190 76 62MB
German Pages 196 Year 1989
Linguistische Arbeiten
232
Herausgegeben von Hans Altmann, Herbert E. Brekle, Hans Jürgen Heringer, Christian Rohrer, Heinz Vater und Otmar Werner
Volker Hinnenkamp
Interaktionale Soziolinguistik und Interkulturelle Kommunikation Gesprächsmanagement zwischen Deutschen und Türken
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Hinnenkamp, Volker : Interaktionale Soziolinguistik und interkulturelle Kommunikation : Gesprächsmanagement zwischen Deutschen und Türken / Volker Hinnenkamp. - Tübingen : Niemeyer, 1989 (Linguistische Arbeiten ; 232) NE:GT ISBN 3-484-30232-1
ISSN 0344-6727
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1989 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt
VORWORT Vorliegende Arbeit kann gleichzeitig als Fortsetzung und Antithese zu meinem Buch "Foreigner Talk und Tarzanisch" verstanden werden. Fortsetzung, weil die Arbeit thematisch im weitesten Sinne daran anschließt als auch, weil die Datengrundlage ähnlich ist. Einige der im folgenden analysierten Transkripte sind eine Wiederaufbereitung von vernachlässigten Daten aus jener Zeit. Andere Daten sind hinzugekommen. Aber die Menge der auf Tonband aufgezeichneten deutsch-türkischen Gespräche hat mir vor allem eins beschert: eine schöne Auswahl. Nur wenige dieser Gespräche sind Grundlage der Arbeit, genaugenommen sieben in Gänze oder in Ausschnitten transkribierte Gespräche. Nur fünf davon werden einer gründlicheren Analyse unterzogen, wobei ich bei einem Transkript besonders tief gefallen bin - in die Analyse. Und hier schlägt die Antithese zu meinem früheren Buch besonders durch: Nicht die Menge der Daten ist entscheidend, sondern die Tiefe einiger weniger Analysen. Erst sie bringen zu Tage, wie Gesellschaft im sprachlichen, interaktiven Vollzug "von unten" gemacht und mitgemacht wird. Die 'interkulturellen' Begegnungen, die als Beispiele dienen, zeigen dabei vor allem auch, wie Kommunikation in der Kommunikation erstmal zu interkultureller Kommunikation (gemacht) wird, wie ethnische, sprachliche, kulturelle etc. Andersartigkeit zur Ressource des Handelns werden kann. Das ist die eine Seite. Die andere Seite der vorgeführten Gespräche zeigt aber auch, wie weit wir gehen können, wenn wir uns verständigen wollen. Quellen der Hilfe, Motivation, Inspiration und kritischer Würdigung bei dieser Arbeit waren zahlreich. Allen konnte ich mit der Arbeit sicher nicht gerecht werden. Ganz besonders danken möchte ich dabei Werner Kummer, Frank-Olaf Radtke, Peter Finke, Petra von Gliscynski-H., Peter Auer und Herrad Meese. Natürlicherweise bin ich auch all den bekannten und unbekannten 'Informanten', die die hier analysierten Kommunikationen 'gelebt' haben, zu Dank verpflichtet. Unerwähnt soll auch nicht bleiben, daß mir die Arbeit Spaß gemacht hat. Aber weder die Unterstützung anderer noch meine Freude am 'sujet' sollen eventuelle Mängel und Schwächen entschuldigen. Die verantworte ich ganz allein.
V.H. Augsburg, im Mai 1989
VI
INHALT Vorwort Inhalt l 1.1 1.2 1.2.1
1.2.2
1.2.3 2.1
2.2
3 3.1
3.2 3.2.1
v vi Das Problem der interkulturellen Kommunikation in der Forschung und im Alltag Fragen und Hypothesen Ein dramatischer Einstieg (l)/ Problemleitende Fragestellungen (2) Theorie-Umschau zu den Vorarbeiten zu einer Soziolinguistik der interkulturellen Kommunikation Die Theorie der kulturell bedingten kommunikativen Verschiedenheit . . Kontrastive Pragmatik (6)/ Andere kontrastive Untersuchungen (7)/ Kulturgebundene Kontextualisierungskonventionen (9)/ Grenzen des Gumperzschen Ansatzes (12)/ Die Reduzierbarkeit auf Interferenz (14)/ Exkurs (15)/Kritikpunkte (16) Die Theorie der sozialpsychologisch bedingten kommunikativen Verschiedenheit Black English (19)/ Kritikpunkte (22) Interkulturelle Kommunikation und Interaktionale Soziolinguistik: notwendige Präliminarien Interkulturelle Kommunikation Interkulturelle Kommunikation und kulturelle Andersartigkeit (27)/ Kultur im Kopf? (29)/ Kultur - im Körper? (30)/ Kultur als Kontrollmechanismen? (32)/ Fazit und Begrenztheit apriorischer Kulturkonstrukte (36) Interaktionale Soziolinguistik Hintergründe (39)/ Ethnomethodologie - Konversationsanalyse Kommunikationsethnographie: Zutaten zu einer interaktionalen Soziolinguistik (42)/ Programmatische Versuche (45)/ Die Abbildung der Makrostruktur in der MikroStruktur: die Achse Bourdieu - Goffman (48)/ Forschungspraktische Minimalbedingungen (54) Interkulturelle Kommunikation, kommunikative Konflikte und "zweitbeste Möglichkeiten" Kontrakonfliktive Verfahren Interkulturelle Kommunikationssituationen (58)/ Zugriff auf Wissen (60)/ Kommunikationsstrategien zur Verständnissicherung (62) Kontrakonfliktive Kommunikationsmethoden in der interkulturellen Kommunikation: zwei Beispiele Faktorisieren und Rekalibrieren als Prinzipien der Verständigungssicherung Die Komplexität einer Wegauskufl (66)/ Schritt für Schritt zum Ziel (68)/Exkurs (73)/Natürliche Didaktik? (74)
l l
4 6
18
25 25
38
57 58
66 66
Vll
3.2.2
3.3
4
4.1 4.1.1
4.1.2
4.1.3
4.1.4 5 5.1 5.1.1
5.2 5.3
Gesprächskontrolle und die Illusion der Verständigung 76 Die "Meisterung" des Aneinandervorbeiredens (77)/ Die Frau, die Frau (79)/ Wo der Grund des "dicken Auges" zu Hause ist (8l)/ Gespräch als Reparatur-Spirale (82)/ Interaktionsgeschichte (83) Die kommunikationstheoretische Grundlage der "zweitbesten Möglichkeiten" 84 Wechselseitigkeit (85)/ "Common ground" und Kooperationsprinzipien (87)/ Kooperativität - Sein und Schein (89)/ Die notwendige Relativität von Reziprozität (90)/ Hyperkooperativität (92) Interkulturelle Kommunikation und die Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen 96 Manifeste Diskriminierung (96)/ Unversehene Diskriminierung (98) Ein Beispiel für die Hervorbringung sozialer und ethnischer Kategorien in der interkulturellen Kommunikation 100 Foreigner Talk, Code-Wechsel und Kooperativität 100 'Türkischmann Du?" (10l)/ Kooperation (102)/ Kooperationsaufkündigung (105)/'Betteln und persönliche Territorialrechte (110) Die Gewalt konversationeller Methaphern 111 Metaphern (112)/ Code-Switching und konversationette Metaphern (113)/ "Hinein-Fragen" (l 15)/ Der symbolische Wert linguistischer Akkomodationen (116)/ Wie man eingebettet wird, so wirkt man (118)/ Sein und Nicht-Sein (l18)/ Kategorienwissen (119)/ Soziale Implikationen von Kategorien (120)/ Exkurs: Konversationelle Metaphern und konversationelle Implikaturen (122)/ Die Legitimierung der Frage durch die Antwort (l24)/ Die moralischen Folgen der Aufdeckbarkeit (125) Gesichtsverlust im Angesicht symbolischer Kapitalverwertung 127 "Face" (127)'/'Reparaturen und "Face" (129)/ 'Türkischmann Du?" als Fremdreparatur (13l)/ Reparatur-Lizenzen (l34)/ Reparatur-Gewinne (136) Platzzuweisen und Platzzuweisen-Können 139 Weiterführung, Rückschau und Ausstieg 143 Weiterführung: Kompetenz als Ressource 143 Die Konvertibilität sprachlicher (In-)Kompetenzen: zwei Beispiele . . . 145 Institutionelle Kommunikation (145)/ Die Konvertibilität von Kompetenz in Inkompetenz (145)/ Die Konvertibilität von Inkompetenz in Kompetenz (153)/ Methoden der Kompetenzzuweisung (159) Rückschau: Was aus den Hypothesen und Postulaten geworden ist . . . 161 So-handeln-Können (162)/ Die X-barkeit als Kontextualisierer (164) Ausstieg: Die Macht des "so" Deuten-Könnens 166
Anhang Bibliographie Autorenindex
168 170 184
1. Kapitel DAS PROBLEM DER INTERKULTURELLEN KOMMUNIKATION IN DER FORSCHUNG UND IM ALLTAG "... wer sich nach anderen grammatikalischen Regeln richtet als etwa den üblichen, spricht darum nichts Falsches, sondern von etwas Anderem." Ludwig Wittgenstein 1.1 FRAGEN UND HYPOTHESEN Ein dramatischer Einstieg Ein kleiner Vorfall interkultureller Kommunikationspraxis, über den eher beiläufig und schmunzelnd in der Tagespresse berichtet wurde, soll mir als Einstieg und Aufhänger zum Thema dieser Arbeit dienen. Laut der Tageszeitung "Augsburger Allgemeine" vom 23. Januar 1986 hatte sich folgendes ereignet: Verfolgungsjagd in Fußgängerzone ANGEBLICHER RÄUBER WAR DAS OPFER EINES IRRTUMS (kpk). Ein vermeintlicher Raubüberfall sorgte gestern in den Mittagsstunden für einige Aufregung in der Innenstadt. Nach Angaben der Polizei hatte ein Ausländer in der Heilig-KreuzStraße eine Frau angesprochen und ihr eine Frage stellen wollen. Die ältere Dame war darüber aus unerklärlichen Gründen so erschrocken, daß sie offenbar an einen Raubüberfall glaubte und laut um Hilfe schrie. Passanten versuchten daraufhin, der Frau zu Hilfe zu eilen. Angesichts der herannahenden "Retter" bekam es der junge Mann mit der Angst zu tun und rannte weg. Nach einer Verfolgungsjagd quer durch die Fußgängerzone rettete sich der vermeintliche Übeltäter am Moritzplatz in eine Straßenbahn. Dort wurde er von der inzwischen alarmierten Polizei mit einem Aufgebot von vier Streifenwagen und einem Zivilfahrzeug gestellt und herausgeholt. Zu seinem Glück stellte sich seine Unschuld aber bald heraus. Was da im einzelnen passiert sein mag, kann sich vielleicht jeder selbst ausmalen. Ich konstruiere im folgenden einmal beispielhaft eine Variante, die nicht zufällig ein Thema assoziiert, das zur Zeit in fragwürdig einseitiger Weise in der Öffentlichkeit behandelt wird1.
l
In den Sommermonaten 1986 sieht das "Asylantenproblem" bundesweit im Vordergrund der öffentlichen politischen Diskussion: Immer mehr Asylsuchendc nutzen den Weg über Ostberlin, um unter Umgehung des Visumzwangs in die Bundesrepublik Deutschland zu gelangen. Vor allem
Sagen wir, besagter Ausländer sei Asylant, Asiate, Tamile, dunkelhäutig. Er geht auf die alte Dame zu. Vielleicht einen Schritt zu schnell? Er spricht sie direkt an, vielleicht ohne das gewohnte "Entschuldigen Sie ...", sondern geht gleich in medias res: "Wo ist X/Wie komme ich zu X?" etc. Sie, in Gedanken vertieft, erschrickt als sie angesprochen wird. Es folgt eine Überreaktion und die Verfolgungsjagd kommt in Gang. (Vielleicht reichte gar der Anblick des dunklen Gesichts, um lauthals Hilfe zu erbitten; vielleicht war es gar nicht einmal ein dunkles Gesicht, sondern nur ein unbekannter Akzent, nur die Art des Auftretens oder sonst was!?) Jedenfalls bleiben auch für den Kolumnisten die Gründe "unerklärlich"! Der Vorfall riecht nach einem grotesken interkulturellen Mißverständnis. Aber ist er das tatsächlich? Oder spielen andere Faktoren eine gewichtigere Rolle? Problemleitende Fragestellungen Die Fragen, die sich bezüglich des Konfliktpotentials, wie im berichteten Fall, oder vielleicht allgemein zum interkulturellen Kontakt stellen, sind zahlreich und eine grundlegende Frage ist sicherlich die, ob und welche Konflikte überhaupt auf den Tatbestand" der interkulturellen Kommunikation und ihr inhärente "Eigenschaften" bezogen werden können und wenn, welche Art von "Eigenschaften" dies sind? Handelt es sich um "kulturelle" Eigenschaften der beteiligten Sprecher als Kulturträger? Wo ist dann "Kultur", wo sind dann die "kulturellen Eigenschaften" zu verorten? In den kommunikativen Kompetenzen der Kommunikationspartner oder auch schon in deren Sprachbeherrschung? Kann aber die Frage linguistischer Kompetenz getrennt werden von kultureller Handlungskompetenz? Was ist letztere? - Oder: Gibt es möglicherweise Faktoren, Gründe, die nur mittelbar im Zusammenhang mit der interkulturellen Kommunikation stehen? Gründe, die als entscheidend hineingedeutet werden können, gerade weil es sich um interkulturelle Kommunikation handelt, ohne daß sie dieser ursächlich sein müssen? Welche Gründe können das sein? Und - um die wichtigste Frage anzuschließen - ist interkulturelle Kommunikation etwas "Mitgebrachtes" der Teilnehmer oder etwas situativ "Hervorgebrachtes", eine konstruierte Wirklichkeit? - Fragen und Fragen zu Fragen, die zumeist unbeantwortet bleiben müssen, sofern sie nicht pauschal an ein Modell oder an eine vermeintliche Theorie der interkulturellen Kommunikation gebunden werden2. von konservativer Seite werden in diesem Zusammenhang alte Ängste neu beschworen und geschürt. Die Bundesrepublik entwickle sich zu einem Einwanderungsland, Überfremdung, ethnische Spannungen und Fremdenhaß seien die Folge, und der Status von Westberlin würde durch die "Asylantenflut" unterhöhlt, lauten die Argumente. Drastische Maßnahmen werden beschlossen, eine Grundgesetzänderung wird anvisiert - ein Klima, in dem Kommunikation mit Einheimischen für einen Asylsuchenden in der Tat zum Abenteuer werden kann! Konstruierte Konflikttalle oder Anekdoten vorliegender Art werden oft als einzige empirische Belege angeboten, um damit auf die Unvereinbarkeit der beteiligten kulturellen Muster zu verweisen. Hintergrund für dieses Vorgehen ist eine verkürzte Adaption der Kullurrelativismus-Hypothese, die Modell stand für eine Anzahl von "Theorien" über "Kulturschock" und "Kulturstress", über "kulturelle Distanz" etc. (vgl. z.B. Smalley 1963). Auch in der soziolinguistischen und sozialpsychologischen Zweitspracherwerbsforschung wurden solche Konzepte schnell zu "pidginogenen" Variablen erhoben (Schumann 1978), ohne eine empirisch-interaktionale Fundierung zu erhalten. Eine Tradition, die sich dann auch in der bundesdeutschen "Gastarbeiterdeutsch"-Forschung zum Teil verlängerte (vgl. z.B. HDP 1975 oder in Übersicht Keim 1984a, v.a. Kap. l und 2.)
Allerdings sollen die Fragen, die das Eingangsbeispiel in anderer Hinsicht aufwirft, im Laufe der Arbeit sehr wohl beantwortet, die darin angesprochenen "unerklärlichen Gründe" erklärbar - und entmystifiziert - werden. Das Thema "interkulturelle Kommunikation" verweist auf soziolinguistische und pragmatische Fragestellungen. Soziolinguistisch. weil sowohl "Kultur" als auch "Kommunikation" Dimensionen ansprechen, die mit der gegenseitigen und dialektischen Konstituenz von Sprache und Gesellschaft als auf das Engste verknüpft betrachtet werden müssen; pragmatisch, weil der Verbund von Kultur und Kommunikation ein entscheidender Aspekt des Sprachgebrauchs ist, da er die Möglichkeiten und Grenzen erfolgreicher Kommunikation in ihrem Vollzug selbst zum Gegenstand macht. Ich muß allerdings eingestehen, daß mir die Unterscheidung von Soziolinguistik und Pragmatik immer künstlich erschienen ist, da sich mir Fragen des Gebrauchs von Sprache, des Sprechhandelns, immer auch als soziolinguistische Fragen stellen3. Interaktionale Soziolinguistik. wie es im Titel der Arbeit heißt, will verschiedene "Ansätze" aus Soziolinguistik und linguistischer Pragmatik unter ganz bestimmten Fragestellungen und ganz bestimmten theoretischen Annahmen zusammenbringen. Ihr Programm steht noch nicht, und folglich fällt es nicht leicht, ihren Gegenstandsbereich mit wenigen Worten zu umreißen (Kap. 2). Vorliegende Arbeit versteht sich hier als ein möglicher programmatischer Beitrag. Ich möchte mich in dieser Arbeit aus dem breiten Spektrum von möglichen Problemstellungen zur interaktionalen Soziolinguistik und aus der Vielfalt der möglichen Fragestellungen zur interkulturellen Kommunikation im Grunde genommen auf zwei sehr eingeschränkte Fragen konzentrieren: (a) Wie weit reichen Verfahren in der interkulturellen Kommunikation, die in der Lage sind, potentielle und tatsächliche Kommunikationsprobleme zu lösen? Daran hängen viele andere Fragen, wie "Was für Verfahren?", "Was für Kommunikationsprobleme?" und weitere. Hier ließe sich provokativ mit einer Hypothese anschließen, die in etwa folgendermaßen lauten könnte: Es ist davon auszugehen, daß jede Sprache über ein Reservoir an kontrakonfliktiven Mitteln verfügt, die bei kommunikationsbedingten Krisen allgemein, aber insbesondere bei interkulturell bedingten Krisen in der Kommunikation ausgeschöpft werden können. (Vgl. Kap. 3.).
3
Die "Vermischung" von Pragmatik und Soziolinguistik ist natürlich kein häretischer Akt meinerseits, sondern hat viele Advokaten (z.B. Levinson 1983:ix). Die Unterscheidung ist wohl in erster Linie eine Frage traditioneller Art: Wo die Pragmatik in erster Linie auf einem sprachphilosophisch (eher) "wahrheitsthcorctisch" fundierten Primat beruht, ist sie weniger "soziolinguistisch"; wo sie in erster Linie auf einem (eher) handlungstheoretischen Primat aufbaut, ist sie stärker "soziolinguistisch". "Soziolinguistik" in diesem Sinne muß natürlich abgegrenzt werden von jenen Ansätzen, in denen Sprache nicht mehr Medium, sondern nur noch "abhängige Variable" einer makrostrukturellen Perspektive darstellt: Sprachsoziologie (Sprachplanung, Sprachpolitik, domänenspezifische Sprachverwendung etc.).
(b) Was bedeutet es für die interkulturelle Kommunikation, wenn die verfügbaren Mittel zur Kompensierung von Kommunikationskrisen nicht zum Einsatz gelangen, obwohl damit die Krise zu lösen wäre? Und: Was bedeutet es, wenn solche Mittel zum Einsatz kommen, obwohl kommunikativ gar nichts zu kompensieren ist? Auch dann - so meine vorläufige Antwort - können kontrakonfliktive Verfahren im Spiel sein, allerdings nicht mehr primär zur kommunikativen Kooperationssicherung, sondern zur Absicherung anderer interaktionaler Aspekte, wie Prestige. Macht und Herrschaft. Auch dies könnte provokativ in eine Hypothese übersetzt werden: Es ist davon auszugehen, daß gesellschaftliche Konkurrenz, Ungleichheit und Herrschaftsansprüche Versehens wie auch unversehens in der face-to-face Kommunikation mithüfe der interaktiven Leistungen der Beteiligten selbst konstituiert, reproduziert und verfestigt oder moduliert werden können. In der interkulturellen Kommunikation stehen dabei spezielle Ressourcen und Mittel zur Verfügung, deren Ausschöpfung und Einsatz allein der interkulturellen Kommunikation vorbehalten sind und die bei der ethnischen und sozialen Reproduktion bestimmter Kategorien von Ausländern interaktional konsumtiv sind. (Vgl. Kap. 4 folgende).
Ich bin nicht der erste, der Fragen in dieser Hinsicht zum Forschungsgegenstand gemacht hat (vgl. 1.2), allerdings ist mein Blickwinkel in mehrfacher Hinsicht neu: der Versuch einer Kombination von als (eher) "subjektivistisch" zu charakterisierenden Ansätzen ethnomethodologisch-kommunikationsethnographischer und hermeneutischer Fac^on mit als (eher) "objektivistisch" zu charakterisierenden Ansätzen von sozialstruktureller und kultursoziologischer Orientierung. Natürlich muß die Betonung dabei auf "Versuch" liegen. (Vgl. zunächst in theoretischer Skizzierung Kap. 2). Erprobungsmaterial meiner "Versuche" sind Transkripte von deutsch-türkischen Kommunikationen, allerdings nur eine Handvoll: nicht, weil meine eigenen Ressourcen da so knapp wären, sondern weil m.E. erst die Tiefe der Analyse ans Tageslicht bringt, was wirklich "los" ist! Mit Karl Kraus gesagt: "Je näher man ein Wort anschaut, desto ferner blickt es zurück" - nämlich mit Blicken jenseits der Kommunikationssituation selbst, in die "Produktionsstätte" Gesellschaft.
1.2 THEORIE-UMSCHAU ZU DEN VORARBEITEN ZU EINER SOZIOLINGUISTIK DER INTERKULTURELLEN KOMMUNIKATION Im folgenden geht es mir um eine knappe und kritische Vorstellung von theoretischen und methodologischen Ansätzen zur interkulturellen Kommunikation im Rahmen der Soziolinguistik und der linguistischen Pragmatik. Es geht mir um die Herausarbeitung der Stärken und Schwächen dieser Ansätze sowie um deren Erklärungsrelevanz und Nutzen im Rahmen einer im 2. Kap. zu skizzierenden interaktionalen Soziolinguistik. Grundlage sind
hier vor allem Ansätze, die - analog zu meinem Thema - empirisch, z.T. auf der Basis von face-to-face Kommunikationen, entwickelt worden sind. Die einzelnen Ansätze, mit denen ich mich auseinandersetzen will, sind als eine exemplarische Auswahl zu verstehen4. Der jeweilige Theoriestatus dieser Ansätze ist kaum ausformuliert, er findet sich vielmehr auf der Ebene starker Hypothesenformulierung in Anbindung an bestehende Theorietraditionen wieder. Ihn gilt es sichtbar zu machen. Ich will dies am Beispiel von ein paar neueren Arbeiten versuchen, wobei ich diese bewußt pointiert unter zwei in gewisser Weise quer zueinander liegenden - noch herauszuarbeitenden - Theoriepositionen subsumiere. Die erste Theorie läuft m.E. hinaus auf eine für die Pragmatik reformulierte Kontrastiv- und Interferenzhypothese, die ich als Theorie der kulturell bedingten kommunikativen Verschiedenheit bezeichnen möchte. (Der "Theoriestatus" ist dabei allerdings genauso fraglich, wie bei der als "Theorie" ausgegebenen Interferenzhypothese beim Zweitspracherwerb.) Den zweiten zu diskutierenden Theorieentwurf nenne ich Theorie der sozialpsychologisch bedingten kommunikativen Verschiedenheit. (Auch hier ist der "Theoriestatus" dubios!) (a) Beiden "Theorien" liegt kein identischer Kulturbegriff zugrunde. "Kultur" bleibt teilweise unproblematisiert oder "emergiert" erst im Laufe der jeweiligen Ansätze zu einem Konzept, (b) Beiden "Theorien" ist die Fokussierung "kommunikativer Fehlschläge" - um einen Terminus von Streeck (1985) zu verwenden - in der interkulturellen Kommunikation eigen. In der Tat scheint es für viele einen unausgesprochenen Konsens in diesem Studienfeld zu geben, das Nicht-Funktionieren der Kommunikation in den Vordergrund zu stellen und folglich Erklärungen und Theorien für dieses Scheitern zu finden. So z.B. Scollon & Scollon: "Die Kommunikation zwischen Mitgliedern unterschiedlich ethnischer Gruppen ... endet häufig in Konfusion, Mißverständnissen und Konflikten" (l981:11*)5. Hier kann direkt an das Einstiegsbeispiel von der Verfolgungsjagd durch die Fußgängerzone angeschlossen werden, an jenem fundamentalen Nicht-Funktionieren von ... ja was? Die verbale Kommunikation hatte ja kaum begonnen, da mußte sie schon mit den Füßen fortgesetzt werden (was sofort die unterstellte Kommunikationsintention - Straßenräuberei! - bestätigte).
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Eine Auswahl von Arbeiten, die hier nicht besprochen werden soll (und auch sonst nicht mehr erwähnt wird), fügt sich genuin in die am konkreten, empirischen Material arbeitende face-to-face Orientierung ein, wie beispielsweise Liberman 1984 oder Chick 1985. Andere einschlägige Arbeiten Gnden sich z.B. in den Sammelbänden von Pride 1985, Rehbein 1985a und Knapp, Enninger & Knapp-Potthoff 1987. Aber Vorsicht ist geboten! Oft geht es unter dem label "Interkulturelle Kommunikation" (oder "cross-cultural communication") nur um linguistische und diskursive Kompetenzaspekte des Zweitspracherwerbs. Andererseits sind interaktive Prozesse des ungesteuerten Zweitspracherwerbs auch als interkulturelle Kommunikationen betrachtenswert. Aus diesem Grenzbereich Literatur anführen zu wollen, würde jedoch ins Uferlose ausarten.
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Zwei Anmerkungen in einem: (a) Alle mit "*" versehenen Zitate sind meine Übersetzungen. In manchen Fällen jagen Übersetzungen vor, die m.E. aber falsch oder sinnentstellend waren, so daß sie einer Überarbeitung bedurften. (b) In der Mißverständnis-Prämisse liegt natürlich auch die Motivation für die interkulturellen Trainingsprogramme begründet. Ob man als Student, Helfer, Verkäufer und Politiker in die Fremde geht - es ist besser, man ist "vorbereitet" (vgl. Brislin et al. 1985).
1.2.1 DIE THEORIE DER KULTURELL BEDINGTEN KOMMUNIKATIVEN VERSCHIEDENHEIT Kommt es in der interkulturellen Kommunikation zu Fehlschlägen, Mißverständnissen oder was auch immer den Verständigungsidealen sich widersetzenden Verläufen und Ausgängen, so liegt das nach Auffassung der hier zu bestimmenden Theorierichtung sehr häufig an den unterschiedlichen kommunikativen Codes, die die Gesprächspartner verwenden. Dies kann zunächst vieles heißen: Sprechen A und B verschiedene, gegenseitig nicht verständliche Sprachen, liegen die Verständigungsschwierigkeiten auf der Hand. Um diese Kategorie der interkulturellen Kommunikation geht es hier aber nicht. Rudimentäre gegenseitige Verständigung auf der propositionalen Ebene gilt zunächst als grundlegende Prämisse. Kommunikative Codes sind hier vielmehr mit kulturellen Codes gleichzusetzen, jenseits der rudimentären Verständigungsebene: In knappster Form geht es also um das Wie-ctwas-kommunizicrt-wird gegenüber dem Was-kommuniziert-wird. das Was ist allerdings weitestgehend abhängig vom Wie (also etwa in Analogie zu der berühmten Unterscheidung von "Inhalts- und Beziehungsebene" nach Watzlawick et al. 1969). Eine nähere Problematisierung dieses Aspektes möchte ich mir hier ersparen, da im Verlaufe der folgenden Diskussion einiges verdeutlicht werden wird. Wenn A und B mit je unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, in denen zum Teil je unterschiedliche "kulturelle Regeln" gelten, miteinander kommunizieren, kommt es, oder vorsichtiger formuliert: kann es zu besagten kommunikativen Konflikten kommen, die auf diese Regeldiskrepanz, auf die unterschiedlichen Symbolisierungen des kulturgebundenen Wissens und Könnens zurückgeführt werden können. Dies klingt so einleuchtend wie es banal (und damit natürlich noch nicht falsch!) ist. Kontrastive Pragmatik Ein Beispiel für die Erklärungssuche konfliktiver interkultureller Kommunikation unter o.g. Fragestellung ist das, was unter dem Etikett der "Kontrastiven Pragmatik" subsumiert werden kann. Die Kontrastive Pragmatik hat, so Florian Coulmas als einer ihrer Protagonisten, "pragmatische Kontraste zwischen Sprachen aufzuzeigen und interlinguale Differenzen im jeweils gegebenen Verhältnis zwischen Struktur und Funktion der Sprache durchsichtig zu machen" (1979:53). Fehlleistungen der beteiligten Kommunikationsparteien in der interkulturellen Kommunikation gehen dann zurück auf sogenannte "pragmatische Interferenzen", die kulturell inadäquat sind, d.h., vertraute verbalisierte kulturelle Verhaltensweisen werden auf eine Situation übertragen, in der sie keine Gültigkeit haben: Komplimente machen, wo "es sich nicht gehört"; duzen, wo man besser siezen sollte; Fragen stellen, wo sie als aufdringlich empfunden werden; "Süßholz raspeln", wo Entschlossenheit angezeigt wäre - die Palette solcher Fehlgriffe aufgrund der Übertragung eigenkultureller Konventionen ist nahezu unerschöpflich. "Die Frage, wie eine gegebene kommunikative Funktion verbal in einer anderen Sprachgemeinschaft realisiert wird, muß immer mit der Frage verbunden werden, wie diese
Funktion von den Mitgliedern der besagten Gemeinschaft selbst definiert wird und welcher Status ihr im Rahmen der kommunikativen Gesamtstruktur zukommt... Die Schwierigkeit läßt sich auf die allgemeine Frage runterkochen, wie Sprechakte zwischen Kulturen verglichen und 'übersetzt' werden können" (Coulmas 1981b:70*). Methodisch verfährt die Kontrastive Pragmatik dabei zunächst im Sinne der Ethnographie der Kommunikation. Ein Sprechakt wird innerhalb des "gegebenen soziokulturellen und linguistischen Systems" (ibid.) auf seine "emische Funktion" hin untersucht, um dann "nach ähnlichen oder äquivalenten linguistischen Akten in anderen Kulturen" zu schauen (ibid.). Die untersuchten Sprechakte sind bislang auf vorwiegend als "formulaisch", "routinisiert" und "schnittmusterhaft" bezeichnete Sprechakttypen, wie Anredeverhalten, Höflichkeitsfloskeln etc. beschränkt6. Der analytische Vergleich solcher stark automatisierter und ritualisierter Sprechakte ist nach Coulmas besonders relevant, da ihr breiter und im höchsten Maße konventionalisierter Anwendungsbereich ihre hochsensible pragmatische und soziokulturelle Funktion verdeckt. Zwei kleine Beispiele: Coulmas selbst untersucht z.B. die Beziehung von Danksagungen und Entschuldigungen in ihren kontrastiven Funktionen im Deutschen, Englischen und Japanischen (1981b). Analysiert werden die sequentielle Positionierung sowie die Regeln, nach denen wann und wie auf eine Danksagung/Entschuldigung verbal eingegangen werden muß. Kuglin 1977 beschreibt die unterschiedlichen Anredeweisen im Türkischen und im Deutschen anhand der Beispiele (a) des Verhältnisses von Status und Formalitäts- und Reziprozierungsregeln, (b) der Permissivität von Namensnennung gegenüber Funktions- und Rangbezeichnungen, und (c) der Rolle von Diminutiva und Possessivpronomen. Andere kontrastive Untersuchungen Neben die Kontrastive Pragmatik haben sich auch noch andere kontrastiv orientierte Bereiche gesellt, die sich zwar zum Teil geringfügig voneinander unterscheiden, aber für unsern Zweck unter dieselbe Überschrift subsumiert werden können: Die Kontrastive Soziolinguistik (z.B. Janicki 1980), die Kontrastive Textologic (z.B. Hartmann 1980) und die Kontrastive Rhetorik (z.B. Kaplan 1977, Houghton & Hoey 1983) und schließlich die Versuche kontrastiver Diskursanalyse (z.B. Clyne 1981, 1984; Loveday 1983, House 1985) - letzere konzentrieren sich z.T. auf mündliche wie schriftliche Diskursformen. Sie alle stehen in der Tradition der strukturellen Linguistik, vor allem der Prager Schule, hier nur erweitert um diejenigen Komponenten, die sich als tentativer Konnex von Sprache und Kultur anbieten. Hier verdient nun eine weitere Studie, wenn auch unter Vorbehalt, besondere Beachtung, da mit und seit ihr die Rolle von Respekt, Höflichkeit und Image bzw. "face" in der Pragmatik Vgl. dazu z.B. viele der Beiträge in Coulmas 1981a oder auch die z.T. programmatischen Anmerkungen in den Artikeln von Thomas 1983 und Liebe-Harkort 1984/85. - Es ist wiederum schwierig, eine Grenze zu ziehen zwischen genuin kontrastiv angelegten Untersuchungen und solchen, bei denen die Kontrastivität erst im Vergleich mit anderen Studien deutlich wird, wie bei einer großen Anzahl von empirischen Untersuchungen im Rahmen der Ethnographie der Kommunikation: Hier verweise ich stellvertretend auf die neueste Bibliographie von Philipsen & Carbaugh 1986.
8 besonders populär geworden ist: Brown & Levinson 1978 basieren ihre Theorie auf die Analyse von Höflichkeitsstrategien, die auf den universalistischen Bedürfnissen von "negative face" und "positive face" - wie sie es nennen - beruhen. "Positive face" steht für den Wunsch, als normales, integres und positiv bewertetes Mitglied der Gesellschaft angesehen zu werden, während "negative face" für das Recht und den Wunsch steht, daß man in Ruhe gelassen wird, daß das "Territorium des Selbst" (Goffman) respektiert wird. Diese widersprüchlichen Bedürfnisse zwischen sozialer Akzeptanz und individuellem Selbst finden sich in der sozialen Kommunikation in die entsprechenden positiven und negativen Höflichkeitsstrategien übersetzt. Brown & Levinson nennen fünf grundsätzliche Alternativen von Höflichkeitsstrategien, die sich generativ aus bzw. mit dem Vollzug oder dem Unterlassen "gesichtsbedrohender Akte" (face threatening acts) ergeben. Nun gibt es verschiedene Faktoren, die die Wahl beeinflussen, nämlich Belohnung und Bestrafung und die soziologischen Variablen "soziale Distanz" (D), "relative Macht" (P für "power") und "absolute Stellung von Beanspruchbarkeitspotentialen (impositions) in einer Kultur" (R für "ranking"). R impliziert die situative und kulturelle Auferlegung/In-die-Pflichtnahme von Diensten und materiellen wie symbolischen Gütern. D, P und R können nun im bipolaren Sinn in der Kommunikation stärker oder schwächer ausgeprägt sein ("+" und "-"). Die Sprachen, aus denen die Autoren nun (nicht authentische) Konversationsbeispiele anführen, sind v.a. Englisch, Tamil und Tzeltal. Erklärtes Ziel von Brown & Levinson ist es jedoch nicht. Erklärungen zu finden für die spezifischen kulturellen Normen, Regeln, Präferenzen etc., die in den Höflichkeitsstrategien zum Ausdruck kommen, sondern - und das begründet auch meinen Vorbehalt, ob diese Studie hier am rechten Ort zitiert ist - die strukturellen Identitäten sowie die handlungslogische Universalität der Strategien in den verschiedenen Sprachen nachzuweisen. Dies hängt zwangsläufig mit der rationalistischen Prämisse der Autoren zusammen, die die damit einhergehende Einschränkung auch freimütig zugeben: "Hätten wir uns extrinsische Maßstäbe von 'face'-Bedürfnissen zu eigen gemacht, dann hätten kulturelle (emische) Erklärungen von interkulturellen Unterschieden Erklärungen im Sinne universalistischer (etischer) sozialer Dimensionen wie D und P aufgehoben" (ibid.:249*). Der (sicherlich schwierig handhabbare) kulturspezifische R-Faktor ist deswegen auch weitgehend vernachlässigt. Hier gälte es, den kontrastiven Charakter der Studie vom Kopf auf die (kontrastivpragmatischen) Füße zu stellen (wo es für andere Studien gälte, sie auch auf das Standbein sozialer Dimensionen wie D und P zu stellen!). Kontrastieren die soweit genannten Richtungen die jeweiligen sprachlichen Handlungsmuster in ihren jeweiligen primären, d.h. eigenkulturellen Gebrauchskontexten - womit wirkliche interkulturelle face-to-face Begegnungen fiktiv und konstruiert bleiben -, so haben sich aber auch einige pragmatische Studien, wie die von Scollon & Scollon 1981, tatsächlichen face-to-face Kommunikationen zugewandt. Scollon & Scollon konfrontieren in ihrer Untersuchung die Diskursstile im Englischen "europäischer" Nordamerikaner mit denen alaskischer Athabaskan-Indianer. Diese Diskursstile manifestieren nach Meinung der Autoren unterschiedliche "reality sets", nämlich das "modern consciousness" gegenüber dem "bush consciousness" (warum wird nur hier eine Metapher gewählt?). Letzeres zeichnet sich gegenüber dem "europäischen" "essayist prose" durch "oral narration" aus. Beiden Stilen liegen völlig unterschiedliche Typen der Erfahrungsstrukturierung und -Verarbeitung und der Organisation von Persönlichkeitsinte-
grität (face) und entsprechender Höflichkeitsformen zugrunde (vgl. Brown & Levinson 1978). So wird bei den Athabaskan-Indianern Individualität und Unterschiedlichkeit betont (deference politeness), während die "europäischen" Amerikaner Gleichheit und Gemeinsamkeit in den Vordergrund stellen (solidarity politeness). Die Konfrontation dieser unterschiedlichen Diskursund Höflichkeitsstile führt vor allem unter einem "europäisch" dominierten Bildungssystem zu großen Konflikten und Frustrationen (Scollon & Scollon 1981: 41-165). Kulturgebundene Kontextualisierungskonventionen Der in der letzten Zeit wohl wichtigste, am meisten diskutierte und immer stärker rezipierte Ansatz ist der von John Gumperz und seinen Anhängern. Dieser Ansatz ist verglichen mit der Kontrastiven Pragmatik sehr viel stärker interaktional-empirisch ausgerichtet7. Neben Gumperz' Selbsteinordnung in die interpretative Soziolinguistik (vgl. Kap. 2) hat er sich einer Etikettierung hinsichtlich des speziell interkulturellen Aspekts entzogen. Gumperz führt die Ursachen interkultureller Fehlkommunikationen zuallererst zurück auf unterschiedliche kulturgebundene Inferenzen. also auf kulturgebundene Schlußfolgerungen, Annahmen und Interpretationen der Kommunikationsparteien zur aktuell laufenden Kommunikation (und nicht zu verwechseln mit Interferenzen). Inferenzen in der Kommunikation basieren auf den ebenfalls schon erwähnten Kontextualisierungshinweisen (contextualization cues), wie Gumperz sie nennt. Unter diese Hinweise fallen "Kinetik und Proxemik, Prosodie (Tonhöhenverlauf, Lautstärke, Geschwindigkeit, Rhythmus und Gliederung in Tongruppen, Akzent), Biickverhalten, zeitliche Plazierung (Pausen, Simultansprechen), Varietäten-/ Sprachwahl, lexikalische Variation sowie sprachliche Formulierungen" (Auer 1986:26). Mit Hilfe dieser Hinweise sollen Schemata des Hintergrundwissens verfügbar gemacht werden, mittels derer die Interaktanten einen gemeinsamen interpretativen Rahmen schaffen. "Anders gesagt: für die Interaktionsteilnehmer besteht die Aufgabe darin, (sprachliche) Handlungen auszuführen und zugleich interpretierbar zu machen, indem ein Kontext konstruiert wird, in den sie sich einbetten" (Auer 1986:23 )8. Hier wird m.E. deutlich, daß das Phänomen der Kontextualisierungsverfahren keineswegs nur für die interkulturelle Kommunikation von Interesse ist, sondern grundlegende Voraussetzung für jede kommunikative Kooperation darstellt - allerdings macht die Konfliktperspektive gerade die interkulturelle Kommunikation zum plausiblen "Erkundungsfeld".
