädie, um zu einer reziproken Verständigung konstruktiv beizutragen. Dies trägt dem Anliegen interkultureller Forschung Rechnung, die bislang verwendeten und weitverbreiteten Schlüsselwörter der kulturanthropologischen und -philosophischen Diskurse zum Thema „das Eigene und das Fremde“ infrage zu stellen, die „den Fremden“ bzw. „das ‚Fremde“ wissenschaftlich zu objektivieren versucht und es damit auch lebenspraktisch auf Distanz gehalten haben. Erklärungsversuch: Begriffsenzyklopädie ist der Name eines Index oder eines Registers, einer alphabetisch geordneten Auflistung von Begriffen, die in kulturellen Kontexten verwendet werden. Eine zentrale Funktion der Begriffsenzyklopädie besteht darin, festzustellen, in wie vielen Kontexten ein bestimmter Begriff innerhalb einer Tradition auftritt. Wichtig sind die kontextuelle Wortbedeutung und der Stellenwert des Begriffs.
Nun stellt sich die Frage, ob und inwieweit eine interkulturelle Modifikation auch von der Verwendung von Begriffen Abstand nehmen muss, die im Zuge des Kolonialismus oder der Abwertung von Kulturgebieten entstanden sind und denen bereits seit ihrer Entstehung eine negative Konnotation anhaftet. Mit Begriffen wie „Neger“ oder „Zigeuner“ ist dies bereits geschehen. Bei der Entkolonialisierung und Neusemantisierung vieler Begriffsapparate ist es von Bedeutung, die unterschiedlichen Stimmen aus jeweils eigener Perspektive heraus zu Wort kommen zu lassen. 23 Nohl, Arnd-Michael: Pädagogik der Dinge, 2011 S. 200.
3.6 Orientierungsbereiche der Interkulturalität
67
Eine Begriffsenzyklopädie wird prinzipiell von pragmalinguistischer Kontextsensitivität geprägt sein müssen, die vor allem die Sinnhaftigkeit, Verantwortbarkeit, Komplexität und Interpretationsabhängigkeit eines Begriffs berücksichtigt, der in unterschiedlichen Kontexten im Vergleich und Verständnis der Kulturen vorkommt. Begriffe und ihre innere Logik formen in vielfacher Hinsicht unsere Weltbilder und bestimmen unser Wahrnehmen und Handeln. Die Grenzbestimmung und der eingegrenzte Bedeutungsgehalt sind im Rahmen dieser Logik aufeinander abgestimmt.24 Dies erschwert eine weitgefasste Klärung von Begriffen oder Begriffsapparaten beim Definieren: Merke: Definitionen lösen in uns nicht nur diverse Konnotationen und Verbindungen aus, sondern sie rufen eine Reihe von emotionalen Reaktionen hervor, die unsere Einstellung und damit auch unser Verhalten als Mensch und Forscher unterschiedlich beeinflussen können.
Nehmen wir als Beispiel den Begriff „Mount Everest“, des höchsten Berges der Erde im Grenzgebiet von Nepal und Tibet, der nach dem britischen Landvermesser Sir George Everest benannt wurde. Dieser Ausdruck ist mit zwei verschiedenen Geschichten verbunden: Während wir dessen Bezeichnung mit den Erfolgen der Engländer bei der Eroberung der letzten unberührten Flecken auf der Welt verbinden, lautet die tibetische Eigenbezeichnung „Tschomulungma“ und hat einen mythologischen, tiefreligiösen Charakter. Für die Buddhisten in Nepal befindet sich auf diesem Berg der Wohnsitz der Göttin Chomo Miyo Langsangma, für die Tibeter residiert auf der Ostseite die Göttin Tshe-Ring-Ma. Solche europäisch-westlichen Benennungen stehen der Kommunikation und Verständigung im Weg, da hierdurch die betreffende Kulturregion semantisch zum Objekt der Eroberung gemacht wird. Die interkulturelle Forschung sieht eine ihrer Aufgaben darin, Begriffsapparate zu verwenden, die den Bezeichnungen entsprechen, die die betreffenden Kulturregionen selbst verwenden.25 Auch Ausdrücke wie „Erste, Zweite, Dritte“ Welt sind wertend und drücken eine gewisse Herren-Untertanen-Kultur aus. Solche Begriffsapparate, wie auch „kultiviert“ bzw. „zivilisiert“ oder „primitiv“, „exotisch“, „vorgeschichtlich“ usw., die im Zuge des Kolonialismus gebildet wurden, sind ebenfalls zu entkolonisieren und durch andere Begriffe zu ersetzen, weil diese nicht nur einseitig, sondern auch empirisch nicht stichhaltig sind. Duala-M’bedy charakterisiert dies folgendermaßen: Merke: „Die ‚Dritte Welt‘ fungiert daher als ‚Zweite Welt‘, innerhalb des ideologischen Raumes, in dem die ‚Erste‘ und die ‚Zweite Welt‘ unausgesprochen bleiben, aber im Sinne des ‚Wir‘ eine finite Erfahrung darstellt.“26
Vergleichende Interkulturalität Erklärungsversuch: Vergleichende Interkulturalität setzt nicht nur Divergenzen und Konvergenzen in sozial-, geistesund kulturwissenschaftlichen Theorien miteinander in Beziehung, sondern auch Terminologien, die sich mit den Themenfeldern der Interkulturalität befassen, oder Bereiche, die für die Interkulturalitätsforschung relevant sind. 24 Vgl. Neuser, Wolfgang: Natur und Begriff, 1995 S. 2 ff. 25 Vgl. Holenstein, Elmar: Philosophie-Atlas, 2004 S. 27–31. 26 Duala-M’bedy, Munasu L. J.: Xenologie, 1977 S. 21.
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3. Zum Entwurf der Interkulturalität als eine akademische Disziplin
Vergleichende Interkulturalität betrachtet Begriffsapparate, Probleme, Fragen und Lösungen in einer kulturübergreifenden Zusammenhangstruktur, ohne die kulturspezifischen Bedeutungsebenen dieser Sachverhalte zu vernachlässigen. Sie untersucht Begriffe wie bspw. den der Toleranz im West-Ost-Nord-Süd-Vergleich. Dabei geht es vergleichend darum, was dieser Begriff in der Theorie und Praxis der Kulturen unter Berücksichtigung ihrer Kontextualitäten bedeutet. Die gewonnenen Erkenntnisse verweisen darauf, dass es zu einer reziproken Ergänzung und Erweiterung der Horizonte und ihrer Korrektur beiträgt, wenn wir das Andere aus seiner eigenen Perspektive umfassend zu Wort kommen lassen und es mit der eigenen Perspektive in Beziehung setzen. In diesem „Zu-Wort-kommen-Lassen“ liegt ein kommunikatives Potenzial, das zwar eine Herausforderung bedeutet, aber auch eine neue Perspektive eröffnet, aus der sich eine jede Form interkultureller Kommunikation speist. Verschränkung der Orientierungsbereiche
Systematische Interkulturalität
Historische Interkulturalität
Vergleichende Interkulturalität
Dabei geht es darum, Beziehungen, typische Entwicklungen und charakteristische Eigentümlichkeiten samt ihren Lösungsansätzen zu beleuchten. Dazu gehören, neben den Denkwegen der Trans- und Multikulturaliät, interdisziplinäre Studien, in denen die für die Interkulturalität relevanten Themenfelder, wie die Soziologie der Kulturen, diskutiert werden.
3.7
Vergleichende Zugänge zur Interkulturalität
Die Kontroverse um die Interkulturalität lässt sich in mindestens vier Richtungen unterteilen:
Übernahme der Interkulturalität
Zurückweisung der Interkulturalität
Reflektierter Umgang mit der Interkulturalität
Vereinnahmung der Interkulturalität
3.7 Vergleichende Zugänge zur Interkulturalität
69
Diejenigen, die Interkulturalität bedingungslos übernehmen, gehen von einer theoretischen und praktischen Anerkennung der jeweils Anderen aus, die alles erlaubt und jede Denk- und Verhaltensform akzeptiert. Diese Praxis der Interkulturalität läuft auf eine besondere Art von Monokulturalität hinaus, eine idiosynkratische Praxis, die je nach Geschmack und momentanem Bedürfnis kulturelle Angebote wahrnimmt, ohne über deren Ursprünge zu reflektieren.27 Eine solche Haltung birgt alle Gefahren einer kultureklektischen Haltung, die über keine angemessene Festigkeit verfügt und damit eine gewisse Standpunktlosigkeit praktiziert. Ein Beispiel für diese Haltung ist die Idee des Theologen Paul Knitters, der eine temporäre Konvertierung in andere Glaubenssysteme vorschlägt.28 Dass solche Konzepte Relativismus und Beliebigkeit fördern und zu Identitätsverlust und kultureller Heimatlosigkeit führen können, dürfte klar sein. Fazit: Die indifferenten Befürworter der Interkulturalität gehen davon aus, es sei förderlich, wenn Menschen unmittelbar von einer Überzeugung und Einstellung zur nächsten übergehen, um dem Anderen gegenüber Offenheit zu demonstrieren.
Einige Forscher weisen die Interkulturalität mit der Begründung zurück, diese betrachte Kulturen wie geschlossene Einheiten. Sie sind der Ansicht, dass der zugrunde gelegte Kulturbegriff geschlossen ist, der jede Mischung als Verlust eigener Identität ablehnt. Zu den prominenten Gegnern der Interkulturalität gehört Wolfgang Welsch, der von einer uferlosen Verbindung der Kulturen ausgeht.29 Fazit: Die Widersacher der Interkulturalität gehen davon aus, diese gebrauche einen geschlossenen Kulturbegriff, nach dem Kulturen als eigenständige Universen verstanden und ohne Bezug nebeneinander stehen würden. Diese Zurückweisung der Interkulturalität beruht darauf, dass ihr ein geschlossener Kulturbegriff unterstellt wird. Sie geht deshalb von einseitigen Voraussetzungen aus.
Die Vertreter der vereinnahmenden Interkulturalität verankern diese und ihre Begründung ausschließlich in einer bestimmten Tradition, meist einer solchen europäischer Prägung. Sie praktizieren damit faktisch einen Ausschluss weiterer interkultureller Konzepte. Das tertium comparationis wird hierbei auch in einer einzigen Tradition verankert. Iris Därmann hält bspw. Edmund Husserl (1859–1938), der bekanntlich von der Idee der Welteuropäisierung ausgeht, für den eigentlichen Stifter der Interkulturalität.30 Weiter oben wurde gezeigt, mit welchen Problemen ein solches Weltbild in der Kommunikation verbunden ist. Fazit: Die Vertreter der vereinnahmenden Interkulturalität binden diesen Begriff ausschließlich an eine bestimmte Tradition, aus der heraus das Eigene und das Andere sowie ihr Verhältnis zueinander definiert wird.
27 Martin Kämpchen (*1948) weist im Rahmen seiner Indienstudien darauf hin, dass oft eine Suche nach anderen Religionen stattfindet, die einer unreflektierten Interkulturalität oder Interreligiosität gleicht. In der fremden Religion vermutet man etwas Besseres als in der eigenen, aber die suchenden Indienfahrer kehren häufig enttäuscht wieder zurück. Vgl. Kämpchen, Martin: Asien mit der Seele suchen, 2006 S. 37 ff. 28 Vgl. Knitter, Paul F.: Ein Gott – viele Religionen, 1988. 29 Vgl. Welsch, Wolfgang: Transkulturalität, 1992 S. 5 ff. 30 Vgl. Därmann, Iris: Fremde Monde der Vernunft, 2005 S. 373.
70
3. Zum Entwurf der Interkulturalität als eine akademische Disziplin
Die vierte Variante umfasst Forscher, die eine reflektierte Umgangsweise mit der Interkulturalität anstreben. Zu den Hauptvertretern dieser Richtung gehören Heinz Kimmerle (*1930), Ram Adhar Mall (*1937), Franz Martin Wimmer (*1942) und Raúl FornetBetancourt (*1946), die sich mit einer Teildisziplin der Interkulturalität, nämlich der interkulturellen Philosophie, beschäftigen und dazu grundlegende Theorien entwickelt haben.31 Die genannten Philosophen sind der Ansicht, dass heute im „Weltalter der Globalisierungen“ keine bestimmte Geistesgeschichte als eigentliche Geistesgeschichte der Menschheit reklamiert werden kann32, ob okzidentalisch, orientalisch, asiatisch, lateinamerikanisch oder afrikanisch. Selbst diese Adjektive umfassen unterschiedliche Traditionen. Der Begriff der Geistesgeschichte ist stets im Plural zu gebrauchen, deren Anspruch sich im Zusammenspiel unterschiedlicher Geschichten erschließt. Zu erwähnen ist auch eine Reihe anderer Ansätze, die sich mit unterschiedlichen Themenbereichen der Interkulturalität befassen, auf die hier kurz eingegangen wird. Fazit: Die Vertreter eines reflektierten Umgangs mit der Interkulturalität widmen sich der Aufgabe, Interkulturalität und ihre Konsequenzen entschieden auf eine Sachebene zu heben und ihren Sinn und Zweck für interkulturelle Philosophie, interkulturelle Germanistik und interkulturelle Kommunikation umfassend und systematisch zu analysieren.
An dieser Stelle wird auf die Nennung weiterer Wissenschaftler, die auf dem Gebiet der reflektierten Erforschung der Interkulturalität arbeiten, verzichtet.
3.8
Zwischenbetrachtung
Auf die Erkenntnisse der ersten drei Kapitel aufgebaut, entwarfen wir den Entwurf der Interkulturalität als einer akademischen Disziplin. Der zugrunde gelegte Kulturbegriff dieser Disziplin ist ein dynamisch veränderbares Sinn- und Orientierungssystem. Mit diesem Kulturverständnis wird nicht angestrebt, die sechs Transformationsformen der bestehenden Kulturtheorien zu überwinden, sondern sie kritisch würdigend zu erweitern. In einem weiteren Schritt wurde die pluralistische Methode der Interkulturalität aufgegriffen. Hierbei unterschieden wir drei Orientierungsbereiche, die ineinander greifen und aufeinander aufbauen: historische, systematische und vergleichende Interkulturalität. Die Einführung der Interkulturalität als wissenschaftliche Disziplin hat die Interkulturalisierung der Lehre und Forschung zur Folge: Kulturelle Bildung ist eine grundsätzliche Voraussetzung der Interkulturalität, die Differenzen wahrnimmt und pflegt, ohne Gemeinsamkeiten aus den Augen zu verlieren, die auf historischen und anthropologischen Faktoren beruhen.
31 Vgl. Mall, Ram Adhar: Philosophie im Vergleich der Kulturen, 1995; Fornet-Betancourt, Raúl: Philosophische Voraussetzungen des interkulturellen Dialogs, 1998; Wimmer, Franz Martin: Interkulturelle Philosophie, 2004 und Kimmerle, Heinz: Rückkehr ins Eigene, 2006. In diesem Zusammenhang sei auf zwei Zeitschriften hingewiesen, die sich mit interkulturellen Themenfeldern beschäftigen: Vgl. Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, 1998 ff.; DIALOG. Zeitschrift für interreligiöse und interkulturelle Begegnung, hrsg. v. Mohammad Razavi Rad, 2000 ff. 32 Vgl. Yousefi, Hamid Reza: Interkulturalität und Geschichte, 2010.
4.1 Interkulturelle Kommunikation am Beispiel einer iranisch-deutschen Tauschfamilie
71
4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
Das Konzept des Kapitels auf einen Blick
Kultur als offenes Sinn- und Orientierungssystem
Iranisch-deutsche Tauschfamilien
Interkulturalität und Menschenwürde
Kontextuelle Kommunikation
Kulturelle und interkulturelle Bildung
Was ist das – die Kommunikation?
Iranisch-deutsche Tauschfamilien Situativität, Kontextualität und Individualität
Korrelatbegriffe der interkulturellen Kommunikation oder wie ist Kommunikation möglich? Das Eigene und das Andere
Interkulturelle Kompetenz Interkulturelle Toleranz
4.1
Interkulturelle Semantik
Interkulturelle Hermeneutik
Interkulturelle Komparatistik
Interkulturelle Ethik
Interkulturelle Kommunikation am Beispiel einer iranisch-deutschen Tauschfamilie
Interkulturelle Kommunikation ist eine handlungsorientierte Teildisziplin der Interkulturalität. Sie ist darauf ausgerichtet, einen kritikoffenen Dialog zwischen unterschiedlichen Einstellungen und Überzeugungen auf gleicher Augenhöhe in Gang zu bringen. Die Vielfalt kultureller Kontexte erfordert, wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, eine grundlegende Neuorientierung in der theoretischen wie praktischen Ausrichtung unserer Kommunikationsmodelle, in denen Kontextualität, Situativität und Individualität im Weltkontext stets zu berücksichtigen sind. Der Individualität kommt eine besondere Bedeutung zu, weil sie variierend mit einer eigentümlichen Art zu denken, zu reden und zu handeln verknüpft ist, die wiederum mit bestimmten Themen und Fragestellung sowie Argumentationsformen einhergeht.
72
4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
4.1.1 Auswahl der Tauschfamilien Um die theoretische und praktische Problematik der Kommunikation in interkultureller Absicht demonstrieren zu können, stellen sich zwei vierköpfige Familien aus Deutschland und aus dem Iran zur Verfügung, die ihre Umgebung vertauschen und eine Vermischung mit den Teilen der jeweils anderen Familie eingehen: Die deutsche Familie lebt in Berlin, die iranische Familie in Teheran, beide bestehen jeweils aus Vater, Mutter, Sohn (17) und Tochter (15). Merke: Nach Berlin kommen die iranische Mutter und der iranische Sohn. Diese Familie nennen wir Familie A. Nach Teheran hingegen kommen die deutsche Mutter und der deutsche Sohn. Diese Familie nennen wir Familie B.
Die Bildung von zwei Tausch- bzw. Patchwork-Familien zeigt Erfolge wie auch Schwierigkeiten in Aufnahmegesellschaften. Die Tauschfamilien werden, wenn sie einen verstehenden und lernenden Umgang miteinander suchen, eine kommunikationstransparente Haltung in Theorie und Praxis einnehmen müssen. In einer solchen dialogischen Situation stehen diese Patchwork-Familien in wechselseitiger Verantwortung. Merke: Den Lesenden steht letzten Endes frei, die iranisch-deutschen Tauschfamilien durch andere Patchwork-Familien, bspw. deutsch-türkische, deutsch-afrikanische, deutsch-arabische usw. zu ersetzen, die dem eigenen Erfahrungshorizont näher stehen.
Im Gegensatz zu gängigen Kommunikationstheorien habe ich auf eine Stereotypisierung und Kulturalisierung der Tauschfamilien verzichtet, damit sich der Betrachter gemäß eigener Erfahrungen in die jeweiligen Gesprächssituationen hineinversetzen kann. Dieser Weg wurde deshalb gewählt, weil die meisten empirischen Einzelstudien über interkulturelle Kommunikation und ihre Diskursfelder stark generalisierende Charaktereigenschaften pflegen. Eine Folge solcher Ansätze ist, dass man bspw. nicht mehr im Singular von „dem“ Türken, Deutschen, Araber, Afrikaner oder Iraner spricht, sondern nur noch im Plural von „den Türken“ usw. Die Tauschfamilien hingegen sollen einen nicht generalisierbaren Einzelfall darstellen. Dies bedeutet, dass es den Iraner und den Deutschen nur noch als ein Konstrukt gibt und geben kann. Suche nach Information Nun befinden sich beide Familien in einer jeweils neuen Situation und den Tauschpartnern geht sicherlich vieles durch den Kopf. Dazu gehören freilich Angst, Neugierde, Freude usw., wenn sie sich auf diese Begegnung vorbereiten. Merke: Begegnungen vermitteln nicht nur authentische Erfahrungen und Einsichten. Sie bieten auch die Möglichkeit, dass Menschen nicht übereinander, sondern miteinander sprechen. Eine solche Begegnung kann bspw. in der Moschee, einer Kirche oder innerhalb einer Familie stattfinden. Mittels einer solchen Zusammenkunft können wir lernen, wie wir uns im Allgemeinen in solchen Institutionen zu verhalten haben. Begegnungen sind Brücken zum Kennenlernen und gegenseitigen Verstehen. Dies bildet die Grundlage einer wechselseitigen Wertschätzung.
4.1 Interkulturelle Kommunikation am Beispiel einer iranisch-deutschen Tauschfamilie
73
Um sich zu beruhigen, recherchieren die Familien vielleicht zunächst im Internet, fragen bei Freunden oder Bekannten nach, ob sie mit Land und Leuten Erfahrungen gesammelt haben, oder sie besorgen sich Bücher und Reiseführer über Deutschland und den Iran, lesen gezielt Zeitungen und hören bewusster Radio, sie befassen sich mit der Sprache oder machen sich über die politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern kundig. Die Tauschfamilien merken bald, dass sie im interkulturellen Kontext nicht nur mit unterschiedlichen soziokulturellen Hintergründen, Bildungsschichten und Berufsgruppen sowie Sozialisationen, Gesellschaftsstrukturen und Erziehungsformen zu tun haben, sondern mit Menschen, die verschiedenen Weltanschauungen angehören. Auch zählen, wie das folgende Schaubild demonstriert, Religion, Klima, Sitten und diverse andere Informationen über ihre Zielreise dazu:
Religion Landeskunde
Sprache
Sitten
Erfahrungen mit den kulturell Andersdenkenden
Klima
Kleidung
Hygiene Gesellschaftsstruktur
Plötzlich wird ihnen alles wichtig, was mit diesen Reisezielen zu tun hat. Spätestens hier wird den Tauschfamilien bewusst, dass wir oft unreflektiert Klischees pflegen, beginnend mit den subjektiven Meinungen von Bekannten und Freunden bis hin zu unterschiedlichen Formen der Berichterstattung von Medien oder Darstellungen in Büchern. Nun stellt sich die Frage, wie die Tauschfamilien mit dieser spannenden Begegnung und zugleich mannigfaltigen Herausforderung kommunikativ umgehen können. Unverzichtbar für sie ist die Berücksichtigung von kontextuell-kulturpädagogischen, kontextuell-erwachsenenpädagogischen sowie kontextuell-sozialpädagogischen, kontextuellberufspädagogischen und kontextuell-medienpädagogischen Dimensionen, auf die ich weiter unten eingehen werde. Diese sind bei den bestehenden Konzeptionen interkultureller Kommunikation kaum beachtet worden, auch bei Habermas und Schulz von Thun, die sich mit Kommunikation allgemein beschäftigen, finden sich hierzu keine Anhaltspunkte. Merke: Die Tauschfamilien möchten wissen, in welchen Staatsformen sie mit den Anderen zusammenleben werden, welcher Religion die Anderen angehören, welches ihre kulturellen Wurzeln sind, wie sie ihre Feste feiern und ihre Trauer ausdrücken, wie sie ihren Glauben im Alltag praktizieren und welchen Einfluss dieser auf ihr Leben hat.
Die Tauschfamilien werden durch vorhandene Literatur und eigene Erkundungen in Erfahrung bringen, wie diese und ähnliche Fragen in Deutschland und im Iran unter
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
Berücksichtigung von Kontexten, Situationen und Individualitäten praktiziert werden. Insgesamt aber werden sie mit herkömmlichen Kommunikationsmethoden kaum in der Lage sein, den Familientausch zu meistern. Sie benötigen ein Instrumentarium, das ihnen Wege und Umwege zu einem reibungslosen Zusammensein bereitstellt. Es geht um die Theorie und Praxis einer Lernkultur, die darauf ausgerichtet ist, mit den Konvergenzen und Divergenzen in der Pluralität der Einstellungen und Überzeugungen umzugehen, ohne die untenstehenden acht Ohren bzw. Verstehensebenen zu vernachlässigen. Diese Lernkultur besteht aus einer Reihe von Techniken, die systematisch aufeinander aufbauen und sich gegenseitig bedingen, sie korrelieren also miteinander. Ohne eine solche Verschränkung von Komponenten und Kompetenzen ist keine echte Verständigung möglich. Zur Bezeichnung der Techniken führe ich einige Komposita als „Korrelatbegriffe“ einer interkulturellen Kommunikation ein. Damit sind Begriffe gemeint, die einander bedingen und miteinander in Wechselbeziehung stehen. Hierbei sind grundlegend: Kultur, verstanden als ein offenes und dynamisch-veränderbares Sinn- und Orientierungssystem, sowie ihre interne Eigendynamik, im Anschluss an die Konfigurationstheorie von Senghaas. Die Tauschfamilien am Zielort Die Patchwork-Familien, die nun ihre Reiseziele erreicht haben, werden sich auf diesem komplexen Weg eine Reihe von Kompetenzen denkend und lernend aneignen müssen, um sich gegenseitig angemessen verstehen und dementsprechend verständigen zu können. Die ausgetauschten Eltern können mit der neuen Situation fertig werden, indem sie einen gemeinsamen Tagesablauf, eine gemeinsame Lebensführung in beiden Ländern organisieren. Dieser Prozess setzt eine Reihe von Kompetenzen voraus, die von ihnen viel verlangen, insbesondere eine grundlegende Revisionsbereitschaft bisherigen Wissens. Nach der Ankunft in den Zielländern sorgen die iranischen und deutschen Elternteile dafür, dass die Kinder Gastschulen in Teheran und in Berlin besuchen. Die Kinder lassen sich, im Gegensatz zu den anfänglichen Ängsten ihrer Eltern, in beiden Gesellschaften rasch integrieren; sie sind neugierig und offen. Die iranischen Schulkameraden empfangen sie ebenfalls neugierig. Sie fragen, wo diese herkommen, welche Sprache sie sprechen, welcher Religion sie angehören, welchen Beruf ihre Eltern ausüben. Trotz der Sprachbarriere und vielem mehr finden sie Freunde und kommen in der Schule zurecht. Es stellt sich heraus, dass Kinder keine berechnenden Fragen stellen, sondern ihr Anliegen ist, lernend zu verstehen. Mit den Tauscheltern verhält es sich anders. Sie haben es teilweise schwer, reziproke Offenheit für dieses Unternehmen zu erbringen. Dies hängt mit der politischen Haltung ihrer Regierungen und der damit verbundenen Umsetzung in den Medien zusammen, die sie unterschiedlich beeinflusst sowie von religiösen und kulturellen Ängsten begleitet ist. Dies hängt damit zusammen, dass sie viele Vorurteile in den Medien, die Ängste schüren, unbewusst akzeptieren und ernst nehmen. Dies beeinträchtigt wiederum die erforderliche Offenheit für das Kennenlernen in der praktischen Realität. Was für Kinder fast keine Bedeutung hat, scheint für Erwachsene wichtig zu sein. Wir werden sehen, warum wir eine dialogische Begegnungspädagogik benötigen, die Grenzen überschreitet, ohne sie zu überwinden.
4.1 Interkulturelle Kommunikation am Beispiel einer iranisch-deutschen Tauschfamilie
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4.1.2 Was ist das – die Kommunikation? Der Mensch ist ein kommunikatives Wesen. Sein Denken, Reden und Handeln ist, jenseits seiner kulturellen Zugehörigkeit, anderen Menschen nicht gleich, weil Menschen verschieden sind. Bilder, die meine Augen wahrnehmen, Gefühle die mich nach außen präsentieren, Temperament, Ärger, Freude, Trauer, Liebe, Enttäuschung, Höflichkeit, Unhöflichkeit, Richtigkeit oder Unrichtigkeit äußern sich bei jedem Menschen anders und haben einen starken Mitteilungscharakter, der unterschiedlich verstanden werden kann. Nicht zuletzt gehören Hoffnungen, Träume, Ängste und Entscheidungen zu menschlichen Eigenschaften, die sich ebenfalls unterschiedlich äußern und unterschiedlich verstanden werden können. Divergenzen lassen sich nicht gleichschalten, weil die Lebensdynamik des Menschen unergründlich ist. Kommunikation ist insofern ein offener Prozess, in dem Menschen mit diesen Divergenzen und Konvergenzen miteinander ins Gespräch kommen. Jede Kommunikation besteht, wie das folgende Schaubild visualisiert, aus einem oder mehrerer Sendern/Empfängern:
Kommunikationskanal
Sender/Empfänger
Sender/Empfänger
Es gibt, wie im ersten Kapitel ausführlich thematisiert, eine Reihe von Kommunikationstheorien, die auf unterschiedlichem Wege bemüht sind, Probleme, Störungen sowie Möglichkeiten der Kommunikation herauszuarbeiten, auf die ich hier nicht weiter eingehen werde.1 Gemeinsam ist allen Kommunikationsmodellen, ob verbal, nonverbal, symmetrisch, asymmetrisch oder komplementär, die methodische Verbesserung wechselseitiger Steuerungen und Kontrolle von Informationen. Gemeinsam ist ihnen, sich nach Konventionen zu orientieren. Peter Bichsel (*1935) verdeutlicht dies an einem Beispiel2: Merke: Ein alter Mann will seine eigene Sprache einführen. So nimmt er sich vor, das „Bett“ als „Tisch“ zu bezeichnen, zum „Bild“ hingegen „Tisch“ zu sagen, die „Zeitung“ künftig „Bett“ zu nennen, als „Zeitung“ hingegen den „Schrank“ zu benennen. usw.
Die Geschichte könnte man fast selbst weitererzählen: Wenn der Mann nun versucht, auf der Straße mit den Menschen zu kommunizieren, wird ihm dies nicht gelingen, da er, in diesem Fall willkürlich, von der konventionell festgelegten Bedeutung der Wörter abgewichen ist. Dieses Beispiel macht deutlich, dass in einer solchen hermeneutischen Situation Menschen aneinander vorbeidenken, -reden und -handeln, wenn sie bestimmten Konventionen vernachlässigen. Mit diesem Beispiel kann ebenfalls demonstriert werden, dass wir uns im Rahmen einer interkulturellen Kommunikation auch an Konventionen zu halten haben. Wir können 1 Vgl. hierzu Bühler, Karl: Sprachtheorie, 1965 und Watzlawick, Paul: Die Möglichkeit des Andersseins, 2002. 2 Vgl. Bichsel, Peter: Kindergeschichten, Darmstadt 1986 S- 18–27.
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
nicht alles aus dem Wissen der eigenen Sprache heraus in eine andere Sprache übersetzen, sondern müssen äquivalente Ausdrücke suchen, die das Gleiche meinen. Interkulturelle Kommunikation ist eine besondere Form der Dialogführung. In ihr beeinflusst der Austausch von Informationen sowie die Selbstwahrnehmung des Eigenen und des Anderen die Rahmenbedingungen der Kommunikation erheblich. Situativität, Kontextualität und Individualität sind streng zu beachten. Interkulturelle Kommunikation hat sich der Herausforderung zu stellen, überzeugende Antworten zu formulieren, die das Nebeneinander und Durcheinander der Überzeugungen in ein dialogisches Miteinander unter besonderer Berücksichtigung der Divergenzen überführen. Aufgrund ihrer Beschaffenheit unterscheidet sich interkulturelle Kommunikation von anderen Kommunikationsformen dadurch, dass diverse kontextuell unterschiedliche Faktoren wie religiös-kulturelle und soziologisch-ethnologische sowie sprachlich-gesellschaftliche bedeutsamer werden. In dieser Begegnung entsteht eine hermeneutische Situation, die dazu befähigt, Gemeinsamkeiten festzustellen, Unterschiede wahrzunehmen, Probleme zu präzisieren und Erwartungen zu formulieren, die den bisherigen Selbstverständlichkeiten diametral widersprechen können. Bei allen Formen der Kommunikation spielen im Allgemeinen zwei Kommunikationsformen eine verhältnisbestimmende Rolle: indirekte und direkte Kommunikation. Diese Kommunikationsformen vollziehen sich in jedem Dialog in der Regel zusammen: Erklärungsversuch: Eine Kommunikation ist indirekt, wenn mehrdeutige Äußerungsformen im interpersonalen oder interkulturellen Kontext in den Raum gestellt werden.
Der Satz „Da vorne ist die Ampel rot“ wäre nachvollziehbar, wenn ein ergänzender Satz folgen würde. Ist dies nicht der Fall, so sind die Kommunizierenden gezwungen, den Satz allein oder gemeinsam zu interpretieren. Solche indirekten Kommunikationsformen bergen latente Konfliktpotentiale, wenn die Kommunizierenden die Aussage nach eigenem Verständnis negativ interpretierend auf ihre gute oder schlechte Handlung des Sprechenden beziehen und diese wiederum mit dessen guten oder schlechten Intention verknüpfen. Erklärungsversuch: Direkte Kommunikation bezeichnet eindeutige Sprechakte im interpersonalen oder interkulturellen Kontext, die sich auf eine bestimmte Person beziehen.
Der Satz „Da vorne ist die Ampel, fahre doch langsam, sie wird gleich rot“ ist dementsprechend konkret und fordert unmissverständlich auf, die eigene Fahrweise anzupassen. 4.1.3 Sach- und Beziehungsohren der Tauschfamilien Die Tauschfamilien werden bei ihren Begegnungen neben den vier Ohren des Schulz von Thun weitere vier Ohren bzw. Verstehensebenen benötigen. Diese sind die interkulturell und interreligiös sensibilisierten Ohren:
4.1 Interkulturelle Kommunikation am Beispiel einer iranisch-deutschen Tauschfamilie
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Merke: 1) Das Sachohr nimmt Äußerungen auf der Ebene der Sache wahr, ohne diese zu bewerten oder mit einem eigenkulturellen Gedanken zu verbinden. Da in unserem Fall der Sachverhalt den Kommunizierenden nicht oder nur unzureichend bekannt ist, um ihn angemessen einordnen zu können, ist es notwendig, diese Tatsache zu berücksichtigen. Dies macht die Theorie und Praxis eines interkulturell-interreligiösen Sachohrs notwendig.
❂ ❂ ❂ 2) Das Beziehungsohr hört in Bezug auf die Frage, in welchem Über- und Unterordnungsverhältnis die Kommunizierenden zueinander stehen. Wer aufgrund vorgefasster und unüberprüfter Haltungen zum Kommunizierenden, bspw. aufgrund von Vorurteilen und Mutmaßungen, eine Beziehungsebene konstruiert, verfährt eskalationsorientiert. Die Kommunizierenden betrachten sich gegenseitig herausfordernd, oft ohne sich dessen bewusst zu sein. Dies macht die Theorie und Praxis eines interkulturell-interreligiösen Beziehungsohrs notwendig.
❂ ❂ ❂ 3) Das Appellohr hört in der Regel eine Aufforderung zu einer Handlung. Eine missverstandene Sach- oder Beziehungsebene zieht auch die Appellebene in Mitleidenschaft. Die Absicht, etwas im Kommunizierenden zu bewirken, wird aufgrund dieser Fehlfunktion ins Gegenteil verkehrt. Dies macht die Theorie und Praxis eines interkulturell-interreligiösen Appellohrs notwendig.
❂ ❂ ❂ 4) Das Selbstoffenbarungsohr ist ein Hinweis auf die Persönlichkeit der Kommunizierenden. Wer die eigenen Prämissen verabsolutiert, für allgemeinverbindlich hält, und zugleich das Bezugssystem des Anderen vernachlässigt, erzeugt unweigerlich eine starke Beeinträchtigung aller anderen Ohren. Dies macht die Theorie und Praxis eines interkulturell-interreligiösen Selbstoffenbarungsohrs notwendig.
Ein praktisches Beispiel: Stellen Sie sich einmal vor, die Tauschfamilien wollen gemeinsam in die Moschee gehen. Die deutschen Teilfamilien werden von den iranischen Teilfamilien aufgefordert, nach Geschlechtern getrennt und mit ausgezogenen Schuhen die Moschee zu betreten: 1. Die deutschen Teilfamilien müssen wissen, dass diese Aufforderungen zureichend begründet sind, weil sie in islamischen Ländern zu den Ritualen des Moscheebesuches gehört (Sachohr). 2. Die deutsche Tauschfamilie wäre gut beraten, in diesem Fall ihr Beziehungsohr auszuschalten, da es nicht darum geht, sie vorzuführen, sondern den Deutschen wichtige Hinweise für ein kultursensitives Verhalten zu vermitteln (Beziehungsohr). 3. Die iranische Teilfamilie appelliert an die deutsche Teilfamilie, nicht eigenständig zu handeln, sondern die Rituale des Betretens einer Moschee zu beachten (Appellohr). 4. Die iranische Teilfamilie bringt ihre religiöse Kompetenz zum Ausdruck (Selbstoffenbarung). Merke: Bei dieser Kommunikation wäre es unmöglich, wenn die iranische Teilfamilie die deutsche Teilfamilie in einem indirekten Sprechakt wie: „Wir gehen in eine Moschee“ deutlich machen wollte, man müsse sich die Schuhe ausziehen. Hier ist eine direkte Kommunikation gefordert, die unmissverständlich klarmacht, dass es verboten ist, die Moschee mit Schuhen zu betreten.
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
Sollten die Tauschfamilien in öffentliche Einrichtungen in Deutschland oder im Iran wie bspw. in ein Hallenbad oder dergleichen gehen wollen, dann ist zu berücksichtigen, dass sehr unterschiedliche Regeln und Normen hier zur Anwendung kommen. Weitere Beispiele indirekter Kommunikation: In der Suppe schwimmt ein Lammschädel. Zum Essen trinken wir bei uns immer Wein. Bei euch isst man immer auf dem Boden. Bei uns geht man mit Schuhen in die Kirche. Wir küssen die Bibel nicht, wenn wir sie anfassen. In islamischen Ländern darf man vier Frauen heiraten.
Es ist nicht einfach, das Beziehungsohr innerhalb einer indirekten Kommunikation restlos auszuschalten, weil Emotionalitäten und die Wahrnehmung des Sprechenden unmittelbar eine Rolle spielen. Dieses Ohr spielt bei der direkten Kommunikation eine sehr viel geringere Rolle, weil die Aussage direkt, konkret und unmissverständlich ist. Die acht erwähnten Ebenen zeigen, dass die Verwirklichung einer interkulturellen Kommunikation aus einer Vielzahl von emotionalen und sozialen Teilkompetenzen besteht und dass eine kultursensitive Haltung unter Kontextbeachtung unverzichtbar ist. Kommunikation kann nur gedeihen, wenn die Kommunizierenden bereit sind, sich gegenseitig in die Eigenlogik des jeweils Anderen hineinzuversetzen. Es handelt sich hier um die Praxis einer situativen und kontextuellen Empathiefähigkeit. 4.1.4 Kulturelle und interkulturelle Bildung Lernend erweitern die Tauschfamilien ihre Traditionen und verinnerlichen dadurch einen denkenden Umgang miteinander, dass die iranisch-orientalischen und deutsch-okzidentalischen Lebensformen sich theoretisch wie praktisch bereichern können. Sie zeigen, dass es möglich ist, sich zueinander aneignend und lernend zu verhalten. Das folgende Schaubild visualisiert diesen Weg:
Korrelatbegriffe der Interkulturalität verwenden
Transkulturell denken
Interkulturelles Lernen
Kulturelle Bildung
Interkulturelle Bildung
Interkulturell handeln
4.1 Interkulturelle Kommunikation am Beispiel einer iranisch-deutschen Tauschfamilie
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Die Abbildung zeigt die Verschränkung kultureller und interkultureller Bildung im Zusammenspiel mit den Korrelatbegriffen, die das interkulturelle Lernen erst möglich machen. Dies setzt freilich, auf dem Weg zur interkulturellen Kommunikation und Verständigung, transkulturelles Denken und interkulturelles Handeln voraus. Verstehen wir unter Bildung, in Anlehnung an Humboldt, die Förderung der Gesamtheit von Fähigkeiten und Eigenschaften des Menschen3, so ist für die folgenden acht Korrelatbegriffe das Ineinandergreifen von kultureller und interkultureller Bildung grundlegend. Dies hängt damit zusammen, „dass wir Menschen nicht nur in der sozialen Interaktion mit unseren Eltern, Geschwistern, Schulkameraden usw. sozialisiert werden, sondern auch in einer materiellen Welt.“4 Auernheimer hält für die Verwirklichung interkultureller Bildung mindestens drei Dimensionen für grundlegend: die Dimension der Fähigkeit, der Haltung und die des Wissens. Fähigkeit bedeutet Bereitschaft zur Reflektion und zum Perspektivenwechsel; Haltung besagt Eintreten für Gleichheit und Akzeptant für Andersheit. Die Dimension des Wissens besagt schließlich, stets bemüht zu sein, sich über die kulturell Anderen zu informieren.5 In einem solchen Prozess erhalten wir die Möglichkeit, das bereits vorhandene Wissen eigener Bildungstradition mit dem verkannten oder uns nicht vertrauten Wissen anderer Bildungstradition in Beziehung zu setzen, um einen gemeinsamen Fahrplan der Verständigung zu entwerfen, den wir ebenfalls gemeinsam korrigieren und erweitern. Dies ist eine zentrale Aufgabe unserer Tauschfamilien. 4.1.5 Warum Situativität, Kontextualität und Individualität? Das Wesen des Menschen ist unergründlich. Jedes Individuum besitzt eine eigene kognitive Landkarte, ein einzigartiges Repertoire interner Konstruktionen seiner Wirklichkeit. Soziale, politische, kulturelle oder religiöse Konflikte konstruieren und entwickeln sich stets in der Begegnung divergierender Wirklichkeitsdeutungen der Individuen, die weit tragende Konsequenzen für soziale und damit auch Kommunikationsprozesse haben. Unsere Tauschfamilien werden Zeit ihres Aufenthaltes in beiden Ländern auf drei Momente zu achten haben:
Kontextualität
Situativität
Individualität
Momente einer kontextuellen Kommunikation
3 Vgl. Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1793), 1967. 4 Nohl, Arnd-Michael: Pädagogik der Dinge, 2011 S. 19. 5 Vgl. Auernheimer, Georg: Einführung in die interkulturelle Erziehung, 2007.
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
Die Beachtung dieser drei Notwendigkeiten hängt damit zusammen, dass die jeweiligen Situationen zu komplex, die jeweils handelnden Personen zu singulär und die kulturellen und traditionellen Kontexte zu unterschiedlich sind. Die folgende Abbildung demonstriert den Kreislauf der Kommunikation unter Berücksichtigung dieser drei Komponenten. Sie zeigt den Verlauf eines konstruktiven Dialogs zwischen zwei oder mehrere Personen innerhalb des eigenen oder anderen kulturellen Kontextes.
Wo sprechen wir?
Korrektur von Wissen
Worüber sprechen wir?
Erwerb von Wissen
Bewertung von Wissen
Kreislauf der Kommunikation
Klassifizierung von Wissen
Nutzung von Wissen
Mit wem sprechen wir?
Überprüfung von Wissen
In welchem Kontext?
Dieses Vorgehen zeigt, dass menschliche Handlungen nicht ausschließlich kulturunabhängig sind. Kontexte sind stets Handlungsfelder. In welchem Kontext und in welcher Situation sich die Individuen auch immer befinden, stets haben sie ihren eigenen kulturellen Rucksack dabei, aus dem sich Teile ihrer Mentalität speisen. Kulturelle Vorprägungen und Einbettungen sind insofern immer wirksam, während Abweichungen nicht zu leugnen sind. Problematisch wird es, wenn diese Vorprägungen gegenseitig verabsolutiert werden. Jede ernstzunehmende Aussage über anderskulturelle Eigenheiten hat eine Vielzahl dynamisch-interagierender Elemente zu berücksichtigen, die aus der unmittelbaren Gegenwart resultieren. Eine ethnologisch endgültige Beschreibung von Völkern und Sachverhalten, die diese restlos verständlich machen könnten, gibt es nicht. Ein Fallbeispiel: Jonas van Baaijen, ein Student von mir, hat diesen Sachverhalt mit einem Beispiel beschrieben. Er berichtet von einer Situation, die er im Rahmen eines dreiwöchigen Aufenthaltes in China erlebt hat. Um die Bedeutung der Komponenten der Kontextualität, der Situativität und der Individualität zu verdeutlichen, folgt eine mögliche Darstellungsweise des Ereignisses: „Ich verbrachte drei Wochen in einer chinesischen Familie. Abgesehen davon, dass man natürlich kaum miteinander sprechen konnte, weil das Englisch, welches die Chinesen sprechen, kaum verständlich ist, ist ihre Art, Wünsche oder Vorschläge zu vermitteln, nahezu undurchschaubar.
4.1 Interkulturelle Kommunikation am Beispiel einer iranisch-deutschen Tauschfamilie
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Eines Abends ging ich mit meinem Austauschpartner durch Peking. Ich war froh, die enge Wohnung im 21. Stock eines Hochhauses verlassen zu können, auch wenn ich dafür die abgasverpestete ‚Frischluft‘ in Kauf nehmen musste. Ich versuchte, ein Gespräch mit meinem Austauschpartner zu entwickeln, was wegen der mangelhaften Sprachkenntnisse und vor allem der Schüchternheit des Jungen sehr schwierig war. Irgendwann wurde selbst ihm die Stille unangenehm und er erklärte mir, dass er jeden Tag, wenn er mit dem Bus zur Schule fuhr, ein sehr hübsches Mädchen sehen würde. Schön und gut, denke ich mir. Dann wieder Schweigen. Nach einiger Zeit fragt er mich, ob ich dieses Mädchen auch mal sehen wolle. Mir doch egal, in meinen Augen sehen die Chinesen sowieso alle gleich aus. Er musste aber wohl irgendetwas anderes damit gemeint haben. Nach einer Weile des Nachdenkens ging mir auf, dass er eigentlich nur wissen wollte, ob es in Ordnung für mich wäre, morgens mit dem Bus zur Schule zu fahren. Bisher hatten wir immer ein Taxi genommen. Natürlich hakte ich noch einmal nach, um mich zu vergewissern, ob meine Schlussfolgerung richtig sei. Dies war ihm zwar offensichtlich unangenehm, aber ich kann ja nichts dafür, wenn der Junge nicht einfach geradeheraus fragen kann.“ Merke: Jonas wird nach seiner Rückkehr gebeten, einen Bericht über seine Reise zu schreiben. Ihm stehen im Allgemeinen zwei mögliche Varianten offen: Erste Variante: Jonas findet die Chinesen, dieses unverständliche Volk einfach unglaublich und ist heilfroh, dass die drei Wochen vorbei sind, da es ihm sehr anstrengend war, die chinesische Mentalität zu verstehen. Zweite Variante: Jonas macht von den drei Komponenten der Kontextualität, der Situativität und der Individualität Gebrauch. Welche Variante wäre die bessere und warum? Versuchen Sie, sich eine ähnliche Kommunikationssituation vorzustellen, in der Sie die Position von Jonas einnehmen. Wie würden Sie reagieren und wie würden Sie über Ihre Reise zu Hause berichten? Was könnte Ihr Bericht bei den Lesenden auslösen?
4.1.6 Methoden eines kontextuellen Kommunikationsmodells Die Auswahl und Bestimmung der Methoden eines kontextuellen Kommunikationsmodells hängt mit dem Zugang des Betrachters zu den Inhalten und ihre Thematisierungsformen und -absichten zusammen. Merke: Bei der Analyse der Interkulturalität wurde bestimmt, dass ihre Methode pluralistisch ist. Dies gilt auch für die kontextuelle Kommunikation in interkultureller Absicht.
Diese Methodenkomposition ermöglicht den Kommunizierenden, methodenvergleichend begriffliche Kontexte zu beachten und ihrer Kommunikation eine solide Fundierung eigen- und anderskultureller Orientierung zu geben, um eine Gemeinschaft des „Wir“ als heterogene Einheit zu entfalten (Abbildung auf Folgeseite).
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
analytisch-empirisch wissenschaftstheoretisch
normativ
komparatistisch
Methoden der Kommunikation
semantisch
historisch
rationalistisch enzyklisch-dialektisch
4.1.7 Imperativ einer interkulturellen Orientierung Die Korrelatbegriffe interkultureller Kommunikation, auf die ich im Folgenden ausführlich zu sprechen kommen werde, beachten viele Dimensionen der Kommunikation, um ein Gespräch im interkulturellen Kontext kompetent, effektiv und zielführend mit möglichst wenig Beeinträchtigung zu gestalten und zu führen. Diese Korrelatbegriffe sind Bestandteile verschiedener Disziplinen, die in verwandten Fachbereichen thematisiert werden. Bedenkt man, dass die Themenfelder des Eigenen und des Anderen traditionell in „Deutsch als Fremdsprache“ (DaF) behandelt werden, so wird interkulturelle Kompetenz als eigener Bereich angesehen. Das Gleiche gilt auch für die interkulturelle Semantik, die innerhalb der Germanistik angesiedelt ist, interkulturelle Komparatistik und Hermeneutik, die auch innerhalb der Philosophie beheimatet sind, während Toleranz in der Regel als ein Bestandteil der Ethik thematisiert wird. Die Korrelatbegriffe unterliegen zwei Prinzipien: Zum einen lassen sie sich nicht schematisch in der einen oder anderen Disziplin fixieren, weil sie in allen Wissenschaftsbereichen mit spezifischen Eigentümlichkeiten betrachtet und appliziert werden. Zum anderen können sie etymologisch ebenfalls nicht durch eine einzige Sprachkultur durchbuchstabiert werden. Bei jeder Begriffserklärung ist stets kulturspezifisch und kontextangemessen zu verfahren, was die Erstellung einer Begriffsenzyklopädie umso dringlicher macht. Ziel ist letzten Endes die konsequente Vermeidung von Zentrismus, auch von Europazentrismus, in Theorie und Praxis. Dieser Imperativ gilt für jede reflektierte Orientierungen der Kommunikation in interkultureller Absicht, die kontextuell ausgerichtet ist: Erklärungsversuch: Kontextuell zu verfahren bedeutet, unterschiedliche Traditionen mit ihren jeweils eigenen Terminologien, Fragestellungen und Lösungsansätzen als gleichberechtigte Diskursbeiträge von ihren verschiedenen Positionen her zur Sprache kommen zu lassen, um gemeinsame Perspektiven entwickeln zu können. Transkulturelles Denken und interkulturelles Handeln bilden das Wesen eines solchen kontextsensitiven Ansatzes. Dies heißt, sich durch die interkulturelle Reflexivität in die Denk- und Erfahrungswelt des Anderen hineinzuversetzen und die eigene Perspektive mit den Augen des Anderen wahrzunehmen. Eine angemessene Interpretation und Analyse von Interaktionen und Sachverhalten ist ohne eine solche sensitive Kontextualisierung kaum möglich.
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
4.2
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Wie ist Kommunikation möglich?
Die Aufgabe für den Leser dieses Buches besteht nun darin, die Rolle der Tauschfamilien einzunehmen und für die Dispositionen der Partner Argumente und Gegenargumente zu bringen. Hierbei mögen diese Tauschfamilien helfen, sich gewissermaßen selbst in einer Interaktion mit dem Anderen beobachten zu lernen. Durch den Tausch der Rollen lässt sich situationsadäquat nachvollziehen, mit welchen Problemen zwischenmenschliche bzw. interkulturelle Kommunikationen verbunden sind und wo Verständigung schwierig oder von internen und externen Herausforderungen begleitet wird. Gleichzeitig wird ersichtlich, dass es einen Königsweg für die Bewältigung dieser Herausforderungen und Dissonanzen nicht gibt, sondern stets der Einzelfall zu beobachten ist, von dem nicht auf das Ganze geschlossen werden kann. Das folgende Schaubild zeigt die Korrelatbegriffe interkultureller Kommunikation: Das Eigene
Interkulturelle Kompetenz
Interkulturelle Hermeneutik
Interkulturelle Semantik
Wie ist Kommuni kation möglich?