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Die Publikationsliste von Analysen und Trainingsprogrammen (T) von John Gumperz und seinen Mitstreitern wird immer umfangreicher. Hier die wichtigsten Veröffentlichungen: Gumperz & Roberts 1978 (T); Gumperz, Jupp & Roberts 1979 (T); Gumperz & Cook-Gumperz 1981; einige Kapitel in Gumperz 1982a (z.T. überarbeitete Aufsätze von früher, die ich daher nicht nochma! separat aufführe) und die Beiträge im Reader von Gumperz 1982b; desweiteren siehe auch Erickson 1979 und Tannen 1984.
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Ich zitiere Auer, da der Begriff bei Gumperz selbst eher emergent als explizit definiert ist. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Kritik von Mazeland 1985.
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Da Kontextualisierungshinweise in den je eigenkulturellen kommunikativen Kontexten erworben und konventionalisiert worden sind und als unhinterfragte Selbstverständlichkeiten funktionieren, also Kontextualisierungskonventionen sind, entziehen sie sich der bewußten Steuerung. In der interkulturellen Kommunikation werden sie so unbemerkt zu einer Quelle für Mißverständnisse. Auch die gewohnten Mittel der Kommunikationskontrolle, die derselben Konventionalisiertheit unterliegen, führen nicht zum Erfolg, sondern eher zur Verschlimmbesserung. Gumperz hat dies in einem Interview zu der Frage nach den Unterschieden von Mißverständnissen in der intra- und interkulturellen Kommunikation anschaulich beschrieben: "Miscommunication occurs everywhere and always occurs. But despite differences of class attitudes, accents or social traditions, English people will still share similar linguistic conventions. And so they at least have the means with which to correct what's gone wrong, and sort out any miscommunication. They don't get involved in talking past each other to the same degree. When people do not share these linguistic conventions, the kind of minor misunderstanding which would hardly bother people with similar conventions become dangerous because the very means that you use to repair a misunderstanding or error are themselves misunderstood. So you may be wanting to repair a situation and you're really making it worse. - You see, it's this cumulative effect in an inter-ethnic conversation which is so difficult and damaging." (Interview with John Gumperz, in: Gumperz et al. 1979:48f.) Gumperz et al. benennen beispielsweise die folgenden drei Quellen als Ursache für das Scheitern interkultureller Kommunikation: "(1) Unterschiedliche kulturelle Annahmen über die Situation und ihr angemessene Verhaltensweisen und Intentionen. (2) Unterschiedliche Verfahren der Informations- und Argumentationsstrukturierung in einem Gespräch. (3) Unterschiedliche Sprechweisen, etwa die Verwendung eines unterschiedlichen Systems von unbewußten linguistischen Konventionen, mittels derer betont wird, mittels derer Beziehungen und Logik signalisiert werden und mittels derer die Bedeutsamkeit dessen impliziert wird, was an Gesamtsinn und Einstellungen ausgedrückt worden ist." (Gumperz, Jupp & Roberts 1979:5*) Gumperz und seine Mitarbeiter haben vor allem die interkulturelle Kommunikation zwischen Briten und Einwanderern vom indischen Subkontinent und aus der Karibik-Region (West Indies) untersucht und sind darauf gestoßen, daß viele Mißverständnisse oder auch das Scheitern der Kommunikation durch das sukzessive Hochschaukeln kleiner unterschiedlicher Konventionen bedingt sind. Und oft genug hängt davon ab, ob der Bewerber eine Arbeitsstelle bekommt oder nicht, wie Gumperz gerade am Beispiel von Bewerbungsgesprächen (Job-Interview) aufgezeigt hat.
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Zur Illustration vielleicht ein kleines Beispiel von Gumperz (vgl. Gumperz 1982a, Kap.7), an dem sehr viel deutlich wird: Die genannten Einwanderer in Großbritannien sind zumeist im schlecht bezahlten Dienstleistungsgewerbe beschäftigt. Im Publikumskontakt kommt es dabei oft zu Beschwerden vor allem von Seiten der einheimischen Briten, die den Eindruck haben, das Personal sei unhöflich. Natürlich wird dann sofort wieder darauf geschlossen, daß das typisch sei für Einwanderer. Beschwerden fuhren zu Disziplinierungen. Das Personal fühlt sich ungerecht behandelt und meint, es sei typisch, daß es wieder sie als die untersten der Gesellschaft trifft usw. Eine ganze Spirale der Diskriminierung kann so entstehen. Und die Ursache für diese verhängnisvolle Spirale liegt in einfachen kleinen kommunikativen Mißverständnissen, die auf unterschiedliche Kontextualisierungskonventionen zurückzuführen sind. So fragt eine pakistanische Bedienung im Schnellrestaurant vom Flughafen Heathrow bei manchen Speisen nach, ob die Gäste noch Soße dabei haben wollen. Dazu stellt sie nur die einfache kleine Frage "Soße?" ("gravy?"). Aber sie sagt es in der Intonation ihrer Muttersprache und da geht bei einer Frage nicht die Stimme nach oben, wie es im Englischen oder Deutschen der Fall ist, sondern leicht nach unten. Daraus schließen die Kunden anstelle des wohlgemeinten "Möchten Sie noch Soße dazu?" etwa sowas wie "Nun nehmen Sie schon die Soße" oder "Sehen sie nicht, daß es noch Soße gibt!" - Solche Mißverständnisse sind natürlich kaum zu erkennen. In Seminaren mit dem Personal und den Vorgesetzten wurde diese Art von Problemen dann diskutiert und alle Teilnehmer für die Wichtigkeit der kulturellen Unterschiede sensibilisiert. Im Zusammenarbeit mit dem BBC ist sogar ein Film mit dem Titel CROSSTALK zu dieser Problematik entstanden, der landesweit im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Diese unterschiedlichen Gewohnheiten kommen aber genausogut zum Tragen wenn die europäischen Nachbarn miteinander reden, eben auch wenn sie in ein und derselben Sprache kommunizieren. Neulich habe ich in einem dänischen Möbelgeschäft etwas gekauft und wollte an der Kasse per Scheck zahlen. Beim Öffnen der Brieftasche stelle ich fest: "Oh Gott, jetzt hab ich meine Schecks nicht dabei!" Darauf sagt der dänische Verkäufer, der mich bislang zuvorkommend bedient hat nur "Jaja", und zwar in fallender Betonung. So etwas klingt im Deutschen etwas verächtlich oder ironisch, etwa "Jaja, ich seh schon, erst die dicken Sachen aussuchen, und wenn's ans Bezahlen geht ...". Ich gerate also in Verlegenheit und sage "Tut mir wirklich leid. Gestern hatte ich sie noch in der Brieftasche. Aber ich fahr sofort heim, hol die Schecks und bin gleich wieder da." Wieder dassselbe "Jaja"! Sollte ich wirklich ein so unglaubwürdiger Kunde sein? Und was nimmt sich der Verkäufer heraus? Aber schnell kommt mir in den Sinn, daß dieses "Jaja" bei Dänen ja auch eine andere Bedeutung als im Deutschen haben könnte. Und in der Tat, es war keineswegs unhöflich gemeint. Es war die dänische Gewohnheit ins Deutsche übertragen. Das dänische RezeptionsJa für: Ich versteh schon, mach weiter, ist o.k. etc. Aber diese Rezeptionsweise ist wie viele andere Dinge nur eine der hartnäckigen Gewohnheiten, die wir unbewußt, automatisch und unhinterfragt anwenden. Wie Gumperz aufzeigt, kann interkulturelle Kommunikation so allein aufgrund der interferentiellen Kontextualisierungshinweise und -Interpretationen zum Teufelskreis werden und führt, wie Gumperz vor allem am Beispiel von Einstellungsinterviews mit asiatischen Stellenbewerbern zeigt, genau zu jenen Mißdeutungen über Kompetenz, die für die Bewerber weitreichende und tragische Konsequenzen haben.
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Die allgemeinen Folgen sind Stereotypisierung und Diskriminierung (vgl. v.a. Gumperz, Jupp & Roberts 1979; Gumperz 1982b). Ein konkretes Beispiel hierzu aus dem deutschtürkischen Kontext wäre vielleicht folgender "harmloser" Fall: Da türkische Zuhörer ihre Aufmerksamkeit viel weniger deutlich durch verbale Bestätigungssignale wie "mhm" etc. ausdrücken, könnten sie - jenseits der Deutung des Nicht-verstanden-Habens - als unaufmerksame Zuhörer gelten, was sich dann bei den deutschen Gesprächspartnern - neben den unmittelbaren interaktionalen Konsequenzen - mit der Zeit als stereotype Erwartungshaltung festsetzen könnte bzw. ihre ohnehin vorhandenen Vorurteile plausibel machen könnte, also etwa in der Art: "Die hören uns ja doch nicht zu!"9 Folglich und zusammengefaßt kann festgehalten werden, daß Kommunikation nur in dem Maße gelingen kann, wie die aktuellen interpretativen Rahmen der Interaktionsparteien übereinstimmen bzw. aufeinander abstimmbar sind, indem sie über einen fortlaufenden Austausch von Kontextualisierungshinweisen hergestellt und abgesichert werden - Voraussetzungen, die für die interkulturelle Kommunikation bzw. in der interkulturellen Kommunikation gemäß dieser Theorie nicht bzw. nicht immer zutreffen und damit zur Quelle von Fehlschlägen werden. Hier möchte ich nochmal einen Blick auf das anfänglich berichtete Drama in der Augsburger Fußgängerzone richten: Nach der soeben vorgestellten Theorie wäre als Ursache des folgenreichen Mißverständnisses die Unterschiedlichkeit der kommunikativen Codes des fragenden Ausländers und der alten Dame in Betracht zu ziehen. Frager und Befragte haben also aufgrund differenter kultureller Annahmen und Konventionen und der Signalisierung derselben zu keinem gemeinsamen interpretativen Rahmen gefunden, der diese Situation als eine harmlose Auskunftserfragung ausweist oder der sie als Personen mit den harmlosen Rollen von Suchendem und Vermeintlich-Wissender erfaßt - und dies gleich zu Beginn! Ich konstruiere wieder: Der Frager hat offensichtlich derartig komische Frage- und Ansprechgewohnheiten aus seiner Kultur mitgebracht, daß sie in unserm Kulturkreis - vorausgesetzt wir unterstellen der erschrockenen Dame volle Teilhabe an diesem - unter anderm auch als Straßenräuberei ausgelegt werden können! Eine vielleicht etwas krude Anwendung der Theorie, aber immerhin hatte die Kommunikation kaum angefangen, da wurden schon Schlußfolgerungen gezogen, nämlich daß ein Fall von Straßenräuberei vorliege, daß darauf die Öffentlichkeit durch Hilfeschreie zu alarmieren sei (für das vermeintliche Opfer) und daß man bei so starken Reaktionen wegzulaufen habe (für das reale Opfer). Grenzen des Gumperzschen Ansatzes Der Gumperzsche Ansatz zur interkulturellen Kommunikation ist m.E. der bislang weitgehendste - in theoretischer, methodologischer wie in empirischer Hinsicht. Auch finden sich dort ethnographische, konversationsanalytische und kognitive Komponenten vereint,
Auf diese (wahrgenommene!) feedback-Sparsamkeit türkischer Zuhörer hat mich Peter Auer hingewiesen. Sie ist noch nicht verifiziert. Aber welche weitreichenden Konsequenzen eine solch scheinbar geringfügige Kooperationsinkongruenz haben kann, zeigt z.B. Erickson 1979.
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die - wie ich zeigen will - auch bei der interaktionalen Soziolinguistik wichtige theoretische bzw. methodologische Plätze einnehmen (Kap. 2). Dennoch erscheint die direkte Übertragbarkeit des Ansatzes auf mein Feld der interkulturellen Kommunikation, deutsch-türkische Kommunikationen, nur beschränkt möglich und ist insofern problematisch, da Gumperz immer von der Voraussetzung einer prinzipiell geteilten Erstsprache - zumindest auf der Oberfläche ausgeht: Asiatisches oder indisches Englisch versus britisches Englisch, American Black English versus "White" English etc. - also alles erstsprachliche Varianten des Englischen. (Bestimmte Charakteristika des Indian English gehen aber wiederum zurück auf Regionalsprachen wie Hindi (Urdu), Gujerati, Bengali u.a.; vgl. auch Leitner 1983.) Daher werden die asiatischen oder schwarzen Kommunikationspartner wohl auch weniger primär als "Lerner" auf dem Weg zur Zielsprache gesehen, während diese Sichtweise in unserer Gesellschaft bezogen auf Immigranten jedoch meist der Fall zu sein scheint10. Mit ändern Worten handelt es sich bei Gumperz' Arbeiten eher um Untersuchungen von ethnolektalen Differenzen während es bei der hiesigen Problemperspektive fast immer um eine Unterscheidung von akrolektalen Varianten des Deutschen gegenüber basi- und mesolektalen Lernervarietäten geht - damit ist gleichzeitig ein Untersuchungsdefizit bezüglich der neuen, in der Tat auch bei uns durch die hier groß werdenden "ausländischen" Kinder und Jugendlichen existierenden ethnolektalen Entwicklungen angesprochen11. Nun aber zu einer weniger formalen und mehr inhaltlichen Beschränkung in Abgrenzung zum Gumperzschen Ansatz: Gleichwohl das Wirken von extralinguistischen Kräften im Code wie das Wirken des Codes über die aktuale Kommunikation selbst hinaus als Untersuchungswie Trainingsprämissen programmatisch sind, bleibt es bei der Beschreibung lokaler Mißverständnisse und lokaler Diskriminierung. In der zitierten Interviewstelle reduziert Gumperz Mißverständnisse und Diskriminierung allein auf Kontextualisierungshinweise, auf lokale Mittel der Kommunikation, obwohl möglicherweise auch Erklärungsmuster wie der "habitualisierte Klassenethos" (Bourdieu; vgl. Kap. 2), wie "kommunikationsstrategische" Absichten12 oder wie schlichte Inkompetenz - um nur drei mögliche Alternativen zu nennen - verantwortlich sein könnten. Kontextualisierungsweisen sind zwar sehr wohl mitgebrachte Mittel und sozial erworben, fungieren aber letztendlich als unentdeckbare, gleichsam atomatisierte wie automatisierte Einzelphänomene in Abhängigkeit von einer rein kognitivistischen Kulturauffassung: Kultur ist hier "ein integraler Bestandteil... schematischen Wissens." Diese 10 Vielleicht ist diese Sichtweise ein fachspezifischer Mythos. Alle bundesdeutschen "Gastarbeiterdeutsch"-Untersuchungen gehen wohl von dieser Prämisse aus - oder suggerieren sie zumindest! 11 Damit wäre sicherlich mehr verbunden, als nur ein Wechsel hinsichtlich des zu erforschenden Sprachcodes (und seiner Verwender), es wäre vor allen Dingen ein Wegkommen von unserem eigenen restringierten "Forschungscode" der Defizitperspektive, hin zu einer neuen Sichtweise der gleichberechtigten Differenz (vgl. Wittgenstein-Motto). 12 Dieser "Strategie"-Begriff zielt auf das Spielen mit verdeckten Karten ab, im Sinne etwa Goffmanscher "Strategischer Interaktion" (Goffman 1969).
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Wissensschemata "reflektieren Werte und Erfahrungen, insofern sie durch Teilnahme in kulturgebundenen Netzwerken sozialer Beziehungen erworben sind.... Sie müssen als kognitive Konstrukte gesehen werden, die Erwartungen dahingehend erwecken, worauf man bei einer Zusammenkunft zu achten habe, was wiederum eingeht in unsere Interpretationen von dem, was passiert. Kultureller Hintergrund und kulturell kanalisierte interaktive Erfahrung bestimmen auch den Erwerb von Kontextualisierungskonventionen" (Gumperz 1985:288f.*). Der Blick für lokale Vorgänge und Inferenz-induzierende linguistische Mittel mag zwar durch das Augenmerk auf die Kontextualisierungshinweise ungeheuerlich verschärft werden, gleichzeitig kaschiert und euphemisiert dieser Blick aber auch die Funktionen von Ressourcen, aus denen diese (und andere) Mittel geschöpft werden können - z.B. ungleich verteilte Rechte und Pflichten, die nicht lokal-interaktional erwachsen, sehr wohl aber die lokalen Produktionsbedingungen beeinflussen (vgl. Kap. 4f.). Die Reduzierbarkeit auf Interferenz Gemeinsam mit der Kontrastiven Pragmatik legt der Gumperzsche Ansatz der kulturbedingten Kontextualisierungsunterschiede die Annahme des Code-Kulturkontrasts als entscheidend zugrunde. Das heißt, was einmal erworben und "automatisiert" ist, wird unreflektiert auch auf Situationen übertragen, in denen andere "Automatismen" Gültigkeit haben. Es ist also zu Interferenzen aus den Kontextualisierungsweisen des eigenkulturellen Gebrauchskontextes gekommen. Die dahinterstehende Logik ist einfach. Was den Kulturen gemeinsam ist, funktioniert; was die Kulturen unterscheidet, birgt die Gefahr des Konflikts, des Mißverständnisses in sich, funktioniert womöglich nicht, weil die jeweils eigenkulturellen Konventionen auf den fremdkulturellen Kontext übertragen werden. Auch wird sogleich mitunterstellt (vgl. Interviewpassage), daß Reparaturverfahren (siehe Kap. 3) den negativen Transfer noch verstärken, weil sie nämlich gleichfalls "automatisiert" und Eigenkultur-fixiert sind. Diese Logik unterstellt m.E. - zumindest in ihrer letzten Konsequenz - , daß die Interaktanten so schließlich zum reinen Anhängsel "ihrer" Kultur werden. Daran ändern auch die interpretativen Kämpfe der Beteiligten nichts, weil sie sich immer nur um die Einordbarkeit in den konventionalisierten und routinisierten Haushalt kultureller Wissensschemata drehen. Natürlich ist der Zusammenhang von Kultur und jenen "automatisierten" und konventionalisierten Sprechweisen eine legitime und keineswegs irrelevante Sichtweise, da sie in ihrer Flüchtigkeit jenen bewußten Reflexionssphären entgehen. Sie müssen aber erweitert werden um die mögliche sozialidentifikatorische Funktion bestimmter Code-Charakteristika (was von der Kontextualisierungsannahme her völlig unproblematisch ist; vgl. Erickson 1979) als auch - aber darauf komme ich erst viel später zurück - um die Legitimation der jeweiligen Gebrauchsweisen. Auch diese nicht-interferentiellen Mittel werden "kontextualisiert" und lassen sich erst über die Zugangsbedingungen zu ihren Ressourcen interpretieren (vgl. Kap. 4f.).
15 Exkurs. In ihrer konsequenten common-sense wie wissenschaftlichen Anwendung treibt die Interferenzhypothese m.E. jedoch auch einige gefährliche Blüten, die selbst noch unter der Ausbuchstabierung transferierter Praxis als bewundernswerte Kreativität einen Hauch von Defizittheorie mitschwingen läßt. Das erste Exempel stammt aus der sog. alternativen Presse: Das "Bielefelder StadtBlatt" 22/1984 berichtet vom ersten Breakdance-Wettbewerb Bielefelds. Männliche türkische Teenager überzeugen durch ihre gekonnten Breakdance-Darbietungen. Es fällt ins Auge, daß diese Tanzart zum größten Teil von "ausländischen Jugendlichen" gepflegt wird. Dazu die türkische Breakdance-Gruppe 'Turks": "Die Deutschen sind viel zu steif ... Sie geben sich zwar Mühe, aber es klappt nicht so richtig". Hier nun setzt das StadtBlatt an: "Und damit könnten sie recht haben, ist doch in unserer bundesdeutschen Kultur Standard die Norm, Paartanz erwünscht, Volkstanz nach Art des betulichen Kreistanzes gepflegt und der bayrische Schuhplattler schon auffällig lautes Exotikum. Da haben Jugendliche, die mit dieser Tanzkultur aufwachsen, mindestens Hemmungen, wenn nicht tatsächlich Verkrampfungen gegenüber dem Schautanz.... Die ausländischen Jugendlichen hingegen kennen Schautanz als traditionellen Bestandteil ihrer Feste, ihrer Musik - ihrer Kultur überhaupt." Nun ist es schon fast eine Parodie, aus dem Spektrum der möglichen Erklärungen und Begründungen für dieses Können ausgerechnet den Schautanz als Bestandteil "ihrer Kultur überhaupt" (gemeint ist wohl, wenn auch ungesagt, der "türkischen Kultur in der Türkei") auszuwählen. Hier liegt die erste implizite Defizitannahme: Das Können ist begründenswert. Gibt es aber eine homogene männliche türkische Schautanzkultur? Haben diese Jugendliche sie erfahren, sind sie Teil davon? Wo sind sie groß geworden? Stadt, Land, Deutschland, Türkei? Die zweite Defizitunterstellung liegt in der Transferbehauptungselbst: Die Jugendlichen sind damit nicht "Bastler" aus dem Fundus der ihnen in ihrer hiesigen Lebenswelt gebotenen Stilelemente13, sondern sind noch in ihren "urbansten" und pop-kulturellsten Ausdrucksformen an die Traditionen "ihrer" Dorfkultur gebunden (bzw. Opfer der deutschen Paartanz-Kultur). Das zweite Beispiel entnehme ich einer neueren kulturanthropologischen Arbeit: Der deutsche Ethnologe Werner Schiffauer (Schiffauer 1983) macht sich in der ländlichen Türkei auf die Suche nach den Enkulturationsspuren von türkischen Jugendlichen, die in Berlin an einem Vergewaltigungsverbrechen beteiligt waren. "Näheres Zusehen lehrt", so der Klappentext, "daß es sich bei dem Tatbestand um ein perfektes Mißverständnis handelt: den Ausbruch eines Kulturkonflikts zwischen Deutschen und Türken." Schiffauer führt uns nun über typische dörfliche Primärsozialisationsinstanzen in die Welt der über die Ehre definierten Trennungslinien von 'innen' und 'außen', von 'männlich' und 'weiblich', von 'stark' und 'schwach' etc. zu einem "situationistischen" Kulturverständnis: Nicht Personen oder Motive entscheiden, sondern äußere, apriori definierte Situationskonstellationen. Folglich werden von den "So"-Sozialisierten auch Menschen und Motive in der westlichen urbanen Welt an diesen Situationsmaßstäben gemessen. Deshalb demonstriere Schiffauers Untersuchung eindrucksvoll, so der Klappentext weiter, "daß Diskussionen über die Türken in der Bundesrepublik ohne ethnologische Kenntnisse der türkischen Dorfkultur zwangsläufig gehaltlos bleiben." Birgt nun also jeder deutsch-türkische interkulturelle Kontakt die Gefahr so dramatisch ausgehender Konflikte in sich? Müssen wir immer von unsern mehrdeutigen Situationen ausgehen, die kognitiv nicht erkannt werden können von Menschen, die situativ "eindeutig" aufwachsen? Die Fragestellungen machen die Gefährlichkeit solch unhinterfragter Interferenzannahmen deutlich. Hier ist die Geertz'sche Perspektive von Kultur als Kontrollmechanismen
13 Dieser "positive" Ansatz der Jugendlichen als "Bastler" ist vor allem vom Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS), Birmingham verfolgt worden; vgl. hier z.B. Clarke u.a. 1979.
16 angebracht (Geertz 1973; vgl. auch weiter unten Kap. 2.1), die Fragen aufzuwerfen hätte, in welchen Kontexten, situativen Nicht-Eindeutigkeiten etc. welche Kontrollverfahren zum Zuge kommen. Die Annahme kultureller Eindeutigkeit ist jedenfalls ein Mythos (vgl. 2.1). Kritikpunkte Zusammengefaßt hier noch einmal die kritischen Punkte, die die vorgestellten Ansätze (außer dem von Brown & Levinson 1978) gemeinsam haben: (a) Alle Modelle basieren primär auf der Interferenzannahme. Mißglückte Kommunikation hängt in der einen oder anderen Weise immer mit dem falschen Transfer eigenkultureller Muster zusammen. Dies gilt insbesondere für die kontrastive Pragmatik und die ihr nahestehenden Ansätze14. (b) Faktisch alle Modelle klammern Mißlingensbedingungen aus, die außerhalb (z.B. sozialstrukturell bedingt) der konkreten Sprachverwendung zu verorten sind. Kommunikative Fehlschläge gelten vielmehr als auf das Engste mit den kulturell unterschiedlichen Codes verknüpft. Gumperz et al. verweisen allerdings auch auf die sich verselbständigende Macht von Stereotypisierung und Diskriminierung, also auf die Folgen, die durch diese Interpretationsinkongruenz in Gang gesetzt werden (Jupp et al. 1982:234; Gumperz 1983).
14 An diesem Punkt scheint es mir angebracht, eine Bemerkung darüber zu machen, wieso ich Gumperz etc. unter die Interferenztheorie fallen lasse. Heißt nicht das eine seiner Bücher sogar "Language and Social Identity"? Ein deutlicher Bezug zu dem sozialpsychologischen Erklärungsansatz also? In der Tat, ist mir nicht in jeder Hinsicht wohl bei dieser Subsumtionslogik. Eine genauere Begründung würde mehr Raum einnehmen und fiele wesentlich differenzierter aus. Gumperz & Cook-Gumperz sagen z.B. sehr deutlich: "Even where the original native language is lost the new discourse conventions tend to persist and to be taken over into the group's use of the majority language. In fact these conventions come to reflect the identity of the group itself and can act as powerful instruments of persuasion in everyday communicative situations for participants who share its values" (1982a:6). Hier handelt es sich allerdings um intra-ethnische oder intra-kulturelle Kommunikation! Kommt es zu inter-ethnischen Kommunikationskonflikten, tritt der Kompetenzaspekt in den Vordergrund - Kompetenz im Sinne des situativ angemessenen kommunikativen Könnens. In der Analyse der Redestrategien in einer Jugendzentrumskommittee-Sitzung mit weißen und afro-karibischen Teilnehmern kommen dieselben Autoren zum Schluß, daß die rhetorischen wie intonatorischen Eigenheiten des einen afro-karibischen Britens deswegen "nicht ankommen", da sie "regular features of West Indian talk" seien. Die identitätsmarkierenden Merkmale der ändern afro-karibischen Briten führen hingegen nicht zu Widersprüchen, werden nicht als situativ inadäquat wahrgenommen (vgl. Gumperz & Cook-Gumperz 1982b). Ich will sagen: Reale Kommunikationsprobleme werden schließlich doch auf simple Übertragungen "runtergekocht". Diese Art von Widerspruch gälte es natürlich im Detail nachzuweisen. Soweit also nur ein Hinweis für die Motive meiner Subsumtionslogik.
17 (c) Alle Modelle scheinen mehr oder weniger davon auszugehen, daß in einer 'multi-ethnischen Gesellschaft' grundsätzlich keine gemeinsamen 'interaktiven Normen' bestehen15, was, wie versucht zu zeigen, entweder kein 'Privileg' dieser so definierten Gesellschaften/ Gemeinschaften ist, oder nur bestimmte Bereiche der 'interaktiven Normen' betrifft. (d) Alle Modelle suggerieren schließlich eine einseitige Abhängigkeit des Individuums von seiner Kultur. Sprechakte sind dann nur noch Verbale Verdinglichungen' kultureller Schicksalsbestimmtheit. Speziell gilt für die Kontrastive Pragmatik darüberhinaus, daß sie nicht die veränderten Bedingungen der Interaktionssituation selbst in Rechnung stellt. D.h., kontrastiert werden nur pragmatische Konventionen etc. in ihren jeweils gültigen kulturellen Kontexten. Ob diese verbalen Verhaltensweisen auch in andere - fremdkulturelle - Kontexte so einfach übertragen werden, bleibt fraglich. Es müssen gleichfalls (gemeinsame) "Reparatur- und Relativierungsverfahren" bei den interkulturell agierenden Parteien in der face-to-face Situation miteinbezogen werden, die vielleicht gerade vor einer Übertragung "schützen" und die auch eine Art von gemeinsamen 'interaktiven Normen' darstellen (vgl. Kap. 3).
Das vorangestellte Wittgenstein-Zitat (PG 133) macht Dimension wie Problematik der Interferenz noch einmal deutlich, denn Grammatik heißt bei Wittgenstein ja immer auch Lebensform im Allgemeinen: Wendet man die üblichen grammatikalischen Regeln im Sinne des Ersterworbenen an, spricht man in der Tat noch nichts Falsches, sondern spricht man von seiner eigenen Lebensform (aus), die anders ist, different ist von der gewünschten, von der mainstream- oder Mehrheitenkultur. Aber im Hinblick auf die folgenden sozialpsychologischen Erklärungen zu kulturellen Code-Unterschieden greift das Motto genauso: Wer sich gegen die "Grammatik" der Mehrheit richtet, ist nicht defizitär, sondern "spricht" vielleicht von seiner soziokulturellen Identität, einer anderen Identität, die den hegemonialen "Grammatikern" nicht genehm ist.
15 Dazu Jupp, Roberts & Cook-Gumperz: "Nor does the white majority recognize or accept the fact that in a multiethnic society there are no interactive norms. This lack of both recognition and acceptance of linguistic diversity has been and remains the single greatest barrier to language socialization for South Asians, and when applied to judgments about people is a significant source of indirect discrimination" (1982:247).
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1.2.2 DIE THEORIE DER SOZIALPSYCHOLOGISCH BEDINGTEN KOMMUNIKATIVEN VERSCHIEDENHEIT Ich fahre fort in meiner Theorie-Umschau und komme nun zu dem zweiten großen theoretischen Sammelbecken, in dem vor allem interaktionistische Sozialpsychologen zu verorten sind. Ich möchte die Ansätze dieser Richtung unter die von mir so genannte Theorie der "sozialpsychologisch bedingten kommunikativen Verschiedenheit" subsumieren und einige Arbeiten aus diesem Bereich vorstellen. Kurz gesagt basiert diese Theorie auf der Auffassung, daß Konflikte in der interkulturellen Kommunikation weniger oder nicht primär mit unbewußt "falsch" übertragenen Kommunikationsweisen und Kontextualisierungskonventionen auf kulturell nicht-adäquate Situationen zusammenhängen. Vielmehr sei die gemeinsame Interaktionsgeschichte mit je als gruppenrepräsentativ erfahrenen "generalisierten" Anderen, ebenso wie die aktuale Situation selbst konstitutiv für die Herausbildung bzw. Verwendung gegenseitig inkommensurabler Kodifizierungen. Die ausgrenzende Markierung von (sozio-)kultureller Identität wäre dann das primäre Erklärungsmuster für interkulturelle Kommunikationskonflikte. Dieses "Mit-sich-und-seinerGruppe-" oder "Mit-seiner-Gruppe-und-damit-auch-mit-sich-selbst-Einssein" ist das Resultat eines Prozesses, der sich im Wechsel von Selbst- und Fremdzuschreibung - innerhalb wie außerhalb der Gruppe - herausbildet. Nach dem Ethnologen Fredrik Barth ist allerdings ethnische oder kulturelle Identität immer nur eine unter möglichen anderen Identitäten. Ethnische und kulturelle Kategorien sind in diesem Sinne arbiträre und aus einer größeren Auswahl von anderen Möglichkeiten selegierte Identifikationen. Ihnen kommen primär handlungsorientierende Funktionen zu, die Strukturierer sozialer Organisation und Interaktion darstellen (Barth 1969: lOff). Entscheidend ist: Diese Identifikation kann Gruppen-konstitutiv sein, und zwar sowohl durch eine (Fremd-)Identifikation der out-group oder als in-group (Selbst-)Identifikation, als auch über eine adaptierte Fremdbestimmung, indem von anderen geprägte Kategorien für die Selbstidentifikation zu eigen gemacht werden. Interkulturelle und interethnische Interaktionsstrukturen sind nach dieser Theorie also nicht auf Kompetenzdefizite hin zu untersuchen, da Nicht-Funktionieren, Fehlschläge etc. primär aus sozial-identifikalorischem Grenzsicherungsverhalten resultieren. Somit erscheinen die vielbeschworenen Schwierigkeiten interkultureller Kommunikation weniger als Ausfluß objektivierbarer kultureller Differenzen, sondern vielmehr als das Medium der Absicherung dieser Differenzen (vgl. Streeck 1985:108ff.). Es ist nun interessant zu beobachten, daß die meisten Untersuchungen, die grob in dieses sozialpsychologische Raster einzuordnen sind16, gerade interkulturelle Kommunikation im
16 Eine Vielzahl der Arbeiten, die sich im Rahmen der "Social Psychology of Language" um den Briten Howard Giles versammelt haben, gehen mit ihrer "Akkommodationstheorie" in eine ähnliche Richtung, wenn auch mehr experimentell als lebensnah. Vgl. z.B. einige der Beiträge in Giles
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Rahmen einer mehr oder weniger kontinuierlichen gemeinsamen Gesellschaftsteilhabe betrachten, wo also nicht Mitglieder oder Gruppen aus traditionell voneinander abgeschotteten Gesellschaften miteinander in Kontakt treten, sondern wo der Kontakt innergesellschaftlich sozusagen traditionell zur Tagesordnung gehört. Ein Beispiel für eine solche gesellschaftliche Gruppe ist der afro-amerikanische Bevölkerungsanteil in den Vereinigten Staaten, dessen kulturelle Besonderheiten Anlaß intensivster Erforschung waren und sind. Für die Afro-Amerikaner hat diese "Eigenständigkeit" - es muß hier notwendig homogenisiert und vereinfacht werden - ihre Wurzeln vor allem in dem geteilten Vergangenheitsschicksal der Versklavung und in der z.T. bis heute andauernden gesellschaftlichen Segregation und Unterdrückung (vgl. Herskovits 1957; Levine 1977). Black English Das schwarzamerikanische Kommunikationssystem ist gut erforscht - angefangen bei der linguistischen Beschreibung des "Black English" über die Analyse ritueller Diskursformen und -funktionen (rapping, toasting etc.) bis hin zur ethnographischen Entschlüsselung "schwarzer Lache"17. Die allgegenwärtige Kommunizierung der "Blackness" ist Ausdruck starker Identität, ist Ausdruck schwarzer Gegenkultur, ist die Sprache schwarzer Emanzipation. Vor kaum zwei Jahrzehnten galt das "Black English" - damals "Negro-Nonstandard English" - als Ausdruck der sozialen und kulturellen Zurückgebliebenheit. Linguisten und Kommunikationsethnographen haben - gewollt oder ungewollt - mit der sprachlichen Erforschung der innerstädtischen schwarzen Ghettos den Makel der Minderwertigkeit mit zerstört (vgl. Labov 1972). Auf dem Hintergrund der starken, einheitlichen "Gegenkultur" ist afro-amerikanisches Selbstbewußtsein so stark geworden, daß die eigene Sprachkultur offensiv vertreten wird. Für die alltägliche Kommunikation mit weißen Amerikanern bedeutet dies, keine ostentativen und 'Verräterischen" linguistischen Anpassungsversuche mehr zu probieren, sondern vielmehr die Beibehaltung und "Pflege" semiotischer Eigenheit zu demonstrieren. Fast klingt eben Gesagtes euphorisch. Aber schwarz sein, schwarz sprechen bedeutet oft immer noch Diskriminierung und Konflikt im schwarz-weißen Alltag. Dazu zwei Beispiele schwarz-weißer interkultureller Kommunikationspraxis nach Untersuchungen von Kochman 1981 und Erickson 1979. Wie Kochman schreibt, ist beispielsweise die Last kommunikativer Verständigungsbemühungen weiterhin ungleich verteilt: "Weiße ziehen sich zurück, wenn Schwarze die Verhaltensnormen verletzen, nicht allerdings, wenn andere Weiße sie verletzen" (Kochman 1981:159*). Detaillierte Differenzen in der interkulturellen Kommunikation beschreibt Kochman
& Saint-Jacques 1979 sowie Thakerar, Giles & Cheshire 1982. 17 Vgl. hier z.B. die Anthologien von Whittcn & Szwed 1970 (Part III), von Kochman 1972 und von DcStcfano 1974. Eine sehr provokative Einführung bietet Dillard 1972; eine neuere Übersicht liefert Whatley 1981.
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am Beispiel von Diskursmodalitäten bei der Diskussion in einer schwarz-weißen Schulklasse: Während der weiße Diskussionsstil eher geprägt ist von "Unvoreingenommenheit" und unpersönlicher "rationaler Argumentation" und von der Anerkennung "des Rechts auf Schweigen", manifestiert sich der schwarze Diskussionsstil mit starker persönlicher Involviertheit. Schweigen bedeutet Verweigerung, bedeutet eine subversive diskursive Strategie. Weißes Schweigen, so Kochman, wird von Schwarzen interpretiert als deliberates Versteckthalten von Information, und die In-die-Pflichtnahme der Weißen zu reden, gilt für diese dann als aggressive Despektierlichkeit privater Rechte. Resultate sind Konflikte in der Diskussion und schließlich ihr Zusammenbruch (Kochman 1981:16ff, 97ff.). Erickson 1976 & 1979 und Erickson & Shultz 1982 untersuchen die "feinen Unterschiede" beim "sozialen Selektionsprozeß" universitärer u.a. Laufbahnberatungen (fast Prüfungscharakter in den USA) durch die kommunikative Evaluation weiß-weißer, weiß-schwarzer und schwarz-schwarzer Klient-Berater-Dyaden. Erickson 1979 untersucht dabei u.a. die Klienten-feedback-Signale bei Hörerrespons-relevanten-Momenten und Berater-Reaktionen darauf (Selbstkorrekturen). Da die schwarzen und weißen Kontextualisierungweisen von Aufmerksamkeit unterschiedlich sind und die jeweiligen Kongruenzerwartungen nicht erfüllt werden, muß z.B. der weiße Berater auf ausgebliebene oder unbemerkte feedback-Zeichen sich wiederholen, oder er wird konkreter, paraphrasiert etc. - Erickson nennt dies angesichts der damit verbundenen De-Komplexifizierung "talking down". Der soziale Selektionsprozeß setzt ein mit der Auffassung des Beraters, seine kommunikativen Anstrengungen seien erforderlich wegen schlichter Inkompetenz des Klienten - und nicht, weil er selbst vielleicht die schwarzen Kontextualisierer übersehen oder nicht verstanden hätte (denn was er nicht kennt, kann er ja auch kaum erkennen). Dies wiederum schlägt sich in der Bewertung nieder. Der Berater ist "gatekeeper", er kann das Tor zur weiteren Laufbahn verschlossen halten - die Schattenseite kommunikativer Identitätsmarker! Und wie Erickson 1976 und Erickson & Shultz 1982 nachweisen, kommt es in der Tat zu tendenziösen Selektionen18.
18 Hier gleich zwei Anmerkungen: a) Die "intra-racial" positiven Selektionen sind in der Tat statistisch signifikant häufiger als die "inter-racial"- Ergebnisse. Schwarze Berater bei weißen Studenten schneiden ebenfalls statistisch besser ab als umgekehrt. (All das sagt noch nichts zur Korrelation von Stilunterschieden und sozialer Selektion!) Es gibt allerdings Faktoren, die für verschiedene der untersuchten Kommunikationsparameter interethnische und "interracial" Differenzen überdecken, nämlich die Entdeckung gemeinsamer Interessen etc. von Berater und Klient: "co-membershipping", wie Erickson & Shultz das nennen (Erickson & Shultz 1982:167ff.). b) (Dieser Teil der Anmerkung bezieht sich auf beide zitierte Beispiele.) Auch im unbewußten Nicht-erkennen-Können des Beraters, der weißen Mitschüler oder in der Unfähigkeit der schwarzen Klienten, die Korrekturbemühungen des Beraters zu verstehen etc., sind natürlich Interferenzen festzumachen: ein negativer Transfer eigenkultureller Fremdrezeption in eine fremdkulturelle Fremdrezeption. - Es wird immer Punkte geben, an denen sich streng genommen die beiden hier gegenübergestellten Ansätze aufheben, komplementieren etc. Sind deutliche Evidenzen für sozialpsychologische Erklärungen da, wie die Code-Switching Fähigkeit zwischen fremd- und eigenkulturellen Stilen, liegt der Fall relativ klar (siehe unten). Fehlen diese, sind aber andererseits deutliche Evidenzen für eine eigenständige "Stammkultur" da (Begriff des CCCS; siehe Fußnote 13 bzw. Clarke u.a. 1979), in denen die jetzt konfligierenden Kommunikationsweisen nicht-konfliktiv, sondern selbstverständlich sind, liegt eine Interferenz wohl näher. In der aktualen Verwendungsweise, in den möglichen Funktionen von Kontextualisierern, Stilmerkmalen etc. ist aber der nicht-lokale Grund relativ wenn nicht ganz nebensächlich! Denn was wird in situ, in actu gemacht mit dem "Material" - das wird die entscheidende Frage sein!
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"Why Do Low-Prestige Language Varieties Persist?" fragt Ryan 1979. Die Antwort ist wiederum sozialpsychologischer Natur: wegen der mit ihnen verbundenen Identität oder Ethnizität. Trotz der Dominanz der Mehrheitensprache oder der Standardsprache überleben Minderheitensprachen und Nicht-Standardsprachen. Trotz der ständigen Konflikte und des "Leidens" (z.B. Diskriminierung) in der Kommunikation mit Sprechern der Mehrheitensprache oder der Standardvariante wird die "low-prestige" Sprache oder Varietät gesprochen und "gepflegt". Als letztes Beispiel zu dieser Theorieperspektive möchte ich das "London Jamaican" anführen, eine Sprache mit relativ kurzer Geschichte, niedrigem Prestige und hohem Insider-Wert: Die Sprache schwarzer britischer Jugendlicher, deren Vorfahren Afro-Kariben sind, verschlagen ins koloniale "Mutterland" und chancenlos in einer rassistischen Gesellschaft (Glinga 1983). Dennoch eine Sprache, die so "stark" ist, daß sie mitunter auch von Weißen gelernt wird (Hewitt 1982 und 1986). "Die Varietät des Karibischen Kreols, das von jungen Afrokaribiem in London gebraucht wird", so Sebba (1984b:5*), "hängt... nicht von der Varietät ab, die ihre Eltern sprechen oder in Westindien sprachen. Wo sie die Wahl treffen, kein Londoner Englisch zu sprechen, entscheiden sie sich mit überwältigender Mehrheit dazu, eine Varietät des Jamaican Creole zu sprechen (ganz gleich, mit welchem Maß an Kompetenz sie es können), die den Linguisten jetzt als 'London Jamaican' bekannt ist (und von seinen Sprechern manchmal einfach 'Patois' genannt wird) - und zwar unabhängig davon, ob ihre Eltern eine jamaikanische Vergangenheit haben oder nicht19. Und obwohl die meisten, gleichwohl nicht alle, unserer Informanten sagen, 'talking black' oder 'chatting patois' sei für sie normal, ist die Sprache, die sie meinen, nicht die karibische Umgangssprache, die ihre Eltern daheim sprechen, sondern die lokale Londoner Variante des Jamaican Creole." London Jamaican ist ein Konglomerat von linguistischen Merkmalen, die zum Teil dem Jamaican Creole entstammen, zum Teil aber auch völlig innovativ sind, es ist eine Sprache, die eine eigene Pop-Kultur (z.B. britische Reggaemusik) und Literatur "besitzt" (z.B. Linton Kwesi Johnson); sie ist Sprache junger schwarzbritischer Identität und Sprache des Protests. - Interessant ist, daß sich die Trennungslinie "sprachliche Interferenz" versus "linguistische Identitätsmerkmale" auch in der Frage der Sprache schwarzer Jugendlicher widerspiegelt. Edwards 1979 und Sutcliffe 1982 beschreiben die Sprache noch als Jamaican Creole, Hewitt 1982 und 1986 und Sebba 1984b und Sebba & Wootton 1984 beschreiben ihre identitätsstiftenden Kommunikationsfunktione n. Kochman, Erickson und Sebba sind hier nur drei Beispiele aus einer mittlerweile recht breiten Palette von Studien zur interkulturellen Kommunikation zwischen Sprechern stark verschiedener ethnolektaler Varianten. Die meisten dieser Untersuchungen haben allerdings im Rahmen der Fragestellung von Ethnizität, Überleben von ethnolektalen Minderheitensprachen o.a. stattgefunden. Zudem erhebt sich die Frage, inwieweit ethnische Sprechstile eingebettet sind in eine andere "Gesamtkultur", oder inwiefern sie demgegenüber nur noch eine residuale Spur von kultureller Eigenheit darstellen, oder inwieweit sie nur soziale und
19 Zu der spezifischen Veränderung der westindischen Englischvarianten in Groß-Britannien und deren sozialpsychologische Konsequenzen vgl. Giles & Bourhis 1976 und Sebba 1984a.
22 kulturelle Marker spezifischer Teilkulturen sind und damit nur eine Komponente im täglichen Code- und Kulturswitching darstellen (z.B. Inner-City Black Adolescent Street Culture, London Jamaican als Freizeit"kultur" zwischen Heim und Schule o.a.). Kritikpunkte Der mit dieser sozialpsychologischen Perspektive einhergehende Kulturbegriff steht dem Gumperzschen diametral entgegen und ähnelt z.B. dem noch darzustellenden Kulturkonzept von Pierre Bourdieu (vgl. Kap. 2.1), mit dem sich in den "feinen Unterschieden" zwischen den Sprechstilen die Konvergenz von Sinn und Wert ausmachen ließe, insofern ethnische Gruppenzugehörigkeit zu "sozialem Kapital" und Distinktion zu "kulturellem Kapital" werden. Im Widerspruch zu Bourdieus Definition einer Distinktionspraxis von Oben nach Unten handelt es sich bei den ethnolektalen "low-prestige" Varianten sehr wohl um eine Distinktionspraxis von Unten nach Oben. Sobald also spezifischer "black talk" Allgemeingut wird, unter Weißen schick wird, wird er nicht mehr in der schwarzen Subkultur verwandt, sondern neu kreiert. Diese schwarzen "Distinktions"erneuerungen sind Reaktion auf die Expropriationsversuche ihrer Sprache durch die Weißen und durch den mainstream-Kommerz, sie sind Ausdruck des identifikatorischen Absetzungsprozesses (Ciaerbaut 1972:42f.). Ein weiterer Fall für den "voluntativen" Einsatz distinktiver und identitätstiftender Sprachstile in der interkulturellen Kommunikation stellt das Phänomen des Code-Switching dar und zwar konkret insbesondere dort, wo der "bilinguale" Sprecher in der face-to-face Kommunikation mit einem Sprecher der Mehrheiten- oder Prestigesprache in die ethnolektale "low-prestige" Variante switcht, also selbst "nach unten divergiert" (Giles) (hier gibt es m.E. keine Musteruntersuchung)20. Im Ergebnis können zu der sozialpsychologischen Theorievariante würdigend wie kritisch folgende Punkte zusammenfassend festgehalten werden: (a) Wichtig erscheint mir vor allem, daß Kultur zu einer aushandelbaren Größe wird und nicht automatisch in der interkulturellen Kommunikation den jeweilig Beteiligten "anklebt". Nicht jede schon äußerlich interkulturell anmutende Kommunikation ist folglich auch gleichzeitig "genuin" interkulturelle Kommunikation, andere Kulturteilhabe wird nicht zwingend zum Bestandteil kommunikativer Akte; andererseits sind die Grenzen zwischen interkultureller Kommunikation und Kommunikation zwischen Mitgliedern distinkter, nicht explizit ethnischer (wer "expliziert" da?) Gruppen fließend. Was aber sind die Kriterien
20 Fälle dieser Art von "downward divergence" werden zwar immer wieder von Vertretern der Akkomodationstheorie (z.B. Giles 1979) angeführt, mit dem empirischen Nachweis sieht es jedoch schlecht aus: Es scheint bis dato keine einschlägige Untersuchung dazu zu geben. Auch Gumperz' Code-Switching Studien gehen auf diesen Aspekt nicht ein. Fälle, daß der Standardsprecher "runter" konvergiert - oder auch divergiert - sind z.B. bei Foreigner Talk Untersuchungen nachgewiesen (Hinnenkamp 1986a; vgl. auch Kap. 4).
23 für ethnische oder kulturelle Distinktivität, wenn der "definierte" ethnische oder kulturelle Hintergrund fehlt? (b) Da bei Gruppenausgrenzungen immer auch die definitorische Gewalt dazu ungleich verteilt ist, sind die Sprachvarietäten der beteiligten Interaktionsparteien als ethnische und kulturelle Markierer auf das Engste mit gesellschaftlichen Machtbedingungen verknüpft. Kulturelle Codes werden damit zum Reflex wie zum Mittel der Hervorbringung gesellschaftlicher Machtstrukturen (im Gegensatz zu "Stimulanten" ethnischer Diskriminierung). (c) Phänomene wie Fossilisierung der zu erlernenden Zielsprache, Sprachverweigerung gegenüber der Mehrheitensprache und Foreigner Talk gewinnen nun auch eine Erklärung jenseits von kommunikativer und kultureller Kompetenz21. Es wird deutlich, warum kommunikative Kompensationsstrategien von Seiten des vermeintlich kompetenteren Interaktionspartners versagen müssen. Gleichzeitig nimmt die sozialpsychologische Erklärungskraft aber auch mit zunehmender Gruppenheterogenität wieder ab, wenn sich letztendlich nur noch zwei ethnisch bzw. pan-ethnisch grob definierbare Gruppen gegenüberstehen, wie z.B. DEUTSCHE und NICHT-DEUTSCHE, AUSLÄNDER und INLÄNDER etc. Wirkliche Erklärungsstärke ist allerhöchstere zu erwarten für Phänomene wie die Beibehaltung oder Übernahme eines als ethnolektal eingestuften Akzents, also für das Resultat eines Prozesses. (d) Kommunikative Konflikte können dieser Theorierichtung gemäß primär über praktische Versuche von Ausgrenzung erklärt werden. Die Palette möglicher Phänomene sowie deren Erklärung überschreiten realiter aber sowohl Konzepte kultureller Kompetenz als auch Modelle sozialer Identitätsstiftung (vgl. hier vor allem Erickson & Shultz 1982). (e) Die Theorie wird so im falschen Sinne 'funktionalistisch'. Ethnische und kulturelle Ausgrenzung gewinnen legitimatorischen Charakter, werden förmlich sozialer Identität intrinsisch, ohne aber die sozialen wie interaktionalen Bedingungen zu nennen, unter denen Ausgrenzungsverhalten möglich, notwendig oder zwingend wird - also Fragen nach den Bedingungen der Verfügbarkeit von Herrschaftsressourcen in der interkulturellen Kommunikation.
Zuguterletzt werfe ich noch einmal einen weiteren Blick auf das eingangs zitierte Drama der Ausländerverfolgungsjagd: Hier tut sich die Theorie m.E. schwer, das Ereignis in unserer Vorstellungskraft entsprechend lebendig werden zu lassen. Es wäre recht weit hergeholt, das wie immer auch inadäquat eingeschätzte Verhalten des ausländischen Fragers bereits
21 Vgl. dazu meine Versuche in Hinnenkamp 1980 und 1985, die in eine ähnliche Richtung abzielen.
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als Ausdruck sozialer Identität im obigen Sinne zu betrachten. Aber eine so krude Anwendung wird auch niemand erwarten! Das Ereignis könnte allerhöchstem als typischer Fall interkultureller Kommunikationsgeschichte, als ein Schritt im Prozeß der ethnischen oder kulturellen Identitätskonstitution durch fremdbestimmtes Abgrenzungsverhalten betrachtet werden und zwar für beide Seiten, wobei die hysterisch reagierende Dame ihre Identität - zumindest auf ihre Weise - sehr spontan und heftig zum Ausdruck bringt!
2. Kapitel INTERKULTURELLE KOMMUNIKATION UND INTERAKTIONALE SOZIOLINGUISTIK: NOTWENDIGE PRÄLIMINARIEN 'Was spricht, ist nicht die Äußerung, die Sprache, sondern die ganze soziale Person." Pierre Bourdieu "Die gesellschaftliche Tradition kann nur in dem Maße durch die Individuen hindurch wirken, indem sie ständig von ihnen erneuert wird - so wie alle Strukturen setzt sie sich nur in der Praxis fort." Charles Taylor 2.1 INTERKULTURELLE KOMMUNIKATION Obwohl das Phänomen der interkulturellen Kommunikation so alt ist wie seine nominal/isierbar/en Wortbestandteile "Kommunikation" und "Kultur", hat es als eigenständig legitimiertes Forschungsterrain, als Betrachtungsobjekt seiner geschichtlichen Entwicklung und Theoriebildung, einen mehr als stiefkindhaften Status. Darauf verweisen beispielweise auch die Herausgeber des Handbook of Intercultural Communication, wenn sie ernüchternd feststellen, daß es sich bei der interkulturellen Kommunikation um ein Forschungsfeld handle, "ohne eine klare traditionelle Verwurzelung in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften. Was man hingegen findet, sind die flüchtigen Ausbeuten von Anthropologen, Kommunikationsforschern und Psychologen, die bei ihren Streifzügen durch ihre je eigenen kulturellen Arbeitsfelder mehr oder weniger zufällig vorbeikommen" (Asante et al. 1979:12*). Diese Randstellung mag an den grundlegenden theoretischen Fragen liegen, die mit so zentralen und doch so schwer eingrenzbaren Kategorien wie "Kultur" und "Kommunikation" zusammenhängen; es mag mit der strittigen Aufteilung des Feldes zu tun haben, wer denn nun zuständig sei für die Erforschung der mannigfachen Aspekte von "Kultur" bzw. "Kommunikation" und schließlich, wem denn die Erforschung ihres Verbundes über kulturelle Grenzen hinweg zuzutragen sei. Die Erforschung interkultureller Kommunikation erfordert von daher zwangsläufig interdisziplinäres Vorgehen, was sich in meinem Ansatz, so glaube ich, deutlich niederschlägt1. l Es scheint, daß hier in der Vergangenheit ein ebenso forschungsethisch wie kultursoziologisch bedingtes Verzögerungsphänomen am Werk war: Die Problematik im Umgang mit dem Vermischten, dem nicht eindeutig Zuweisbaren hat immer schon zur Marginalisierung derjenigen disziplinären und disziplinübergreifenden Aspekte (und ihrer Verfechter) geführt, die die
26 Was allerdings alles unter den Begriff "interkulturelle Kommunikation" fällt, ist oft sehr widersprüchlich. Das Forschungsfeld wird mitunter sehr weit gefaßt, ein anderes mal dagegen sehr eng definiert. Für viele ist der Begriff auch austauschbar mit "interethnischer Kommunikation"; im angelsächsischen Sprachgebrauch steht er zudem neben "crosscultural" und "interracial communication". In der internationalen Fachliteratur der letzten Jahre fallen Medien im internationalen Vergleich, zwischenstaatliche Beziehungen, multikulturelle Erziehung, Sprachkontakt, interpersonaler Kulturkontakt und vieles andere mehr darunter2. Der Begriff "Kommunikation" macht diese Weite möglich. Für mich umfaßt der Begriff verbale wie nonverbale Kommunikation zwischen einem "Sender" und einem "Empfänger", die die absichtsvoll wie unbewußt "gesendeten Zeichen" des jeweils anderen potentiell wahrnehmen und deuten können müssen. Diese Deutungskompetenz ist eine soziale Kompetenz. Mit Kommunikation meine ich also soziale Kommunikation. Schwerpunkt meiner Analysen ist vor allem die verbale Kommunikation - vorgegeben durch die natürlichen Beschränkungen transkribierter Tonkonserven. Aber schon bei diesem sehr eingegrenzten Blick auf Kommunikation als verbale Äußerungen fragt sich, ob die - heuristisch gesprochen - "kulturellen Unterschiede" nur dann relevant sind, wenn sie jenseits des abgesicherten rudimentären sprachlichen Verstehens ausgemacht werden, wenn man also - zumindest an der Oberfläche - dieselbe Sprache spricht und damit der Illusion der Verständigung unterliegt. Dies führt dann weiter zu der Annahme, daß erste "interkulturelle" Begegnungen, wo man keine gemeinsame Sprache teilt, ja wo man vielleicht über noch keinerlei lingua franco-code verfügt, bis hin zu Kontakten auf der Basis rudimentärer Verständigungstypen qua pidginisierter und lernersprachlicher Varianten, nur linguistisch und kommunikationsstrategisch von Interesse sind, keineswegs aber schon "kulturell". Gälte hier das Hauptaugenmerk dem propositionalen Verstehen, so gälte für "genuin" interkulturelles Kommunizieren, die unbewußte Ebene sprachlich symbolisierten Wissens als "kulturgebunden" zu untersuchen. Ich selbst mache mir diese Differenzierung nicht zu eigen, unterscheide in
"Reinheit" der Disziplin wie ihren angestammten Gegenstand mit häretischen Thesen in Frage zu stellen wagten: Die Exkommunizierung eines Indogermanisten wie Sigmund Feist, der den indogermanischen Mythos sprachgenealogischer Reinheit entlarvte (Römer 1981); das jahrzehntelange Schattendasein der Kreolistik als Gegenstandsbereich angeblich gemischter und nicht-natürlicher Sprachen (Romaine 1986); aktuell die selbstanmaßende Redeweise bestimmter Kreise von einer "Kernlinguistik", die Titel und Stellen denjenigen gegenüber belegen will, die "eigentlich" keine "richtigen" Linguisten sind - Fälle einer orthodoxen Fachverteidigung, die den Sieg des Hybriden über das Reine abzuwenden sucht? 2 Seit Anfang der siebziger Jahre ist eine verstärkte Fachliteratur auf diesem Gebiet zu verzeichnen. Ich möchte hier nur einige m.E. wichtige Übersichts- und Einführungswerke zitieren: Samovar & Porter 1972, Condon & Yousef 1975, Prosser 1978, Asante et. al. 1979, Gudykunst 1983. Die SIETAR, "Society for Intercultural Education, Training, and Research", gibt seit 1977 das International Journal for Intercultural Relations heraus. Der erste deutsche Übersichtsartikel stammt meiner Kenntnis nach von Rehbein 1985b.
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meiner Auswahl von interkulturellen Kommunikationen nicht prinzipiell zwischen den unterschiedlichen Verständigungsniveaus als entscheidendes Kriterium. Aus dem Untertitel meines Themas gehen die hier speziell zu erforschenden Aspekte interkultureller Kommunikation zwangsläufig hervor: Gesprächsmanagement zwischen Deutschen und Türken. Die Beziehung zwischen interkultureller Kommunikation, Deutschen und Türken ist damit natürlich recht suggestiv. Aber der Goffmansche Terminus kann nicht nur in Beziehung gesetzt werden zu interkultureller Kommunikation, sondern spricht auch ein Phänomen an, das - wie Erving Goffman gezeigt hat -jeder interpersonalen Kommunikation eigen ist. Gesprächsmanagement ist immer auch Management der involvierten Selbst (Goffman 1959, 1971). Aber das Selbst ist am stärksten involviert, hat am meisten zu managen, in der face-to-face-Begegnung. "Face-to-face", von Angesicht zu Angesicht, ist nicht zu wörtlich zu nehmen. Es ist sowohl mehr als das, als auch weniger. Mit Goffman bezieht es sich auf Kommunikationssituationen, die neben dem intendierten "leiblichen" Mit-jemandem-in-Kommunikation-Treten auch die zufälligen, unbeabsichtigten und am Rande mithörbaren Kommunikationen (inklusive der zufälligen Mithörer) einschliessen (Goffman 1983a). Das maßgeblich Verbindende der Kommunikationssituation ist "Kopräsenz": Diese Kopräsenz bedeutet die physische Gleichzeitigkeit sowie die wechselseitige (potentielle) Verfügbarkeit zweier (oder mehrerer) SprecherHörer im unmittelbaren Kontakt mit- und zueinander. Damit sind wiederum "soziale Situationen" gegeben, die sich insbesondere als "Szenen der gegenseitigen Kontrolle" auszeichnen (Goffman 1981:28). Kopräsenz impliziert also die Möglichkeit gegenseitiger Kontrolle - wie ich zeigen werde, ein äußerst wichtiger Aspekt! Dies geschieht, vorläufig und verkürzt gesagt, durch die wechselseitige In-Rechnung-Stellung involvierter "Selbsts" (Stichwörter: Selbstbilder, Image, Persönlichkeit, Kompetenz, Bessersein etc.) als integrale Bestandteile der aktualen Kommunikation (vgl. 2.2; 4.1.2). Hier ist hervorzuheben, daß auch die moderne Telefontechnik diese physische Gleichzeitigkeit im Kontakt und die damit verknüpfte soziale Situiertheit keineswegs aufhebt. Sie schränkt allerhöchstens ein, indem der Kanal der Vokalisierbarkeit gegenüber dem Kanal der Vokalisierbarkeit und/oder Visualisierbarkeit die einzige Option bietet. Auch Telefongespräche sind somit genuine face-to-face Kommunikationen. Interkulturelle Kommunikation und kulturelle Andersartigkeit Kommunikationen gelten im Allgemeinen dann in den gängigen Alltagsvorstellungen als "interkulturell", wenn damit Kommunikationen zwischen Mitgliedern gänzlich unterschiedlicher "Kulturteilhabe" assoziiert werden. Kulturteilhabe muß sich wiederum festmachen lassen an Orte, Traditionen, Sprachen, Erscheinungsbilder usw., die uns sehr entfernt von uns und unserer Sprache, unserem Aussehen usw. vorkommen. Im folgenden Zeitungsausschnitt (Augsburger Allgemeine v. 10.4.87) wird so ein "exotisches Exemplar" von Andersartigkeit, von Fremdheit in journalistisch selbstgefällig-ironischer Weise beschrieben:
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EIN KÖNIG GIBT STADTBERGEN DIE EHRE Er spricht leise, lächelt verschmitzt und bewegt sich bedächtig in übergroßen Gummipantoffeln. Seine Landsleute nennen ihn "König", für die Europäer ist er schlicht und einfach der Bürgermeister von Baguida in Togo. Mögen im kühlen Bayern die Rüschenhaube und das lange luftig-weiße Spitzenkleid, unter dem ein Trainingsanzug hervorblitzt, auch im ersten Moment amüsant wirken, so verbirgt sich hinter dem vielen Stoff doch königliche Würde, die nicht gespielt ist, sondern aus einer langen Tradition in Afrika resultiert: Togbui Samedi K. Gassou III., Chef des Kantons und der Gemeinde Bagui in Togo, gibt derzeit Stadtbergen die Ehre. ... Gassou III. kam nicht allein. Seine jungen Begleiter, der Abgeordnete Enyo Quashi Yibokou, der Staatssänger Dama Wuzan und Frank Schmück, Direktor des Hotels Tropicana in Baguida, sind nicht nur als Übersetzer mit dabei. Der Abgeordnete betätigt sich als Sprecher von Gassou III. Ein afrikanischer Bürgermeister spricht nicht direkt, sondern über einen Vermittler mit den Leuten, erklärt Frank Schmück.
Der königliche Bürgermeister von Baguida erstaunt also mit seiner "Rüschenhaube" und dem "Spitzenkleid" überm Trainingsanzug als königlicher An- und Aufzug, erstaunt mit seinem Vermittler, über den er mit seinen Gastgebern spricht, der als sein autorisiertes "Sprachrohr" dient - um nur zwei der beschriebenen "Exotika" aufzugreifen. Wie dieses Beispiel zeigt, kann "Interkulturelle Kommunikation ... ganz einfach definiert werden als diejenige interpersonale Kommunikation auf individueller Ebene zwischen Mitgliedern deutlich verschiedener kultureller Gruppen" (Prosser 1978:xi*, meine Hervorhebung). Laut Prosser und im Einklang mit dem unterstellten Alltagsverständnis gibt es demnach scheinbar kaum Probleme, das Gebiet der interkulturellen Kommunikation abzustecken. Sind doch auch die Türken, um die es mir in diesem Kontext geht, "ethnisch" und "religiös" anders als wir; sie sprechen eine andere Sprache, die mit dem Deutschen weder genealogisch noch geographisch verwandt ist oder Berührungspunkte hat; die Beziehung unter den Geschlechtern ist anders; Verwandschaft spielt eine große Rolle; die Gewohnheiten des Essens oder der Kleidung sind verschieden. Also auch eine Liste beliebig fortsetzbarer Unterschiedlichkeiten - wenn auch nicht so extrem, wie im Fall des togolesischen Gastes. Aber macht dies Kommunikation zwischen Deutschen und Türken - weil sie ja untereinander so anders sind! - zu interkultureller Kommunikation? Bezüglich dieser "Einfachheit" müssen einige Zweifel angebracht werden. Wann z.B. sind kulturelle Gruppen verschieden - und zwar so verschieden, daß sie "deutlich verschieden" sind? Hängt dies mit objektiven Kriterien zusammen oder mit intersubjektiv wahrgenommenen? Die mich interessierenden interkulturellen Kommunikationen sind die zwischen Deutschen und Türken in der Bundesrepublik Deutschland. Aber weder der deutsche noch der türkische Teil der Bevölkerung stellt eine homogene kulturelle Gruppe dar. Jugendliche türkische Punks oder breakdance-Gruppen sind ihrer Elterngeneration womöglich genau so fern wie die modebewußte deutsche Arbeiterfrau ihrer aus dörflichem Milieu stammenden ostanatolischen Nachbarin. Der türkische Autor Arin hat diese Heterogenität mit seiner treffenden Schilderung des bunten Nebeneinanders gegenseitig exklusiver "Subkulturen" der türkischen Bevölkerungsgruppe in Berlin-Kreuzberg exemplarisch beschrieben und von außen
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angelegte Homogenisierungsmaßstäbe als Fiktion "ohne Gebrauchswert" abgetan (Arin 1983). Als weiteres Beispiel die Sprache: Die Tatsache, daß die Mehrzahl der türkischen Bürger schon über ein Jahrzehnt in der Bundesrepublik Deutschland lebt, ferner der Umstand, daß ein Großteil hier geboren und groß geworden ist, führt zu einem Sprachgebrauchs- und Sprachkenntnisprofil, das vom typisch fossilisierten "Gastarbeiterdeutsch" bis zur akzentfreien Deutschbeherrschung und zu einer deutsch-türkischen Zweisprachigkeit aller möglichen Schattierungen rangiert. Kommunikation zwischen Deutschen und Türken ist für viele Bevölkerungsschichten eine alltägliche Routineangelegenheit geworden. Und nicht nur die verbale Kommunikation! Neben diese neue "Mixoglossie" hat sich auch noch die Vielfalt allermöglicher "multikultureller" Codes und Diskursformen gesellt - lesbar, hörbar, sichtbar, riechbar: "Mixosemiotik"? (Hinnenkamp 1987a). Selbst bei der Imbiß"kultur" konkurrieren Kebap und Döner mittlerweile vielerorts mit Pommes Frites und Hamburger. - Interkulturelle Kommunikation als Kommunikation zwischen deutlich verschiedenen kulturellen Gruppen? Ist das Kriterium der "Kultur" dann überhaupt noch tauglich? Kultur - im Kopf? Hier möchte ich ein Kulturkonstrukt vorstellen, das vor allem in der Ethnographie der Kommunikation (wie z.B. bei Gumperz, vgl. 1.2.1) einen großen Einfluß ausgeübt hat, nämlich das kognitive Kulturverständnis von Ward Goodenough: "Die Kultur einer Gesellschaft besteht in all dem, was man wissen oder glauben muß, um in einer für alle ihre Mitglieder akzeptablen Weise zu fungieren, und zwar in jeder beliebigen Rolle, die sie auch für jeden von ihnen selbst akzeptieren. Kultur ... besteht nicht aus Gegenständen, Menschen, Verhaltensweisen oder Gefühlen, sondern sie ist vielmehr die Organisation dieser Dinge, vielmehr die Form dieser Dinge, die die Menschen in ihren Köpfen haben, ihre Modelle, wie sie sie wahrnehmen, in Beziehung zueinander setzen oder anderweitig interpretieren." (Goodenough 1964:36*, meine Hervorhebg.) Diese "kopflastige" Definition spricht die Notwendigkeit der gemeinsamen Wissensvoraussetzung zur Kulturteilhabe an. Dem ist kaum zu widersprechen. Aber was heißt es, "in einer für alle ... Mitglieder (einer Gesellschaft) akzeptablen Weise zu fungieren, und zwar in jeder beliebigen Rolle, die sie auch für jeden von ihnen selbst akzeptieren"? Die wenigsten von uns akzeptieren ja bereits die eigenen an bestimmte vergangene Lebensphasen geknüpfte Rollen, die uns mit anderen Menschen wiederbegegnen, obwohl wir diese Rollen ja oft selbst gelebt haben. Wir reagieren u.U. mit Unverständnis. Und nicht nur, daß wir dieses Rollenverhalten nicht akzeptieren, wir verstehen es gar nicht erst! Gehören wir also während unseres Lebenslaufs verschiedenen Kulturen an? Oder: Sind "Punks" nicht "deutlich verschieden" von einem "ordentlichen Bürger", und wären die in dieser Selbstkategorisierung gelebten Rollen jemals austauschbar? Männer und Frauen haben schon biologische Grenzen austauschbarer Rollen. Aber bestimmte Teile der Frauenbewegung verstehen
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"Weiblichkeit" darüber hinaus als eine deutlich verschiedene kulturelle Mitgliedschaft gegenüber "Männlichkeit" (z.B. Maltz & Borker 1982). Sowohl nach Prossers Definition von interkultureller Kommunikation, als auch nach einem kognitiven Kulturteilhabeverständnis wie dem von Goodenough, können wir Formen interkultureller Kommunikation bereits in der bundesdeutschen Kleinfamilie vorfinden. Vielleicht klingt das übertrieben, weil andererseits gerade mit "Kleinfamilie" (einschließlich ihrer alternativen Formen) eine gemeinsame Institution und Wissens- und Handlungsdomäne benannt wird, die wir neben so vielen anderen trotz äußerlicher und ideologischer Ausgrenzung miteinander teilen und selbstverständlich reproduzieren und die uns auch außerhalb der Familie Handlungsorientierung gibt. Ich will diesen Aspekt nicht weiter ausführen. Ich möchte Goodenoughs Kulturkonzept mit diesen Relativierungsversuchen keineswegs verwerfen. Vielleicht ist "Gesellschaft" als zu teilender Raum angesichts der Komplexität moderner Gesellschaften zu weit gefaßt und sollte besser durch "Gruppe", "Gemeinschaft", "Milieu" etc. ersetzt werden. (Wie es die "Ethnographie der Kommunikation" mit der Erforschung sog. Ortsgesellschaften auch tut; vgl. Hymes 1973). Auf jeden Fall ist der Aspekt des geteilten Wissens, wie es sich z.B. in adäquatem Rollenverhalten ausdrückt, ein wichtiges Kriterium - wenn auch kein hinreichendes! (Vgl. 3.2f.) - Aber schon Momentaufnahmen vermögen zu zeigen, daß Konzepte von Kultur und interkultureller Kommunikation problematisch sind, wenn sie trotz ihrer Einfachheit und Einsichtigkeit auf den ersten Blick einem zweiten Blick nur wenig standhalten und sich durch ihre Beliebigkeit selbst als unnnütz herausstellen. Das kognitive Kulturverständnis muß aber vervollständigt werden hinsichtlich seiner analytischen Handhabbarkeit, es muß Kultur aufweisbar machen in der face-to-face Kommunikation selbst, muß also symbolisiert sein. Auch sollte kein "unschuldiges" Bild von Kultur vermittelt werden, eins das sie neben Gesellschaft im oben implizierten Sinne stellt. Kultur - im Körper? Der französische Kultursoziologe und Kulturkritiker Pierre Bourdieu, der in 2.2 noch genauer vorgestellt wird, hat mit seinem Konzept von Kultur deren "Unschuld" völlig aufgehoben. Kultur ist bei ihm nicht mehr festzumachen in dem, was "die Menschen in ihren Köpfen haben" (Goodenough), sondern in dem, was sie in ihren Körpern haben, was sie an gesellschaftlichen Strukturen "inkorporiert" haben. Dieses Konzept wird bei Bourdieu präsentiert durch den "Habitus", der die Einverleibung und Verkörperung des sozialen Standortes repräsentiert, den ein Individuum in der Gesellschaftsstruktur und -hierarchic einnimmt (vgl. ausführlicher 2.2). Der "Habitus" ist zentrales Bindeglied zwischen Gesellschaftsstruktur und individueller Praxis und kann als empirische, lebensweltliche Essenz von Kultur begriffen werden (Ostrow 1981:289). Kultur, oder klassenspezifisch reformuliert: "kultureller Habitus", korreliert mit den "Gesetzen" einer "Ökonomie praktischer Handlun-
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gen", die alles gesellschaftliche und kulturelle Leben den Gesetzen des Marktes unterwerfen. Auf dem Markt herrschen rein utilitaristische Aspekte vor, wie das Streben nach Profiten - und zwar nach materiellen wie symbolischen Profiten gleichermaßen (vgl. 2.2, 4.1). In den symbolischen (Klassen-)Kämpfen um "Distinguiertheit", wie Bourdieu sagt, ist Kultur Ausdruck wie Medium klassenspezifischer Lebensstile, ist sie die symbolische klassenspezifische Produktions- und Aneignungsweise von Gesellschaft und korreliert so mit den klassenspezifisch je unterschiedlichen Kontrollmöglichkeiten über diese symbolischen Produktionsund Aneignungsweisen (siehe unten). An dieser Stelle gilt es zunächst, Bourdieus "Klassenbegriff' zu klären3. "Klassenkampf' bedeutet bei Bourdieu der permanente Kampf der Klassifikationssysteme auf der materiellen und (oft ausschließlich) symbolischen Ebene zwischen Alters-, Geschlechts- und Gesellschaftsgruppen. Zu den letzteren zählen auch ethnische Minderheiten. In der vertikalen Schichtung unterscheidet Bourdieu drei Hauptklassen, die sich je in der Zusammensetzung von Kapitalvolumen, Kapitalstruktur und der sozialen Laufbahn voneinander unterscheiden. Bourdieus Kapitalbegriff umfaßt dabei auch "symbolische" Werte: schicke Autos, hohe Bildung, schöne Worte etc. - somit sowohl ökonomisches, als auch soziales und kulturelles Kapital einschließt. Damit wird die Verfügungsgewalt über die Kategorien Quantität (z.B. Geld), Qualität (z.B. Macht) und Zeit (z.B. für die Bildung, Muße) kriterial. Auf der horizontalen Ebene stehen sich "Stände", "Klassenfraktionen" etc. gegenüber, deren Konkurrenzkämpfe gewissermaßen Reflexe der vertikalen Kämpfe darstellen. Die unterschiedlichen Klassencharaktere lassen sich nun für die Kulturebene symbolisch übersetzen in soziale Klassifikationen und prestigedifferenzierte Lebensstile, exemplifiziert in der Konvertierung von Vermögen in Ansehen und von Besitz in Status, oder kurz, von "Haben" in "Sein" gemäß der (auch von Bourdieu nicht bestrittenen) Logik des materiellökonomischen Primats (H.-P. Müller 1986:170). "Daher besitzen von allen Unterscheidungen diejenigen das größte Prestige, die am deutlichsten die Stellung in der Sozialstruktur symbolisieren, wie etwa Kleidung, Sprache oder Akzent und vor allem die 'Manieren', Geschmack und Bildung. Denn sie geben sich den Anschein, als handelte es sich um Wesenseigenschaften einer Person, ein aus dem Haben nicht ableitbares Sein, eine Natur. die paradoxerweise zu Bildung, eine Bildung, die zu Natur, zu einer Begnadung und einer Gabe geworden seien" (Bourdieu 1974:60f.). Bourdieus anderer, sein "eigentlicher" Kulturbegriff auf der Ebene individueller Manifestationen, der hier zum Vorschein kommt, scheint dem common-sense Begriff sehr nahe zu kommen, der gediegenes Essen, Opernbesuch, stilvolle Ästhetik, hohen Bildungsgrad und Vornehm-reden-können - kurz, alles, was "kultiviert" ist, damit verbindet. Auf der anderen Seite gibt es in der Tat keinen Lebensbereich, der von diesen Stil-, Geschmacks- und 3 Die konziseste Zusammenfassung zum Bourdieuschen Klassenbegriff findet sich bei H.-P. Müller 1986.