Interkulturelle Komparatistik
Interkulturelle Ethik
Interkulturelle Toleranz
Das Andere
4.2.1 Das Eigene und das Andere Das Eigene und das Andere sind die ersten zwei Korrelatbegriffe und damit die Grundkomponente einer jeden Kommunikation. Es geht in der Hauptsache um die Frage der Identität und ihre Spielarten, die auf Gebieten wie der Ethnologie, Psychologie, Pädagogik, Soziologie, Theologie und Philosophie unter verschiedenen Voraussetzungen diskutiert werden. Stehe ich beruflich oder familiär mit dem Anderen oder den Anderen aus eigenkulturellem oder anderskulturellem Kontext in Kommunikation, so werde ich aus eigener Erfahrung wissen, dass das Andere in der Regel dort beginnt, wo ich unmittelbar mit der Erfahrungswelt des Anderen konfrontiert werde, wo die für mich vertraute Umgebung ihre Grenze in Begegnung mit dem Anderen erreicht. Im Kontrast mit dem Anderen wird die Selbstverständlichkeit des Eigenen in seiner scheinbar gegebenen Alleingültigkeit aufgebrochen, infrage gestellt und kommunikativ verfügbar gemacht. Was bedeutet aber das Eigene und das Andere?
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
Merke: Das Eigene beschreibt das Vertraute und uns Bekannte, welches das Umgekehrte des Anderen darstellt. Das Andere bedeutet meist Unruhe, Bedrohung von Identität und Störung der bestehenden Tradition, während das Vertraute oder die „Heimat“ in der Regel eine fixierte Zugehörigkeit, Identität und damit Kontinuität stiftet bzw. stiften kann. Das Vertraute ist keine homogene Kategorie, sondern eine anthropologisch-historische Wirklichkeit, die wir in Religionen, Kulturen, Philosophien, Sprachen, Traditionen und verschiedensten Verstehenshorizonten beobachten können.
Dem Anderen auf der Spur Die Frage nach dem Eigenen führt also notwendigerweise die Frage nach der Identität mit sich, die unterschiedliche Dimensionen und Formen kennt. Dabei sind zwei Formen zu unterscheiden: eine Ich- und eine Wir-Identität.6 Merke: Die Frage nach der Ich-Identität bezieht sich auf die Personalität der Person. Sie umfasst Eigenschaften eines Individuums: „Indem ich meine Identität bestimme, bestimme ich auch, wer ich bin und woher ich komme.“ Die Frage nach der Wir-Identität bezieht sich auf das Kollektivbild. Im „Wir-Bild“ wohnt ein Gefühl inne, mit dem sich die Mitglieder einer Gruppe bewusst oder unbewusst identifizieren: „Indem wir unsere Identität bestimmen, bestimmen wir auch, wer wir sind und woher wir kommen.“
Diese Identitätsformen umfassen verschiedene Komponenten. Über diese Identitätsformen hinaus gibt es aber eine Reihe von multiplen Identitäten, die ineinandergreifen und aufeinander angewiesen sind. Das folgende Schaubild demonstriert das Modell von multiplen Identitäten, in denen viele äußere Faktoren eine Rolle spielen:
Hierzu gehören vor allem Religion, Kultur, Tradition und Zivilisation als die vier Komponenten, welche die vielen eigenkulturellen Wahrnehmungen der Individuen beeinflussen, wobei Familie und Gesellschaft Bestandteile der Kultur sind. Anzumerken ist, dass Identität in keinem dieser Bereiche restlos aufgeht. Identitäten sind somit keine Festungen mit konstanten Merkmalen. Es lassen sich zwei weitere Formen von Identität nennen, die sich zwar voneinander unterscheiden lassen, aber Gemeinsamkeiten aufweisen: narrative Identität und Identität im Übergang. Narrative Identität ist eine Erzählweise über sich selbst. Dabei geht es um die Darstellung eigener Wirklichkeit bzw. erzählender Antworten auf die Frage „Wer bin ich?“ oder 6 Vgl. hierzu Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, 21997 S. 131 f. Vgl. auch Hall, Stuart: Who needs ‚Identity?‘, 1996.
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
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„Wer bist Du?“, die einen Menschen in wesentlichen Charakterzügen, in einem bestimmten Moment oder in einer relativ unbeweglichen Lebenssituation erfasst.7 Identität im Übergang beschreibt hingegen die Situation des Menschen in einem postmodernen Zeitalter, in der sich Menschen im „ständigen Übergang zwischen unterschiedlichen Lebensformen“ befinden. Nach diesem Konzept befindet sich alles, damit auch die Identität, im Wandel.8 Es gibt in der Tat eine gewisse Flexibilität und Eigendynamik in allen Identitätsformen zu beobachten. Ich könnte mir bspw. erzählen: Ich bin gebürtiger Iraner, komme aus Teheran, lebe in meiner zweiten Heimat Deutschland, wohne in Trier, habe dort studiert. An der Universität Koblenz bin ich Hochschullehrer, Philosoph, zudem interkultureller Philosoph, zu Hause bin ich Familienvater, gegenüber Bekannten ein Kumpel und mit Freunden enger Vertrauter. Ich bin Moslem schiitischer Prägung, bin Befürworter der demokratischen Verantwortungsethik. Diese Identitäten gehen ineinander über und sind im wahrsten Sinne des Wortes im Wandel begriffen. Die folgende Abbildung visualisiert wesentliche Komponenten der Identität:
Kultur – Religion – Tradition - Zivilisation
Komponente der Identität
Familie - Schule – Gesellschaft
Diese Abbildung verweist auf die Interdependenz zwischen dem Eigenen und dem Anderen, die sich in ihren überschneidenden Teilen gegenseitig bereichern. Die Annahme einer reinen und endgültigen Identität zieht weder das Intrakulturelle noch das Interkulturelle in Betracht, weil sie im Sinn des geschlossenen Kulturbegriffs Herders jede Mischung als Verlust an „Eindrang, Tiefe und Bestimmtheit“ oder sogar „Verunreinigung des Eigenen“ wahrnimmt. Weil die Grundlage des Eigenen und des Anderen das Menschsein ist, das verbindet, sind Divergenzen und Konvergenzen des Eigenen und des Anderen abhängig von anthropologischen Faktoren. Fremdheit beginnt somit nicht außerhalb, sondern im Menschen, in seiner Denkform und Wahrnehmung selbst.
7 Vgl. Kraus, Wolfgang: Das erzählte Selbst, 1996. 8 Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken, 2003 S. 171.
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
Abschied vom Begriff des „Fremden“ Die durch und durch globalisierte Gegenwart verlangt, weil alles stets im Wandel begriffen ist, nach einem neuartigen und methodischen Nachdenken über die Kategorie des „Fremden“, die tief in unserem wissenschaftlichen und ethnologischen Verständnis verinnerlicht ist.9 Der Ausdruck Fremd ist in unterschiedlichen Sprachkulturen mit verschiedenen Bedeutungen verbunden. Fremd bedeutet im Deutschen „andersartig, anders geartet, fremdländisch, exotisch“. Im Persischen bedeutet Fremde „gharibe“, ein nicht Dazugehöriger, Eindringling, oder „bigane“, Ausländer, Besatzer, unerwünschte Person. Beide Ausdrücke besitzen im Deutschen wie im Persischen einen stark abwertenden Charakter, während das Wort „Andere“ in beiden Sprachkulturen als „verschieden“ aufgefasst wird. Diese Wortbedeutung ist neutraler. Merke: Der Ausdruck „das Andere“ entspricht eher den gewöhnlichen Bezeichnungs- und Benennungsformen der Menschen im Alltag. Wir sagen ganz sicher nicht: „Ich gehe mit Fremden ins Schwimmbad“ oder: „… mit fremden Freunden …“, sondern vielmehr: „Ich gehe mit anderen ins Schwimmbad“, oder „Ich gehe mit Freunden und einigen anderen …“, aber nicht: „… mit einigen Fremden …“. Es wäre verwunderlich, zu sagen: „Ich arbeite mit Fremden in einem Büro.“ Wir pflegen zu sagen: „Ich arbeite mit anderen Menschen, die ich nicht näher kenne, im Büro“, und zwar auch dann, wenn es sich um Ausländer handelt, aber nicht: „Ich arbeite mit anderen Menschen, die mir fremd sind.“
Die Ausdrücke „der, die, das Fremde“ beziehen sich vorwiegend auf eine negativ wertende Handlungsbedeutung. Wir sagen für gewöhnlich: „Das Verhalten von Alis Freund, den ich nicht kenne, ist mir fremd“, zugleich weiß ich, dass mir auch das Verhalten meines Vaters, meiner Mutter, meines Nachbarn oder eines guten Freundes fremd erscheinen kann. Man sagt entsprechend, „Alis Verhalten ist mir fremd, weil er anders ist und nicht, weil er ein Fremder ist“. Eine Fremdheitsbehauptung entsteht folglich, wenn in uns Verunsicherung, Bedrohung oder Beunruhigung ausgelöst wird. Der Ausdruck „Das Andere“ ist uns Menschen wesensähnlich, während „Das Fremde“ das Gegenteil artikuliert, wenn auch nicht ausdrücklich. Insofern hat die umgangssprachliche Auswahl des „Eigenen“ und des „Anderen“ durchaus ihre Berechtigung. Der aus unserer Sicht gesehene „Fremde“ ist für sich ein „Eigener“ und jeder, der sich als „Eigener“ betrachtet, ist auch ein „Anderer“. Es ist anzunehmen, dass es sich bei der Erfindung des „Eigenen“ und des „Fremden“ um ethnologische Kreationen handelt, welche komplexe Sachverhalte in Begriffe kleiden, die dem Kern des Anliegens nicht Rechnung tragen. Durch diese Verwendung von pejorativen Begriffen wird einem Hindernis der interkulturellen Kommunikation Vorschub geleistet. Anders denken, handeln, fühlen oder gesinnt sein, beschreibt keinen Gegensatz zum interkulturell oder interreligiös Anderen, sondern besagt: „immer im Unterschied zu etwas“, wie im Beispiel: „Ali ist anders als Philipp“ usw. Der Terminus „Fremdgruppe“ umschreibt hier eine Gemeinschaft, zu der eine Person nicht gehört, während „Eigengruppe“ einen Zusammenschluss bezeichnet, dem sie ange-
9 Vgl. hierzu Augé, Marc: Nicht-Orte, 2010 S. 33.
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
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hört.10 Auch hier ist es sachlich angemessener, von anderer und eigener Gruppe zu sprechen, damit keine hermetische Distanz zum Anderen entsteht. Merke: Hans Jürgen Heinrichs bezeichnet Ausdrücke wie „das Eigene und das Fremde, der Europäer und der Fremde“ als Erfindungen und Projektionen, als Identitätsfixierungen, Wunsch- und Negativbilder der Zivilisation.11
Heinrichs hat hier die traditionelle und teilweise moderne Ethnologie vor Augen, weil „der Fremde […] traditionell nicht einfach als der andere“ gesehen wird, „sondern als der schlechtere“. Er fährt fort: „Wir sind die ‚eigentlichen‘ Menschen, die anderen sind Menschen nur in unzulänglicher, korrupter oder unterentwickelter Weise. Der erste Schritt zur Überwindung dieses Schemas wird darin bestehen, sich die europäische Geschichte der Feindbilder vor Augen zu führen. Diese Geschichte reicht weit hinter die Entstehung der Ethnologie zurück und bestimmt diese bis in die jüngste Vergangenheit.“12 Merke: Corinna Albrecht argumentiert ähnlich wie Heinrich: „Wenn Menschen zu ‚Wilden‘, zu ‚Untermenschen‘, zu ‚Unzivilisierten‘ erklärt werden, wird die Kategorie ‚Fremder‘ für Herrschaftszwecke instrumentalisiert. Die Grenzziehungen, die mittels Fremdheitskonstruktionen vollzogen werden, können nach der Logik der ihnen zugrunde liegenden Ideologie auch Fremdstellungen inmitten der eigenen Kultur vornehmen.“13
Die Überlegungen von Heinrichs und Albrecht sprechen ein strukturelles Problem im Hinblick auf die wechselseitige Wahrnehmung des Eigenen und des Anderen innerhalb und zwischen ihren Kulturen und Texten an. Bei beiden ist der Begriff des „Fremden“ negativ konnotiert. Eine ausschließliche Orientierung an einem bestimmten Identitäts- oder Differenzmodell als endgültig verhindert den spezifischen Charakter, Eigenes im Anderen und Anderes im Eigenen zu erkennen und zu verstehen. Wer so verfährt, stigmatisiert bewusst oder unbewusst das Andere unmittelbar zum Exoten, ohne sich bewusst zu sein, von der anderen Seite selbst als Exot bezeichnet werden zu können. Diesem Phänomen geht eine von endgültiger Identität und Differenz geleitete Kategorie voraus und stellt eine Wunschwelt dar, die sich im Eigenen und Anderen gleichermaßen findet, und sie ist seit ihren Anfängen „eine unauflösbare Vermischung von Vereinnahmung und Aufklärung des Anderen, von Fremd- und Selbstverständnis, von Beobachtung, Beschreibung, Reflexion und Projektion, von Phantasie und Modellbildung“.14 Es gibt verschiedene Definitionen davon, was Exotismus ist bzw. nicht ist. Ein vorläufiger Versuch würde lauten: Erklärungsversuch: Exotismus heißt, den Anderen nicht in dessen Bezugssystem zu erfahren, sondern ihn mit eigenen Idealen vergleichend zu betrachten und ihn in ethnozentrischer Ausschmückung als radikal verschieden zu interpretieren. 10 Alois Hahn und Bernhard Waldenfels gehen vom Begriffspaar „Das Eigene und das Fremde“ aus. Bei beiden ist die Gefahr der Hypostasierung des Anderen (Fremden) gegeben. Vgl. Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden, 1997; Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 2006 und Hahn, Alois: Eigenes durch Fremdes: Warum wir anderen unsere Identität verdanken, 1999. 11 Vgl. Heinrichs, Hans-Jürgen: Das Fremde verstehen, 1999 S. 43. 12 Böhme, Gernot: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1985 S. 222 f. 13 Albrecht, Corinna: Der Begriff der, die, das Fremde, 1997 S. 92. 14 Heinrichs, Hans-Jürgen: Einleitung, 1977 S. 41.
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
Suchen wir ernsthaft nach einer dialogischen Kommunikation, so werden wir ohne eine Umkehr im Denken und Handeln nicht weiterkommen können. Erst wenn der Mensch in sich selbst erkennt, dass auch er von Anderen als Exot bezeichnet wird oder werden könnte, kommt er dem Anderen näher. Gehen wir von einem kugelhaften Kulturbegriff aus, so ist nicht auszuschließen, dass die Kommunikation scheitert. Vernachlässigen wir alle wissenschaftlichen Theorien für einen Augenblick, so werden wir merken, dass viele von uns in der Regel unterschwellig ein konstrukthaft fixiertes Bild vom Eigenen und vom Anderen pflegen. Echte interkulturelle Kommunikation speist sich aber aus der Bestimmung und Wechselwirkung beider sowie der Suche nach dem Eigenen im Anderen und dem Anderen im Eigenen. Die Kunst besteht darin, diese Korrelationen miteinander ins Gespräch zu bringen. Ein Lerneffekt der Tauschfamilien würde sich in diesem Fall dann einstellen, wenn sie versuchten, die entsprechenden Familienteile in ihrer eigenen Ordnung verstehen zu wollen. Merke: „In freiwilliger Absicht kommunizieren zu wollen“ bedeutet für die Tauschfamilien, die theoretische und praktische Notwendigkeit einzusehen, dass wechselseitiges Verstehen-Wollen und Verstandenwerden-Wollen argumentativ zusammengehören.
Diese argumentative Notwendigkeit verleiht der Kontextualität, Situativität und Individualität einen theoretischen und praktischen Sinn. Ein denkwürdiges Beispiel: Husserl hat ausdrücklich darauf hingewiesen, in Europa „etwas Einzigartiges“ zu erkennen, „das auch allen anderen Menschheitsgruppen an uns empfindlich ist als etwas, das, abgesehen von allen Erwägungen der Nützlichkeit, ein Motiv für sie wird, sich im ungebrochenen Willen zu geistiger Selbsterhaltung doch immer zu europäisieren“. Er hält es für selbstverständlich, „daß unserem europäischen Menschentum eine Entelechie eingeboren ist, die den europäischen Gestaltenwandel durchherrscht und ihm den Sinn einer Entwicklung auf eine ideale Lebens- und Seinsgestalt als einen ewigen Pol verleiht“.15 Die Annahme Husserls ist problematisch, weil er seinen eigenen Standpunkt verabsolutiert und somit als Maßstab zur Beurteilung des Außereuropäischen ansetzt. Merke: Die iranische Tauschfamilie würde in Deutschland behaupten, dem Iran sei eine Entelechie und Vollendung angeboren, die alle außeriranischen Menschen hoffen ließe, Iranern gleich zu werden. Wie würde die deutsche Tauschfamilie darauf reagieren und warum? Was wäre die Antwort Husserls und warum?
Die Idee des Samoa-Reisenden Erich Scheuermann (1878–1957) mit seinem „Papalagi“ als Gegenentwurf zu Husserls Entelechiegedanken scheint in diesem Zusammenhang von Bedeutung zu sein. Scheuermanns Protagonist ist ein Südseehäuptling, der den Wert der europäischen Errungenschaften nicht erkennen kann. Vielmehr stellt er fest, dass sie den Menschen unecht, unnatürlich und schlecht machen und ihn von sich selbst abziehen. Auch deckt er scheinbare Diskrepanzen zwischen einer wissenschaftlich geprägten Kultur 15 Husserl, Edmund: Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie, 21962 S. 320.
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
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und der sogenannten naturgebundenen polynesischen Lebensart auf. Scheuermann „Papalagi“ beschreiben zwei lebensweltliche Selbstverständlichkeiten, die sich gegenseitig relativieren.16 Hieraus zeigt sich, dass das Eigene und das Andere nicht voneinander getrennt zu betrachten sind, sondern man sich sowohl in der Theorie als auch wie die Tauschfamilien in der Praxis „voneinander beunruhigen lassen“17 soll, ohne das Andere zu hypostasieren, zu vergegenständlichen. Eine nicht zu unterschätzende Gefahr des Verstehens besteht darin, dem Anderen im eigenen Verstehensversuch seine Andersheit zu generalisieren, zu hypostasieren oder gar zu nehmen. Verstehen bedeutet nicht die vereinnahmende Aneignung des Anderen und seine Erfahrungswelt, sondern das Begreifen eines Sachverhaltes oder der Selbstdarstellung des Anderen. Stellen wir uns einmal vor, die Tauschfamilien stoßen in der Zeitung auf die folgende Anzeige mit dem Titel „Das Eigene und das Andere“: Beispiel: Dein Land ist Deutschland oder Iran? Deine Religion ist christlich/islamisch? Deine Demokratie ist griechisch/islamisch? Deine Zahlen sind arabisch/lateinisch? Deine Schrift ist lateinisch/arabisch? Dein Auto ist japanisch/deutsch/iranisch? Dein Urlaub ist ägyptisch/afrikanisch/türkisch? Deine Pizza ist italienisch/deutsch/türkisch? Dein Tee ist iranisch/indisch/asiatisch? Dein Kaffee ist brasilianisch/arabisch/kubanisch? Wer ist nun Ausländer/Ich oder Du?
Gleich von welchem Selbstbild die Tauschfamilien ausgehen mögen, was sie nicht leugnen können ist die Pluralität ihrer sozialen Umwelt und damit der Kulturregion, in der sie sich bewegen, in der sie sozialisiert worden sind. Mit dem differenzierten Umgang der Ausdrücke des Eigenen und des Anderen beginnt die Selbstwahrnehmung der Tauschfamilien in Deutschland und im Iran. Denn wenn sie sich jeweils als das Eigene und das Andere wahrnehmen, so definieren sie dementsprechend auch ihre Beziehung. Diese dynamische und wandelbare Selbstwahrnehmung ist für ihre gesamte Kommunikation grundlegend. Jenseits dieser Debatte ist es für die beiden Familien unverzichtbar, sich jeweils selbst definierend, mit dem Anderen ins Gespräch zu kommen. Es geht nicht darum, Grenzen zu setzen oder aufzuheben, sondern gemeinsam Konvergenzen und Divergenzen in ihren jeweiligen kulturell geprägten Lebensformen zu identifizieren, um in der Spur des dialogischen Austausches zu bleiben. Die Tauschfamilien werden in faktischen Begegnungen erfahren, dass die Gründe der Divergenzen und Konvergenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen religiös, kulturell, zivilisatorisch, traditionsbedingt, bildnerisch, beruflich oder gruppenorientiert sein können, die zumeist eine theoretische und praktische Absetzung des Eigenen vom Anderen zur Folge haben. Sie werden auch erleben, dass das Eigene und das Andere keine 16 Vgl. Scheuermann, Erich: Der Papalagi, 1978 S. 13 ff. 17 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 2006.
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
unüberbrückbaren Gegensätze sind, wie dies in einigen Medien, Studien oder von manchen Politikern unterstellt wird. Die Frage nach dem Eigenen und dem Anderen bildet die Bestimmungsgrundlage interkultureller Kommunikation. Für die reziproke Verständigung der Tauschfamilien ist grundlegend, sich zunächst gemeinsam die Frage zu stellen und zu beantworten, wie sie sich selbst betrachten: Was heißt für die eine Familie iranisch sein und für die andere Familie deutsch sein? Sie werden bald merken, dass es in beiden Ländern, wie die Konfigurationstheorie von Senghaas zeigt, auch heterogene Formen gibt und einige unaufhebbare Interdependenzen bestehen. Diese Erfahrung bildet die Grundlage von Versuchen für die Tauschfamilien, um den reziproken Verständigungshorizont korrigierend zu erweitern. Grundsätzlich greifen das Eigene und das Andere ineinander, ergänzen sich, setzen sich voneinander ab oder unterscheiden sich. Alle Identitätsformen haben einen hybriden Charakter; sie erzeugen nicht nur Stolz, Freude, Selbst- und Gruppenvertrauen, sondern können auch – und dies ist häufig der Fall – zur Überbetonung und zu radikalen Ab- und Ausgrenzungen führen, die in praktischer Gewalt gegen andere Identitäten enden und eine interkulturelle Kommunikation im Vorfeld gefährden. Im Rahmen interkultureller Kommunikation kann weder das Eigene und das Andere noch Divergenzen, die aus unterschiedlichen Kontexten hervorgehen, problemlos verselbstständigt oder hypostasiert werden. 4.2.2 Interkulturelle Kompetenz In einer Zeit, in der die Welt immer mehr zusammenrückt und Informationen aus weit entfernten Kulturregionen im Sekundentakt per Mausklick verfügbar gemacht oder weitergeleitet werden können, benötigen wir neue, interkulturelle und interreligiöse Kompetenzen, die unsere Begegnungen, Partnerschaften, Geschäftsbeziehungen und wissenschaftlichen sowie politischen Diskurse erleichtern. Zunächst ist zu klären, was in unserem Zusammenhang interkulturelle Kompetenz bedeutet: Erklärungsversuch: Interkulturelle Kompetenz ist eine Fähigkeit, die einen Prozess der Aneignung von Informationen und Verhaltensweisen beschreibt. Sie verhilft uns dazu, eine Aufgabe zu meistern, einer Herausforderung zu begegnen oder eine Tätigkeit in interkulturellen Kontexten auszuführen. Wann immer unterschiedliche Denkformen, Handlungsmuster oder Lebensentwürfe miteinander in Berührung kommen, ist die Aneignung von Kompetenzen erforderlich. Auch Werte- und Normenorientierung sowie begriffliche und theoretische Bezugssysteme, die nicht immer expliziert sind, fallen hierunter.
Strukturen interkultureller Kompetenz Interkulturelle Kompetenz hat erstens eine Innenperspektive, die sich auf das Intrakulturelle, auf innergesellschaftliche Handlungskompetenzen bezieht. Zweitens besitzt sie eine Außenperspektive, die sich auf das Interkulturelle, auf zwischenkulturelle Handlungskompetenzen bezieht. Die Grenzen zwischen Innen- und Außenperspektive sind dabei stets fließend. Die Tauschfamilien werden hautnah erfahren, dass wenn immer unterschiedliche Weltanschauungen, Gesinnungen und Meinungen aufeinandertreffen, interkulturelle Kompe-
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tenz notwendig wird.18 Konkret geht es um die Suche nach Möglichkeiten, die dabei helfen sollen, im Gespräch oder in Begegnungen jene und ähnliche Eigenheiten kennen und respektieren zu lernen. In diesem Sinne bedeutet die Aneignung von Kompetenzen, „den interkulturellen Handlungsprozess“ so zu gestalten, dass Missverständnisse zunehmend vermieden oder aufgeklärt und „gemeinsame Problemlösungen“19 angestrebt werden können, welche die Zustimmung der Tauschfamilien finden. Was werden die Tauschfamilien, die sich nun in zwei unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten bewegen, unternehmen müssen, um eine reziproke Integration zu ermöglichen? Sie werden freilich nicht gemäß eigener kultureller Vorprägungen und Vorstellungen in die neue Heimat einreisen. Sie werden über Anpassungstechniken und Handlungsformen nachzudenken haben. Hier ist interkulturelle Kompetenz gefragt.20 Die Tauschfamilien werden unter anderem auch erfahren, dass interkulturelle Kompetenz das Bewusstsein dafür voraussetzt, dass ihr eigenkulturelles Sinn- und Orientierungssystem nur eines von vielen ist, und dass auch in anderen Kulturregionen Vorstellungen davon existieren, was Menschen unausgesprochen voneinander erwarten können und was „real“ oder was „normal“ ist . Die Aufgabe der Tauschfamilien wird darin bestehen, diese für die interkulturelle Kommunikation grundlegenden Kompetenzen miteinander in Beziehung zu setzen. Das Wissen über Divergenzen und Konvergenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen ist dabei von besonderer Bedeutung. Ein angemessener Umgang mit verschiedenen kulturellen Kontexten erfordert die Anwendung von variablen Kompetenzen, weil kulturelle Kompetenzen nicht wie ein „Werkzeugkasten“ oder ein „Kompetenzkatalog“ in jedem Fall gleich bzw. gleich erfolgreich angewendet werden können.21 In der Regel sind Darstellungen der Funktion und Bedeutung interkultureller Kompetenz durch Listen- oder Strukturmodelle bestimmt, wobei die Listenmodelle relevante Teilkompetenzen wie Empathie und Ähnliches enthalten, die Strukturmodelle hingegen eher systemisch-prozessual orientiert sind und Einzelfähigkeiten bestimmten Dimensionen zuordnen. Diese Schlüsselqualifikation, die einmal als kulturspezifisch, einmal als universelle Schlüsselkompetenz gesehen wird, ist in gesellschaftlicher, religiöser wie auch in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht von Bedeutung. Interkulturelle Kompetenz zielt als Fertigkeit, wie wir weiter oben gesehen haben, auf die Anwendung dieser Fähigkeit in unterschiedlichen Bereichen des menschlichen Lebens und auf die Herbeiführung von Transformation. Die Begegnung mit dem kulturell Anderen, als das gewünschte Ziel, wird ohne fundierte Kenntnis über seine Gewohnheiten, Sitten und viele andere anthropologische Faktoren nicht erreichbar sein. Aneignung interkultureller Kompetenz Eine zentrale Frage ist hier, wie wir uns Informationen über das Andere aneignen können. Zunächst sind die erreichbaren Informationen der erste Schritt zur Kenntnis des Anderen. Sie bilden die Grundlage unserer Wahrnehmung. Wir müssen uns aber bewusst werden,
18 Vgl. hierzu Bleil, Nadja: Interkulturelle Kompetenz in der Erwachsenenbildung, 2006. 19 Thomas, Alexander: Interkulturelle Kompetenz – Grundlagen, Probleme und Konzepte, 2003 S. 141. 20 Auf folgenden Arbeiten sei hier verwiesen, die zu diesem Themenbereich wichtige Erkenntnisse zusammengetragen haben. Vgl. Thomas, Alexander: Interkulturelle Kompetenz – Grundlagen, Probleme und Konzepte, 2003; Bolten, Jürgen: Interkulturelle Kompetenz, 2007 und Erll, Astrid und Marion Gymnich: Interkulturelle Kompetenzen, 2007. 21 Vgl. hierzu Erdem, Fatma: Interkulturelle Kompetenz in der Sozialarbeit, 2011.
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
dass Informationen aus mangelnder Kenntnis der Sachlage heraus schief oder übertrieben oder aus politischer Motivation heraus sogar vorsätzlich falsch gefasst sein können. Hier sind die medienpädagogischen Dimensionen im interkulturellen Vergleich von Bedeutung, weil viele unserer Erkenntnisse über die Anderen durch mediale Instanzen gewonnen werden. Unser erstes „Vor-Urteil“, also unsere revidierbare Erwartungshaltung, wird auf dem Wege des wechselseitigen Kennenlernens voraussichtlich revidiert werden müssen, aber mangels besserer Informationen müssen wir unsere Handlungen in der neuen Umgebung zunächst hierauf stützen. Worauf muss ich achten, wenn ich mit dem Anderen eine Partnerschaft, eine Geschäftsbeziehung eingehen möchte?22 Wir müssen uns stets vergegenwärtigen, was das Eigene und das Andere ist, was wir wissen müssen, was wir im Dialog hoffen dürfen und worauf wir zu verzichten haben. In einem zweiten Schritt werden wir unsere Wahrnehmungen, Interpretationen, Gefühle und Realität, also die Welt des Eigenen, mit der Welt des Anderen in Beziehung setzen und daraus vorläufige Schlüsse für weitere Schritte ziehen:
Meine Wahrnehmung
Meine Realität Meine Interpretation
Meine Gefühle
Meine Welt
1. 2. 3. 4.
Was ist das Eigene und das Andere? Was muss ich wissen? Was darf ich hoffen? Worauf muss ich verzichten?
Meine Welt Meine Interpretation Meine Wahrnehmung
Meine Gefühle Meine Realität
Die gleichen Schritte vollziehen auch unsere Tauschfamilien, dies sowohl im Denken als auch im Handeln. Wichtig ist dabei, dass die Praxis interkultureller Kompetenz adressatengerecht sein muss, weil der Umgang mit einem Wissenschaftler, einer Führungskraft, einer Hausfrau oder einem Maurer unterschiedlich ist. Merke: Eine iranische Juristin und ein deutscher Jurist haben mit großer Wahrscheinlichkeit mehr Gemeinsamkeiten beruflicher und ethischer Art als eine deutsche Hausfrau mit dem deutschen Juristen. Sicher können sich die beiden Juristen, jenseits ihrer kulturellen Zugehörigkeit, verständigen. In einem anderen Kontext und einer anderen Situation aber, bspw. in Fragen der Religion oder der Freizeitgestaltung, können die Auffassungen hingegen erheblich auseinanderklaffen.
22 Die Frage nach der Kompetenz in den Schulen ist grundlegend, weil Schule eine zentrale Bildungsinstitution der Gesellschaft bildet. Vgl. hierzu Over, Ulf: Die interkulturell kompetente Schule, 2012.
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
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Dieses Beispiel zeigt die fließenden Grenzen zwischen Intra- und Interkulturalität. Hier wird ersichtlich, dass gegenseitiges Verstehen stets abhängig ist von den einzelnen Beteiligten und dem Kontext der jeweiligen Situation. Im Land selbst besteht erstmals die Möglichkeit, aus eigener Anschauung zu überprüfen, inwiefern die gewonnenen Eindrücke aus Büchern und Medien authentisch und verlässlich sind oder nicht. Die Tauschfamilien werden in Berlin und Teheran erfahren, wie die Menschen vor Ort ihren Alltag gestalten, wie sich Männer und Frauen allgemein bzw. in bestimmten Milieus bewegen und verhalten. Sie werden auf weiteres für sie zunächst befremdendes Verhalten stoßen, dessen Bedeutung sich ihnen erst nach und nach erschließen wird. Gefragt sind hier im Wesentlichen unser sozialer und politischer Sinn sowie unsere eigene Urteilskraft, ferner auch das zugrunde gelegte Verständnis von Kulturen und ihren Interdependenzen. Sie vollziehen eine Reihe von Phasen: Schritte zum Selbst- und Fremdverstehen und zur Kommunikation führen durch „interkulturelles Lernen“ zu „interkultureller Kompetenz“. Es werden Situationen entstehen, die bei der Begegnung der Menschen aus anderen kulturellen Kontexten ein Unbehagen hervorrufen können. Die Familien sollen dabei unterstützt werden, Vieldeutigkeiten zu ertragen und eine sogenannte Ambiguitätstoleranz zu entwickeln. Dies meint vor allem die Fähigkeit, komplexe, unterschiedlich interpretierbare und in ihrer Entwicklung offene Situationen auszuhalten.23 Die Tauschfamilien können hierbei lernen, dass „die Wahrheit“ niemandes Besitz alleine ist. Die eine Wahrheit, die gelehrt werden könnte, kann es jedoch nur auf Kosten eines Kommunikationsabbruchs geben. Die Wahrheit „in“ meiner Tradition kann nicht problemlos gleichgesetzt werden mit „der“ Wahrheit meiner Tradition. Eine so gewonnene Erkenntnis ist eine notwendige Bedingung für interkulturelle Begegnungen. Formen der Kernkompetenzen Auf der Grundlage dieser Annahme bilden sechs Kompetenzformen den Prozess und die Basis eines toleranten und zugleich dialogisch-kritischen Umgangs mit anderen Anschauungsformen: Merke: 1. Eigenkulturelle Kompetenz. 2. Anderskulturelle Kompetenz. 3. Interkulturell-individuelle Kompetenz. 4. Interkulturell soziale Kompetenz. 5. Interkulturelle Fachkompetenz. 6. Interkulturell-strategische Kompetenz.24
Dies bedeutet, über das Eigene und Andere zu reflektieren, dabei sich das erforderliche Fachwissen anzueignen und echte Kontaktfreudigkeit und Wertschätzung zu demonstrieren. Ein solcher Kompetenzbegriff ist stets mit kultureller und interkultureller Bildung verknüpft. Wie können sich unsere Tauschfamilien diese drei Kompetenzbereiche aneignen? Hier sollen einige Aspekte genannt werden:
23 Vgl. Handschuck, Sabine: Interkulturelle Verständigung – ein Fortbildungsansatz, 2001 S. 44. 24 Jürgen Bolten hat ein System von Kompetenzen entwickelt, worauf hier grundsätzlich verwiesen sein. Vgl. Bolten, Jürgen: Interkulturelle Kompetenz, 2007.
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
1) Sie müssen sich allgemein vergegenwärtigen, dass sie zwei unterschiedlichen Kulturregionen (Orient und Okzident) und Religionen (Islam und Christentum) mit verschiedenen soziokulturellen und lebensweltlichen Hindergründen angehören, die nicht nur Gemeinsamkeiten aufweisen, sondern auch Unterschiede, die für sie verhältnisbestimmend sein können. Hier sind religions- und kulturpädagogische Dimensionen samt ihrer Kontextualitäten zu beachten, weil Islam und Christentum nicht homogen sind. Das Gleiche gilt auch für Orient und Okzident. 2) Sie müssen sich über Gebote und Verbote informieren, insbesondere im Bereich des täglichen Lebens, wie Speisen und Getränke. Der Konsum von Alkohol ist in vielen arabisch-islamischen Ländern ungewöhnlich, im Iran sogar verboten. Der Genuss von Schweinefleisch ist grundsätzlich undenkbar, weil Schweine Allesfresser sind und damit als unrein gelten, während diese Faktoren in Deutschland keine Rolle spielen. Hier sind die sozialpädagogischen Dimensionen im interkulturellen Vergleich unverzichtbar. Merke: Während das Naseputzen in islamischen Regionen am Esstisch als beleidigend und in europäischen als normal empfunden wird, sieht ein Europäer das Rülpsen und Schmatzen eines Chinesen meist als unhöflich bis unzivilisiert an, während diese Tischmanieren in China zum Alltag gehören. Mit diesem Verhalten zu Tisch wird dem Gastgeber signalisiert, dass es dem Gast schmeckt.
3) Sie haben darüber hinaus auf das Zeitverständnis ihrer Gastländer zu achten. Das Verständnis von Pünktlichkeit oder Unpünktlichkeit lässt sich nicht generalisieren; sie ist individuell unterschiedlich. Divergenzen dürfen nicht als Affront gewertet werden. Auch hier sind die sozialpädagogischen Dimensionen unter Berücksichtigung von Kontextualitäten von Bedeutung. 4) Sie müssen die Höflichkeit- und Begrüßungsformen der Gastländer beachten. Dies hängt damit zusammen, dass eine Verhaltensform, die in einer Kulturregion erwartet wird, in einer anderen Kulturregion als völlig unangemessen empfunden werden kann. Merke: Im Iran wird man, wenn auch zunächst befremdet, zur Kenntnis nehmen, dass sich Männer bei der Begrüßung auf die Wangen küssen, was hier vorwiegend in homosexuellen Kreisen oder unter Frauen üblich ist. Bald werden sie merken, dass dies ein Bestandteil dieser Kultur ist und lediglich soziale Nähe und ein Zusammengehörigkeitsgefühl artikuliert.
Hier sind die landeskundlichen Informationen zu studieren. Es darf keinesfalls geschehen, die Verhältnisse nur durch die eigenkulturelle Brille zu sehen und zu bewerten. Nicht nur soziale Sensibilität und soziales Geschick sind von Bedeutung, sondern auch Anpassungs- und wechselseitige Integrationsbereitschaft. Auf diesem Wege werden die Tauschfamilien auf Situationen und Kontexte zu achten haben, weil ein Mensch, der in einem Kontext und einer Situation etwas bejaht, dies in einem anderen Kontext und/oder anderen Situation durchaus negieren kann. Ziel interkultureller Kompetenz Eine kommunikative Begegnung unterschiedlicher Denkmodelle und Wertorientierungen bleibt ohne die Aneignung dieser Kernkompetenzen eine Wunschvorstellung. Das folgende Schaubild zeigt einige zusammengefasste Dimensionen interkultureller Kompetenz:
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
1. 2. 3. 4. 5.
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Kulturgebundenheiten erkennen! Kulturalismus überwinden! Respekt gegenüber anderen Kulturen entwickeln! Divergenzen und Konvergenzen berücksichtigen! Ambiguitätstoleranz üben!
Tradition und Religion
Universalität
Kultur und Zivilisation
Partikularität
Dimensionen der interkulturellen Kompetenz
1. 2. 3. 4.
Hypostasierungen vermeiden! Nicht willkürlich vergleichen! Verabsolutierungen vermeiden! Überlappungen suchen!
Im Rahmen der interkulturellen Kompetenz werden nur diejenigen Lesarten das gleiche Recht einräumen, welche die Würde des Menschen schützen. Unberührt bleibt davon das „distanzierte Engagement“ für die jeweils eigene konkrete Lesart. Interkulturelle Kompetenz setzt stets die Realisierung und Anwendung der spirituellen Tugend einer freiwilligen Selbstbescheidung und -begrenzung voraus, verbunden mit Rücksichtnahme. Sie bedeutet „die dauerhafte Fähigkeit, mit Angehörigen anderer Kulturen erfolgreich und kultursensibel interagieren zu können“.25 Die Tauschfamilien werden bei der Erweiterung ihres Verständigungshorizontes darüber nachdenken müssen, wie sie sich gegenseitig diese Fähigkeiten und Fertigkeiten aneignen können. Merke: Interkulturelle Kompetenz bildet eine unverzichtbare Grundlage aller weiteren Kompetenzen wie der interkulturellen Semantik, Hermeneutik, Komparatistik, Toleranz und Ethik. Interkulturelle Kompetenz ist somit eine Conditio sine qua non für interkulturelle Verständigung und Kommunikation.
Dabei handelt es sich in erster Linie um das reziproke Kennenlernen-Wollen des Welt- und Menschenbildes, der historischen Bedingtheit vieler Gepflogenheiten und der religiösen Gewohnheiten im Kontext orientalisch-iranischer und europäisch-deutscher Traditionen, Kulturen, Religionen und Zivilisationen. 4.2.3 Interkulturelle Semantik Interkulturelle Semantik befasst sich speziell mit sprachlichen Dimensionen kultureller Kontexte sowie mit ihren symbolischen Formen und Aussagestrukturen, die empirisch wie 25 Grosch, Harald und Wolf Rainer Leenen: Bausteine zur Grundlegung interkulturellen Lernens, 1998 S. 29.
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
hermeneutisch zu berücksichtigen sind. Ihr Feld ist die unterschiedliche Bedeutung von Wörtern im Vergleich und Verständnis der Völker, die die Vorstellung des Betrachters aufgrund seiner soziokulturellen Vorprägungen beeinflussen. Erklärungsversuch: Interkulturelle Semantik hat kulturell und kontextuell bedingte Äußerungsformen und die daraus hervorgehenden Missverständnisse in der interkulturellen Kommunikation zum Gegenstand. Sie bezieht sich auf die Beschreibung kulturspezifischer Wortbedeutungen.
Die traditionelle Semantik ist vorwiegend auf die interne Bedeutungsstruktur sprachlicher Ausdrücke konzentriert. Interkulturelle Semantik diskutiert ergänzend interne und externe Bedeutungsstrukturen sowie Bedeutungspostulate im Vergleich und Verständnis unterschiedlicher Sprachkulturen. Sie analysiert interkulturell bedingte Störungen, Missverständnisse und Konflikte, die durch einen kontextspezifischen Wortgebrauch verursacht werden bzw. verursacht werden können. Für eine gelungene interkulturelle Kommunikation ist es von Bedeutung, die semantischen Ebenen und soziokulturellen Dimensionen der jeweils kulturell Anderen beachten zu lernen. Merke: Die interkulturelle Semantik trifft in hohem Maße Aussagen über bestimmte kulturelle Vorprägungen, welche für die Kommunikation grundlegend sind.
Die drei Komponenten „Sinn“, „Zeichen“ und „Bedeutung“ sind mit unterschiedlichen Vorstellungen verknüpft, die je nach Kontext anders betrachtet werden. Dabei ist die Distributionsanalyse, d. h. die Kontext- und Feldanalyse wesentlich. Erstere stellt ein Zeichen in seinen Gesamtkontext, Letztere bettet es aufgrund von Ähnlichkeiten in Felder ähnlicher Wörter ein, um paradigmatische Relationen zwischen Kontexten herzustellen. Ein praktisches Beispiel: Auch das folgende Beispiel zeigt die grundlegende Bedeutung der Rolle und Relevanz interkultureller Semantik bei der Gesprächsführung: Beispiel: „Ein Cowboy und ein Indianer treffen sich in der Prärie. Der Indianer zeigt mit dem Zeigefinger auf den Cowboy. Der hebt als Antwort Zeigefinger und Mittelfinger gespitzt hoch. Der Indianer faltet die Hände vor dem Gesicht. Da schüttelt der Cowboy locker seine rechte Hand. Beide reiten davon. Der Cowboy kommt heim zu seiner Frau und erzählt: ‚Stell’ dir vor, ich habe heute eine Rothaut getroffen. Sie hat mit dem Zeigefinger gedroht, mich zu erschießen. Da habe ich dem Indianer mit der Hand bedeutet, dass ich ihn zweimal erschießen würde. Und weil er mich prompt um Gnade gebeten hat, habe ich ihm zu verstehen gegeben, er solle verschwinden.‘ Einige Meilen westlich, im Wigwam, erzählt der Indianer seiner Squaw: ‚Stell’ dir vor, ich habe heute ein Bleichgesicht getroffen. Ich habe ihn gefragt: ‚Wie heißt du?‘ Da hat er mir geantwortet: ‚Ziege‘. Da hab’ ich ihn gefragt: ‚Bergziege?‘ Und da hat er geantwortet: ‚Nein, Flussziege‘.“26
Hier wird deutlich, mit welcher Selbstverständlichkeit man sich missverstehen kann, wenn man die Semantik des artikulierten Sinnes nicht dekodieren kann. Das Beispiel expliziert das Wechselverhältnis zwischen Zeichen, Bedeutung und Sinn, die kontextuell mit unterschiedlichen Vorstellungen zusammenhängen oder solche hervorrufen. Ferner führt dieses 26 Koch, Peter u. a. (Hrsg.): Neues aus Sankt Eiermark, 21997 S. 57 f.
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
97
Beispiel vor Augen, dass die Verständigung über (Wort-)Bedeutungen für Kommunikation grundlegend und warum die Praxis der Wahl einzelner Lemmata oder Stichwörter zu studieren ist. Eine wichtige Bedingung ist hierbei die Analyse der Vorverständnisse, um hinter die Oberfläche von Wahrgenommenem zu dringen und die Bedeutung eines Begriffs mit allen möglichen Konnotationen zu erfassen.27 Die folgende Abbildung visualisiert das inhaltliche Verhältnis dieser Ebenen, die sich in vielerlei Hinsicht überlappen: Vorstellungen
Zeichen
Interkulturelle Semantik
Sinn
Bedeutung
Über diese Komponenten hinaus sind in einer kommunikativen Situation die Bereiche der Höflichkeits- und Grußfloskeln und sogenannte Hotwords besonders störanfällig. Es sind Wörter, die je nach Situation und Wortauswahl stark positive oder negative Emotionen hervorrufen. Beispiel: Die Bezeichnung „damaqet tschaqe?“ im Persischen ist ein derartiges Wort, das zwei verschiedene Bedeutungen hat: Als medizinischer Fachausdruck steht „damaq“ für „Gehirn“, während es umgangssprachlich die Bezeichnung für „Nase“ ist. „Tschaqe“ heißt wörtlich „dick“. Das Wort „damaq“ erhält in der Redewendung „Damaqet tschaqe?“ die Bedeutung „Gemüt“ oder „Gefühl“. Der Ausdruck „damaqet tschaqe?“ wird im Sinn der deutschen Floskeln: „Na, wie geht’s?“, „Wie läuft das Geschäft?“ oder „Wie fühlst du dich?“ verwendet.
Das Nichtbeachten der kontextbedingten Wortbedeutung wirkt sich unmittelbar auf die Kommunikation aus. Dieses Beispiel ist nicht erfunden, sondern wurde von einem französischen Schriftsteller so geschildert. Er zeigt sein Unverständnis, wenn er berichtet, er sei im Iran immer wieder gefragt worden, was seine Nase mache, und immer habe er sich unwohl gefühlt, weil er alles wortwörtlich genommen hat. Ein Wort, mit dem die deutschen Familienteile in Deutschland zu Beginn der Einreise erhebliche Schwierigkeiten haben, ist der häufig verwendete persische Begriff „nazi“, der „wie süß“ bedeutet. Bei der Vorstellung der Familienteile sagt die iranische Mutter zur 27 Kögler, Hans-Herbert: Die Macht des Dialogs, 1992 S. 19.
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
Tochter der deutschen Familien „nazi“, worauf die deutsche Mutter umgehend antwortet: „Wir sind keine Nazis.“ Zu beachten sind in diesem Zusammenhang auch Höflichkeitsfloskeln. Wenn im Iran ein Gast sagt, wie schön ein Gemälde oder ein Gegenstand sei, erhält er in der Regel – Ausnahme gibt es immer – die Antwort: „Qabel-nadare!“, „“Es ist Ihnen nicht die Würde wert.“ Der Ausdruck besagt, dass es sich hier um eine Kleinigkeit handelt. Eine mögliche Antwort wäre in diesem Zusammenhang: „Sahebesh gabele!“, wörtlich: „Ihnen möge die Würde gelten!“ Solche Ausdrucksformen haben durch eine Falschübersetzung zu einem Jahrhunderte andauernden Missverständnis zwischen Orient und Okzident geführt. Darunter wird hier verstanden, der Gast könne das Bild mitnehmen. Dies ist aber mit der Floskel nicht gemeint. Sie ist als Wortspiel der Höflichkeit und Gastfreundlichkeit nicht ernst zu nehmen, und die Antwort wäre „mamnunam“, „danke“.28 In den Ausführungen zum Thema „interkulturelle Forschung“ wurde bereits darauf verwiesen, dass die Ausdrücke „Erste, Zweite und Dritte“ Welt fraglich und deshalb interkulturell neu zu durchdenken sind, weil diese in unterschiedlichen kulturellen Kontexten mit verschiedenen Bedeutungen verknüpft sind. Während im Westen im Allgemeinen darunter eine Hierarchisierung der Welthemisphären – Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländer – verstanden wird, bringen diese Ausdrücke in den betroffenen Ländern koloniale Erinnerung zum Ausdruck und sind ein Symbol der Unterdrückung. Ein weiteres Beispiel: Zur Wahrung der political correctness ist es einem Deutschen verwehrt, bestimmte Bezeichnungen wie „arisch“ zu verwenden. Die Bedeutung und der Gebrauch dieses Wortes im Persischen und Deutschen zeugt von unterschiedlicher Semantik. Dieser Begriff bezeichnet ursprünglich einen der Stämme, die im Zuge der indoeuropäischen Wanderung in das Gebiet des heutigen Iran einwanderten. Während dieser Begriff im Persischen mit einer positiven Erinnerungskultur verbunden ist, wird er im Deutschen weitgehend mit der nationalsozialistisch entlehnten Idee von einer Reinheit der Rasse verbunden, die mit einer negativen Erinnerungskultur verknüpft ist. Deshalb ist die Verwendung dieses Wortes im Deutschen problematisch. Im Rahmen interkultureller Semantik ist es zur Vermeidung von Missverständnissen besonders sinnvoll, Homonymie, d. h. die lautliche Übereinstimmung von Wörtern mit verschiedener Bedeutung und Herkunft, und Polysemie, d. h. das Vorhandensein mehrerer Bedeutungen zu einem Wort, zu identifizieren und dafür zu sensibilisieren. Auf diesem Weg können unterschiedliche Bedeutungsebenen festgestellt, erweitert oder richtiggestellt werden. Ein praktisches Beispiel: Wir betrachten den Begriff Café und reflektieren seine Alltagsbedeutungen29: Merke: 1. Bei der Betrachtung der Innen- und Außenperspektive ist abzuklären, ob es sich um einen Begriff aus dem privaten oder öffentlichen Leben handelt. 2. Die soziologische Bedeutung klärt die Frage nach den sozialen Schichten, die mit dem Begriff Café in Verbindung gebracht werden. 28 Yong Liang greift die Problematik der Höflichkeit in europäisch-chinesischen Begegnungen auf und zeigt exemplarisch, wie wichtig die Kenntnis entsprechender Formen im Kontext interkultureller Kommunikation sind. Liang, Yong: Höflichkeit im Chinesischen, 1998. 29 Vgl. Yousefi, Hamid Reza: Angewandte Toleranz, 2008 S. 120, nach Müller, Bernd-Dietrich: Wortschatzarbeit und Bedeutungsvermittlung, 1992.
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
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3. Die Distributionsperspektive gibt Antwort auf Häufigkeit und Vorkommen des zur Diskussion stehenden Begriffs. 4. Die historische Perspektive richtet den Blick auf Entstehung und evolutionären Fortbestand des Begriffs. 5. Die Emotionsperspektive fragt danach, welche positiven oder negativen Emotionen mit dem Begriff verbunden sind. 6. Die intrakulturelle und intrareligiöse Vergleichsperspektive setzt den infrage stehenden Begriff in Kontrast zu ähnlichen Phänomenen in der gleichen Kultur, während die interkulturelle Perspektive ihn mit Begriffen einer Zweit- oder Drittkultur vergleicht. 7. Die Interessenperspektive klärt die Frage nach den Intentionen, die die Teilnehmer mit der Verwendung des Begriffs verbinden. 8. Die Symbolperspektive gibt Auskunft darüber, welcher symbolische Wert einem Begriff in den jeweiligen Kulturen beigemessen wird.
Was bedeutet dieses Beispiel und was können wir daraus für die Kommunikation lernen? Bei solchen Vergleichen können Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet werden. Es wird auch deutlich, dass eine „reine“ Kultur oder Religion nicht existiert. Wenn wir also im Iran, Deutschland oder Afrika „Café“ sagen, so müssen wir nicht immer das Gleiche meinen. Theorien interkultureller Semantik Die Frage nach der Semantik im Kontext interkultureller Kommunikation hat eine Reihe von Wissenschaftlern beschäftigt. Peter Kühn (*1949) gehört zu den Ersten, die sich mit dem Verhältnis zwischen der Semantik und interkulturellen Verstehens- und Verständigungsproblemen aus sprachwissenschaftlicher Sicht befasst haben. Dabei ordnet er das Feld „interkulturelle Semantik“ dem Forschungsgebiet der „interkulturellen Kommunikation“ zu. Ein Grundproblem interkultureller Kommunikation liegt für Kühn in ihrer Vielfältigkeit, die in der Komplexität kultureller Zusammenhänge begründet ist.30 Für die Analyse solcher Kommunikationssituationen gelten prinzipiell die gleichen sprachpragmatischen Analysekategorien wie für diejenigen, die zur Beschreibung eigenkultureller Interaktionssituationen herangezogen werden. Merke: Interkulturelle Semantik birgt ein Missverständnispotenzial, „weil die Kommunikationspartner in einer interkulturellen Kommunikationssituation die Wörter so gebrauchen, wie sie diese im Laufe ihrer Sozialisation in einem spezifischen kulturellen Kontext erlernt haben“31 und wie sie für eine Sprach- und Kulturgemeinschaft gemeinhin in Wörterbüchern festgeschrieben sind.