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Kompetenzfragen unberührt bleibt4. Teilt man Bourdieus hierarchische, auf Bipolarität und den entsprechenden Distinktionen beruhende Gesellschaftsperspektive5, ist Kultur allein mit Kultiviertheit der Herrschenden gleichzusetzen: sind die Zugangschancen zum "kulturellen Kapital", zur "legitimen kulturellen Kompetenz" doch nur den Distinguierten vorbehalten, die Gewöhnlichen sind "ohne Kultur". (Was hier wie eine Neuauflage der Defizittheorie klingt, unterstellt aber nur die distinguierte, elitäre Sichtweise der Herrschenden. "Defizite" sind für Bourdieu relationale Differenzen des "sozialen Raums".) Das "kulturelle Kapital" besteht wesentlich aus den beiden Größen des objektivierten Wissens (Bildungsnachweise) und des inkorporierten Wissens (klassenspezifisches Können, Produktions-, Aneignungs- und Konsumtionsmodi von Wissen, körperliche Hexis, Geschmack, Lebensstil). Der Trennungslinie zwischen der unkultivierten Kultur der Massen und der hochkultivierten Kultur der Elite (mit den kleinbürgerlichen Imitatoren dazwischen) entspricht eine "Kultur der Notwendigkeit" gegenüber einer jedweden Notwendigkeit entrückten Kultur der Ästhetik: Dieser Dualismus drückt sich aus in den gegensätzlichen Präferenzen von Funktion versus Form, von Quantität versus Qualität, von Materie versus Manier (Bourdieu 1982a:25f.,288). - Soweit mit Bourdieu - in notwendiger Vergröberung seiner Komplexität und in Anbetracht der in nächsten Paragraphen noch zu vertiefenden Rezeption - eine erste und ernste Erweiterung des Kulturkonstrukts. Kultur als Kontrollmechanismen? Etwas weiter oben habe ich von den "Kontrollmöglichkeiten" über die symbolischen Produktions- und Aneignungsweisen von Kultur bzw. kultureller Distinktion gesprochen. Mit dem Aspekt der "Verfügungsgewalt" über Kultur, aber auch mit dem Aspekt von Kultur als
4 So geht es in Bourdieus kulturanalytischem Werk "Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft" um die Homologien von Geschmack, Lebensstil und Klassenzugehörigkeit. Hauptanliegen des Buchs ist, den seit Kant scheinbar gesellschaftsfreien Raum der Ästhetik bis zum "elementaren Schmecken von Zunge und Gaumen" (1982a:17) zu resozialisieren. 5 Die Bourdieusche "Sozialwelt" muß als bipolar gedacht und kann in Gegensatzpaare wie herrschend/beherrscht, legitim/ illegitim, oben/unten, orthodox/häretisch etc. übertragen werden. Jede Praxis der in alle Lebens-, Handlungs- und Getuhlssphären n-ter Ordnung übertragbaren und wirkenden Distinktionen (qua Habitus) widerspiegelt die symbolischen Positionskämpfe um gesellschaftliche Anerkennung als fundamentalste Dimension des sozialen Lebens. Distinktivität wird erreicht durch einen "Klassenkampf von Oben" und zweckrationalisiert sich in der fortwährenden Legitimierung herrschender Distinguiertheit. Distinguiertheit im Speziellen wie Anerkennung im Allgemeinen korrelieren mit Zugangsmöglichkeiten zu den "knappen" (und knapp zu haltenden) Ressourcen legitimer Kompetenz und distinktiver Rarität. - Hinter diesem auf Gegensätzen beruhenden Distinktionstheorem Bourdieus verbirgt sich de Saussures Zeichentheorie, nach der das einzelne Zeichen nur in Differenz zu ändern Zeichen Bedeutung gewinnt (de Saussure 1967). In Analogie zu de Saussures Sprachsystem läßt sich bei Bourdieu das Gesellschaftssystem verstehen: "Vermittels der Merkmale und ihrer Verteilung gewinnt die soziale Welt somit objektiv den Status eines symbolischen Systems, das analog dem System von Differenzen, von differentiellen Abständen, die damit zu signifikanten Unterscheidungen, Distinktionen werden, organisiert ist" (Bourdieu 1985:20f).
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objektivierte wie inkorporierte, in Praxis zu übersetzende Ressource hat ein verengtes Wissenskonzept von Kultur zwangsläufig ausgedient. Schon der (interaktionistische) Kulturanthropologe Clifford Geertz hat mit seiner berühmten Kulturdefinition m.E. genau diesen Aspekt aufgegriffen: "Kultur ist erstens am besten nicht zu betrachten als Komplex konkreter Verhaltensmuster, wie Sitten, Gebräuche, Traditionen und Gewohnheiten, wie das im Großen und Ganzen bislang der Fall gewesen ist6, sondern vielmehr als ein Gefüge von Kontrollmechanismen - Pläne, Rezepte, Regeln, Instruktionen (was die Computer-Ingenieure "Programme" nennen) -, zur Regelung des Verhaltens. Zweitens ... ist der Mensch genau dasjenige Lebewesen, das am weitgehendsten abhängig ist von solchen außergenetischen ... Kontrollmechanismen, von solchen kulturellen Programmen, um Ordnung in sein Verhalten zu bekommen. ... Und aus einer solchen Reformulierung des Kulturkonzepts und der Rolle von Kultur im menschlichen Leben kommt wiederum eine Definition des Menschen, die nicht so sehr die empirischen Gemeinsamkeiten in seinem Verhalten betont,... sondern die Mechanismen betont, durch deren Vermittlung (agency) die Breite und Unbestimmtheit seiner inhärenten Fähigkeiten zur Enge und Spezifität seiner tatsächlichen Vollzüge reduziert werden." (Geertz 1973:44f.*) Mit Geertz ist Kultur "ein Gefüge von Kontrollmechanismen", mit Bourdieu - daran angeschlossen - impliziert dies den militaristischen Einsatz dieser Kontrollmechanismen im Kampf um Unterscheidung und Anerkennung. Geertz' aufgezählte Kontrollmechanismen "zur Regelung des Verhaltens" sind bei Bourdieu auf der Ebene der Handlung zuallererst Strategien (die vor allem den Regelbegriff ersetzen sollen; vgl. Bourdieu 1976:203ff.), denen aber immer schon der jeweilige Habitus zugrundeliegt und denen immer schon der "Investitionscharakter" zur Maximierung symbolischer Profite eigen ist (nämlich als Investitionsstrategien). Ein Beispiel für die auf interkulturelle Kommunikation anwendbare Strategieverwendung ist das für das Bewußtsein weitgehend unthematisierte und auf der Generierung einer kleinen Anzahl eingeimpfter Prototypen basierende Funktionieren der körperlichen Hexis. Ausdruck einverleibter Körpertechniken, die gleichsam Werkzeugen ähneln und die "mit einer Vielzahl sozialer Bedeutung und Werte befrachtet, zugleich singular und systematisch ... ein bestimmtes Gehen, eine spezifische Kopfhaltung, ein Verziehen des Gesichts,... die jeweiligen Arten, sich zu setzen, mit Instrumenten umzugehen, (verantworten, V.H. -) dies alles in Verbindung mit einem jeweiligen Ton der Stimme, einer Redeweise - wie könnte es anders sein? - mit einem spezifischen Bewußtseinsinhalt" (Bourdieu 1976:190). Gleichzeitig signalisiert und kreiert die Körperhexis Distinktion und ist damit Teil des situativen Invest6 Geertz bezieht sich hier auf Kulturauffassungen, die zurückgehen auf die berühmte Definition von Edward B. Tylor (1873) "Cultur oder Civilisation im weitesten ethnographischen Sinne ist jener Inbegriff (im Orig. "complex whole", V.H.) von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und alle übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat."
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ments, ist Werkzeug wie Ausdruck linguistischer wie kultureller Kompetenz, fungiert als operationalisierte Strategie "marktgerechter" Praxis. Kultur mit Bourdieu und Geertz ermöglicht horizontale wie vertikale Schnitte innerhalb einer "Gesellschaft" als auch "zwischen Gesellschaften". Sie ist mit Bourdieu genauso zu verkoppeln mit den Distanzräumen zu lebenspraktischer Notwendigkeit wie mit Distanzräumen im klassisch kulturräumlichen Sinn. Und auch mit Geertz "ergänzen und vervollkommnen (wir) uns selbst durch Kultur im Allgemeinen, aber durch ganz spezielle Formen von ihr: Dobuanisch und Javanisch, Hopi und Italienisch, Oberschicht und Unterschicht, Akademiker und Geschäftsmann" (ibid.:49*). Ich kann sowohl deutsch sein, protestantisch sein, Mittelschichtsangehöriger sein und Mann sein; ich kann zum europäisch-okzidentalen "Kultur"kreis gehören, charakterisiert und typifiziert durch Urbanität, Industrialismus, hohe Literazität, Individualismus und ostentatives Konsumverhalten - jedenfalls im Vergleich zu einem Dritte-Welt-"Kultur"kreis, der sich dem gegenüber subsistenzwirtschaftlich, traditionaloral und "bedürfnislos" repräsentiert. Ich kann partikularistischer oder universalistischer, großbürgerlicher oder proletarischer, demokratischer oder autoritärer Sozialisation anheimfallen. Es geht immer um die jeweilige Ordnung, in die ich hineingerate, die sich mir aufprägt, mir "eingeimpft" wird, wie Bourdieu sagt, die ich in der Praxis Versehens wie unversehens reproduziere und legitimiere. Eine Ordnung, die mich kontrolliert, aber zu deren Kontrolle ich meinen Teil beitrage. Ich möchte diese lebensweltlichen Ordnungen "makrokulturelle Kulturkonstrukte" nennen. Sie sind aufs engste verknüpft mit ihrem "mikrokulturellen" Pendant, zum Beispiel die so unscheinbare und schwer faßbare Produktionsmaschinerie kommunikativer und konversationeller Ordnung und deren in und mit der Kommunikation ständig vollzogenen Kontrolle, wie sie m.E. die Ethnomethodologen und Konversationsanalytiker in bislang konsequentester Weise aufgedeckt und beschrieben haben (vgl. 2.2). Primäre Kontrollmechanismen, wie ich sie nennen möchte, sind dabei z.B. diejenigen Instanzen unseres - notwendig wieder eingeschränkten - verbalen Verhaltens, die etwa die jeweilige konversationelle Ordnung prägen, wer wann spricht, wer wann ans Ende seines Gesprächturns gelangt, wie ein neuer turn vom Gesprächspartner aufgenommen oder eingefordert wird, wie und wo unterbrochen werden kann etc. (vgl. z.B. Sacks, Schegloff & Jefferson 1974). Sie umfassen aber auch jene habituell mitgebrachten, z.T. in soziale oder kulturelle Regeln faßbaren Voraussetzungen, die überhaupt zur Gesprächseröffnung führen, die die Rechte und Pflichten in der Kommunikation(ssituation) steuern (vgl. Hymes 1973). Sie korrelieren mit jener Goffmanschen Informationsmanipulation des Selbst, bei der der einzelne "das Verhalten der anderen, insbesondere ihr Verhalten ihm gegenüber, zu kontrollieren" versucht (Goffman 1959:15). Sie berühren schließlich jene allersubtilsten Kontextualisierungshinweise, die - wie beschrieben - Grammatik und Lexikon, Prosodie, Pausen, Idiomatik u.a. umfassend, gleichzeitig Inhalt wie Modalität "signalisieren" (siehe 1.2.1), die zum Teil die wechselseitige Gesprächssteuerung lokal aufeinander abstimmbar
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machen und die zum Teil aufgrund ihrer Habitualisierung inkommensurabel sind und/oder, wie in 1.2.2 gezeigt, ausgrenzende, distinktive Funktion haben. Alle diese Ordnungen und Kontrollmechanismen können sich innerhalb ihrer eigenen (kulturellen) Ordnungen aufgrund je unterschiedlicher Ordnungsprinzipien und Kontrollmechanismen (Regeln, Strategien, Maximen etc.) je unterschiedlich artikulieren. (Über die Kompatibilität dieser Ordnungen untereinander ist damit noch nichts ausgesagt.) Sekundäre Kontrollmechanismen stellen demgegenüber - vereinfacht gesprochen - korrektive und reparative Mechanismen (vgl. Kap. 3) zur Behebung von Störungen primärer Kontrollmechanismen dar. Beispiel: Ich bin mit meinem Rede-turn noch nicht am Ende und werde unterbrochen, folglich rede ich lauter, wiederhole mich vielleicht oder verteidige mein Dransein metasprachlich - drei alternative und in der von mir geteilten Ordnung je nach Umständen akzeptierte Kontrollmechanismen zur Behebung der Störung meines Rederechts. Primäre und sekundäre Kontrollmechanismen sind nicht prinzipiell anderer Natur, sie unterscheiden sich hauptsächlich aufgrund ihrer Lokalität und Funktion in der Kommunikation. Aber dazu noch ausführlicher weiter unten. Mit diesem mikro-kulturellen Konstrukt ist der Vorteil verbunden, daß Kultur wenigstens zum Teil lokalisierbar wird in den wechselseitig interpretierten und interpretierbaren Hinweisen und Äußerungen der Kommunikationsbeteiligten, in den jeweiligen Partizipationsbemühungen und Kontrollstrategien einer intersubjektiv zu "verwertenden" Konversationsmaschinerie - auch darauf werde ich noch einmal zurückkommen. Ein weiterer Vorteil des Kulturkonstrukts ist, daß es Kontrolle nicht von Kompetenz abkoppelt. Bewußte wie unbewußte Kontrolle oder Anwendung von Kontrollmechanismen basieren zu weiten Teilen auf Kompetenzen. Kompetenzen können wiederum von Kontrollfunktionen abhängen. Wenn ich also einerseits ein kompetenter Sprecher bin, kann ich das Gespräch auch kompetent mitgestalten. Andererseits können Kompetenzen sozusagen "nicht mit mir geschehen", aber Kontrolle kann: Neben meiner Kontrolle über angemessenes Verhalten bei mir und bei ändern werde ich auch kontrolliert. Also kann ich die Kompetenzen anderer einschränken, kann meine Kompetenz durch andere eingeschränkt werden. Beide, Kompetenzkontrolle wie Kontrollkompetenz, müssen aus verfügbaren Ressourcen, sprachlicher, kognitiver, sozialstruktureller etc. Natur schöpfen. Jede Kontrolle, jeder Kontrollmechanismus, jede Kontrollierbarkeit birgt also den intersubjektiv ungleichen Umgang in sich, beinhaltet das Moment Macht und Herrschaft über andere: Wenn ich die Sprache beherrsche, in der kommuniziert wird und mein Partner nicht, wird die Kontrolle schnell einseitig; wenn ich eine mir öffentlich gestellte peinliche Frage geschickt mehrdeutig beantworte, habe ich die Kontrolle bewahrt; wenn ich nicht weiß, daß auf eine indirekte Frage keine Antwort nötig ist, daß ich meinem Partner nicht ständig ins Wort fallen darf, daß ich nicht jeden duzen darf etc., dann werden von den ändern sehr schnell Kontrollmechanismen in Gang gesetzt, die die Ordnung wiederherstellen - womöglich auf meine Kosten! Wenn man über jemanden in unserer Gesellschaft sagt, daß er die Kontrolle über
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sich verloren hat, dann steht dieser Jemand u.U. einen Moment außerhalb der in Frage stehenden Kulturgemeinschaft. Außer sich zu sein, bedeutet immer auch ein Stück "Außeruns" sein. Fazit und Begrenztheit apriorischer Kulturkonstrukte Fazit Kultur: Kultur ist erstens ein Konstrukt, das sich in Form von Symbolen und Symbolisierbarkeiten niederschlägt (auch wenn diese noch nicht alle beschreibbar und entschlüsselbar sind), wie Versprachlichungen, Kontextualisierungshinweise, körperliche Hexis u.a. Sie ist zweitens ein System von Kontrollmechanismen, bestehend aus Regeln, Rezepten, Strategien u.a., die wir anwenden, um uns gegenseitig Geltung zu verschaffen. Wir kommunizieren, um Einfluß geltend zu machen. Dies geschieht über intersubjektiv zu vermittelnde Symbolisierungen bzw. über Kämpfe darüber, wie Symbole zu deuten sind, welchen Wert und Sinn sie haben. Dieser Deutungsprozeß basiert auf Kontrollkompetenzen und führt in letzter Instanz zu Kompetenzkontrolle, im weitesten Sinne einer Kontrolle eigenen und fremden Wissens und Könnens. Dieses Können, diese Kontrollierbarkeit des Geltens und Geltenlassens ist in meinem Kulturbegriff impliziert. Dies korreliert z.B. mit einem Kompetenzbegriff von Bourdieu, der die Legitimation des Handelns als Instanz der Kompetenz miteinschließt (Bourdieu 1982b). Vorläufiges Fazit interkulturelle Kommunikation: Interkulturelle Kommunikation ist in diesem Sinne letztendlich zu verstehen als ein kommunikatives Ringen um die "Kontrollmechanismen ... zur Regelung des Verhaltens" (Geertz). Das gilt aber zunächst genauso für intrakulturelle Kommunikation. In der Tat halte ich den Unterschied zwischen inter- und intrakultureller Kommunikation bis zu diesem Punkt auch weniger für einen qualitativen Unterschied denn für einen quantitativen. Erstens sind die Kontrollmechanismen nicht grundlegend anderer Natur, sondern sind innerhalb des "Gefüges" nur anders organisiert, und sie sind, wie noch zu zeigen ist, anders gedeutet. Zweitens verschiebt sich das Verhältnis von primären zu sekundären Kontrollmechanismen. Der Einsatz sekundärer Kontrollmechanismen nimmt gegenüber intrakultureller Kommunikation zu und spezialisiert sich methodisch auf ganz bestimmte Bereiche, die zwar der interkulturellen Kommunikation keineswegs vorbehalten sind, aber hier verstärkt zum Einsatz kommen. In diesem Sinne einer unkonventionellen und den common-sense Erwartungen z.T. radikal widersprechenden Eingrenzung wie Ausweitung des Begriffs der interkulturellen Kommunikation, erhebt sich die Frage, ob interkulturelle Kommunikation als eigen-ständiger Forschungsgegenstand in der Tat noch haltbar ist, ob sie also in der strukturellen Unterschiedlichkeit innergesellschaftlicher Gruppen (Klassen etc.) sowieso nicht aufgehoben ist. Dies wäre m.E. wiederum eine zu weitgehende Einschränkung, die der Sache selbst kaum gerecht würde. Gibt es doch - um bei den thematisierten "Kulturen" zu bleiben - maßgebliche Unterschiede etwa in den grundlegenden Respektierungsmodi zwischen Deutschen und Türken, genauer:
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zwischen "typisch" deutsch Sozialisierten und "typisch" türkisch Sozialisierten, die auf alle möglichen Lebensbereiche einen tiefen Einfluß haben. Der türkische Modus des "Achtung" oder "Ehrerbietung zeigen" (türkisch: SAYGIGÖSTERMEK) ist mit dem in 1.2.1 bereits erwähnten Schiffauer (1983) relativ ausführlich analysiert. Achtung muß zwischen verschiedenen Status-, Alters- und Geschlechtsgruppen ostentativ gezeigt werden (göstermek). Auch wenn zum Beispiel jeder weiß, daß man raucht, raucht man dennoch nicht vor dem Vater. Damit wird dem Vater und dem Alter Respekt gezollt, es wird Achtung ausgedrückt. Unabhängig davon, wie konsequent etwa gerade dieses Beispiel überall durchgehalten wird, liegt ihm jedoch - wie Schiffauer m.E. überzeugend darstellt - ein für alle gewöhnlichen Handlungen durchgängig gültiges Prinzip zu Grunde, über dessen sinn- und ordnungsstiftende Funktion ich hier nichts weiter sagen will. Auch unterliegt dieses Prinzip je nach "Markt" und Klassen bestimmten Modifikationen. Aber als grundlegende Praxismatrix ist es habitualisiert, drückt es sich in der körperlichen Hexis aus. Ein vergleichbares grundlegendes, alle Lebensbereiche durchdringendes und symbolisiertes Verhaltensprinzip für den Respektmodus in der "deutschen Kultur" ist mir nicht bekannt. Innerhalb der "türkischen Kultur" und der Praxis im sozialen Raum dieser Gesellschaft hat die jeweilige feldspezifische Anwendung des Achtungsprinzips distinguierende Funktion, wer nämlich wem vor wem in welcher Situation Achtung zeigen muß und wem von wem wem gegenüber Achtung gezeigt werden muß. Aber wie bei allen Distinktionsakten kommt nicht dem Akt als solchem der jeweilige "Sinn und Wert" (ein bei Bourdieu unvermeidlicher Nexus!) zu, sondern immer erst in Relation zu ändern Akten, die auf demselben Prinzip beruhen. Diese Relationsdistinktion hat also nur Sinn und Wert, ist nur Investition innerhalb der Wirkungsweise des generativen Prinzips "SAYGI GÖSTERMEK". Definiert man den Wirkungskreis dieses Prinzips als eine Einheit, dann ist die Kommunizierbarkeit über diese Einheit hinaus prinzipiell problematisch. Etwas gestelzt, aber plastisch ausgedrückt, läßt sich also sagen (und ließe sich als Fazit dann vielleicht auch in eine etwas allgemeinere Weise reformulieren), daß intra-Kultur-interkulturelle Kommunikation von inter-Kiilturen-interkultureller Kommunikation unterschieden werden muß, wenn also distinktive Relationen, die - vereinfacht - für alle "typisch türkisch Sozialisierten" gelten, ihre Geltungskraft für alle "typisch deutsch Sozialisierten" verlieren. Die Aussagekraft dieses systemtheoretisch anmutenden Kulturkalküls muß für die hier zu beschreibende Praxis allerdings gleich wieder relativiert werden, da gerade unter den Bedingungen der Migration und dem Heranwachsen einer 2. und 3. Generation von Türken in der Bundesrepublik Deutschland eine ethnisch-kulturell-sozialisatorisch prototypische Eigenständigkeitsbewahrung solcher dann u.U. dysfunktional werdender Prinzipien unwahrscheinlich ist. Wie man es auch sieht, ein "glattes" Fazit zu ziehen, ist nicht einfach. Es ist immer die Realität, die sich kategorischen Kalkülen versperrt.
Mit und gegen Goodenough, Prosser, Bourdieu, Geertz u.a. habe ich versucht, die Begriffe "Kultur" und "interkulturelle Kommunikation" in den Griff zu bekommen und zu problemati-
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sieren. Unterm Strich kommt kein bequemes "Kultur ist..." und "Interkulturelle Kommunikation ist..." heraus. Was ich versucht habe zu zeigen, ist, daß Kultur, soziale Praxis, Gesellschaftsstruktur und Herrschaft in vielerlei Weisen untrennbar miteinander verknüpft sind und daß sie sich einer leichten theoretischen wie empirischen Handhabbarkeit versperren. Kategorien wie "Habitus", "körperliche Hexis", "Klasse", "Distinktion" u.a. lieferte Bourdieu; mit Geertz wurde Kultur-als-Kontrollfunktion beleuchtet; Goodenough war "gut genug" für das gemeinsame Wissen, was eine Kultur ausmacht; und Gumperz, dessen Ansatz ja schon im letzten Kapitel ausführlicher vorgestellt worden ist, lieferte das Konzept der Kontextualisierungshinweise - insgesamt eine hoffentlich nützliche melange!
2.2 INTERAKTIONALE SOZIOLINGUISTIK Was ist "interaktionale Soziolinguistik", wie es im Titel der Arbeit heißt? Der Soziolinguist John Gumperz, der bislang schon mehrfach erwähnt wurde, kommt dem, was ich darunter verstehe, mit seiner Konzeptualisierung einer "interpretativen Soziolinguistik" noch am nächsten (vor allem Gumperz 1982a, 1982b). Der Begriff "interaktionale Soziolinguistik" ist keineswegs eine Erfindung von mir. So heißt die Reihe, in der Gumperz (1982a, 1982b) erschienen ist, "Studies in Interactional Sociolinguistics". Ein Vorwort (des Herausgebers o.a.), das die Reihe einleitet und das diesen Serientitel rechtfertigen würde, gibt es nicht. Auch Erickson & Shultz (1982) überschreiben ein ganzes Kapitel mit "Implications for Research in Interactional Sociolinguistics" (S.212), ohne allerdings auf den Begriff einzugehen. Aber sowohl "interpretative" als auch "interaktionale Soziolinguistik" sind keine eindeutig belegten Plätze mit einer selbständigen Forschungstradition, die es hier nur zu rezipieren gälte. Zweifelsohne jedoch teilen sich sowohl die Forschungen von Gumperz und Co. als auch die von Erickson und Erickson & Shultz die (mikro-)ethnographische, empirische, face-to-face orientierte und interpretative Arbeitsweise einer Soziolinguistik, bei der Sprache und Gesellschaft keine juxtaponierten "Dinge" sind, sondern Gesellschaft als von den Beteiligten situativ produzierte "Realität" im Sinne der damit für sie konstituierten sozialen Bedeutsamkeit gesehen wird. Insofern gilt für eine noch näher zu skizzierende interaktionale Soziolinguistik, was Gumperz für die interpretative Soziolinguistik ausführt, nämlich die "Aufmerksamkeitssteuerung auf die fortlaufenden Prozesse der Interpretation der Teilnehmer in der Konversation und darauf, was sie dazu befähigt, in Reaktion auf andere und in Verfolgung ihrer eigenen kommunikativen Ziele, bestimmte Konstellationen von Hinweisen (cues) wahrzunehmen und zu interpretieren" (Gumperz 1982a:4f.*). Das Hauptziel interpretativer Soziolinguistik besteht für Gumperz in der Aufgabe aufzuzeigen, wie die verwendeten kommunikativen Zeichen ihre Funktion erfüllen, bestimmte Aktivitäten und konversationelle Aufgaben zu signalisieren, wie im Verlauf der Interaktion durch eine flexible Anordnung unterschiedlicher informationstragender Elemente, bestimmte gemeinsame (oder auch
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verschiedene) Interpretationen gefunden (und wieder verworfen) bzw. Inferenzen ermöglicht werden und welche kommunikativen und sozialen Folgen mit diesen Interpretationen einhergehen. Auch die interaktionale Soziolinguistik setzt - in aller knappster Weise formuliert - an beim Datum des Gesprächs, der face-to-face Kommunikation. Gespräche und Kommunikationen sind ihr nicht einfach Belege für existierende Verhältnisse und Phänomene in der Gesellschaft (z.B. Diskriminierung), sondern sie sind analytischer wie methodologischer Ausgangspunkt für die Aufdeckung von Verhältnissen, wie sie von den Gesellschaftsmitgliedern selbst im Laufe der face-to-face Kommunikation mit und in ihrer Konstitution gedeutet und mit ihrer Deutung konstituiert werden. Hypostasierte Konstrukte vermeintlich außersprachlicher "Wirklichkeiten", wie sie in weiten Bereichen der traditionellen Soziolinguistik unterstellt werden, sollen für die interaktionale Soziolinguistik nachweisbar sein in ihrer Wirksamkeit in der Kommunikation als in dieser symbolisiert und von den Beteiligten als in dieser erfahrbar. Aber erst mit dem Nachweis ihrer methodischen Systematizität über die einzelne Kommunikation hinaus, kann so etwas wie ein Erklärungsanspruch behauptet werden. Dieser Anspruch unterscheidet die interaktionale wie interpretative Soziolinguistik zunächst grundlegend von all jenen soziolinguistischen Strömungen, die ihren Gegenstand mit Hilfe relativ beliebiger kategorialer Zugriffsmöglichkeiten auf sprachlich-soziale "Wirklichkeiten" inForm ihrer Aufteilung in "abhängige" und "unabhängige Variablen" aus dem Komplex sprachlicher wie außersprachlicher Strukturen als erklärbar verstehen (so z.B. Trudgills (1978) Subsumtionskriterien soziolinguistischer Strömungen). Hintergründe Aber meine Vorstellung einer interaktionalen Soziolinguistik läßt sich kaum dadurch näher beschreiben, was sie nicht ist. Ich will von daher zunächst den "konstruktivistischen" Versuch unternehmen, in knapper Skizzierung die beiden mir relevant erscheinenden method(olog)ischen Stränge zu umreißen, auf der die interaktionale (und soweit auch die interpretative) Soziolinguistik m.E. aufbaut, und die ich weiter unten noch etwas näher skizzieren will: - Sie ist einerseits zu verknüpfen mit der Tradition interaktionistischer und interpretativer soziologischer Strömungen (vgl. ABS 1973, Giddens 1984a), speziell des Symbolischen Interaktionismus (Blumer) und seiner empiristischen Radikalisierung, der Ethnomethodologie (Garfinkel). - Sie ist andererseits zu integrieren in die aus anthropologisch-ethnologischer Tradition herrührende kommunikationsethnographische Schule (Hymes, Gumperz), in der sich die nordamerikanische Anthropologie mit der Linguistik "vereint" hat (Hymes 1974, SavilleTroike 1982).
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Einen dritten, hier wenigstens kurz zu erwähnenden Einflußfaktor, stellen sicherlich auch noch diejenigen Anknüpfungspunkte dar, die sich im Rahmen der "cognitive science" beschreiben ließen, wie die psychologische Gedächtnisforschung, die Prototypen- und "scene-and-frame" Semantik, die "Künstliche Intelligenz" u.a., bei denen es in erster Linie um die Frage der Organisation von Wissen, von Erwartungen und ihren Einfluß auf die Interpretationen geht. Diese "Erwartungsstrukturen" werden als "plans", "schemata", "scripts" und "frames" untersucht (vgl. Tannen 1979, Raskin 1986). Auch die im Zusammenhang mit Gumperz' Kontextualisierungstheorie genannten "Wissensschemata" fallen darunter. Es gibt so viele unterschiedliche Schwerpunkte bei diesen kognitiven Strömungen, die sich nicht unter ein zu beschreibendes Etikett bringen lassen, daß mir eine knappe Darstellung schwerfiele. Eine Darstellung ist aber auch deshalb überflüssig, weil der kognitive Ansatz (wenn auch nicht gerade die "Künstliche Intelligenz"-Forschung) eher eine Quelle unter anderen innerhalb der Ethnomethodologie und Ethnographie selbst ist und aufgrund seiner beschränkten Fragestellung letzteren keine vergleichbar eigenständige Method(ologi)e entgegensetzt. Diese beiden Hauptstränge - und mit dem dritten Strang könnten sicherlich auch noch andere Stränge hinzugefügt werden, die mir aber weniger wichtig erscheinen -, haben sich nicht zufällig in der neueren, qualitativ ausgerichteten Soziolinguistik, wie der interpretativen Soziolinguistik, getroffen. Diesen Weg möchte ich hier zunächst ganz kurz nachzeichnen: Insbesondere in der Soziologie und in der Anthropologie hat sich unter dem interaktionistischen Einfluß, trotz der unterschiedlichen traditionellen "Verwurzelung", eine immer stärkere alltagsempirische und vollzugspraktische Radikalisierung der" Verstehens"-Perspektive durchgesetzt, die allerdings mit der primären Orientierung auf die westliche Industriegesellschaft in dem einen Fall und dem Interesse für "exotische" Ortsgesellschaften im anderen Fall, lange Zeit ganz unterschiedliche Schauplätze zur methodischen Ausschöpfung ihrer methodologischen Paradigmen erprobt haben. Aber sozialwissenschaftlich ausgerichtete Linguisten sowie Anthropologen steuerten auf der Grundlage der Meadschen Kommunikationstheorie als Ansatz für eine phylogenetische wie ontogenetische Erklärungsmöglichkeit menschlicher Soziabilität und der Rolle signifikanter Symbole im Vergesellschaftungs- und Akkulturationsprozeß auf eine Aufwertung der realiter benutzten sprachlichen Zeichen hin (vgl. etwa die verschiedenen Arbeiten in Steinert 1973 und Lock 1978). Hier zeichneten sich konvergierende Spuren ab, hin zu einer zukünftigen Soziolinguistik, gespeist aus dem Interesse einer europäischen Linguistik Saussurescher parole-Orientierung in Verbindung mit den kognitiven Implikationen von Whorfs sprachenergetischem Umkehrschluß. Die Ethnographen leisteten bei dieser "Spurensuche" die empirische "Schmutzarbeit" vor Ort, meist weit weit weg von den Lebensbezügen urbaner Lebenswelten westlicher Prägung. Aber die Mühen lohnten, vermochten sie doch, per teilnehmender Beobachtung einen Begriff von Kultur in Form von sinn- wie ordnungsstiftenden "Sprechereignissen" herauszudeuten und damit eine programmatische Perspektive zu eröffnen, die es rechtfertigte, sich allein "den Situationen und Gebrauchsweisen, den Mustern und Funktionen des Sprechens als einer
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gesellschaftlichen Tätigkeit aus eigenem Recht (as an activity in its own right)" (Hymes 1973: 341) zuzuwenden. Für die gemeinsame Anknüpfung an und die Zusammenkunft in einer linguistischen Subdisziplin boten sich gleich mehrere Gründe an: Die frühe (vor allem vom nordamerikanischen Positivismus beeinflußte) Soziolinguistik hatte sich als reines Anhängsel korrelativistischer, objektivistischer Soziologie zu emanzipieren, sich sprachphilosophischen Erkenntnissen (vor allem der auf Wittgenstein fußenden sprachanalytischen Philosophie) zu öffnen, diese aber im linguistisch rigiden Sinne (des Strukturalismus) zu verwenden. Einige der ethnolinguistischen Vorläufer hatten Methode und Gegenstand bereits erfolgreich zu verknüpfen gesucht (Boas, Sapir, Whorf). Gleichzeitig konnte eine gesellschaftswissenschaftliche Ausrichtung einer bislang eher philologisch orientierten Fachgeschichte aber auch kaum in das emergierende transformationsgrammatische Paradigma einsteigen. Die aus der sprachanalytischen Tradition hervorgegangene pragmatisch orientierte Linguistik (Grice, Austin, Searle) als eine Linguistik des Sprachverwenders, des sprechenden Subjekts, bot hier einen attraktiven Anknüpfungspunkt in Abgrenzung zum aufblühenden nativistisch-gesellschaftsfremden Grammerismus. Die Soziologie mit ihrer Hobbes'schen (und von Simmel wieder aufgegriffenen) Alles-odernichts-Frage, wie denn Gesellschaft überhaupt möglich sei, wiederentdeckte das Kleine, die gesellschaftliche Ordnung angelegt im Mikrokosmos verbaler Interaktion. Die Linguistik exerzierte dabei mit ihrer regelgeleiteten Matrix einer transzendierbaren Grammatik einen Rigidismus an Methoden vor. Die Anthropologie, die schon mit Levi-Strauss einer an der Linguistik orientierten strukturalistischen Radikalkur unterzogen worden war, entdeckte in der "parole" endlich den Nexus von Sprache und Kultur in der Weise, daß "Kompetenz" nicht mehr in einer logisch-konstruktivistischen Matrix zu sehen war, sondern ableitbar war aus dem empirisch nachvollziehbaren, realen Zeichengebrauch. So konnten auch viele von diesem Paradigma beeinflußte Soziologen beruhigt zum tatsächlich interagierenden Gesellschaftsmitglied zurückkehren, da ja "die moralische Ordnung aus den regelgeleiteten Aktivitäten des Alltagslebens besteht" (Garfinkel 1964:225*). Auch die in der philosophischen Tradition stehenden Teile der Linguistik und Sozialwissenschaften konnten nun mit ihren langerprobten Methoden der Hermeneutik zur Sinnkonstitution alltagssprachlicher - und damit kultureller - Diskurse beitragen. - Diese verschiedenen (sowie viele weitere) Einflüsse kamen schließlich unter einer bestimmten, soziolinguistisch ausgerichteten Fragestellung zusammen. In dieser Weise vereinigt, kann die Soziolinguistik, genauer gesagt: die qualitative, auf verbale Interaktion orientierte Soziolinguistik, voll emanzipiert und interdisziplinär mitwirken an der Lösung der großen Hobbes'schen Frage.
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Ethnomethodologie - Konversationsanalyse - Kommunikationsethnographie: Zutaten zu einer interaktionalen Soziolinguistik Im folgenden nun zunächst die kurze Vorstellung jener beiden Hauptstränge, die für die interaktionale Soziolinguistik zu rezipieren sind. Eine scharfe Trennung dieser Stränge voneinander wäre nur aus einer jeweils dogmatischen Sichtweise möglich. Die ethnomethodologische Konversationsanalyse wurde immer im Rahmen der Ethnographie der Kommunikation rezipiert und fand zudem ihre Arbeiten in deren Anthologien veröffentlicht7, gleichwohl ist sie nicht in dieser begründet, sondern eine genuin eigene soziologische Strömung (vgl. v.a. Heritage 1984). Das in einschlägigen Forscherkreisen nunmehr beliebte Adjektiv "ethnographisch-ethnomethodologisch" ist (der wortmonströse) Ausdruck dieser Trennungsunschärfe und ihrer wechselseitigen Befruchtung. Die Ethnomethodologie geht zurück auf den amerikanischen Soziologen Harold Garfinkel. Garfinkels Interesse gilt dem, was die Mitglieder einer Gesellschaft bei der Ausrichtung ihrer alltäglichen Routineangelegenheiten wissen, denken und tun ("ethno-"), und wie die soziale Wirklichkeit im sozialen Handeln sich konstituiert. Dieser Vorgang der "Wirklichkeitserzeugung", an dem alle Handelnden teilhaben, läuft methodisch, nach eigenen Rationalitätsmustern ab ("-methodologisch") und kann nicht in subjektiv beliebiger Manier ausgeführt werden, ohne daß es zu Krisen kommt. Die Vollzugswirklichkeit sozialer Ordnung wird von den Interaktionsbeteiligten vor Ort, im Ablauf des Handelns (lokal), in und aus der Handlungssituation (endogen) und durch Hören und Sprechen, durch Wahrnehmen und Agieren (audiovisuell) erzeugt (Garfinkel 1976 nach Bergmann 1981:12). Gemeinsames Verstehen ist nach Garfinkel niemals einfaches Wiedererkennen geteilter Inhalte oder Regeln, sondern ist immer offen, wird in jedem spezifischen Fall von den Teilnehmern als "artful (if unconscious) accomplishment" neu hervorgebracht (Garfinkel 1972). Die Grundlage von Kultur ist damit nicht mehr allein durch gemeinsames Wissen zu bestimmen, sondern vielmehr als gemeinsam geteilte Regeln der Interpretation dessen, was im common sense-Wissen als vernünftig, faktisch, kohärent etc. zählt (ibid.). Wichtiger noch ist die rein alltagssprachlich orientierte Ausprägung, die ethnomethodologische Konversationsanalyse von Garfinkels Schüler Harvey Sacks und dessen Mitarbeitern. Ihnen geht es um die Analyse von Gesprächen, die in alltäglichen praktischen Interaktionszusammenhängen stattfinden und deren systematisch strukturelle Geordnetheit die sprechenden "Gesellschaftsmitglieder füreinander auf methodische Weise" (Schegloff & Sacks 1973:290) produzieren. Diese "methodische Weise" macht "es den Gesprächsteilnehmern möglich..., wechselseitig füreinander sowohl die Geordnetheit dieser Gespräche aufzuzeigen, als auch offenzulegen, wie sie diese Geordnelheit analysierten, verstanden und benutzten"
7 Vgl. beispielsweise die Anthologien von Gumperz & Hymes 1972, Bauman & Sherzer 1974 oder Sanchcs & Blount 1975, in denen immer auch Arbeiten von Sacks und/oder Garfinkel zu finden sind.