Alle semantisch bedingten Störungen, Missverständnisse oder Konflikte treten nach Kühn immer dann auf, „wenn die Kommunikationsbeteiligten auf der Basis unterschiedlicher soziokulturell geprägter Bedeutungskonventionen miteinander interagieren, bzw. unterschiedliche Begriffssysteme aufeinander treffen.“32 Mit dem kritischen Hinweis auf die interkulturelle Semantik beklagt Kühn, dass der Wortschatz in deutschen Wörterbüchern selten kultursensitiv dargestellt wird, d. h. dass soziokulturell eingespielte Einstellungen, Wertungen, Stereotypen, Ideologien usw. kaum 30 Vgl. Kühn, Peter: Interkulturelle Semantik, 2006 S. 14. 31 Ebenda, S. 26. 32 Ebenda, S. 9.
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
Erwähnung finden. Er macht es sich zur Aufgabe, kulturspezifische semantische Probleme zu erläutern. Kühn analysiert in solchen Wörterbüchern „Hotwords“ wie Heimat, Moschee, Kopftuch, Familie. Hotwords sind in Wörterbüchern und Lexika schwer zu fassen und zu beschreiben, da sie in der Geschichte oder im gesellschaftlichen Leben eine besondere Rolle spielen und ihr Gebrauch sich permanent verschiebt. Merke: Nach Kühn hat eine kultursensitive Wörterbuchkritik zu diskutieren33: 1. Welcher kultursensitive Wortschatz in Wörterbüchern dokumentiert ist, wobei die Anwendung der Grundform des Wortes (Lemmatisierungspraxis) Beachtung finden sollte, 2. Wie sich die Kultursensitivität in den Erläuterungen der Wortbedeutung in Wörterbüchern niederschlagen sollte.
Bedeutung interkultureller Semantik Die Thematisierung der interkulturellen Semantik scheint, wie Kühn darauf insistiert, dazu geeignet, „gegenseitige Verstehensprozesse in Gang zu bringen“,34 denn echte Kommunikation kann nur in einem reziproken Zusammenhang unter Berücksichtigung der Wortbedeutungen stattfinden. Eine solche Analyse ermöglicht das Nachvollziehen der jeweiligen Grunderfahrung mit dem Anderen. Hier erfolgt die Einsicht, dass Werte und Normen unterschiedlich besetzt sind und eine Verlagerung der eigenen Ansichten oder Wünsche auf den Anderen Widerstand hervorrufen kann. Der Berücksichtigung der semantischen Dimensionen in der Begegnung unserer Tauschfamilien kommt eine verhältnisbestimmende Rolle zu. Die Vernachlässigung der kontextvariierenden Konnotationen und Denotationen von Wörtern kann zu massiven Störungen und/oder sogar zum Abbruch des Familientausches führen. Interkulturelle Semantik ist als Instrumentarium für Konfliktmanagement und Krisenprävention von Bedeutung, weil wir mit deren Hilfe Konflikte genauer einschätzen und sie für die Ausrichtung des eigenen Handelns unmittelbar einsetzen können. 4.2.4 Interkulturelle Hermeneutik Interkulturelle Hermeneutik ist bedeutsam, weil alle zwischenmenschlichen Kommunikationsbereiche mit individuellem Verstehen einhergehen. Dies erleben wir nicht nur zu Hause oder im Berufsleben, sondern auch in der Gesellschaft. Was ist das – die interkulturelle Hermeneutik? Erklärungsversuch: Interkulturelle Hermeneutik ist ein methodisches Regelwerk des Verstehens, der Auslegung und der Erklärung von Texten, Kunstwerken und Zusammenhangsstrukturen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten, in denen es um das Wechselverhältnis zwischen dem Eigenen und dem Anderen geht.
Dieses Regelwerk kennt viele Dimensionen, allen voran eine sprachliche, religionswissenschaftliche, soziologische oder pädagogische. Um dies zu verdeutlichen, stellen wir uns das berühmte Kippbild vor, auf dem je nach Blickrichtung ein Hase oder eine Ente sichtbar ist, das sich wie folgt demonstrieren lässt: 33 Vgl. Ebenda, S. 149. 34 Ebenda, S. 47.
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Dieses Kippbild lässt sich bei der Betrachtung von der linken Seite her als Ente erkennen, von der rechten Seite her nimmt man einen Hasenkopf wahr. Angenommen es gäbe eine Kultur, in der Enten alltäglich sind, Hasen jedoch nicht vorkommen; in einer zweiten Kultur sind Hasen verbreitet, Enten gibt es jedoch nicht: Welches Kippbild wäre richtig? Genau betrachtet demonstriert dieses Kippbild, warum und woran Kommunikationen scheitern können. Die Mehrdeutigkeit von Umklappfiguren verdeutlicht, dass das, was eine Partei oder Gruppe als richtig zu erkennen glaubt, nicht die einzig mögliche Interpretation oder Sichtweise eines Phänomens sein muss. Grundlegend ist hier, dass das Selbstbild des Eigenen und des Anderen aufeinandertreffen. Die Theorie des Verstehens von Max Weber In diesem Zusammenhang ist, als Methode, die Theorie des Verstehens von Max Weber von Bedeutung. Ein verstehender Zugriff auf das soziale Handeln zielt nach Weber zum einen auf die Erfassung des vom Handelnden subjektiv gemeinten Sinns und zweitens auf die Erklärung dieses Handelns unter Berücksichtigung des Kontextes, indem sich das Handeln vollzieht. Weber unterscheidet zwei Verstehenstypen, die rational oder irrational sein können: aktuelles und erklärendes Verstehen. Die Intention des Betrachters ist ausschlaggebend dafür, wie jeweils vorgegangen wird.35 Das aktuelle Verstehen bezieht sich nach Weber auf die deutende Erfassung des laufenden Handlungssinnes. Am Beispiel der Tauschfamilien würde dies bedeuten, danach zu fragen, was sie gerade machen, ob sie lachen (Mimik, Gestik), miteinander streiten oder mit dem Auto unterwegs sind usw. Das erklärende Verstehen ist darauf ausgerichtet, die Gründe für dieses oder jenes spezifische Verhalten zu erfassen. Hierbei wird, wie Weber ausdrücklich darauf hinweist, ‚motivationsmäßig‘ zu verstehen versucht, aus welchem Affekt heraus gelacht wird, warum gestritten wird oder mit dem Auto gefahren wird usw., wobei anzumerken ist, dass fast alle menschlichen Handlungen aus ihrer Motivation heraus interpretiert werden. Bei beiden Formen des Verstehens sind Kontextualitäten, Situativitäten und Individualitäten zu beachten. Hermeneutik, also Verstehen, kennt unterschiedliche Wege. Sie kann auf den eigenen Horizont beschränkt bleiben oder den Horizont des Anderen einbeziehen und damit dialogisch gestaltet werden. Innerhalb der interkulturellen Hermeneutik, als einem Oberbegriff, lässt sich zwischen einer apozyklischen und einer enzyklischen Her35 Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, 2010 S. 6 f. Verstehen ist nicht nur, wie Hans Albert (*1921) unterstellt, keine Alternative zum Erklären, sondern Verstehen ist die Grundlage einer jeden Erklärung. Wer einen Sachverhalt nicht verstanden hat, wird nicht in der Lage sein, ihn zu erklären. Vgl. Albert, Hans: Über kritische Vernunft, 1969 S. 135.
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meneutik unterscheiden. Letztere ähnelt zwar dem Verstehensansatz Webers, geht aber deutlich darüber hinaus. Zur apozyklischen Hermeneutik Bei dieser Form des hermeneutischen Ansatzes vollzieht sich das Verstehen in einer Dimension, die sich als Zentrum und alles Andere als Peripherie betrachtet. Es geht um eine zweiwertige Sichtweise, die theoretisch wie praktisch die Sichtweise des Eigenen betrachtet, wobei die Perspektive des Anderen ausgeblendet wird. Erklärungsversuch: Die apozyklische Hermeneutik ist eine Verstehensmethode, die restaurativ-reduktiv verfährt. Sie beschränkt sich auf Selbsthermeneutik und betrachtet andere Denkformen und Weltsichten nur aus der eigenen Perspektive heraus.
Die folgende Abbildung demonstriert die Zentrum-Peripherie-Dimension der apozyklischen Hermeneutik. Sie zeigt auch, dass Individuen, die sich in solchen Kommunikationssituationen befinden, bewusst oder unbewusst von einem geschlossen Kulturbegriff ausgehen.
Eigene Welt: Wie ich mich und andere verstehe
Das Modell der apozyklischen Hermeneutik
Eigene Welt: Wie ich mich und andere verstehe
Ferner expliziert die Abbildung, dass die Kommunizierenden hier ausschließlich eigene Denkformen betrachten und Andere auf der Grundlage des eigenen Vorverständnisses beurteilen. Wie die Anderen ihre eigenen Denkformen betrachten und was sie von ihm halten, wird in der Regel vernachlässigt. Die apozyklische Hermeneutik verfährt reduktionistisch. Diese traditionelle Methode der Hermeneutik ist zweidimensional, weil die Kommunizierenden ausschließlich eigene Sichtweisen in den Vordergrund stellen. Fallbeispiel I: Gehen die Tauschfamilien nach dem Prinzip der apozyklischen Hermeneutik miteinander um, so würden sie miteinander nicht kommunizieren können. Betrachten wir das Kopftuch als Beispiel, weil die iranische Frau ein solches trägt. Bei einer Unterredung spricht der deutsche Vater aus der Tauschfamilie A die iranische Mutter an und verurteilt direkt, dass sie ein Kopftuch trägt, dies sei doch, wie man allgemein wisse, „ein Symbol der Unterdrückung oder der individuellen Freiheitsberaubung“. Er zitiert dabei Alice Schwarzer (*1942), die das Tragen des Kopftuches ebenfalls als „Freiheitsberaubung“ oder „Unterdrückung“ ablehnt. Hier liegt der explosive Ort einer apozyklischen Hermeneutik, in der die Kommunizierenden nur die Fragen vor Augen haben, wie sie sich selbst betrachten und was sie von
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jeweils Anderen halten. Eine reine apozyklische Identitätshermeneutik, die alles der eigenen Denk- und Lebensform anpassen will, ist als zu eng abzulehnen, weil sie darauf hinausläuft, dass sich die Kommunizierenden nur dann verstehen würden, wenn sie die gleichen Anschauungen hätten. Dies wäre der Fall, wenn eine völlige Isomorphie, eine Entsprechung, in Einstellungen und Überzeugungen der Theorien, Meinungen, Überzeugungen und Einstellungen vorläge. Das Verstehen wird aber ermöglicht durch die zwischen allen Kulturen bestehenden Schnittmengen, trotz unleugbarer Divergenzen. Zur enzyklischen Hermeneutik Die enzyklische Hermeneutik ist, im Gegensatz zur apozyklischen Art derselben, einer anderen Natur. Hier wird ernsthaft der Versuch unternommen, eine echte Verständigung zu organisieren, in der Konvergenzen und Divergenzen gleichermaßen zum Tragen kommen. Erklärungsversuch: Die enzyklische Hermeneutik versteht sich als eine argumentative Methode, die darauf ausgerichtet ist, das beziehungslose Nebeneinander des Eigenen und des Anderen in ein interaktives Miteinander zu verwandeln.
Die folgende Abbildung zeigt das Wechselverhältnis der Kommunizierenden, die fragendverstehend und kritisch-erläuternd vorgehen:
Wie die anderen uns verstehen
Wie ich mich selbst und andere verstehe
Das Modell der enzyklischen Hermeneutik
Wie ich mich selbst und andere verstehe
Wie die anderen sich selbst verstehen
Die Abbildung zeigt auch, dass eine echte Kommunikation nur dann möglich ist, wenn die Kommunizierenden aufeinander eingehen und sich gegenseitig als Partner ernst nehmen. Dies ist ein Grund, warum die enzyklische Hermeneutik eine reduktionistische Horizontenverschmelzung ablehnen muss. Die Responsivität einer enzyklischen Hermeneutik artikuliert sich in der Bereitschaft, das Andere in seiner Andersheit wahrzunehmen und sich kommunikativ zu ihm zu verhalten. Dies besagt, dass wir ein Ganzes nicht verstehen können, ohne die Teile zu verstehen, und auch die Teile nicht erfassen können, ohne das Ganze, soweit es möglich ist, in den Blick zu nehmen. Die enzyklische Hermeneutik schaut möglichst nach allen Seiten und fragt nach den Konsequenzen solcher Betrachtungsweisen für die Zielsetzung im Inneren der eigenen Haltung. Sie sieht von jeder Generalisierung ab und ist stets ein Hinweis darauf, dass es
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
einen absoluten Text und absolutes Verstehen nicht gibt, mit denen eine absolute Interpretation einhergeht. Diese Verstehensform weist radikale Konvergenz ebenso wie radikale Divergenz zurück. Die Tauschfamilien werden uns teilweise vor Augen führen, dass wir ohne Praxis einer enzyklischen Verstehensform in den jeweiligen Gesellschaften nicht auskommen können. Hier geht es nicht darum, ob und inwieweit der Andere mich versteht, sondern es kommen eine Reihe von Komponenten zusammen, die zu berücksichtigen sind. Fallbeispiel II: Gehen die Tauschfamilien nach dem Prinzip der enzyklischen Hermeneutik miteinander um, so würde eine echte Verständigung eher möglich sein. Hier liegt der responsive Ort einer enzyklischen Hermeneutik, in der die Kommunizierenden nicht nur die Fragen vor Augen haben, wie sie sich selbst betrachten und was sie von jeweils Anderen halten, sondern auch wie sich die Anderen betrachten und wie sie sich mit Anderen in Beziehung setzen. An dieser Stelle ergänzen sich das Verstehen-Wollen und Verstandenwerden-Wollen des Eigenen und des Anderen. Um das Beispiel mit dem Kopftuch der Iranerin weiterzuführen, wäre hier nun die adäquate Frage wertfrei: „Warum tragen viele moslemische Frauen ein Kopftuch? Wir halten das Kopftuch für ein Symbol der Unterdrückung, dies hat Frau Schwarzer immer wieder betont.“ Die iranische Mutter könnte nun erklären, Frau Alice Schwarzer, die sich in Deutschland für Emanzipation einsetzt, sei kaum freier als sie, weil sie kein Kopftuch trage. Deshalb sei nicht das Urteil von Frau Schwarzer maßgeblich, sondern das derjenigen, die ein Kopftuch tragen. Ihre Erklärung ist: Viele moslemische Frauen trügen gern ein Kopftuch, dies sei für sie ein Symbol der Individualität und Freiheit. Frau Schwarzer könne sich dafür oder dagegen entscheiden, dies sei ihre persönliche Haltung, die man nicht generalisieren darf. Aus islamischer Sicht, die sehr heterogen sei, könne man aber auch Frauen, die kein Kopftuch trügen und sich für offen halten würden, als Objekte der Begierde einer Gesellschaft bezeichnen, was kurzsichtig und unter dem Blickwinkel der weiblichen Würde bedenklich sei. An dieser Stelle wird deutlich, warum es wichtig ist, das Andere nicht ausschließlich aus eigener Sicht zu beurteilen, sondern stets darum bemüht zu sein, die Perspektive des Anderen einzunehmen und dabei nicht zu vergessen, dass Themen wie das Kopftuch auch und vor allem im Iran kontrovers diskutiert werden. Die Auffassung der iranischen Mutter ist eine Meinung von vielen. Die Tauschfamilien werden merken, dass es weder den Iran noch das Deutschland gibt. Merke: Ein Grundsatz der enzyklischen Hermeneutik ist die Praxis, zu fragen, wie wir kommunizieren, verstehen und vergleichen, welche Methoden wir benutzen, welche Ziele wir verfolgen und wo wir das tertium comparationis, also den Vergleichsmaßstab, verankern.
Für die Gestaltung interkultureller Dialoge ist diese Erkenntnis von zentraler Bedeutung. Durch diese Erfahrung werden sie in die Lage versetzt, durch ein offenes und dialogisches Sinnverstehen eine echte und vielseitige Kritik der Eigenen und des Anderen in Gang zu bringen. Die enzyklische Hermeneutik ermöglicht, Schnittmengen und Übergänge in unterschiedlichen Kontexten der iranisch-deutschen Gesellschaften zu suchen, um gemeinsam die Grundlage einer Verständigung herbeizuführen.
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
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Einige Dimensionen enzyklischer Hermeneutik Die enzyklische Hermeneutik lehrt, dass wir verschieden sind und lernen müssen, mit diesen Unterschieden zu leben. Diese Verstehensform erweist sich als hilfreich, sofern überhaupt Interesse an einer argumentativen und echten Verständigung auf gleicher Augenhöhe besteht. Dieses Interesse ist die unverzichtbare Voraussetzung einer jeden Form von Kommunikation, die gegenseitige Integration nicht nur ernst nimmt, sondern umzusetzen gewillt ist. Das folgende Schaubild zeigt zusammenfassend einige Dimensionen der enzyklischen Hermeneutik: 1. Wie betrachte ich meine eigene Denkform? 2. Wie betrachte ich die anderen Denkformen? 3. Wie betrachten sich andere Denkformen selbst? 4. Wie betrachten diese meine Denkform?
Universalität
Hypostasierungen vermeiden!
Tradition und Religion
Verabsolutierungen vermeiden!
Partikularität
Kultur und Zivilisation
Die enzyklische Hermeneutik führt den Tauschfamilien vor Augen, warum es wichtig ist, in allen Kontexten der Kommunikation gemeinsam zu fragen und zu antworten, wie jeder sich selbst und die Anderen wahrnimmt und versteht. Keiner wird ohne Widerspruch behaupten können, im Besitz der einzig richtigen Sichtweise zu sein, sondern es gibt unterschiedliche Betrachtungsweisen gemäß kultureller und individueller Vorprägungen. Die enzyklische Hermeneutik ist eine wechselseitig ausgerichtete Verstehensform, das Eigene und das Andere miteinander kritisch in Beziehung zu setzen. Sie beschreibt einen Prozess, in dem zwei oder mehrere Menschen trotz irreduzibler Unterschiede in eine ergebnisreiche Verständigung miteinander treten können. Dies ist möglich, da sich in der menschlichen Kommunikation Welten mit unterschiedlichen Bezugssystemen, Betrachtungsformen und Argumentationsweisen treffen, die sich ergänzen, erweitern, überlappen oder bekämpfen. Die enzyklische Hermeneutik beschreibt abschließend einen Prozess mit vielen interdisziplinären Dimensionen, welche für die Beschreibung, Analyse und Förderung einer ausgewogenen Kommunikationssituation grundlegend sind. Hier einige Beispiele: Merke: Die kontextuelle Dimension beschreibt den sachlichen oder situativen Zusammenhang eines Sachverhaltes, um die mannigfaltigen Bedeutungen von Begriffen, Theorien und Systemen zu erklären. Die kognitive Dimension geht der Frage nach, wie der Diskurspartner sich und die Anderen betrachtet, aus welcher Motivation heraus er handelt und wie er seine Handlungen begründet. Dabei berücksichtigt sie Machtfaktoren, die in idealisierten oder idealtypischen Diskursformen, wie von Habermas, ausgeblendet werden.
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
Die sprachliche Dimension umfasst das, was das Gesagte, Gedachte und Geschriebene artikuliert. Zu erwähnen sind Ausdrucksformen und Bedeutungsveränderungen in einer Sprache und ihre Übertragung in eine andere Sprache, auch Metaphern, die häufig stark differieren. Die philosophische Dimension verweist auf den Verzicht, andere philosophische Traditionen oder Theorien ausschließlich durch eigene Begriffsapparate zu verstehen und zu erklären. Die historische Dimension beantwortet die Frage nach der Entwicklung eines Gedankens oder Gedankengebäudes, sucht nach Zusammenhangsstrukturen und deren Verflechtungen mit anderen Traditionen, ohne eine bestimmte Tradition zu privilegieren. Die kulturelle Dimension fragt nach dem Welt- und Menschenbild und studiert die kulturelle Bedingtheit vieler Gepflogenheiten. Dies umfasst neben ethisch-moralischen Fragestellungen auch die Dimensionen Kunst, Literatur und Musik. Die soziologische Dimension untersucht im Sinn der Theorie von Senghaas nicht nur die Unterschiede zwischen den Kulturen, sondern auch die innere Differenzierung der Kulturen, die häufig größer ist und kontroverser diskutiert wird als der Unterschied zwischen den Kulturen. Die religiöse Dimension nimmt die ethnisch-religiösen Vorstellungen der Völker, Personen, Gruppen oder Gemeinschaften ernst. Zu erwähnen ist die Kategorie des Heiligen und die Diversität seiner Erscheinungsformen. Die soziale Dimension analysiert das Verhältnis innerhalb der Gruppen und Gemeinschaften und zwischen ihnen sowie ihre internen Konflikte. Die pädagogische Dimension ist darauf ausgerichtet, lernend und verstehend vorzugehen, ohne die Vielfalt dazugehörender Kontextualitäten zu vernachlässigen.
4.2.5 Interkulturelle Komparatistik Komparatistik, also Vergleichen, spielt in allen Disziplinen und damit im menschlichen Denken und Handeln eine bestimmende Rolle. Der Mensch ist stets darauf bedacht, Überlegungen anzustellen, Systeme zu entwickeln oder zu verwerfen, Urteile zu bilden oder Deutungsmuster zu entwerfen. Als ein fragendes und antwortendes Wesen ist der Mensch in unterschiedlichen Situationen seines Lebens darum bestrebt, sein Denken und Handeln bewusst oder unbewusst im Vergleich mit dem Anderen zu positionieren. Das ist so, wenn man zu sagen pflegt: „Heute fühle ich mich besser als gestern“, „Iran gefällt mir genauso gut wie Deutschland, ich lebe aber lieber dort“ oder „Warum ist bei denen alles nicht so wie bei uns?“ Wir sehen, dass der Ausdruck „bei uns“ stark differenzorientiert ist und von Vergleichsformen ausgeht, in deren Zentrum die eigene Haltung steht. Es wäre nicht unbegründet, festzuhalten, dass der Mensch ein Vergleichswesen ist, das mithilfe dieser Fähigkeiten dazu imstande ist, unbekannte Sachverhalte zunächst in das eigene vorhandene Bezugssystem einzuordnen. Diese Fähigkeit ist, wie die Bildung von Vor-Urteilen – also Erwartungshaltungen –, zur ersten Orientierung von großer Bedeutung. Unsere Tauschfamilien werden dies bald erfahren, weil auch sie sich in unterschiedlichen Situationen nach dem Motto: „bei uns …“, also vergleichend, mit dem Anderen in Beziehung setzen müssen. Sie werden sich aufgrund der Differenz zum Gewohnten immer bewusster, dass sie in allen Kontexten, in denen sie sich bewegen, Worte, Gesten, Mimik und Handlungen deuten und vergleichen. Weil aber häufig das eigenkulturelle oder individuelle Deutungsmuster zum Maßstab genommen und bisweilen unbemerkt verabsolutiert wird oder werden kann, sind Konflikt oder Dissonanz vorprogrammiert. Komparatistik ist folglich für das Verstehen und die Analyse eines Sachverhaltes unverzichtbar.
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
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Die Frage ist, wie wir vergleichen, welche Methoden wir benutzen, welche Ziele wir verfolgen und welche Maßstäbe wir verwenden. Dabei kommt es stets auf den Einzelfall an, weil es den Iraner oder den Deutschen nicht gibt. Um die Frage nach der interkulturellen Komparatistik zu beantworten, stellen wir unseren Überlegungen eine Arbeitsdefinition voran und unterscheiden zwischen einer interkulturellen und einer reduktiven Komparatistik. Zur interkulturellen Komparatistik Erklärungsversuch: Interkulturelle Komparatistik ist eine Methode, um Theorien miteinander vergleichend in Beziehung zu setzen. Sie vergleicht Sachverhalte aus kulturell unterschiedlichen Kontexten und setzt diese mit anderen Themen, Themenbereichen oder Problemen in Beziehung und zieht hieraus ihre Schlüsse. Der Vergleichsmaßstab wird nicht ausschließlich in einer Tradition verabsolutierend verankert.
Die vergleichende Beobachtung und Erklärung von Zusammenhängen kann von innen oder außen erfolgen. Ein nach innen ausgerichteter Vergleich geht von Eindrücken aus, die aus dem unmittelbaren Kennenlernen kultureller Zusammenhänge von innen heraus entstanden sind. Es geht um das Innenleben eines Sachverhaltes. Merke: Während die Tauschfamilien ihre gegenseitigen Besonderheiten in ihren Ursprungsländern nur etisch, d. h. von außen heraus zu verstehen versuchen konnten, werden sie ihre gegenseitigen Besonderheiten nun emisch, d. h. von innen heraus verstehen und beschreiben können. Damit verfolgt die interkulturelle Komparatistik das Ziel, neben der Konstatierung von Unterschieden, der Herausbildung von Interdependenzen, Schnittmengen und Übergängen sowie erhellenden Differenzen in einem umfassenden Strukturzusammenhang.
Was unsere Tauschfamilien tun, ist nach diesem emischen Muster das reziproke Kennenlernen des Innenlebens in Berlin und Teheran. Die interkulturelle Komparatistik ist bemüht, vergleichbare Konzepte miteinander in Beziehung zu setzen und einen kommunikativen Austausch zwischen Begründungen zu erzielen. Die Schnittmenge der Positionen verbindet und duldet keinen Endgültigkeitsanspruch. Kommunikation lebt von Schnittmengen jenseits einer strengen Isomorphie zwischen Sprach- und Kulturräumen. Diese Situation ermöglicht einen Kommunikationsraum, in dem sich eine historischkritische Kontroverse vollziehen kann. Sie setzt ferner Möglichkeiten frei, um komplexere Diskurskulturen im Rahmen unterschiedlicher Denkformen gemeinsam zu bewältigen. Interkulturelle Komparatistik ist eng verbunden mit einer enzyklischen Form der Hermeneutik, die das Bezugsystem des Eigenen und des Anderen gleichermaßen in Betracht zieht. Diese Vorgehensweise vermeidet eine Generalisierung und geht von Kulturen als offene und dynamisch-veränderbare Sinn- und Orientierungssysteme aus. Die dialogische Verbindung und die offenen Grenzen zwischen der interkulturellen Komparatistik und enzyklischen Hermeneutik lassen sich wie folgt demonstrieren:
Interkulturelle Komparatistik
Enzyklische Hermeneutik
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
Zur Revidierung von Denk- und Umgangsformen schlägt Helmuth Plessner eine Umkehr vor: „Nur sofern wir uns unergründlich nehmen, geben wir die Suprematiestellung gegen andere Kulturen als Barbaren und bloße Fremde, geben wir auch die Stellung der Mission gegen die Fremde als die noch unerlöste unmündige Welt auf und entschränken damit den Horizont der eigenen Vergangenheit und Gegenwart auf die zu den heterogensten Perspektiven aufgebrochene Geschichte.“36 Unter dieser Voraussetzung vollzieht sich, Plessner zufolge, der Abbau der Vorstellung eines einlinigen Fortschritts, der den Blick der Forscher von vornherein auf das Abendland fixiert hält. Kulturelle Divergenzen und Konvergenzen offenbaren sich durch Phänomene, die in vier Kategorien gruppiert werden können: Symbole, Vorbilder, Rituale und Werte.
Symbole
Werte
Vergleichskreis
Vorbilder
Rituale
Mit Symbolen ist eine bestimmte Bedeutung verknüpft, die häufig nur für die Angehörigen der jeweiligen Kontexte erkennbar oder zumindest erkennbarer ist. Vorbilder haben Qualitäten, die für die Gruppe als bedeutsam gelten. Rituale sind konventionalisierte Verhaltensmuster, die neben religiösen Vollzugsformen bspw. auch Etikette oder gutes Benehmen signalisieren. Werte bilden den roten Faden der Lebensorientierung einer Kultur. Die Schnittmengen zwischen Weltanschauungen bieten in der Regel nur die Möglichkeit, nicht die Gewähr gelingender Verständigung. Auf einem methodischen Weg unter Berücksichtigung kontextueller Formen von Selbstverständlichkeiten ist es möglich, eine Abwertung und/oder „romantische Verklärung […] fremder Kulturen“ zu vermeiden, wenn versucht wird, andere wie auch „eigene Kulturphänomene zunächst aus ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext heraus zu erklären und zu verstehen und in einem weiteren Schritt, unter Darstellung der Beurteilungskriterien, zu bewerten“.37 Im Sinn der Konfigurationstheorie von Senghaas wird offenbar, dass die Unterschiede zwischen Subkulturen der eigenen Kultur häufig tiefgreifender sind als solche zwischen unterschiedlichen Kulturen. Bei allen Kulturvergleichen paart sich „die Bestreitung von interkulturellen Invarianten mit einem konsequenten Übersehen von intrakulturellen Varianten“.38 Dies lässt sich wie folgt demonstrieren: 36 Plessner, Helmuth: Zwischen Philosophie und Gesellschaft, 1979 S. 296. 37 Auernheimer, Georg: Einführung in die interkulturelle Erziehung, 2007 S. 15. 38 Holenstein, Elmar: Menschliches Selbstverständnis, 1985 S. 104.
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
Eigener Kulturraum
Eigenkulturelle Vorprägung
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Anderer Kulturraum
Anderskulturelle Vorprägung
Schnittmengen: Ort der Verständigung
Komparatistik in interkultureller Absicht bedeutet, so zu verfahren, dass die Anderen sich in unserem Vergleich widergespiegelt sehen. Sie bedeutet auch, die eigene Perspektive nicht zu verabsolutieren oder den Anderen ausschließlich als Objekt der eigenen Forschung zu betrachten. Zur reduktiven Komparatistik Die reduktive Komparatistik ist, im Gegensatz zu der interkulturellen Art derselben, methodisch und strukturell eindimensional. Erklärungsversuch: Reduktive Komparatistik reißt einen bestimmten Aspekt aus dem Zusammenhang heraus, variiert und vergleicht ihn und verallgemeinert ihn schließlich. Der Vergleichsmaßstab wird ausschließlich in einer einzigen Tradition, meist der eigenen, verankert. Reduktive Vergleichsanalysen gehen zentristisch vor, indem sie alles vom eigenen Standpunkt heraus betrachten, bewerten und interpretieren.
Ein Vergleichsversuch von außen nach innen beruht in der Regel auf indirekten Quellen, wie den bereits erwähnten Reise- und Missionsberichten oder auf Literatur, bestehenden Ergebnissen und ähnlichen Erfahrungen, die Kulturen in der Regel als statische Gebilde betrachten. Probleme der interkulturellen Verständigung entstehen oft durch die Einordnung des Anderen nach eigenkulturellen Erwartungsstrukturen, wie der romantisierenden Konstruktion einer archaischen Vergangenheit, die sich in den absoluten Stand setzt. Diese reduktive Komparatistik geht immer, bewusst oder ungewollt, mit einer apozyklischen Hermeneutik einher, die wegen ihrer strukturellen Beschaffenheit hierarchisch verfahren muss. Eine Folge solcher Orientierungen ist und bleibt in der Regel der Konflikt zwischen den Parteien. Diese Vorgehensweise hat einen stark generalisierenden Charakter, wobei der zugrunde gelegte Kulturbegriff ein geschlossener mit konstanten Merkmalen ist. Die folgende Abbildung zeigt diese einseitige Komparatistik und Hermeneutik:
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
Reduktive Komparatistik
Apozyklische Hermeneutik
Ein Problem der reduktiven Komparatistik besteht darin, dass sie in der Regel zu vorurteilsbehafteten Annahmen oder zur Exotisierung anderer Denksysteme führt. Ein weiteres Problem reduktiver Komparatistik macht sich darin bemerkbar, dass ein Teilaspekt aus dem Kontext herausgenommen und mit dem eigenen Selbstverständnis verglichen wird. In vielen Fällen wird die Praxis des Anderen mit der Theorie des Eigenen über das Andere verglichen. Daran entzünden sich Probleme, welche die Kommunikationsbemühungen im Keime ersticken. Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Kommensurabilität“ oder Vergleichbarkeit, und einer „Inkommensurabilität“, der Unvergleichbarkeit der Perspektiven. Erklärungsversuch: Kommensurabilität bedeutet, dass eine These in gleicher Art „messbar“ ist wie eine andere These. Gibt es ein gemeinsames gedankliches Bezugssystem zwischen zwei oder mehreren Thesen, das Vergleichbarkeit garantiert, so sind sie kommensurabel. Fehlt dieses gemeinsame Bezugssystem, so sind sie inkommensurabel.
Vergleiche, die ausschließlich auf der Grundlage kultureller Differenzen erfolgen, erschweren Verständigungsbemühungen, weil in solchen Kontexten stets die Inkommensurabilität betont wird. Interkulturelle Studien zeigen, dass radikale Identitäts- oder Differenzbehauptungen von einer extremen Vergleichbarkeit oder Unvergleichbarkeit ausgehen, die eine interkulturelle Kommunikation verhindern. Hierzu einige Beispiele: Malinowski und Geertz weisen in ihren Vergleichsanalysen, wenn auch unterschiedlich, reduktive Tendenzen auf. In einer Studie beschäftigt sich Malinowski mit dem Geschlechtsleben der, wie er sie nennt, Wilden in Nordwestmelanesien, und der sozialen Organisation der Sexualität der Bevölkerungsgruppe der Trobriander im Südpazifik. Darin beschreibt er die alltägliche Praxis, dass die Jugendlichen in sogenannten Jugendhäusern sexuelle Akte vollziehen können und dies von der Gemeinschaft ausdrücklich als Lernprozess gutgeheißen wird. Dabei beschränkt Malinowski sich auf die Trobriander und macht sie faktisch zum Objekt der Forschung.39 Es stellt sich die Frage, inwiefern es nicht auch in Europa Häuser gibt, für die zum größten Teil die gleichen Prinzipien bestehen, nämlich die überwiegende Nutzung durch Jugendliche sowie alleinstehende bzw. ungebundene Männer und schließlich deren gesellschaftliche Anerkennung. Mit dem blutigen Ritual des balinesischen Hahnenkampfes und seiner herausragenden Bedeutung für die Balinesen schlechthin beschäftigt sich Geertz in einer anderen Studie.40 39 Vgl. Malinowski, Bronislaw: Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien, 1930. 40 Vgl. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibungen, 1987.
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
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Das Problem dieser Beschreibung besteht darin, dass er seine Erkenntnisse auf alle Balinesen überträgt, ohne darauf hinzuweisen oder sich dessen bewusst zu sein, dass diese Praxis in intrakulturellen Kontexten sehr unterschiedlich gesehen wird. Das gleiche Phänomen gilt für Stierkämpfe in Spanien, die dort stark umstritten sind. Auf der Ebene des Individuellen stellen wir bald fest, dass es sich um eine kleine Gruppe innerhalb eines bestimmten Kontextes handelt, die solche Rituale pflegt.
❂ ❂ ❂ Die Reise des Philosophen Martin Heidegger (1889–1976) verdeutlicht die Problematik dieser Vorgehensweise. Er unternimmt im Jahre 1962 mit dem Kreuzfahrtschiff „Jugoslavija“ eine Reise nach Griechenland: „Nach der zweiten Nachtfahrt zeigte sich früh am Morgen die Insel Korfu, das alte Kephallenia. Ob dies das Land der Phäaken war?“ Heidegger ist vom Anblick der Insel enttäuscht. Was er sieht, stimmt so gar nicht mit dem überein, was er im 6. Buch der Odyssee bei Homer gelesen hatte. Er zweifelt daran, ob seine Eindrücke authentisch sind und meint: „Aber Goethe erfuhr doch in Sizilien zum ersten Mal die Nähe des Griechischen.“41 Aufgrund dieser „Realitätsverschiebung“ entschließt er sich, nicht an Land zu gehen. Nach Alfred Holzbrecher lässt sich Heideggers Weigerung, sich auf das Andere, auf das Risiko des Lernens einzulassen, wohl mit seiner Angst erklären, sein „von der klassischen Literatur geprägtes und ‚stimmiges‘ Bild in Frage stellen zu müssen. Es ist die Angst, sich eingestehen zu müssen, dass der Enttäuschung die Täuschung vorausging, – die Angst, dass sich unsere Bilder der angeblichen Realität als Konstruktionen erweisen könnten, mit denen die Realität nicht mehr begreifbar erscheint.“42
❂ ❂ ❂ An dieser Nahtstelle expliziert sich die praktische Problematik normengebender und symbolisch-struktureller Kulturbegriffe, die der Heterogenität von kulturellen Kontexten und Kulturen nicht gerecht werden. Vorgehensweisen wie die von Malinowski und Geertz bezeichnet Johannes Fabian (*1937) als „Othering“. Seiner Theorie nach sind „die Anderen nicht einfach gegeben“, sondern „sie werden gemacht.“43 Kulturelle Divergenz entsteht in der Regel dadurch, dass eine bestimmte Kulturform essentialisiert wird, oder dass bestimmte Verhaltensweisen kulturalisiert und verabsolutiert werden. Deshalb ist es wichtig, dass unsere Tauschfamilien gleichermaßen die Wertschätzung ihrer Religion, Herkunft und Weltanschauung erfahren. Folglich sind für ihn reduktiv-komparatistische Untersuchungsformen künstliche Produkte, die nur individuelle Erfahrungen widerspiegeln, also subjektive und autobiographische Produktionen der Anthropologie. Fabian schlägt eine Arbeitsweise zur Konstruktion von Differenz vor, die danach fragt, wer mit welcher Absicht Fremdforschung betreibt. Diese Methode geht von einer reziproken Subjekt-Objekt-Relation aus, die besagt, „daß wir sowohl Eigenes im Fremden wie auch Fremdes im Eigenen finden. Eine Konsequenz daraus wäre, dass wir nicht nur Ethnologen einer anderen, sondern auch Ethnologen unserer eigenen Kultur werden können“44, weil wir uns spätestens hier bewusst werden, zu welchen Konsequenzen es führen
41 42 43 44
Heidegger, Martin: Aufenthalte, 2000 S. 218 f. Holzbrecher, Alfred: Vielfalt als Herausforderung, 1999 S. 2. Vgl. Fabian, Johannes: Präsenz und Repräsentation, 1993 S. 335 ff. Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden, 1997 S. 74.
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
kann, wenn wir das Andere ausschließlich nach eigenem Maßstab beurteilen. Eine ernstzunehmende Kommunikation in interkultureller Absicht hält die Reflexion der eigenen und anderen Kulturregion gleichermaßen für grundlegend und unverzichtbar. Die einseitige Kultursensibilisierung der eigenen oder anderen Kulturregion ist zwangsläufig reduktionistisch. Um jede Form von Kulturessentialismus zu vermeiden, sind Kontextualität, Situativität und Individualität zu beachten, weil ansonsten die Gefahr durchaus gegeben ist, bestimmte positive oder negative Verhaltensweisen von Menschen zu generalisieren und als kulturell bedingt zu stigmatisieren. Der Ansatz von Malinowski nach dem Prinzip des „internen Beobachters“ ist in zweifacher Hinsicht problematisch: zum einen wegen der gewonnenen Erkenntnisse, die Einseitigkeiten aufweisen, zum anderen wegen der Vermittlungsproblematik, welche die Information erneut inhaltlich verschieben kann. Darüber hinaus bleibt er es dem Leser schuldig, von welchem Menschenbild er ausgeht, wenn er andere Völker als „Wilde“ bezeichnet. Insofern ist im Rahmen der Bestimmung des Eigenen und des Anderen auf zwei Gefahren zu achten: Solipsismus und Ausschließlichkeitsanspruch; während Ersterer nur sich selbst hervorhebt und das Andere nicht als solches wahrnimmt, schließt Letzterer die Möglichkeit eines Dialogs schon im Vorfeld aus. Merke: Interkulturelle Komparatistik ist jedem reduktiven Vergleich unverträglich, weil er zentristisch verfährt. Insofern setzt die Kritik des Zentrismus bei kulturalistischen Tendenzen an, die den Vergleichsmaßstab des Eigenen auf allen fachwissenschaftlichen Gebieten von vornherein für alle Vergleiche und für alle Kommunikationen festlegen.
Diese Annahme gilt mutatis mutandis für jede Art von Komparatistik. Ein erklärtes Hindernis jeder Form von Vergleichen ist die Verabsolutierung und die damit verbundene Hypostasierung der eigenen Auffassung, weil solche Einstellungen jeden Dialog unmöglich machen. Weil der Mensch bewusst oder unbewusst vergleicht, werden sich auch die Tauschfamilien fragen müssen, wann, wo, warum und wie sie vergleichen. Sie werden in vielerlei Hinsicht überrascht sein, weil sie nicht nur Divergenzen und Konvergenzen feststellen, sondern auch verblüffende Schnittmengen, die sie mehr verbinden als trennen. Zusammenfassend besteht Sinn und Zweck interkulturellen Vergleichens nicht nur in der Feststellung von radikalen Differenzen und Gemeinsamkeiten im Hinblick auf Methoden, Fragen, Themen- und Problemstellungen sowie diversen anderen Schnittmengen und kulturell disparaten Einstellungen, sondern vielmehr in der Hervorhebung unterschiedlicher Akzente und Aspekte sowie in mannigfaltigen Umgangsweisen mit der Vernunft. Insofern erleichtert ein interkultureller Vergleich die Möglichkeit der Kommunikation. 4.2.6 Interkulturelle Toleranz Toleranz gehört zu den wichtigsten Themen des menschlichen Lebens. Dies hängt mit der einfachen Tatsache zusammen, dass Menschen verschieden sind. Der Umgang mit diesen Verschiedenheiten in der Pluralität unterschiedlicher Denk- und Lebensformen macht die Frage nach Toleranz zu einer Notwendigkeit sozialen, religiösen, politischen und wissenschaftlichen Zusammenlebens. Toleranz lässt sich wie folgt unterschiedlich auffassen, weil es diverse Theorien darüber gibt, was sie ist bzw. nicht ist, wo sie erforderlich wird und wo ihre Grenzen liegen:
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
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Tugendbegriff Dulden, Ertragen, Aushalten
Achtung und Wertschätzung
Ethisches Konzept
Was ist Toleranz?
Soziale Norm
Demokratisches Prinzip
Basis des Dialogs Kind der Intoleranz
Diese Überlegungen machen deutlich, dass Toleranz ein Streitbegriff mit vielen Dimensionen ist. Insofern beschreibt Toleranz eine schöpferische Haltung, die bei der Bewertung eines Sachverhaltes als das weise Maß angesehen werden kann, um das Nebeneinander der Menschen in ein Miteinander zu überführen. Die Notwendigkeit eines solchen Versuches rührt daher, dass die Welt immer intensiver zusammenwächst. Alle diese Toleranzauffassungen in der Abbildung hängen inhaltlich und strukturell zusammen. Wenn wir nun die Frage „Warum Toleranz?“ stellen, so sind unter anderem acht Gründe von Bedeutung, die in jedem Kontext unterschiedlich vorkommen: Weil der Mensch primär egozentrisch ist Weil der Mensch hierarchisch denkt
Weil der Mensch ein Machtwesen ist
Weil der Mensch ein soziales Wesen ist
Warum Toleranz?
Weil der Mensch konfliktiv denkt, redet und handelt
Weil der Mensch verschiedene Prägungen unterliegt
Weil der Mensch ein politisches Wesen ist Weil der Mensch sich immer mit etwas identifiziert
Diese Gründe unterstreichen die Interdisziplinarität der Toleranz. Mit ihr beschäftigen sich Theorien aus den Gebieten der Ethik, der Theologie, der Religions- und Kulturwissenschaft und der politischen Philosophie. Auch die Sozial- und die historischen Wissenschaften forschen zunehmend über Toleranz in allen ihren Formen und dem ihnen jeweils
114
4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
zugrunde liegenden menschlichen Handeln in Geschichte und Gegenwart. Die Sozialpsychologie analysiert bspw. die kognitiven Mechanismen, die entweder zu einem aggressiven und konfliktgeladenen oder eher zu einem konsens- oder verhandlungsorientierten Verhalten führen. Ihre Arbeiten sind Schritte zu einem besseren Verständnis von Funktionen, Erscheinungsformen, strukturellen Bedingungen, Störungen, kognitiven Grundlagen, geistesgeschichtlicher Bedeutung und normativer Basis der Toleranz, um eine echte zwischenmenschliche Verständigung zu ermöglichen. Diese Toleranzauffassungen lassen sich im Allgemeinen in vier Arten unterteilen, die wiederum in sich vielfältig sind: Wissenschaftliche Arten der Toleranz
Individuelle Arten der Toleranz
Arten der Toleranz
Soziale Arten der Toleranz
Religiöse Arten der Toleranz
Im Folgenden führe ich in die Theorie und Praxis der Toleranz und ihre Relevanz für die interkulturelle Kommunuikation ein. Was aber ist interkulturelle Toleranz? Erklärungsversuch: Interkulturelle Toleranz ist eine aktive Haltung, Konvergenzen, Divergenzen und Schnittmengen im Verständnis der Kulturen und kulturellen Kontexte zu suchen, um gemeinsame Regeln für den Umgang miteinander auszuhandeln. Ihre Funktion ist die kritisch-dialogische Begegnung unterschiedlicher Denksysteme und Verhaltensregeln sowie die aktive Förderung interkultureller Kommunikation. In allen ihren Spielarten hat diese Form der Toleranz eine pädagogische Dimension.
Diese interkulturell neue Ausrichtung der Toleranz zeigt, dass wir einer Toleranzkonzeption bedürfen, die nicht von „wahr“ oder „falsch“ ausgeht. Im Weltalter der Interkulturalität ist Toleranz, wie die Abbildung auf der Folgeseite zeigt, in einem Weltkontext zu betrachten, weil sie in allen Kulturen Verankerung in langen Historien findet. Die Abbildung demonstriert die fünf Kontinente, die eng miteinander verbunden und von fließenden Grenzen geprägt sind.45 Sie zeigt ebenfalls die interne Eigendynamik der Traditionen und Kulturen. Interkulturelle Toleranz versteht sich dementsprechend als eine praxisbezogene Theorie, welche die kontextbedingten Strukturen mit Menschen als unterschiedlichen Akteuren berücksichtigt. Zwei Haltungen sind für das Verständnis dieser Toleranzform von Bedeutung: „Tolerant sein“ und „Toleranz üben“: 45 Vgl. hierzu Yousefi, Hamid Reza und Harald Seubert (Hrsg.): Toleranz im Weltkontext, 2013.
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
Afrikanische Traditionen
Europäische Traditionen
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Asiatische Traditionen
Toleranz im Weltkontext
Orientalische Traditionen
Lateinamerikanische Traditionen
Erklärungsversuch: Tolerant sein ist eine grundsätzliche Einstellung, die anderen Formen des religiösen oder politischen Denkens und Handelns nicht ablehnend gegenübersteht.
Das „Tolerant sein“ kann passiv oder aktiv ausgerichtet sein. Die passive Form des „Tolerant seins“ enthält Momente der Beliebigkeit, während aktives „Tolerant sein“ die aktive Akzeptanz des Anderen in seinem Anderssein bedeutet. Im Falle eines solchen Toleranzverständnisses sprechen wir von „Toleranz üben“. Erklärungsversuch: Toleranz üben ist eine Haltung, die einen kommunikativen Charakter hat und durch aktive Akzeptanz zur anerkennenden Mitmenschlichkeit führen will.
Weil es für den zwischenmenschlichen Umgang keine allgemeinverbindlichen Regeln gibt, sind die drei Momente der Situativität, Kontextualität und Individualität für die theoretische und praktische Ausrichtung dieser Toleranzform grundlegend. Angebracht wäre Mut zur Bereitschaft, interkulturelle und interreligiöse Divergenzen und Konvergenzen gemeinsam wahrzunehmen und gemeinsam zu pflegen. Der Toleranzgrad eines Menschen, der heute Hartz-IV-Empfänger ist und morgen im Lotto gewinnt, dürfte hochgradig unterschiedlich sein. Kontexte und Situationen sind immer subjektabhängig. Es ist durchaus möglich und auch verständlich, dass eine Person den gleichen Sachverhalt in verschiedenen Kontexten und Situationen unterschiedlich thematisiert und dem Umstand nach zu anderen Ergebnissen kommt. Der hier vorgeschlagene Toleranzansatz ist deshalb kontextabhängig. Die Würde des Menschen und die Achtung vor der Verfassung, in welchem Land auch immer, bilden die Grundlage der interkulturellen Toleranz. Wer hingegen eine eigene Auffassung von Toleranz entwickelt und andere auffordert, danach zu handeln, sucht keinen Dialog. Eine allgemeinverbindliche Gesetzgebung der Toleranz gibt es nicht. Dies würde der gesunden Vielfalt der Lebensentwürfe und ihrer Lesarten widersprechen. Weil in der Regel jeder meint, einen allgemeingültigen Toleranzbegriff zu haben, wird das Tolerant-Sein und Toleranz-Üben eine praktische Aufgabe der Tauschfamilien sein. Sie werden in diesem Geiste ein gemeinsames Toleranzverständnis aushandeln, das für die Familien gelten sollte, ohne die Ordnung der Gesellschaften zu missachten. Mit einer sol-
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
chen Tugend lassen sich kulturelle, religiöse oder politische Konflikte und kognitive Dissonanzen minimieren oder gar vermeiden. Dieser Versuch setzt mindestens folgende Forderungen voraus:
Interkulturelle Bildung anstreben
Inklusiven Absolutheitsanspruch pflegen Exklusiven Absolutheitsanspruch vermeiden
Die Richtigkeit eigener Sicht nicht als exklusiven Maßstab nehmen
Grenzen gemeinsam aushandeln Kulturelle Bildung aufbauen
Interkulturelle Toleranz
Belehrungskultur durch Lernkultur ersetzen
Konvergenzen, Divergenzen und Überlappungen erkennen und pflegen
Symbolik der Formen und Sicht anderer erkennen und aktiv respektieren
Gehäusetoleranz und Gehäusedialog Es gibt viele Gründe, warum Kommunikationen scheitern. Zur Erhellung möchte ich die Begriffe „Gehäusetoleranz“ und „Gehäusedialog“ einführen. Zunächst: Was ist Gehäuse? Der Ausdruck des „Gehäuses“ bezeichnet die Situation eines Menschen, der sich einer Religion oder ideologischen Richtung verbunden fühlt und sich mental in dieser eingenistet hat. Ein solches Gehäuse gibt ihm Schutz, Zuversicht und Halt im Leben. Erklärungsversuch: Gehäusetoleranz ist eine Haltung, die Insidern gegenüber nur tolerant ist, solange sie sich dem Diktat des Gehäuses beugen. Es herrscht also eine strenger Gruppenzwang.
Diese scheintolerante Haltung ist eine im Grunde intolerante und latent dogmatische Einstellung, die häufig auf Ignoranz und Arroganz beruht. Eine Kommunikation wird für relevant gehalten, wenn andere ausschließlich der eigenen Gehäuseauffassung entsprechen. Dialoge, die auf der Grundlage dieser Toleranzform beruhen, dürfen daher Gehäusedialoge genannt werden: Erklärungsversuch: Gehäusedialog ist ein Scheindialog, der auch von vornherein eine verabsolutierte Meinung pflegt und letzten Endes die eigene Auffassung von Dialog durchsetzen will.
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
117
Der Gehäusedialog stellt eine latent dogmatische Dialogform dar, in der die Zielrichtung schon im Vorfeld gemäß der Erfordernisse des Gehäuses bestimmt ist. Sie ist wie die Gehäusetoleranz eine Haltung, die mit einer bestimmten Ideologie verbunden ist. Merke: Gehäusetoleranz und Gehäusedialog können in politischen, wissenschaftlichen, sozialen, kulturellen oder religiösen Kontexten beobachtet werden, die in unterschiedlichem Maße, einen Absolutheitsanspruch erheben und sich für universal halten.
Im Gegensatz zu diesen Haltungen von Toleranz und Dialog versucht interkulturelle Toleranz, einen lebbaren Weg für die Kommunizierenden zu finden. Die Bedeutung eines solchen Vorgehens werden die Tauschfamilien in unterschiedlichen Kontexten ihres Ziellandes selbst erfahren. Sie werden die Eigendynamik der Kulturen und ihre innere Differenzierung hautnah erleben. Ferner werden sie lernen, dass die Art und Weise des Toleranzübens stets kontextgebunden ist: Was in einem Kontext hilft, kann in einem anderen Kontext das Gegenteil hervorrufen. Wo liegen die Grenzen der Toleranz? Interkulturelle Toleranz kann ihren Sinn nur dann erfüllen, wenn sie prinzipielle Grenzen gegenüber allen Formen der Intoleranz hat, insofern diese menschenverachtend sind. Folgende Fragen sind hier von besonderer Bedeutung: 1. Gibt es eine Möglichkeit, eine festgelegte Grenze der Toleranz auch demjenigen gegenüber zu rechtfertigen, der von anderen Voraussetzungen ausgeht? 2. Wo liegt der Referenzmaßstab für die Spannbreite an Ideen und Praktiken, die wir tolerieren wollen, und wo wird er verletzt? 3. Wer definiert diesen Maßstab und wer beeinflusst ihn?
Die Tauschfamilien werden bei der Beantwortung dieser Fragen nicht auf die Berücksichtigung soziokultureller und ethnologischer Gesichtspunkte verzichten können. Dabei lernen sie, jeden exklusivistischen Standpunkt, der die Beseitigung oder Beschneidung der Elementarrechte des Anderen beabsichtigt, zu vermeiden. Gewaltlosigkeit bildet die zentrale Säule interkultureller Toleranz, aus der sich echte Dialoge speisen. Darüber hinaus werden die Tauschfamilien abwägen müssen, was für sie tolerierbar oder nicht tolerierbar ist und in welchem Kontext sie sich am besten bewegen und wohlfühlen können. Dadurch wird es ihnen gelingen, miteinander ins Gespräch zu kommen und eine Verständigung in Gang zu bringen. Beispiel: Die Tauschfamilien können untersuchen, was im Islam und Christentum für Diebstahl als Strafe vorgesehen ist, was die Verfassungen sagen, was Kontrahenten und Befürworter aus beiden Religionen davon halten. Der Referenzmaßstab liegt für die Familien dort, wo die Würde des Menschen unmittelbar verletzt wird.
Der Referenzmaßstab einer Grenzbestimmung der Toleranz im interkulturellen Kontext sollte daher stets unter Beachtung von Kontextualitäten mit den Vertretern dieser Religionen ausgehandelt werden. Toleranzgrenzen können durch die Anwendung der enzyklischen Hermeneutik im Rahmen eines argumentativen Diskurses festgesetzt werden. Wer, wie in einer Einbahnstraße, eine allgemeinverbindliche Theorie der Toleranz und ihrer Grenzen formuliert, fordert nur den Widerstand des Anderen heraus. Eine solche einsei-
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
tige Bestimmung setzt die Einheitlichkeit menschlicher Handlungen, ein einheitliches Menschenbild und eine einheitliche Ethik voraus. Wie würden die Tauschfamilien den Streit um die Mohammed-Karikaturen, in denen im Turban Mohammeds eine Bombe zu sehen ist, und die Papst-Verunglimpfung, die den Papst von vorne als inkontinent, von hinten als verkotet darstellt, betrachten und bewerten? Dürfen die Tauschfamilien im Namen der Freiheit Symbole, Vorbilder, Rituale und Werte bspw. pietätlos behandeln? Wo liegen die Grenzen der Toleranz und Akzeptanz? Was würden Sie den Tauschfamilien empfehlen?
Feststeht, dass hier das Welt- und Menschenbild, die historische Bedingtheit vieler Gepflogenheiten und die religiösen Vorstellungen eines Volkes unter Beachtung der Kontextualitäten zu berücksichtigen sind, um die Verständigung zu fördern. Dabei ist zu beachten, dass alle Toleranzgrenzen im Politischen, Wissenschaftlichen, Religiösen, Kulturellen und Sozialen untrennbar mit den bestehenden Machtverhältnissen verbunden sind. Gibt es Machtverschiebungen, so verschieben sich auch die Möglichkeiten der Toleranz und die Bestimmungen ihrer Grenzen. Dies soll ein Beispiel aus der Politik verdeutlichen: Die UNO ist eine weltumfassende Institution, die sich der Kommunikation mit jedem und der Gerechtigkeit für alle verpflichtet weiß. Bei genauerem Hinsehen stoßen ihre Kontrollmechanismen jedoch an Grenzen46: nur einige Länder sind im Weltsicherheitsrat vertreten, haben Vetorechte, üben Sanktionen und Druck aus. Mehr noch! Sie können dies in die Praxis umsetzen. Die Strukturen der Weltpolitik sowie die Wirtschafts- und Finanzstrukturen zeigen, dass diese Mächte letztlich alle Grenzen der Toleranz und Intoleranz bestimmen. Dies nimmt Einfluss auf das Verhältnis der Völker. Zu unseren Tauschfamilien ist anzumerken, dass sie Toleranz zwar als Akzeptanz anderer Überzeugungen und Einstellungen auffassen, aber nicht als Preisgabe eigener Überzeugungen und Einstellungen. Es wird gefordert, dass die christlichen und moslemischen Familienteile sich durch Empathie in das religiöse Wahrnehmungssystem des Anderen hineinversetzen und dieses zu verstehen versuchen. Interkulturelle Toleranz besagt, dass die Geschichte von Toleranz und Intoleranz in allen Kulturregionen eine Verankerung haben. Auf diesem Weg können die Toleranzhermeneutik des Eigenen und des Anderen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Zwei traditionelle Toleranzmodelle Um exemplarisch vor Augen zu führen, wo der eigentliche Unterschied zwischen einer traditionellen und interkulturellen Toleranztheorie besteht, werden im Folgenden die Ansätze von Gustav Mensching (1901–1978) und Rainer Forst (*1964) kurz vorgestellt. Zu Gustav Mensching Die Toleranzkonzeption Menschings ist eine religiöse. Sein Religionsverständnis basiert auf einem Symbolverstehen, weil Religionen ihre Inhalte über Symbole artikulieren. Wenn wir bspw. das Wesen des Judentums, des Buddhismus, des Christentums oder des Islam verstehen wollen, müssen wir versuchen, die symbolischen Inhalte dieser Religionen zu verstehen. 46 An anderer Stelle wurden diese und ähnlich problematische Fragen diskutiert. Vgl. Braun, Ina und Hermann-Josef Scheidgen (Hrsg.): Interkulturalität – Wozu? 2008.
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
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So müssen wir wissen, dass der Davidstern das Judentum symbolisiert, weil David als Stammvater des Volkes Israel eine bedeutende Rolle spielt. Im Buddhismus verdeutlicht das Rad oder Mandala den achtfachen Pfad zur Selbstfindung. Im Christentum verweist das Kreuz auf die Hinrichtung Jesu und die Überwindung des Todes durch die Wiederauferstehung, während im Islam der Halbmond mit fünfzackigem Stern u. a. die geographische Ausdehnung desselben symbolisiert. Im Hinblick auf Christentum und Islam werden sich die Tauschfamilien über die Symbole hinaus noch weiteres Wissen aneignen müssen. Dazu gehört ganz zentral die gesellschaftliche Rolle und Bedeutung der Religion im Iran und in Deutschland. Mensching unterscheidet in diesem Zusammenhang bei den Toleranzformen vier Gegensatzpaare, auf die ich kurz eingehen möchte47:
Formale Toleranz und Intoleranz
Äußere Toleranz und Intoleranz
Inhaltliche Toleranz und Intoleranz
Innere Toleranz und Intoleranz
Formale Toleranz meint „das bloße Unangetastetlassen fremder Glaubensüberzeugungen“.48 Eine derartige Haltung kann aus verschiedenen Gründen eingenommen werden, z. B. aus Gleichgültigkeit. Ein Beispiel für formale Toleranz wäre die Gewährung von Glaubensfreiheit in einem Staat, der verschiedene Glaubensformen nebeneinander bestehen lässt. Sie kommt in Organisationsformen wie Staaten oder Kirchen vor, in denen formale Toleranz geübt wird, solange diese Organisationsformen durch eine andere Religion nicht gefährdet werden. Sobald dies aber zu befürchten ist, schlägt formale Toleranz in formale Intoleranz um. Beispiel: Formale Toleranz ist in vielen Verfassungen als staatlich garantierte Glaubensfreiheit verankert: etwa in Art. 55c der Charta der Vereinten Nationen von 1945 oder in Art. 18 der Menschenrechtserklärung der UNO von 1948; aber auch in Artikel 4 des deutschen Grundgesetzes von 1949.
Formale Intoleranz hebt hingegen die Religionsfreiheit auf, weil diese durch eine abweichende Haltung die Einheit des Staates gefährden könnte. Sie ersetzt Gewissensfreiheit durch mehr oder minder deutlichen Staatszwang. Beispiel: Metin Kaplan (*1952), bekannt als „Kalif von Köln“, genoss trotz seiner theoretisch radikalen Predigten in Deutschland so lange Religionsfreiheit, bis er mit dem Ausruf eines „Gottesstaates in Deutschland“ verfassungswidrig handelte und dadurch die Einheit des Staates gefährdete. Kaplans Abschiebung ist die Folge des Umschlagens von formaler Toleranz in formale Intoleranz. 47 Vgl. Mensching, Gustav: Toleranz und Wahrheit in der Religion, 21966 S. 18. 48 Ebenda, S. 18.
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
Inhaltliche Toleranz: Beschränkt sich nicht auf das bloße Unangetastetlassen anderer Religionen, sondern beinhaltet ihre Anerkennung als echte und berechtigte „religiöse Möglichkeit der Begegnung mit dem Heiligen“.49 Mensching unterscheidet die „Toleranz echter Religiosität“ von einer „Toleranz der Aufklärung“.50 Denn während Letztere auf eine Vernunftreligion hinausläuft, setzt Mensching auf echte Religiosität, die ihre Kulmination in der inhaltlichen Toleranz erfährt. Inhaltliche Intoleranz dagegen bekämpft andere Überzeugungen um der eigenen vermeintlichen Wahrheit willen oder im Namen einer Ideologie. Die Inhalte der anderen Religion erscheinen in diesem Zusammenhang als unwahr und abwegig und werden abgelehnt, bekämpft oder verfolgt. Intoleranz formaler oder inhaltlicher Art fand in der Religionsgeschichte statt als Inquisition, Zwangsbekehrung oder Verfolgung. Beispiel: Sie sind ein gläubiger Christ, der zwar das Christentum für die einzig wahre Religion hält, jedoch zugleich bemüht ist, dem Islam gegenüber aktiv offen zu sein, indem Sie ihn als eine andere Form des Glaubens akzeptieren und anerkennen. Nach dieser Maxime wären Sie dem Islam gegenüber inhaltlich tolerant. Eine Ablehnung wäre demnach ein Beispiel inhaltlicher Intoleranz.
Äußere Toleranz richtet sich „auf die außerhalb der eigenen Religion stehenden Religionen“.51 Sie erkennt sowohl Echtheit als auch Gültigkeitsanspruch von Verhaltensweisen an, deren Motive nicht in der eigenen Religion verankert sind. Träger dieser Haltung ist der Einzelne oder die Religionsgemeinschaft. Große Bedeutung kommt dabei der Gemeinschaft als kollektivem Gebilde zu, da sie die „Gleichstimmigkeit des Einzelnen mit der übergeordneten Gemeinschaft“52 in besonderem Maß herstellt. Äußere Intoleranz verlangt die Einhaltung bestimmter Formalien einer anderen Religion, etwa in Kleidung und Ritus ausdrückt. Wenn diese Ordnungsvorstellungen von Anhängern einer anderen Religionsgemeinschaft verletzt werden, ist mit harter äußerer Intoleranz zu rechnen. Beispiel: Im Iran reichen die christlichen Gemeinschaften einen Antrag bei der Regierung für den Bau einer Kirche in Teheran ein. Die Regierung genehmigt den Bau mit der Begründung, dass der sachliche Bedarf eines Gotteshauses auch bei christlichen Mitbrüdern gegeben sei. Dies wäre ein Beispiel äußerer Toleranz gegenüber Christen. Das umgekehrte Verhalten wäre äußere Intoleranz.
Innere Toleranz bleibt innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft. Sie betont „formale Duldung oder positive Anerkennung von Divergenzen […] innerhalb der eigenen Religion“.53 Innere Intoleranz äußert sich, indem Abweichungen vom eigenen offiziellen Glauben als Häresie oder Ketzerei stigmatisiert werden. Ein Beispiel hierfür ist das Verhältnis zwischen Katholizismus und Protestantismus.
49 50 51 52 53
Ebenda, S. 18. Mensching, Gustav: Duldsamkeit, 1929 S. 88. Mensching, Gustav: Toleranz und Wahrheit in der Religion, 21966 S. 19. Mensching, Gustav: Toleranz, eine Form der Auseinandersetzung der Religionen, 1953 S. 719. Mensching, Gustav: Toleranz und Wahrheit in der Religion, 21966 S. 19.
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
121
Beispiel: In seiner 14. Enzyklika verordnete Papst Johannes Paul II. (1920–2005), dass Katholiken nicht am evangelischen Abendmahl teilnehmen dürfen. An dieser Unvereinbarkeit hält auch Papst Benedikt XVI. und lehnt eine Eucharistiefeier mit Protestanten ab. Diese Haltung ist Ausdruck innerer Intoleranz innerhalb des Christentums. Das umgekehrte Verhalten wäre ein Beispiel für innere Toleranz.
Zu Rainer Forst Forst geht in seiner Theorie von einer vierfachen Konzeption der Toleranz aus, um Gehalt, Geschichte und Gegenwart dieses Begriffs auf eine Formel zu bringen. Er zielt auf eine ideelle Konzeption für eine multikulturelle, demokratisch-liberale Gesellschaft ab. Dabei beziehen alle Konzeptionen sich auf den politischen Kontext, „in dem es innerhalb eines Staates um die Toleranz zwischen Gruppen geht, die normativ bedeutungsvolle und tiefgreifende Differenzen kultureller oder religiöser Art aufweisen.“54 ErlaubnisKonzeption
RespektKonzeption
KoexistenzKonzeption
WertschätzungsKonzeption
Die Erlaubnis-Konzeption Nach dieser vertikalen Konzeptionen der Toleranz gibt die Mehrheit der Autorität der Minderheit die Erlaubnis, „ihren Überzeugungen gemäß zu leben, solange sie – und das ist die entscheidende Bedingung – die Vorherrschaft der Autorität der Mehrheit nicht in Frage stellt.55 Hier geht es lediglich um ein „Dulden einer als weder wertvoll noch gleichberechtigt angesehenen Überzeugung oder Praxis.“56 Die Koexistenz-Konzeption Nach dieser horizontalen Konzeption wird Toleranz als „ein geeignetes Mittel zur Konfliktvermeidung und zur Verfolgung eigener Ziele“57 betrachtet, die vorrangig pragmatischinstrumentell begründet ist. „Die Tolerierenden sind zugleich auch Tolerierte.“58 Die praktizierte Form der Toleranz ist bei dieser Konzeption gegenseitige Duldung. Die Wertschätzungs-Konzeption Die Wertschätzungs-Konzeption der Toleranz resultiert für Forst aus der Diskussion über das Verhältnis von Multikulturalität und Toleranz. Toleranz bedeutet hier mehr als gegenseitiges Dulden. Es geht darum, die Überzeugungen anderer kultureller oder religiöser Gemeinschaften als ethisch wertvoll zu schätzen. 54 55 56 57 58
Forst, Rainer: Toleranz, Gerechtigkeit und Vernunft, 2000 S. 123. Ebenda, S. 124. Ebenda, S. 124. Ebenda, S. 125. Ebenda, S. 125 f.
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Die Respekt-Konzeption Die Respekt-Konzeption der Toleranz geht von einer „moralisch begründeten Form der wechselseitigen Achtung der sich tolerierenden Individuen bzw. Gruppen aus“.59 Beide Parteien respektieren sich als moralisch-rechtlich Gleiche. „Wechselseitige Toleranz impliziert diesem Verständnis nach, den Anspruch anderer auf vollwertige Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft anzuerkennen, ohne zu verlangen, dass sie dazu ihre ethischkulturelle Identität in einem reziprok nicht forderbaren Maße aufgeben müssen.“60 Forst hält ohne begriffliche Schärfe die Respekt-Konzeption für die am meisten angemessene Form der Toleranz. Eine vergleichende Analyse Ein Vergleich von Menschings und Forsts Toleranztheorien zeigt inhaltliche Überschneidungen. Beide sind bemüht, das menschliche Nebeneinander auf religiöser und politischer Ebene in ein aktives Miteinander umzustrukturieren, wobei Mensching eher religiöse Aspekte vor Augen hat. Die Sprache Menschings ist eher religionswissenschaftlich, während Forst für die Darbietung seines Ansatzes eine sozialwissenschaftliche Sprache mit entsprechenden Methoden verwendet. Genau genommen entsprechen die drei ersten Konzeptionen Forsts, mit kleinen Nuancen, der formalen Toleranz Menschings. Die Wertschätzungs-Konzeption entspricht der inhaltlichen Toleranz. Dabei reduziert Forst, im Gegensatz zu Mensching, die Toleranz auf eine pragmatisch begründete Duldung und vernachlässigt dadurch Anerkennungskomponenten, die für Mensching grundlegend sind.61 Die Argumentationsstruktur von Menschings Konzeption ist eher religiös christozentrisch, die von Forst politisch eurozentrisch. Hier geht es nicht um eine Kritik oder Zurückweisung dieser Theorien, sondern um zu zeigen, dass hier eigenkulturelle und eigenreligiöse Prägungen verabsolutiert und als Maßstab betrachtet werden. Mensching und Forst gehen vom lateinischen Wort tolerantia als geschichtlicher Grundlage aus und verankern ihren Vergleichsmaßstab in der christlich-abendländischen Tradition. Beiden entgeht, dass es nicht möglich ist, eine allgemeinverbindliche Theorie der Toleranz zu entwickeln, sei es auf der Grundlage des europäisch-christlichen oder orientalisch-islamischen Wertesystems. Auch die angewandte Verstehensmethode von Mensching und Forst ist letztlich apozyklisch und damit einseitig. Walter Kerber (1926–2006) verfährt ähnlich. Er hält es für unmöglich, im Islam „einen autochthonen Begriff der Toleranz“ aufzufinden: Merke: Kerber stellt sich die Frage: „Wie drückt man Toleranz im Persischen oder Arabischen aus? Der Begriff in dieser Form existiert dort nicht; er wurde bei uns geschaffen.“ 62
Kerbers Unterstellung verdeutlicht, warum apozyklische Hermeneutiken bei der Bewertung einer Sache scheitern. Er übersieht, dass die Ausdrücke „Bordbari“, „Tahammol“, „Ravadari“ oder „Mosamehe“ (persisch), „Tasamoh“ oder „Tasahol“ (arabisch), „Ho¸s-
59 60 61 62
Ebenda, S. 127. Forst, Rainer: Toleranz, Gerechtigkeit und Vernunft, 2000 S. 129. Vgl. Mensching, Gustav: Der offene Tempel, 1974. Kerber, Walter (Hrsg.): Wie tolerant ist der Islam? 1991 S. 79.
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
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görü“, „Müsamaha“, oder „Tahammül“ (türkisch) begriffsgeschichtlich älter sind als „tolerantia“ im Lateinischen. Diese Begriffe haben eine vorwiegend ethisch-moralische Bedeutung, die auch in politischen, religiösen und sozialen Kontexten eingesetzt werden. Kerbers Haltung, gleiches gilt auch für Mensching und Forst, lässt eine differenzierte Achtung und Berücksichtigung kultureller, historisch gewachsener Eigenheiten des Anderen vermissen. Derlei Theorien gehen in der Regel von einem normengebenden oder geschlossenen Kulturbegriff aus, in denen Kulturen als monolithhafte Gebilde oder Kugeln betrachtet werden. 4.2.7 Interkulturelle Ethik In der Gegenwart stehen sich Tradition und Moderne unversöhnlich gegenüber, deren Kampf in das beginnende 18. Jahrhundert zurückreicht. Es handelt sich um zwei Kulturen, denen unterschiedliche Denk- und Lebensformen sowie Menschen- und Weltbilder zugrunde liegen. Es geht um einen Kampf zwischen erstens Vernunft und Wissenschaft statt Offenbarung und Aberglauben, zweitens Autonomie der Individuen statt Autorität der Institutionen, drittens Kultur des Zweifelns statt Kultur des Dogmas und viertens begründetes Urteil statt unreflektiertes Vorurteil. Diese Unterteilung besagt, dass Moderne in ihrer Mannigfaltigkeit geprägt ist von Freiheit und Tradition, die ebenfalls vielfältig und dogmatisch ist. Beide Extremformen der Tradition und Moderne sind bestrebt, die Welt gemäß ihres eigenen Menschen- und Weltbildes zu gestalten. Die Kampfplätze zwischen diesen zwei Kulturen lassen sich nicht nur in Politik und Gesellschaft sowie internationalen Beziehungen beobachten, sondern auch in Internetportalen wie Facebook, Twitter oder Youtube. Aufgrund der anonymisierten Freiheiten, welche die Massen beliebig missbrauchen können, wird deutlich, dass die neuen Formen der Informationsvermittlung in besonderem Maße eine Gefährdung der ethisch-moralischen Vorstellungen im Verständnis der Kulturen verursachen können. Auseinandersetzungen wie die Mohammad-Karikaturen oder virulente Themen aus islamischen Communities explizieren diesen Kampf auf politischer und medialer Ebene. Es ist über die Frage nachzudenken, ob und inwieweit es überhaupt möglich ist, interkulturelle und interreligiöse Begegnungen nach den Maßstäben einer globalen Ethik der Moderne zu gestalten, ohne die prägende Rolle der Tradition auf das Gesamtpanorama des menschlichen Denkens und Lebens zu berücksichtigen. Was geschieht bspw. mit den christlichen, jüdischen oder islamischen Werten, wenn wir von einer globalen Ethik ausgehen ohne traditionelle Werte zu berücksichtigen? Ist eine kulturrelativierende Haltung förderlich für die interreligiöse Verständigung und Entfaltungsmöglichkeiten von Funktionen der Religion innerhalb der Gesellschaft? Welche Probleme würden im Falle einer Marginalisierung oder gar Aufhebung kultureller Eigenheiten entstehen? Wozu Ethik? Der Mensch ist ein ethisches Wesen, das über sein Verhalten und ihre Konsequenzen reflektiert. Er kann bereuen oder vergeben, weil er über Willen und Gewissen verfügt. Zu seinen Selbstverständlichkeiten gehört es daher stets zu fragen, was er darf bzw. nicht darf, was er soll und was nicht, was er kann und was nicht, was er muss und was nicht oder worauf er hoffen und beharren kann und worauf nicht. Insofern spielt Ethik im menschlichen Leben eine sinnstiftende Rolle.
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
Im Allgemeinen lassen diese und ähnliche Überlegungen sich in folgende Fragen zusammenfassen: Wozu ist eine Handlung gut? Woran messe ich ihren moralischen Wert? Lassen sich moralische Werte überhaupt begründen? Welche Unterschiede gibt es zwischen einem guten und einem weniger guten Leben? Stellt es eine Gefährdung der Identität dar, moralische Werte aufzugeben? Letzteres scheint dreh- und Angelpunkt vieler Konflikte und damit der Hauptstreit zwischen Tradition und Moderne zu sein. In einem interkulturellen Zusammenhang tritt eine neue Situation ein, die neue Wege, Methoden und Formen der Begründung erfordert. Nicht nur Kulturen und Religionen kommen miteinander in Berührung, sondern auch diverse Wertesysteme oder Buchstabierungen der Welt. Wie kann eine allgemeinverbindliche Regel erzielt werden und wie ist eine gewaltfreie Lösung ethischer Begründungsformen, trotz erhellender Divergenzen, auszuhandeln? Die Beantwortung der Frage nach moralischem Handeln und ethischen Begründungen ist stets an die Dreiheit von Individualität, Situativität und Kontextualität gebunden. Die Ethik begründet zwar, wie wir sehen werden, ihre Normen, aber Entscheidung und Verantwortung liegen letzten Endes beim Einzelnen. Ethische Prinzipien werden in der Regel angenommen, wenn sie den eigenen Institutionen und Traditionen sowie den eigenen Erfahrungen nicht zuwiderlaufen. Ethik und Moral Erklärungsversuch: Moral ist ein System von Verhaltensweisen, die sich in verschiedenenintra- oder interkulturellen Kontexten unterschiedlich vollziehen und die das Handeln des Menschen als gut oder schlecht, angemessen oder unangemessen bestimmen sollen. Ethik ist die Begründung moralischer Normen. Sie analysiert die Herkunft von Werten und ihren geschichtlichen Geltungsanspruch.
Ethik macht uns in diesem Sinne einsichtig, wozu eine Handlung gut ist und zu welchen Konsequenzen sie führen kann. Methoden und Theorien Methode trägt als eine planende Verfahrensweise dazu bei, Sachverhalte auf ein handliches Format zu bringen. Sie dient folglich dazu, den Sachverhalt zu klassifizieren, um ihn für Außenstehende verstehbar zu machen. Die Methode der Ethik umfasst drei Bereiche: Normative Ethik Normative Ethik thematisiert die Prinzipien eines für Alle guten Lebens, den Maßstab moralisch richtigen Handelns im Rahmen des Soll- und Istzustandes kultureller Kontexte. Dabei geht es um unterschiedliche Imperative des Kulturellen, des Religiösen und des Gesellschaftlichen. Im Sinne eines normengebenden Kulturbegriffs werden Lebensformen erläutert, die ein bestimmtes Verhaltensmuster favorisieren. Deskriptive Ethik Deskriptive Ethik beschreibt Normen- und Wertesysteme. Dabei berücksichtigt sie klimatische, geographische, kulturelle, religiöse und andere Faktoren.
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
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Die Metaebene der Ethik Die Metaebene der Ethik behandelt die Sprache und Logik moralischer Diskurse, die Methoden moralischer Argumentationen sowie die Tragfähigkeit und Umsetzbarkeit ethischer Theorien in unterschiedlichen Kontexten. Sie analysiert nicht Inhalte von Urteilen oder Aussagen, sondern ausschließlich deren formale Aspekte. Der Satz „Foltern ist in allen Kulturen verwerflich“ wird auf der Metaebene nicht bewertet, sondern es wird rein auf formaler Ebene festgestellt, dass dieser Satz, wegen des Wortes „verwerflich“, eine normative Bewertung enthält. Dabei geht es stets um das Verstehen der Normativität in den Aussagen und Urteilsformen. In manchen Theorien der Ethik wird die Vernunft besonders betont oder die Rolle der Hermeneutik hervorgehoben, in anderen sind eher empirische oder normative Dimensionen bestimmend. Es gibt viele Auffassungen, die entsprechend festlegen, was Ethik ist bzw. nicht ist. An dieser Stelle seien einige Hauptrichtungen der Ethik dargestellt: Die Elementarethik Die Elementarethik Sartoschts (Zarathustra) (etwa 1700 v. u. Z.) geht auf der Grundlage der Wahrhaftigkeit von der Triade des „rechten Denkens, Redens und Handelns“ aus. Im Zentrum dieser Ethik steht die Vernunft als oberstes Prinzip. Die Tugendethik Die Tugendethik des Aristoteles (384–322 v. u. Z.) hält an dem Glücklichwerden jedes Lebewesens fest, wenn es nach seinem inneren Gesetz und seiner inneren Bestimmung lebt. Auch hier spielt die Vernunft eine grundlegende Rolle. Die egoistische Ethik Die egoistische Ethik Thomas Hobbes’ (1588–1679) speist sich aus der Aussage „homo homini lupus est“, „der Mensch ist des Menschen Wolf.“ Nach dieser Ethik braucht der egoismusgesteuerte Mensch den „Leviathan“ eines „absolutistischen Staates“, um ihn zu zügeln. Die pluralistische Ethik Die pluralistische Ethik Molla Ahmad Naraqis (1771–1829) ist darauf ausgerichtet, aus dem Geiste eines Verantwortungsbewusstseins diverse Bedürfnisse des Menschen mitzubedenken, die auch materieller Natur sein dürfen, bspw. wie mit dem Phänomen „Egoismus“ zu verfahren ist und welche Auswirkungen ein solches Verfahren auf das Zwischenmenschliche hat. Die Mitleidsethik Die Mitleidsethik Arthur Schopenhauers (1788–1860) begründet, dass der Mensch von Egoismus und Bosheit angetrieben wird, die nur durch Mitleid und intuitives Gefühl gemildert werden können. Die Diskursethik Die Diskursethik Karl-Otto Apels (*1922) will alle moralischen Fragen durch einen Diskurs beantworten. Apel geht davon aus, dass die bestehende, reale Welt die Grundlage dafür bildet, um eine idealisierte Welt zu erschaffen, in der Diskurse letztendlich überflüssig sind.
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
Die utilitaristische Ethik Die utilitaristische Ethik John Stuart Mills (1806–1873) ist auf den Nutzen als Prinzip des Handelns ausgerichtet, wobei entweder das Wohl des Einzelnen oder der menschlichen Gesellschaft vorrangig sein kann und die Ausbildung eines edlen Charakters angestrebt wird. Die kommunitaristische Ethik Die kommunitaristische Ethik Alasdair MacIntyres (*1929) nimmt das Gemeinwohl als Prinzip des Handelns an, das den Menschen als soziales Wesen begreift und in der übersteigerten Individualisierung im Sinn des Utilitarismus Gefahren sieht. Sie versteht sich als Gegenbewegung zur anthropozentrischen Ethik, die von der Vernünftigkeit und dem Gerechtigkeitssinn des Menschen ausgeht, während die kommunitaristische Ethik die Verwirklichung des Menschen nur innerhalb der Gemeinschaft für möglich hält. Die rationale Ethik Die rationale Ethik von Günther Patzig (*1926) will eine „Ethik ohne Metaphysik“ sein. Sie lässt kulturspezifischen Annahmen außer Acht und beruft sich auf allen Ebenen des Ethischen auf die Forderungen der Vernunft. Die Gesinnungsethik Die Gesinnungsethik Immanuel Kants (1724–1804) sucht die Begründung von Handlungen gemäß dem kategorischen Imperativ. Der Mensch müsse so handeln, dass seine Handlung allgemeine Gesetzgebung werden könnte. Es kommt stets auf das Motiv der Handlung an, das gut sein muss. Die Verantwortungsethik Die Verantwortungsethik von Max Weber (1824–1920) geht von der individuellen Selbstverantwortung für das eigene Handeln aus. Das Individuum legt selbst die Ziele und Maßstäbe seines Handelns fest und kontrolliert deren Erreichung.
❂ ❂ ❂ Weil sich viele Theorien der Ethik zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik bewegen, zeige ich durch das folgende Beispiel die Grenzbereiche dieser Orientierungsformen auf: Merke: Verantwortungsethik: Franz Kafka hat testamentarisch verfügt, dass seine Werke posthum nicht erscheinen sollen. Sein Freund Max Brod, der ihm dies versprochen hatte, sorgte nach Kafkas Tod aber dennoch für die Veröffentlichung seiner Werke. In eigener Verantwortung für Kafkas Werk stellte er seine Entscheidung über den letzten persönlichen Willen des Freundes. Gesinnungsethik: Sokrates wurde in einem Gerichtsverfahren zum Tod verurteilt. Sein Freund Kriton bot ihm eine Fluchtmöglichkeit aus dem Gefängnis an, die er aber ausschlug, weil er nicht dazu bereit war, seine persönlichen Interessen über die Achtung des Gesetzes zu stellen.
Was will uns die folgende Abbildung vermitteln, wenn wir diese Konzepte der Ethik zusammennehmen? Gibt es so etwas wie Handeln ohne Moral?
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
Meine Damen und Herren, was möchten Sie werden und was kann ich für Sie tun?
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???
Studierende der Wirtschafts- und Politikwissenschaften
Wenn wir die Studierenden der Wirtschafts- und Politikwissenschaften als Beispiel nehmen, was lernen sie in ihren Seminaren? Es ist anzunehmen, dass sie nicht nur mit neutralen Theorien vertraut gemacht werden, sondern auch Strategien kennenlernen, wie sie mit dem geringstmöglichen Aufwand den größtmöglichen Nutzen erzielen können. Nach diesem Prinzip dürfte an den Universitäten eine Elite ohne Moral ausgebildet werden. Hier steht der Einzelne in einem Dilemma. Einerseits ist er aufgefordert, moralisch zu handeln, andererseits wird er aber institutionell angehalten, triebhaft gesteuerten Egoismus zur Steigerung des eigenen Profits zur allgemeinen Gesetzgebung werden zu lassen. Lässt sich dieses Dilemma auflösen? Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, Geschäfte auf der Basis einer Verantwortungsethik abzuwickeln? Globale Ethik Die Theorie der globalen Ethik fußt auf der Philosophie der Moderne. Die in den europäisch-westlichen Hemisphären entstandene Theorie der Ethik geht auf das beginnende 18. Jahrhundert zurück und wird bis heute durch Bajonette verteidigt. Problematisch dabei ist besonders ihr bedingungsloser Universalitätsanspruch. Dabei wird die Vernunft als oberstes Prinzip aller Belange des menschlichen Lebens betrachtet. Das Konfliktpotenzial dieser Theorie liegt darin, dass hier auch die Tradition als Feind der eigenen Haltung artikuliert und bekämpft wird. Es ist nicht weiterführend, die Normen und Wertesysteme der asiatischen oder islamischen Kulturen und Traditionen ausschließlich durch die europäisch-westliche Brille zu sehen und zu bewerten. Es bedarf keiner Erklärung, dass eine solche einseitige Erwartung eine unmittelbare Identitätskrise des Anderen zur Folge haben wird. Ist nicht diese Haltung eine Quelle der bestehenden Konflikte zwischen der sogenannten Tradition und Moderne? Liegt nicht in dieser Biologie des Kulturegoismus ein Hindernis der interkulturellen Kommunikation? Die Vertreter der globalen Ethik gehen von einer pragmatischen Vernunftethik aus, nach der sie außereuropäische Konzepte der Ethik messen. Die Vertreter der globalen Ethik handeln weniger dialogisch, sondern vielmehr rivalisierend konfrontativ. Die Forderung nach dem sogenannten „Euro-Islam“, der Umgang mit Mohammad-Karikaturen sowie die
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
Debatte über das Kopftuch zeigen den Willkürcharakter dieser globalistischen Ethik. Darin expliziert sich auch eine Unifizierung der Welt nach den Maßstäben der Moderne. Hier seien einige Theorien genannt, die sich mit dem Thema der globalen Ethik beschäftigen. In der Hauptsache geht es um die Beantwortung der Frage, ob und inwieweit Gerechtigkeit über die Nationalgrenzen hinweg möglich ist. Da Gerechtigkeit einen ethischen Maßstab darstellt, ist es von Bedeutung, zu fragen, ob man Gerechtigkeit nur gegenüber seinen Landsleuten schuldet oder ob dies ein universeller Anspruch ist. Zu diesen Theoretikern gehören vor allem John Rawls (1921–2002), David Miller (*1942), Martha Nussbaum (*1947) und Iris Maria Young (1949–2006). Miller plädiert im Sinne des kritischen Rationalismus für eine faire Gleichbehandlung der Menschen auf nationaler und internationaler Ebene und unterscheidet zwischen instrumentalen Beziehungen und intrinsischen Beziehungen63, während Young von einem „Modell sozialer Verbundenheit“ ausgehend der Ansicht ist, dass jeder Mensch durch seine Handlungen globale Prozesse in allen Bereichen der Welt erzeugen könne. Sie setzt sich für die sozial benachteiligten und Minderheitengruppen ein und sucht ein Gerechtigkeitsmodell für alle. Daher sei es notwendig, dass jede Person oder auch Institution die Verantwortung auch für eine mögliche Kettenreaktion übernimmt, die seine oder ihre Handlungen auslösen.64 Was interkulturelle Ethik ist Interkulturelle Ethik ist das Pendant zur globalen Ethik. Sie verfährt pluralistisch und begründet eine Theorie, in welcher Neigungen, Wünsche und Bedürfnisse des Einzelnen, jenseits seiner kulturellen Zugehörigkeit, Berücksichtigung finden. Erklärungsversuch: Interkulturelle Ethik erklärt in kulturübergreifender Absicht, wann, wo und unter welchen Voraussetzungen eine menschliche Handlung als gut oder schlecht, angemessen oder unangemessen beurteilt wird. Beschreibend untersucht sie die Gründe, die Individuen zu bestimmten Handlungen motivieren. Ferner umfasst sie die Begründung kulturell bedingter Besonderheiten in Sitten, Gebräuchen, Gepflogenheiten, Traditionen und Kulturen oder Rechtssystemen.
Die interkulturelle Ethik stellt und diskutiert bspw. die Frage nach dem Guten und Bösen im Denken der Völker, das bisweilen auf radikalste Art konträr sein kann. Ich denke an Kontroversen wie die Beschneidung von Knaben, die grundsätzlich unterschiedlich gesehen und beurteilt wird. Auch unterschiedliche Riten der Begrüßung lassen sich durch die Bedeutungsdimension interkultureller Ethik im Diskurs erklären. Es könnte durchaus sein, dass man die Deutschen im Iran mit dem Schächten eines Lammes als Ausdruck des „Herzlich Willkommens“ empfängt, während die Iraner in Deutschland mit einem Glas Sekt willkommen geheißen werden. Beides ist in den jeweiligen Heimatkulturen selbstverständlich, diese Sitten könnten aber Anlass zu Auseinandersetzungen werden. Viele wissen nicht, dass es im Judentum wie im Islam um die Gewährleistung des Ausblutens geht, um die Haltbarkeit des Fleisches zu verlängern. Schächten als betäubungsloses Schlachten wird dennoch in manchen europäisch-westlichen Kreisen als Tierquälerei empfunden, während der Genuss von Alkohol, wegen seiner enthemmenden Wirkung, gegen ein islamisches religiöses Verbot verstößt. 63 Vgl. Miller, David: Vernünftige Parteilichkeit gegenüber Landsleuten, 2010. 64 Vgl. Young, Iris Maria: Verantwortung und globale Gerechtigkeit, 2010.
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
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Die Herausforderung besteht darin, die ethischen Grundlagen und Eigenheiten des Gastvolkes nachzuvollziehen. Die Deutschen werden verstehen lernen, dass das Schächten auch als ein Ritual in Erinnerung an die Opfergeschichte Abrahams und Isaaks gut geheißen wird. Der zeremonielle Sektempfang gilt hingegen in Deutschland als Ausdruck besonderer Herzlichkeit, wobei religiöse Gebote nicht entgegenstehen. Beide Zeremonien sind folglich aus ihren kontextuellen Verankerungen heraus nachvollziehbar. Interkulturelle Ethik fasst Kulturen weder essentialistisch auf noch verfährt sie wie die globalistische Ethik universalistisch. In der interkulturellen Ethik geht es, im Gegensatz zur globalistischen Ethik, um den Versuch, die Stimme des Anderen in dessen Bezugssystem verbleibend als einen Diskursbeitrag theoretisch wie praktisch zu Wort kommen zu lassen. Sie betrachtet alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Hautfarbe, kultureller und religiöser Zugehörigkeit, als gleichberechtigte Exemplare der Gattung Mensch. Dies impliziert die Unverfügbarkeit des Individuums, nach der kein Mensch einen anderen beliebig instrumentalisieren darf. Insofern bildet die Gerechtigkeit die Grundlage dieser Form der Ethik. Merke: Für das Konzept einer interkulturellen Ethik ist die Selbstbeurteilung kultureller Kontexte grundlegend, weil sich der von mir beurteilte Andere in meinem Urteil wiederfinden können muss. Eine globalistische Ethik ignoriert als egoismusgesteuerte Ethik diese notwendige Bedingung der Kommunikation.
Interkulturelle Ethik bezieht sich auch auf das moralische „Wie“, „Was“ und „Warum“ der kontextuellen Völkerbeziehungen und die Mannigfaltigkeit ihrer Begründung. Hier ist Kwame Anthony Appiah (*1954) zu nennen, der in Anlehnung an eine kosmopolitische Anschauung eine gute Grundlage interkultureller Ethik bietet. Nach Appiah solle jeder Mensch ein Ideal haben, das über alle Grenzen hinweg an einer Tradition des kreativen Austauschs festhalte. Seine Ethik gründet auf Harmonie. Es geht darum, ein Gleichgewicht zwischen unserem Glauben an universale Werte und dem Respekt vor abweichender Erfahrung in Ländern nichtwestlicher Zivilisation herzustellen. Diese Offenheit mag damit zusammenhängen, dass Appiah seine Kindheit in Ghana verbracht hat. Er zeigt auf, dass Moderne und Tradition nicht weit auseinander liegen. Appiah ist im Sinne einer interkulturellen Ethik der Ansicht, dass es nicht nur universelle Werte gebe, sondern auch solche mit lokalem Charakter, die identitätsstiftend sind. Dies ist ein Grund, warum der Ausdruck „Diskurs“ für ihn von grundlegender Bedeutung ist.65 Interkulturelle Ethik will weder eine Weltanschauungslehre noch, wie die globale Ethik, ein Religionsersatz sein. In diesem Sinn unterscheide ich zwischen der Partikularität und Universalität der Ethik: Erklärungsversuch: Partikularität der Ethik bedeutet, dass jedes Volk gewisse traditionsgebundene und gleichsam verbindliche Gewohnheiten hat. Universalität der Ethik bedeutet, dass es über die verschiedenen Wert- und Normsysteme der Kulturen hinaus eine ethisch-moralische Verankerung anthropologischer Natur gibt, die allgemein verbindlich ist.
65 Vgl. Appiah, Kwame Anthony: Der Kosmopolit, 2007.
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
Am Beispiel der Kochkunst kann dies vereinfacht verdeutlicht werden. Kochen ist universal: Menschen kochen, ganz gleich, in welcher Kultur sie leben. Indes kennt die Kunst des Kochens unterschiedliche Ausprägungen. Deshalb gibt es verschiedene Küchen: die afrikanische, deutsche, iranische, mexikanische oder die chinesische Küche usw., die selbst wiederum vielfältig sind. Kochen ist somit universell, die einzelnen Küchen jedoch partikular. Im folgenden Schaubild seien die Komponenten moralischen Verhaltens dargestellt:
Universalitäten Kulturelle Bildung
Religion
Interkulturelle Bildung
Interkulturelle Ethik
Kultur
Tradition
Zivilisation
Partikularitäten
Zwei Komponenten bilden das Wesen interkultureller Ethik, die miteinander verbunden sind: Menschenwürde und Menschenrechte. Ethik und Menschenwürde66 Die Frage nach den Menschenrechten ist ein Bestandteil der Ethik. Allein die Darstellung der Idee der Menschenwürde in wenigen säkularen, sakralen oder sonstigen Denkrichtungen soll verdeutlichen, wie komplex die Frage nach Menschenrechten eigentlich ist. Der chinesische Ausdruck „ren“, dt. „Mitmenschlichkeit“, bildet eine zentrale Achse der Philosophie des Konfuzius (551–479 v. u. Z.). Weil der Mensch edle Mitmenschlichkeit in sich trägt, ist ihm Würde angeboren.67 Während es bei Konfuzius um die Kultivierung des Selbst im sozialen Umfeld geht, gilt es im Daoismus, sich einen Zustand des „aus sich heraus“, im Sinne einer natürlichen Spontaneität, zu eigen zu machen. Wer zu diesem Zustand gelangt, der hat das tao, den Zustand des Glücks und Friedens erreicht. In beiden Fällen entfaltet sich der Mensch in seiner Menschenwürde.
66 Vgl. zum Thema ‚Menschenrechte in interkultureller Absicht‘ folgende Studien: Hoffmann, Johannes: Universale Menschenrechte im Widerspruch der Kulturen, 1994; Bielefeldt, Heiner: Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos, 1998; Voigt, Uwe: Die Menschenrechte im interkulturellen Dialog, 1998; Wolf, Jean-Claude: Menschenrechte interkulturell, Freiburg 2000; Yonghae, Kim: Zur Begründung der Menschenwürde und der Menschenrechte auf einer interreligiösen Metaebene, 2005 und Nawrath, Thomas und Philipp W. Hildmann (Hrsg.): Interkultureller Dialog und Menschenrechte, 2010; Yousefi, Hamid Reza (Hrsg.): Menschenrechte im Weltkontext, 2013. 67 Konfuzius: Gespräche, 1998 S. 95.
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
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In afrikanischen Kontexten spricht man von „ubuntu“, der Menschenwürde als Inbegriff von Spiritualität und Harmonie. Sie wird als dynamische Lebenskraft verstanden, welche die Menschheit zu der Natur und dem gesamten Kosmos in Beziehung setzt.68 Im Buddhismus wird die Entfaltung edler Menschlichkeit im Sinne einer Mitmenschlichkeit durch die Überwindung der naturgegebenen eigenen Ichsüchtigkeit erlangt. In den abrahamitischen Religionen wird die Frage nach der Menschenwürde anders begründet. Hier wird der Mensch als Ebenbild Gottes gesehen, woraus sich eine fundamentale Gleichheit der Menschen vor dem Schöpfer ableitet. Bei Paulus gibt es im frühen Christentum „nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau“69, weil er alle in der christlichen Nächstenliebe vereint sieht. Verantwortung sowie Freiheit von und zu sind Bestandteile der Menschenwürde: Freiheit, sich von seinen Schlechtigkeiten zu befreien und sich für das Gute zu entscheiden. Freiheit in diesem Sinne ist ein ureigenes Bedürfnis des Menschen, sich selbstbestimmend zu entfalten. Menschenrechte und Menschenwürde Menschenwürde und Menschenrechte sind, wie wir weiter oben gesehen haben, miteinander verbunden. Sie sind ein Resultat historischer Entwicklungen im Weltkontext. Zu ihnen zählt der Rechtsanspruch auf Leben, Freiheit, Arbeit, soziale Sicherheit, Gesundheit, Bildung sowie auf Nahrung, auf Gleichbehandlung und Meinungsfreiheit. Rechte, die hierzu gezählt werden können, sind im Laufe der Jahrhunderte entdeckt und eingefordert worden. Hammurabi und Kyros Den Anspruch auf Menschenrechte können wir seit Menschengedenken in unterschiedlichen Regionen beobachten. Die ersten Chartas der Menschenrechte wurden im Zweistromland und im Persischen Reich verfasst. Menschenrechte und friedliche Koexistenz bilden die Grundlage des Kodex von König Hammurabi (1728–1686 v. u. Z.), dem fünften König der ersten Dynastie von Babylon und König von Sumer und Akkad. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stoßen Archäologen bei Ausgrabungen in der alten Stadt Susa im westlichen Persien auf den Kodex Hammurabi, der zu den ersten Kodifizierungen von Menschenrechten und Menschenpflichten in der Geschichte gehört. Er ist festgehalten auf einer ehemals in Babylon aufgestellten Dioritstele und umfasst 280 Paragraphen aus dem Straf-, Zivil- und Handelsrecht. Ein Relief zeigt den König in Gebetshaltung vor dem Gott Schamasch, dem Garanten der Gesetze. Hammurabis bedeutendste Leistung ist die innenpolitische Ausgestaltung seines Reiches: die Gleichbehandlung der Menschen vor dem Gesetz auf der Grundlage seines Menschenrechtskodex.70 Er verzeichnet die Rechte zwischen Bürgern, die Achtung der Menschenrechte und rechtstaatliche Grundfreiheiten. Hammurabi steht den sozial Schwachen und Entrechteten zur Seite. Er reformiert einerseits den religiösen Kult, andererseits erhebt
68 Vgl. De Liefde, Willem und Klaus Elle: Ubuntu, 2006. 69 Gal. 3, 28. 70 Eine Übersetzung der Gesetzesstele Hammurabis liegt von Wilhelm Eilers vor. Vgl. Eilers, Wilhelm: Die Gesetzesstele Chammurabis, 1933.
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
er Marduk zum Stadtgott von Babylon anstelle des sumerischen Sonnengottes zur höchsten Gottheit des babylonischen Reichs, was ein Rückschritt bedeutet. Die Gesinnung des persischen Großkönigs Kyros (559–529 v. u. Z.) ist in seiner Staatsführung umgesetzt.71 Kyros regiert über zahlreiche Völker, unter denen neben den Syrern, Assyrern, Arabern und Kappadokiern auch die Einwohner beider Phrygien sowie Lyder, Karier, Phönikier, Babylonier, Baktrier, Inder, Kelikier, Saken, Paphlagonier, Magadider und andere Völker zu finden sind, auch die Hellenen in Kleinasien und später die Kyprier und Ägypter. Den Völkern gewährt er insbesondere die freie Ausübung ihrer Glaubensriten. In Babylon wurde 1789 ein Keilschriftzylinder aus der Zeit des Kyros gefunden, der heute im Britischen Museum aufbewahrt wird. Die Inschrift verdeutlicht dessen Verantwortungsethos: „Ich bin […], der große und gerechte Kyros. Als ich mit geläutertem Sinn nach Babylon kam und […] die Macht übernahm, herrschte größte Zufriedenheit und wieder aufkeimende Freude. […] Ich gedachte stets der Bedürfnisse Babylons und seiner zahlreichen Kultorte, um den Bewohnern ein friedliches Leben zu sichern. […] Überall führte ich die Gottheiten wieder ein, deren Verehrung man […] abgeschafft hatte. […] Gemäß dem Wunsch Marduks, des mächtigen Gottes, beließ ich die Gottheiten von Sumer und Akkad […] in ihren Tempeln, so dass sie keine Sorge hatten.“72
Kyros ist stets bemüht, die Völker seines Reiches im sartoschtischen Sinne des guten Denkens, Redens und Handelns zusammenzuführen. Um seine Völker für bordbari, für Toleranz zu unterschiedlichen Riten und Bestattungsarten zu sensibilisieren, erkennt er die unterschiedlichen Formen an. Dadurch gelingt es ihm, religiöse Toleranz in seinem Reich zu institutionalisieren.73 Auch entlässt Kyros die Juden aus der babylonischen Gefangenschaft, stattet sie mit finanziellen Mitteln aus und motiviert sie, nach Jerusalem zurückzukehren und dort den zerstörten Tempel wieder aufzubauen.74 Im Kontext der Geschichte ist vor allem Mohammad Ghazali (1058–1111) zu erwähnen. Er verweist ausdrücklich darauf, der Mensch sei „nicht zum Scherz und für nichts erschaffen, sondern hoch ist sein Wert und groß seine Würde.“75 Auch Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) ist zu erwähnen, der Würde und Willensfreiheit miteinander verknüpft sieht76, und Immanuel Kant, der die Autonomie des Menschen, seine Vernunftbegabtheit und Selbstgesetzgebung zusammen denkt.77 Nach Kant ist der Mensch gemäß seiner Würde zu behandeln, d. h. er müsse stets als Zweck an sich und niemals als Mittel betrachtet werden. Heute haben diese Rechte nicht nur in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948, sondern auch in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Islam“ (Islamrat für Europa, 1981) und der „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ (Organisation der Islamischen Konferenz, 1990) eine Verankerung gefunden. Diese Erklärungen schreiben vor, dass alle Staaten sich bedingungslos für den
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Vgl. hierzu Ashtiani, Djalaleddin: Sartoscht, Mazdisna wa hokumat (Sartoscht, Mazdisna und Regierung), 1978. Cyrus, 1969 S. 315 f. Vgl. Shabani, Reza: Kuroshe kabir (Großkönig Kyros), 2003 S. 54. In weiteren Kulturen, wie im alten Griechenland oder im Römischen Reich, wurden Rechtssysteme entwickelt, die viele Gemeinsamkeiten mit den älteren Rechtssystemen aufweisen. 75 Ghazali, Abu Hamid Mohammad: Das Elixier der Glückseligkeit, 1979 S 26. 76 Vgl. Pico della Mirandola, Giovanni: Rede über die Würde des Menschen (1486), 1996. 77 Vgl. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), 1983.