43 (ibid., Übersetzg. nach Bergmann 1981). Nach Schegloff (1982:73) ist jedes Gespräch zu sehen 1. als ein mit der Zeit geschaffenes Produkt, 2. als eine fortwährende interaktionale Leistung, 3. als "zumindest teilweise" (ibid.) durch die soziosequentielle Teilnahmeorganisation geformt und 4. als analysierbar aufgrund der angezeigten Mechanismen der vollbrachten Leistungen. Die für die Analyse notwendige Aufdeckungsarbeit leistet die "analytische Mentalität" (Schenkein 1978) des Konversationsanalytikers - die systematische Rekonstruktion der formalen und methodischen Erzeugungsprinzipien der Sprecher. Die traditionelle Konversationsanalyse - ihr "harter Kern" - versperrt sich dabei einer theoretischen Festlegung, fixiert sich allein auf die transkribierten Gespräche als Analysedimension - ohne Inrechnungstellung sozialer wie kultureller Einflußfaktoren im Sinne kommunikationsethnographischer Prämissen (Hymes 1986). Klassische Themen der Konversationsanalyse sind beispielsweise die Organisation des Sprecherwechsels im Gespräch, die interaktive Konstruktion des einzelnen Redezugs (turn), die sequentielle Struktur des Interaktionsgeschehens etc. Heute umfaßt die Konversationsanalyse auch die strukturell-interaktionale Analyse von Äußerungsaktivitäten, wie z.B. die gemeinsame Hervorbringung und die Funktionen von Lachen und Stocken im Verlaufe des Gesprächs bis hin zu komplexen Sprechakten wie "einen Vorwurf machen", "Komplimente erheischen" oder "Liebeserklärungen"8. Mit dieser Skizze sollte deutlich geworden sein, daß die ethnomethodologische Konversationsanalyse einen Schwerpunkt auf das Wie des interaktiven Vollzugs legt und semantische wie propositionale Probleme nur aus diesem methodischen Blickwinkel wahrnimmt. Alles "Drumherum" steht dabei außerhalb des analytischen Blicks, solange es auch für die Beteiligten nicht "wechselseitig belegbar/angezeigt" (accountable) ist9. Da sich aber Apriorisches mit Lokalem in der Kontingenz zumeist vermischt und sich Apriorisches "soziosequentiellen" Strukturen scheinbar noch am ehesten ein- bzw. unterordnet, also methodisch "accountable" wird, besteht aus der "analytischen Mentalität" der Konversationsanalytiker heraus kaum Notwendigkeit, den Blick auf die konstitutive Rolle "mitgebrachter" sozialstruktureller Bedingungen zu richten.
8 Alle Arbeiten auf diesem Gebiet aufzuzählen, wäre ein mittlerweile wohl recht mühseliges Unterfangen. Die deutsche, stärker kognitiv orientierte Rezeption der Konversationsanalyse läßt sich gut mit Kallmeyer & Schütze 1976 belegen. Neuere Übersichten bieten Heritage 1985 und Bergmann 1981. Eine für die neuere Entwicklung repräsentative Anthologie bilden z.B. die Sammelbände von Atkinson & Heritage 1984 oder Button & Lee 1987; speziell zu "Liebeserklärungen" vgl. Auer 1988a. 9 Garfinkels "accountability"-accounts können nur original wiedergegeben werden! Version A: "Ethnomethodological studies analyze everyday activities as members' methods for making those same activities visibly-rational-and-reportable-for-all-practical-purposes, i.e. 'accountable' as organizations of commonplace everyday activities" (1967:viii). Version B: "Any setting organizes its activities to make its properties as an organized environment of practical activities detectable, countable, reportable, tell-a-story-aboutable, analyzable - in short accountable" (1967:53).
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Die Ethnographie der Kommunikation, die zuallerst auf den amerikanischen Anthropologen Dell Hymes zurückgeht, nimmt - zumindest in ihrer "klassischen" Version - programmatisch eine Perspektive ein, bei der Apriorisches relevant ist, aber vor allem als "kulturbedingt" von Interesse ist. Auch ihr ist die "Ethno"-Perspektive eigen. Die Kommunikationsethnographie will anhand empirisch-emischer Analysen von Sprechereignissen zur Erklärung des Verhältnisses von Sprache und Kultur beitragen, wobei alle Sprechanlässe als "gesellschaftliche Aktivität aus eigenem Recht" gelten, ganz gleich, ob profaner oder sakraler Natur und ganz gleich, ob monologisch oder dialogisch realisiert. Konstrukten wie Sprechgemeinschaft, Sprechsituation, Sprechereignis, Sprechakt und Äußerungskontextwerden heuristisch gleich hohe Relevanz zugesprochen. Hymes (1972a) zählt 16 entscheidende Komponenten auf, die im Mittelpunkt der ethnographischen Analyse der Kommunikation stehen, und die als Memo in den acht Buchstaben des Akronyms SPEAKING zusammengefaßt werden können: S für Situation (setting. Szene), P für participants (Sprecher, Ansprechende, Zuhörer, Angesprochene), E für ends (Absichten, Ziele, Folgen), A für act sequence (Mitteilungsform und -gehalt), K für key (Modalität), I für instrumentalities (Übertragungsmedium, Sprechformen), N für Normen (der Interaktion wie der Interpretation) und G für genres (Gattung). Korrelieren lassen sich diese Komponenten wiederum mit einer ganzen Anzahl von Sprechfunktionen. Mit dieser heuristischen Kategorienmatrix gerüstet läßt sich dann beispielsweise erforschen, "wer wen wann und wo in welchem Stil und in welchem Sprachkode betreffs welcher Angelegenheit" ausschimpfen darf, oder welche Rolle ein bestimmtes Sprechereignis "für die Aufrechterhaltung des sozialen Systems, der kulturellen Werte und des Persönlichkeitssystems" spielt (Hymes 1973:355). Der Kulturbegriff, der hiermit einhergeht, entspricht am ehesten der "kommunikativen Kompetenz" (Hymes) des Sprechers, betrifft, was er wissen muß, um sich als Mitglied der Gemeinschaft angemessen verhalten zu können (vgl. Goodenough 1964). Die Forschungsobjekte der klassischen Kommunikationsethnographie sind sog. Ortsgesellschaften: kleinere, in sich geschlossene soziale Gebilde, wie sie zumeist in "traditionalen" Gesellschaften der Dritten Welt zu finden sind. Hier hat sich das Instrumentarium entwickelt und erprobt10. Der allgegenwärtige "Zugriff einer modernen, komplexen Gesellschaft, wie etwa der westdeutschen, blieb dabei lange Zeit ausgeblendet. Aber was mir wichtiger erscheint: Untersucht werden nicht die zufälligen Stegreifereignisse, die unprädestinierten Interaktionen und deren Rolle bei der unversehenen Reproduktion von Gesellschaft, sondern fast immer nur institutionalisierte Ereignisse: "wie man etwas bestellt", "wie man um etwas fragt", "wie man wen grüßt", "wie man sich die Hände reicht" und deren jeweilige Bedeutun-
10 Vgl. hier wiederum die meisten Arbeiten in Gumperz & Hymes oder Bauman & Sherzer 1974. Ich verweise auch nochmal auf die Bibliographie von Philipsen & Carbaugh 1986.
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gen für die in Frage stehende Ortsgesellschaft11. Und gerade hochritualisierte Formen, die Ausdruck starker Gruppenkohärenz sind, wurden dann auch im städtischen, subkulturellen Milieu untersucht (vgl. 1.2.2). Es wäre allerdings unfair, die Kommunikationsethnographie auf diese Enge festzulegen. Prinzipiell ist sie offen und hat sich immer mehr den subkulturellen und institutionellen Milieus großstädtischer, moderner Gesellschaften geöffnet und hat sich damit auch so weitgehenden Fragestellungen gewidmet, wie sie Gumperz oder Erickson (vgl. Kap. 1) oder das Mannheimer Projekt "Kommunikation in der Stadt" untersuchen (Kallmeyer et al. 1982; Keim 1984). Programmatische Versuche ... Programmatisch gesprochen: Die interaktionale Soziolinguistik versucht nun in einem integrativen Ansatz, diese beiden Stränge nicht nur miteinander zu verbinden, sondern sie will auch versuchen, Aspekte zu integrieren, die aus der interaktionistischen Perspektive allein m.E. unberücksichtigt bleiben (siehe unten). Sie will also über sozialwissenschaftliche Fragestellungen hinaus, die sich ausschließlich auf den sogenannten Mikro-Bereich konzentrieren. Denn die moralische und wie immer geartete Ordnung der Gesellschaft ist letztendlich noch nicht allein ableitbar aus den regelgeleiteten Alltagsaktivitäten ihrer Mitglieder, sondern sie bedarf auch dem zu erklärenden Wirken und Niederschlag in auf die Gesellschaftsmitglieder zurückwirkende Struktur(ierung)en, die von ihnen - meist unversehens erzeugt, reproduziert und moduliert werden (Giddens 1984a). Interaktionale Soziolinguistik will von ihrem Anspruch her nicht stehen bleiben bei der Beschreibung der kommunikativen Mittel, derer sich die handelnden Gesellschaftsmitglieder bedienen (Ethnographie der Kommunikation), um Sinn und moralische Ordnung interaktiv hervorzubringen (Ethnomethodologie), sondern will auch die Ressourcen und - viel wichtiger - die symbolische Reproduktion der sprachlichen wie außersprachlichen Ressourcen im Vollzug des verfügbaren Mitteleinsatzes in die Kommunikationsanalyse mit einbeziehen und erklärbar machen. Sozialstrukturelle Bedingungen, denen im Interaktionismus sozusagen "keine Existenzberechtigung" zugebilligt werden, können genau eine solche Ressource darstellen wie die zu interpretierenden Merkmale des Sprachcodes selbst, ja sie werden in solche transformiert und symbolisiert. Sie können Ressourcen sein für die (Re-)Produktion von Ungleichheit und sozialer Identität - was im Sinne des Anspruchs der interaktionalen Soziolinguistik aufzuweisen gilt. Auf diesen, die "Ethno"-Komponenten deutlich transzendierenden Aspekt haben Gumperz & Cook-Gumperz (1982:1*) für ihre Variante der Soziolinguistik ebenfalls programmatisch wie folgt verwiesen:"... wir trachten in Bezug auf menschliche Interaktion danach, Ansätze einer interpretativen Soziolinguistik zu entwickeln, die in der Lage sind zu erklären, welche Rolle kommunikative Phänomene in der Ausübung von Macht und Kontrolle und in der Produktion und Reproduktion sozialer Identität spielen. Unsere grundlegende Prämisse ist,
11 So lauten beispielsweise Untersuchungen typischcrweise auch "How to Order a Drink in Subanun" (Frake 1964), "How to Enter a Yakan House" (Frakc 1975) oder "How not to Ask a Favor in Wolof (Irvine 1980).
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daß soziale Prozesse symbolische Prozesse sind, daß aber Symbole nur in Beziehung zu den Kräften, die die Verwertung und Zuteilung der sie umgebenden Ressourcen kontrollieren, Bedeutung haben." - Inwieweit sie solche Ansätze bereits realisieren konnten, steht dabei auf einem ändern Blatt (vgl. z.B. die Darstellung unter 1.2.1). Auch mein primäres Augenmerk richtet sich ja auf die kommunikativen "Mechanismen" der Ausübung von Macht und Kontrolle, gilt den Verwendungsweisen von Ressourcen und Mitteln, die es möglich machen, Macht und Kontrolle auszuüben, Herrschaft in der Kommunikation - hier insbesondere in der interkulturellen Kommunikation - zu reproduzieren und zu legitimieren. Mein eigener Weg, zu diesem Ziel zu gelangen, soll hier kurz skizziert werden: Ich lehne mich bei meinen Analysen an jene Bestrebungen zur Überwindung interaktionistischer und strukturalistischer Erklärungsmodelle an, wie sie in der Soziologie der letzten Jahre beispielsweise von dem Briten Anthony Giddens (1984a und 1984b) und dem Franzosen Pierre Bourdieu (siehe unten) zur Programmatik erhoben wurden. Die Soziolinguistik steht bei diesem Versuch prinzipiell nicht abseits: Sie hat sich natürlich immer schon der Frage nach dem Zusammenhang von Sprachstruktur und Sozialstruktur in grundlagentheoretischer Weise gestellt, mußte sich aber angesichts des unerfüllbaren und komplexen, weit über die Subdisziplin hinausreichenden Erklärungsanspruchs dieses Zusammenhangs, und unterstützt von der (zumindest zeitweise) allgemeinen Re-Subjektivierung der Sozialwissenschaften (siehe oben), mit nur partikularen - und beantwortbaren - Fragen zufrieden geben12. Inwieweit die Soziolinguistik (und auch die linguistische Pragmatik) nach der interaktionistischen Blütezeit von der soziologischen Re-Strukturalisierung wieder beeinflußt wird, bleibt abzuwarten13.
12 Die Frage nach der Beziehung von Sozialstruktur und Sprachstruktur grundlagentheoretisch mit dieser Arbeit wieder-aufnehmen zu wollen, wäre natürlich ein vermessener Anspruch, der sich mir zunächst exemplarisch-methodologisch als Orientierung und Perspektive stellt - und als keinesfalls mehr! 13 Vgl. z.B. die theoretischen Debatten in den beiden Ausgaben der International Journal of the Sociology of Language "Levels of Analysis in Sociolinguistic Explanation" (39/1983) und "Faceto-Face Interaction" (43/1983) oder andere - neuere wie 'aufgebackene' - Problematisierungsversuche wie von Atkinson 1985 oder Robin 1986 oder Myllynicmi 1986 oder Hodge & Kress 1988. Am deutlichsten schlägt sich der ideale Wunsch-Nexus von Sprache und Gesellschaft in Titeln nieder wie "Sprachstruktur - Sozialstruktur" (Quasthoff 1978). Aber auch die neuen konversationsanalytischen Buchtitel suggerieren deutlich diesen Einfluß wie bei "Structures of Social Action" von Atkinson & Heritage 1984. Bourdieu selbst hat mit seinem "Ce que parier veut dire" (1982b) und anderen Artikeln zu dieser Debatte Stellung bezogen. Allerdings steht Bourdieu in keiner soziolinguistischen oder pragmatischen Tradition, sondern ist eher jemand, der das Feld bislang von außen beeinflußt. Aber sein Einfluß nimmt zu: Bei der neuen Fachzeitschrift "Papers in Pragmatics" (ab 1987, hgg. von der International Pragmatics Association (IPrA)) ist Bourdieu bereits Mitglied des Redaktionsbeirates! - Für einen allgemeinen Überblick über die neuere soziolinguistische Paradigmenentwicklung bis in die Anfänge der 80er Jahre (wenn auch nicht unter meiner hiesigen Fragestellung) vgl. Dittmar 1982 sowie (etwas näher dran) Craen 1985.
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Im Sinne der soweit beschriebenen Komponenten möchte ich meine eigene Methode, mein "interaktional-soziolinguistisches" Forschungsprogramm, vorläufig und stichwortartig als empirisch-interaktionistisch-hermeneutisch orientiert bezeichnen: Das heißt erstens, ich greife beim Material zurück auf authentische Daten aus der alltäglichen Kommunikation der Gesellschaftsmitglieder. Meinen analytischen Ausgangspunkt bilden Gesprächstranskripte aus natürlichen Interaktionssituationen14. Dies ist mein empirischer Aspekt. Zum zweiten versuche ich, bei den so vertexteten Kommunikationsausschnitten 15 meine Interpretationen der Interpretationen (bzw. der interpretativen Methoden) der Interagierenden selbst als einen Ausgangspunkt zu nehmen. Insoweit schöpfe ich aus ethnomethodologisch-konversationsanalytischen Ansätzen (siehe oben) - mein interaktionistischer Aspekt. Ich will aber dann in einem weiteren Schritt die intersubjektiv auf der Gesprächsebene nachweisbaren "mikro"-strukturellen "Realitäten" wieder an gesellschaftliche "Makro'-Strukturen (z.B. kommunikationsexterne Ressourcen) zurückbinden und ihnen damit eine - womöglich ganz andere "Realität" verschaffen. Hierbei versuche ich dann drittens, den engen ethnomethodologischen Empirizismus und die konversationsanalytische strukturelle Kontingenz"beschränktheit" überschreitend, gesellschaftliche Bedingungen als im vorliegenden Material symbolisierte reproduktive und generative Strukturierer sozialer Wirklichkeit ausfindig zu machen und ihre strukturierungsmächtige Funktionalität im Vollzug ihres Vollzugs aufzuzeigen - dazu dient mir die hermeneutische Methode. "Hermeneutik" soll hier keine spezialisierten "Wissensschemata" dazu in Gang setzen, sondern versteht sich einfach als von außen, aus Analysandenperspektive, an einen Text angelegte Leseweisen, wobei ich natürlich ganz bestimmte vorgängige Fragen und Hypothesen im Kopf habe. Oevermann et al. (1979,1983) bieten hier mit ihrer methodologischen Weiterentwicklung der Hermeneutik zu einer "objektiven Hermeneutik" sicherlich in meine Richtung gehende diskussions- und rezeptionswürdige Ansatzpunkte: Die objektive Hermeneutik beansprucht nicht nur die "metasprachliche Reformulierung und Explikation von
14 Die Gespräche, die in Kap. 3ff. als Mittel, Ausgangspunkt und Illustration verwendet werden, stammen aus einem umfangreichen Korpus, das ich im Rahmen von Forschungsprojekten gewonnen habe, die ich in den Jahren 1978 bis 1982 mit finanzieller Unterstützung der Universität Bielefeld durchgeführt habe. Die Gespräche wurden durch unbemerkt teilnehmende Beobachtung oder durch einen der Kommunikationspartner selbst aufgezeichnet. Näheres siehe Hinnenkamp 1982a. - Die Transkriplionsweise lehnt sich in veränderter Form an an das von Kallmeyer & Schütze 1976 eingeführte Verfahren der deutschen Adaption der Konversationsanalyse. Wie alle Transkriptionsvert'ahren wirft es Fragen und Probleme auf. Für meinen Zweck ist mir das Transkriptionsverfahren jedoch dienlich und scheint mir anderen aus verschiedenen Gründen überlegen. 15 "Vertextung" - ganz gleich wie genau - ist bereits Interpretation, indem - wenn auch noch nicht hineingedeutet, so doch zumindest - qua selektiver und beschränkter Transkription herausgedeutet wird: Potentiell kommunikationsrelevante Ereignisse im Gesichtsfeld der Interaktanten, nonverbale Symbolisierungen u.a. fallen bei (notwendig) beschränkt glossierten Konversationskonserven fort. Insofern sind auch "vollständige" Gespräche, d.h. von Anbeginn der Zusammenkunft bis zum Abschluß und Auseinandergehen immer nur "Ausschnitte".
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Verstehensprozessen" (Radtke 1985:331), sie will vielmehr auch die "Realität von latenten Sinnstrukturen" aufdecken (Oevermann), will schließlich generative Regeln der sozialen Interaktion bestimmen16. Gleichwohl methodisch viele Anstöße von dieser Methodologie ausgehen, wird die Oevermannsche Hermeneutik mir nur als eine Art Hintergrundstimulus dienen. Es geht mir auch weniger um Verstehensprozesse. denn um sprachlich symbolisierte Reproduktionsprozesse sozialer "Wirklichkeiten". Die Abbildung der Makrostruktur in der MikroStruktur: Die Achse Bourdieu - Goffman Wie aber lassen sich nun die von mir so genannten "mikro-"strukturellen "Wirklichkeiten" an außerhalb der Situation bestehende, aber in die Situation hineinwirkende, "Makro-"Strukturen festmachen? Mein Versuch, die "Mikro-" und "Makro-"Ebenen sozialer Praxis miteinander zu verquicken, aber vor allem als Dichotomic aufzuheben, bedient sich zweier neuerer soziologischer Theorie-Ressourcen: Auf einer "unteren" Ebene schöpfe ich aus der Kommunikationstheorie des soweit schon mehrfach bemühten Erving Goffmans. Goffman gilt als Sozialphänomenologe, bezeichnet sich aber selbst als Anthropologe. Sein Beobachtungs"territorium" ist vorwiegend die anglo-amerikanische Mittelschichtsgesellschaft. Goffmans Relevanz für mein Vorgehen besteht in der Anwendbarkeit seiner analytischen Konzepte, Metaphern und ethnographischen Detailbeobachtungen zur konstitutiven Rolle der face-to-face Kommunikation hinsichtlich des Erhalts und der Erzeugung der "öffentlichen", "interaktionalen" und "rituellen Ordnung" (diese "Ordnungs"folge ist durchaus hierarchisch zu lesen!). Mit Goffmans zentralem Konzept, die Logik der Darstellung des Selbst, der "Imagearbeit" (face-work) (siehe ausführlichst 4.1.3), wird auf der intersubjektiven Handlungsebene unserer alltäglichen, gewöhnlichen, kommunikativen "Geschäfte" eine moralische - oder besser: eine als moralisch "signalisierte" (Wolff 1976:280) - und (damit) interaktionsordnungsstiftende Kategorie als allgegenwärtige Leistung ins Spiel gebracht, die primär unter dem Aspekt des NutzenKosten-Kalküls operiert: Ich stelle mein Selbstbild (vor Dir und mir) dadurch in Rechnung, indem ich in Rechnung stelle (kalkuliere), wie ich vor Dir handeln muß, inwieweit ich Dein Selbstbild in Rechnung stellen muß, damit mein Selbstbild davon profitiert (bzw. zumindest 16 Zu diesen "generativen Regeln" schreiben Oevermann et al.: "Es sind dies die universellen und cinzelsprachspezifischen Regeln der sprachlichen Kompetenz auf den Ebenen der Syntax und der Phonologic, die Regeln einer kommunikativen oder illokutiven Kompetenz, die etwa in der Universalpragmatik oder im Rahmen der Sprechakttheorie zu bestimmen wären, die universellen Regeln einer kognitiven und moralischen Kompetenz und die das sozio-historisch spezifische Bewußtsein des Subjekts konstituierenden institutionalsierten Normen, lebensweltspezifischen Typisierungen und Deutungsmuster - also Regeln unterschiedlichen Typs und unterschiedlicher gattungsgeschichtlicher und historischer Reichweite der Geltung" (1983:104). Auf die Grenzen dieses Ansatzes verweist Radtke 1985. Da ich mich von dieser Richtung nur methodisch habe inspirieren lassen, ihren methodologischen Prinzipien aber grundsätzlich nicht folgen werde, werden die Autoren in meinem interpretativ-analytischen Teil nicht mehr ausdrücklich zitiert.
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keinen Schaden davonträgt). Dieser von den Interagierenden reproduzierte bzw. respektierte situative Ordnungssinn, dem die Rationalität unterliegt, daß jeder (normale) Mensch sich als voll handlungsfähiges Gesellschafts- oder Gruppenmitglied "repräsentiert", liest sich auf der Ebene der verbalen Kommunikation, wie Goffman aufzeigt, nicht ganz so ethnomethodologisch kontingent, wie die Konversationsanalytiker glauben machen wollen (Goffman 1976, 1983b), sondern umfaßt entscheidende intersubjektive verhaltensethische "Regeln", die apriorisch wirken (vgl. exemplarisch Goffmans Stigma-Analyse 1963) - Goffman spricht in diesem Zusammenhang auch von "inkorporierten Normen"17 - und die sich über "soziosequentielle" Regeln hinwegsetzen. So sind bei Goffman z.B. selbst noch Verlegensheitsvokalisierungen ("response cries") in nicht-fokussierter, rein zufälliger Interaktion (1978) der fokussierten Konversation ein ebenbürtiger Partner in der allgegenwärtig reproduzierten "Interaktionsordnung" (Goffman 1983a). Nach Goffmans Erkenntnissen verfügen die Kommunizierenden über dieser Interaktionsordnung entsprechende Handlungskompetenzen, die zum einen interpretativ lokalisierbar sind, und die zudem Quelle sind für die Herstellung und (ex post) Aufdeckung von Bedeutungen der in die Handlungen einbringbaren bzw. eingebrachten wie unterlassenen Symbolisierungen sozialer Präsuppositionen. nämlich insofern, als sie im Wissen der Handelnden als Gesellschaftsmitglicder mögliche Ressourcen und Mittel zur Ausschöpfung derselben - weit über das Gespräch selbst hinaus - darstellen. Den Präsuppositionsbegriff gilt es hier gegen die Fülle der vorhandenen Definitionen mit Goffman "ganz grob" zu belegen "als Sachlage, die wir in Verfolgung einer Handlung für selbstverständlich halten" (1983b: l *)18. Eine Aufdifferenzierungzwischen denjenigen Präsuppositionsbegriffen, wie sie in der Linguistik und denjenigen, wie sie in anderen Disziplinen existieren, ist nach Goffman (ibid.:24) nicht legitim19. - Aber auch Goffman hört m.E. - über richtige Abstrahierungen hinaus - dort auf, wo es um Lizenzen und Legitimationen des "Interaktionsmanagements" (Goffman) geht, wo die "klassenspezifischen" Zugriffsmöglichkeiten auf sozialstrukturelle (Macht-)Mittel als Präsuppositionen zur Debatte stehen. "Spricht" Gesellschaft bei Goffman vor allem durch das (pseudo-)moralische Selbst der Interaktanten, durch die (pseudo-)empathische Inrechnungstellung des Fremd-Selbst, dem Selbst des Ändern, so "spricht" sie bei Bourdieu durch "die ganze soziale Person" (Bourdieu 1977:653; vgl. dazu das Motto dieses Kap.) - und das heißt bei Bourdieu in der Tat, daß wann immer ein Gesellschaftsmitglied "den Mund öffnet", Gesellschaft spricht, und zwar 17 Zum Beispiel: "It can be assumed that a necessary condition for social life is the sharing of a single set of normative expectations by all participants, the norms being sustained in part because of being incorporated" (Goffman 1963:152; meine Hcrvorhebg.). - Diesen Punkt betone ich aus Gründen der Parallelität zu dem zentralen Bourdieuschen Konzept der Inkorporation beim "Habitus" (siehe unten). 18 Diese Definition von Präsuppositionen hat Goffman natürlich von niemand anderm als Frege, der sie als "selbstverständliche Voraussetzungen" beschreibt (Frege 1892). 19 Präsuppositionen sind ein unendlich weites Feld! Für eine zusammenfassende Problematisierung der unterschiedlichen und integrierbaren Auffassungen siehe Levinson 1983, Kap. 4.
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nicht im Sinne Goffmans, daß Gesellschaft mitspricht, sondern die Person ist gleichsam Medium, ist - um auch hier noch eine Goffmansche Metapher einzubringen - "sounding box", nur "Klangkörper" der Gesellschaft, die dann selbst so etwas wie den anonymen "Verantwortungsträger" oder den "Sender" verkörpern würde (vgl. Goffman 1979:19) und den Worten und Handlungen der Akteure soziales Leben einhaucht; der Sprecher bei Bourdieu ist somit sprechende Gesellschaft. Bourdieu, den ich hier nochmal unter stärker soziologischer Perspektive rezipieren will, formuliert als sein grundlegendes Interesse, eine "allgemeine(n) Wissenschaft der Ökonomie praktischer Handlungen" \ fundieren, nach der "alle Handlungen und selbst noch jene, die sich als interesselose und zweckfreie, also von der Ökonomie befreite verstehen, als ökonomische, auf die Maximierung materiellen oder symbolischen Gewinns ausgerichtete Handlungen zu begreifen" sind (1976:356f.). Was Bourdieu als Ethnologe in der kabylischen Gesellschaft Algeriens als "soziales Kapital" in Form der Ehre, der Gastfreundschaft etc. analysiert, wird in seinen späteren Studien zur französischen Klassenstruktur an den Schauplätzen der Reproduktions- und Machtkämpfe ("Märkte") innerhalb einer modernen Kultur- und Bildungswelt fortgesetzt. "Sozialstruktur" kommt dabei in die soziale Praxis herunter als und über den "Habitus" des agierenden Subjekts. Habitus ist bei Bourdieu entscheidendes Bindeglied zwischen Gesellschaft(sstruktur) und Individuum, er ist gleichsam soziale Vergangenheit wie aktuale Praxis seines Trägers, ist inkorporierte Struktur klassen- und klassifikationsspezifischer Handlungskompetenz und damit in jeden kommunikativen Akt eingebracht: "Jenes System von dauerhaften Dispositionen, das ich Habitus nenne, leibhaft gewordene Geschichte. ... Der Leib ist Teil der Sozialwelt - wie die Sozialwelt Teil des Leibes" (Bourdieu 1985:69). Diese Dispositionen umfassen u.a. Schemata, die als Handlungs- und Wahrnehmungsmatrix fungieren. Daneben bezeichnet der Habitus aber auch den "sens pratique", eine Art "vorreflexive Orientierungen, wie sie paradigmatisch der Geschmack, Neigungen, Vorlieben, Grundüberzeugungen, die sich allenfalls ex post in 'rationale Begründungen' übersetzen lassen, darstellen" (BohnMüller 1986:17). Soweit ist der Habitus das Produkt von Sozialisation, "eingeimpft" in den Instanzen (Schule, Familie etc.) einer auf Hierarchie als dominantes Strukturierungs- und Differenzierungsprinzip beruhenden sozialen Welt, in denen dauerhafte und paradigmatische Beziehungen zur Welt und zu den Mitmenschen ausgebildet werden20. Der einzelne Akteur ist bei Bourdieu immer nur Repräsentant einer Gruppe oder Klasse, als Individuum wird er immer nur entsprechend den existierenden Klassifikationssystemen eingeordnet. Jede individuelle Handlung unterliegt denselben Klassifikations- bzw. Distinktionsprozessen und läßt so "jede Einzelpraxis zu einer 'Metapher' einer beliebigen anderen werden" (Bourdieu 1982a:282). Als strukturierendes, praxisgenerierendes Prinzip kontrolliert der Habitus "(den) Geschmack, die Neigung und die Fähigkeit zur (materiellen und/oder symbolischen)
20 Vgl. Fußnote 5.
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Aneignung einer bestimmten Klasse klassifizierter und klassifizierender Gegenstände und Praktiken ... Anders gesagt, dem einheitlichen Gesamtkomplex distinktiver Präferenzen, in dem sich in der jeweiligen Logik eines spezifischen symbolischen Teil-Raums - des Mobilars und der Kleidung so gut wie in der Sprache oder der körperlichen Hexis - ein und dieselbe Ausdrucksintention niederschlägt" (ibid.:283). Wie laut ich spreche, wie weit ich dabei den Mund öffne, welches Foto mir gefällt, welche Speise ich bevorzuge, welche Sportart ich betreibe und selbst noch wen ich liebe - sie alle sind bei Bourdieu, der diese "habitualisierten" Alltagshandlungen wie allgemeinen Vorlieben oft akribisch beschreibt und entschlüsselt, Reflexe meines Habitus, Reflexe meiner Klassenposition in der Hierarchie, sind symbolische und symbolisierte Ausdrucksformen von distinktiven Marktanteilen. Kommunikation ist bei Bourdieu folglich Ausdruck inkorporierter Sprachkompetenz, wird zum "linguistischen Habitus" (1977, 1982b). Kommunikative Akte werden dabei gleichfalls zu Handelsgegenständen, zu sprachlichen Kapitalien, sind einem quasi-ökonomischen Marktcharakter unterworfen und unterliegen der Dynamik "linguistischer Märkte" als Ausdruck und im Rahmen der "Ökonomie praktischer Handlungen"21. Kommunikation erhält ihren jeweiligen Sinn und Wert - beides ist, wie schon vermerkt, bei Bourdieu untrennbar - in Bezug auf ihre symbolische Profitabilität (vgl. 4.1): "Der linguistische Habitus steht also dafür, daß wir zugleich mit dem Erwerb der Sprache den Kontext des Gebrauchs bestimmter Redeweisen erwerben, sowie einen Sinn für den Wert des eigenen linguistischen Produkts" (Bohn-Müller 1986:40). Dieser Perspektive ist hinzuzufügen, daß ebenfalls mit dem Gebrauch bestimmter "Redeweisen", also Stilen, dem Wie etwas gesagt wird, auch dem Was, den Inhalten unserer Äußerungen, immer wieder ein "legitimer" Sinn über ihren als legitim sanktionierten Wert (und umgekehrt) unterstellt wird. Hier wäre mit Bourdieu etwa folgende Frage zu stellen: Wie und wieso ist es möglich, daß das Gesagte sagbar ist, daß es so gesagt werden kann und darf und so verstanden wird, verstanden werden kann und soll? - Ich werde auf diese m.E. zentrale Fragestellung zurückkommen. Mit der Bourdieuschen Radikalität bietet sich m.E. ein Konzept der kompromißlosen Hereinnahme "höherer", nämlich klassen- und sozialisationsspezifischer Bedingungen auf der Ebene interpersonaler face-to-face Kommunikationen an. So z.B., wenn das nichtreziproke Wissen um die jeweils "angezeigten" Handlungsantizipationen und Inferenzen hinsichtlich dessen, was die Gesprächspartner gesellschaftlich - u.a. in Gestalt des Habitus - "mitbringen", bereits als konstitutive Bedingung auszuzeichnen ist. Und so ist sicherlich auch Bourdieu (1977:649*) zuzustimmen, wenn er somit postuliert: "Die Wissenschaft vom Diskurs muß die Bedingungen zur Kommunikationsetablierung in Rechnung stellen, weil die antizipierten Rezeptionsbedingungen Teil der Produktionsbedingungen sind." 21 "Le capital linguistique est le pouvoir sur Ics mccanismes de formation des prix linguisliques, le pouvoir de faire fonctionner a son profit Ics lois de formation des prix et de prclever la plus-value specifique. Tout acte d'interaction, toute communication linguislique. meme entrc deux personnes, cntre dcux copains, entrc un garc.on cl sä petite amic, toutes Ics interactions linguistiques sont des especcs de micro-marches qui restent toujours domines par les structures globales" (Bourdieu 1980:124).
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Aber die Bourdieusche Radikalität hat andererseits den Nachteil, "das Kind mit dem Bade auszuschütten": Seine eigene "Wissenschaft vom Diskurs" hat sich nie an Beispielen authentischer alltagssprachlicher Handlungen bewähren können, sondern blieb beschränkt auf generelle Analysen "legitimen Sprachgebrauchs" in Form einer Konfrontation elaborierter versus restringierter Stile etc. (Bourdieu 1977; 1982b). Wie jede Radikalität ist sie sich ab einem bestimmten Punkt selbst im Weg: In ihrer Stärke liegt auch zugleich ihre Schwäche, Denn: Der Habitus als Leib gewordene Gesellschaft macht Gesellschaft durch ihre handelnden Mitglieder sowohl sichtbar als auch allgegenwärtig: "Noch in den zufälligsten Interaktionen bringen die Interagierenden alle ihre Eigenschaften und Merkmale ein - und es ist die jeweilige Position innerhalb der sozialen Struktur (...), die die jeweilige Position im Rahmen der Interaktion determiniert" (Bourdieu 1982a:379). Aber genau diese Totalität ist auch fiktiv, muß sie doch noch das selbstreflexivste Über-seinen-eigenen-Schatten-Springen wie die kleinste unbewußte Handlung auf fundamentale gesellschaftliche (Klassen-)Gegensätze reduzieren - nur als bis zur Unkenntlichkeit verschleiert! Bohn-Müller (1986) hat mit ihrer Kritik am Habitus-Konzept Grenzen der Bourdieuschen Theorie aufgezeigt, da ihrer Meinung nach "hier die Interaktion zu einer Reproduktionsveranstaltung vorgängig fixierter Strukturen (gerät)" (ibid.:66). Aber vielleicht ist dieser hier vermutete "Totalitätsbegriff' von Gesellschaft-in-der-Person auch eine zu weitgehende Unterstellung, denn Bourdieu schreibt an anderer Stelle, daß "die ganze Wahrheit des kommunikativen Verhältnisses niemals vollständig im Diskurs gegenwärtig ist, und auch nicht in dem kommunikativen Verhältnis selbst" (1977:650*, meine Hervorhebg.). Oder an anderer Stelle: "In der Praxis, innerhalb eines jeweils besonderen Feldes sind inkorporierte (Einstellungen) wie objektivierte Merkmale der Akteure (ökonomische und kulturelle Güter) nicht alle gemeinsam und gleichzeitig effizient" (1982a:194). Und was genau heißt bei Bourdieu "einbringen" (aller Eigenschaften und Merkmale der Interagierenden)? Bringen die Interaktanten die Eigenschaften zunächst nur mit und bieten sie als Ressource dar? Oder sind sie quasi automatisch immer schon eine apriori determinierende Größe? Ist der Habitus als nur ein die Praxis determinierendes oder nicht vielmehr als ein die Praxis generierendes Prinzip zu betrachten? Denn unterstellt das Habitus-Konzept nicht zumindest noch dahingehend den rationalen Akteur, als daß dieser utilitaristisch um Marktanteile kämpft und "generative Prinzipien" im Rahmen seiner sozialen Verortung kreativ anzuwenden weiß? Wenn dem so ist, wie weit geht diese "Erzeugungskraft" - nur im Rahmen der bestimmten Klasse, oder auch grenzüberschreitend? Und inwieweit korreliert der "Distinktionszwang" - wenn auch marktbeschränkt - ebenfalls mit voluntativen Handlungsentwürfen? Diese Fragezeichen sind wichtig, da das qua Habitus "Mitgebrachte" damit auf der Symbolniederschlagsebene immer nur potentielle Ressourcen darstellt - aber keineswegs zwingende! Im Kern bietet ein Zugriff auf symbolvermittelte Gesellschaft mit sich widerstreitenden Ansätzen, wie sie Goffman und Bourdieu repräsentieren, wenigstens zwei miteinander verbundene Hauptschwierigkeiten: (a) Wie läßt sich der interaktionistische, face-to-face orientierte Zugang zu gesellschaftlicher Praxis mit einem (wenn auch nicht uneingeschränk-
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ten) strukturalistischen verbinden? Und (b) wie läßt sich eine Vorstellung des handelnden Subjekts aus der Perspektive Goffmans (und der Ethnomethodologen etc.) als (primär) Gesellschaft-in-der-Situation und die diese Situation "eigensinnig" konstituierenden Interaktanten verbinden mit der Vorstellung von "Subjektivität"(?) bei Bourdieu als (primär) Gesellschaft-in-der-Person? Ich kann diese Fragen hier nur stellen (und vermutlich nicht einmal richtig stellen); sie auch nur andeutungsweise zu beantworten, ist nicht Gegenstand dieser Arbeit. Vielleicht aber schimmert Verwertbares durch in meiner Rezeption dieser Ansätze in meinen Analysen der deutsch-türkischen Konversationen. Auf jeden Fall stellen die mit diesen Fragen aufgeworfenen Probleme eine Herausforderung für die Programmatik interaktionaler Soziolinguistik dar, der ich mich zumindest implizit stelle. Trotz der unterschiedlichen theoretischen Ausgangspositionen schließen Goffman und Bourdieu von zwei verschiedenen Enden in mehrfacher Hinsicht aneinander an. Nicht zufällig zelebriert der Ethnograph Bourdieu den Ethnographen Goffman als denjenigen, der "die Soziologie mit dem unendlich Kleinen bekannt machte, mit den Dingen, die die Objekt-losen Theoretiker und Konzept-losen Beobachter unfähig waren zu sehen und die unbemerkt blieben, da sie zu offensichtlich waren" (1983:112*). Bei Goffman begegnen uns einerseits Konzepte der Inkorporation von Verhalten und wird andererseits das gesamte Ausdrucksverhalten der Kommunikationspartner zur Informationsquelle, zu "Metaphern" inkorporierter Strukturen (der "körperlichen Hexis" gleich). (Vgl. hier besonders Goffmans Foto-Ethnographie über die Darstellung der Geschlechter in der Werbung (1981).) Auch in Goffmans "Rahmen"-Konzept als "Organisation der Erfahrung" der Interaktanten trifft sich vieles - wenn auch unspezifischer - mit dem Habitus (Goffman 1977:19): Habitus als eine Art "Super-Rahmung", vielleicht. Am meisten kommt es mir aber auf folgende Parallele an: Goffman wie Bourdieu unterstellen - in unterschiedlich extremer Weise - Militaristische Handlungs- bzw. Kommunikationsmotive als ein universelles Prinzip sozialer Praxis. Was bei Bourdieu wiederum ein alle Praxis durchdringendes Prinzip ist, beschränkt sich bei Goffman auf die kleinen situativen - aber aufsummiert durchaus großen - Gewinne und Verluste von Prestige und Image. Beiden Autoren, vor allem allerdings Bourdieu, ist interessanterweise auch die Kritik an der engen interaktionistischen Auffassung unmittelbaren lokal-kontingenten Symbolniederschlags eigen: Das in der Konversationsanalyse entwickelte und fruchtbar gemachte Konzept der konditionellen Relevanz, nämlich "daß auf eine Handlung eines bestimmten Typs eine andere Handlung eines korrespondierenden Typs zu folgen hat und an dieser Stelle erwartbar ist" (Kalimeyer & Schütze 1976:15), muß nun in genau dieser Hinsicht - lokale Korrespondenzen und Erwartbarkeiten - erweitert werden um die in die jeweilige Handlung miteingegangenen "selbstverständlichen Voraussetzungen" (Präsuppositionen) der "Bedingungen zur Kommunikationsetablierung", die vor allem mit Bourdieu eben immer auch machtdifferentieller Natur sind. Wie (und ob) Symboli-
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sierungen auf dieser Ebene wirksam werden, wie (und ob) sie auf diesem Niveau entschlüsselt und gedeutet werden, soll im zweiten Teil meiner empirischen Analysen gezeigt werden (vgl. Kap. 4f.).