4.2 Wie ist Kommunikation möglich?
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Schutz dieser Rechte einzusetzen haben, damit ein Leben in Frieden und Freiheit möglich wird. Der Schutz von Menschenrechten bedeutet somit den Schutz der Menschenwürde. Während Menschenwürde universell ist, sind Menschenrechte partikulär. Sie bauen zwar auf der Menschenwürde auf, werden aber im Vergleich und Verständnis der Kulturen unterschiedlich praktiziert: Partikularität der Menschenrechte
Universalität der Menschenwürde
Die Beantwortung der Frage nach der Struktur von Menschenrechten in einem interkulturellen Kontext setzt die Analyse und Aneignung vieler Komponenten voraus78, die eng miteinander verbunden sind:
Die unterschiedlichen Formen von Verletzung der Menschenwürde und Beraubung der Menschenrechte machen deutlich, dass ihre Bewahrung oder Verletzung stets an ein bestimmtes Menschenbild gekoppelt ist. Ein von der Moral abgekoppeltes Menschenrecht gibt es nicht. Aus diesem Grunde hat die Frage nach der Menschenwürde und damit auch der Menschenrechte eine theoretische und eine praktische Dimension, die stets kontextabhängig zusammenzudenken sind, um ihre innere Problematik in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft zu erkennen. Wir können, wie es bei der globalistischen Ethik der Fall ist, nicht von einer universellen und zugleich allgemeinverbindlichen Theorie der Ethik ausgehen, weil es unterschiedliche Ausprägungen der Tradition gibt. Dies ist unter anderem auch ein Grund, warum es nicht
78 Vgl. Wimmer, Franz Martin: Die Idee der Menschenrechte in interkultureller Sicht, 1993 und Bielefeldt, Heiner: Philosophie der Menschenrechte, 1998.
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4. Die Idee einer kontextuellen Theorie der Kommunikation
möglich ist, universelle und allgemeinverbindliche Menschenrechte zu formulieren.79 Während Menschenwürde Menschen jenseits ihrer kulturellen Zugehörigkeit verbindet, trennt die juristisch verfasste, vielfältige Praxis der Menschenrechte sie. Die globale Ethik, die sich verabsolutiert, kennt und akzeptiert ausschließlich den eigenen festgeschriebenen Standpunkt. Sie zwingt andere durch die Anwendung struktureller Gewalt oder sonstiger Präventionen und Druckmechanismen, sich diesem Diktat zu beugen. Um einen Dialog über Menschenrechte aufrechtzuerhalten, müssen aber die Begründungen miteinander in Beziehung gesetzt werden, um einen gemeinsamen, dritten Weg zu begehen. In diesem Annäherungsversuch interkultureller Ethik liegt ein praktisches Friedenspotential, mit welchem Einstellungen und Überzeugungen, die im Vorfeld als disparat empfunden wurden, letzten Endes auf der Basis ihrer Grundwerte Übereinstimmung finden können. Die Universalität der Würde bildet die Grundlage der Menschenrechte, die ihrerseits mit Menschenpflichten verbunden sind. Interkulturelle Ethik zeigt, dass Strukturen miteinander zusammenhängen und wie sehr Entscheidungen situationsgebunden sind. Sie stellt Gründe bereit, warum es wesentlich ist, das Welt- und Menschenbild, die Bedingtheit vieler Gepflogenheiten und religiöser Gewohnheiten der Völker selbstkorrigierend zu studieren oder bereit zu sein, den Boden der gerade in der Moderne vertretenen Belehrungskultur durch eine kommunikative Lernkultur zu ersetzen. Was können nun die Tauschfamilien in ihren Zielländern lernen? Die Tauschfamilien werden lernen können, dass sie sich in zwei unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen mit verschiedenen Rechtssystemen bewegen. Wie sollten sie sich verhalten, wenn unterschiedliche Werte und Normen aufeinander treffen? Diese Vielfalt dürfte ihnen deutlich machen, dass eine einheitliche Idee von Menschenwürde und Menschenrechten beinahe unmöglich ist, weil die Menschenrechte in der Regel auch eine Verankerung in der Tradition der einzelnen Länder haben. Die Tauschfamilien sollten tunlichst vermeiden, das Rechtsverständnis des Anderen ausschließlich mit dem eigenkulturellen Rechtsverständnis zu beurteilen. Sie werden sich fragend und in lernender Verständigung auf eine argumentative Ebene mit dem anderen Rechtssystem in Beziehung setzen müssen. Darin liegt die Pädagogik einer dialogischen Interkulturalität.
4.3
Zwischenbetrachtung
Auf den gewonnenen Erkenntnissen der bisherigen Kapitel unternahmen wir den Versuch, die Idee einer interkulturell-kontextuellen Theorie der Kommunikation als eine Teildisziplin der Interkulturalität auszuarbeiten. Auf diesem Wege stellten wir acht Korrelatbegriffe der interkulturellen Kommunikation kritisch vor. Hier geht es begriffssystematisch um das Eigene und das Andere, interkulturelle Kompetenz, interkulturelle Semantik, interkulturelle Hermeneutik, interkulturelle Komparatistik und interkulturelle Toleranz sowie interkulturelle Ethik. Um Ecken und Kanten sowie Vor- und Nachteile dieser Begriffsapparate im Kontext der interkulturellen Kommunikation deutlich vor Augen zu führen, haben wir zwei Tausch79 Es gibt Theorien, in denen ein solcher Versuch unternommen wird. Vgl. Hinkmann, Jens: Ethik der Menschenrechte, 2002.
4.3 Zwischenbetrachtung
135
familien eingeführt. Sie zeigen, dass dieser Prozess eine Reihe von Kompetenzen voraussetzt, die von ihnen viel verlangen: eine grundlegende Revisionsbereitschaft bisherigen Wissens. Festgestellt wurde, dass sich die Kinder der beiden Tauschfamilien leicht in die Aufnahmegesellschaften integrierten, die Tauscheltern selbst aber Schwierigkeiten hatten, sich in diesen Gesellschaften angemessen anzupassen. Alle Beteiligten werden verstanden haben, dass echtes Verstehen nur in der Oszillation eines prozesshaften Gebens und Nehmens von Rückmeldungen auf freiwilliger Basis erfolgreich ist. Die Ausführungen dieses Kapitels führen die Gefahren einer jeden Form von Generalisierung der Handlungen im Kontext interkultureller Kommunikation deutlich vor Augen und begründen, warum Kontextualitäten, Situativitäten und Individualitäten nicht zu vernachlässigen sind.
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5. Versuch einer Entwicklung dialogischer Pädagogik der Interkulturalität
5. Versuch einer Entwicklung dialogischer Pädagogik der Interkulturalität aus kulturwissenschaftlicher Sicht
Das Konzept des Kapitels auf einen Blick
Kultur als offenes Sinn- und Orientierungssystem
Interkulturalität: Wege und Versuche
Pädagogik der Interkulturalität
Interkulturalität und Menschenwürde
Komponenten einer Pädagogik der Interkulturalität Interkulturellkontextuelle Erwachsenenpädagogik
Interkulturellkontextuelle Berufspädagogik
Interkulturellkontextuelle Kulturpädagogik
Interkulturellkontextuelle Sozialpädagogik
Interkulturellkontextuelle Medienpädagogik
Theorie und Praxis einer interkulturell-kontextuellen Didaktik Pluralistische Methodenkomposition
Die Entstehung der Interkulturalität als einer akademischen Disziplin und die Analyse der Korrelatbegriffe der interkulturellen Kommunikation unterstreichen die Notwendigkeit einer methodisch praktikablen Umgangsform, die den Erfordernissen kultureller Verfassungen angemessen ist. Es handelt sich um eine dialogische Kommunikationspraxis, eine pädagogisch angemessene Umgangsform, welche die Aneignung kultureller und interkultureller Bildung über das Eigene und das Andere zur Voraussetzung hat.1 Merke: Wie bei der kontextuellen Kommunikation, sind auch hier konstitutiv: Situationsgebundenheit: Wo und in welcher Situation wird kommuniziert? Kontextgebundenheit: In welchem Kontext wird kommuniziert? Individualitätsgebundenheit: Wer kommuniziert?
Auch hier ist zu beachten, dass Handlungen letzten Endes immer kulturgebunden sind, aber nicht völlig von ihr determiniert werden.
1 Es gibt eine Reihe von Studien, die menschlichen Kommunikationen in Erziehung und Bildung zum Gegenstand haben. Vgl. Marcus Tullius: De Officiis – Vom pflichgemäßen Handeln, 1976; Schaller, Klaus: Pädagogik der Kommunikation, 1987; Jourdan, Manfred: Pädagogische Kommunikation, 1989 und Lichtenstern, Sonja: Pädagogik der Kommunikation, 2010.
5.1 Komponenten einer Pädagogik der Interkulturalität
5.1
137
Komponenten einer Pädagogik der Interkulturalität
Die Pädagogik der Interkulturalität umfasst polyphone Kommunikationen auf jedwedem Gebiet und geht dabei von einer Erfahrung aus, der wir uns als Menschen nicht entziehen können – nämlich, dass wir stets, in welchem Kontext auch immer wir uns bewegen, mit anderen Menschen in der Welt sind und in vielerlei Hinsicht nach Erfolg und Fortschritt, nach der Verbreitung eigener Anschauung und Philosophie und schließlich nach Macht und Einfluss streben. Die Tauschfamilien im Iran und in Deutschland haben hautnah erfahren, dass eine pädagogisch angemessene Umgangsform für die Realisierung der Kommunikation in interkultureller Absicht in beiden Ländern, neben den dargestellten acht Korrelatbegriffen, konstitutiv ist. Sie haben eine Reihe weiterer Elemente zu berücksichtigen, wenn sie an einem lernenden und verstehenden Miteinander interessiert sind. Auf diesem Wege sind neben individualpsychologischen und kultursoziologischen auch pädagogisch relevante Komponenten grundlegend, die ineinander greifen und aufeinander angewiesen sind: Kulturpädagogische Dimensionen
Sozialpädagogische Dimensionen
Medienpädagogische Dimensionen
Erwachsenenpädagogische Dimensionen
Berufspädagogische Dimensionen
Komponente einer Pädagogik der Interkulturalität
Diese fünf Dimensionen sind kontextuell ausgerichtet, um die Kommunikation in interkultureller Absicht aus mehreren Perspektiven heraus zu fördern. Sie hat grundsätzlich kontextuell zu sein. Nach diesem Muster werden bestehende Theorien mit Herausforderungen konfrontiert, die viele Konsequenzen nach sich ziehen werden. Diese tangieren unmittelbar die Arbeitsfelder der interkulturellen Kommunikation, ihre Grundlagen, Methoden und Praxisansätze. Die Tauschfamilien werden ihre Behauptungen, Überzeugungen und Argumentationen in der Regel in allen Situationen und Kontexten des Sozialen, Religiösen und Politischen mit jeweils eigener Terminologie, Fragestellung und Lösungsansatz begründen. Hier wird ihnen einleuchtend erscheinen, dass eine echte Verständigung ohne kontextuelles Verfahren kaum möglich ist. Mit den erwähnten fünf Dimensionen sind Sozialphänomene verbunden, mit denen eine interkulturelle Selbstreflexion einhergeht, die einen dialogischen Austausch maßgeblich beeinflusst. Diese Dimensionen lassen sich zwar unterschiedlich diskutieren, aber bei der Verwirklichung interkultureller Kommunikation ist mit ihnen kontextuell zu verfahren. Merke: Wenn Kontextualität zum Programm erhoben wird, so geht es um die Aufnahme des Anderen als gleichberechtigten Partner des Aushandelns. Der Ausdruck „kontextuell“ ist dementsprechend jeder Einseitigkeit abträglich.“
138
5. Versuch einer Entwicklung dialogischer Pädagogik der Interkulturalität
Im Folgenden geht es darum, zu beschreiben, warum diese fünf Dimensionen für die Professionalisierung der interkulturellen Kommunikation und die Entfaltung eines dialogischen Miteinanders von Bedeutung sind. 5.1.1 Interkulturell-kontextuelle Kulturpädagogik Dem kulturpädagogischen Wissen kommt ein besonderes Gewicht zu, weil es unverzichtbar ist, sich das notwendige und für die Kommunikation erforderliche Wissen über andere Lebensformen anzueignen. Erklärungsversuch: Unter kontextueller Kulturpädagogik wird hier ein dynamischer Prozess im Denken, Handeln und Reden sowie in Theorie und Praxis verstanden, die Lehrenden und vor allem die Lernenden kulturübergreifend dafür zu sensibilisieren, Tabus zu berücksichtigen, Werte zu beachten, Normen zu studieren, Gewohnheiten zu suchen und Konvergenzen wie Divergenzen zu identifizieren.
Letzten Endes ist es wichtig, dass die Tauschfamilien im Prozess der Begegnung mit dem kulturell Andersdenkenden und religiös Anderserzogenen bestehende Vorurteile minimieren, Klischees abbauen und kultursensitiv vorzugehen lernen. Dies gelingt, wenn ihre Selbstbilder und ihr Iran- und Deutschlandbild unmittelbar miteinander konfrontiert werden. Dadurch können sie sich gegenseitig korrigieren und bereichern. Die wechselseitigen Kenntnisse über das Musik-, Literatur-, Kunst- und Alltagsverständnis des Anderen eröffnen ihnen neue Horizonte, die für das responsive Verstehen grundlegend sind. Diese kompetenzsichernden Voraussetzungen fördern die Erweiterung des Wahrnehmungsvermögens, das den Tauschfamilien ermöglicht, unter Berücksichtigung der Divergenzen konvergente Ideen zu entwickeln. Dadurch gelingt es, auch „individuelle Bildungsprozesse“2 durch Selbstreflexion zu fördern, denn in der kulturpädagogischen Praxis soll „das Verständnis für bestimmte Bereiche dieser Welt geweckt und gefördert sowie die aktive Teilhabe und Auseinandersetzung unterstützt werden“.3 Durch diesen pädagogischen Lernprozess können die Tauschfamilien ein Verständnis der „Einstellungen, Fertigkeiten [und] Verhaltensweisen“4 in der Kommunikation erwerben. 5.1.2 Interkulturell-kontextuelle Erwachsenenpädagogik Zu den Aufgaben der Erwachsenenbildung gehören die Vermittlung von Erkenntnis- und Erfahrungsbeständen, die Schulung individueller Gestaltungsfähigkeiten5, der Austausch von Erfahrungen und das Verstehen von Lebenszusammenhängen. Auf diese Faktoren sind die Tauschfamilien angewiesen. Somit wird der Lernprozess nicht mehr auf kulturelle Bildung beschränkt bleiben, sondern gleichsam auf interkulturelle Bildung in historischer wie systematischer Hinsicht erweitert. Hierbei geht es in erster Linie um eine kreative Fundierung und einen denkenden, lernenden und verstehenden Umgang der Tauschfamilien im Rahmen der interkulturellen Kommunikation.
2 3 4 5
Müller-Rolli, Sebastian: Kulturpädagogik heute, 1988 S. 17. Ebenda, S. 21. Ebenda, S. 21. Vgl. Van Houten, Coenraad: Erwachsenenbildung als Schicksalspraxis, 2011.
5.1 Komponenten einer Pädagogik der Interkulturalität
139
Erklärungsversuch: Kontextuelle Erwachsenenbildung bedeutet sensibilisierende Erneuerung und Erweiterung der Wissenshorizonte von Erwachsenen, um den gewandelten Verfassungen kultureller Kontexte Rechnung zu tragen. Sie beschreibt eine bestimmte Form der Vermittlung von Wissen an Menschen, die neue Orientierung suchen oder nach mehr Wissen in diversen Bereichen streben. Ihr Ziel ist es, die Lehrenden und vor allem die Lernenden kulturübergreifend zu sensibilisieren.
Kontextuelle Erwachsenenbildung sensibilisiert die Tauschfamilien durch eine dialogische und kritische Prävention dafür, dass Unsicherheiten bei einer Begegnung mit dem Anderen zwar berechtigt sind, weil eine hermeneutische Neusituation dies mit sich bringt, dass diese aber zugleich durch das Verstehenwollen zu beheben sein können. Eine solche Begegnung fasst das Andere nicht als ein Hindernis auf, sondern als eine existenzielle Bereicherung der eigenkulturellen Vorstellungen. Ferner kommt den Erwachsenen, hier den Elternteilen der Tauschfamilien, gegenüber ihren Kindern eine wichtige Mittlerfunktion zu. Kinder sind in der Regel vorurteilsfrei. In diesem Sinne wird „jedes Kind“, so schreibt Abu Hamed Mohammad ibn Mohammad Ghazali (1058–1111), „in seiner natürlichen Beschaffenheit (fitra) geboren. Es sind seine Eltern, die ihn zum Juden, zum Christen […] machen.“6 Im nächsten Kapitel werde ich bei der Frage nach Vorurteilen als einem Hindernis der Kommunikation vertieft auf dieses Phänomen eingehen. Was das Verhalten von Kindern, jenseits ihrer kulturellen Zugehörigkeit, beeinflusst, ist der Erfahrung nach das Ergebnis des Vorbildes der Erwachsenen, also den Eltern und der Erziehung durch diese. Die Aufgabe der Tauschfamilien wird schwieriger, wenn sie selbst viele Vorurteile in ihren Ländern durch Medien, Politik und die schulische Ausbildung verinnerlicht haben, die sie ihren Kindern weitergeben. Hier ist eine doppelte Korrektur, nämlich eine „Eltern-Kinder-Korrektur“ nötig. Weil die Kommunizierenden im interkulturellen Kontext aber Erwachsene sind, ist die erwachsenenpädagogische Dimension von besonderer Bedeutung. 5.1.3 Interkulturell-kontextuelle Berufspädagogik Eine kontextuelle Berufspädagogik ist insbesondere im Gefolge der Globalisierungen notwendig geworden. Ein wichtiger Grund besteht darin, die international gewordenen Arbeits- und Geschäftsbeziehungen aufgrund ihrer unausweichlichen Vielfalt so dialogisch wie möglich zu gestalten. Erklärungsversuch: Kontextuelle Berufspädagogik beschreibt die Dynamik und das antwortende Handeln, Mentalitäten in beruflichen und geschäftlichen Beziehungen zu beachten und miteinander in Beziehung zu setzen. Ihr Ziel ist es, die Lehrenden und vor allem die Lernenden kulturübergreifend zu sensibilisieren.
Auf die Unternehmenskultur schlagen sich in der Regel auch kulturelle Einstellungen und Überzeugungen nieder, die im Vergleich und Verständnis der Kulturen und ihrer Kontexte, aber auch von Individuum zu Individuum unterschiedlich sind. In der gegenwärtigen Arbeitswelt ist es bspw. mit Konsequenzen verbunden, wenn, wie noch zu Sprache kommen wird, klischeehaft und dichotomisierend unterstellt wird, dass 6 Ghazali, Abu Hamid Mohammad: Der Erretter aus dem Irrtum, 1988 S. 5.
140
5. Versuch einer Entwicklung dialogischer Pädagogik der Interkulturalität
wir selbst in unserer europäisch-westlichen Hemisphäre analytisch dächten und in anderen Kulturregionen dagegen holistisch gedacht werde, dass wir selbst aufgabenorientiert, die anderen hingegen beziehungsorientiert und unsystematisch verfahren würden.7 Die Tauschfamilien werden mit Schwierigkeiten konfrontiert werden; insbesondere die iranische Frau, die ein Kopftuch trägt und von Beruf Lehrerin ist, wird es in Deutschland nicht leicht haben, diesen Beruf auszuüben. Hier erreicht auch eine liberal-demokratische Staatsform ihre Grenzen und expliziert ihre ideologische Ablehnung anderen Staatsformen gegenüber. Rolf Arnold (*1952) hält die pädagogischen Konzepte der Arbeitswelt immer noch „nach eurozentrischen Maßstäben vermessen“8 und plädiert deshalb für eine „angepasste Berufspädagogik“.9 Erforderlich sei hier die Erweiterung des „berufspädagogischen Wissens […] im Sinne eines interkulturellen Lernens“10 und vor allem einer theoretischen und praktischen Offenheit. Daher ist es von Bedeutung, eine kontextuelle Berufspädagogik zu bevorzugen, welche die soziokulturellen Pluralisierungsprozesse der Arbeitswelt im Weltkontext berücksichtigt und entsprechende Kompetenzkonzepte reflektiert.11 Eine solche pädagogisch begleitende Berufskompetenz vermag eine wechselseitig fördernde Möglichkeit des Verstehens herbeizuführen. In einem interkulturellen Kontext sind zur reibungslosen Abwicklung von Geschäften, wie im Rahmen der interkulturellen Kommunikation ausgeführt, nicht nur Sach- und Fachkompetenz zielführend, sondern neben der Sozialkompetenz auch die Kultur- und Religionskompetenz. Dies hängt damit zusammen, dass Menschen in der Arbeitswelt wie die Tauschfamilien zusammenkommen, die sich mit unterschiedlichen Religionsgemeinschaften identifizieren. 5.1.4 Interkulturell-kontextuelle Sozialpädagogik Sozialpädagogik hat im Vergleich zu anderen Dimensionen insofern einen integrativen Charakter, als ihr die beschriebenen Dimensionen inhärent sind. Sie beschäftigt sich mit der Lösung sozialer Probleme durch konstruktive Vorbeugungsmaßnahmen. Dabei geht es um die Betreuung von einzelnen Personen, Familien oder bestimmten Personengruppen.12 Erklärungsversuch: Kontextuelle Sozialpädagogik bildet einen wesentlichen Bestandteil der behandelten Dimensionen und verfährt kontextsensitiv. Ihr Thema ist Beobachtung, Analyse und Begründung von Lebensumständen des Menschen, seines sozialen Umfeldes sowie seiner persönlichen Fähigkeiten und Eigenschaften unter integrativer Berücksichtigung seiner Herkunft und der Kontexte, in denen er sich bewegt. Ihr Ziel ist es, die Lehrenden und vor allem die Lernenden kulturübergreifend zu sensibilisieren.
Die Bedeutung einer solchen Ausrichtung besteht in erster Linie darin, dass sie in Theorie und Praxis bestrebt ist, ein Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen der Einzelnen und den Anforderungen der Gesellschaft unter Beachtung der jeweiligen Kontexte herzustellen. 7 Noch heute wird insbesondere in Arbeiten für die Geschäftswelt ein solches klischeehaftes Bild gepflegt. Vgl. Ortlieb, Sylvia: Business-Knigge für den Orient, 2010 S. 93 f. 8 Arnold, Rolf: Berufspädagogik für Partnerländer, 1987 S. 74. 9 Arnold, Rolf: Berufspädagogik für Partnerländer, 1987 S. 74. 10 Arnold, Rolf: Berufspädagogik für Partnerländer, 1987 S. 78. Vgl. auch ders. Interkulturelle Berufspädagogik, 1991 S. 23. 11 Vgl. Arnold, Rolf: Interkulturelle Berufspädagogik, 1991. 12 Vgl. Knoll, Andreas: Professionelle Soziale Arbeit, 2010. Vgl. Jaszus, Rainer und Holger Küls (Hrsg.): Didaktik der Sozialpädagogik, 2010.
5.1 Komponenten einer Pädagogik der Interkulturalität
141
Mit einem sozialpädagogischen Blick können sich die Tauschfamilien die nötigen Kompetenzen aneignen, um sich in unterschiedlichen Bereichen der recht unterschiedlichen Gesellschaften angemessener bewegen und zurechtfinden zu können. Insofern lässt sich Sozialpädagogik in interkulturell-kontextueller Absicht als ein mehrschichtiger Prozess, als Vorsensibilisierungsinstanz der interkulturellen Kommunikation begreifen. Eine Sozialpädagogik, die kontextuell verfährt, betrachtet in diesem Zusammenhang die Perspektiven des Einzelnen innerhalb von Gruppen, Gemeinschaften oder Institutionen und zwischen diesen, im Vergleich und Verständnis der Kulturen, um angemessene Konzepte für die Verbesserung der Lebensbedingungen und sozialen Strukturen zu entwerfen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Förderung der gegenseitigen Mitverantwortung der in Gruppen und Gemeinschaften Zusammenlebenden und Zusammenwirkenden. Dies bedeutet im Sinne eines interkulturellen Lernens das Eintreten in einen wechselseitigen Lernprozess, indem Rücksichtnahme, Offenheit und Dialogbereitschaft bestimmend sind. 5.1.5 Interkulturell-kontextuelle Medienpädagogik Medienpädagogik befasst sich mit erziehungsrelevanten Fragen, Problemen und Themenbereichen innerhalb der Bereiche aller heute verfügbaren Medien.13 Ihre Aufgabe ist in erster Linie die Erforschung der Funktion und Bedeutung von Medien in Lehr- und Lernprozessen.14 Erklärungsversuch: Kontextuelle Medienpädagogik analysiert Herausforderungen sowie Gefahren des Medienkonsums und untersucht den Einfluss der Medien auf Lernprozesse, allen voran den Toleranz- und Integrationsgrad der Konsumenten, um einen kritischen Umgang mit dem Medienkonsum und den Medienangeboten zu institutionalisieren. Ihr Ziel ist es, die Lehrenden und vor allem die Lernenden kulturübergreifend zu sensibilisieren.
Es geht um eine interkulturelle Erweiterung von Medienkompetenz und Medienwissen, die dazu beiträgt, dass der Einzelne mediale Gefälligkeiten und Verunglimpfungen zu durchschauen lernt und befähigt wird, dazu einen kritisch-distanzierten Standpunkt einzunehmen, bspw. wie und warum Feind- und Freundbilder in den Medien gepflegt werden. Die Entwicklung von Feindbildern lässt sich in unterschiedliche mediale Diskursformen klassifizieren: der apologetische Diskurs, der Kriminalisierungsdiskurs, der Abgrenzungsdiskurs, der Romantisierungsdiskurs, der Mitleidsdiskurs, der Erniedrigungsdiskurs, der paternalistische Bevormundungsdiskurs, der Religionsfanatismusdiskurs und der Rückständigkeitsdiskurs. Die Praxis solcher Diskursformen kann über den Islam in unseren Medien beobachtet werden. Um solchen Vorurteilen angemessen zu begegnen, werden die Tauschfamilien kultursensitiv vorgehen müssen. In den deutschen Medien werden iranischen Politikern Dinge unterstellt, die für die iranischen Teilfamilien in Deutschland ungewohnt sind, sogar als impertinent und erfunden kritisiert werden können. Das Gleiche erleben die deutschen
13 Vgl. Süss, Daniel, Claudia Lampert und Christine W. Wijnen: Medienpädagogik, 2009. 14 Vgl. Moser, Heinz: Einführung in die Medienpädagogik, 2005.
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5. Versuch einer Entwicklung dialogischer Pädagogik der Interkulturalität
Teilfamilien im Iran, wenn sie hören, dass dort die deutsche Außenpolitik teilweise eingestuft wird als von „Zionisten“ und US-amerikanischen Politikern diktiert. Hier können die Tauschfamilien, wenigstens innerhalb der Familien und im Kreise von Bekannten und Freunden, Aufklärungsarbeit leisten. In solchen Diskursformen wird in der Regel das Eigene auf- und das Andere abgewertet und das angeblich unüberbrückbare Anderssein des Anderen betont. Diskurse um Freundbilder bedienen sich häufig kultureller und unterhaltender Felder, in denen bspw. ausschließlich Filme oder Musikstücke aus bestimmten bevorzugten Regionen zur Darstellung kommen, während andere Regionen keine Erwähnung finden und damit das Bild einer Kulturleere evoziert wird. Interkulturell-kontextuelle Medienpädagogik analysiert nicht nur Gründe, Sinn und Funktion von Diskursformen, sondern auch Kontexte, in denen solche Diskurse entstehen, um eine angemessene Sensibilisierung zu vollziehen. Sie hat eine aufklärerische Funktion und sensibilisiert dafür, durch Perspektivenwechsel echte Tatsachen von Vermutungen zu unterscheiden, die Tatsachen lediglich suggerieren. Ohne eine kontextuelle Medienpädagogik, die positive wie negative Handlungsstränge der Macht öffentlich diskutiert, wird eine interkulturelle Kommunikation nicht gedeihen können. Hier wird deutlich, dass die kontextuelle Medienpädagogik in vielerlei Hinsicht im Zentrum der vier vorangestellten Dimensionen steht, weil sie deren Erkenntnisinhalte aufgrund der enormen Verbreitungsmöglichkeiten ihrer Diskurse in eine breite Öffentlichkeit transformiert und unser Bild einer Kulturregion entscheidend prägt.
5.2
Theorie und Praxis einer interkulturell-kontextuellen Didaktik
Die Tauschfamilien dürften, wenn auch ansatzweise, deutlich gemacht haben, dass es im Hinblick auf die Frage nach den Formen und Methoden der lernwirksamen Kommunikation in interkultureller Absicht an die Lernenden erhebliche Defizite gibt. Für die professionelle Transformation des erforderlichen Wissens und die Vermittlung der dargestellten fünf Dimensionen auf der Grundlage einer Pädagogik der Interkulturalität benötigen wir eine wissenschaftstheoretisch solide Begegnungspädagogik, einhergehend mit einer kulturübergreifenden Didaktik, welche die Lernenden befähigen soll, Konfliktsituationen angemessen zu bewältigen. Zur dialogischen Begegnungspädagogik Wenn das Eigene und das Andere, wie etwa unsere beiden Tauschfamilien, einander gegenüberstehen, so haben sie zwei mit Leben erfüllte Rucksäcke dabei, aus denen sich Teile ihrer Erkenntnisse speisen. Diese Erkenntnisse können positiver oder negativer Natur sein. Diese Rucksäcke entstehen in der Regel durch die Sozialisation in Schule, Familie und Gesellschaft sowie persönliche Erfahrungen. Um Vor- und Vorurteile voneinander zu unterscheiden, ist die Einführung einer dialogischen Begegnungspädagogik15 grundlegend, die kontextangemessen bestrebt ist, aus dem Ich-Du-Bezug ein heterogenes Wir hervorgehen zu lassen. Eine solche Begegnungs15 Romano Guardini (1885–1968) plädiert aus religiösen Erwägungen heraus für eine Ich-Du-Begegnung des Eigenen und des Anderen, um die Anthropozentrik zurückzuweisen. Vgl. Guardini, Romano: Vom Sinn der Gemeinschaft, 1992.
5.2 Theorie und Praxis einer interkulturell-kontextuellen Didaktik
143
form hat immer ein bewusstes Moment. Das Unreflektierte offenbart sich im Gespräch. Die Kommunizierenden reflektieren darüber entweder gemeinsam oder gesondert. Der Begegnungsbegriff von Josef Derbolav (1912–1987) kann auf diesem Wege für die Vermittlung und Aneignung von Wissen der Lehrenden und Lernenden fruchtbar gemacht werden. Merke: Derbolav geht von drei Formen der Begegnung aus, die er miteinander verbunden sieht. Erstens Begegnung als verarbeitendes Hereinnehmen des Anderen gerade als Anderes. Zweitens Begegnung als Anderswerden am Anderen, ohne es hineinzunehmen. Drittens Begegnung als Selbstwerden durch den Anderen, jedoch aus der erweckten, ans Licht gehobenen Substanz des Eigenen.16
Begegnung bedeutet für Derbolav zusammenfassend Vermittlung, Entscheidung und Erweckung durch die Korrelation des Eigenen und des Anderen. Dieses Wir ist der dialektische Überlappungsort der Kommunizierenden, indem die Divergenzen und Grenzen nicht ausgeblendet werden: Grenzen werden nicht überwunden, sondern überschritten. Die Praxis einer solchen dialektischen Didaktik ist in den Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Berufswelten von Bedeutung. Eine echte Kommunikation in interkultureller Absicht setzt immer eine dialogische Gemeinschaft des Wir voraus. Individuen sind zu jeder Art des Denkens fähig. Dies macht sie auch dazu fähig, sich zum dialogischen Wir zu finden. Dies bedeutet nicht, dass sie ihre eigenkulturelle Einbettung aufgeben zu müssen. Hier wird das synergetische Verhältnis des transkulturellen, also kulturübergreifenden Denkens und interkulturellen Denkens deutlich. Zur Interkulturell-kontextuellen Didaktik Didaktik lässt sich im Allgemeinen erklären als eine „Theorie der Vermittlung“17, um Austauschprozesse professionell zu gestalten. Kontextuelle Didaktik, die mit der erwähnten dialogischen Begegnungspädagogik steht und fällt, unterliegt allerdings einer anderen Natur und fasst Kulturen auf als offene und dynamisch veränderbare Sinn- und Orientierungssysteme. Erklärungsversuch: Kontextuelle Didaktik bezeichnet die Wissenschaft des kritischen Lehrens und Lernens auf der Grundlage einer dialogischen Theorie und Praxis in kulturübergreifender Absicht.
Ein zentrales Ziel solcher Form der kontextsensitiven Didaktikpraxis ist, im Prozess der Aneignung von Wissen über das Eigene und das Andere, die Herausbildung von Fähigkeiten der Lernenden zur Mitbestimmung, Selbstbestimmung und Solidarität.18 Die Abbildung auf der Folgeseite zeigt die fließenden Grenzen dieser Säulen der interkulturell-kontextuellen Didaktik. Dabei ist zu beachten, was unter diesen Fähigkeiten in einem interkulturellen Kontext verstanden wird, ohne diese aufeinander zu reduzieren. Zu der Triade einer interkulturellkontextuellen Didaktik gehört Offenheit für neue Erfahrungen, bedingungslose Empathie 16 Vgl. Derbolav, Josef: Vom Wesen geschichtlicher Begegnung, 1956 S. 85. 17 Dörpinghaus, Andreas: Rhetorische Didaktik, 2007 S. 161. 18 Vgl. hierzu Klafki, Wolfgang: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, 2007.
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5. Versuch einer Entwicklung dialogischer Pädagogik der Interkulturalität
Fähigkeit zur Selbstbestimmung
Fähigkeit zur Mitbestimmung
Fähigkeit zur Solidarität
und Kritikbereitschaft, um die drei Komponenten a) Wissensvermittlung, b) Wissensaneignung und c) Wissensüberprüfung auf der Grundlage der erwähnten drei Fähigkeiten ineinander greifen zu lassen. Diese Forderung entspricht der „Zeigestruktur der Erziehung“ von Klaus Prange (*1939), der von drei „Geboten“ ausgeht: dem Gebot der Rationalität, dem Gebot der Achtung und dem Gebot der Freiheit. Während Rationalität die sachliche Richtigkeit und einsichtige Nachvollziehbarkeit vor Augen hat, hat Achtung die Kontexte im Blick und fragt danach, ob und inwieweit die Kommunizierenden über den Sachverhalt Bescheid wissen, um Lücken gemeinsam bewusst anzusprechen und schließen zu können. Das Gebot der Freiheit fragt danach, ob die Kommunizierenden mit dem Sachverhalt etwas anfangen können.19 Das folgende Schaubild verdeutlicht Pranges Dreieck der Gebote: Gebot der Rationalität
Gebot der Freiheit
Gebot der Achtung
Eine Aufgabe interkulturell-kontextueller Didaktik ist und bleibt folglich die theoretische wie praktische Umkehr auf diesem Wege im Denken, Reden und Handeln, welche die eingefahrenen Wege der kulturalistisch bestimmten Maßstäbe zu Gunsten einer dialogischen Neuorientierung der Kommunikation verändert. Dabei ist der zugrunde gelegte Kulturbegriff ein offener und dynamisch-veränderbarer, der Kulturen als offene Sinn- und Orientierungssysteme auffasst. Auernheimer verwendet einen solchen Kulturbegriff und verfolgt eine dialogische Didaktik, die bestrebt ist, dahingehend zu wirken, dass „die Lernenden Gemeinsamkeiten entdecken oder die fremde Kultur als Bereicherung erfahren […]: Leitend ist die […] Zuversicht, dass Kontakte zum Abbau von Vorurteilen führen.“20 Probleme entstehen in der Regel „durch die Einordnung, Interpretation und Bewertung des Fremden nach den eigenkulturellen Erwartungsstrukturen.“21 Die kontextuellen Komponenten kulturpädagogischer, erwachsenenpädagogischer, berufspädagogischer, sozialpädagogischer und medienpädagogischer Art, gepaart mit den erwähnten drei Fähigkeiten, sind Reflexionsrichtungen der Didaktik. Diese formuliert 19 Vgl. Prange, Klaus: Die Zeigestruktur der Erziehung, 2005. 20 Auernheimer, Georg: Grundmotive und Arbeitsfelder interkultureller Bildung und Erziehung, 2000 S. 18 f. 21 Grosch, Harald und Wolf Rainer Leenen: Bausteine zur Grundlegung interkulturellen Lernens, 2000 S. 32.
5.3 Pluralistische Methodenkomposition
145
Konzepte, die das Kontextuelle und das Interkulturelle gleichermaßen integrativ berücksichtigen. Das folgende Schaubild visualisiert die Zusammenhangstruktur dieser Bereiche der Didaktik: Kontextuelle Medienpädagogik Kontextuelle Berufspädagogik
Kontextuelle Erwachsenenpädagogik
Kontextuelle Kulturpädagogik
Interkulturelle Didaktik
Kontextuelle Sozialpädagogik
Wenn die Tauschfamilien als das jeweils Eigene mit dem Anderen in Kontakt kommen, die eine solche Didaktik genossen haben, so werden sie mit ihnen einen leichteren Umgang erwarten können, während sie mit Menschen, die nicht sensibilisiert sind oder gar kein Interesse daran haben, es nicht leichter haben werden. Nicht nur bei den dargestellten fünf Dimensionen, sondern auch bei der interkulturellen Didaktik sind die Komponenten der Situativität, Kontextualität und Individualität grundlegend.
5.3
Pluralistische Methodenkomposition
Methoden werden in der Wissenschaft im Allgemeinen unter verschiedenen Blickwinkeln und Nutzung uneinheitlicher Bezeichnungen mit unterschiedlichen Interessen appliziert. In dieser Arbeit wird nicht anders verfahren. Merke: Wie bei der methodischen Bestimmung der Interkulturalität und interkulturellen Kommunikation, ist auch die Methode der interkulturell-kontextuellen Didaktik pluralistisch ausgerichtet.
analytisch-empirisch wissenschaftstheoretisch
normativ
komparatistisch
Methoden der interkulturellen Didaktik
rationalistisch
semantisch
historisch enzyklisch-dialektisch
146
5. Versuch einer Entwicklung dialogischer Pädagogik der Interkulturalität
Das Zusammenspiel dieser Methoden-Komponenten bildet die Grundlage einer gemeinsamen Lernkultur, die a) strukturelle und korrelative Zusammenhänge identifiziert, die b) eine vielfältige Untersuchung dieser Zusammenhänge erleichtert und die c) eine Überprüfbarkeit der Sachverhalte auf dem Weg zum polyphonen Dialog ermöglicht.
5.4
Zwischenbetrachtung
Ziel dieses Kapitels war der Entwurf einer dialogischen Pädagogik der Interkulturalität. Dabei haben wir festgestellt, dass die Pädagogik der Interkulturalität gegenwärtig hauptsächlich in den Kulturwissenschaften angesiedelt ist. Als eine probate Heimat dieser Disziplin bietet sich deshalb die Kulturwissenschaft an. In einem weiteren Schritt haben wir, auf dem Wege des lernenden und verstehenden Umganges als zwei denkende Säulen einer Pädagogik der Interkulturalität, fünf Dimensionen kurz vorgestellt, die für eine angemessene Kommunikation im Weltkontext von unverzichtbarer Bedeutung sind: interkulturell-kontextuelle Kulturpädagogik, interkulturell-kontextuelle Erwachsenenpädagogik, interkulturell-kontextuelle Berufspädagogik, interkulturell-kontextuelle Sozialpädagogik und schließlich interkulturell-kontextuelle Medienpädagogik. Die Tauschfamilien werden in beiden Ländern, Iran und Deutschland, erfahren haben, wie wichtig diese interkulturell-kontextuelle Orientierung für eine echte Begegnung ist. Besonders kommt diese Orientierung mit den genannten acht Korrelatbegriffen zum Tragen, weil Handlungs- und Kompetenzbereiche ineinander greifen. Bei der Realisierung dieser Dimensionen haben wir eine praxisdienliche Theorie interkulturell-kontextueller Didaktik formuliert, die drei Fähigkeiten umfasst: Mitbestimmung, Selbstbestimmung und Solidarität. Diese für Lehre und Forschung unentbehrliche Didaktik bedarf zur effektiven Anwendung in der Praxis einer pluralistischen Methodenkomposition. Eine zentrale Aufgabe der Lehrinstitutionen liegt in der Entwicklung der Lernenden zu mündigen und verantwortungsvollen Persönlichkeiten. Sie vermitteln nicht nur Wissen, Fähigkeiten und Werte, sondern auch ein fundiertes Bewusstsein für die Bewahrung der Umwelt und Verantwortung für künftige Generationen. Lehrinstitutionen fördern die Identität und Handlungskompetenz der Lernenden und bieten ihnen zugleich wertvolle Orientierungshilfe im Umgang mit der Vielfalt. Grundlegend ist für jede didaktisch gut durchdachte Vermittlung von Wissen die Bestimmung dessen, was meine Wissensziele sind, wie ich dieses Wissen erwerbe, wie ich es bewerte, welche Methode ich anwende und wie ich dieses umsetze. Ein solches Unternehmen erfordert ein hohes Maß an Kompetenz und didaktischem Sinn.
5.4 Zwischenbetrachtung
147
6. Theoretische und praktische Hindernisse interkultureller Kommunikation
Das Konzept des Kapitels auf einem Blick
Kultur als offenes Sinn- und Orientierungssystem
Hindernisse der interkulturellen Kommunikation Inklusivität und Exklusivität
Rolle der Vorurteile
Positive und negativen Macht
Geographisierung des Denkens Ablehnende Anerkennung
Nach einem langen Weg der Analyse unterschiedlicher Korrelatbegriffe interkultureller Kommunikation dürfte klar geworden sein, dass sich unsere Tauschfamilien unter Berücksichtigung der Kontexte eine Reihe von Fähigkeiten und Fertigkeiten anzueignen haben. Wir haben gesehen, dass sie zunächst mit der Frage konfrontiert werden, wer sie überhaupt sind, mit wem sie zu tun haben, wie sich diese selbst verstehen und mit Anderen in Beziehung setzen. Die angeeigneten interkulturellen Kompetenzen werden den Tauschfamilien sicherlich helfen, bei ihren Begegnungen in den Familien und gesellschaftlichen Kontexten bewusster mit den Konsequenzen voreiliger Identifizierungen und Unterscheidungen umzugehen. Es gibt, wie bei der Erläuterung der Korrelatbegriffe dargestellt, eine Reihe theoretischer und praktischer Hindernisse, die sich strukturell auf Kommunikationen, ob interkulturell oder nicht, auswirken und sie im Ansatz gefährden können. Exemplarisch lassen sich vor allem folgende Bestrebungen im Schaubild identifizieren, die eine systeminterne Unterscheidung und Identifizierung ausdrücken:
Macht Exklusivität
Inklusivität
Geographisierung des Denkens
Hindernisse interkultureller Kommunikation
Vorurteile
148
6.1
6. Theoretische und praktische Hindernisse interkultureller Kommunikation
Zu Inklusivität und Exklusivität
Inklusivität und Exklusivität spielen im menschlichen Leben eine dominante Rolle. Dies hängt damit zusammen, dass Menschen auf unterschiedlichem Wege bemüht sind, den eigenen Standpunkt als allgemeingültig zu verabsolutieren. Wir unterscheiden zwischen einem Wahrheits- und Absolutheitsanspruch, der inklusiv, nach innen gerichtet ist, und einem solchen, der exklusiv, nach außen gerichtet ist.1 Erklärungsversuch: Inklusivität heißt Einschließung und beschreibt die reziproke Art und Weise, in der Menschen „im Kommunikationszusammenhang“ aufeinander einwirken und gemeinsame Wege gestalten. Erklärungsversuch: Exklusivität bedeutet Ausschließlichkeit und ist stets mit einem Wahrheits- und Absolutheitsanspruch verbunden, der je nach Kontext auch strategisch eingesetzt werden kann.
Die Frage nach Inklusivität und Exklusivität ist nicht nur sozialer und religiöser Natur, sondern kommt in auch in Politik, Philosophie und Wissenschaft vor.2 Die Parteien stehen in einer solchen Situation miteinander in Konkurrenz, in einem Gesinnungskampf. Nun stellt sich die Frage, in welchen Zusammenhängen eine inklusive oder exklusive Haltung Konflikte verursachen und damit ein Hindernis für interkulturelle Kommunikation darstellen kann. Der inklusive Wahrheits- und Absolutheitsanspruch ist in die Tiefe der eigenen Einstellung oder Überzeugung gerichtet, nicht aber in die Weite. Bei dieser Handlungsform geht es um eine subjektive Erfahrung, die für eine objektive Wahrheit gehalten wird oder gehalten werden kann, ohne einen Universalitätsanspruch zu erheben und diesen nach außen zu richten, also missionarisch zu werden. Der exklusive Wahrheits- und Absolutheitsanspruch richtet sich ebenfalls in die Tiefe der eigenen Einstellung oder Überzeugung, hält diese ebenfalls für eine objektive Wahrheit, erhebt jedoch einen Universalitätsanspruch und ist bestrebt, diesen weltumfassend durchzusetzen. Das Ergebnis sind Kreuzzüge, Inquisition und dergleichen. Der intrinsische Unterschied zwischen den beiden Handlungsformen besteht darin, dass der Befürworter eines inklusivistischen Absolutheitsanspruchs seine Einstellung oder Überzeugung zwar für wahr hält, ohne diese aber expansiv durch Gewalt nach außen manifestieren zu wollen, während der Befürworter eines exklusivistischen Absolutheitsanspruchs seine Einstellung oder Überzeugung expansiv, auch unter Anwendung von Gewalt, nach außen manifestieren will. Dieser Absolutheitsanspruch liegt praktisch in der Maxime, die eigene Idee, die eigene politische Meinung, die eigene Philosophie oder die eigene Religion für die ausschließliche Wahrheit zu halten. Liegt dieser Tatbestand vor, so wird nicht mehr gesagt: Das ist meine Idee, meine politische Meinung, meine Philosophie oder meine Religion, sondern: Das ist die Idee, die politische Meinung, die Philosophie und die Religion. Eine hermeneutische Verfahrensweise, „die auf das Verstehen der Kulturschöpfungen abzielt, zögert vor der Ver-
1 Vgl. hierzu Mensching, Gustav: Gott und Mensch, 1948 S. 195. 2 Vgl. hierzu Stichweh, Rudolf: Inklusion und Exklusion, 2005 und Bohn, Cornelia: Inklusion, Exklusion und die Person, 2006.
6.2 Zur Rolle der Vorurteile
149
suchung, alle Arten von Dyaden und Polaritäten auf einen einzigen fundamentalen Typ zu reduzieren.“3 Daraus ergeben sich zwei gegensätzliche Straßen der Verständigung: Während geschlossene Handlungsformen einen stagnierenden Charakter aufweisen, sind die offenen Begegnungs- und Handlungsformen kommunikativ und damit vorwärtsgewandt. Das folgende Schaubild zeigt einige wichtige Aspekte auf:
Straßen der Verständigung Unvernunft Wahrheits- und Absolutheitsanspruch Dogmatismus Fundamentalismus
Glaube Beliebigkeit Nihilismus
6.2
Gewalt Krieg Rückschritt Divergenz
Vernunft Sympathie Toleranz Überlappung
Gewaltlosigkeit Frieden Fortschritt Überlappungen
Zur Rolle der Vorurteile
Dimensionen der Vorurteile Vorurteile gehören zum Alltag der Menschen; wir beobachten sie in unserem sozialen Umfeld wie auch in den Medien, in Nachrichten und Filmen. Eine Reihe von Studien beschäftigt sich mit der Problematik von Vorurteilen. Zu nennen sind die Ansätze von Alexander Thomas (*1939) und Andreas Zick (*1962) sowie die Aufsatzsammlung von LarsEric Petersen (*1960) und Bernd Six (*1943). Thomas analysiert und beschreibt die Bedeutung sowie die Funktion sozialer Stereotype und Vorurteile für die interkulturelle Zusammenarbeit. Dabei charakterisiert er sechs wesentliche Funktionen des Vorurteils, die dem Urteilenden Halt geben und für ihn positiv sind: die Orientierungs-, Anpassungs-, Abwehr-, Selbstdarstellungs-, Abgrenzungs- und Identitätsfunktion; ferner die Steuerungs- und Rechtfertigungsfunktion.4 Zick verfolgt im ähnlichen Sinne das Ziel, Theorien über die Ursachen von Vorurteilen und Rassismus systematisch darzustellen. Er diskutiert die Frage, welche Befunde die jeweiligen Theorien stützen oder zu ihnen im Widerspruch stehen und wie dieses Wissen zur Reduktion von Vorurteilen eingesetzt werden kann.5 In der Aufsatzsammlung von Petersen und Six werden Stereotype, Vorurteile, soziale Diskriminierung, Prävention und Interventionen in systematischer Absicht thematisiert.6 Zentral ist für alle Beiträge die Frage: „Welche Folgen haben Vorurteile und Stereotype auf
3 Eliade, Mircea: Die Sehnsucht nach dem Ursprung, 1973 S. 208 und S. 83 f. 4 Vgl. Thomas, Alexander: Bedeutung und Funktion sozialer Stereotype und Vorurteile für die interkulturelle Kooperation, 2000 S. 16 f. 5 Vgl. Zick, Andreas: Vorurteile und Rassismus, 2012. 6 Vgl. Petersen, Lars-Eric und Bernd Six (Hrsg.): Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung, 2008.
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6. Theoretische und praktische Hindernisse interkultureller Kommunikation
Wahrnehmung, Denken und Handeln von Menschen insgesamt und welche auf die Kommunikation insbesondere?“ Erklärungsversuch: Stereotype sind persönlich-negative, ablehnende Beurteilungen oder persönlich-positive, aufwertende Beurteilungen, die generalisiert werden. Dies beschränkt sich nicht nur auf X oder Y aus einer Kultur oder einer Gruppe, sondern umfasst alle Menschen aus dieser oder jener Kultur.
Wie weiter oben erwähnt, ist zwischen Vorurteilen und Vor-Urteilen zu unterscheiden: Erklärungsversuch: Vorurteile sind persönlich-negative, ablehnende Beurteilungen oder persönlich-positive, aufwertende Beurteilungen, die einem Menschen, einer Menschengruppe oder einem Sachverhalt gegenüber gepflegt werden.
Das folgende Beispiel von David Livingstone (1813–1873) zeigt die kommunikationsbeherrschende Macht, Rolle und Funktion des Vorurteils: Beispiel: Livingstone ging 1840 nach Afrika, um in verschiedenen Stammesgebieten zu wirken. Als er nach einem Aufenthalt bei den Khoikhoin zu den Betschuanen weiterwandern wollte, wiesen ihn die Khoikoin darauf hin, die Betschuanen seien nicht so friedlich wie sie. Darauf entgegnete er: „Ihr kennt die Betschuanen nicht. Aus diesem Grunde fürchtet ihr sie. Ihr müsst eure Nachbarn kennenlernen.“ Livingstone ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen und wurde von den Betschuanen freundlichst aufgenommen. Als er zu den Zulus weiterwandern wollte, wurde er, diesmal von den Betschuanen, gewarnt, die Zulus wüssten nichts von deren Frieden. Livingstone entgegnete: „Ihr fürchtet die Zulus, weil ihr sie nicht kennt.“7
Die Geschichte geht weiter; Livingstone erfährt immer wieder das Gleiche. Aus unserem Alltag kennen wir bestimmt solche Situationen. Livingstone demontiert unsere Selbst- und Fremdwahrnehmung und die Feindbilder, die uns beherrschen. Er demonstriert die Soziologie des Unvermögens, mit dem kulturell und religiös Andersdenkenden zu sprechen. Es geht um den menschlichen Egoismus und die Ethnologie der Selbstliebe, die Feindseligkeiten hervorrufen und Kriege verursachen. Diskussionen über Werte, Normen, Politik, Religion und das Kopftuch werden meist von Erwachsenen geführt, während Kinder ihre Umgebung mit erstaunlicher Offenheit akzeptieren. Kinder vergleichen zwar zunächst die Verhältnisse mit den Erfahrungen, die sie durch ihre Eltern mitgeteilt bekommen, sie passen sich aber sofort an, sobald sie erfahren, dass in anderen Ländern andere Sitten und Lebensentwürfe herrschen, die zwar unterschiedlich sind, aber nicht radikal anders. Psychologischen Studien zufolge bildet sich das Zugehörigkeitsgefühl zu einer ethnischen Gruppe um das fünfte Lebensjahr heraus, und Kinder beginnen, die Unterscheidungen und Vorurteile ihrer Eltern zu übernehmen. Die Schulen haben mit Vorurteilen zu kämpfen, welche die Kinder dorthin tragen. Was geschieht, wenn solche Haltungen in der Gesellschaft, in der Familie, in der Berufswelt und natürlich auch in den internationalen Beziehungen zur Regel werden? Dass Vorurteile in kleinen wie in großen Staatsgebilden existieren, beschreibt Dubravka Ugresˇic´ (*1949) nach dem Auseinanderfallen des jugoslawischen Staates folgendermaßen:
7 Cottler, J. und Jaffe, H.: David Livingstone, 1950 S. 8.
6.2 Zur Rolle der Vorurteile
151
Beispiel: „Ich hatte eine interessante Kindheit, umgeben von Slowenen, die geizig waren, […] Mazedoniern, die Paprika fraßen, Bosniern, die dumm waren, Albanern, die nicht zu den Menschen zählten, Muslimen, die sechs Zehen hatten, Italienern, die lebende Katzen fraßen.“ Bei der Auflösung ihres Landes dachte die Autorin solchen Vorurteilen zu entkommen, aber ihre Erwartungen wurden enttäuscht. Auch im vereinten Europa war sie umgeben von „arroganten Franzosen, knickrigen Holländern, Engländern, die nichts verstehen, dreisten Türken, [und] Marokkanern, die stehlen wie die Raben“.8
Dieses Beispiel der negativen Bewertungen verdeutlicht, dass Vorurteile überall zu Hause sind. Sie dominieren unser Vorverständnis und damit unser Verhalten. Wie folgt lässt sich die Struktur des Vorurteils visualisieren: Dimensionen der sozialen Einstellung
Kognition
Emotion Verhalten
Vorurteil
Stereotyp
Typisiertes Wissen
Typisierte Emotion
Typisiertes Verhalten
Andere sind: ungebildet
Über andere: Ablehnung
Im Umgang: meiden
kriminell
Verachtung
dulden
aggressiv unehrlich
Mitleid Exotisierung
kritisieren beschuldigen
Schwierigkeiten können ohne eine grundsätzliche Veränderung in den Überzeugungen und Einstellungen nicht minimiert oder beseitigt werden. Störungen treten dann auf, 1. wenn von vornherein eine gegenseitige Skepsis den Dialog beherrscht, 2. wenn die Bereitschaft nicht vorhanden ist, selbstkritisch zu reflektieren, 3. wenn Geringschätzung des Anderen kaum zulässt, in ihm etwas Positives zu sehen und von ihm etwas Positives zu lernen, 4. wenn Feindbilder gepflegt und geschürt werden und Gespräche dazu dienen sollen, Voreingenommenheiten und Vorurteile zu bestätigen,
8 Ugresˇic´, Dubravka: Arrogante Franzosen, knickrige Holländer, in: Die Zeit, Nr. 30 vom 17.07.2003 S. 11.
152
6. Theoretische und praktische Hindernisse interkultureller Kommunikation
5. wenn die Absicht besteht, den Anderen auf die Anklagebank zu setzen und ihn zu verurteilen, 6. wenn von einer Geographie des Denkens ausgegangen wird (dazu später mehr), in der das exotisch-schwärmerische Denken dem Anderen zugeschrieben und das eigene Denken für analytisch gehalten wird.
Während Vorurteile Destruktivität hervorbringen und zu unversöhnlichen Haltungen führen können, sind Vor-Urteile für das Kennenlernen des Anderen grundlegend: Erklärungsversuch: Ein Vor-Urteil beschreibt ein allgemeines oder spezifisches Vorverständnis von einem Sachverhalt, einem Menschen oder einer Menschengruppe usw. Es handelt sich stets um eine vorläufige Meinung, die weder positiv noch negativ sein muss. Mit dem Ausdruck „Vor-Urteil“ ist eine revidierbare Erwartungshaltung bzw. eine Wahrscheinlichkeitskalkulation über etwas verbunden.
Vor-Urteile sind notwendig, weil sich der Mensch stets eine Vorstellung davon macht, wie eine Sache zu beurteilen ist. Er ist bemüht, die Welt auf ein handliches Format zu bringen, um ein gewisses Vorverständnis zu entwickeln. Ob er dabei apozyklisch oder enzyklisch verfährt und die Kontextualitäten, sowie Situativitäten und Individualitäten beachtet, hängt mit seiner Einstellung und Intention zusammen. Insofern beschreiben Vor-Urteile eine Haltung, in der man über einen Sachverhalt zunächst alle erreichbaren Informationen zusammenträgt und sich hieraus eine vorläufige Meinung bildet. Aufgrund der Erkenntnis, dass die Informationsbeschaffung auf Vorwissen und früheren Erfahrungen beruht und die zunächst erreichbaren Quellen selektiv oder gar parteiisch sein können, enthält man sich im Idealfall einer positiven oder negativen Bewertung. Nicht eindeutig einzuordnen sind Vor-Urteile als Stereotype ohne weitere Wertung. Sie beschreiben eine Eigenschaft oder Verhaltensweise, die bestimmten Gruppen zugeschrieben wird, um bestimmte Eigenschaften karikierend hervorzuheben und zu verallgemeinern. Wir alle kennen solche Stereotype wie: „Deutsche essen Sauerkraut“, „Italiener tragen Schnurrbärte“ oder „Engländer tragen immer einen Regenschirm mit sich.“ Die Tauschfamilien werden bei ihren Erkundungen die Möglichkeiten und Grenzen der Inklusivität und Exklusivität sowie Vorurteile kennenlernen und gemeinsam Wege und Umwege gestalten, die gemäß den kontextuellen Umständen und Unterschieden zu einer integrativen Verständigung führen können. Sie werden erfahren, dass Vorurteile den Grundvorgang interkultureller Kommunikation strukturell stören oder gar unmöglich machen. In diesem Wissen ist es bei unseren Tauschfamilien von Nutzen, sich von Beginn an zu vergegenwärtigen, von welchen Vor-Urteilen sie im Hinblick auf ihr jeweiliges Gastland beeinflusst sind, und diese einer besonders aufmerksamen Prüfung zu unterziehen. Sie haben nun die Gelegenheit, diese vorläufigen Meinungen in der Praxis vor Ort zu überprüfen. Bei ihren Beobachtungen merken sie allmählich, dass intrakulturelle Divergenzen, etwa Konflikte zwischen einem Elternteil und seinem Kind, die beide gleicher Nationalität sind, bisweilen schwerer wiegen können und manchmal faktisch größer sind als Unterschiede, die man in interkulturellen Kontexten anzunehmen vermag. Weiterhin werden die Tauschfamilien feststellen, dass wir nicht alles auf intrakulturelle oder interkulturelle Divergenzen und Konvergenzen reduzieren können. Die Vorstellung, nur Unterschiede könnten Konflikte herbeiführen, ist unzutreffend, weil Ähnlichkeiten ebenfalls konfliktträchtig sind. Die Tauschfamilien entwickeln durch diese interkulturel-
6.3 Zur Geographisierung des Denkens
153
len Gegebenheiten eine Reihe von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die nahelegen, das eigene Regelsystem nicht für selbstverständlich zu halten. Dieser Prozess des interkulturellen Lernens, indem viele Vor-Urteile ineinandergreifen, befähigt dazu, andere Perspektiven auf dem Weg zu einer interkulturellen Kommunikation durch Empathie einzunehmen, zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Kulturelle und interkulturelle Bildung bedingen sich auf diesem Wege der Aneignung gegenseitig. Beide vermitteln Schlüsselkompetenzen, welche für die Kommunikation von größter Bedeutung sind.
6.3
Zur Geographisierung des Denkens
Wenn wir die bisherigen Erkenntnisse Revue passieren lassen, so wird ersichtlich, dass Macht einen bedeutenden Einfluss auf die Theorie und Praxis der Kommunikation hat. Macht und Gewalt sind, anders ausgedrückt, zwei wesentliche Faktoren, die zwischenmenschliche Kommunikationsformen beeinflussen, verhindern oder determinieren können. Dies zeigt sich besonders dort, wo Interessen und Einfluss im Spiel sind, wo unterschiedliche Konzepte und Sichtweisen aufeinandertreffen oder diverse Achsen konstruiert werden. Merke: Im Folgenden geht es um die Beantwortung der Frage, ob und inwieweit eine Geographisierung des Denkens bzw. Annahme einer west-östlichen Vernunft ein Hindernis für interkulturelle Kommunikation darstellt.
Man könnte zunächst annehmen, dass es bei diesem Forschungsfeld darum geht, unterschiedliche Denkstile zu erforschen, die darauf zurückzuführen sind, dass Menschen unter bestimmten geographischen Bedingungen unterschiedliche Aufgaben zu bewältigen haben. Ein Nomade benötigt zur Bewältigung seines Alltagslebens andere Fertigkeiten als der Großstadtmensch. Dies geht aber in der Regel mit der Unterstellung einher, Nomaden dächten holistisch und damit defizitär, während wir analytisch und linear denken. Erklärungsversuch: „Geographisierung des Denkens“ bedeutet, anzunehmen, dass es bspw. Kulturregionen gibt, in denen Menschen holistisch denken bzw. handeln, und es andere Kulturgebiete gibt, wo Menschen linear-analytisch denken bzw. handeln.
Dieses Thema betrifft die Frage, ob menschliches Denken gleichförmig verläuft und auf genetisch verankerten Mechanismen beruht oder ob es vielmehr von kulturellen Prägungen, d. h. durch externe Faktoren wie Tradition, Religion oder Weltanschauung beeinflusst wird. Hierzu einige Beispiele: Richard Nisbett (*1955) und Simon Ehlers (*1967) vertreten den Ansatz, dass das Denken im Osten und im Westen grundsätzlich verschieden ist. Nach Nisbett unterscheidet sich das charakteristische Denken unterschiedlicher Gruppen erheblich, und zwar aufgrund verschiedener Vorstellungen von der Natur, der Welt und der Metaphysik. Denkprozesse hängen stark von den Vorstellungen des Diesseits und
154
6. Theoretische und praktische Hindernisse interkultureller Kommunikation
Jenseits ab, aufgrund derer die menschliche Erkenntnis der Welt einen Sinn gibt. Dieser Annahme nach hätten sich seit Tausenden von Jahren im Wesentlichen zwei unterschiedliche Denkmodelle entwickelt9: Merke: Der Ansatz von Richard Nisbett: Zum einen das Denkmodell des Westens, das an logisch-analytischem Denken und an einem individualistischen Menschenbild orientiert ist. Zum anderen das Denkmodell des Ostens, dem eine Orientierung an einem übergreifenden Ganzen und an der Einbettung des Individuums in Gemeinschaften zugrunde liegt.
Auf der Grundlage von Nisbetts Klassifizierung ist westliches Denken vorwiegend analytisch, begrifflich stringent und sachlich ausdifferenziert, während östliches Denken vorwiegend holistisch ausgerichtet ist. Damit geht das Vorurteil einher, dass Asiaten und vor allem Orientalen schwärmerisch-exotisch denken. Merke: Diese Erkenntnis Nisbetts rührt daher, dass er einige Asiaten und einige Europäer/Amerikaner auffordert, die Ausdrücke „Huhn“, „uh“ und „Gras“ miteinander in Verbindung zu bringen. Die Assoziation einiger Asiaten sei gewesen, die Kuh fresse das Gras. Auf die gleiche Frage hätten die Europäer/Amerikaner eher Huhn und Kuh in Verbindung gebracht mit der Begründung, diese seien Lebewesen.
Nisbett hält die Ergebnisse dieses empirischen Experiments für repräsentativ und schlussfolgert, dass Asiaten holistisch denken, weil sie nach einer kosmischen Verbindung suchen, während die Europäer/Amerikaner nach Strukturen suchen, weil sie analytisch denken. Ehlers stellt in Anlehnung an Nisbett fest: „Ob wir logisch und linear oder eher flexibel und dialektisch denken, hängt vor allem davon ab, ob wir im Westen oder im Osten zu Hause sind. Asiaten betrachten die Dinge komplexer und ‚kreisförmiger‘ als die analytisch denkenden Europäer und Amerikaner.“10 Ehlers unterteilt West-Ost-Sichtweisen mehrfach, hiervon sind vier Arten von Bedeutung: Merke: Der Ansatz von Simon Ehlers: Für die analytisch denkenden Europäer und US-Amerikaner gilt die Welt „als relativ einfach und übersichtlich, man muss sie lediglich in Bestandteile zerlegen und deren Gesetzmäßigkeiten entdecken. Die Welt ist einigermaßen statisch und stabil. Man geht von Gesetzen aus, die über den Moment hinaus gültig sind und bei denen sich die Dinge nicht oder nur in berechenbarer Weise verändern.“.“ Für die ganzheitlich denkenden Asiaten ist die Welt „kompliziert, voller Wechselwirkungen und Abhängigkeiten. Nur Erkenntnisse mit direktem praktischen Nutzen sind wichtig. Das Weltgeschehen verläuft dynamisch und zyklisch. Die Dinge sind einem ständigen Wandel unterworfen.“ Der analytisch denkende Europäer/US-Amerikaner empfindet sich „als unabhängiges Individuum, das eigene Pläne hat und diese gegen die Interessen anderer durchsetzt.“ Die ganzheitlich denkenden Asiaten sehen sich „als Teil der sozialen Gemeinschaft, in der kollektive Ziele Priorität haben und in der man sich anpasst, um ein harmonisches Zusammensein sicherzustellen.“
9 Vgl. hierzu die empirische Studie von Nisbett, Richard E.: The Geography of Thought, 2003. 10 Ehlers, Simon: Der Kreis und die Linie. Die Geografie des Denkens. In: PSYCHOLOGIE HEUTE 2/2004 S. 48 f.
6.3 Zur Geographisierung des Denkens
155
Ehlers generalisiert eine Haltung, die jenseits kultureller Zugehörigkeiten, von Individuum zu Individuum, ob im Westen, Süden, Osten oder Norden, sehr verschieden sein kann. Statistische Erhebungen, die sich qualitativ oder quantitativ auf eine bestimmte Gruppe von Menschen beschränken, reichen nicht aus, um auf Milliarden von Menschen dieser Hemisphären bezogen zu werden. Dies kann es nur geben, wenn wir Kulturen willkürlich als „geschlossene Systeme“ betrachten, die sich weder theoretisch noch praktisch vertragen. Das Gleiche gilt auch für die Untersuchung Nisbetts. Diese als eurozentrische Sichtweise kritisierte Behauptung gilt es zu überwinden. Gernot Böhme (*1937) pflichtet dennoch solchen Theorien bei und behauptet, „daß selbst der Versuch der Überwindung des Eurozentrismus eurozentrisch bleibt, denn er wird mit den Mitteln der Wissenschaft unternommen. Wissenschaftlich an solche Probleme heranzugehen ist eine typisch europäische Manier, und der Typ dieser Wissenschaft ist bis in die Begriffe und Erhebungsmethoden hinein von europäischer Kultur und Weltauffassung geprägt.“11 Nach den Theorien von Nisbett und Ehlers werden unsere Tauschfamilien erhebliche Schwierigkeiten haben, weil sie unterschiedlich denken und dementsprechend handeln. Diese stellen aber fest, dass es sich hier um Konstrukte und nicht generalisierbare Behauptungen handelt, die kulturchauvinistischer Natur sind. Merke: Eine interkulturelle Sichtweise ist in Theorie und Praxis darauf ausgerichtet, alle zentristischen Formen des Denkens, des Redens und des Handelns sowie eine Geographisierung des Denkens zu überwinden.
Oskar Weggel (*1935) hält dichotomisierende Theorien für problematisch, die von einer Geographisierung des Denkens ausgehen. Das Ergebnis einer solchen Auffassung wird in der Regel sein: „Hier analytisch, logisch und materialistisch, dort synthetisch, intuitiv und spirituell, hier objektiv, aktiv und dynamisch, dort subjektiv, passiv und statisch, hier intellektuell, dort emotional, hier ‚Zugewandtheit zu den Dingen‘, dort ‚Eskapismus‘, hier Betonung des Raums, dort Bevorzugung der zeitlichen Dimension und dergleichen mehr.“12 Auch Rolf Arnold (*1952) kritisiert den alleinigen Universalitätsanspruch der „abendländischen Vernunft“, die als Maßstab aller Vergleiche angesehen wird. Nach diesem Muster werden außereuropäische Verhaltensweisen als „defizitär“ marginalisiert. Arnold bezeichnet solche Ansprüche als „kulturbedingte Trugschlüsse“. Damit weist er darauf hin, dass nicht nur die „Fremden“ in ihrer kulturellen Eigenart unreflektiert befangen sind.13 Eine konstruierte Geographisierung des Denkens, die auch generalisiert wird, ist empirisch unangemessen; mit diesem Diskurs geht die Degradierung des Anderen zum Projektionsobjekt Hand in Hand. Beide Denkmodelle, sowohl das angeblich analytische wie auch das angeblich holistische, sind in allen Kulturräumen anzutreffen, weil analytisches und synthetisches, zergliederndes und zusammenführendes Denken zwei Momente des Erkenntnisprozesses des Menschen darstellen, dies jenseits seiner kulturellen Zugehörigkeit. 11 Böhme, Gernot: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1985 S. 222. 12 Weggel, Oskar: Die Asiaten, 1989 S. 187. 13 Arnold, Rolf: Interkulturelle Berufspädagogik, 1991 S. 41 ff.
156
6. Theoretische und praktische Hindernisse interkultureller Kommunikation
Zwei weitere Denkaufgaben sollen die Unterredung der Tauschfamilien verdeutlichen: Merke: Wir bekommen den Auftrag, fünfzig Menschen aus fünf Kontinenten (aus Wissenschaft, Gesellschaft und Politik) nach einem bestimmten Muster zu befragen: Wie sie die Welt wahrnehmen und wie sie die Stellung des Menschen in der Natur betrachten. Zu welchem Ergebnis würden sie unter dem Aspekt der Familienähnlichkeit kommen?
Um die Konsequenzen dieses Experimentes zu verdeutlichen, bekommen wir einen zweiten Auftrag: Merke: Dieses Mal geht es darum, fünfzig Menschen aus fünf Bundesländern in Deutschland oder im Iran (aus Wissenschaft, Gesellschaft und Politik) daraufhin zu befragen: Wie sie die Welt wahrnehmen und wie sie die Stellung des Menschen in der Natur betrachten. Zu welchem Ergebnis würden sie unter dem Aspekt der Familienähnlichkeit kommen?
Theoretischer Empirismus wird dann problematisch, wenn Statistiken verallgemeinert werden oder wenn sie zu operationalen Dichotomisierungen führen. Das Problem liegt nicht in erster Linie in der Suche nach Verallgemeinerungen, Mustern und qualitativen Aussagen, sondern in der totalisierenden Verwendung solcher Ergebnisse. Generalisierte oder operational dichotomisierte Analysen führen zu starren und sterilen Schlussfolgerungen, die weder repräsentativ sind noch der Wirklichkeit entsprechen. Sie können auch dazu missbraucht werden, um bestimmte fixierte Positionen zu stützen. Jitendra Nath Mohanty (*1928) stellt in diesem Sinne fest, dass häufig versucht wird, das als intuitiv-mystisch klassifizierte östliche Denken und das als rational-logisch eingestufte westliche Denken gegeneinander auszuspielen und dem östlichen Denken seine Minderwertigkeit vor Augen zu führen. In den Zeiten des Kolonialismus nahmen die eroberten Länder tatsächlich diese Rolle an und es ergab sich ein Teufelskreis im Sinn einer „self-fulfilling prophecy“.14 Das Schaubild auf der Folgeseite verdeutlicht diesen Teufelskreis, den man als ein Differenzmodell bezeichnen kann. Unsere Tauschfamilien in beiden Ländern entdecken bei einer Unterredung das Problem, dass viele Dissonanzen nicht kulturell, sondern individuell bedingt sind. Nach dem Abendessen unterhält sich die Familie in Berlin über die Orientgeschichten von Karl May und ähnlichen Autoren. Der Vater sagt zu der iranischen Frau, dass wir mit dem Orient den fliegenden Teppich aus „Tausendundeiner Nacht“ und „Ali Baba und die vierzig Räuber“ verbinden. Auch unsere Wissenschaftler seien der Meinung, dass Menschen in heißen Ländern sehr fantasievoll seien, während die Menschen aus temperierten Zonen eine klarere Weltsicht pflegten. Wenn man den Vater fragt, sagt er, er sei sehr froh, Nordeuropäer zu sein, denn Nordeuropäer seien berechenbar, genau und pünktlich. Die iranische Mutter, die über diese Aussage aufgebracht ist, meint, Karl May sei doch kein Orientale gewesen, obwohl er so fantasievolle Erzählungen verbreitet habe, die der Wahrheit kaum gerecht würden. Die genannten Geschichten seien nur ein Bruchteil einer Weltliteratur, die man in Europa nur teilweise kenne. Der deutsche Vater könne, als ein stolzer Nordeuropäer, die Literatur eines Kontinentes nicht auf drei Bücher reduzieren und hieraus ein Urteil über den gesamten Kontinent fällen. Soweit sie wisse, schlügen momentan in Europa zahlreiche fantastische Erzählungen Kinder und Erwachsene glei14 Vgl. Mohanty, Jitendra Nath: Philosophie zwischen West und Ost, 2006 S. 287 ff.
6.3 Zur Geographisierung des Denkens
157
Westliches Denken 1. 2. 3. 4. 5.
Es fühlt sich bevormundet und missverstanden: Dialoghindernis!
linear-individualistisch vorwiegend analytisch begrifflich stringent sachlich ausdifferenziert zuverlässig und gründlich
Differenzmodell
1. 2. 3. 4.
Es dichotomisiert, hierarchisiert, idealisiert und verallgemeinert.
Östliches Denken 1. 2. 3. 4.
holistisch-kollektivistisch vorwiegend kreisförmig begrifflich eher vage schwärmerisch und unpräzise
chermaßen in ihren Bann. Sie habe im Schaufenster die Harry-Potter-Bände gesehen, in denen anstelle des fliegenden Teppichs fliegende Besen das bestimmende Fortbewegungsmittel sind. Diese Unterredung macht deutlich, dass einer Geographisierung des Denkens und Handelns ein geschlossener Kulturbegriff zugrunde liegt. Wir exotisieren uns gegenseitig, wenn wir unser Denken und unsere Wahrnehmung auf bestimmte literarische Formen reduzieren. Rationales und vages Denken gehen in allen Kulturregionen eine Mischung ein. Dass dennoch versucht wird, das Denken zu geographisieren, ist zum einen auf historisch gewachsene Vorurteile zurückzuführen, in denen häufig starke Dichotomisierungen vorkommen, zum anderen spielt in diesem Kontext die Macht eine zentrale Rolle. Abdolhossein Zarrinkoub (1923–1999) und Hajime Nakamura (1911–1999) kritisieren alle Formen einer Geographisierung des Denkens. Zarrinkoub setzt sich in seiner Schrift „Na sharghi, na gharbi – ensani“, „Weder östlich noch westlich – menschlich“ mit dualem Denken auseinander und hält eine geographisierende Interpretation des Denkens und Handelns der Völker für gewalttätig. Alle Kategorisierungen, die von einem „Ich“ und „Du“ bzw. „Wir“ und „Ihr“ ausgehen, machen Differenzen zur Grundlage der Kommunikation und bewirken damit das Gegenteil: „Diejenigen, die das Morgenland und Abendland wie Schwarz und Weiß voneinander trennen, leugnen oder übersehen das ununterbrochen dialektische Verhältnis der Dinge überhaupt, insbesondere aber der Kulturen.“ Er schlägt einen Mittelweg vor: „Wir müssen das Andere ernst nehmen, das uns bereichert, aber dennoch unseren Weg alleine bestreiten.“15 Nakamura argumentiert ähnlich. Nach ihm sind „Osten“ und „Westen“16 keine homogenen Blöcke, sondern es handelt sich hier um enorm große Gebiete, die aus höchst unter15 Zarrinkoub, Abdolhossein: Na sharghi, na gharbi – ensani, 2001 S. 27 f. 16 Vgl. Nakamura, Hajime: Ways of thinking of Eastern peoples, 1978.
158
6. Theoretische und praktische Hindernisse interkultureller Kommunikation
schiedlichen kulturellen Kontexten mit inneren Differenzierungen zusammengesetzt sind. Er kommt zu dem Schluss, „innerhalb des Ostens seien die Verschiedenheiten der Kulturen zumeist größer als die Gemeinsamkeiten, und so sei es eigentlich nicht zulässig, den Osten als Einheit dem Westen gegenüberzustellen.“17 Merke: Die Unterstellung einer vermeintlich empirisch nachweisbaren Geographisierung des Denkens ist eine Vorgehensweise zur Abgrenzung westlicher und nichtwestlicher Kulturregionen. Die Tauschfamilien werden diesen Geltungsanspruch dekonstruierend unter Berücksichtigung der Verflechtung kultureller Kontexte hinterfragen, um den Dialog aufrechterhalten zu können.
6.4
Zur positiven und negativen Macht
Der Wille zur Macht schlummert in allen Menschen. Formen der Macht lassen sich überall in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft beobachten. Wo sich der Mensch befindet, ob als Führungsperson oder Untergebener, als Hochschullehrer oder Eltern, dort existiert auch Macht. Die Kategorie der Macht lässt sich nicht abgekoppelt vom menschlichen Leben betrachten. Macht potenziert die Wirksamkeit des Menschen, dies unabhängig davon, ob sie förderlich oder verletzend, verbindend oder trennend ausgelebt wird. Schon Gorgias von Leontinoi (etwa 480–380 v. u. Z.) hatte die Überredung, die Macht des Wortes, neben der nackten Gewalt als eine Form der Macht verstanden. Eine Reihe von Studien beschäftigt sich mit der Frage nach Macht, auf die hier nicht eingegangen werden kann.18 Mir geht es ausschließlich um die Analyse der Frage, wann, wo und wie die Dominanz der Macht Diskurse determiniert und deren Grenzen bestimmt. Molla Sadras (1571–1640) vortreffliche Erklärung der Macht lässt die zentralen Dimensionen meiner Analyse auf die Formel bringen: Erklärungsversuch: „Die Macht ist eine dispositio des Lebewesens, durch deren Vermittlung eine Handlung aus ihm hervorgehen kann, wenn es will. Ihr Kontrarium ist die Machtlosigkeit. Nach den verschiedenen Handlungen ist die Verschiedenheit der Arten der Macht zu bemessen. Letztere ist eine Eigenschaft, die in ihrem Wesen eine Potentialität ausdrückt und sich zum Handeln oder Nichthandeln indifferent verhält. Der Wille hebt diese Indifferenz auf, wenn er von außen hinzutritt. Die Macht aber, die identisch mit der Erkenntnis des Guten ist, ist frei von Potenzialität für das Handeln.“19
Molla Sadra weist mit diesem Erklärungsversuch darauf hin, dass der Mensch sowohl das Gute als auch das Böse ins sich trägt. Es ist der freie Wille, der ihm die Möglichkeit gibt, sich für das Eine oder Andere zu entscheiden. Der Mensch hat folglich die Möglichkeit, von seiner Macht positiven oder negativen Gebrauch zu machen. Max Weber konzentriert sich bei der Klärung seines Machtbegriffs weniger auf die psychologischen Dimensionen als vielmehr auf die soziologische Bedeutung:
17 Maletzke, Gerhard: Interkulturelle Kommunikation, 1996 S. 40. 18 Hier sei grundsätzlich verwiesen auf: Vgl. Hamm, Bernd (Hrsg.): Gesellschaft zerstören, 2004; Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, 2010 S. 38 und Gerdsen, Peter: Das moralische Kostüm geistiger Herrschaft, 2013. 19 Molla Sadra: Das philosophische System von Schirazi, 1913 S. 107.
6.4 Zur positiven und negativen Macht
159
Erklärungsversuch: „Macht bedeutet jene Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“20
Weber hält den Begriff der Macht als eine politische Kategorie in diesem Zusammenhang soziologisch für amorph. Macht wird hier als eine Fähigkeit verstanden, den eigenen Willen situations- und kontextbedingt, notfalls auch gegen den Willen des Anderen, argumentativ oder gewaltsam durchzusetzen, wobei Gewalt eine theoretische und eine praktische Dimension hat. Diese Form der Machtausübung lässt sich im sozialen, politischen oder wissenschaftlichen Kontext unterschiedlich beobachten. Nach diesem Vorverständnis hat der Machthabende alle Fäden in der Hand: Er kann verteufeln, muss es aber nicht, kann vergeben, muss es aber nicht, kann versklaven, muss er aber nicht. Der Machthabende kann somit eigenmächtig bestimmen, ob und inwieweit er von seiner Macht Gebrauch machen will. Wer somit Macht hat, kann über ‚…‘ verfügen. Dieses Vorverständnis geht mit diversen Formen der Machentfaltung einher, die in vielerlei Hinsicht interessengebunden ist: Interessen, die friedlich sind, oder solche, die kämpferisch oder sogar zerstörerisch sein können. Die Frage nach der Ausübung der Macht ist stets in einem kontextuellen Zusammenhang zu betrachten. Hat ein Mensch in einem Kontext keine Macht, so kann er in einem anderen Kontext mächtiger als die übrigen sein. Betrachtet man einen Schüler, der aufgrund seiner geringen Körpergröße gehänselt wird und sich nicht recht verteidigen kann, der aber gleichzeitig der führende Schachspieler seiner Schule, seiner Stadt oder seines Landes ist, so wird ersichtlich, dass er zwar in einem Kontext keine Macht besitzt, aber in einem anderen Kontext durch Überlegenheit Macht über andere ausüben kann. Jeder Mensch, der Macht in sich entdeckt, wird irgendwie, gemäß seiner inneren Ressourcen und soziokulturellen Hintergründe, zum Pokerspieler seiner selbst, und er spielt oft mit seiner Existenz. Wesensunterschiede der positiven und negativen Macht Um diese für die interkulturelle Kommunikation wichtige Frage beantworten zu können, unterscheide ich zwischen einer positiven und negativen Machtform. Erklärungsversuch: Negative Macht ist eine Fähigkeit, die darauf ausgerichtet ist, alles nach einer apodiktischen Selbstgesetzgebung, ohne Rücksicht auf die Interessen des Anderen, zu beherrschen, dies in Politik, Gesellschaft und Wissenschaft.
Negative Macht verfährt zentristisch. Sie ist in der Regel theoretisch wie praktisch gewalttätig. Viele Konflikte und Kriege fußen auf einem solchen Machtbegriff, der nur so verstanden werden will: Die Macht des Eigenen strebt die faktische Ohnmacht des Anderen an. Eine solche Hermeneutik der Macht agiert auf der Basis eines doppelten Menschenbildes: eines Menschenbildes erster Ordnung, das sich auf das Eigene bezieht und von diesem aus sein Verhältnis zum Anderen definiert. Das Menschenbild zweiter Ordnung ist dem
20 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, 2010 S. 38. Weber unterscheidet zwischen Macht und Herrschaft. Herrschaft bedeutet als eine Sonderform der Macht, die einen umfassenden Charakter besitzt, „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei festgelegten Personen Gehorsam zu finden“. Ebenda, S. 38. Dies zeigt sich in dem Verhältnis zwischen dem Soldaten und seinem Befehlshaber, der zwar räsonieren darf, aber gehorchen muss.
160
6. Theoretische und praktische Hindernisse interkultureller Kommunikation
ersten untergeordnet, so untergliedert sich die Menschheit in Menschen erster und zweiter Klasse. Der Weltphilosoph Karl Jaspers bringt die Kategorie der negativen Macht wie folgt zum Ausdruck: Merke: „Jederzeit richtet im Geschehen der menschlichen Dinge die Macht. Sie wählt aus, verwirft, lässt vergessen, ruft wieder in Erinnerung. Der Vorrang der Sieger hat die Folge, dass der Besiegte nicht nur seinen Lebensraum, sondern auch sein Wort verliert.“21
Das folgende ungerasterte Schaubild verdeutlicht die Struktur und innere Logik negativer Macht:
Sicherung eigener Hegemonie
Asymmetrische Dialogführung
Theoretische und praktische Gewalt
Zentristisches Verfahren Horizontenverschmelzung
Negative Macht
Dogmatisches Denken und Handeln
Verabsolutierung eigener Perspektive
Konventionen und Rechte verletzten
Weil der Mensch oft bewusst oder unbewusst konfliktgeladen denkt und handelt, kann es eine konfliktfreie Interaktionsform nicht geben. Mit der Verfahrensweise positiver Macht soll jedoch darauf hingewirkt werden, Konflikte zu minimieren. Erklärungsversuch: Positive Macht ist eine Fähigkeit, die darauf ausgerichtet ist, alle möglichen Machtformen einzusetzen, um eine gleichheits- oder gerechtigkeitsorientierte Kommunikation zwischen unterschiedlichen Formen des Denkens und Handelns zu ermöglichen, dies in Politik, Gesellschaft und Wissenschaft.
Positive Macht verfährt pluralistisch, weil die Kontrollmechanismen von Mitgliedern aller Parteien und Diskussionsteilnehmern erarbeitet, getragen und überwacht werden. Sie ist theoretisch wie auch praktisch kommunikativ. Ein solch positives Verhältnis zur Macht befähigt dazu, etwas im Sinn der Gemeinschaft zu verändern und zu gestalten, ohne dem Anderen seinen Freiheitsspielraum zu nehmen. Hier verliert die Vorstellung von der Macht im Zentrum und der Ohnmacht an der Peripherie ihren Boden. 21 Jaspers, Karl: Weltgeschichte der Philosophie, 1982 S. 159.
6.4 Zur positiven und negativen Macht
161
Das folgende gerasterte Schaubild verdeutlicht die Struktur und innere Logik positiver Macht: Zentristismus vermeiden Horizonteüberlappung
Symmetrische Dialogführung
Offenheit gegenüber den anderen
Positive Macht
Argumentatives Denken und Handeln
Theoretische und praktische Gewaltlosigkeit
Konventionen und Rechte schützen Pluralistisches Verfahren
Die gleichzeitige Existenz von positivem und negativem Gebrauch der Macht verweist auf einen Widerspruch im menschlichen Denken, Reden und Handeln. Sigmund Freud (1856–1939) hat diese Diskrepanz und ihre möglichen Gründen eingehend untersucht. In seinem Werk „Das Unbehagen in der Kultur“ sieht er in Kultur den Gegenspieler der menschlichen Triebe und Leidenschaften.22 Merke: Kultur bringt nach Freud soziale Ordnung hervor, richtet Institutionen ein und sichert das Überleben der Menschen. Trotz dieser positiven Aspekte ist der Mensch Zeit seines Lebens bestrebt, die Kultur zu durchbrechen, um seine Triebe zu befriedigen. Das Unbehagen besteht darin, dass Kultur zwar Orientierung und Ordnung bietet, aber zugleich die Entfaltungsmöglichkeiten dieser Triebe derart einschränkt, dass er sich nicht so entfalten kann wie er eigentlich möchte. Nach Freud ist es unmöglich, diese Triebe restlos auszurotten. Kriege in Form von negativer Macht sind Beispiele dieser Art. Hier bringen sich zivilisierte Menschen, die vorgeben, nach moralischhumanistischen Maximen zu handeln, gegenseitig um. Macht wird hier zu einer Instanz, die bestimmt, was legitim bzw. illegitim ist. Freud schlussfolgert, dass es nur Wenigen möglich ist, ihre Triebe und Leidenschaften zu beherrschen.
Das Gespräch zwischen dem griechisch-baktrischen König Menandros (342–290 v. u. Z.) und dem buddhistischen Mönchphilosophen Nagasena (120 v. u. Z.) verdeutlicht die Grenzbereiche der positiven und negativen Macht: Beispiel: Der König sprach: „Ehrwürdiger Nagasena, wirst du weiter mit mir diskutieren?“ „Wenn du, großer König, in der Sprache eines Gelehrten diskutieren wirst, dann werde ich mit dir diskutieren. Wenn du aber in der Sprache des Königs diskutieren wirst, dann werde ich nicht mit dir diskutieren.“ 22 Vgl. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, 1930.
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6. Theoretische und praktische Hindernisse interkultureller Kommunikation
„Wie, ehrwürdiger Nagasena, diskutieren denn die Weisen?““ „Bei einer Diskussion unter Weisen, großer König, findet ein Aufwinden und ein Abwinden statt, ein Überzeugen und ein Zugestehen; eine Unterscheidung und eine Gegenunterscheidung werden gemacht. Und doch geraten die Weisen nicht darüber in Zorn. So, großer König, diskutieren die Weisen miteinander.“ „Wie aber, Ehrwürdiger, diskutieren die Könige?“ „Wenn Könige während einer Diskussion eine Behauptung aufstellen und irgendeiner diese Behauptung widerlegt, dann geben sie den Befehl, diesen Menschen mit Strafe zu belegen. Auf diese Weise, großer König, diskutieren Könige.“ „Ich werde in der Sprache der Weisen diskutieren“, antwortete der König.“23
Menandros geht zunächst von einer negativen Einstellung zur Macht aus und bestimmt die Bedingungen des Dialogs, obschon er sich im Verlauf des Dialogs auf ein positives Verständnis der Macht einlässt und sich dem Sog der vernünftigen Begründung beugt. Nagasena hat von Anbeginn des Dialogs eine positive Einstellung zur Macht und sucht die Macht des Argumentierens. Macht, wie sie Menandros besitzt, definiert Handlungsregeln und erklärt sie eigenständig für allgemein verbindlich. Dieses Verhaltensmuster definiert, wann, wo und mit welchen Methoden Macht Diskurse determiniert. Der eigentliche Unterschied zwischen Menandros und Nagasena besteht darin, dass Menandros aufgrund seines Machtbesitzes jederzeit positiv oder negativ verfahren kann. Nagasena verfügt jedoch nicht über diese Variabilität der Möglichkeiten. Er kann ausschließlich auf positive Macht setzen, weil der König nach seinem Belieben belohnen und bestrafen kann. Ähnlich wie das Gespräch zwischen Menandros und Nagasena, das ein Ausdruck dialogischer Anthropologie ist, ist der Dialogcharakter des Sokrates in den „Platonischen Dialogen“ zu betrachten, in denen der dialogische Erkenntnisgewinn im Vordergrund steht und nicht eine hegemoniale Vernunft, verbunden mit einer Hermeneutik der Macht, die sich stets zum Argument erhebt. Sokrates’ philosophische Lebensführung ist ein weiteres Beispiel der positiven Machtausübung: Beispiel: In seinem Gespräch mit dem Sklaven Menon versucht Sokrates (469–399 v. u. Z.), ihn von der bloßen Mutmaßung zu eigentlichem Wissen zu verhelfen. An dieser Stelle wird die Entfaltung des Wissens als einer bestimmten Form der Machtausübung ersichtlich. Dies konnte der Staat nicht ertragen und warf Sokrates vor, er verderbe die Jugend von Athen, was zu seiner Verurteilung und schließlich zu seiner Ermordung führte.24 Sein Wissen war seine Macht.
Die Dimensionen der positiven und negativen Macht beschränken sich nicht nur auf Politik, sondern sie sind Teil menschlicher Denk- und Handlungsweisen. Dialoge wie der von Sokrates, der sein Wissen als „positive Macht“ einsetzt und selbst Opfer „negativer Macht“ wird, zeigen, dass menschliche Handlungen stets Momente der negativen und positiven Macht enthalten. Ein weiteres Beispiel ist Mahatma Gandhi (1869–1948), dessen gewaltlose Politik zur Unabhängigkeit Indiens führte, der aber wiederum selbst Opfer der Gewalt eines Hindus wurde.
23 Mehlig, Johannes: Weisheit des alten Indien, 1987 S. 347 f. 24 Vgl. Platon: Menon, 1972.
6.4 Zur positiven und negativen Macht
163
Merke: Es ist festzuhalten, dass Macht eine konstruktiv-positive und eine destruktiv-negative Dimension besitzt. Sie ist und bleibt eine zentrale Aufgabe interkultureller Kommunikation, durch die Anwendung positiver Macht die negative Macht zu zügeln und zu minimieren. Bestimmend sind moralische Vorstellung, Intelligenz und Denkweise des Menschen.
Bewaffnete Vernunft Bei der inhaltlichen und strukturellen Bestimmung der sozialen Ordnung hat aufgrund gebündelter Machtverhältnisse nicht jeder Mensch die Möglichkeit, darüber zu entscheiden, was als Ordnung oder Unordnung, Recht oder Unrecht gilt. Daraus folgt, dass oft die Freiheit des Eigenen ein Hauptgrund für die Unfreiheit des Anderen darstellt. An diesem Scheidepunkt wird die Bedeutung der positiven und negativen Macht deutlich: Erstere verfährt symmetrisch und ist bemüht, mit den Divergenzen in der Pluralität von Einstellungen und Überzeugungen kommunikativ umzugehen, während Letztere asymmetrisch ausgerichtet ist und Einheitlichkeit anstrebt. Merke: Die Umsetzbarkeit interkultureller Kommunikation wird durch negative Macht und ihren asymmetrischen Charakter verlangsamt, verhindert oder gar zum Scheitern gebracht.
Samuel P. Huntington ist der Auffassung, dass der Westen die Welt nicht „durch die Überlegenheit seiner Ideen, oder der Werte oder seiner Religion“ eroberte, „sondern vielmehr durch seine Überlegenheit bei der Anwendung von organisierter Gewalt.“ Dabei verweist er darauf, dass „die Westler“ oftmals diese Tatsache ignorieren, während „die Nichtwestler“ sie niemals vergessen.25 Jochen Hörisch (*1951) kritisiert zu Recht diese Haltung der europäisch-westliche Hemisphäre, die von Expansionismus und Kolonialismus geprägt war: „Mitteleuropa arbeitet ab 1800 verstärkt in allen Bereichen an der Austreibung von Pluralitäten […]. Wird doch aus den vielen Sinnen der eine Sinn, aus den vielen Geschichten die eine (Welt-)Geschichte, aus den vielen Wahrheiten die eine Wahrheit, aus den vielen Geistern (und Buchstaben) der eine Geist.“26 Raimon Panikkar (1918–2010) bezeichnet die europäisch-westliche Vernunft als „eine bewaffnete, ungebremste Vernunft“, weil nicht nur über dreißig Millionen Menschen auf diesem Gebiet im Militärdienst sind, sondern weil die Hälfte aller wissenschaftlich-technischen Anstrengungen der Kriegsindustrie dienstbar gemacht werden. Mit dieser Kritik verweist er auf die Notwendigkeit einer interkulturellen Kommunikation, die dadurch verbaut werde. Merke: Echte interkulturelle Kommunikation ist nach Panikkar möglich, wenn man sich in reziproker „Liebe und Sympathie“ zueinander öffnen kann und dabei die wahre Wirklichkeitserfahrung des Anderen sucht und aktiv teilt.27
25 Vgl. Huntington, Samuel P.: Der Kampf der Kulturen, 31997 S. 68. 26 Hörisch, Jochen: Die Wut des Verstehens, 1988 S. 67. 27 Vgl. Panikkar, Raimon: Die Aufgabe der Philosophie angesichts einer bewaffneten Vernunft, 2006 S. 34. Hier sei auf die atomaren Sprengköpfe der USA, Russlands, Frankreichs, Englands, Israels, Indiens, Pakistans und die damit verbundenen Militärausgaben sowie neue Arsenale, die hinzukommen oder diese ersetzen, verwiesen.
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6. Theoretische und praktische Hindernisse interkultureller Kommunikation
Negative Machstrukturen wirken nach Panikkar durch ihren Sieger-Verlierer-Charakter unmittelbar auf die Verhältnisse der Menschen innerhalb und zwischen allen Kulturregionen der Welt: Auf allen Ebenen hat der „Vorrang der Sieger“ zur Folge, „daß der Besiegte nicht nur seinen Lebensraum, sondern auch sein Wort verliert.“28 Ein Charakteristikum dieser Vernunft sei, dass sie mit struktureller Gewalt einhergehe, die eine Verständigung zwischen und innerhalb der Kulturen und Traditionen verhindere. Einschränkend ist zu bemerken, dass die Behauptung Panikkars, alle europäisch-westliche Vernunft sei bewaffnet, nicht generalisiert werden kann. Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass auch hier in allen Kommunikationsformen Momente der negativen und positiven Macht vorhanden sind. Dies besagt, dass es einen herrschaftsfreien Diskurs nur idealtypisch und als regulative Idee geben kann. Johan Galtung und die strukturelle Gewalt Die Theorie der strukturellen Gewalt geht auf den norwegischen Konflikt- und Friedensforscher Johan Galtung (*1930) zurück, der zwischen direkter, kultureller und struktureller Gewalt unterscheidet. Diese Gewaltansätze treten, Galtung zufolge, in drei Erscheinungsformen auf: Merke: Direkte Gewalt verletzt meist körperlich oder tötet die Individuen sogar. Da sie Täter und Opfer kennt, ist sie häufig Gegenstand der politischen und öffentlichen Diskussion. Kulturelle Gewalt dient zur Legitimierung von direkter oder struktureller Gewalt. Sie agiert insbesondere symbolisch und wirkt in Religionen, Ideologien, in Sprache, Kunst, Wissenschaft, Recht, Erziehung und auch in den Medien.29 Strukturelle Gewalt verletzt wechselseitige Bedürfnisse und damit das Völkerrecht. Sie ist verbunden mit dem Kampf der Ideologien und geht mit struktureller Intoleranz einher.30
Strukturelle Gewalt bedeutet, eine Person, eine Gruppe von Menschen, einen Kontinent oder einen Teil der Weltgemeinschaft für unterentwickelt zu erklären und entsprechend zu behandeln. Eine solche Gewalt liegt vor, wenn Menschen bspw. so beeinflusst werden, „dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.“31 Strukturelle Gewalt liegt folglich dann vor, wenn ein Staat, eine Gruppe oder ein Individuum durch Sanktionen oder sonstige Maßnahmen daran gehindert wird, sich gemäß der eigenen Möglichkeiten zu entfalten: Merke: Stellen wir uns einmal vor, die USA entwickeln eine weltmarktbeherrschende Idee und könnten diese weiterentwickeln, um den globalen Markt zu beherrschen. Plötzlich merken die USA durch eine Marktanalyse, dass in Afrika oder woanders auf der Welt die gleiche Idee mit anderen Komponenten bereits entwickelt wird, die zur Unabhängigkeit Afrikas führen könnte. Was würden die USA unternehmen, damit diese Entwicklung unterbunden wird?
28 29 30 31
Jaspers, Karl: Weltgeschichte der Philosophie, 1982 S. 159. Galtung, Johan: Eine strukturelle Theorie des Imperialismus, 1980 S. 29. Vgl. Yousefi, Hamid Reza u. a.: Kultur des Krieges, 2007. Galtung, Johan: Gewalt, Frieden und Friedensforschung, 1971 S. 56.
6.5 Zur ablehnenden Anerkennung
165
Strukturelle Gewalt ist die Folge ungleicher Machtverhältnisse und Lebenschancen, wie sie den europäisch-westlichen Kolonien Jahrhunderte lang aufgezwungen worden sind. Weiterhin ist zwischen religiöser, politischer, theoretischer und praktischer Gewalt zu unterscheiden, die dort praktiziert wird, wo negative Macht den Gehorsam einer bestimmten Denk- und Handlungsform gegenüber verlangt. Alle diese Gewaltformen sind systematische Hindernisse einer transparenten und ergebnisorientierten Kommunikation im Weltkontext.
6.5
Zur ablehnenden Anerkennung
Anerkennung gehört zu den Diskussionsgegenständen interkultureller Kommunikation, weil jeder die Akzeptanz eigener Haltung anstrebt. Was bedeutet aber Anerkennung? Erklärungsversuch: Anerkennung bedeutet, dem Andersdenkenden die Möglichkeit einzuräumen, sich seine Lebensweise, Überzeugung oder Einstellung selbst zu gestalten und sich demnach an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen.
Anerkennung beschreibt das Recht auf Differenz und hat mit der aktiven Akzeptanz dessen zu tun, das jenseits eigener Haltung liegt. Sie bedeutet nicht die Preisgabe eigener Auffassung, die Aufhebung von Unterschieden oder die Assimilierung in eine Gemeinsamkeit, sondern vielmehr die Anerkennung von Andersheit. Auch die „Gleichheit vor dem Recht“ ist keine Reduktion des Anderen auf überlappende Gemeinsamkeiten, sondern auch sie schließt das Recht auf Andersheit ein. Hier stellt sich die Frage, wann eine Forderung nach Anerkennung gerechtfertigt ist und wann nicht.32 Es ist für die Toleranzfrage eine wichtige Überlegung, warum Goethe in seinen „Maximen und Reflexionen“ zu dem Ergebnis kommt, Toleranz sei eine Beleidigung, die zur Anerkennung geführt werden müsse: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“33 Goethe hat hier offensichtlich die Umgangsformen des aufgeklärt-absolutistischen Staates Friedrichs des Großen vor Augen, in dem zwar „jeder nach seiner Fasson“ selig werden durfte, zugleich aber ein Teil der Gesellschaft Toleranzgelder für seine Integration in die Gesellschaft bezahlen musste, nämlich die Juden. Davon war es unabhängig, dass die Juden zu jener Zeit wie Bettler zu keinem Stand gehörten, es sei denn, sie waren Wissenschaftler oder vermögende Kaufleute. Wie Goethe zum Ausdruck bringt, standen die Juden deshalb dem Begriff der Toleranz ablehnend gegenüber und forderten stattdessen Gleichberechtigung und ihre Rechte. Die Forderung Goethes nach der Überführung von Toleranz in Anerkennung ist zwar richtig, aber würde dies nicht zu einer friedlichen Koexistenz führen? Um Anerkennung für die Praxis tauglich zu gestalten und zur Besserung gesellschaftlicher Missverhältnisse muss diese Anerkennung eine Ablehnende sein.
32 Zu dieser Frage hat Axel Honneth eine Studie vorgelegt, in der er versucht, die Problematik der Anerkennung zu typologisieren. Vgl. Honneth, Axel: Verdinglichung, 2005. 33 Goethe, Johann Wolfgang: Maximen und Reflexionen, 2006 S. 872.
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6. Theoretische und praktische Hindernisse interkultureller Kommunikation
Erklärungsversuch: Ablehnende bzw. kritische Anerkennung heißt, den Anderen als Person und als Teil der Gesellschaft unter Bewahrung seiner Würde anzuerkennen, ohne damit die Pflicht zu verbinden, seine Einstellungen und Überzeugungen mit einzuschließen.