Hymes wie Sacks, Goffman wie Bourdieu als auch die ändern genannten (und weitere, noch zu nennende) Autoren dienen mir im folgenden weniger als verpflichtende Leitansätze denn als Ideenspender. Trotz des hohen Stellenwerts, den Bourdieu beispielsweise in meinem Programm einnimmt, geht es mir nicht darum, speziell seinen Ansatz zu plausibilisieren. Sollten einige seiner abstrakten Theorieskelette anhand meiner empirischen Bemühungen dennoch hie und da Fleisch ansetzen, ist dies aber auch keineswegs nur als Zufall zu betrachten! Im Allgemeinen versuche ich aus ganz verschiedenen Quellen eine soziolinguistische "bricolage", will Bastler sein, ohne mich einer engeren Theorie verpflichtet zu fühlen, ohne Funde und Fantasien unter fixe Ismen zu subsumieren. Ist das Eklektizismus? - Mit einem Teil meiner Ausführungen werde ich das eine oder andere mal unvermeidlich neue Pfade betreten und folglich das "eine oder andere" in vielleicht gewagter Form deuten oder formulieren - dies nur als Warnung und präventive Entschuldigung! Forschungspraktische Minimalbedingungen Nach dem Versuch der Skizzierung eines methodologischen Paradigmas, in dem zu arbeiten wäre, sowie nach der kursorischen Darstellung der bewußt pointiert gezeichneten Theorierichtungen, die sich in der empirischen Praxis m.E. herausgeschält haben (1.2), gilt es nun, zum Abschluß der ersten beiden Kapitel, eine Art Forderungs- oder Bedingungs-katalog für einen sowohl theoretischen als auch method(olog)ischen Richtungsverweis im Sinne der Theorie und im Sinne eines Forschungsprogramms zur interaktionalen Soziolinguistik interkultureller Kommunikation (abgekürzt "Theorie zur interkulturellen Kommunikation") aufzustellen. Ich verbinde dies mit dem Anspruch oder eher mit der Hoffnung, daß dieser Katalog - einmal umgesetzt in die Forschungspraxis - in der Lage ist, zu einigen der Probleme, die ich mit den oben aufgeführten Ansätzen aufgeworfen habe, Lösungen anzubieten. Wenigstens die folgenden fünf "Minimalbedingungen" müssen m.E. berücksichtigt werden bzw. bewältigt werden können. (1) Eine Theorie zur interkulturellen Kommunikation muß face-to-face orientiert sein. (2) Sie muß sowohl den "rudimentären" Bereich formal-semantischer Kompetenz als auch den schwer "erlernbaren" Bereich der pragmatischen, konversationeilen und interpretativen Kompetenz miteinbeziehen.
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(3) Sie muß das Funktionieren bzw. die Bedingungen des Funktionieren der Kommunikation genauso untersuchen wie das Nicht-Funktionieren bzw. die Bedingungen des Nicht-Funktionierens. (4) Sie muß Code-bezogene wie Code-transzendierende Erklärungsmöglichkeiten liefern. (5) Sie muß Code-transzendierende Gründe sowohl als auf die außersprachliche "Wirklichkeit" rückführbar aufzeigen (im doppelten Sinne der "Rückführbarkeit"!) als auch im ethnomethodologischen Sinne interaktional interpretierbar machen (vgl. Garfinkels "accountability"). Sie muß sowohl die praktische "Hervorbringung" als auch die Reproduktion von Machtstrukturen als ihr - wie jeder Kommunikation - intrinsische Bedingungen aufzeigen können. Es scheint, daß dieser Katalog nicht nur zusammenfaßt und fordert, sondern er verlangt auch nach Klärung hier verwendeter, z.T. sehr problemschwangerer Begriffe, verlangt nach praktischer Exemplifizierung, nach einer dcmonstratio ad oculos. Insofern verweist der Katalog auch auf das, was im folgenden Teil meiner Arbeit kommen möge, soll und hoffentlich (gelingen) wird!
Als Eingangsmotti habe ich Pierre Bourdieu und Charles Taylor als "Lesehilfe" für dieses Kapitel zitiert. Es ist mir hoffentlich gelungen, die darin zum Ausdruck gebrachten Bedeutungen ersichtlich zu machen: Die Sprache wirkt durch die ganze soziale Person, aber erst mit der sozialen Praxis ist die Sprache Kommunikation, erst mit der Kommunikation dringt Gesellschaftsstruktur in die Sprache vor, wird das Individuum zur sozialen Person. Strukturen allein strukturieren noch nicht. Die soziale Person erst sorgt dafür.
In dem ab kommendem Kapitel folgenden empirisch-analytischen Teil werden mit den ersten drei Beispielen zunächst solche Schwerpunkte verfolgt, deren Relevanz für das soweit Gesagte noch zu beleuchten ist. Erst die darauf folgenden Analysen machen sich das Instrumentarium und die Problematisierungen, wie sie in diesem Kapitel erarbeitet wurden, im Sinne einer interaktionalen Soziolinguistik interkultureller Kommunikation zu eigen. Gleichzeitig und in Anlehnung an den hier entwickelten multimethodologischen Hintergrund demonstriert dieses Vorgehen das "Emporsteigen" von einer vorwiegend gesprächsanalytisch ausgerichteten Arbeitsperspektive zu einem genuin interaktionalsoziolinguistischen Analyseverfahren. Die Gründlichkeit dieses method(olog)ischen Versuchs erlaubt nur die exemplarische Exegese an wenigen Beispielen.
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Zuguterletzt: Inwieweit liest sich das interkulturelle Einstiegsbeispiel über den vermeintlichen Raubüberfall in einer ersten Rückschau noch genauso grotesk wie anfangs? Ich werde auf jeden Fall darauf zurückkommen.
3. Kapitel INTERKULTURELLE KOMMUNIKATION, KOMMUNIKATIVE KONFLIKTE UND "ZWEITBESTE MÖGLICHKEITEN" "Zweifellos gibt es eine Unmenge zweitbester Möglichkeiten, die vertretbar sind, wenn die besten versperrt sind." Erving Goffman 'Yes I get by with a little help from my friends." The Beatles Dem zum Abschluß des letzten Kapitels angeführten Forderungskatalog will ich nun sukzessive versuchen, gerecht zu werden. Punkt (1) wird allgemein mit der Analyse von Transkripten aus der face-to-face Kommunikation Genüge getan werden. Allerdings wird Goffman im nächsten Kapitel einiges zur Spezifizierung und Erweiterung der face-to-face Problematik beizutragen haben. Die Punkte (2) und (3) werde ich im vorliegenden Kapitel sozusagen "vorführen". Sie dienen mir in ihrer notwendigen "Beschränktheit" als Ausgangspunkt für die Einlösung der Forderungen (4) und (5). Im vorliegenden Kapitel geht es mir primär um zwei Dinge, nämlich (a) um die Möglichkeiten und die Reichweite Kommunikationscode-bedingter Reparaturen von kommunikativen Konflikten in der interkulturellen Kommunikation (3.1 und 3.2) und (b) um eine mögliche kommunikationstheoretische Fundierung dieser reparativen Kompetenz (3.3). Diesem Abschnitt kommt ein besonders tentativer Charakter zu, den es an anderer Stelle einmal tiefgehender zu plausibilisieren gilt. Die in 3.2 vorgeführten Analysebeispiele sind noch keine "genuinen" Analysen im Rahmen der im 2. Kapitel skizzierten Methodologie einer interaktionalen Soziolinguistik. Sie sind eher notwendige, "vorbereitende Bemerkungen" zu jenem Analyseniveau in Kap. 4f. Insofern mache ich also "Rückschritte", da die Analysen den verwendeten Kommunikationscodes weitgehend intrinsisch bleiben. Dieses Analyseniveau reicht hin für eine Plausibilisierung "funktionierender" wie "nicht-funktionierender" Kommunikationsvorgänge und der von den Beteiligten zur Anwendung gebrachten "erfolgreichen" wie "erfolglosen" konversationellen und pragmatischen Methoden. Inwieweit die so umstrittenen Kriterien von Erfolg und Mißerfolg oder Funktionieren und Nicht-Funktionieren hier greifen, soll an den Analysebeispielen selbst erfahrbar werden.
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Gerold Ungeheuer hat prägnant und zutreffend auf eine Eigenschaft sozialer Kommunikation verwiesen, die in ganz anderen - nämlich fehler- und gesprächsanalytischen - Zusammenhängen eine empirische Fundierung erhalten hat: "Zu jedem sozialen Kommunikationssystem gehören kontrakonfliktäre Kommunikationsmittel, mit denen kommunikativ entstehende Konflikte neutralisiert werden können" (Ungeheuer 1972:204). Erving Goffman hat dasselbe Phänomen in seiner ihm eigenen Weise so schön und passend formuliert, daß ich ihm damit sowohl Motto wie Überschrift dieses Kapitels gewidmet habe. Nochmal: "Zweifellos gibt es eine Unmenge zweitbester Möglichkeiten, die vertretbar sind, wenn die besten versperrt sind" (Goffman 1977:563). Da mir Goffmans Ausdrucksweise der "zweitbesten Möglichkeiten" besser gefällt als der Terminus "kontrakonfliktäre Mittel", möchte ich den hiermit verbundenen Aspekt meines Ansatzes die HYPOTHESE DER ZWEITBESTEN MÖGLICHKEITEN nennen. Sie gilt es im folgenden näher zu erläutern. Grob gesprochen, soll diese Hypothese auf der Grundlage aufbauen, daß das wie immer geartete "Nicht-Funktionieren" der Kommunikation immer bis zu einem gewissen Grade vereitelbar bzw. wo nicht, reparierbar und damit "neutralisierbar" ist. Bei den "zweitbesten Möglichkeiten" geht es allerdings zunächst nur um die eine "Hälfte" dessen, was reparierbar ist, nämlich um kooperative Reparaturen. Auf die andere "Hälfte", ihre unkooperativen Aspekte, werde ich erst in den nächsten Kapiteln eingehen. Konflikte und entsprechend kontrakonfliktive Mittel werden dort eine neue, "Code-transzendierende", Qualität erlangen.
3.1 KONTRAKONFLIKTIVE
VERFAHREN
Interkulturelle Kommunikationssituationen Das Spektrum der möglichen interkulturellen Kommunikationssituationen ist so breit, daß auch nicht annähernd so etwas wie eine Typologie der möglichen Varianten aufgestellt werden kann. Selbst bei einer Beschränkung auf meinen eigenen Untersuchungsgegenstand, Kommunikationen zwischen Deutschen und Türken, würde eine Typologie noch schwierig sein1. Ein typischer Ausschnitt aus diesem Spektrum wird m.E. durch folgende Voraussetzun1
Eine extreme Variante, die ich hier nennen möchte, ist sicherlich diejenige, in der sich Kommunikationsparteien gegenüber stehen, die gezwungen sind, sich in einer ihnen gemeinsam zu findenden Verkehrssprache flingua franca^ zu verständigen, die von keinem der Interaktanten Erstsprache ist. Eine Spielart dieser Variante impliziert, daß mangels gemeinsamer Ersatzsprachkenntnisse eine lingua franca 'zurecht-improvisiert' werden muß: Eine der klassischen Situationen, die über einen längeren Zeitraum bei der Entstehung von Pidgins mitverantwortlich zeichnet. Pidgin- und Kreolsprachen sind insofern auch Musterbeispiele des Resultats interkultureller Kommunikation. Unter dieser expliziten Fragestellung ist meines Wissens in der Pidgin- und Kreollinguistik noch nicht gearbeitet worden. Erste Ansätze bieten hier vielleicht Grimshaw 1971 und Hinnenkamp 1984. Der interaktionale Aspekt wird jedoch in vielen Arbeiten immer wieder gestreift.
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gen geprägt: Einerseits stehen sich in der Kommunikation zwischen Deutschen und Türken in der Bundesrepublik "native speaker" (NS) des Deutschen und "non-native speaker" (NNS) des Deutschen mit Türkisch (oder anderen in der Türkei gesprochenen Sprachen) als Erstsprache gegenüber, andererseits kann sozialisationsbedingt diese NS/NNS-Unterscheidung trotz der nationalen und/oder ethnischen Zugehörigkeit völlig irrelevant sein2, Die unterschiedlichen Deutschkenntnisse, die in der interkulturellen Kommunikation zwischen Deutschen und Türken "mitgebracht" werden, umfassen also auf der einen Seite den deutschen NS und auf der anderen Seite Sprecher aus dem breiten Spektrum der deutschen "Interimssprachen", angefangen bei den geringsten Rudimentärkenntnissen in der sogenannten Gastsprache bis hin zur perfekten Virtuosität in der Zweitsprache (und damit bis hin zu ihrer Verwendung als Erst- und folglich nicht mehr als Interimssprache!). Diese Differenzierung hinsichtlich der unterschiedlichen Sprachkompetenzen ist eine wichtige interkulturelle wie soziolinguistische Voraussetzung - und zwar keineswegs nur in formaler Hinsicht! Die NS/NNS-Unterscheidung bringt eine weitere wichtige Voraussetzung bzw. Einschränkung mit sich: Viele deutsch-türkische Kommunikationen sind auch als eine Konfrontation zwischen einem Sprecher der nationalen, "angestammten" etc. Mehrheitensprache und einem Sprecher der "eingewanderten" Minderheitensprache zu sehen. Die türkische Sprache ist mit ihren ca. 1,5 Millionen Sprechern mittlerweile zwar die größte Minderheitensprache in der Bundesrepublik, jedoch ist ihre "ethnolinguistische Vitalität" sehr eingeschränkt: Das Prestige ihrer Sprecher wie das der Sprache selbst ist immer noch relativ niedrig, die institutionelle Verankerung des Türkischen in der Mehrheitengesellschaft ist nahezu null, die bundesdeutsche Sprach- und Kulturpolitik läuft - entgegen vielen gegenteiligen Bekenntnissen und positiven Einzelversuchen - darauf hinaus, eine Entwicklung in Richtung Erhalt und Pflege zu verhindern; und selbst mit einer weitgehenden Unterstützung wären die Mechanismen der vorherrschenden gesellschaftlichen Integrationsideologie mit ihrer Akzentuierung von "guten Deutschkenntnissen" so stark, daß der Rang einer homogenen türkischen Minderheitensprache weiterhin abnehmen würde3. Folglich besteht bei jeder deutsch-türk2
Ich verwende hier den englischen Terminus "native speaker" bzw. "non-native speaker" mit Bauchschmerzen. Der Begriff "Muttersprache" bereitet mir allerdings noch viel mehr Bauchschmerzen. Gerade die Situation der hier groß werdenden Immigrantenkinder zeigt die paradoxen Implikationen dieses Begriffes. Die Sprache ihrer "Mutter" ist nicht unbedingt ihre Sprache, weil sie ihnen u.U. mit der "Muttermilch" deutscher Ammen eingeflößt worden ist. (Muß ich sagen, daß dies Ironie ist?) Gefährlich wird eine Begrifflichkeit dort, wo sie vereinfacht zu Gleichsetzungen führt wie "Muttersprache" = "soziokulturelle Identität", ergo: "Recht auf muttersprachliche Erziehung" etc. (vgl. die nächste Fußnote). Eine Problematisierung des Muttersprachbegriffs am Beispiel des London Jamaican versus dem Jamaican Creole bietet der schon erwähnte Sebba 1984b; die "Grazer Linguistische Studien" haben der Problematik eine ganze Ausgabe gewidmet (Heft 27). Vgl. hier insbesondere Muhr 1986 und Tabouret-Keller & LePage 1986.
3
Die in diesen Thesen enthaltenen Behauptungen können hier nicht weiter fundiert werden. Zur "ethnolinguistischen Vitalität" von Minderheitensprachen vgl. Giles, Bourhis & Taylor 1977; zur sprachpolitischen Problematik von Migranten siehe z.B. Skutnabb- Kangas 1982. Die Frage der
60 ischen Kommunikation im hiesigen Kontext rein äußerlich bereits ein starker "selbstverständlicher Anpassungsdruck", wer in wessen Sprache zu kommunizieren hat - eine sicherlich nicht zu unterschätzende "Bedingung zur Kommunikationsetablierung" (Bourdieu), in politischer und soziologischer Hinsicht, aber auch bezogen auf die linguistischen Rechte und Pflichten, wem welche Bürde der Verständigungssicherung in der Kommunikation auferlegt ist. In Anbetracht der oftmaligen Not für diejenigen, die gezwungen sind, in der Mehrheitensprache zu kommunizieren, ohne kompetent in ihr kommunizieren zu können, wäre das radikalste "kontrakonfliktive Mittel" die interkulturelle Kommunikationsverweigerung. Aber für die große Mehrheit gibt es die Möglichkeit der totalen Vermeidung nicht, sie brächte mindestens genausoviele Konflikte mit sich wie das Abenteuer des interkulturellen Kommunizierens selbst, so daß Reparaturen anderweitig vonnöten wären. Fast könnte man sagen: Unter den hiesigen Bedingungen deutsch-türkischer Kontaktnotwendigkeiten kann mannicht nicht interkulturell kommunizieren. Zugriff auf Wissen Die soweit genannten möglichen Einschränkungen deutsch-türkischer Kommunikation haben diese hauptsächlich auf das Verhältnis von Deutsch als Zweitsprache gegenüber Deutsch als Erstsprache bezogen und damit auch gleichzeitig allein linguistische Kompetenz(defizite) in der Zweitsprache in den Vordergrund gestellt. Aber neben möglichen Konflikten, die in der linguistischen Kompetenzdifferenz begründet liegen, sind auch noch Konflikte zu hypostasieren, die mit Wissensbereichen der Kommunikanten (wie dem kulturellen Wissen) korrelieren, die sich nicht unmittelbar in linguistisch zu beschreibenden Kategorien wiederfinden - zumindest nicht im engeren Sinne linguistischer Mittel. (Ich mache diese etwas unbeholfene Einschränkung, weil mir die Trennung in linguistische versus andere Wissensbereiche sehr künstlich und problematisch erscheint, denn machen sich nicht alle Wissensdifferenzen so oder so empirisch in irgendeiner Weise auf der symbolisierten, also auf einer sprachlichen und interaktionsstrukturellen Ebene fest?) Solche Wissensbereiche oder Wissenbestände beziehen sich auf Unterschiede des sog. Hintcrgrundwisscns der Kommunikationsparteien, wobei sie zunächst noch als um die interaktionale Realisationsgenese verkürzt dargestellt werden müssen (vgl. aber 3.3). Der für die Kommunikation notwendige gemeinsame Wissenshintergrund kann m.E. sinnvoll in folgende Struktureigenschaften zerlegt werden: das Wissen von (etwas; von dir; von dem, was du sprichst etc.), das Wissen über (etwas; über die Beschaffenheit, Eigenschaften der Dinge; über die Sprache etc.), das Wissen zu (etwas; zu der gemachten Äußerung etc.); weiterhin das Wissen, wie
Rolle und der Unterstützung von Migrantensprachen in der Bundesrepublik Deutschland - z.B. hinsichtlich der Bewahrung und/oder Herausbildung von "ethnischer" und "soziokultureller" Identität - hat zu einer heißen Debatte geführt, die Aufwind bekommen hat durch die Diskussion um das "Memorandum zum muttersprachlichen Unterricht" (vgl. dazu Deutsch lernen 4/83 Thema "Muttersprachlicher Unterricht" und BAGIV 1985).
61 (etwas beschaffen ist; wie etwas funktioniert; wie du das machst; wie das zu verstehen ist etc.) und schließlich das Wissen, daß (etwas so ist; daß es so zu deuten ist; daß du mich verstehst und ich dich verstehe etc.). Diese Wissensaufschlüsselung kann wiederum in generisches Wissen (von, über, zu etc. allgemeine(n) Kategorien, Typen etc.) bzw. integrativcs Wissen (über etc. die (Grund-Figur-)Zusammenhänge; die Herausbildung von Rahmen, Schemata etc.) und partikularistisches Wissen (von etc. individuellen Objekten, tokens etc.) unterteilt werden4. Bezogen auf die Problematik der interkulturellen Kommunikation fällt hier im Grunde genommen auch alles drunter, was die Kontrastive Pragmatik an kultureller Differenz bei der Realisation von Sprechakten hypostasiert, was sich praktisch z.B. in inkongruenten Kontextualisierungskonventionen, oder allgemeiner: in Verstehensdifferenzen und -defiziten niederschlagen kann. Verstehensdefizite schlagen deutlich die Brücke zu linguistischen Kompetenzunterschieden: Verstehe ich ein Wort nicht, kann ich auch u.U. den damit angesprochenen Ausschnitt von "Welt" nicht verstehen - selbst unter der Voraussetzung, daß wir ein gemeinsames Hintergrundwissen über jene "Welt" haben5. Wenn es mir im folgenden darum geht zu zeigen, wie kommunikative Konflikte aufgrund ungleicher linguistischer Kompetenz und anderer inkongruenter Wissensbereiche entstehen und wie diese Konflikte in der "unvermeidbaren" Kommunikation neutralisiert werden können, dann verstehe ich unter Konflikten in erster Linie solche, die lokal, im Verlaufe der aktualen face-to-face Kommunikation selbst, auf der Ebene der zum Einsatz gebrachten kommunikativen Mittel entstehen bzw. zum Ausdruck kommen, und die es folglich auch lokal zu neutralisieren gilt. Aber nicht alle kontrakonfliktiven Manöver sind lokal-kontingente "Reaktionen", sondern oftmals basieren sie auf verallgemeinerbarenlnteraktionserfahrungen oder auf persönlicher Interaktionsgeschichte und sind dann als prophylaktisch zur Anwendung gebrachte Mittel und Strategien zu betrachten. Kontrakonflikte Reaktionen auf lokal entstandene Probleme sind am leichtesten zu identifizieren, wenn sie als solche von allen beteiligten Kommunikationsparteien erkannt und behandelt werden. Schwieriger wird es, wenn der Konflikt für nur eine Kommunikationspartei besteht. In solchen Fällen stößt man konversationsanalytisch an Grenzen des Nachweises "lokaler Konstitution". Die "Vogelperspektive" des Analysanden ist schließlich ausschlaggebend im Falle der als prophylaktisch unterstellten "zweitbesten Methoden" - jedenfalls solange es keine lokalen Reaktionen auf den vermeintlich prophylaktischen Einsatz gibt (vgl. BEISPIEL 3).
4
Diese Aufschlüsselung von Wissen ist prinzipiell auf meinem "eigenen Mist gewachsen". Die Unterscheidung von "generischem" versus "partikularistischem Wissen" habe ich von Clark & Marshall 1981 übernommen. "Wissen, wie" und "Wissen, daß" ist nach Ryles (1969) Begriffen "knowing how" und "knowing that" (im Deutschen "Können" und "Wissen") geprägt.
5
Ich möchte hier nicht die in Kap.l problematisierte These rehabilitieren, daß erst jenseits rudimentären formal-propositionalen Verstehens kulturelle Unterschiede ausmachbar bzw. von Interesse seien, denn sie werden a) u.U. nur "linguistisch" überdeckt. Zudem bin ich b) der Überzeugung, daß auch im Umgang mit Verständniskrisen aufgrund linguistischer Defizite kulturelle Differenzen eine Rolle spielen können, etwa im Sinne dessen, wie beispielsweise mit einer Krise umgegangen wird; vgl. hier auch Gumperz' Argumente zur Verschlimmbesserung.
62
Kommunikationsstrategien zur Verständnissicherung Was ist nun unter kommunikativen Mitteln im Allgemeinen, was unter kontrakonfliktiven Mitteln im Besonderen zu verstehen? Kommunikative Mittel der sozialen Kommunikation umfassen hier zunächst grundsätzlich alle Mittel, die zum Einsatz kommen, damit die Verständigung funktioniert. Dabei setze ich - vorläufig - eine idealistische Kommunikationsauffassung im Sinne gelungener Verständigung voraus - wohlbemerkt aber nur aus momentaner "klinischer" Notwendigkeit. (Denn Verständigung hat im Anschluß an meine Einführung und späteren Analysen in der Tat "nur dann Wert", wenn sie auch tatsächlichen (symbolischen) Wert hat - allerdings nicht unbedingt für alle Beteiligten im gleichen Maße.) Kontrakonfliktive Mittel können konkret benannt werden. Es sind dies allgemein alle diejenigen Kommunikationsstrategien zur Verständnissicherung, die nötig sind, wo - wie geschildert - die Sprachkenntnisse und andere notwendige Wissensvoraussetzungen ungleich verteilt sind, und wo Verständigung dennoch als grundlegendes Ziel erreicht werden soll. Theoretisch steht hier ein nahezu unerschöpfliches Reservoir an "zweitbesten Möglichkeiten" zur Verfügung, d.h., wo die gewohnten, unhinterfragten besten Methoden der Verständigung nicht mehr selbstverständlich funktionieren, muß auf andere Verfahrensweisen zurückgegriffen werden, die für das jeweilige Kommunikationsziel (hier unterstellt: Verständigung) erfolgversprechender erscheinen. Die Ausschöpfung dieses Reservoirs ist sicherlich wiederum kein Vorrecht der interkulturellen Kommunikation, muß aber genau hier in einem viel stärkeren Maße ausgenutzt werden, um zum Ziel zu gelangen. Um zu veranschaulichen, welch eine Vielzahl von kontrakonfliktiven Mitteln, Methoden, Techniken und Strategien6 zur Anwendung kommt, zum Teil von Seiten des NS und zum Teil von Seiten des NNS, habe ich folgende Liste exemplarisch zusammengestellt. Sie hat aber mehr den Charakter, die potentielle Vielfalt zu illustrieren, denn erschöpfend zu sein. Die jeweiligen Oberkategorien sind ebenfalls nur mögliche SuperStrukturen. Durch jeweils neu zu variierende Kombinationen der einzelnen Strategien ergäben sich automatisch andere Oberkategorien. Viele Strategien sind zudem unter mehrere Oberkategorien subsumierbar.
Es ist natürlich nicht immer leicht, diese Begriffe voneinander zu unterscheiden. "Mittel" stehen prinzipiell zur Verfügung, z.B. aus der Grammatik der Sprache. Damit sind sie aber noch nicht intersubjektiv realisiert. Mit Hilfe von Techniken, Methoden und Strategien machen sich die Kommunikationsteilnehmer die Mittel in einer bestimmten Weise zu eigen. "Methoden" und "Techniken" werden eher im Sinne der ethnomethodologischen Konversationsanalyse verwandt und verweisen auf die Methodik, mithilfe derer sich die Kommunikanten wechselseitig den Handlungsrahmen systematisch und regelhaft verständlich machen. Den Begriff "Strategien" habe ich vor allem aus dem Bereich der "Pragmatik des Zweitsprachlernens" übernommen (vgl. dort Lernstrategien, Kommunikationsstrategien, Lehrstrategien etc.) Sie sind dabei allerdings keineswegs unmethodisch (vgl. K. Müller 1986). Alle Konzepte sind nicht eindeutig klar und abgrenzbar. Ein neutralerer Überbegriff wäre vielleicht "Verfahren(sweisen)".
63
Prosodische Kl arifizierungsstrategien wie * * * * *
deutliches, nicht-dialektales etc. langsames und lautes Sprechen allgemeine Kontrastzunahme intensivierte Intonationskonturen Pausen vor zentralen Topos-Wörtern eindeutige/übertriebene Markierung von turn-Übergabe-Punkten
Lexikalische und scmantische Klarifizierungsstrategien wie * * * * * * * * * * * *
Inhaltselemente-Präferenz vor Funktionselementen Schwache Ana- und Kataphorik Dekomposition von Wörtern Paraphrasieren Rephrasieren Wiederholung Vermeidung schwerer Wörter Definieren Synonymisieren Reformulieren Topikalisieren Faktorisieren
Morphologische/syntaktische De-Komplexifizierungsstrategien wie * Parataxe vor Hypotaxe * analytische Paraphrase * Simplifizierungen wie - logischer Operator vor Operandum - Entklammerung von Sätzen - Deflexion - starre Wortstellung, keine Inversion etc.
Rhetorische Kontroll- und Klarifizierungsstrategien wie * * * *
passe partout-Formeln Floskeln Standardrituale Rahmenpartikeln und -floskeln zur Begrenzung von Äußerung oder Topos
64
* Fragen/Antwort-Muster wie - Nachfragen - Entscheidungsfragen - Alternativfragen mit Antwortvorgaben - Kontrollfragen - Bestätigungsnachfragen - Verständlichkeitsrückfragen * Selbstbeantwortung von Fragen * Übernahme des Vorfolge-turn-Kerns * antizipierende Ergänzung * Zusammenfassungen
Propositionale Klarifizierungs- und Reduktionsstrategien wie * * * * * * * * *
Vermeidung konversationeller Implikaturen Informationsanpassung Themenvermeidung Thementoleranz Zeigefeldorientierung Fixierung auf begrenzte Anzahl von Topoi Übernahme falsch verstandener Topos-Nominierung Strenge Fixierung auf das Thema-Rhema-Schema Überdetermination etc. etc.
Die Liste ist lang, aber dennoch fortführbar. Sie umfaßt prosodische, lexikalische, morphologische und syntaktische Mittel bis hin zu textlinguistischen, rhetorischen, konversationeilen und pragmatischen Strategien. Als umfassendere Stichwörter wären zu nennen: input- und Output-Modifikationen, Simplifizierungs- und Klarifizierungsstrategien, Techniken der Gesprächskontrolle, Vermeidungs- und Bewältigungsverhalten, das trial-and-error Prinzip, Redundanz- und Transparenzzunahme etc. etc.7 Eine Unterscheidung nach NS und NNS habe ich nicht unternommen. Dennoch ist an der Bezeichnung der jeweiligen Kategorien mitunter ablesbar, ob es sich eher um NS- oder NNS- oder wechselseitig orientierte Strategien handelt. Ich gebe jedoch angesichts des deutlichen Übergewichts an NS-Strategien zu bedenken, daß dies zusammenhängt mit der NS-Ausgangskompetenz als ein eindeutigeres tertium comparationis im Vergleich zu den interimssprachlichen Kompetenzen der NNS.
7
Sinnvolle Literaturhinweise in diesem Zusammenhang mit Übersichten und weiterführenden Verweisen sind Knapp-Potthoff & Knapp 1982, vor allem Kap. 4.4; Hinnenkamp 1982a, Faerch & Kasper (Hgg.) 1983, Röche 1988 sowie - aktuell, gründlich, kritisch - die hervorragende Diskussion in K. Müller 1986. Unter anderer Fragestellung vgl. auch Auer 1988b.
65
Eine zweite Anmerkung ist wichtig: Viele der Strategien können, wie gesagt, apriori wie aposteriori hinsichtlich eines kommunikativen Konflikts, einer Störungsquelle, eines Fehlers etc. angewandt werden. Die aposteriori-Strategien entsprechen dem, was in der interaktionalen Fehleranalyse (Betten 1980, Ramge 1980), aber vor allem in der Konversationsanalyse (Shimanoff & Brunak 1977) typischerweise als Korrekturen und Reparaturen bezeichnet wird: "We define repair as an attempt to preempt, to eliminate and/or 'fix' the trouble source" (Shimanoff & Brunak 1977:123). Dieses kurze Zitat ist nur schwer übersetzbar. Das Ansinnen, Fehler und Konflikte zu eliminieren und wieder hinzubiegen, oder mit Gerold Ungeheuer zu "neutralisieren", ist einsichtig für eine erfolgreiche Verständigung. Das unübersetzbare Verb "to preempt" soll hier ungefähr heißen, "einen rechtzeitigen Anspruch auf etwas erheben; sich das Recht auf etwas sichern; eine Sache rechtzeitig in Beschlag nehmen". Dies bezieht sich nämlich auf das Verfahren der Selbstkorrektur oder noch genauer: der selbst-initiierten Selbstkorrektur (vgl. Schegloff, Jefferson & Sacks 1977). "Initiierung" meint hier, auf den Fehler oder den angerichteten Schaden aufmerksam zu machen. Im Rahmen von Reparaturstrategien kann ich andere korrigieren, den von anderen Leuten angerichteten Schaden reparieren, genauso wie ich von anderen korrigiert werden kann und wie der von mir angerichtete Schaden von anderen repariert werden kann. Ich kann aber auch den anderen vorauseilen und meine eigenen Fehler selbst korrigieren, möglichst noch bevor irgend jemand anderes Gelegenheit hatte, mich zu ertappen; ich kann somit rechtzeitig mein Reparaturrecht einklagen, es "präemptieren". Diese unterschiedlichen Strategien haben wichtige soziale Implikationen (siehe meine ausführliche Diskussion zum Reparaturphänomen in Kap. 4). Hier bleibt festzuhalten, daß viele der aufgelisteten Strategien Reparaturstrategien sind und von anderen oder von einem selbst initiiert und durchgeführt werden können. Allerdings hängt dies vom jeweiligen Grad der NS-Kontrollnotwendigkeit ab: je größer die Kompetenzunterschiede, desto stärker die fremdinitiierten Fremdkorrekturen von Seiten des NS gegenüber dem NNS. Soweit eine empirisch noch nicht belegte und bislang "unverbindliche" Auflistung "zweitbester Möglichkeiten". Im folgenden soll anhand zweier Beispiele gezeigt werden, wie weit apriorische (präventive, prophylaktische) und aposteriorische (korrektive, reparative) Verfahren (Strategien, Methoden) in der interkulturellen face-to-face Kommunikation zwischen deutschen NS und türkischen NNS zum Einsatz kommen, welche Funktion sie haben und welche Bedeutung ihnen als "kontrakonfliktive Mittel" im Rahmen der "vorbereitenden Bemerkungen" einer Methodologie zur interaktionalen Soziolinguistik interkultureller Kommunikation zuzuschreiben ist.
66
3.2 KONTRAKONFLIKTIVE KOMMUNIKATIONSMETHODEN IN DER INTERKULTURELLEN KOMMUNIKATION: ZWEI BEISPIELE 3.2.1 FAKTORISIEREN UND REKALIBRIEREN ALS PRINZIPIEN DER VERSTÄNDIGUNGSSICHERUNG Um wenigstens einen Teil der Mittel, Strategien und Methoden lebendig werden zu lassen, habe ich als Beispiel ein Transkript ausgewählt, an dem ich hoffe, einige typische Verfahrensweisen konfliktreduzierender interkultureller Kommunikation illustrieren zu können. Da es mir primär darauf ankommt, den jeweils interaktiven Aushandlungszusammenhang der Mittel- und Methodenanwendung aufzuzeigen, verzichte ich auf isolierte Belege aus anderen Kommunikationen, auch wenn dies zur Illustration nur vergleichsweise weniger Beispiele aus obigem Katalog führt. Mein Hauptanliegen ist nicht, kontrakonfliktive Verfahren nur als solche zu demonstrieren, sondern vielmehr ihre interaktionale Methodik und Logik als und für eine interkulturelle Verständigungsrationalität nachzuweisen. Die Komplexität einer Wegauskunft Bei folgendem Gespräch handelt es sich um die wortgetreue Vertextung einer Wegauskunft. Die Teilnehmer des Gesprächs sind ta, ein 22-jähriger türkischer Student, und P, ein deutscher Passant, so um die 60 Jahre alt. Ort ist die Einkaufszone einer westfälischen Großstadt, ta erfragt im Rahmen soziolinguistischer Feldforschungsübungen eines Universitätsseminars Wegauskünfte. Zu diesem Zweck verstellt er seine Sprachkenntnisse und mimt einen Sprecher mit nur geringfügigen Kenntnissen des Deutschen. BEISPIEL 1: TRANSKRIPT "WEGAUSKUNFT"8
01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17
ta: P: ta: P: ta: P: ta: P: ta: P: ta: P: ta: P: ta: P:
(räuspern) Entschuldig gen/gung) , ääh + ichhh ich wollen + ääh ++ j- ahm + Werther Straße SWerther Straße? SNein, Stapenhorst&Stapenhorststraße, ja ja ja ja ja EWo&wwie ich S- Studentenwohnheim oder wie? Ne ne ne ne nich Nee, nicht r Studentenwohnheim L Studentenwohnheim Ja, (h) w (h) zu Fuß oder mit Bus? M- mit Bus Mit Bus Ja Eh ja (h) (h) hier um die Ecke herum uhDaa
8 Vgl. Transkriptionserläuterungen im Anhang.
67 18 ta:
Ja
19
Hier links
20 21 22 23
P:
ta: hmh P: (schnell) Verstehn? ta: (kurz) Ja P: Links
24 ta:
Links
25 P: herum, jetzt gleich, nich 26 ta: hmh 27 P: und und da kommt nächste Ecke da is Bushaltestelle 28 ta: r Bu Bu Bushaltestelle
29 30 31 32 33 34 35 36 37
P: L
Bushaltestelle, ja ja und fahrn mitte + (h) kann- können Sie bissl lesen? ta: r Ja bi/z/chen bi/z/chen P: L Ja? Bißchen. Da steht an dem Bus steht dran + Wellensiek ta: WelleP: Wellensiek ta:r Wellensiek, ja P:L W^llensiek. In dfesn Bus einsteigen
38 ta:
Ja?
39 P: r Der fährt der fährt ääh Stapenhorststraße auf, ja 40 ta:L S- s41 Stapenhorsstraße 42
P: r Ja genau genau, nich
43 ta: L hmh 44 P: Wellensiek oder kann auch stehen + aufm Bus + Unwij^e_rs_ität 45 ta: r Universität 46 P: L 47 ta: hmh
tat, das is auch richtig
48 P: r Wellensiek oder Universität, ja 49 ta: L o- oder Universität, hm50
P:
In de*n einsteigen + und bis Stapenhorststraße- /(schnell) Is
51 52 ta:
das weit Stapenhorststraße wo-/ Is ziemlich lang mhmhm
53
Nich? (h) Wo wo de ä\issteigen mußt?