Im Gespräch und Austausch der Inhalte und Begründungen lässt sich herausstellen, ob Einstellungen und Überzeugungen miteinander korrelieren können. Die Anerkennung als bedingungslose Pflicht des Anderen in seiner Andersheit wird jedes konstruktive Gespräch im Vorfeld unmöglich machen, weil diese eine solidarische Haltung in Theorie und Praxis voraussetzt. Ablehnende Anerkennung ist kein Alibi des Relativismus, sondern sie ist darauf ausgerichtet, die Diskursteilnehmer bei der Wahrheitssuche zu unterstützen. Ablehnende Anerkennung ist ein gangbarer Weg, der sich auf vielen Ebenen der Politik, Wissenschaft und Gesellschaft wiederfindet. Dies hängt damit zusammen, dass das menschliche Verhalten immer aufgrund seiner Konfliktivität mit ablehnenden Komponenten einhergeht. Das folgende Beispiel verdeutlicht diesen Verständigungsweg: Beispiel: Ich toleriere den Heilsweg und den Anspruch des Zarathustratums, Hinduismus, Buddhismus, Judentums, Christentums und des Islam, obwohl ich diese Religionen für mich ablehne. Und ich muss den Anhängern dieser Religionen die Möglichkeit einräumen, dass sie für sich ihren Heilsweg als absolut behaupten und meine Anschauung als Agnostiker ablehnen. Ablehnende Anerkennung mit ihrem stark tolerierenden Charakter ist in diesem Sinne das Erreichen eines Verhältnisses zum interkulturell Andersdenkenden und Anderserzogenen, das diese akzeptiert, obschon sie mir als Agnostiker keine Lebenserfüllung bedeuten. Dies bedeutet, dass wir uns gleich behandeln, obschon wir nicht gleich sind.
Diese ablehnende Form der Anerkennung erreicht ihre Grenze dort, wo die Anhänger anderer Anschauungen mich gewaltsam durch eine exklusivistische Praxis bekehren wollen und mir meinen Freiheitsspielraum einschränken. Im Fall von Metin Kaplan, der sich ohne Berücksichtigung des Rechtes der anderen kategorisch zum „Kalifen von Köln“ ernannte, zeigt sich, dass eine bedingungslose Anerkennung den zivilgesellschaftlichen Ordnungen nicht förderlich ist. Ablehnende Anerkennung bedeutet, dass man zunächst gegenseitig anerkennen muss, inwiefern man verschieden ist. Die reziproke „Anerkennung der wechselseitigen Unverfügbarkeit ist das normative Prinzip, das für den rationalen Interkulturalitätsdiskurs bestimmend ist“34, und darf nicht als Leugnung von Divergenzen betrachtet werden. Das Selbstverständnis des Anderen wird hier nicht durch das eigene Verständnis vom Anderen ersetzt. Dabei gilt die Bewahrung der eigenen Identität und Wertschätzung anderer Identitäten als eine wichtige Voraussetzung für eine argumentative Kommunikation, ob interreligiös oder interkulturell.35 Anerkennung wird hier in Betrachtung der Beziehung zum Anderen gebraucht. Die Akzeptanz dieser Relation ist der erste Schritt zu einer interkulturellen Kommunikation. Dazu gehört zentral die Wahrnehmung und Pflege der Unterschiede zwischen dem Eigenen und dem Anderen und innerhalb beider sowie in Kontexten, in denen sie sich bewegen, ohne Gemeinsamkeiten zu vernachlässigen. 34 Eirmbter-Stolbrink, Eva und Claudia König-Fuchs: Ideen zur interkulturellen Pädagogik – abgeleitet aus der Erziehungswissenschaft, 2008 S. 19. 35 Vgl. Yousefi, Hamid Reza: Angewandte Toleranz, 2008 S. 109.
6.6 Zwischenbetrachtung
167
Kommunikation ist ein integraler Bestandteil der menschlichen Kultur. Sie scheitert selten auf der Sachebene, sondern vorwiegend auf der Beziehungsebene. Jenseits der Fiktionen eines totalen Konsenses und völligen Dissenses speist sich das Zusammenleben der Kulturen aus den Quellen der Kommunikationsfähigkeit, der Verständnisbereitschaft und der Kompromisssuche. Interkulturelle Kommunikation zeichnet sich dadurch aus, dass jeder darum bemüht ist, die Gedanken des Anderen zu denken und dabei zu beobachten, wie das eigene Denken hierdurch beeinflusst wird. Dadurch entsteht eine kommunikative Wahrnehmung eines mitmenschlichen Ichs. Der Wahrgenommene erlebt dabei aber auch mit, wie er wahrgenommen wird, nimmt die ihm geltende Wahrnehmung seinerseits wahr: Merke: Im Allgemeinen scheitern Dialoge, wenn wir mit dem Anderen nicht ernsthaft kommunizieren wollen, wenn wir Kulturen als statische Gebilde betrachten und behandeln, wenn wir Kontexte, Situationen und Individuen nicht beachten, wenn wir die anderen verabsolutierend durch die eigene Brille sehen, wenn wir eigene Kategoriensysteme als Maßstab nehmen und generalisieren, wenn wird das Denken willkürlich geographisieren, wenn wir nicht bereit sind, unsere Vorurteile aufzugeben, wenn wir die Dominanz der Macht walten lassen, wenn Medien und Politiker Divergenzen hervorheben und damit Ängste schüren, wenn wir nicht denkend, verstehend und lernend miteinander umgehen.
6.6
Zwischenbetrachtung
Als Fortsetzung des Entwurfs einer interkulturellen Theorie der Kommunikation diskutierten wir die Frage nach den Hindernissen, welche interkulturelle Kommunikation unmöglich machen. In einem ersten Schritt haben wir die Inklusivitäts- und Exklusivitätsfragen erläutert. Während ein inklusiver Absolutheitsanspruch sich mit dem Anderen dialogisch in Beziehung setzt, ohne Anspruch auf expansiven Missionarismus jeglicher Art, ist der exklusive Absolutheitsanspruch mit einer Universalität verbunden, die sich zumeist gewaltsam nach außen manifestiert. In einem zweiten Schritt haben wir die Rolle der Vorurteile behandelt. Dabei unterschieden wir zwischen einem Vor-Urteil und einem Vorurteil. Während Vor-Urteile als Vorverständnis für das Kennenlernen des Anderen unverzichtbar sind, wirken Vorurteile dialoghemmend und können letzten Endes zum Kommunikationsbruch führen. In einem dritten Schritt haben wir uns der Frage nach der Geographisierung des Denkens zugewandt und festgestellt, dass eine solche Dichotomisierung in der Regel zur Teilung der Welt in abgeschlossene Welten führt, die eine Hierarchie in die Struktur der Kommunikation hineinbringt und schließlich im Abbruch endet. Es ist eine privatanthropologische Haltung, zu behaupten, dass bspw. die Orientalen schwärmerisch und die Europäer analytisch denken oder umgekehrt. Auf diesem Wege haben wir in einem vierten Schritt zwei Formen der Machtausübung thematisiert: positive und negative Macht. Während negative Macht darauf ausgerichtet
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6. Theoretische und praktische Hindernisse interkultureller Kommunikation
ist, eigene Interessen notfalls durch die Anwendung von Gewalt durchzusetzen, dies können wirtschaftliche, militärische oder sonstige Machtmittel sein, sucht die positive Macht den symmetrischen Dialog mit dem Anderen, der in Theorie und Praxis lernend und verstehend verläuft. Als ein möglicher Weg zu konvergenz- und differenzorientierter Kommunikation haben wir in einem fünften Schritt das Konzept einer ablehnenden Anerkennung vorgeschlagen. Es geht nicht darum, Einstellungen und Überzeugungen des Anderen blind anzuerkennen, sondern um die Möglichkeit, andere Heilswege oder Lebensentwürfe denkend und verstehend zu respektieren bzw. zu tolerieren, und zugleich diese für sich persönlich ablehnen zu können. Hier wird stets ein inklusiver Absolutheitsanspruch gepflegt. Es geht letzten Endes um die ablehnenden Komponenten der Anerkennung. Der Maßstab dieser Form von Anerkennung ist die Würde des Menschen, die jenseits aller religiösen und kulturellen Zugehörigkeiten unverfügbar ist.
6.6 Zwischenbetrachtung
169
7. Funktionen der Medien als Aufklärungsorgane der Gesellschaft
Das Konzept des Kapitels auf einen Blick Friedensjournalismus
Konfliktjournalismus
Funktionen der Medien
Iranbild und das Deutschlandbild im Ländervergleich
Die Frage nach den Vorteilen und Gefahren von Medien in Gesellschaft und Politik wird in vielen wissenschaftlichen Disziplinen, allen voran in den Geistes- und Sozialwissenschaften, diskutiert.1 Der Begriff „Medien“ lässt sich als ein Sammelbegriff für alle audiovisuellen Mittel und Verfahren auffassen, die zur Verbreitung von Informationen aller Art durch Zeitungen, Zeitschriften, Radio, Fernsehen, Internet sowie Belletristik oder Fachliteratur beitragen. Diese und ähnliche Informationsträger vermitteln Zugänge zu unterschiedlichen gesellschaftlichen und zwischengesellschaftlichen sowie nationalen und internationalen Beziehungen, um zur Vorstellung, Kritik oder Aufklärung eines Sachverhaltes beizutragen. Insbesondere durch die elektronischen Medien (Fernsehen, Radio und Internet) wird eine breite Öffentlichkeit erreicht, die durch die publizierten Informationen in ihrem Denken und Handeln beeinflusst wird. Das Internet bietet bspw. dem Nutzer die Möglichkeit, sich dort zu präsentieren, Waren zum Verkauf anzubieten, über Plattformen wie „Facebook“ soziale Netzwerke zu bilden oder Protestaktionen zu organisieren. In dieser Möglichkeit ist der Versuch, die Meinung der User zu manipulieren, sehr wahrscheinlich. Die Medien bestimmen nicht nur unsere Wahrnehmung, unsere Lebenswelt, unsere Interpretation, unsere Identität und unsere Meinungsbildung, sondern auch unsere Kommunikation und damit unsere Koexistenz. Die freie Presse, die sich der Print- und elektronischen Medien bedient, wird bisweilen nicht ohne Grund als „vierte Gewalt im Staat“ bezeichnet. Ihr wird beinahe Verfassungsrang zuerkannt, zumindest dann, wenn die „Politik der Darstellung“2 dazu führt, die Realpolitik nach einem bestimmten Duktus zu beeinflussen. Eine solche Sonderstellung macht die Aufgabe der Medien, im Sinne einer freien, nicht von öffentlicher Gewalt gelenkten und keiner Zensur unterworfenen Berichterstattung, umso wichtiger. Trotz dieser Sonder-
1 Dieses Thema haben ich an anderer Stelle eingehend untersucht, worauf hier grundsätzlich verwiesen sei. Vgl. Yousefi, Hamid Reza und Ina Braun: Interkulturelles Denken oder Achse des Bösen, 2005. Vgl. auch Schulz, Brigitte: Kino im interkulturellen Kontext, 2008; Jaquett, René: Internet im Dienste der Politik, 2011 und Imhof, Kurt: Die Krise der Öffentlichkeit, 2011. 2 Vgl. Wiedemann, Dieter: Medien und Demokratie, 2003 S. 16 f.
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7. Funktionen der Medien als Aufklärungsorgane der Gesellschaft
stellung darf Journalismus nicht als eine Art Freiheit von Ausgewogenheit, Freiheit von Fairness; Freiheit von Werten, Respekt und Verantwortung verstanden werden, sondern sie muss sich vielmehr solchen ethischen Werten verpflichtet fühlen und nach ihnen handeln. Eine Schlüsselposition im System der medialen Informationsvermittlung nehmen die Journalisten ein. Ihre Aufgabe besteht darin, vor Ort zu sein und über Ereignisse aller Art zu berichten. Der Journalist fungiert als „Sinn-Übersetzer“ zwischen Kulturen und Denkmethoden. Die Kommunikation zwischen ihm und seinem Publikum ist ein Prozess der Bedeutungsverhandlung. Der Journalist findet einen Sachverhalt vor, den er nach seinem eigenen Verständnis decodiert und in dessen journalistischer Verarbeitung sich seine eigene Meinung widerspiegelt. Aufgrund des von ihm gewonnenen Verständnisses setzt er den Text wieder in sprachliches Handeln um, encodiert ihn wieder, und übergibt dieses Resultat an den Medienkonsumenten zur erneuten Interpretation. Insbesondere bei der Auslandsberichterstattung entscheiden Journalisten, aufgrund der Distanz zwischen Geschehen und Informationsempfängern, über einen großen Teil der Bedeutungsverhandlung. Dass in diesem Prozess auf jeder Stufe persönliche Vorerfahrungen oder die persönliche Wahrnehmung und Ideologie des Journalisten in die Auslandsberichterstattung einfließen, ist menschlich. Die Dichotomien auf der Werteskala umfassen Themen wie Rassismus vs. Multikulturalismus, Ethnozentrismus vs. kosmopolitische Einstellung, missionarische Religiosität vs. Religionsdialog oder Militarismus vs. Pazifismus. Dabei neigen essentialistisch orientierte Journalisten dazu, Bedeutungsunterschiede zwischen Kulturen radikal zur Darstellung zu bringen, während Tendenzjournalisten im Ansatz bemüht sind, ein verzerrtes bzw. falsches Bild des Anderen zu zeichnen, wobei beide viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Gemeinsam ist beiden, dass sie die interne Eigendynamik der Kulturen übersehen und unweigerlich von einem geschlossenen Kulturbegriff ausgehen. Die Einstellung vieler Journalisten wird darüber hinaus von den Interessen ihrer Medienorganisation bestimmt. Vielfach arbeiten sie als freie Mitarbeiter, werden pro Zeile bezahlt und sind dadurch einem starken Konkurrenzdruck untereinander ausgesetzt, in dem sich keiner mit seinem Auftraggeber überwerfen will.3 So werden Zugeständnisse gemacht, die der Einflussnahme durch politische und ökonomische Machtverhältnisse, durch die Kapitalgeber der Verlage und durch die Inserenten aus der Wirtschaft geschuldet sind, aber auch vom Sensationsinstinkt eines Millionenpublikums diktiert werden.4 Die Mehrheit der Medienunternehmen schließt Bündnisse mit der Macht. Durch eine geschickte Kommunikationspolitik können ihnen Einzelheiten zugespielt werden, um so die Erwartungen der Öffentlichkeit in eine bestimmte Richtung zu lenken. Beispielsweise wird die Berichterstattung über Afghanistan seit Beginn des Afghanistan-Kriegs entsprechend als „Mission der Friedenssicherung am Hindukusch“ deklariert.
7.1
Konfliktjournalismus vs. Friedensjournalismus
Unter dem Gesichtspunkt der interkulturell-kontextuellen Medienpädagogik können zwei Formen des Journalismus voneinander unterschieden werden: Konflikt- und Friedensjournalismus. 3 Vgl. Wallraff, Günter: Der Aufmacher, o.D. S. 198. 4 Vgl. Jaspers, Karl: Lebensfragen der deutschen Politik, 1963 S. 300.
7.1 Konfliktjournalismus vs. Friedensjournalismus
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Erklärungsversuch: Konfliktjournalismus betont politische und gesellschaftliche Unterschiede zwischen den Völkern. Ihm liegt eine verzerrende Einseitigkeit zugrunde, die bisweilen zynische Züge annimmt. Ziel ist es, die Gemüter zur Wallung zu bringen und ein Krisenklima zu erzeugen.
Eine konfliktorientierte Ausrichtung des Journalismus bedient sich zu ihrer Inszenierung bestimmter Techniken. Verbreitet ist bspw. das Aufzeigen von Fakten, die im Sinne des Berichterstatters sind, und das Ausblenden von Tatsachen, die der gewünschten Intention zuwiderlaufen, oder gar eine Verallgemeinerung solch ausgewählter Details. Werden Ausschnitte ständig wiederholt, so konstituieren sie sich beim Medienempfänger als allgemeine Wahrheiten. Folgende Beispiele aus den Medien der letzten dreißig Jahre zeigen diese Tendenz: Beispiele: 1. „Koffer, Kisten, Kühlschrank: Vorsicht, die Türken kommen.“5 2. „Ein Türke rief an: ‚Großen Hunger‘: In Mannheim sind 180 Katzen spurlos verschwunden.“6 3. „Eine Schülerin in Frankfurt: ‚Jetzt bin ich die letzte Deutsche in der Klasse.‘“7 4. „Die Mullahs und die Bombe: Warum Iran nicht nachgeben will.“8 5. „Iran: Das schleierhafte Land.“9 6. „Wir haben zu viele kriminelle Ausländer!“10 7. „Die neue, alte Angst vor Asien.“11
Diese Geschichten, in denen sich ein verzerrtes Bild vom Anderen spiegelt, lenken die Gemüter durch Sensationen oder das Schüren von Ängsten.12 Man möge sich hier überlegen, wie wohl unsere deutsche Patchwork-Familie im Iran reagieren würde, wenn bei den Beispielen 1, 2, 4, 5 und 6 statt des Iran bzw. der Türkei nun Deutschland stünde und die Rede von der „neuen, alten Angst vor Deutschland“ beschworen würde. Durch die Wahl bestimmter Perspektiven konstruieren die Medien eine eigene Realität, die als Grundlage ihrer Urteile aller Art Geltung beansprucht. Eine eindimensionale Darstellungsweise geht so weit, dass Geschichten erfunden werden, die ungeprüft eine politische, religiöse oder kulturelle Realität voraussetzen, die diese „Berichte“ erscheinen lässt. Hier wird eine Politik erfunden, die von einer nicht den Tatsachen entsprechenden Realität ausgeht. Die Begründung für den militärischen Einmarsch in den Irak ist ein klassisches Beispiel medialer Kriegsvorbereitung mittels Behauptung von Tatsachen aufgrund bloßer Vermutungen, die bewusst zur Kriegslegitimation herangezogen wurden. Hier werden alle Dimensionen der dargelegten Korrelatbegriffe eindimensional betrachtet und praktiziert, die Identität des Anderen in Abrede gestellt und für politische Zwecke missbraucht. Eine grundsätzliche Doppelmoral dieser Form des Journalismus zeigt sich darin, dass sie das Böse nur außerhalb eigener Grenzen sucht: Während das Eigene das Gute beinhaltet, erstrebt das Andere das Gegenteil. Mit dieser simplen Einteilung der Welt in Schwarz und Weiß wird das Recht auf Selbstverteidigung begründet. 5 6 7 8 9 10
Zitiert aus: Bild-Zeitung vom 29.07.1978. Zitiert aus: Bild-Zeitung vom 31.08.1978. Zitiert aus: Bild-Zeitung, vom 05.09.1984. Zitiert aus: Die Zeit, vom 11.11.2004. Zitiert aus: Die Zeit, vom 11.11.2004. Zitiert aus: Bild-Zeitung, vom 28.10.2007. Diese Äußerung machte der ehemalige Ministerpräsidenten von Hessen Roland Koch. 11 Zitiert aus: Die Zeit, vom 23.08.2008. 12 Vgl. Türcke, Christoph: Erregte Gesellschaft, 2002.
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7. Funktionen der Medien als Aufklärungsorgane der Gesellschaft
Der stark polarisierende Konfliktjournalismus kommt ohne diese grobe Unterscheidung in „gut und böse“, „schön und hässlich“, „recht und unrecht“, „heilig und profan“, „rückständig und fortschrittlich“, „westlich und östlich“ kaum aus. Das Ergebnis solcher Dichotomien fördert in der Regel ein Krisenklima. Mittels dieser Verfahrensform verfehlt der Journalismus sein eigentliches Ziel, nämlich die kritische und zugleich faire Informationsvermittlung in der Öffentlichkeit. Dieses Ziel fällt hingegen per se in den Arbeitsbereich eines theoretischen und praktischen Friedensjournalismus. Erklärungsversuch: Friedensjournalismus ist eine Tätigkeit, die Konvergenzen wie Divergenzen des Eigenen und des Anderen gleichermaßen in Betracht zieht. Ziel ist es, einen offenen und zugleich kritischen Dialog zu ermöglichen.
Friedensjournalismus geht im Gegensatz zum Konfliktjournalismus von Kulturen als offenen und dynamisch-veränderbaren Sinn- und Orientierungssystemen aus, ohne ihre interne Eigendynamik zu vernachlässigen. Vier Dimensionen bilden die Säulen dieser Form des Journalismus: Er ist erstens wahrheits- und demzufolge zweitens kritisch orientiert, drittens ist er am Menschlichen ausgerichtet und demzufolge viertens lösungsorientiert.13 Ein weiteres Kriterium ist die Abwendung von konfliktorientierten Themen und eine Öffnung zu Gunsten der Darstellung der Kultur und des sozialen Lebens der fraglichen Kulturgebiete. Friedensjournalismus beachtet die Reziprozität der Korrelatbegriffe und ihre Grenzen. Das Eigene und das Andere kommen gleichermaßen zur Darstellung, die Vorstellungen von Kompetenz, Hermeneutik, Komparatistik, Toleranz und Ethik sowie ihre Grenzen werden bikulturell verankert. Dem Anderen wird die Möglichkeit eingeräumt, seine Anschauung aus eigener Perspektive zu artikulieren. Dabei sucht er konkrete Ergebnisse unter Beachtung der Kontextualitäten und des gleichsamen Verzichtes auf Essentialismus und Tendenzialismus. Nicht idealistische Harmonievorstellungen sind vorherrschend und richtungsweisend, sondern reale Fakten, in denen die Komponenten der Macht eine grundlegende Rolle spielen.
7.2
Das Iranbild und das Deutschlandbild im Ländervergleich
Nun wenden wir uns einem für die Verständigung der Tauschfamilien wichtigen Thema zu. Wie wird der Iran in Deutschland und wie wird Deutschland im Iran gesehen? Diese und ähnliche Fragen sind selbstverständlich nicht pauschal zu beantworten, sondern es lassen sich nur Tendenzen feststellen, die sich nicht generalisieren lassen. Aufschlussreich ist auf diesem Wege die Unterscheidung der Informationen in selbst gemachte Erfahrungen und in solche, die aus dritter Hand stammen. Eigene Erfahrungen ermöglichen eine authentische, wenn auch unvollständig-selektive Sicht auf die Dinge. Erkenntnisse aus dritter Hand hingegen sind umfassender, aber, wie aufgezeigt, in der Regel unterschiedlich subjektiv.
13 Vgl. Galtung, Johan: Friedensjournalismus, 1997.
7.2 Das Iranbild und das Deutschlandbild im Ländervergleich
173
Überdies lassen sich nicht generalisierbare Theorien über diese Länder formulieren, wie der Iran und wie Deutschland jeweils als Gesellschaft funktionieren, wie sie politisch ausgerichtet sind und wie sie ihre Beziehung zu anderen Ländern gestalten. Bei jedem FrageAntwort-Versuch sind soziokulturelle Fakten, Religion und Tradition zu beachten, denn es ist nicht möglich, mit den Prämissen des einen die Prämissen des anderen zu bestimmen. Wenn bspw. die Religion in einer Gesellschaft grundlegend ist und in einer anderen marginalisiert wird, dann darf dies nicht zu einer Aussage über die Modernität oder Nichtmodernität führen. Wer diese Prämissen gegeneinander ausspielt oder aufeinander reduziert, tut dem Dialog Gewalt an. Solchen Fehlern dürfen die Tauschfamilien nicht verfallen, weil dies einen faktischen Kommunikationsbruch bedeuten würde. Von Bedeutung ist die Berücksichtigung von Kontextualität, Situativität und Individualität in Theorie und Praxis. Sie werden diese Frage-Antwort-Versuche aus ihrer neu gewonnenen Erfahrung selbst, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, diskutieren können. Die Tauschfamilien im Iran werden erfahren, dass das Deutschlandbild insgesamt in den Medien von einer erstaunlichen Positivität geprägt ist, angefangen bei der Musik bis zu den wissenschaftlichen Entdeckungen. Diese Einschätzung teilen fast alle iranischen Politiker, die Deutschland als das Land der Wissenschaft und des Denkens kennen und als solches bezeichnen. Sie werden hören, dass die Deutschen im Iran als ein fleißiges, zielstrebiges und verlässliches Volk gelten. Der betriebene Journalismus im Iran bezüglich Deutschlands ist vorwiegend friedensorientiert ausgerichtet. Die einzige Kritik, die in allen Diskursen Erwähnung findet, ist die erwähnte deutsche Außenpolitik, die in Bezug auf den Iran, um nur ein Beispiel zu bringen, als gelenkt, im Sinne eines US-amerikanischen Diktates, klassifiziert wird. Die Tauschfamilien in Deutschland werden andere Erfahrungen machen. Der Iran wird in den deutschen Medien als ein „schleierhaftes Land“ dargestellt, das von Menschen regiert wird, die sich an Fanatismus gegenseitig überbieten, die unberechenbar sind und eine Gefahr nicht nur für ihr Volk, sondern auch für die Welt darstellen. Bereits Falaturi hat mehrfach auf diese Tatsache hingewiesen. Dies war ihm ein Grund, warum er sich Zeit seines Lebens in Deutschland für die Reformierung von Schulbüchern einsetzte, um eine Umkehr des Islam- und Iranbildes in Deutschland zu etablieren.14 Die deutschen Medien leisten nur unzureichend echte Verständigung mit dem Iran oder mit Ländern, die der europäisch-westlichen Ideologie nicht entsprechen. Betrachten wir das Bild der Religionen in beiden Ländern, so ist festzustellen, dass das Christentum im Iran durchweg eine hochgeachtete Religion darstellt, dem in allen Belangen mit Respekt begegnet wird. Dies lässt sich über den Islam in Deutschland kaum sagen. Selbst in der Bezeichnung „Islam“ schwingen die genannten Konnotationen mit. Islam wird verknüpft mit Anderssein, Widerstreben und Bedrohung. Mit einem solchen Islambild gehen Stereotype wie der „gerechte“ Krieg, „Djihad“ bzw. „Heiliger Krieg“ einher, oder es ist die Rede von „Gotteskriegern“. Auch werden häufig Gegensätze gebildet, wie „die Achse des Bösen“ oder „Der Kampf des Guten gegen das Böse“. Offenbar bemühen sich die Tendenz- und Konfliktjournalisten, „passende Bezeichnungen für die Welt des Islam zu finden: eine Welt, in der der Wille zum Krieg mit Unwissen, Luxus und Fanatismus eine wunderliche Mischung eingeht“.15 Solche zu Schlagwör14 Vgl. Abdoldjavad Falaturi (Hrsg.): Der Islam in den Schulbüchern der Bundesrepublik Deutschland, 1986–1990. 15 Vgl. Ramadan, Tariq: Der Islam und der Westen, 2000 S. 373.
174
7. Funktionen der Medien als Aufklärungsorgane der Gesellschaft
tern der europäisch-westlichen Presse gewordenen Ausdrücke werden seit Jahrzehnten verbreitet und sind beliebigen Interpretationen freigegeben. In den deutschen Medien können insbesondere folgende Diskursformen über den Iran beobachtet werden: – der Verteufelungsdiskurs, in dem der Iran als Inbegriff des Bösen dargestellt wird, – der Kriminalisierungsdiskurs, in dem iranische Politiker, die der westlichen Politik kritisch gegenüber stehen, als Verbrecher am Volk stigmatisiert werden, – der Bevormundungsdiskurs, in dem europäisch-westliche Politiker die offizielle Regierung des Iran ignorieren und die dortigen oppositionellen Kleingruppen, die ihre Politik gutheißen, unterstützen, – der Romantisierungsdiskurs, in dem der Iran als das schwärmerisch-exotische Land mit dem fliegenden Teppich deklariert wird, – der Mitleidsdiskurs, in dem der Iran als ein Land beschrieben wird, das von Chaos, Rückständigkeit, Hilflosigkeit, Gewalt und allgemeiner Unfähigkeit zu effektivem ökonomischen Handeln geprägt ist, – der Religionsfanatismusdiskurs, in dem der Iran als islamisch-fanatisch etikettiert wird. Diese Diskurse, die sich auch im Kino, wie in der verfilmten Erzählung „Nicht ohne meine Tochter“ von Betty Mahmoody wiederfinden, sind vorwiegend konfliktorientiert. Die Tauschfamilien werden nach einer gewissen Zeit zwischen Konflikt- und Tendenzjournalismus sowie Friedensjournalismus zu unterscheiden lernen. Sie werden auch sehen, dass weder Deutschland noch der Iran Monolithe darstellen, sondern in beiden Ländern faktisch eine interne Eigendynamik existiert. Hier wird deutlich, dass Macht und Gewalt die Geschäftsverhältnisse und insbesondere die sozialen Beziehungen zwischen einzelnen Kulturregionen und innerhalb dieser unterschiedlich bestimmen und beeinträchtigen. Diese praktische Aufklärung wird ihnen die Möglichkeit bieten, das Bild ihrer Länder in jeweils unterschiedlichen Medien zu beobachten und mit den eigenen Erfahrungen in Beziehung zu setzen. Auf diesem Wege kommt der traditionellen Vorstellung von Aufklärung eine neue Bedeutung zu, die für den interkulturellen und interreligiösen Dialog unerlässlich ist. Der Satz „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ gilt nicht nur für das Andere, sondern auch für das Eigene.
7.3
Zwischenbetrachtung
Medien gelten im Allgemeinen nicht nur als Spiegel der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern auch als eine Instanz, die in ihrer ethischen Verpflichtung auf eine Besserung der Verhältnisse zielt. Fassen wir die Ergebnisse und Erkenntnisse des Kapitels nach diesem Anspruch zusammen, so lassen sich folgende generelle Befunde zu den Merkmalen der Medien festhalten: Die Medien haben in allen Gesellschaften zwar eine Aufklärungsfunktion mit investigativem Charakter, sind aber zugleich von einer Janusköpfigkeit geprägt, die ihren ursprünglichen Zielen zuwiderläuft. Die Medien stellen sich selbst kulturübergreifend dar als freiheitlich, friedlich, überparteiisch, objektiv und unabhängig. Dabei betonen sie vor allem, ausgewogen zu berichten. Sie wollen uns die Welt auf ein handliches Format bringen und sie uns so zugänglich
7.3 Zwischenbetrachtung
175
machen. Nicht immer tragen sie aber diesem Anspruch Rechnung, weil sie diversen Zwängen, wie der Macht und politischen ebenso wie wirtschaftlichen Interessen, unterworfen sind. Um die Problematik der Medien zu verdeutlichen, unterscheide ich zwei Formen des Journalismus voneinander: den Konfliktjournalismus und den Friedensjournalismus. Konfliktjournalismus betont in der Regel ausschließlich Divergenzen zum Thema, um unüberbrückbare Gegensätze zu konstruieren. Dabei werden gezielt Informationen als Waffe eingesetzt, sobald die Stoßrichtung bestimmt ist. Friedensjournalismus hingegen ist bemüht, dem Publikum mehrere Erfahrungswelten so vorzustellen, wie sie sind. Es geht nicht um eine bloße Annäherung bspw. zweier Kulturregionen wie Orient und Okzident, sondern um einen konstruktiven Austausch von Inhalten, um eine dialogische Kritik, um eine friedliche Konfliktbewältigung. In dieser Art von Journalismus kann ein interkultureller oder interreligiöser Dialog eher gedeihen, weil die Divergenzen wie auch die Konvergenzen des Eigenen und des Anderen gleichermaßen zur Darstellung kommen. Bedingungslose Offenheit mit prinzipiellen Grenzen ist dem Charakter dieser Form des Journalismus immanent.
176
Schlussbetrachtungen
Schlussbetrachtungen
Die kritische Analyse der Geschichte und Gegenwart interkultureller Kommunikation im ersten Kapitel hat uns zur Darstellung verschiedenen Orientierungen des Kulturbegriffs im zweiten Kapitel geführt. Diese sind normengebende, geschlossene, intellektualistische sowie symbolisch-strukturelle, multikulturelle, transkulturelle und interkulturelle Konzepte. Zur Darstellung kam in diesem Zusammenhang auch die Konfigurationstheorie von Dieter Senghaas, der von einer internen Ausdifferenzierung von Kulturen ausgeht. Hier zeigt sich, warum im Weltalter der Globalisierungen von einem Kulturbegriff auszugehen ist, der den gewandelten Verfassungen kultureller Kontexte angemessener ist. Die Konfigurationstheorie von Senghaas bietet hierfür eine fundierte Grundlage. Mit dieser Erkenntnis führten wir im dritten Kapitel in die Interkulturalität ein als eine wissenschaftliche Disziplin, in ihre Struktur, Aufgaben, Methoden und Funktionen sowie in die Frage nach einer interkulturell ausgerichteten Forschung. Damit verfolgten wir das Ziel, diese akademische Disziplin in den Kulturwissenschaften zu beheimaten. Im Geiste dieser Orientierung haben wir im vierten Kapitel das Konzept der interkulturell-kontextuellen Kommunikation und ihrer Dimensionen vorgestellt und die theoretischen Positionen am Beispiel zweier unterschiedlich kulturgeprägter Familien, den Tauschfamilien, verdeutlicht. Dabei führten wir die sieben Korrelatbegriffe dieser Teildisziplin der Interkulturalität ein. Es handelt sich um das Eigene und das Andere, interkulturelle Kompetenz, interkulturelle Semantik, interkulturelle Hermeneutik sowie interkulturelle Komparatistik, interkulturelle Toleranz und interkulturelle Ethik. Die Praxis dieser Korrelatbegriffe fußt auf einer Pädagogik der Interkulturalität, die lernend und verstehend ausgerichtet ist. Diese Thematik, welche die Grundlage des fünften Kapitels bildet, führte uns zum Entwurf einer kontextuellen Pädagogik der Interkulturalität und der Zukunftsfrage dieser Disziplin. Behandelt wurden neben der pluralistischen Methodenkomposition einer Pädagogik der Interkulturalität auch kontextuell-kulturpädagogische, kontextuell-erwachsenenpädagogische, kontextuell-sozialpädagogische und kontextuell-berufspädagogische sowie kontextuell-medienpädagogische Dimensionen. Abschließend erfolgte auch die Erläuterung der pluralistischen Methodenkomposition einer Pädagogik der Interkulturalität. Wir haben festgestellt, dass die bestehenden Kulturbegriffe der Sache nach essentialistisch formuliert waren, die dann naturgemäß einer interkulturellen Kommunikation nicht Rechnung tragen konnten. Im Anschluss an diese Überlegungen sind wir im sechsten Kapitel auf strukturelle Probleme der interkulturellen Kommunikation zu sprechen gekommen. Erläutert haben wir die Frage nach Exklusivität und Inklusivität, der Rolle von Vorurteilen sowie die Problematik der ablehnenden Anerkennung. Abschließend thematisierten wir Funktionen der positiven und negativen Macht sowie die Geographisierung des Denkens, nach der die Welt in eine rational-lineare bzw. europäisch-westliche und in eine mystisch-holistische, außereuropäische Denkhemisphäre aufgeteilt ist. Es wurde festgestellt, dass interkulturelle Kommunikation stets von strukturellen Problemen, wie Macht, begleitet ist, die sie jederzeit determinieren können. Durch die Regulierung der Macht mittels Kontrollmechanismen und die Einführung einer ablehnenden Anerkennung lassen sich Kommunikationsprobleme ansatzweise überwinden.
7.3 Zwischenbetrachtung Schlussbetrachtungen
177
Weil die Rolle der Medien für die Völkerverständigung grundlegend ist, nahmen wir uns die Analyse von Funktionen der Medien als Aufklärungsorgane der Gesellschaft an. Thema des siebten Kapitels ist die Beschreibung der Medien. Dabei unterschieden wir zwischen Konflikt- und Friedensjournalismus, die von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen. Bei der vergleichenden Analyse des Iranbildes in den deutschen und des Deutschlandbildes in den iranischen Medien wurde festgehalten, dass die deutschen Medien bezüglich des Iran vorwiegend Konfliktjournalismus betreiben, während im Iran ein positives Deutschlandbild gepflegt wird. Ziele der Studie Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, von einem offenen und dynamisch veränderbaren Kulturbegriff ausgehend in die Interkulturalität als eine wissenschaftliche Lehrdisziplin einzuführen und auf die Bedeutung einer interkulturell ausgerichteten Kommunikation hinzuweisen. Auf diesem Wege haben wir eine neue Pädagogik der Interkulturalität vorgeschlagen, die lernend und verstehend orientiert ist. Es geht um einen denkenden Umgang miteinander. Die Tauschfamilien sollten dabei deutlich machen, dass im Rahmen einer jeden Kommunikation mit interkulturellem Anspruch die Kontextualität, Situativität und Individualität zu beachten sind. Dadurch gelingt es, Generalisierungen zu vermeiden. Hier scheinen zwei Punkte wesentlich, die für eine erfolgreiche Gestaltung interkultureller Kommunikation von Bedeutung sind: Die Kinder finden ihren Weg ziemlich rasch in die jeweiligen Aufnahmegesellschaften; ihre Anpassungstendenz ist erstaunlich groß. Die Eltern stellen fest, dass ihre Kinder, abgesehen von pubertären Problemen, die sich unterschiedlich äußern, und sprachlichen Barrieren, gut in den Freundeskreis der jeweils Anderen aufgenommen werden. Das Kopftuch des iranischen Mädchens ist in der Berliner Gastschule für die deutschen Schulfreunde kein Thema, solange die Familie und politische Öffentlichkeit dies nicht als ein Problem deklariert. Die gleichen positiven Erfahrungen gelten für die deutsche Teilfamilie in Teheran. Die Begegnung der Tauschfamilien entfaltet eine Fülle wichtiger Probleme und wegweisende Impulse, welche die Beschäftigung mit interkultureller Kommunikation nicht ausschließlich zu einer Beantwortung empirischer Fragen ausarten lässt. Die Bewerkstelligung setzt ein offenes Konglomerat von Methoden voraus, um eine dialogische Kommunikation zu fördern. Eine lernende und denkende Orientierung vermag dazu beizutragen, das Eigene kommunikativ mit dem Anderen, unter Berücksichtigung von Konvergenzen und Divergenzen, in Beziehung zu setzen, dies in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Integration ist eine besondere Art, sich und die Anderen wahrzunehmen und zu erleben. Sie hat viele Facetten und benötigt viele Brücken. Echte Verständigung in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft in interkultureller Absicht kann gelingen, wenn die Kommunizierenden sich bewusst sind, dass ihre jeweils eigenen Einstellungen, Theorien und Überzeugungen weder objektiv noch wertfrei sind. Dialogisches Denken und Verhalten, transkulturelles Denken und interkulturelles Handeln bilden das Wesen der Integration.1 Dieter Senghaas plädiert in seiner Studie „Zivilisierung wider Willen“ zu Recht für eine Reorientierung des interkulturellen Dialogs. Dabei geht es ihm nicht nur um eine wirklichkeitsnahe Rekonstruktion der eigenen okzidentalischen und orientalischen Entwick-
1 Vgl. Yousefi, Hamid Reza: Dornenfelder (eine autobiographische Skizze), 2011.
178
Schlussbetrachtungen
lungswege, sondern auch um ein wirklichkeitsgerechtes Orient- und Okzidentbild.2 So lange Orient und Okzident nicht in Theorie und Praxis über den eigenen Tellerrand hinausschauen, wird eine transparente Kommunikation auf interkultureller Ebene ein Versuch ohne Wert bleiben. Ausblick Die Vielfalt der Disziplinen, in denen Forschungsergebnisse zur Interkulturalität angesiedelt sind, unterstreicht zwar, dass es sich um ein boomendes Forschungsfeld handelt, das aber sein akademisches Zuhause, das es im Rahmen der unterschiedlichen Fächer zu einer akademischen Disziplin vereinen könnte, noch nicht gefunden hat. Hier wird eine Forschungslücke ersichtlich, die es zu schließen gilt. Aufgrund ihrer Beschaffenheit erscheinen die Kulturwissenschaften als integrierende Disziplin als geeignet: Erklärungsversuch: Kulturwissenschaft befasst sich in Forschung und Lehre mit der Analyse kultureller Prozesse und Phänomene in Gegenwart und Geschichte, in Theorie und Praxis, in Alltag und Beruf sowie in lokaler und globaler Perspektive. Sie betrachtet dieses Panorama aus transdisziplinärer Sicht. Die Disziplin der Interkulturalität wird aufgrund paralleler Fragestellungen ihre Heimat am besten in den Kulturwissenschaften finden können.
Diese Disziplin erforscht somit „die von Menschen hervorgebrachten Einrichtungen, die zwischenmenschlichen, insbesondere die medial vermittelten Handlungs- und Konfliktformen sowie deren Werte- und Normenhorizonte. […] Da es nicht ‚die‘ Kultur, sondern viele Kulturen gibt, ist die Kulturwissenschaft mit multi- und interkulturellen Überschneidungen konfrontiert. Sie verfährt deshalb auch immer kulturvergleichend.“3 Interkulturalität ist seit einiger Zeit ein Bestandteil der Module, die unter „Kulturvergleich“, „Alterität“, „Dialog der Kulturen“ oder „Selbst- und Fremdverstehen“ geführt werden, ohne jedoch in ein einheitliches Konzept integriert zu sein. Interkulturalität begreift Kulturen, wie wir gesehen haben, als offene und dynamischveränderbare Sinn- und Orientierungssysteme und beschreibt eine Theorie und Praxis, die sich mit dem historischen und gegenwärtigen Verhältnis aller Kulturen beschäftigt. Nach dieser Annahme ist die Ausgangsposition der Interkulturalität die Verwirklichung eines wechselseitig lernenden und verstehenden Umgangs in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Diese Bereiche sind Felder der Erziehung. Wenn sie scheitern, scheitert auch die Kommunikation. Mit der Interkulturalität ist eine Heterogenität verbunden, die eine vielschichtige und strukturelle Herausforderung darstellt. Diese Heterogenität, die unsere Interaktionen revolutioniert, ist ein Ausdruck der Mannigfaltigkeit kultureller Lebensformen und damit auch der Partikularität der Auffassungen über kulturelle und soziale Erscheinungen. Dies macht deutlich, dass eine aufgeklärte Bewusstheit über differierende Rationalitäts- und Hermeneutikkonzepte, Handlungsmöglichkeiten und Ordnungsmuster existiert. Dabei ist davon auszugehen, dass jeder Kontakt unter Menschen von diversen sozialen Faktoren wie Macht und Ohnmacht, Sympathie und Antipathie sowie von Emotionalität und Vernunft gesteuert werden. Es wäre einseitig, allein die Rationalität zur Grundlage von Kommunikationen zu erheben. 2 Vgl. Senghaas, Dieter: Zivilisierung wider Willen, 1998 S. 197 ff. 3 Böhme, Hartmut, Peter Matussek und Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft, 2007 S. 104.
7.3 Zwischenbetrachtung Begriffserklärungen
179
Begriffserklärungen
absolut
bedeutet losgelöst von jeder Bindung, Beziehung, Bedingung und Abhängigkeit.
Aggregat
heißt Anhäufung von Teilen zu einem äußerlichen Zusammenhang.
ahistorisch
beschreibt eine historische Gegebenheit, die vernachlässigt wird.
Akkomodation
bezeichnet Lern- und Anpassungsprozesse bei Personen, die sich infolge eines Lebensortwechsels grundlegende Regeln der Kommunikation der anderen Gesellschaft aneignen, ohne die eigenen grundlegenden Überzeugungen zu ändern.
Akkulturation
bedeutet Übernahme von Elementen einer anderen Kultur, geht also über die Akkomodation hinaus, d. h. die eigenen Überzeugungen unterliegen Veränderungen.
Akosmismus
heißt Wertlosigkeit bzw. Leugnung der Welt als selbständiger Existenz.
Akzeptanz
bedeutet die Bereitschaft, etwas bestehen zu lassen oder sogar anzunehmen; sie ist mit Respekt und Wertschätzung verbunden.
Akzeptanzgrenzen
sind gemeinsam ausgehandelte Nenner als Handlungsgrundlage des menschlichen Miteinanders.
Alternative
ist die entscheidende Wahl zwischen zwei Möglichkeiten.
Altruismus
ist eine ethische Lehre, welche die Selbstlosigkeit als hauptsächliches Merkmal der Sittlichkeit bezeichnet und ein Handeln fordert, das auf das Wohl Anderer gerichtet ist.
Ambiguität
bedeutet Widersprüchlichkeit, Assoziation; beschreibt das gedankliche Herstellen eines Zusammenhanges bei der Betrachtung eines Gegenstandes oder beim Hören eines Wortes.
Ambiguitätstoleranz
beschreibt die Fähigkeit und Bereitschaft, sich durch Rollenflexibilität auf mehrdeutige, ambivalente oder gar widersprüchliche Situationen einzustellen, um Irritationen und Dissonanzen kommunikativ auszuhalten.
amoralisch
bezeichnet eine Haltung bzw. Gesinnung, welche die Frage nach dem Moralischen ausblendet.
analytisch vorgehen
bedeutet, das Untersuchungsobjekt in seine Bestandteile zu zerlegen, um es zu verstehen.
Andere, das (interkulturelle Ausdrucksform)
wird in der Regel als das bezeichnet, was wir in gewohnter Umgebung nicht kennen, was aber eine vertraute Nähe ausstrahlt.
Anerkennung
bedeutet, dem Andersdenkenden die Möglichkeit einzuräumen, sich seiner Lebensweise, Überzeugung oder Einstellung nach an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen.
Anerkennung, ablehnende
heißt, den Anderen als Person und als Teil der Gesellschaft unter Bewahrung seiner Würde anzuerkennen, ohne damit die Pflicht zu verbinden, seine Einstellungen und Überzeugungen mit einzuschließen.
Anpassung, kulturelle
beinhaltet die Orientierung eines Individuums an den Erwartungen einer anderen Umwelt und Kultur; teilweise Übernahme anderskultureller Muster zur Vermeidung von Konflikten.
180
Begriffserklärungen
anthropologische Konstante
bedeutet, dass etwas zum Menschsein selbst gehört.
anthropozentrisch
ist auf den Menschen als Mittelpunkt des Ganzen bezogen.
Antinomie
stellt Überlegungen, Überzeugungen oder Meinungen dar, die zueinander in Widerspruch stehen und gleichermaßen begründet sind.
Apartheid
bedeutet diskriminierende Benachteiligung von bestimmten Rassen, Menschengruppen oder Ethnien.
Aporie
beschreibt eine Ausweglosigkeit, einen Sachverhalt, in dem Schwierigkeiten auftauchen, die zu widersprüchlichen Ergebnissen führen.
Artefakt
bezeichnet ein vom Menschen geschaffenes Kunstwerk, Werkzeug oder sonstiges Erzeugnis.
Assimilation
bedeutet das Aufgehen und die gänzliche Übernahme von Werten, Normen und Lebensweisen in einem bestimmten Kulturgebiet, welche die Aufgabe eigenkultureller Zugehörigkeit zur Folge hat.
Assoziation
Verknüpfung von Vorstellungen, die wie eine Kettenreaktion auseinander hervorgehen.
Attributierung
bedeutet Zuweisung und Zuschreibung.
Autopoiesis
beschreibt ein Prozess der Selbsterschaffung bzw. Selbsterhaltung eines Systems.
autopoietisches System
ist eine Funktionsweise, die besagt, dass der Mensch alles aus sich heraus produziert.
Autoritarismus
beschreibt gesellschaftliche Bedingungen, welche die Entwicklung autoritärer Personen fördern.
Bedeutungsgewebe
bezeichnet ein Verständnis von Kultur, das einen zeichenhaft-semiotischen Charakter der Kultur voraussetzt. Aus eigenen Eindrücken und Interpretationen, gepaart mit seinen kulturellen Vorprägungen, schafft sich der Mensch ein „selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe“, das sich, je nach den gemachten Erfahrungen, permanent im Wandel befindet.
Begriffsenzyklopädie
ist der Namen eines Index oder eines Registers, eine alphabetisch geordnete Auflistung von Begriffen, die in kulturellen Kontexten verwendet werden. Eine zentrale Funktion der Begriffsenzyklopädie besteht darin, festzustellen, an wie vielen Stellen ein bestimmter Begriff innerhalb einer Tradition oder eines Kontextes auftritt. Wichtig sind die kontextuelle Wortbedeutung und der Stellenwert des Begriffs.
Behaviorismus
ist der Name eines psychologischen Konzeptes, das sich mit dem Verhalten und seinen Auslösern beschäftigt.
Bibliographie
bedeutet die Werkdarstellung einzelner Personen im Kontext ihrer Zeit und darüber hinaus. Es geht um die Erstellung von Verzeichnissen, welche die Bücherbeschreibung primärer oder sekundärer Natur oder beides zugleich sein können.
Bilingualität
bedeutet Zweisprachigkeit.
Binnendifferenzierung
ist eine Vorgehensweise, bei der die einzelnen Teilnehmenden einer Lerngruppe eine jeweils an ihre Fähigkeiten angepasste Förderung erfahren.
Biographie
umfasst die mündliche oder schriftliche Darstellung des Lebenslaufes, die privater, berufsbezogener oder akademischer Natur sein kann.
7.3 Zwischenbetrachtung Begriffserklärungen
181
Biologisierung
heißt Zurückführung von sozialen Zusammenhängen oder Verhaltensweisen auf vermeintliche biologische Ursachen.
Chronologie
stellt die Aufzeichnung von Denktraditionen, Problemen und Begriffen nach ihrem zeitlichen Ablauf dar. Es geht im Allgemeinen um eine eher narrative Darstellungsform eines Zeitraums mit der Abfolge von historischen Ereignissen in einem speziellen Kontext.
Coaching, interkulturelles
ist eine kulturübergreifende Beratungsform, die Menschen dazu befähigt, mit kulturell bedingten Divergenzen situationsgemäß umzugehen.
Community
bedeutet Gemeinschaft, Einrichtung oder die Bildung von Minderheiten.
Definition
bedeutet den offenen Versuch, die inhaltliche Bedeutung eines Begriffs, eines Systems oder einer Reihe von Ereignissen so klar wie möglich und eindeutig wie nötig auf eine Formel zu bringen.
Defizienz
beschreibt den Mangel oder das Fehlen von etwas.
Dekonstruktion
bedeutet Zerlegen oder Aufhebung gesellschaftlicher Konstruktionen.
derogativ
beschreibt einen Sachverhalt, dem Geringschätzung entgegengebracht wird.
Determination
bedeutet, einem Zwang ausgesetzt zu sein.
Diadochographie bzw. Institutionengeschichte
ist eine Ausrichtung, die philosophische Traditionslinien nach Schulen klassifiziert und aufzeichnet.
dialektisch vorgehen
bedeutet, die internen Gegensätze in einem Untersuchungsobjekt aufzusuchen und die darin enthaltene Dynamik im Rahmen eines umfassenden Ganzen herauszustellen.
Diaspora
beschreibt die Zerstreuung einer Gruppe, die als Minderheit innerhalb einer anderen Gesellschaft lebt.
Dichotomisierung
beschreibt die Zerlegung einer Sache oder eines Gegenstands in zwei Teilgesamtheiten, sodass ausschließlich zwei Ausprägungen unterschieden werden.
Didaktik, interkulturelle
bezeichnet im Allgemeinen die Wissenschaft des Lehrens und Lernens für Theorie und Praxis in kulturübergreifender Hinsicht.
Differenz, ausschließende
beschreibt eine Situation, in der sich eine bestimmte Gruppe das Recht herausnimmt, durch vorgefasste Forderungen den Freiheitsspielraum einer Gruppe festzulegen oder zu begrenzen.
Differenz, sanktionierende
stellt eine Situation dar, in welcher der gemeinsam entwickelte Kontrollmechanismus nicht zulässt, dass eine bestimmte Gruppe das Gleichheitsprinzip verletzt.
Dissidenz
beschreibt eine Haltung, die von der offiziellen Meinung abweicht.
Dominanz
beschreibt eine Überlegenheit, die sich kontextuell immer anders expliziert.
Doxographie
beschreibt die Sammlung der Aussagen von Philosophen und deren Einsortierung in ein Raster unter bestimmte feststehende Rubriken.