54 55 56 57 58
P:
ta: Stapenhorsstraße zweiensechzig ++ ich ich kenn ich kenn nicht P: (leise) Stapenhorststraße zweiunsechzig -H- ja das is ungefähr/ dann am besten den den den B- Busfahrer fragen, nich ta: hmh P: Ich nehme an, das is Haltestelle- + ääh + /(leise)
59
zweiunsechzig Stapenhorststraße zweiunsechzig das is
60 61
Haltestelle- + hm- na wie heißt die Straße? + + das is Station- eins_zwei/ + vielleicht drei Stationen
62 ta: r Drei Sch63 P: L Drei oder vier, nich
64 65 66 67 68 69 70
71
ta: r Drei oder- vier, ja P: L Drei oder vier, nich, Stationen ta: hmh P: Da muß dann irgendwo auch zwounsechzig sein ta: So P: r Ich denke vielleicht drei Stationen, nich ta: L hmh P:
72 ta:
Hier links-
&Hier links
68
73 74 75 76 77
P: r ta:L P: ta: P:
und gleich gleich unten links hält dann wieder der Bus, ne hmh Hundert Meter weiter, nich, da hält der Bus &Danke Bitte
Das Gespräch beginnt sogleich mit einem faux pas, nämlich der Verwechselung des zu erfragenden Ziels mit dem Ziel des Vorgängers, ebenfalls ein türkischer Student, der aber seinem wirklichen Deutschniveau entsprechend sprach und denselben Mann fünf Minuten zuvor um eine Auskunft gebeten hatte9. Inwieweit diese Inszenierung einen verzerrenden Einfluß bezüglich meiner Fragestellung mit sich bringt, muß offen bleiben. Ich glaube jedoch nicht, daß die Kommunikationsstrategien von P davon beeinflußt sind. Kommunikationssatrategien mit der ihr eigenen interaktionalen Logik bleiben es allemal. Auf jeden Fall wird die gesamte Initialsequenz des Gesprächs (bis Zeile 10) von der Klärung dieses "Mißverständnisses" bestimmt, führt aber schließlich zu einer "Renormalisierung", indem die normalen Schemata einer Wegauskunft im folgenden abgearbeitet werden. Das Haupthandlungsschema, das mit der Begegnung zwischen P und ta konstituiert wird, ist das einer Wegauskunft. Wegbeschreibungen wie ganze Wegauskunftsinteraktionen sind in der Linguistik, der Gesprächsanalyse und der kognitiven Psychologie keineswegs unerforschte Textsorten und Sprechereignisse (vgl. z.B. Schegloff 1972, Psathas & Kozloff 1976, Wunderlich 1978, Klein 1979). Wegauskünfte sind u.a. deswegen als Text- wie Interaktionssorte so populär, da sie in musterhafter Weise die Erforschung solch komplexer Probleme wie die Redeplanung hinsichtlich einer sehr spezifischen und umgrenzten Aufgabe ermöglichen, da sie Auskunft erteilen über "kognitive Karten", mit deren Hilfe wir die imaginären Räume durchwandern, und da sie die notwendigen Koordinierungstätigkeiten demonstrieren, die die diskrepanten aufgabenspezifischen Kompetenzen von Frager und Auskunfterteilendem unter einen Hut bringen. Ich werde hier nicht allzu sehr ins Detail gehen können, sondern unter der Fragestellung kontrakonfliktiver Kommunikationsmethoden nur einen Ausschnitt aus der Vielzahl der Aufgaben behandeln, die zwischen einem Ortskundigen und einem Ortsunkundigen, zwischen einem Sprachkompetenten und einem nur eingeschränkt Sprachkompetenten, zwischen einem Deutschen und einem Türken anfallen. Schritt für Schritt zum Ziel ... Wie bei jeder zentralen Aufgabe, fallen auch hier eine Anzahl von untergeordneten Aufgaben an, die jeweils wiederum neue untergeordnete Handlungsschemata konstituieren.
Ziel der Übung war es, Gründe für die Auslösung von Foreigner Talk zu finden als auch, sich mit soziolinguistischer Feldforschung vertraut zu machen. Der Vergleich der beiden Gespräche wird an anderer Stelle erfolgen. Für eine systematische variationslinguistische Untersuchung zum Gebrauch des Foreigner Talk ("Xenolekt") gegenüber Ausländern mit unterschiedlichen Deutschkenntnissen siehe Röche 1988.
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Mit jedem Schritt werden weitere Schemata im voraus expandierend oder reduzierend festgelegt. Anfallende Mindestanforderungen, denen P im vorliegenden Beispiel gerecht werden muß, sind m.E. folgende: (i) (ii) (iii)
Genaue Bestimmung des Ziels des Fragenden; Genaue Bestimmung des Fortbewegungsmittels, das zu diesem Ziel führt; Eruierung des Kenntnisgrades bzw. des Vorwissen des Fragers bzgl. der lokalen Gegebenheiten u.a. notwendiger Voraussetzungen; (iv) Eine Beschreibung, wie mithilfe von (ii) (und evtl. (iii)) zu (i) gelangt werden kann (iv-a) Die Beschreibung des (ersten) Teilziels (hier: Abfahrtsort) von (ii) (iv-b) Die Identifizierung von (ii) (iv-c) Die Identifizierung von (i) während der Fortbewegung. Diese Mindestanforderungen sind Forderungen zunächst an den Auskunfterteilenden. So könnte hier also auch noch eine Anzahl von Mindestanforderungen an den Frager selbst gerichtet werden, die zu gewährleisten hätten, daß es überhaupt zu (i) - (iv) kommen kann. Ich werde mich aber hier allein auf den obigen Forderungskatalog beschränken. Denn der Gefragte hat auf jeden Fall die Hauptlast der aktiven Kommunikationsanforderungen zu tragen. Die Mindestanforderungen sind mehr oder weniger allgemeiner Natur, schwanken jedoch je nach Schwierigkeitsgrad der Auskunft (Entfernung des Ziels etc.) bzw. je nach dem Wissen um mögliche Bezugspunkte (Grad der Ortsfremdheit etc.). Im vorliegenden Beispiel sind die Grenzen der Schemata bis auf (iii) relativ deutlich anhand des Textes nachzuzeichnen. Mit der Negativ-Identifizierung und Ratifizierung durch ta in den Zeilen 08/10 wird sogleich Schema (ii) initiiert (Zeilen 11-14). Mit deren Ratifizierung kann dann die Hauptarbeit (Schema iv) beginnen: Zunächst (a) (Zeilen 15-29a), nach einem Intermezzo zu den Wissensvoraussetzungen (Schema (iii), Zeilen 29c-32a) wird (iv-b) zweimal abgehandelt (Zeilen 32b-37a und 44-50a); es folgt dann Schema (iv-c) (Zeilen 50b-70), gefolgt von einer ausleitenden Zusammenfassung und dem rituellen Schluß. Schema (iii) wird, wie gesagt, weniger en bloc vollzogen, sondern meist - wo lokal notwendig eingeschoben, so neben dem "können Sie bissl lesen?" auch Zeile 50b ff. Begreift man nun auch Verstehensnachfragen wie in Zeile 21 als zum Schema (iii) gehörig, dann muß man schließlich die gesamte Strategie der Auskunftserteilung darunter fassen, wird doch der nächste Schritt immer erst wieder auf der abgesicherten Ebene notwendigen Voraussetzungswissens unternommen, die mit der Ratifizierung des vorherigen Schrittes bzw. der Summe der vorherigen Schritte erfolgt ist. Doch dazu weiter unten. Auf dieser Ebene bezieht sich die Erkundung auf zwei notwendige Wissensvoraussetzungen: auf die der Lokalität und auf die des linguistischen Verstehens. Die Durchführung des Handlungsschemas "Wegauskunft" muß unter den gegebenen Voraussetzungen der interkulturellen Kommunikation - neben den obigen Mindestanforderungen - auch noch Unwägbarkeiten hinsichtlich der notwendigen Verstehens- und Identifizierungs-
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leistungen von ta in Rechnung stellen. So kommen hier neben der Ortsunkundigkeit natürlich noch die offensichtlich beschränkten Deutschkenntnisse des Fragers hinzu. Weiterhin ist zu erwarten, daß mit jedem einzelnen Schritt neue, unerwartete kommunikative Aufgaben auf die Beteiligten zukommen, die gemanagt werden müssen. Einige dieser Schwierigkeiten liegen bereits in der Natur des Ziels und der geplanten Fortbewegungsweise dorthin: Es gibt nämlich die beiden Ausgangspunkte "der aktuelle Standort" und "Bushaltestelle", und die Identifizierung des Beförderungsmittels bietet die Alternativen "Wellensiek" oder "Universität" als Zielausweisung. Diese Identifizierung setzt wiederum bestimmte Kompetenzen auf Seiten des NNS voraus, die nicht von vornherein klar sind, z.B. ob er des Lesens (allgemein oder in der Fremdsprache) kundig ist. Jedes neue Teilschema bzw. die Übergänge von einem Teilschema zum nächsten bringen somit neue Konfliktpotentiale und damit neue lokale Aufgaben mit sich, die es zu lösen gilt. Aus Abkürzungsgründen erfolgt die weitere Darstellung des Gesprächs in Form einer Übersicht zu den konversationellen Schemata bzw. zu den mit ihnen verbundenen Aufgabenbewältigungen: BEISPIEL l': Zeile(n)
Schema/Unterschema
Ola
Rituelle Einleitung
Olb-10 (i) 07-10 (?iii)
Zielangabe Versuch der Spezifizierung der Zielangabe
11-14 (ii)
Identifizierung des Fortbewegungsmittels
15-29a (iv-a) 29b-70 (iv) (29b 29c-32a (iii) 32b-37a (iv-b) 37b-43 (iv) 44-50a (iv-b)' (50b 50c-54 (iii) 55-70 (iv-c)
Beschreibung des Wegs zum Teilziel Beschreibung des Wegs vom Teilziel zum Hauptziel Beschreibungsversuch der Fortbewegung: Abbruch) Eruierung des notwendigen Wissens Identifizierung des Fortbewegungsmittels Beschreibung des Wegs mit Fortbewegungsmittel in Richtung Ziel alternative Identifizierung des Beförderungsmittels Beschreibungsversuch der Zielangabe: Abbruch) Wiedererfragung von Zielspezifizierung Zielidentifizierungsmöglichkeiten
71-75 (iv-a)'
Rekapitulation des Wegs zum Teilziel
76-77
Ritueller Schluß
Kontra-konfliktive Verfahrensweisen, die hier von Seiten des NS zur Anwendung kommen, sind bei erster Inspektion natürlich vor allem Wiederholungen (z.B. die Sequenz Zeile 33-37), Reformulierungen in verknappter (Zeilen 15-17) oder expandierter (Zeile 19) Form,
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Ja/Nein-Fragen (z.B. Zeile 07) oder Rückversicherungsfragen (z.B. Zeile 21). In allen Fällen handelt es sich um Reaktionen des Sprachkompetenteren auf die Signalisierung von Nichtverstehen, Zweifel und Unsicherheit des NNS. Lokal auftauchende Probleme werden somit lokal gelöst. Darüberhinaus gibt es aber noch lokal wie großflächig angelegte Reparaturmaßnahmen, die sowohl reaktiv als auch präventiv funktionieren und zu so etwas wie einem didaktischmethodischen Leitprinzip des NS werden. Eine ganze Menge der in der obigen Liste aufgezählten Maßnahmen ließe sich da nennen. So das z.T. reduzierte Sprechtempo und damit einhergehende Hervorhebungen (z.B. Zeile 44), die deutlichen Markierungen von für ta bestimmte Informationen versus "Selbstrede" (z.B. Zeilen 55/56), sowie weitere, denen ich mich weiter unten noch en passant widmen werde. Eine dieser Maßnahmen, der ich mich zunächst zuwenden will, stellt das Faktorisierungs- oder Zerstückelungsverfahren dar, mit dem die zu verabreichende Information durchsichtiger gemacht werden soll. Angemerkt sei, daß dieses Prinzip für primär sachinformationsbezogene Kommunikationen, vor allem für Instruktionen - und die Wegauskunft fällt darunter - durchaus typisch ist. Allerdings können sich die jeweiligen Maßnahmen von Rezipient zu Rezipient unterscheiden. Der kompetente "native speaker", der um eine Wegauskunft bittet, ist ein anderer Rezipient als der "radebrechende" Ausländer; und ein "non-native speaker" mit guten Kenntnissen in der geforderten Sprache wird rezeptiv wiederum anders behandelt - jedenfalls solange die notwendigen Sprachkenntnisse (und nicht so etwas wie Kopftuch oder schwarzer Schnäuzer!) als kriterial fokussiert werden. P, der Auskunfterteilende im obigen Beispiel, behandelt ta beispielsweise als einen anderen Rezipienten als dessen (hier nicht wiedergegebenen) Vorgänger, der in "gutem Deutsch" eine vergleichbare Auskunft erfragte, aber dessen Fall ich hier nicht weiter dokumentieren möchte. Lokale Reaktionen auf Zweifel bzw. Unverständnis, die der Zuhörer signalisiert, sind z.B. in der Sequenz des Schemas (iv-a) schön zu verfolgen: Auf die Anweisung "...hier um die Ecke herum" folgt ein Verstehenszweifel andeutendes "uh-" (Zeilen 15/16), das umso bedeutsamer ist, als auf die vorherige Frage nach dem Beförderungsmittel mit einem klaren "Ja" geantwortet wurde. Die offensichtlich zu große Informationsportion, zudem bereits (reparaturprophylaktisch?)10 deiktisiert (für 1. links bis zur Ecke, 2. dann abbiegen), wird daraufhin zerlegt in zunächst "Daa" (Zeile 17) - natürlich demonstrativ mit Fingerzeig unterstützt - und dann expandierend wiederholt mit "Hier links" (Zeile 19) nachdem eine eindeutige "Ja"-Ratifizierung erfolgt ist. Nun aber erfolgt kein "ja", sondern ein mehr 'schwebendes', zumindest Unsicherheit ausdrückendes "hmh", was zur Rückversicherungsfrage "Verstehn?" (Zeile 21) und zu einem reduzierten Tempo führt. Der erste Schritt wird nochmals zerlegt in "Links", und erst nach tas Wiederholung mit "herum" spezifiziert, wieder doppelt abgesichert durch die Referenz auf die örtliche Nähe bzw. die Kürze des Zeitauf10 Zu den unterschiedlichen Funktionen von Reparaturprophylaxis und ihren Bedeutungen siehe Hinnenkamp 1987b.
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wandes, um dorthin zu gelangen: "jetzt gleich" (Zeile 25). Nach tas "hmh", diesmal weniger als unklare Rezeption gedeutet11, kann dann mit der Etappenidentifizierung angefangen werden, nämlich "Bushaltestelle" (Zeile 27). Die ratifikative Wiederholung bereitet ta offensichtlich arge Schwierigkeiten, so daß P nachhilft - aber es kommt ta schließlich doch noch vor P korrekt über die Lippen. Jetzt kann mit der nächsten Aufgabenbewältigung (die Identifizierung der korrekten Buslinie zum gewünschten Ziel) begonnen werden. Neben dem Zerstücklungsprinzip wird die Transparenz bei längeren Informationssequenzen "am Stück" aber auch noch gewährleistet durch die deutliche Herausstellung des inhaltlich relevantesten Teils, der an den Schluß und dem Zuhörer damit "kognitiv am nächsten" plaziert wird12. Beide beschriebenen Prinzipien kommen durchgängig im Text zur Anwendung. Die Schlußstellung des inhaltlichen Fokus kann zudem noch durch eine vorgeschaltete Mikropause zusätzlich markiert bzw. angekündigt werden, wie in Zeilen 32/33 "...steht dran + Wollensiek", wobei die zusätzliche Betonung dies noch unterstützt. Desgleichen mit dem nächsten Fokus: "...stehn + aufm Bus + Universität' (Zeile 44). Hier sind die Foki hierarchisch markiert, zum einen durch Pause und Stellung und zum ändern qua Pause, Stellung und rhythmischer Hervorhebung (vgl. auch Harding 1984). Das Faktorisierungsprinzip ist im Kleinen wie im Großen wirksam. Nicht nur werden die jeweiligen Teilinformationen zergliedert und wo nötig durch Korrekturanforderungen weiter zerlegt oder anderweitig ersetzt, sondern auch innerhalb eines Schemas werden komplexere Informationen "zerhackt", wie die Aufteilung der alternativen Buslinien, die in Richtung Ziel verkehren, indem nach der Ausweisung und Ratifizierung einer Möglichkeit die zweite Option angeführt wird, um sie dann - nach Bestätigung - wieder in eine Sequenz zusammenzuführen: "Wellensiek oder Universität" (Zeile 48). Das vorliegende Beispiel demonstriert m.E. in musterhafter Weise, wie weit der kompetente "native speaker" in der Lage ist, sich auf den Rezipienten einzustellen, und welche Mittel und Methoden ihm dabei zur Verfügung stehen. P versteht es, sich auf das Niveau des Fragers einzustimmen und anzupassen, ohne es ihm in der Sprachverwendung gleich zu tun, ihn vielmehr didaktisch und methodisch mit kleinen Schritten kommunikativ zu leiten.
11 In der Tat beruht die diesmalige Ratifizierung des "hmh" auf der Interaktionsgeschichte, hatte doch die "Verstehn?"-Rückfrage nach tas erstem "hmh" nur bestätigt, daß das Gesagte verstanden worden war. Insofern hat P etwas "dazugelernt". Desgleichen aber auch ta: In der Tat ist dieses "hmh" deutlicher intonatorisch als "ich verstehe" markiert, auch wenn der Unterschied zum ersten nur geringfügig ist. 12 Vgl. dazu die Ausführung in Röche 1988, der von "Vorgabe-Block" und "Fokus-Block" spricht: "Die fokussierten und damit zentralen Inhaltselemente... werden somit in Fokusposition gehoben" (nach Ms. S.92). Siehe weiterhin auch die Diskussion in K. Müller 1986, der diese und ähnliche Phänomene in den Zusammenhang von "Ikonismus" und "natürlicher Semantik" stellt.
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Exkurs. Drei "delikate" Stellen des Auskunfttranskripts seien an dieser Stelle und in diesem Zusammenhang kurz behandelt, da sie sich methodisch nicht in das dominierende Konzept eingliedern lassen: (a) die Verwendung der Infinitivform "Verstehn?" in Zeile 21, (b) die Frage "kann- können Sie bissl lesen?" (Zeilen 29/30) und (c) die Frage "Wo wo de aussteigen mußt?" (Zeile 53). "Delikat" deswegen, weil sich hier durch Infinitivgebrauch und pronominalen Anredewechsel von "Sie" zu "Du" eine Code-Alternation zum Foreigner Talk ankündigt und weil mit (b) eine Unterstellung des Analphabetentums impliziert werden kann. Interessanterweise werden diese drei Stellen in Universitätsseminaren von den Studierenden als erstes herausgepickt, als wäre damit die "engagierte" These von der Diskriminierung durch Foreigner Talk "so ohne weiteres" zu belegen13. Zu (a): "Verstehn?" als Rückfrage ist zum "Emblem" erstarrt (Hinnenkamp 1987b). Damit befreit es sich noch nicht von irgendeinem möglichen Makel. Es bleibt aber die einzige grammatisch overte Instanz für Simplifizierung im morphologischen Sinn und führt zu keinerlei weiteren kommunikativen wie interaktiven Konsequenzen, außer dem - gleichfalls echohaft - kurzen "Ja" in Zeile 22. Zu (b): Zunächst wird durch Selbstkorrektur die angefangene Flexion der 2. Person Singular des Modalverbs "ausgebügelt". Damit ist deutlich, daß sich P um die Anerkennung des Status von ta als erwachsener und respektabler Kommunikationspartner bemüht. Selbstinitiierte Selbstkorrekturen - und es gibt keinerlei Evidenz, die hier gegen diesen Typ spricht - sind nicht nur die sozial präferiertesten, wie uns Schegloff et al. (1977) lehren, sondern sie sind damit auch am stärksten selbst-reflexiv. Die Frage, ob ta denn ein "bissl lesen" könne, ist vor allem deswegen verdächtig, da sie nicht präzisiert, in welcher Sprache. Ist Deutsch gemeint, so ist die Frage instrumentell völlig berechtigt, ist rudimentäre Lesefähigkeit in Deutsch doch Voraussetzung für PS offensichtlich gewählte Option der Busidentifikation. Auch weiß P nichts um tas Nationalität oder Erstsprache, ob denn dessen Alphabet etwa dem unsrigen entspricht. Und weiterhin: Warum sollte der Frager überhaupt besser in der Fremdsprache lesen können als sprechen? Andererseits: Warum sollte die allgemeine Lesefähigkeit überhaupt gemeint sein? Möglich - aber sie wäre in diesem Kontext irrelevant. Wieder muß nach interaktionaler Evidenz für die nachfolgende Kommunikation Ausschau gehalten werden, die der Frage über den instrumentellen Charakter hinaus Funktion verleihen könnte: Ich habe keine gefunden. Schließlich zu (c): Zunächst ist das DU unbetont und enklitisch an WO gehängt und wird zum "wo de", wobei das "-e" einem Schwa-Wert entspricht. "Aussteigen" hingegen ist betont: daraufkommt es informativ nämlich an. Weiterhin muß es für den älteren Herrn schwierig sein, dem jungen Frager gegenüber das SIE durchzuhalten, wie wir oben gesehen haben. Auch ist die direkte Anrede wieder nur zweitbeste Möglichkeit, wenn die indirekte versagt:
13 Fast hätte auch hier die "Mode" obsiegt, sprachliche Oberflächenerscheinungen von vornherein mit einer eindeutigen Pragmatik gleichzusetzen - erscheint es doch so einleuchtend! Eine der ersten Untersuchungen zum Sprachverhalten der Deutschen gegenüber Arbeitsimmigranten stammt von den Soziologen Bodemann und Ostow, die mit ihrem Schluß, daß der Foreigner Talk der Deutschen allein Distanz-markierend ist, zur Popularisierung einen anti-diskriminatorischen common-sense maßgeblich beigetragen haben: "Dieser Code wird benutzt, um Verachtung auszudrücken und die Herabsetzung des ausländischen Arbeiters immer wieder zum Ausdruck zu bringen" (Bodemann & Ostow 1975:145). Falsch ist diese Hypothese natürlich nur in ihrer Kategorialität. Sie gab aber Anlaß für eine ganze Reihe von Folgeuntersuchungen, die diese Hypothese differenzierten. Vgl. Hinnenkamp 1982a und 1982b für eine Übersicht und Kritik.
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"Is das weit Stapenhorststraße wo-/" ist ein Abbruch, fortgeführt mit der Anrede-neutralen, als indirekte Frage zu verstehenden Aussage "is ziemlich lang" (Zeilen 50/51), die aber nicht als Frage ratifiziert wird, sondern von ta mit einem zweigipfligen "mhmhm" (Zeile 52) als Feststellung deutliche Bestätigung erfährt. Erst das nachträgliche Anhängsel "Mich?" unterstreicht den möglichen Fragecharakter. Und nun erfolgt die dyspräferierte direkte Anrede: Gedruckst "(h)" und verdoppelt "wo wo". Sie führt zum Erfolg: "Stapenhorsstraße zweiensechzig" (Zeile 54). Auch für den Rest der Auskunft wird der Anrede-Konflikt vermieden: "dann am besten den den den B- Busfahrer fragen, nich" (Zeile 56) oder "vielleicht drei Stationen" (Zeile 60/61) etc. Kurz, der pejorative Charakter der drei delikaten Anwärter läßt sich nicht belegen, interaktional werden sie nicht weiter verwertet. Natürliche Didaktik? Um mit dem Auskunftbeispiel zum Schluß zu kommen: Der alte Mann als "native Speaker", als Auskunfterteilender nimmt seine Aufgabe sehr genau wahr, indem er sich nach erster Einschätzung einerseits grob, und im Verlaufe der Konversation andererseits sehr fein, auf die Sprach- und Ortskenntnisse seines Rezipienten einläßt und diesen nach dem einfachen Additionsprinzip 1 + 1 = 2, 2+1=3 etc. bzw. 1 + 1 + 1=2+1=3 oder (1 + 1)+1 =3 leitet -je nach den gesprächslokalen Erfordernissen. P schreitet nicht eher mit der nächsten notwendigen Information fort, bis er sicher ist, daß ta den aktuellen Schritt nachvollzogen und verstanden, also ratifiziert hat - immer abgesichert mit Netz und doppeltem Boden. Folgendes Strategietableau wird dabei in je variierter Form angewandt, das ich anhand der Sequenz Zeile 32-37 exemplifizieren möchte: 32 33 34 35 36 37a 37b
P:
... Da steht an dem Bus steht dran + We'llensiek NEUE INFORMATION ta: WelleRATIFIZIERUNGSVERSUCH P: We'llensiek WIEDERHOLUNG ta: r We'llensiek, ja RATIFIZIERUNG P: L We'llensiek. RATIFIZIERUNG DER RATIFIZIERUNG In dfesn Bus einsteigen DANN ERST WIEDER NEUE INFORMATION
"Unterm Strich"(!) wird natürlich deutlich, daß hier das Prinzip der Zerstückelung als eine Art Demontage längerer Sequenzen oder Information konstruktivistisch gewendet worden ist. Oder besser: es ist zu einem neuen Prinzip emergiert. Zerstückelung wurde zu einem neuen, auf das Niveau des Rezipienten abgestimmten generativen Additionsprinzip. Allgemein gesprochen hat P sein kommunikatives Verhalten aus rezipientenspezifischen Gründen rekalibriert, hat "voluntativ" kontrakonfliktive Methoden angewandt - apriori, nachdem er eine ungefähre Einschätzung vom Frager und von dessen Kompetenzen hatte; aposteriori, wenn es um lokale "Schäden" ging; explizit, wo nachgefragt wurde; implizit, wo eingebettet in die Folgeäußerung korrekt wiederholt und zusammengefaßt wurde.
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Natürlich sind diese Verfahren nicht nur methodisch relevant, um die notwendige Sachinformation "rüberzubringen", sondern auch didaktisch. Der "non-native Speaker" ist potentiell immer auch Lerner (sofern er sich nicht bewußt ausgekoppelt hat) und kann auch immer als solcher behandelt werden. Dem Lerner zu weit vorauseilen, erschwert nicht nur die referentielle Vermittlung, sondern bietet auch keinen optimalen input; Voreiligkeit ist also ein schlechter Kandidat zur Ziel- oder Modellsprachenaufnahme, zum "intake", wie Corder (1978) es nennt14. Auch sich auf das u.U. niedrige Niveau des Lerners zu begeben, wie beispielsweise die Übernahme von Infinitivkonstruktionen, ist ungeeignet, weil es dem Lerner das korrekte intake-Modell raubt. P ist da ein guter Didakt: Er geht nicht nur mit kleinen Schritten voraus, sondern er forciert auch den korrekten intake. Wieder eine beispielhafte Sequenz:
29 P: (h) kann- können Sie bissl lesen? 30 ta:r Ja bi/z/chen bi/z/chen 31 P: L Ja? Bißchen.
Zwar wird die süddeutsche Variante, die P mit "bissl" anbietet, nicht übernommen, sondern ta "wiederholt" die norddeutsche Variante in "Gastarbeiterdeutsch'-Aussprache mit stimmhaftem "s" (phon. /z/) (und verrät so dem Kenner seine "show"). P, für ta Auskunftserteilender und "Lehrer" zugleich, korrigiert die norddeutsche Variante jedoch zum korrekten "bißchen", bevor er mit der neuen Information fortfährt, und berücksichtigt so bereits die vorhandenen Kenntnisse seines momentanen Schülers. Natürliche Didaktik? 15 - Getting by (and on) with a little help from a friend!
14 An dieser Stelle ist ein Hinweis zur Input-Forschung bzw. dazu, wie aus dem input intake wird, vonnöten. Der wohl prominenteste Vertreter der Input-Hypothese, nämlich zur Rolle des "native speaker" als Datenspender, ist Krashen (z.B. Krashen 1982,1985). Krashens Formel vom "optimalen input", i + l, weist Parallelen zu meinen algebraischen Metaphern im oben beschriebenen Beispiel auf. 15 Das Fragezeichen ist zu diesem Zeitpunkt noch mehr als notwendig, der Begriff der "natürlichen Didaktik" noch mehr ein Reizwort denn ein Konzept. "Natürliche Didaktik" ist jedenfalls nicht gleichzusetzen mit Verständigungsstrategien, obwohl letztere zu ersterer führen können (vgl. K. Müller 1986, Kap. 7 sowie Auer 1988b). Auch transzendiert die natürliche Didaktik nicht die kommunikative Kompetenz, sondern ist von dieser abhängig. Die kommunikative Kompetenz der Gesellschaftsmitglieder wiederum ist über grundlegende interaktionsnotwendige Gemeinsamkeiten hinaus keinesfalls gleich verteilt, stellt sie in ihrer anforderungsspezifischen Ausprägung und Qualität doch ein Teil des linguistischen und kulturellen Kapitals (Bourdieu) dar. Auch natürlichdidaktische Kompetenzen können das sein.
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3.2.2 GESPRÄCHSKONTROLLE UND DIE ILLUSION DER VERSTÄNDIGUNG Der obige Katalog kontrakonfliktärer Strategien muß vervollständigt werden um die Liste der "kognitiven Tricks", z.B. jener unversehener Täuschungen und Selbsttäuschungen, wie die Zuschreibung von Sinn, wo dieser aus einer Außenperspektive längst verloren scheint. Die verbale wie non-verbale Ratifizierungsarbeit während eines Gesprächs, die signalisiert, was man in der Hoffnung auf nachträgliche Plausibilisierung meint, verstanden zu haben, macht diese Verstehensillusionen aus. Dieser "prospektive wie retrospektive Ereignissinn" (Cicourel 1975:92) ist zunächst ein für alle Kommunikationen mehr oder weniger geltendes Toleranzprinzip des Verstehens bzw. der Verständigung, das nicht nur bis zu einem gewissen Grade ökonomisch ist, sondern vor allem auch Ausdruck interaktionaler Kompetenz bzw. Voraussetzung wechselseitiger Perspektivenübernahme ist (ibid.). In der interkulturellen Kommunikation ist dieses Toleranzprinzip - sofern "normale Maßstäbe" weiterhin gelten - im Falle "formaler" Verständigungsschwierigkeiten deutlich eingeschränkt. Scheint die formale Verständigung jedoch unproblematisch, können prospektive und retrospektive Inferenzen möglicherweise aufgrund ihrer Kultursensibilität scheitern (was im Rahmen des Gumperzschen Ansatzes nachzuweisen wäre). Als verblüffendste Strategie unter den "falschen" oder voreiligen Ratifizierungsmanövern erscheint mir diejenige, die den konversationeilen Fluß, also letztendlich einen formalen Rahmen, zum obersten Prinzip erhebt, unabhängig davon, ob Verständigung in propositionaler Hinsicht noch sicherzustellen ist, und unabhängig davon, ob der "gewollte" Sinn noch "einzuholen" ist. Ich spreche hier wohlbemerkt nicht von jenen Kommunikationsfunktionen primär "phatischer Kommunion", die sich mit den "unverbindlichen"(?) small-talks des Alltags herstellen und bei denen inhaltliche Aspekte nur Anlaß und Beiwerk sind, aber bei denen dennoch alle kooperativen Regeln inhaltlicher wie konversationeller Kohärenz strikt zur Anwendung gelangen. Brigitte Jordan und Nancy Fuller (1975:27*) beurteilen diese "rituelle" Aufrechterhaltung von Gespräch im folgenden Sinn: "...was schließlich als Gesprächsleistung herauskommt, besteht nicht mehr darin, Information zu vermitteln, sondern Einverständnis, Zusammenarbeit, Konsensfähigkeit und ein 'Schaut-her-wir-können-noch-miteinander-reden' zu zelebrieren." Die Funktionen, die diesen Kommunikationsstrategien zu Grunde liegen, transzendieren das Prinzip der Verständnissicherung. Sie verweisen damit zum einen auf pragmatisch-ökonomische Notwendigkeiten, daß nämlich nicht immer wieder an jedem zweifelhaften Punkt nachgehakt werden kann, oder daß zusätzliche Anstrengungen nicht wünschenswert und vielleicht auch nicht lohnenswert sind. Zum anderen verweisen sie aber auch auf den engen Zusammenhang von positiver Selbstdarstellung und formal-konversationeller Kontrolle und korrespondieren hier vielleicht mit dem - schon erwähnten - Phänomen der "Gesichtskontrolle" und "Imagepflege", jener heiklen Balance von Prestige, Eigennutz und Kooperativität - ein Aspekt, dessen Ausschöpfung ich mir für später vorbehalte (vgl. 3.3 und vor allem 4.1.3).
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Die "Meisterung" des Aneinandervorbeiredens Der folgende Ausschnitt aus einem Telefonat zwischen dem türkischen Arbeiter Nejmi (Nj) und seinem deutschen Meister (M) soll die Macht der konversationeilen Gestaltschließung und der Gesichtsverlust-vermeidenden konversationeilen Normalitätsvortäuschung als Strategie kooperationsorientierter interkultureller Kommunikation demonstrieren. Wer im einzelnen wie "täuscht" und inwieweit diese "Täuschungen" kontrakonfliktiv notwendig - und vielleicht auch kontraproduktiv! - sind, soll die Analyse zeigen. Grund für Nj, in seinem Betrieb anzurufen, ist die erneute Krankschreibung, nachdem er bereits für eine Weile krank geschrieben war. Er meldet sich also beim Meister seiner Abteilung, um ihm die Verlängerung mitzuteilen und sein voraussichtliches Wiedererscheinen am Arbeitsplatz anzukündigen. Es dauert eine ganze Zeit, bis sich Nj zu seiner Abteilung durchtelefoniert hat und der richtige Gesprächspartner am Apparat erscheint. Als M ans Telefon kommt (er wurde vorher im Hintergrund laut ausgerufen), fängt Nj sofort an: BEISPIEL 2: TRANSKRIPT "TELEFONAT MIT MEISTER"16
19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30
Nj: M: Nj: M: Nj: M: Nj: M: Nj:
Ja Willi (kurz) Ja Ich bin Nejmi Bitte? Ich bin Nejmi (emphatisch) Nejmi! Ja, Willi ich bin jeden Tag Arzt gehen, ne/ Was bist du? Ja, jeden Tag ich bin Arzt gehen. Meine Augen ganz dicke und rot M: Die Augen dick Nj: r Ja heute wieder ich Arzt gehen, Arzt wieder krank schreiben-
31
M:
32 33 34 35 36 37 38
M: Nj: M:
Hat dir die Frau einen aufs Auge gegeben? (h) Ja hier das is Augen Frau (h) Doktor Ach der Doktor, ich dachte deine Frau hat dir welche aufs Auge gegeben Nj: Jaja, das Doktor gehen, ne/ M: Mhm Nj: r Heute auch wieder gehen Kontroll gemacht, eh wieder krank
39
M:
40
Nj: r spre- schreiben und Mittwoch wieder auch gehen, ne\
41
M:
L
(
L
)
Mh
L
Ja
42 M: Hm- hast du irgendwo hingeguckt, wo du nich hingucken darfst? 43 Nj: r Jaaeh44 M: L Ins Schweiß- eh Schweißgerät oder was? Nein\
45 Nj:
Eh
16 Aus Platzgründen (der Analyse) gebe ich dieses Beispiel nur in seiner für diesen Zusammenhang wichtigsten Sequenz wieder. Für die Transkriptionskonventionen siehe wieder Erläuterungen im Anhang.
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46 M: r Schweißflamme nein haste nicht 47 Nj: L Ja, das Tivoli das direkt am Markt, das 48 zweite, ne/ 49
M:
Bitte?