Dritt-Kultur-Perspektive
beschreibt eine gemeinsam erarbeitete Basis, die auf unterschiedlichen kulturellen Perspektiven fußt.
egozentrisch
ist eine menschliche Verhaltensweise, die alles auf sich als Mittelpunkt bezieht und alles von sich aus betrachtet, bewertet und beurteilt.
182
Begriffserklärungen
Eigene, das
ist das Vertraute und uns Bekannte. Das Eigene stellt das Umgekehrte des Anderen dar.
Eigengruppe
umschreibt eine Gruppe, der eine Person angehört oder anzugehören glaubt.
Eisbergmodell
verdeutlicht, dass immer nur ein kleiner Teil eines kulturellen Spezifikums sichtbar oder wahrnehmbar ist.
Eklektizismus
bezeichnet eine Denkrichtung, die darauf ausgerichtet ist, Elemente unterschiedlicher Systeme und Methoden zu einem neuen Ganzen zusammenzustellen.
emisch
ist die Innensicht bzw. Binnenperspektive von Mitgliedern einer Kultur.
Empathie
beschreibt den Versuch, sich aus der Perspektive eines Anderen durch Verständnis seiner Gefühle in dessen Gefühlszustand hineinzuversetzen.
empirisch vorgehen
bedeutet, von Erfahrungen auszugehen, dabei Wertungen zu vermeiden und bemüht zu sein, gewonnene Erfahrungen systematisch zu erfassen und auszuwerten.
Enkulturation
heißt Übernahme der Lebensform einer bestimmten Kultur im Rahmen der Primärsozialisation.
enzyklisch vorgehen
bedeutet, das Untersuchungsobjekt umfassend in den Blick zu nehmen und verstehend zu begreifen.
epistemisch vorgehen
bedeutet, das Untersuchungsobjekt auf eine erkenntnistheoretische Grundlage zu heben und logische Strukturen herauszuarbeiten.
Erinnerungskultur, kritisch-dialogische
Bedeutet Analyse der Fehlleistungen eigener und anderer Einstellung zu etwas auf der Grundlage der historischen Fakten und deren untereinander bestehenden Beziehungen.
Erinnerungskultur, negative
beschreibt ein Geschichtsverständnis und -interesse, das einseitig ausgerichtet ist.
Erinnerungskultur, positive
beschreibt ein Geschichtsbild von etwas, das einseitig sein kann.
Erlaubnis-Konzeption
ermöglicht einer Minderheit, nach eigenen Überzeugungen zu leben, ohne die Vorherrschaft der Autorität infrage zu stellen.
Erlebniskultur
ist ein zentrales Merkmal der Konsumkultur, in der Waren dazu genutzt werden, erlebnishafte Erfahrungen zu machen.
Erziehung, interkulturelle
beschreibt den Lern- und Aneignungsprozess kulturell unterschiedlicher Denkstrukturen und Wahrnehmungsformen, die verschiedene Werte und Normen hervorbringen und pflegen.
Eskapismus
bezeichnet die bewusste oder unbewusste Fluchthaltung.
Essentialisierung
ist die Festschreibung des Anderen auf seine Andersartigkeit bzw. des Eigenen auf seine ursprüngliche Wesenheit, wobei innere Differenzen nivelliert werden.
Essentialismus
beschreibt die Annahme, dass Gegenstände eine ihnen zu Grunde liegende, alle Veränderungen überdauernde Essenz aufweisen.
etisch
ist die distanzierte Aussensicht bzw. Außenperspektive von Mitgliedern einer Kultur.
Ethik
stellt die Theorie der Moral dar. Es handelt sich konkret um die Begründung moralischer Normen und um die Analyse der Herkunft von Werten, geschichtlichen und kulturellen sowie interkulturellen Geltungsansprüchen und -grenzen.
7.3 Zwischenbetrachtung Begriffserklärungen
183
Ethik, deskriptive
thematisiert und problematisiert Normen- und Wertsysteme auf einem empirischen Weg. Dabei geht es um die Beschreibung dieser Phänomene unter Berücksichtigung klimatischer, geographischer, kultureller, religiöser und anderer Faktoren sowie um die Frage nach dem Geltungsanspruch verschiedener Normen.
Ethik, interkulturelle
erklärt, wann, wo und unter welchen Voraussetzungen eine menschliche Handlung als gut oder schlecht, angemessen oder unangemessen beurteilt wird. Sie untersucht Gründe, die Individuen zu bestimmten Handlungen motivieren. Dies umfasst die Begründung kulturell bedingter Besonderheiten in Sitten, Gebräuchen, Gepflogenheiten, Traditionen und Kulturen oder Rechtssystemen im Vergleich und Verständnis der Kulturen unter Berücksichtigung kultureller Kontexte.
Ethik, normative
thematisiert und problematisiert die Prinzipien eines für alle guten Lebens, den Maßstab moralisch richtigen Handelns und den Soll- und Musszustand kultureller Kontexte. Dabei geht es um unterschiedliche Imperative des Kulturellen, des Religiösen und des Gesellschaftlichen.
Ethnie
beschreibt Menschen, die sich durch gemeinsame Geschichte, Kultur und Religion miteinander verbunden fühlen, die sich auch innerhalb eines Territoriums befinden.
Ethnizität
beschreibt eine gemeinsame regionale Herkunft mit einer gemeinsamen Sprache und Geschichte einer bestimmten Gruppe.
Ethnophilosophie
stellt eine bestimmte philosophische Position dar, die stark exotisierend und damit marginalisierend betrachtet wird.
Ethnozentrismus
ist eine Vorstellung, die das Referenzsystem der eigenen Gruppe verabsolutiert und alle anderen Gruppen nach dem eigenen Maßstab bewertet. Dies führt zur Überhöhung der eigenen Kultur und zur Abwertung oder stufentheoretischen Behandlung der Fremdgruppen.
Evaluation
beschreibt die wissenschaftliche Überprüfung und Bewertung von Maßnahmen.
Evidenz
heißt unmittelbar einleuchtende Gewissheit über einen Sachverhalt.
Externalisierung
bedeutet Verlagerung von Unerwünschtem nach außen.
Exklusivität
bedeutet Ausschließlichkeit und ist stets mit einem Wahrheits- und Absolutheitsanspruch verbunden, der je nach Kontext auch strategisch eingesetzt werden kann.
Exotisierung
ist eine eigentümliche und befremdende Beschreibung des Anderen, die eine Art positiven Rassismus darstellt.
Exotismus
bedeutet, den Anderen nicht in dessen Bezugssystem zu erfahren, sondern ihn mit eigenen Idealen vergleichend zu betrachten und ihn in ethnozentrischer Ausschmückung als radikal verschieden zu interpretieren.
Extension
beschreibt und umfasst die Menge aller Dinge, die unter einen Begriff fallen.
Falsifizierbarkeit
beschreibt die Möglichkeit, eine Aussage theoretisch zu widerlegen.
Forschung, interkulturelle
ist der Name einer Tätigkeit mit einem dialogtheoretischen und dialogpraktischen Charakter, die darauf ausgerichtet ist, traditionelle Methoden und Theorienansätze, die außereuropäische Traditionen nicht angemessen kritisch gewürdigt haben, interkulturell neu zu durchdenken, um neue Wege in Aussicht zu stellen.
184
Begriffserklärungen
Fremde, das (traditionelle Ausdrucksform)
wird in der Regel als das bezeichnet, was wir in gewohnter Umgebung nicht kennen.
Fremdgruppe
umschreibt eine Gruppe, zu der eine Person nicht gehört oder nicht zu gehören glaubt.
Gattungsbegriff
ist ein Begriff, der eine Reihe wesentlicher Merkmale untergeordneter Arbeitsbegriffe zu einer in sich zusammengehörenden gedanklichen Einheit zusammenfasst.
Gehäusedialog
ist ein Scheindialog, der von vornherein eine verabsolutierte Meinung pflegt und letzten Endes die eigene Auffassung von Dialog durchsetzen will.
Gehäusetoleranz
ist eine Scheintoleranz, die eine verabsolutierte Meinung von vornherein und fraglos praktiziert und nur ein bestimmtes Toleranzverständnis akzeptiert, nämlich das eigene.
Gender
bezieht sich auf die sozial und kulturell konstruierten, Männern und Frauen zugeschriebenen Rollen und die daraus resultierenden Beziehungen.
Genozid
bezeichnet die systematische und geplante Auslöschung einer bestimmten Menschengruppe, eines Volks oder einer Volksgruppe.
Geographie des Denkens
bedeutet anzunehmen, dass es bspw. Kulturregionen gibt, in denen Menschen holistisch denken bzw. handeln, und es andere Kulturgebiete gibt, wo Menschen linear-analytisch denken bzw. handeln.
Gesellschaft, multikulturelle
stellt eine Gesellschaftsform dar, in der Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft, samt ihrer Religionen und Sprachen, zusammenleben.
Gewalt, strukturelle
liegt vor, wenn eine Person, eine Gruppe von Menschen ohne ständige direkte Gewaltausübung einen Kontinent oder einen Teil der Weltgemeinschaft für unterentwickelt erklärt und entsprechend behandelt.
Ghettoisierung
beschreibt die Ausgrenzung von Andersdenkenden oder Anderserzogenen.
Globalisierung
beschreibt die weltweiten Veränderungen auf allen Ebenen der menschlichen Beziehungen in Wissenschaft, Politik, Kunst, Religion und Gesellschaft.
Globalisierung, kulturelle
besagt, dass es auch auf der Ebene kultureller Vorstellungen, Entwürfe und Identitäten zu zunehmenden wechselseitigen Verflechtungen und Beeinflussungen kommt.
Glokalisierung
zusammengesetzt aus den Begriffen „Globalisierung“ und „Lokalisierung“, bezeichnet sie die Verbindung und das Nebeneinander des multidimensionalen Prozesses der Globalisierung und seiner lokalen bzw. regionalen Auswirkungen und Zusammenhänge.
Häresographie
versteht sich als die Abgrenzung einer verwandten zu einer gegensätzlichen Lehre oder deren Unterscheidung.
Haltung
beschreibt eine Einstellung, die zum Ausdruck bringt, welchen Werten man verpflichtet ist und welcher Weltanschauung man angehört.
Habitualisierung
beschreibt Angewohnheiten.
Harmonie
bedeutet Übereinstimmung und Einklang innerhalb eines Sachverhaltes.
7.3 Zwischenbetrachtung Begriffserklärungen
185
Hermeneutik, apozyklische
ist eine Interpretations- und Verstehensmethode, die restaurativ-reduktiv verfährt. Sie beschränkt sich auf Selbsthermeneutik und betrachtet andere Denkformen nur aus der eigenen Perspektive heraus.
Hermeneutik, enzyklische
versteht sich als eine argumentative Methode, die darauf ausgerichtet ist, durch vielfaches Hin- und Hergehen das beziehungslose Nebeneinander des Eigenen und des Anderen in ein interaktives Miteinander zu verwandeln.
Hermeneutik, interkulturelle
ist ein methodisches Regelwerk des Verstehens, der Auslegung und der Erklärung von Texten, Kunstwerken und Zusammenhangsstrukturen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten, in denen es um das Wechselverhältnis zwischen dem Eigenen und dem Anderen geht.
Heterogenität
beschreibt die Vielfalt und Andersartigkeit kultureller Kontexte.
Heterophilie
beschreibt den Zustand der Freundlichkeit dem Anderen gegenüber.
Hererophobie
beschreibt den ablehnenden Zustand des Anderen.
Heuristik
heißt Erfindungskunst, eine Vermutung oder Annahme allgemeiner Art, die zur Auffindung neuer Einsichten dient.
heuristisch
bedeutet erfinderisch suchend. Ein heuristisches Prinzip ist eine Vermutung oder Annahme allgemeiner Art, die zur Auffindung neuer Einsichten dient. Ein solches Verfahren zeigt, auf welchem Weg Erkenntnisse entdeckt und weitergeführt werden.
Historiographie, problemorientierte
ist darauf ausgerichtet, zentrale Probleme der Philosophie in einem bestimmten Kontext zu analysieren.
historisch vorgehen
bedeutet, das Untersuchungsobjekt in einen historischen Zusammenhang zu stellen und es aus dieser Perspektive heraus zu erfassen.
Homogenität
bringt die Uniformität bzw. Gleichmäßigkeit eines Sachverhaltes zum Ausdruck.
Homonymie
bezeichnet lautliche Übereinstimmung von Wörtern mit verschiedener Bedeutung und Herkunft.
Horizontenüberlappung
beschreibt eine reflektierte Schnittmenge unterschiedlicher Denkhorizonte, die ihre Selbigkeit beibehalten und offen sind für Alteritäten.
Horizontenverschmelzung
bedeutet das Zusammenschweißen verschiedener Denkhorizonte, das zumeist ohne ausreichende Reflexion geschieht.
Hybridität
ist ein anderer Ausdruck für Mischformen, die kultureller, religiöser oder traditioneller Art sein können.
Hypostase
ist die Bezeichnung für die Personifizierung göttlicher Attribute bzw. die Grund- oder Unterlage von etwas.
Hypostasierung
bedeutet etwas zu vergegenständlichen oder als gegenständlich zu betrachten.
Identität
umfasst die kennzeichnende und unterscheidende Eigentümlichkeit eines Menschen als Individuum.
Indifferentismus
heißt, sich anderen Anschauungen und Bestrebungen gegenüber gleichgültig zu verhalten.
Indifferenz
beschreibt einen Sachverhalt, in dem alles unterschiedslos einander gegenübergestellt wird.
indigen
bedeutet eingeboren.
186
Begriffserklärungen
Infantilisieren
bedeutet, jemanden als Kind zu behandeln.
Ineffizienz
bedeutet Unwirksamkeit.
Inklusivität
heißt Einschließung und beschreibt die reziproke Art und Weise, in der Menschen im Kommunikationszusammenhang aufeinander einwirken und gemeinsame Wege gestalten.
Inkommensurabilität
bedeutet, dass eine These in gleicher Art nicht messbar ist wie eine andere These. Gibt es kein gemeinsames Maß zwischen zwei oder mehreren Thesen, das Vergleichbarkeit garantiert, so sind sie inkommensurabel.
Integration
heißt Eingliederung einer Person in eine Gruppe, eine Gemeinschaft oder Gesellschaft bzw. einer Gruppe in eine größere Gruppe.
Intelligenz, künstliche
bezeichnet den Versuch, durch die Automatisierung intelligenten Verhaltens eine menschenähnliche Intelligenz nachzubilden.
Intelligenz, naturbezogene
umfasst die Erkenntnis von Anpassungsnotwendigkeiten an klimatische und wetterbedingte Gegebenheiten.
Intelligenz, soziale
befähigt den Menschen, sich als ein soziales Wesen zu entdecken, das in Gruppen, gegen Gruppen und zwischen Gruppen interagiert.
Intelligenz, spirituelle
gibt der angeborenen Sehnsucht die Willensdynamik, um die Welt in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit und Hintergrundstruktur zu begreifen.
Intelligenz, technische
bezieht sich auf diverse Zweckrationalismen bei der Herstellung von Werkzeugen, um das eigene Überleben zu sichern.
Interaktion
bedeutet das Zusammenwirken von verschiedenen Menschen.
Interferenz, interkulturelle
beschreibt Prozesse gegenseitiger, oft auch voreiliger und fälschlicher Übertragung eigener Kulturmuster auf die jeweils anderen kulturellen Kontexte.
Intension
bezeichnet die Merkmale und die wechselseitigen Beziehungen der Merkmale eines Begriffs.
Interdisziplinarität
bezeichnet eine fachübergreifende Arbeitsweise bzw. die Kooperation zwischen verschiedenen Fachrichtungen, um eine Aufgabe angemessen zu lösen.
Interkulturalität
ist der Name einer Theorie und Praxis, die sich mit dem historischen und gegenwärtigen Verhältnis aller Kulturen und den Menschen als ihren Trägern auf der Grundlage ihrer völligen Gleichwertigkeit beschäftigt. Sie ist eine wissenschaftliche Disziplin, sofern sie diese Theorie und Praxis methodisch untersucht.
Interkulturalität, historische
untersucht im Kontext der sozial-, geistes- und kulturwissenschaftlichen Geschichtsschreibung interkulturelle Begegnungen und analysiert ihre Kontinuität und Diskontinuität.
Interkulturalität, systematische
umfasst Korrelatbegriffe, die die Bereiche des Eigenen und des Anderen, der Kompetenz, der Toleranz, Semantik, Hermeneutik und Komparatistik sowie der Ethik und ihre Terminologien, also Begriffsapparate, zum Gegenstand haben. Alle genannten Begriffe dienen zur Herstellung gelungener interkultureller Kommunikation, die wiederum eine Teildisziplin der Interkulturalität darstellt.
Interkulturalität, vergleichende
untersucht Divergenzen und Konvergenzen in der sozial-, geistes- und kulturwissenschaftlichen Geschichtsschreibung und setzt Theorien und Überlegungen miteinander in Beziehung, die sich mit den Themenfel-
7.3 Zwischenbetrachtung Begriffserklärungen
187
dern der Interkulturalität befassen, oder Bereiche, die für die Interkulturalitätsforschung relevant sind. interkulturell
bezeichnet einen Zwischenraum, in dem ein Austauschprozess stattfindet, durch den Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund in Kontakt treten.
Intermundien
bedeutet Zwischenwelten.
Intersubjektivität
bringt zum Ausdruck, dass ein Sachverhalt oder eine Einstellung für alle Menschen gleichermaßen erkennbar und nachvollziehbar ist.
Intertextualität
stellt die Beziehungen zwischen Texten aus unterschiedlichen Kontexten dar.
Intoleranz, äußere
beschreibt eine ablehnende Haltung gegenüber Gemeinschaften, die nicht der Eigenen angehören.
Intoleranz, formale
lässt „fremden Glauben nicht unangetastet, sondern zwingt ihre Vertreter zur Unterwerfung unter eine sakrale Institution eines Staates oder einer Kirche, deren formale Einheit durch abweichende Glaubens- und Kultformen gestört werden würde.“
Intoleranz, inhaltliche
bekämpft andere Überzeugungen um der vermeintlichen Wahrheit willen oder im Namen einer bestimmten Ideologie.
Intoleranz, innere
wird praktiziert gegenüber den als Häresie oder Ketzerei bezeichneten Abweichungen vom eigenen offiziellen Glauben.
Isomorphie
beschreibt eine Kommunikationssituation, in der zwei Meinungen eine Entsprechung erfahren.
Koexistenz-Konzeption
beschreibt eine Konzeption, in der sich zwei ungefähr gleich starke Gruppen gegenüberstehen, die einsehen, dass sie um des sozialen Friedens und ihrer eigenen Interessen willen Toleranz üben sollen.
Koinzidenz
heißt Zusammenfall von unterschiedlichen Ansichten und Intentionen.
Kolonisation
ist das Herrschafts-, Macht- und Ausbeutungssystem der europäischwestlichen Hemisphären gegenüber anderer Völker.
Kommensurabilität
bedeutet, dass eine These in gleicher Art messbar ist wie eine andere These.
Kommunikation, direkte
bezeichnet eindeutige Sprechakte im interpersonalen oder interkulturellen Kontext, die sich auf eine bestimmte Person beziehen.
Kommunikation, indirekte
beschreibt mehrdeutige Äußerungsformen im interpersonalen oder interkulturellen Kontext.
Kommunikation, interkulturelle
ist eine Diskursform, in der Menschen aus kulturell unterschiedlichen Kontexten miteinander ins Gespräch kommen. Interkulturelle Kommunikation dient als Grundlage und Ausgangsposition vieler Korrelatbegriffe, weil der Mensch ein kommunikatives Wesen ist und ohne Kommunikation im Leben nicht auskommen kann.
Kommunikation, komplementäre
umschreibt eine Gesprächssituation, in der durch Lehrkultur eine gegenseitige Ergänzung von Divergenzen angestrebt wird.
Kommunikation, nonverbale
ist sprachungebunden und besteht aus Gestik und/oder Mimik.
Kommunikation, symmetrische
beschreibt das Bestreben nach Gleichheit und Verminderung von Unterschieden zwischen den Partnern.
Kommunikation, verbale
ist sprachgebunden und besteht aus Worten, Zeichen oder sonstigen Informationsträgern.
188
Begriffserklärungen
Komparatistik, interkulturelle vergleicht Sachverhalte aus kulturell unterschiedlichen Kontexten gemäß ihrer inneren Logik, setzt diese mit anderen Themen, Themenbereichen oder Problemen in Beziehung und schlussfolgert, ohne das tertium comparationis ausschließlich in einer Tradition zu verankern. komparatistisch vorgehen
bedeutet, unterschiedliche Modelle miteinander in Beziehung zu setzen, Übereinstimmungen und Unterschiede zu konstatieren, ohne diese gegenseitig aufeinander zu reduzieren oder gegeneinander auszuspielen.
Kompatibilität
umschreibt den Zustand des Zusammenpassens zweiter Sachverhalte, Gegenstände oder Ideen.
Kompetenz, interkulturelle
ist eine Fähigkeit, die einen Aneignungsprozess von Informationen und Verhaltensweisen beschreibt, die uns dazu verhelfen, eine Aufgabe zu meistern, einer Herausforderung zu begegnen oder eine Tätigkeit in interkulturellen Kontexten auszuführen. Die Aneignung von Kompetenzen wird erforderlich, wenn unterschiedliche Denkformen, Handlungsmuster oder Lebensentwürfe miteinander in Berührung kommen. Damit sind auch Werte- und Normenorientierung sowie begriffliche und theoretische Bezugssysteme gemeint, die nicht immer expliziert sind.
Konflikt
nennt man das Vorhandensein gegensätzlicher Einstellungen und Überzeugungen, die einen Dialog erschweren oder gar unmöglich machen. Insofern beschreibt der Konflikt eine unversöhnliche Haltung zwischen den Parteien.
Konflikt, interkultureller
beschreibt eine Situation, in der zwischen verschiedenen Kulturen entweder ein Unbehagen im Raum steht oder verschiedene Einstellungen und Überzeugungen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten mehr oder weniger unversöhnlich einander gegenüberstehen.
Konstrukt
ist eine Meinung, Urteilsform ohne empirische Basis oder eine Erkenntnis ohne reale Grundlage.
Kontext
beschreibt einen Zusammenhang, indem sich etwas abspielt.
kontextuelles Verfahren
bedeutet, unterschiedliche Traditionen mit ihren jeweils eigenen Terminologien, Fragestellungen und Lösungsansätzen als gleichberechtigte Diskursbeiträge von ihren verschiedenen Positionen her zur Sprache kommen zu lassen, um gemeinsame Perspektiven entwickeln zu können.
Kontingent
bedeutet, in der Anordnung, zusammen mit mehreren Gattungsbegriffen, benachbart zu sein.
Kontingenz
bedeutet Zufälligkeit oder Möglichkeit des Anders-sein-Könnens.
Kontrast
verweist auf einen Unterschied zwischen verschiedenen Modellen, die als gegensätzlich deklariert werden.
Konvention
beschreibt eine Festlegung, die in Form eines Vertrags zwischen zwei oder mehreren Personen getroffen wird.
Korrelation
beschreibt den Zusammenhang zwischen zwei oder mehreren Eigenschaften.
korrelativ
bezeichnet das gegenseitige Aufeinanderbezogensein von Begriffen, Theorien und Sachverhalten.
Kultur
impliziert als ein offenes und dynamisch veränderbares Sinn- und Orientierungssystem, wie die Beziehungen einer Gruppe strukturiert sind und wie diese erfahren, verstanden und interpretiert werden.
7.3 Zwischenbetrachtung Begriffserklärungen
189
Kulturalismus
bedeutet die Überbetonung der ethnischen Anteile eines Kulturraumes.
Kulturalisierung
bedeutet die Instrumentalisierung des Bezugsrahmens kultureller Argumentationsweisen für die Durchsetzung eigener Interessen.
Kulturbegriff, symbolisch-struktureller
umfasst ein Konzept, in dem Akteure die Bedeutung ihrer Handlungen mit symbolischen Ordnungen identifizieren und die Bedeutung dieser Handlung auf Strukturen beziehen.
Kulturbegriff, intellektualistischer
umfasst ein Konzept, das zwar rein intellektualistisch in der Theorie beheimatet ist, das aber unter normativen Aspekten gedeutet werden kann.
Kulturbegriff, normengebender
umfasst ein normgebendes und nach festen Regeln beurteilendes und wertendes Konzept. Dies setzt einen idealen Lebensentwurf voraus, der einen universalistischen Anspruch erhebt. Eine Lebensform wird favorisiert, die den realen Umständen des Lebens in der Regel nicht entspricht.
Kulturbegriff, geschlossener
umfasst ein regionalisierendes und nationalisierendes Konzept, nach dem Kulturen wie Kugelgestalten ohne Bezug zueinander aufgefasst werden.
Kulturfelder
umfassen Bereiche wie Nationalität, Organisation, Religion, Geschlecht, Generation, Familie.
Kulturgut
umfasst die materiellen und immateriellen Erscheinungs- und Ausdrucksformen einer Kultur.
Kulturimperialismus
beschreibt eine expansionistische Haltung, welche die Welt unter einer bestimmten Herrschaftsideologie zu gestalten bemüht ist.
Kulturmuster
bezeichnet die Organisation von einzelnen Kulturelementen zu charakteristischen Ganzheiten oder Mustern.
Kulturoptimismus
ist eine positiv-hoffnungsvolle Anschauungsform bzw. Bewertung der Kulturen.
Kulturpessimismus
ist eine negativ-skeptische Anschauungsform bzw. Bewertung der Kulturen.
Kulturrelativismus
bezeichnet die Haltung, nach der kulturelle Phänomene nur in ihrem eigenen Kontext verstanden, beurteilt und bewertet werden.
Kulturschock
umschreibt Formen der Verunsicherungen von Menschen im Kontakt zu Angehörigen anderer Kulturräume im In- und Ausland.
Kultursensibilität
bezeichnet einen respektvoll-feinfühligen Umgang mit kulturellen Divergenzen oder Andersheiten.
Kultursensitiv
bedeutet die Berücksichtigung soziokulturell eingespielter Einstellungen, Wertungen, Stereotypen oder Ideologien eines Wortes oder eines Verhaltens.
Kulturtourismus
bezieht sich auf alle Arten von Reisen der Menschen zu kulturellen Attraktionen inner- oder außerhalb des eigenen Landes.
Kulturwandel
bedeutet Umwälzung einiger oder aller Ebenen einer Kultur.
Kulturzentrismus
ist der Versuch, die eigene kulturelle Prägung in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen und andere abzuwerten.
Leitkultur
beschreibt die von der Mehrheitsgesellschaft bestimmten und praktizierten Werte und Normen, die gegenüber denen der Minderheiten höher gestellt werden.
Lernen, interkulturelles
bedeutet das Erlernen kultureller Divergenzen und Konvergenzen im Vergleich und Verhältnis der Kulturen und Traditionen.
190
Begriffserklärungen
Macht
ist eine Fähigkeit, im Kontext eines sozialen Netzwerkes darauf ausgerichtet zu sein, den eigenen Willen, notfalls auch gegen den Willen des/ der Anderen, gewaltsam zum Erfolg durchzusetzen
Macht, negative
ist eine Fähigkeit, die darauf ausgerichtet ist, alles nach einer apodiktischen Selbstgesetzgebung, ohne Rücksicht auf die Interessen des/der Anderen, zu beherrschen.
Macht, positive
ist eine Fähigkeit, die darauf ausgerichtet ist, alle möglichen Machtformen einzusetzen, um eine gleichheitsorientierte Kommunikation zwischen unterschiedlichen Formen des Denkens und Handelns zu ermöglichen.
Management, interkulturelles
beschäftigt sich mit Geschäftsaktivitäten und -feldern von Unternehmen, deren Akteure aus kulturell unterschiedlichen Ländern stammen, die wiederum unterschiedliche Wertvorstellungen haben und sich durch divergierende Denk- und Handlungsweisen auszeichnen.
Mediation, interkulturelle
ist eine dialogische Verfahrensform, um zwischen zwei oder mehreren disparaten Einstellungen zu vermitteln. Sie verbindet das VerstehenWollen und Verstandenwerden-Wollen von Partnern miteinander und bietet eine solide Grundlage für ein gewaltfreies Konfliktlösungsverfahren ohne Verlierer.
Medien
lässt sich als ein Sammelbegriff für alle audiovisuellen Mittel und Verfahren auffassen, die zur Verbreitung von Informationen aller Art durch Zeitungen, Zeitschriften, Radio, Fernsehen, Internet sowie Belletristik oder Fachliteratur beitragen.
Menschenrechte
sind Rechte, die jedem Menschen ohne Berücksichtigung seiner Herkunft und Hautfarbe gleichermaßen zustehen.
Menschenwürde
ergibt sich daraus, dass der Mensch nicht ohne Bewusstsein lebt, sondern sich denkend, lernend, verstehend und fühlend mit seinen Mitmenschen in Beziehung setzt. Das Gefühl der Achtung zu sich selbst und Anderen gegenüber, das Pflichtgefühl, sich am Leben zu erhalten und gewissenhaftes sowie verantwortungsvolles Handeln sind Eigenschaften, die nur im Menschen ihren Ausdruck finden. Diese variablen Attribute machen die Einzigartigkeit der menschlichen Gattung sowie ihre Würde aus. Die Freiheit, als das ureigene Bedürfnis des Menschen, sich selbstbestimmend zu entfalten, ist ein Bestandteil der Menschenwürde.
Metaethik
thematisiert und problematisiert die Sprache und Logik moralischer Diskurse, die Methoden moralischer Argumentationen sowie die Tragfähigkeit und Umsetzbarkeit ethischer Theorien in unterschiedlichen Kontexten.
Metakommunikation
meint, dass Kommunikation sich auf verschiedenen Reflexionsebenen vollziehen kann. Es geht um eine Kommunikation über kulturspezifische Formen von Kommunikation, die bspw. für die Entfaltung des interkulturellen Lernens fruchtbar gemacht werden kann.
Methode
ist eine strukturierte Verfahrensweise. Sie bringt zum Ausdruck, wie eine Aufgabe formuliert und effizient gelöst werden kann und befähigt dazu, Erkenntnisse zu gewinnen, zu sammeln, auszuwerten, einzeln zu verstehen, zu analysieren, zu kontrollieren und schließlich in einem planvollen Vorgehen in den Kontext einzuordnen.
Methodenpluralismus
meint die Anwendung verschiedener Methoden im Prozess einer Problemlösung oder in einem Arbeitsfeld.
7.3 Zwischenbetrachtung Begriffserklärungen
191
Migration
beschreibt die Wanderung, räumliche Bewegung bzw. Mobilität von Individuen oder Gruppen in Form eines relativ dauerhaften Wechsels des Wohn- bzw. Lebensortes.
Monotheismus
beschreibt eine Religion, in der von einem einzigen Gott ausgegangen wird.
Moral
ist ein System von Verhaltensweisen, die sich in diversen intra- oder interkulturellen Kontexten unterschiedlich vollziehen und die das Handeln des Menschen als gut oder schlecht, angemessen oder unangemessen bestimmen sollen.
Motivation
beschreibt die persönliche Energiequelle, die Energiebereitstellung für das Erreichen eines Zieles. Dabei geht es um den Versuch, wie Verhalten zustande kommt und mit Energie versorgt wird. Motivation beinhaltet stets ein Bündel von Motiven.
Motivation, äußere
verweist auf die Möglichkeit extrinsischer Motive, durch eine Person, Gruppe oder Institution.
Motivation, innere
beschreibt autonome oder selbstgewirkte Motive, die ohne äußere Einflüsse in einer Person entstehen.
Motivation, primäre
heißt Identifikation der inneren Motive mit dem Ziel mit der Tätigkeit.
Motivation, sekundäre
beschreibt die Wechselhaftigkeit der Motivationen, die zustande kommen, wenn eine Tätigkeit nur Mittel zum Zweck wird.
Motivationsanalyse
bedeutet differenzierte Ergründung von Beweggründen und deren Zusammenspiel und Dissonanzen.
Motive
sind zielgerichtete Beweggründe, die zur bewussten oder unbewussten Befriedigung eines Bedürfnisses beitragen.
Multikulturalität
kennt verschiedene Orientierungen des Kulturbegriffs: von Offenheit bis zur Geschlossenheit. Ihre Extremform geht von Kulturen als homogenen, „separaten Einheiten“ bzw. „geschlossenen Systemen“ aus. In diesem Sinne artikuliert sie Schutz und Anerkennung kultureller Unterschiede. Danach existieren Kulturen nebeneinander und sind einander wesensfremd.
normativ vorgehen
bedeutet, den Untersuchungsgegenstand vor dem Hintergrund der Wertvorstellungen zu untersuchen, auf denen er beruht.
Objektivation
bedeutet, etwas zum Objekt zu machen oder zu verdinglichen.
Ontogenese
beschreibt die biologische Entwicklung eines Individuums.
Partikularität
heißt Gebundenheit einer Idee, einer Theorie, eines Sachverhaltes oder eines Prinzips an eine bestimmte, besondere Kultur.
Partikularität der Ethik
bedeutet, dass jedes Volk gewisse traditionsgebundene Gewohnheiten hat, die für es spezifisch hält und die damit verbindlich sind.
Paternalismus
bedeutet Bevormundung.
Perspektivenwechsel
bedeutet, sich von seinen festgefahrenen Ansichten und immerwährenden Absichten bewusst zu distanzieren, um die Argumente des Gegenübers angemessen zu verstehen und zu würdigen.
phänomenologisch vorgehen
bedeutet, unterschiedliche Formen der Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung des Anderen zu beschreiben, um dadurch dialogische Aspekte zu gewinnen.
192
Begriffserklärungen
Philosophie, interkulturelle
darunter wird als eine Teildisziplin der Interkulturalität diejenige Entwicklung verstanden, durch die das gesamte herkömmliche Philosophieren eine korrektive Ausweitung und ergänzende Vertiefung erfahren soll.
Polis
beschreibt die politische Form des Staates im alten Griechenland.
Polyamorie
bezeichnet eine Lebensform der sozialen Beziehungsebene und des zwischenmenschlichen Kontaktes, bei dem mehrere Liebesbeziehungen parallel von einer Person geführt werden.
Polysemie
bezeichnet das Vorhandensein mehrerer Bedeutungen zu einem Wort.
Polytheismus
beschreibt eine Religion, in der mehrere Gottheiten angenommen werden.
Polyzentrismus
beschreibt die geschlossene Eigenständigkeit der Kulturen, die beziehungslos nebeneinander stehen.
Postkolonialismus
bezeichnet die Befreiungszeit der kolonialisierten Völker.
Präexistenz
deutet auf die Existenz eines Gegenstandes oder einer Angelegenheit hin, und zwar zu einem früheren Zeitpunkt als dem jetzigen Sein.
Prestige
artikuliert die Zuschreibung von Werturteilen, die eine Erhöhung von Rang, Status, Stellung, Ansehen, Ruhm, Vorrang, Würde, Größe oder Erhabenheit eines potentiellen Prestigeträgers ergeben.
Projektion
beschreibt eine Situation, in der eine Person ihre eigenen Wesenszüge auf andere Personen projiziert.
propositional
verweist auf die inhaltliche Ebene eines Satzes.
Prozess
bezeichnet Dauer und Verlauf eines Sachverhaltes.
Psychologisierung
bezeichnet die Verlagerung eines sozialen Vorganges in die Psyche des Menschen.
Rassismus
ist eine Konstruktion von tatsächlichen oder fiktiven Divergenzen, die Diskriminierung legitimiert.
rationalistisch vorgehen
bedeutet, die Fähigkeiten der Vernunft zu benutzen und zu beachten, welche unterschiedlichen Argumentationsformen diese im Vergleich und Verständnis der Kulturen hervorbringen.
Rechtspluralismus
verweist auf die Tatsache, dass es in einem Staat mehr oder weniger koexistierende Rechtsmechanismen gibt.
Reduktionismus
heißt, ein Phänomen auf ein bestimmtes Verständnis zu begrenzen, die Überbetonung eines aus dem Ganzen herausgesuchten Einzelteils, von dem aus generalisiert wird.
Reflexion
bedeutet rückbezügliches Denken, spezifisch und gezielt über etwas nachzudenken und Überlegungen anzustellen.
Reformismus
beschreibt die Bestrebung auf eine allmähliche Reform innerhalb von etwas.
Remigration
bedeutet Rückwanderung.
Repertoire, kulturelles
ist die Menge menschlicher Gewohnheiten und Ideen, die Menschen unter bestimmten historischen Verhältnissen verwenden und die in jeder konkreten Situation immer wieder, auf den Einzelfall abgestimmt, neu arrangiert werden.
7.3 Zwischenbetrachtung Begriffserklärungen
193
Respekt-Konzeption
geht von einer moralisch begründeten Form der wechselseitigen Achtung der sich tolerierenden Individuen bzw. Gruppen aus, insbesondere in einer rechtsstaatlich verfassten politischen Gemeinschaft.
Responsivität
beschreibt eine antwortende Haltung, eine Antwortbereitschaft oder das Eingehen auf die Interaktions- und Kommunikationsversuche des Anderen.
Rigorismus
umschreibt das unbedingte Festhalten an etwas.
Schablonisierung
bezeichnet eine Gussform, nach der eine Sache oder ein Problem gemäß einem vorgefertigten Muster generalisiert wird.
Segregation
beschreibt eine Trennung von Bevölkerungsgruppen, auch unter Anwendung von Gewalt.
Selbstdefaitismus
bezeichnet die Selbstaufgabe bzw. die Überzeugung, dass keine Aussicht auf Erfolg zu erwarten ist.
Selbsterkenntnis
ist das reflektierte Wissen einer Person über sich selbst.
Semantik, interkulturelle
beschäftigt sich mit kulturell und kontextuell bedingten Äußerungsformen und den daraus hervorgehenden Missverständnissen in der interkulturellen Kommunikation. Sie bezieht sich auf einen Ausschnitt interkultureller Kommunikationsvorgänge, nämlich die Beschreibung kulturspezifischer Wortbedeutungen. „Interkulturelle Semantik“ steht für die Erweiterung von Kompetenzbereichen der Semantik.
semantisch vorgehen
heißt, Begriffsbedeutungen einzelner sprachlicher Äußerungen zu klären und miteinander in einen reziproken Zusammenhang zu setzen.
Solipsismus
bezeichnet den Standpunkt, nach dem nur das eigene Ich als wirklich gilt, während andere Ich-Formen nur als Bewusstseinsinhalte ohne eigene Existenz angesehen werden.
Spiritualität
beschreibt die Vorstellung einer geistig-meditativen Verbindung zum Jenseits oder zur Unendlichkeit.
Subkultur
ist eine kleine Kultur innerhalb einer Kultur.
Stereotyp
sind persönlich-negative, ablehnende Beurteilungen oder persönlichpositive, aufwertende Beurteilungen, die generalisiert werden. Dies beschränkt sich nicht nur auf X oder Y aus einer Kultur oder einer Gruppe, sondern umfasst alle Menschen aus dieser oder jener Kultur.
Stigmatisierung
bedeutet Zuschreibung von negativen Eigenschaften, die eine Ausgrenzung begründet.
Symbiose
bedeutet das Zusammenleben von Lebewesen bei gegenseitiger Abhängigkeit und gegenseitigem Nutzen.
Synkretismus
beschreibt in der Regel eine kritiklose Vermischung verschiedener Systeme, ohne Durchdringung und Ausgleichung ihrer Prinzipien.
Tabellographie
beschreibt in der Regel eine chronologische Vorgehensweise, die sowohl Lebensdaten der Philosophen als auch ihre wichtigsten Werke mit zentralen Ideen in knappen Sätzen übersichtlich präsentiert.
Tautologie
verdeutlicht, dass eine Aussage, unabhängig von ihrem Wahrheitswert, immer wahr ist. Sie bezeichnet eine Formulierung oder Ausdrucksform, die gleichbedeutend verwendet wird.
Tertium comparationis
bedeutet Vergleichsmaßstab.
194
Begriffserklärungen
tolerant sein
stellt eine grundsätzliche Einstellung dar, die anderen Formen des religiösen oder politischen Denkens und Handelns nicht ablehnend gegenübersteht, sondern diese in ihrem eigenen Recht gelten lässt.
Toleranz
ist ein Streitbegriff, der eine schöpferische Haltung beschreibt, die bei der Bewertung einer Sache oder einer Streitfrage als das weise Maß angesehen werden kann, um das Nebeneinander in ein Miteinander zu überführen.
Toleranz, äußere
bezieht sich „auf die außerhalb der eigenen Religion stehenden Religionen“. Die äußere Toleranz erkennt die Echtheit und den Gültigkeitsanspruch von Verhaltensweisen an, deren Motive nicht in der eigenen Religion verankert sind.
Toleranz, formale
ist in vielen Verfassungen als staatlich garantierte Glaubensfreiheit verankert.
Toleranz, inhaltliche
beschränkt sich nicht auf ein bloßes Unangetastetlassen anderer Religionen, sondern bedeutet ihre positive Anerkennung als echte und berechtigte religiöse Möglichkeit der Begegnung mit dem Heiligen.
Toleranz, innere
spielt sich innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft ab. Sie betont den Unterschied zwischen formaler und inhaltlicher Haltung durch „formale Duldung oder positive Anerkennung von Divergenzen […] innerhalb der eigenen Religion bzw. des eigenen Religionsorganismus“.
Toleranz, interkulturelle
ist eine Fähigkeit, Konvergenzen und Divergenzen sowie Schnittmengen im Verständnis der Kulturen und kulturellen Kontexte zu suchen, um gemeinsame Regeln für den Umgang miteinander zu formulieren.
Toleranz üben
ist eine Haltung, die einen kommunikativen Charakter hat und durch aktive Anteilnahme zur Anerkennung Anderer führen will.
Tradition
bezeichnet die Weitergabe von Handlungsmustern, Überzeugungen und Glaubensvorstellungen innerhalb einer Kultur, Religion oder Weltanschauung.
Training, interkulturelles
beschreibt unterschiedliche Lern- und Handlungsprozesse, die dazu befähigen, sich auf Situationen in verschiedenen kulturellen Kontexten adäquat und zielführend einstellen zu können.
Transkulturalität
ist ein Ansatz, der eine gemeinsame Kultur jenseits bestehender kultureller Eigenheiten annimmt. Die Kombination von Elementen verschiedener Herkunft kann so ein Individuum transkulturell erscheinen lassen.
Universalismus
beschreibt den Anspruch, die Wirklichkeit der Gesamtheit aller Phänomene zu erfassen und auf ein einziges Prinzip zurückzuführen.
Universalität
heißt Kulturungebundenheit einer Idee, einer Theorie, eines Sachverhaltes oder eines Prinzips.
Universalität der Ethik
bedeutet, dass es über die kulturgebundenen Wert- und Normsysteme hinaus eine ethisch-moralische Verankerung anthropologischer Natur gibt, die allgemein verbindlich ist.
Universalität der Vernunft
bedeutet, dass das menschliche Denken stets Argumente, Begründungen, Kritik und Rechtfertigungen für Ansichten hervorbringt, und zwar über Themenbereiche wie Anthropologie, Erkenntnistheorie, Logik, Metaphysik oder Ethik.
Überschneidungssituation, interkulturelle
artikuliert eine Situation, in der sich unterschiedliche Horizonte, Entwürfe oder Dispositionen annähern und die Basis einer konstruktiven Kommunikation schaffen.
7.3 Zwischenbetrachtung Begriffserklärungen
195
Verifizierbarkeit
bedeutet die Möglichkeit, eine Aussage theoretisch zu akzeptieren.
Verstehen, emisches
beschreibt den Versuch, die Besonderheiten eines kulturellen Gebildes von innen heraus zu verstehen.
Verstehen, etisches
beschreibt den Versuch, die Besonderheiten eines kulturellen Gebildes von außen heraus zu verstehen.
Vernunft
ist ein kognitives Vermögen oder ein Erkenntnisorgan – sie ist ein Instrumentarium der Urteilsbildung und verfährt reflexiv-ordnend und synthetisch; sie stellt ein regulatives Vermögen dar, weil das vernünftige Denken, Reden und Handeln immer mit einem Ziel verbunden ist, nach dem der Mensch strebt.
Viktimisierung
bedeutet, einen Menschen zum Opfer zu degradieren.
Vorurteile
sind persönlich-negative, ablehnende Beurteilungen oder persönlichpositive, aufwertende Beurteilungen, die einem Menschen, einer Menschengruppe oder einem Sachverhalt gegenüber gepflegt werden.
Vor-Urteile
beschreiben eine revidierbare Erwartungshaltung bzw. eine Wahrscheinlichkeitskalkulation, in der versucht wird, über einen Sachverhalt Informationen zusammenzutragen, ohne diese von vornherein positiv oder negativ zu bewerten, sondern indem man bemüht ist, dies durch eigene Erkundung zu überprüfen.
Wahrheits- und Absolutheitsanspruch, exklusiver
ist in die Tiefe der eigenen Einstellung oder Überzeugung gerichtet, verbunden mit dem gleichzeitigen Versuch, dies nach außen zu manifestieren.
Wahrheits- und Absolutheitsanspruch, inklusiver
ist in die Tiefe der eigenen Einstellung oder Überzeugung gerichtet, ohne den Anspruch, dies nach außen zu manifestieren.
Wertschätzungs-Konzeption
Nimmt, in einer anspruchsvolleren Form wechselseitiger Anerkennung als die der Respekt-Konzeption, die Überzeugungen und Praktiken der Mitglieder anderer Gemeinschaften als ethisch wertvoll wahr.
wissenschaftstheoretisch vorgehen
bedeutet, den Fragen nach Theoriebildung, der Bestimmung von Begriffsapparaten und der Explikation von Vorannahmen nachzugehen.
Xenophobie
heißt Angst vor dem Anderen.
Zentrismus
beschreibt eine Haltung, die sich selbst in den Mittelpunkt stellt und zugleich den Anspruch erhebt oder erheben kann, Maßstab aller Vergleiche zu sein.
Zentrismus, exklusivistischer
ist in der Regel universalistisch ausgerichtet und besitzt missionarischen Charakter. Diese Form von Zentrismus, die expansionistisch angelegt ist, bestimmt das Eigene als Zentrum und das Andere als Peripherie.
Zentrismus, inklusivistischer
ist integrativ ausgerichtet und steht jedem Expansionismus ablehnend gegenüber. Diese Form von Zentrismus vermeidet konsequent ein Zentrum-Peripherie-Verhältnis.
Zivilgesellschaft
beschreibt ein Modell des Zusammenlebens, das von Menschen als engagierten Subjekten getragen wird.
Zivilisierungsprozess
beschreibt eine Haltung, die theoretische und praktische Gewalt vermeidet und friedensorientiert ist.
196
Literaturverzeichnis
Literaturverzeichnis
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Literaturverzeichnis
–: mit Klaus Fischer (Hrsg.): Interkulturelle Orientierung. Grundlegung des Toleranz-Dialogs, Teil I: Methoden und Konzeptionen, und Teil II: Angewandte Interkulturalität (Bausteine zur Mensching-Forschung Bd. 6), Nordhausen 2004. –: Interkulturelles Denken oder Achse des Bösen. Das Islambild im christlichen Abendland (mit Ina Braun) (Bausteine zur Mensching-Forschung Bd. 8), Nordhausen 2005. –: Grundlagen der interkulturellen Religionswissenschaft (Interkulturelle Bibliothek Bd. 10), Nordhausen 2006. –: Zur Theorie und Praxis einer interkulturellen Philosophie der Toleranz, in: ‚Wer ist Weise? Der gute Lehr von jedem annimmt‘. Festschrift für Michael Albrecht zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Hamid Reza Yousefi u. a., Nordhausen 2005 (99–113). –: mit Klaus Fischer u. a. (Hrsg.): Wege zur Kommunikation. Theorie und Praxis interkultureller Toleranz, Nordhausen 2006. –: Toleranz als Weg zur interkulturellen Kommunikation und Verständigung, in: Wege zur Kommunikation. Theorie und Praxis interkultureller Toleranz, hrsg. v. Hamid Reza Yousefi u. a., Nordhausen 2006 (19– 48). –: Interkulturelle Philosophie. Struktur – Gegenstand – Aufgabe, in: Wege zur Kommunikation. Theorie und Praxis interkultureller Toleranz, hrsg. v. Hamid Reza Yousefi u. a., Nordhausen 2006 (43–73). –: Zur Philosophie der angewandten Toleranz. Eine interkulturelle Perspektive, in: Tradition und Traditionsbruch zwischen Skepsis und Dogmatik. Interkulturelle philosophische Perspektive, hrsg. v. Claudia Bickmann u. a. (Studien zur Interkulturellen Philosophie Bd. 16), Amsterdam 2006 (355–371). –: mit Sarah Ginsburg: Kultur des Krieges. Amerikanismus – Zionismus – Islamismus, Nordhausen 2007. –: Angewandte Toleranz. Gustav Mensching interkulturell gelesen (Interkulturelle Bibliothek Bd. 49), Nordhausen 2008. –: Interkulturalität und Geschichte. Perspektiven für eine globale Philosophie, Reinbek bei Hamburg 2010. –: Viele Denkformen – eine Vernunft? Über die vielfältigen Gestalten des Denkens, hrsg. v. Hamid Reza Yousefi und Klaus Fischer, Nordhausen 2010. –: Interkulturalität. Diskussionsfelder eines umfassenden Begriffs, hrsg. v. Hamid Reza Yousefi und Klaus Fischer, Nordhausen 2010. –: Wissensgesellschaft im Wandel. Bildung, Bolognaprozeß und Integration in der Diskussion, hrsg. v. Hamid Reza Yousefi, Nordhausen 2011. –: Dornenfelder. Eine autobiographische Skizze, Reinbek 2011. –: Interkulturalität als eine akademische Disziplin, in: Das interkulturelle Lehrerzimmer. Perspektiven neuer deutscher Lehrkräfte auf den Bildungs- und Integrationskurs, hrsg. v. Karim Fereidooni, Wiesbaden 2012 (177–192). –: Toleranz im Weltkontext. Geschichten – Entstehungsorte – Neuere Entwicklungen, hrsg. v. Hamid Reza Yousefi und Harald Seubert, Wiesbaden 2013. –: Verstehen und Verständigung in einer veränderten Welt. Theorien – Probleme -Perspektiven, Wiesbaden 2013. –: Die Bühnen des Denkens. Neue Horizonte des Philosophierens, Münster 2013. Zager, Werner (Hrsg.): Die Macht der Religion. Wie die Religionen die Politik beeinflussen, Göttingen 2008. Zaimoglu, Feridun: Kanak Sprak. 24 Misstöne vom Rande der Gesellschaft, Hamburg 1995. Zarrinkoub, Abdolhossein: Na sharghi, na gharbi – ensani (Weder östlich noch westlich – menschlich), Teheran 2001. Zick, Andreas: Vorurteile und Rassismus. Eine Einführung, Wiesbaden 2012.
Informationen Zum Buch Im Weltalter der Globalisierung, die viele Dimensionen unseres Lebens beeinflusst und verändert, besteht ein grundlegender Revisionsbedarf in der Debatte um Interkulturalität und interkulturelle Kommunikation. Es müssen neue Umgangsformen gefunden werden, um eine tragfähige Kommunikation in interkultureller Absicht gestalten und pädagogisch angemessen vermitteln zu können. Mit einem praktischen und didaktisch durchdachten Ansatz nähert sich Hamid Reza Yousefi diesem hochaktuellen Thema und zeigt, wie sich die interkulturellen Schranken durchbrechen lassen, die so häufig den Dialog erschweren oder sogar verhindern. Die Chancen, aber auch die Probleme interkultureller Kommunikation werden dabei aufgezeigt und der Weg für eine neue Form des Dialogs geebnet. Dieses Buch eröffnet neue, praxisorientierte Dimensionen, die dem Zeitalter der Globalisierung angemessen sind.
Informationen Zum Autor Hamid Reza Yousefi ist Privatdozent für interkulturelle Philosophie und Geschichte der Philosophie an der Universität Koblenz-Landau und der Gründungspräsident des Instituts zur Förderung der Interkulturalität in Trier. Zudem ist er als Herausgeber der Schriftenreihe ›Interkulturelle Bibliothek‹ tätig.