50 Nj: 51
M:
52 Nj: 53
M:
Eh das andere Seite r Aha
L
Hauptstraße Aha
Nach der Klärungsfrage, wer da den Meister ans Telefon hat rufen lassen, geht Nj gleich in medias res. Zwar ist sein Einstieg nicht ä la "Hallo Willi... Ich ruf an, weil..." o.a. rituell eingebettet, aber dennoch ist Nj bemüht, seinem Vorgesetzten die heikle Nachricht der verlängerten Krankschreibung nicht unvorbereitet beizubringen. Hier besteht generell die Möglichkeit, den Kommunikationspartner dazu zu veranlassen, selbst mit einer "Einladung", also einer Art Aufforderung, zum entscheidenden Punkt zu kommen, etwa indem dieser eine entsprechende Frage stellt. Ergo beschreibt Nj zunächst sein bemühtes und pflichtbewußtes Konsultieren ärztlicher Hilfe (Zeile 25). M muß zum Verständnis rückfragen und macht sich die dabei soweit verstandene syntaktische Konstruktion zu eigen: "Was bist du?". Nj wiederholt in verkürzter Form, erweitert um die plastische Beschreibung seines Leidens, gleichzeitig begründend, warum er jeden Tag auf ärztliche Hilfe angewiesen ist. Sicherlich sind dies auch vorbereitende Bemühungen, auf die entscheidende Nachricht zu lenken: "Arzt wieder krank schreiben" (Zeile 30b) - eine Information, die sich in gewisser Weise in dem Moment für M andeutete, als er erkennt, wer ihn anruft. Die vorherige Wiederholung des zentralen Topos "dicke Augen" vom Meister signalisiert Nj - in vielleicht nicht ganz unironischer Weise - sein "Ich-kann-dir-nun-folgen" (Zeile 29). Mit der vorgeschalteten Situationsschilderung (dicke Augen, täglich zum Arzt) gewinnt Njs Anliegen, nämlich seinem Meister begreiflich zu machen, daß seine Krankschreibung verlängert wurde und er folglich noch nicht wieder zur Arbeit erscheinen kann, an Plausibilität. Bis hierhin (Zeile 30) konnte also scheinbar Verständigung erzielt werden - wenn auch die ironische Nuance von Ms Reaktion nicht angekommen sein mag, wenn auch der Meister auf Njs "Einladungs"köderungen nicht angebissen hat. Mit Ms scherzhafter und kumpelhafter - doch wohl rhetorisch gemeinter - Frage nach der Ursache für Njs Augenleiden, initiiert er nun einen Anschlußtopos (Zeile 32). Das Verstehen dieses neuen Topos verlangt aber ein Voraussetzungswissen, das Nj aktuell zumindest nicht zu teilen scheint bzw. er versteht den Topos einfach nicht. Dieses vorausgesetzte (präsupponierte) Wissen umfaßt, (a) daß damit zur Erfragung möglicher Ursachen des Leidens übergegangen wird; (b) daß mit "Frau, die dir einen aufs Auge gegeben hat" natürlich auf die Kategorie Ehefrau angespielt wird und nicht auf eine x-beliebige Frau; (c) daß die Frage die scherzhafte Unterstellung von Njs Schwäche gegenüber seiner Frau impliziert;
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(d) daß dies wiederum auf eine bestimmte Kategorisierung (von Männern) anspielt, unter die der Meister Nj subsumiert, und deren Zugehörigkeitsunterstellung mit der Beantwortung des wahren Krankheitsgrundes ausgeräumt werden muß. Die Frau, die Frau ... Der Sinn, den Nj unterstellt, basiert allerdings auf ganz anderen Kategorisierungen. Für ihn spricht die verstandene Personenbezeichnung "Frau" allerhöchstens das Phänomen "Augenärztin" an (Zeile 33). Dieses Mißverständnis ist m.E. auf verschiedene Ursachen zurückzuführen. So ist "jemandem einen aufs Auge geben" eine umgangssprachliche Ausdrucksweise, die Nj u.U. fremd ist. "Aufs Auge schlagen" wäre sicherlich unmißverständlicher als das wegen seiner Allgemeinheit höchst kontextsensitive Verb "geben". Auch ist die linguistische Referenzherstellung hier nicht eindeutig, da die definitive Charakterisierung "die Frau" keinen vorgängigen Bezug im bisherigen Gespräch hat, da keine "direkte linguistische Kopräsenz" vorhanden ist, sondern auf die außertextliche Welt der "Mitgliedschaftsgemeinschaft" Ehemänner und dem damit verbundenen 'Ehemännerleid' angespielt wird (vgl. Clark & Marshall 1981). Damit wird linguistisch wie propositional Njs Wissen bzw. das gemeinsam geteilte Hintergrundwissen überschätzt. Zeile 33 bietet mit der Wiederaufnahme von "Frau" aber auch Evidenz für ein Nichtverstehen des in Zeile 32 initiierten Themenwechsels von der "Krankschreibung" zur "Verursachung des Leidens". Insofern verletzt M jenen Aspekt der Griceschen Maxime der Art und Weise, den er als "Be orderly!" charakterisiert (Grice 1975; vgl. Fußnote 17). Übertragen auf den vorliegenden Fall, ließe sich mit Grice sagen: "Erarbeite einen Themenwechsel in geordneter Reihenfolge: sichere die Übergänge" oder "Initiiere nicht unvorbereitet einen Themenwechsel" etc. Da ich schon einmal mit Grice illustriere: Auf jeden Fall verletzt M aber auch die Relevanzmaxime. Nach Sperber & Wilson, die die Gricesche Relevanzmaxime zur einzig relevanten unter seinen Maximen erklärt haben, "versuchen sowohl Sprecher als auch Hörer, die es voneinander auch gar nicht anders erwarten, einem einzigen allgemeinen Standard bei der Erzeugung einer Äußerung zu entsprechen, und zwar dem Standard der Relevanz" (1982:72*). Relevanzen korrespondieren nach Sperber & Wilson a) mit den "stärksten kontextuellen Implikationen" und b) mit dem "geringsten kognitiven Aufwand". Für Nj ist m.E. der geringste kognitive Aufwand, einen Zusammenhang herzustellen zwischen seiner eigenen Vorgängeräußerung von Ms Antwort "...daß der Arzt, zu dem ich heute wieder gegangen bin, mich wieder krank geschrieben hat" und Ms Folgeäußerung in der zumindest "Frau" Anschlußfähigkeit verspricht. Allerdings wäre die - relevanzorientierte - kontextuelle Implikation, daß das Geschlecht des Augenarztes von Interesse ist, eher abwegig! - So ist diese Implikation wohl allerhöchstens als kotextuelle zu verstehen. Soweit spricht einiges an Augenschein dafür, daß die Frage als auch die Verwendung der linguistischen (lexikalischen) Mittel eine Kooperationsverletzung darstellen, daß M durch eine Fehleinschätzung des geteilten Hintergrundwissens und des sprachlichen Wissens das Mißverständis also "verantwortet". Dies ist aber nur die eine Seite. Obwohl die Motivation
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für Ms Frage und Toposinitiative in Zeile 32 im einzelnen nicht relevant sein mag, muß zu einer realistischen Einschätzung der Kooperativität berücksichtigt werden, daß diese Art von versuchtem Wechsel der Interaktionsmodalität in zweierlei Weise als typisch angesehen werden kann: Zum einen wird angespielt auf möglicherweise real existierende häusliche Machtverhältnisse, wo die Frau "das Sagen hat", und die im allgemeinen einen für Männerwelten bedrohlichen Charakter haben. Der (wort)spielerische Umgang mit dieser "Bedrohung", die - für jeden "richtigen" Mann auf jeden Fall zurückzuweisende - Unterstellung an andere, zu dieser Kategorie "schwacher Männer" zu gehören, ist damit immer auch Bestandteil eines patriarchalischen Verhaltens der Selbstrückversicherung und dient der Bestätigung einer androphatischen (Betriebs-)Gemeinschaft. Zum anderen reflektiert sich darin aber auch ein für das manuelle Arbeitsmilieu typischer Umgang mit Krankheiten, der durch Runterspielen und Euphemisierung charakterisiert ist, meistens indem darüber gewitzelt wird. Der Meister verbindet im folgenden die offensichtlich ganz falsche Antwort mit der Eigenbeantwortung seiner Frage, eingeleitet mit der Rahmenpartikel "ach", die die Neuerkenntnis ankündigt gegenüber der alten falsifizierten Auffassung: "ich dachte...", allerdings präzisiert durch die Spezifizierung "deine Frau" (Zeilen 34/35). Damit ist zumindest die für Nj nicht-eindeutige Referenz von "die Frau" korrigiert. Aber abgesehen von dieser Präzisierung, wird von M keinerlei Anstrengung unternommen, das Mißverständnis propositional zu klären. Selbstverständlich ist M zu unterstellen, daß er nicht aus Njs Antwort versteht, anstelle von "die Frau", nämlich Njs Frau, habe "der Doktor", die Augenärztin ihm "einen aufs Auge gegeben" (Zeile 34f.). Mit dieser Kombination entsteht nicht nur ein komisch-humoresker Effekt auf Kosten des Interaktionsunterlegenen - zumindest dann, wenn dieser ihn begreifen würde -, sondern der Beitrag eignet sich auch keineswegs zur Fortführung des Gesprächs, baut keinerlei eindeutige "konditionelle Relevanzen" auf, ist also auch in diesem Sinne wieder wenig kooperativ. Andererseits kann M im Moment der Fortführung unterstellt werden zu "wissen", daß er somit für Nj den Eindruck formaler Gesprächskooperation aufrechterhält, ihn eventuell damit auch kommunikativ entlastet. Insofern legt er so etwas wie ein strategisches Konversationswissen an den Tag. Nj macht unbeirrt weiter, und auch nach der eindeutigen Referenzherstellung begreift er den Sinn der Äußerungen noch nicht, schließt aber dennoch formal-kohärent an diese "witzige" Voräußerung mit "Jaja" an und greift erneut die für ihn allein Topos-gebundene Referenz "Doktor" auf (Zeile 36), indem er noch einmal ausführlich den Werdegang seiner Krankschreibung schildert (Zeile 38/40). Die Sequenz der Zeilen 32 bis 36 wirft auch ein Licht auf Njs Strategien, mit falsch-, teiloder nichtverstandenen Äußerungen umzugehen. In Zeile 33 werden allein die Nomen "Augen" und "Frau", in Zeile 36 allein "Doktor" - seine eigene Vorgabe - seligiert und damit in den für ihn wichtigen Handlungs- und Informationsrahmen kontextualisiert. Diese Sequenz wurde von M initiiert, der Nj damit auch um die Toposkontrolle brachte. In Zeile 36 ist Nj im Grunde genommen einen Schritt hinter seine Information in Zeile 30 zurückgefallen, wo er ja immerhin noch das Resultat des Artzbesuches genannt hatte, zu dem er nun
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erst wieder in einem zweiten Anlauf gelangt (Zeile 39f.). "Arzt" findet sich hier ersetzt durch "Doktor". Hängt diese Präferenz mit Ms "Ach der Doktor" zusammen? Ist das ganze damit eine Urndeutung Njs in Richtung "bestandener" Korrekturanweisung von M? Auf jeden Fall geht die Toposkontrolle nach Ms "mhm"-Ratifizierung an Nj zurück. Oder läßt M ihn nur "gewähren"? Wo der Grund des "dicken Auges" zu Hause ist ... Erst mit der Frage, ob das Augenleiden mit der Arbeit zusammenhänge, versucht M eine erneute Initiative, versucht er der Ursache erneut auf den Grund zu gehen (Zeile 42). Nj hat kaum ein zweifelndes "jaaeh" von sich gegeben, da stellt M schon eine konkretisierende Entscheidungsfrage bzgl. des "irgendwo hingeguckt" und beantwortet diese auch gleich selbst mit "nein" (Zeile 44). Njs "eh" (Zeile 45) faßt er eventuell als Wiederholungs- oder Präzisierungsaufforderung auf, der er mit der Nachfrage "Schweißflamme" nachkommt, die er gleichfalls aber im selben Atemzug selbst negativ beantwortet (Zeile 46). Nj unterstellt nun im folgenden einen Sinn, der auch für den Meister als "native speaker" nicht mehr aktuell nachvollziehbar ist, nämlich - wie sich erst später herausstellt - die Aufforderung, die genaue Lokalität der Augenarzt-Praxis zu erläutern (Zeile 47/48): Das zweite Haus neben dem Tivoli direkt am Markt gelegen, auf der gegenüberliegenden Seite der Hauptstraße (oder so ähnlich) (Zeilen 51/53). Wie Nj nach seiner Strategie des "Aus-den-verstandenen-Brocken-einen-Sinn-machen-und-die-Antwort- basteln" an dieser Stelle allerdings vorgegangen ist, muß wohl ein Geheimnis bleiben. Der einzige mögliche Kandidat für Njs Sinnschöpfung ist das zweimalig hintereinander verwendete und beidesmal betonte Richtungspräfix "hin-" in Zeile 42. "Schweißgerät" und "Schweißflamme" sind aus dem Arbeitsalltag als verstehbar zu unterstellende Nomen. Vielleicht weiß Nj auch aus Erfahrung um die Unmöglichkeit der erfolgreichen Verständigung - insbesondere dazu am Telefon -, und es geht ihm primär darum, sein Anliegen erst einmal "loszuwerden" und gleichzeitig aus Gründen des Respekts und der Höflichkeit das Gespräch fortzuführen - denn immerhin ist M ja sein Vorgesetzter, und Nj wird ihn die formale Gestalt und den Ablauf des Gesprächs bestimmen lassen wollen. (In der Tat ist es auch M, der schließlich die "Ausleitung" des Gesprächs einleitet.) Der Meister scheint hier allmählich zu begreifen, daß Nj heillos mißversteht. Folglich besteht er auch nicht auf eine Klärung, sondern ratifiziert er das Mißverständnis mit der "Ich habe begriffen"-Interjektion "aha" gleich zweimal (Zeilen 51/53). Der Topos "Ursache für Njs Augenleiden" wird nicht noch einmal aufgegriffen. Das Gespräch nimmt danach den normalen, rituell ausleitenden Verlauf: "Na is gut Nejmi, nich" (hier nicht mehr dokumentiert).
82 Gespräch als Reparatur-Spirale Im folgenden nun nochmal das ganze Gespräch übersetzt in seine grundlegende Sequenzstruktur, wobei propositionale Aspekte nur in Klammern stehen. Diese Struktur verdeutlicht noch einmal die Diskrepanz zwischen dem "erfolgreichen" Vollzug des konversationellen "Spiels" und der "mißglückten" Verständigung über die möglichen Ursachen des "dicken Auges":
BEISPIEL 2 ' : Formale Sequenzstruktur 19
Nj:
20 21 r 22 L 23 24
M: Bestätigung Nj: Vorstellung K M: Korrekturaufforderung (Bitte um Wiederholung) Nj: Entsprechung von 22 (Wiederholung) M: Ratifizierung von 21
(Adressaten-)Anfrage
25 Nj: Erklärung (Grund des Anrufs) r 26 K M: Korrekturaufforderung (Nachfrage) L 27/28 Nj: Entsprechung von 26 (Wiederholung) + Expansion (Grund) 29 M: Ratifizierung (Wiederholung des Kerns)
30 Nj: 31/32 M: 33 Nj: ->r34/35 M: 36
Nj:
->r37 38/40 39/41 42 43 ->r44
r 45 L 46 47/48 r 49 '-SO -+r51 52 ->r53
M: Nj: M: M: Nj:
25 + Expansion (Folge) Frage zu 27ff. (Ja/Nein-Frage; Kernreferenz "(Ehe-)Frau") *Antwort (falsche Referenzherstellung: Frau -» Augenärztin) Explizite Ratifizierung/Evaluierung v. 33 (Falsche Referenzübernahme als neue Kernreferenz, die mit richtigem Referenzargument (aus 32) verknüpft wird) *Ratifizierung (der Kernreferenz) von 34/35 (=Wiederholung von 25) Ratifizierungssignal Expansion von 36 (Spezifizierung) Ratifizierungssignale Frage (nach Ursache v. 27b/28) Antwortinitiative (zögernd)
M: Nachfrage zu 42 + Selbstbeantwortung
K Nj: Nichtratifizierung (Verlegenheitsvokalisierung) M: Spezifizierung zu 44 + Selbstbeantwortung Nj: *Antwort (falsche Referenz -> Ortsangabe (der Ärztin?)) K M: Korrekturaufforderung (Bitte um Wiederholung) N j: Entsprechung v. 49 (Rephrasierung der Ortsangabe) M: Ratifizierung von 50 Nj: Expansion von 50 (Spezifizierung) M: Ratifizierung von 52
Erklärung: K = explizite oder implizit verstandene Korrekturanweisung * = falsche Rezeption ->r = Reparatur bzw. kontrakonfliktive Strategie
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Ich differenziere hier im Sinne der Konversationsanalyse (vgl. Shimanoff & Brunak 1977) zwischen Reparatur und Korrektur. Reparaturen bilden den allgemeinen Überbegriff, Korrekturen gelten als Reparaturen bzw. Reparatureinforderungen von (normativ) Falschem zu (normativ) Richtigem. Korrekturen bilden dabei eigene Nebensequenzen, die sich aus dem Hauptaktivitätsstrom herauslösen und nach "getaner Arbeit" wieder dorthin zurückführen, nur kleinere Zwischenaufenthalte initiierend. Die mit "-»r" gekennzeichneten Reparaturen werden hingegen nicht beidseitig als solche ratifiziert, bilden keine eigenständigen Sequenzen, sondern führen den Hauptaktivitätsstrom unmittelbar weiter, wenn auch mitunter in ganz neue und überraschende Richtungen! Die Übersicht kann der wirklichen Spirale vom kommunikativen "Konflikt" und seiner "Behebung" jedoch kaum ganz gerecht werden: Nach jeder Reparaturleistung von M, wie die positive Sanktionierung der falschen Referenzherstellung in 33, wird unter der falschen, aber im Vorfolgeturn ja akzeptierten Prämisse weitergemacht. Dadurch wird die falsche Referenz zum neuen Standard erhoben und ist folglich kein Fehler mehr. In 34/35 wird allerdings noch die alte Referenz - qua Verknüpfung - aufrechterhalten und führt damit zur erneuten Fehlrezeption und folgender Akzeptierung in 37 - ein Versuch, der nach 47f. bzw. 50 fallen gelassen wird, vor allem nachdem sie durch eine als "Ich hab nicht verstanden, bitte noch einmal" zu lesende Korrekturaufforderung in gewisser Weise auch schon wieder positiv sanktioniert worden ist. Zumindest scheint Nj sie so zu verstehen und nicht als eine Aufforderung in Richtung "Ich hab wohl nicht recht verstanden, wovon redest du eigentlich?" o.a. Außerdem gibt es kaum noch eine Verknüpfungsmöglichkeit von alter und neuer Referenz, die noch Sinn machen würde (zumindest in einem humorigen Sinn), wie "Ach die Schweißflamme auf der ändern Seite?". Auch erhebt sich die Frage, wieviel von 47f. verstanden wurde oder inwieweit 50 überhaupt irgendeinen Sinn für M ergibt. - Im Grunde genommen kann nur in der sozialen Kommunikation in so "luxuriöser" Weise mit Reparablen umgegangen werden. Jede andere menschliche Aktivitätssphäre hätte unter den Folgen ständiger lokaler Umdeutungen - "wenn Sie meinen, es sei nicht der Blindarm, sondern die Mandeln, dann halt weg mit den Mandeln!" - massiv zu leiden. So wird das Gespräch für M und für Außenstehende (wie dem Leser) zu einer Art konversationellem "slapstick"! Interaktionsgeschichte Nun gibt es m.E. einsichtige (Hinter-)Gründe für diesen ständig "verschlimmbesserischen" Gesprächsverlauf. So stehen sich mit Nj und M keine Unbekannten gegenüber: Sie haben eine gemeinsame Kommunikationsgeschichte im Betrieb. Dem Meister ist hinsichtlich der üblichen Eile während der Arbeitszeit und mit dem Wissen um Njs Deutschkenntnisse sicherlich nicht an übermäßig vielen korrektiven Expansionen gelegen. (Drei initiiert er aber immerhin!) Hier bestimmen zeit- und sachökonomische Interessen bzw. Zwänge die Kommunikation. Desgleichen, wie bereits festgestellt, ist auch für Nj ein sachinformationsökonomischer Druck vorherrschend, den er so schnell und so wenig unangenehm wie möglich hinter sich bringen will. In Kombination mit seinem geringen kommunikativen Selbstver-
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trauen führt es auch dazu, daß er von sich aus keine verbalen Initiativen ergreift, Mißverständnisse zu klären. Was dabei herauskommt, erscheint dann wie ein kontinuierliches Aneinandervorbeireden. Für M ist es aber auch der Verzicht auf kommunikative Rechte, auf das Recht nämlich, verstanden zu werden und Fragen beantwortet zu bekommen. Paradoxerweise bleibt der Kommunikationsfluß dabei erhalten, funktioniert die Kontingenz von Fragestellung, Fragebeantwortung und ihrer Ratifizierung bzw. Evaluierung dennoch prächtig. Gleichwohl war an mehreren Stellen Verständnis von Seiten des "native speaker" - das ist deutlich nachvollziehbar - nur vorgetäuscht. Inwieweit Njs Antworten, z.B. in Zeile 33, als Täuschungen aus der Not des Antwortenwollens resultieren, oder inwieweit er wirklich meint, daß es die richtige Antwort auf eine richtig verstandene Frage sei, ist nicht zu ermitteln - und letztendlich auch unwichtig (denn es geht um das Wie und nicht um das Warum!') Auch hat M den Interaktionsunterlegenen nicht spüren lassen, daß dieser "Unsinn redet", und hat somit auf einer anderen Ebene kooperiert - wenn auch sicherlich mit aus Gründen eigennütziger Zeit- und Bequemlichkeitsinteressen. Auch wenn der wichtigste Teil der Informationsvermittlung - Verlängerung der Krankschreibung und damit der eventuelle Zeitpunkt der Rückkehr zum Arbeitsplatz - "rüberkommt" (bereits bis zur Zeile 30), so wurden doch immerhin andere wichtige Informationen vernachlässigt - und zwar genau diejenigen, die der Interaktionsüberlegene erfragt hat und auf deren Einlösung er zweimal verzichtete - wohl zugunsten der "Zelebrierung von Gespräch"? Auf jeden Fall eine "Feier" der Kommunikationspartner als sich gegenseitig sozial respektierende Mitglieder derselben Gemeinschaft, eine Feier allerdings, die primär in der Obhut des Interaktionsüberlegenen lag (und natürlich auch eine traurige Feier, die mit Gesprächsidealen nichts mehr zu tun hat!) - Doch vielleicht verpflichtet die erzwungene Kooperation im Arbeitsalltag auch zu jener fragwürdigen Kooperation im Gespräch. Aber längst nicht jede interkulturelle Kommunikation offenbart eine so weitgehende Ausschöpfung "zweitbester Möglichkeiten", nur um die "Feier" zu retten.
3.3 DIE KOMMUNIKATIONSTHEORETISCHE GRUNDLAGE DER "ZWEITBESTEN MÖGLICHKEITEN" Ob angewandt als systematisch "methodisch-didaktische" Verfahrensweise oder ob nur rituell "zelebriert" - das Funktionieren der Kommunikation wurde - mehr oder weniger schön -gewährleistet, der Interaktionsüberlegene griff zurück auf seine linguistische und sozial-kommunikative Kompetenz und machte den Kommunikationserfolg damit erst möglich. Sicherlich, der Begriff des Erfolgs ist hier recht dubios, denn was genau sind die Kriterien dafür? Bezogen auf welches Kommunikationsziel? Für welche der Kommunikationsparteien? Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind. Allgemein ist es zudem auch so, daß sehr viele Kommunikationen, die wir rein subjektiv als geglückt empfinden, strengen äußeren Analysekriterien - sofern es welche gäbe - nicht standhalten würden. Nehmen wir z.B. Situationen, wo Öffentlichkeit und Konkurrenz den Kommunikationsteilnehmern ein enormes Maß an Selbstdarstellung abverlangen, weil Nichtverstehen gleichgesetzt werden
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könnte mit Kompetenzdefiziten, und Gesichtsverlust die Folge wäre - es sind dies vermutlich weitaus mehr Situationen, als gemeinhin angenommen. So gibt m.E. eine wissenschaftliche Konferenz ein beredtes Zeugnis davon: Kaum einer oder eine der versammelten Wissenschaftler/innen hat die Breite des "versammelten" Fachwissens intus, dennoch erwecken nahezu alle Beiträge in einer Diskussion - ja selbst noch die vokalisierten wie non-verbalen Aufmerksamkeitsbekundungen - den Eindruck des Verstehens, des Partizipierens, des kompetenten Mitreden-könnens: für Außenstehende (wie für Beteiligte) eine Demonstration gelungener, erfolgreicher wissenschaftlicher Kommunikation. Was also macht den Erfolg? Es gibt viele und naheliegende Gründe für dieses Verhalten wie für diese Erfolgseinschätzung. Beispielsweise legitimiert schon das Wissen um die Möglichkeit der retrospektiven Sinnerschließung im alltäglichen Gespräch die - vermeintlich vorübergehenden - Täuschungen und Selbsttäuschungen. Allerdings können sie sich auch "verselbständigen", was heißt, daß sich der Sinn im Nachhinein nicht mehr einstellt. Aber dann kann man das Nicht-verstanden-haben nur noch schlecht reklamieren, denn man kann nicht jederzeit auf einen fahrenden Zug aufspringen. Der kooperative Eindruck, jedenfalls, ist erhalten geblieben. Es gibt viele Gründe, so scheint es, uns selbst und unsern Partnern diese Art von Kooperation schuldig zu sein; zumindest aber den kooperativen Eindruck zu bewahren! Wechselseitigkeit Woher aber, so müssen wir fragen, kommt die Fähigkeit, kontrakonfliktive Mittel zur Aufrechterhaltung der Kommunikation in einem - zudem oftmals bewußten - Maße einzusetzen, so daß es lokal wie prophylaktisch zu so weitgehenden Kompensations- und Reparaturleistungen kommt, wie oben beschrieben wurde? Die Antwort mutet vielleicht genauso trivial wie paradox an: Diese Fähigkeit basiert natürlich auf derselben Grundlage wie jegliche soziale Kommunikation überhaupt, nämlich auf der Herstellung von - zunächst ganz allgemeingesprochen -Wechselseitigkeit unter den Kommunikanten: der Fähigkeit zurwechselseitigen Perspektivenübemahme. "Der Sinn an sich", sagt George Herbert Mead, "das heißt der Gegenstand des Denkens, entsteht in der Erfahrung dadurch, daß sich der einzelne dazu anregt, die Haltung des anderen in seiner Reaktion auf das Objekt zu übernehmen. Sinn ist das, was anderen aufgezeigt werden kann, während es durch den gleichen Prozeß auch dem aufzeigenden Individuum aufgezeigt wird. Insoweit der einzelne ihn sich selbst in der Rolle des anderen aufzeigt, macht er sich dessen Perspektive zu eigen, und da er ihn dem anderen aus seiner eigenen Perspektive aufzeigt, das Aufgezeigte also identisch ist, muß es in verschiedenen Perspektiven auftreten können" (1968:129). Was Mead hier in allgemeinster Weise entwickelt hat, ist für viele Ansätze handlungsleitend geworden. Vor allem der symbolische Interaktionismus, die Ethnomethodologie, die Sprachphilosophie und die linguistische Pragmatik haben sich systematisch mit der empirischen Fundierung wie Operationalisierung der Wechselseitigkeits- bzw. Reziprozitätsannahme auf der sprachlichen Ebene beschäftigt (vgl. Kalimeyer & Schütze 1975).
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Die Frage der Realität, der Gültigkeit, der Notwendigkeit, des Umfangs, der Reichweite, und der Struktur von Reziprozität ist so weitgehend und komplex, daß ich hier aus Gründen der Einfachheit für meine eigene Fragestellung von der grundlegenden Gültigkeit der Reziprozitätsannahme ausgehen werde. Wichtig ist für mich zunächst folgendes: Die Reziprozitätsunterstellung basiert natürlich in zweifacher Hinsicht auf "geteiltem Wissen". Zum einen muß ich idealisierend davon ausgehen, daß abgesehen von allen Unterschieden zwischen Dir und Mir, unsere Perspektiven (hinsichtlich allem Möglichen) soweit gleich sind, daß sie für eine Verständigung ausreichen; wir müssen also von der Annahme einer wechselseitig hinreichenden Perspektivenübernahme ausgehen, müssen sozusagen um diese wissen (wozu auch Meads "generalisierter Andere" dient). Zum zweiten müssen wir um die Inhalte wissen, mit denen diese Perspektiven "gefüllt" sind, sowie um die Mittel, mit denen sie sich wechselseitig verständlich manifestieren bzw. mit denen wir sie uns symbolisieren (Meads "signifikante Symbole"). Wir müssen diese Symbole teilen und um die Gemeinsamkeit dieses Teilens wissen. Allgemein gesprochen: Wir müssen über ein gemeinsames Wissen verfügen. David Lewis (1975), auf den der Begriff des "gemeinsamen Wissens" (common knowledge) m.E. zurückgeht, hat dieses z.B. auf der Grundlage der "Konvention" zu klären versucht: Du und ich passen uns den Regularitäten unseres Sprachverhaltens gegenseitig an, wir erwarten diese Regularität voneinander, sorgen für ihre Stabilität, indem wir unsere gemeinsamen Interessen allen möglichen Veränderungen voranstellen. Stephen Schiffer (1972) hat im Rahmen logischer Fundierungsversuche einer Theorie der Bedeutung (meaning) den Begriff "mutual knowledge" geprägt. "Mutual" kann deutsch mit "gegenseitig, wechselseitig, beiderseitig; gemeinsam" (Cassells Wörterbuch 1968:322) wiedergegeben werden. Im Englischen bestehen sehr wohl feine Unterschiede zwischen "mutual" und "common":"... mutual always pertains to both partners. Common ... is applied to what is shared by each other of two or more persons or things, without implying any further relationship" (Heritage Dictionary 1969:866). Ausgeschrieben liest sich Schiffers Definition des wechselseitigen Wissens wie folgt (S.30f.): A weiß, daß p B weiß, daß p A weiß, daß B weiß, daß p B weiß, daß A weiß, daß p A weiß, daß B weiß, daß A weiß, daß p etc. ad infinitum. Einiges an allgemeinem Wissen, das die Kommunikationspartner theoretisch wechselseitig wissen müssen, damit ihnen Erfolg beschert ist, habe ich am Anfang des Kapitels schon aufgeführt. Diese Art der Aufgliederung ist dabei nur eine Alternative unter vielen Möglichkeiten. So gibt es für den jeweils zu untersuchenden Handlungsaspekt speziell zu definie-
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rende Wissensbestände, so wie sie Goodenough (1965) für "Kultur", Hymes (1972b) für "kommunikative Kompetenz" oder Clark & Marshall (1981) für "definitive Referenz" zu bestimmen versuchen. In meinem bisherigen Vorgehen stehen sich nun zwei Behauptungen gegenüber, die es zu kompatibilisieren gilt. Behauptung (i) spiegelt sich in den Ergebnissen meiner empirischen Analysen der BEISPIELE l und 2 wider, daß das - im einzelnen wie immer geartete Wissen in der interkulturellen Kommunikation untersuchten Typs unter den Kommunikationspartnern NS und NNS ungleich verteilt ist, diskrepant ist: NS weiß sich sprachlich besser auszudrücken, weiß Witze und Anspielungen auf die vermeintlich gemeinsame Männerwelt zu machen, weiß sprachliche Korrekturen und kommunikative Reparaturen durchzuführen, weiß NNS in kleinen Schritten voranzugehen etc. Dabei handelt es sich in dieser Allgemeinheit von grammatischen und kommunikativen Regeln zunächst eher um generisches Wissen. Das rein partikulare Wissen um erfragte Orte, die man kennt, bleibt unberücksichtigt. Behauptung (ii) beinhaltet, daß die Reziprozitätsannahme trotz (i) prinzipiell nicht nur nicht in Frage gestellt ist, sondern auch, daß mithilfe kontrakonfliktiver Verfahrensweisen die Wissensdiskrepanzen kompensiert werden können, letztendlich: bedrohte Reziprozität so ebenfalls repariert werden kann. Die mit diesen Behauptungen exemplarisch angesprochene Problematik knüpft an allgemeine Fragen zum Komplex des "gemeinsamen Wissens" etc. an. Nämlich: Wieviel davon ist notwendig, um erfolgreiche Kommunikation noch zu gewährleisten; wieweit kann es diskrepant sein? Gerd Fritz sagt: "Ein weitergehendes gemeinsames Wissen eröffnet... weitergehende Handlungsmöglichkeiten und verschließt andere" (1982:23). Welche und unter welchen Bedingungen? Kann man eine Schwelle benennen, Grenzen aufzeigen? Wieweit lassen sich Defizite prinzipiell noch kompensieren? Oder durch andere Gemeinsamkeiten ersetzen, wie Vertrauen, Notwendigkeit, Zwang? Inwieweit ist gemeinsames Wissen überhaupt eine conditio sine qua non von Wechselseitigkeit? Reichen nicht auch als "common ground" solche Gemeinsamkeiten hin wie gleiche kulturelle oder lebensweltliche Erfahrungen im Allgemeinen oder gleiche Beweggründe des Handelns im Besonderen? "Common ground" und Kooperationsprizipien Besonders an den letzten Aspekt gilt es mit Paul Grice (1975) anzuschließen: Gerade er hat jenen komplexen Katalog von wechselseitigen Wissensvoraussetzungen für die konversationelle Kommunikation in Form grundlegender wechselseitiger Vernunftsunterstellungen zum Zwecke bzw. beim kooperativen Handeln(s) zum "common ground" des "Kooperationsprinzips" und den daraus abgeleiteten "Konversationsmaximen" reduziert wie konkretisiert17.
17 Die Griceschen Maximen in Kürze: COOPERATIVE PRINCIPLE "Make your contribution such as is required, at the stage at which it occurs, by the accepted purpose or direction of the talk exchange in which you are engaged". Im einzelnen: (1) The maxim of QUANTITY: "1. Make
88 Der Zusammenhang von gemeinsamem Wissen oder "common ground" und dem Griceschen Kooperationsprinzip wird weithin diskutiert. Sperber & Wilson (1982) versuchen z.B. - wie schon erwähnt - das Kooperationsprinzip gänzlich auf eine neu formulierte Relevanzbedingung zu beschränken. Für die hier anstehende Problematik muß m.E. aber in eine andere Richtung gegangen werden. Peter Finke (1979) schlägt z.B. neben dem Kooperationsprinzip noch ein 'Toleranzprinzip" als grundlegende Bedingung sprachlichen Handelns vor. Dieses Prinzip ist hier insofern von Interesse, als es zumindest die Voraussetzung linguistischer Verschiedenheit zunächst noch nicht in Widerspruch zum kooperativen Handeln setzt, sondern vielmehr zum integralen Bestandteil der Kooperationserwartung erklärt. Das Prinzip gebe ich hier in reformulierter Weise wieder: "Jeder kompetente Sprecher/Hörer aus einer bestimmten Sprachgemeinschaft besitzt die Fähigkeit zur sprachlichen Toleranz in dem Sinne, daß es ihm - innerhalb eines gewissen Rahmens - möglich ist, sprachliche Handlungen anderer kompetenter Sprecher/Hörer zu verstehen, obwohl sie mit Mitteln unterschiedlicher Sprachsysteme ausgedrückt werden" (nach Finke 1979:158). Finke führt dazu aus, "daß ohne eine solche Fähigkeit und Bereitschaft zu sprachlicher Toleranz Kommunikation nur innerhalb vollständig homogener Sprachgemeinschaften möglich wäre, also z.B. innerhalb einer Wissenschaftlergemeinde" (ibid.). Aber wieweit führt das Toleranzprinzip, wenn "ein gewisser Rahmen" überschritten ist? Und inwieweit gilt "jeder kompetente Sprecher/Hörer" als je einzelsprachlich kompetent? Das Toleranzprinzip scheint mir eher eine weitere wichtige grundsätzliche Voraussetzung dafür zu sein, auch unter den erschwerten Bedingungen interkultureller Kommunikation, grundsätzlich dazu bereit zu sein zu verstehen. Führt diese grundlegende Voraussetzung etwa zu solchen Konversationsmaximen wie "Check for misunderstandings", wie Dascal (1977) vorschlägt? Den Konversationsmaximen kommt aber der Charakter eines "universal geltenden Bedingungssystems" zu (Kanngießer 1973:11), sie stellen grundsätzliche, apriorische Annahmen zur Kommunikation allgemein dar, und zwar "daß alle Sprecher-Hörer in einer bestimmten Art sprachlich handeln müssen: nämlich so, daß sie ihre Kommunikationsbedürfnisse befriedigen können, und das heißt: sie müssen sprachlich so handeln, daß sie verstanden werden können" (ibid.: 13). Nach Mißverständnissen Ausschau zu halten, widerspricht natürlich dieser Annahme, da Mißverständnisse ja nicht universell unterstellt werden können, sondern "kontingenter" (Kanngießer) Natur sind. M.E. bietet - in Anschluß an Kanngießers Zitat - vor allen anderen Maximen die Maxime der Art und Weise - und zwar in ihrer grundlegenden Form - einen Teil der notwendigen Gewähr für die Aufrechterhaltung der Reziprozität hinsichtlich der hier zu diskutierenden Problematik, nämlich "Be perspicuous!" (1975:46). Wie schon so oft im Laufe
your contribution as informative as is required (for the current purposes of the exchange). 2. Do not make your contribution more informative than is required." (2) The maxim of QUALITY "Try to make your contribution one that is true - 1. Do not say what you believe to be false. 2. Do not say that for which you lack adequate evidence". (3) The maxim of RELATION: "Be relevant". (4) The maxim of MANNER: "Be perspicuous. - 1. Avoid obscurity of expression. 2. Avoid ambiguity. 3. Be brief (avoid unnecessary prolixity). 4. Be orderly". (1975:46f.). - Der Satz, den Grice selbst den Maximen anschließt, sei hier ebenfalls zitiert: "And one might need others".
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dieser Diskussion, fühle ich mich wieder genötigt, für die Übersetzung ein Wörterbuch zu Rate zu ziehen, denn in den deutschen Übersetzungen und Rezeptionen findet man diese Aufforderung übersetzt mit "Sei klar!" und "Sprich klar!" - und m.E. damit klar verkürzt. Das Heritage Dictionary nennt für "perspicuous" die Reihenfolge "clearly expressed or presented; easy to understand; lucid" (1969:979). Diese Maxime lautet also in etwa: "Sei verstündlich in deiner Ausdrucksweise; sei leicht oder einfach zu verstehen!". Dieser Griceschen Maxime kommt im Falle interkultureller Kommunikation mit NS/NNS-Verständigungsschwierigkeiten als grundlegende Unterstellung ein besonders großes Gewicht zu, ihre Verletzung (wie auch die Verletzung der anderen Maximen) von Seiten des NNS hat dabei aber keinen Implikatur-Charakter, da diese/r unterstelltermaßen sich so sehr bemüht, wie's nur eben möglich ist. Implikaturen setzen nach Grice eine idealisierte Sprechsituation voraus (1975:50). Wenn man sich die BEISPIELE l und 2 nocheinmal anschaut, wird deutlich, daß sich zumindest P gegenüber ta primär von diesem Ziel der Verständlichkeit leiten läßt18. Aber M gegenüber Nj? Kooperativität - Sein und Schein Ich habe etwas weiter oben gesagt, daß die Ausschlachtung der Maxime der Art und Weise vor allen anderen Maximen nur teilweise die Gewähr für die Fortsetzung der Reziprozitätsunterstellung bietet. Denn die spezielle Art der Kooperationsaufrechterhaltung wie in BEISPIEL 2 findet sich m.E. nicht in den Griceschen Maximen aufgehoben. So muß das Kooperationsprinzip zum Zwecke des "Zelebrations"aspektes von diesem Gespräch - wie im übrigen von vielen, wenn nicht den meisten anderen Gesprächen auch - um eine weitere Maxime erweitert werden bzw. einer anderen Maxime als Spezialpunkt zugeordnet werden: "Erscheine kooperativ!", wobei die Betonung auf "erscheine!" (erwecke den Eindruck, daß; gib den Anschein, daß) liegt. (Ich glaube, daß sich dieser Vorschlag nicht mit Grice' eigenem Vorschlag "Be polite" (S.47) deckt.) Anzuschließen wäre hier nochmal an Kanngießers Interpretation, daß es um die Befriedigung der je eigenen Kommunikationsbedürfnisse geht. In Gewichtung der Griceschen Aussage "In any case, one feels that the talker who is irrelevant or obscure has primarily let down not his audience but himself (S.48f.) kommt Kanngießer zu dem Schluß, "daß in der Hörerbezogenheit der sprachlichen Praxis auch deren soziale Verbindlichkeit beschlossen ist" (Kanngießer 1973:14). Zu dem von Grice beschriebenen Selbsttor muß hinzugefügt werden, daß Irrelevanz und Dunkelheit im Ausdruck zwei unter anderen Möglichkeiten präsentieren, unkooperativ zu erscheinen. Goffman, den ich in den vorherigen Kapiteln genau wegen folgendem Aspekt hervorgehoben habe, hat immer und immer wieder hingewiesen auf den Zusammenhang zwischen eigennütziger Imagepflege des Selbst und dem Bestehen vor anderen; sich selbst gefallen ist immer auch den anderen
18 Daß es sich bei BEISPIEL l um keinen Einzelt'all handelt, muß nochmal ausdrücklich betont werden. Sowohl in meinem eigenen Datenkorpus, als auch in dem von Röche 1982 und Röche 1988 sind diese Verständlichkeits-Rekalihrierungen - zwar in unterschiedlich gelungenem Grade - häufig, um nicht zu sagen: sie überwiegen.
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gefallen; den Anschein der Kooperativät zu bewahren, heißt immer auch, sich selbst zu zeigen, daß man kooperativ ist (vgl. z.B. Goffman 1971). Das Selbst beweist sich so, wie Goffman mit der "Felicity's Condition" als "Definition der Felizitätsbedingung hinter allen anderen Felizitätsbedingungen" (1983b:27*) letztendlich aufzeigen will, als normal, als normales Gesellschaftsmitglied: "Felicity's Condition: to wit, any arrangement which leads us to judge an individual's verbal acts to be not a manifestation of strangeness" (ibid.). "Wir sind verpflichtet, während der verbalen Interaktion aufzuzeigen," so Goffman (ibid.*) weiter, "daß wir während der verbalen Interaktion bei Sinnen (sane) sind - ob durch das Management unserer eigenen Worte oder durch unser Zurschaustellen des Verständnisses der Worte der anderen." Die notwendige Relativität von Reziprozität Ich habe bis zu diesem Punkte hauptsächlich mit Grice argumentiert, obwohl - wie ich in Kap. 4 noch erläutern möchte - er mir letztendlich doch keine weitergehende Erklärungsperspektive eröffnet. Im Rahmen der Diskussion gemeinsamen bzw. wechselseitigen Wissens möchte ich noch auf einen anderen Aspekt zu dieser Problematik der Reziprozitätsaufrechterhaltung als Bedingung bzw. trotz der dünnen Basis für (kommunikative) Gemeinsamkeiten eingehen. Dieter Geulen (1982:66) stellt im Einführungstext zu dem Sammelband über "Perspektivenübernahme und soziales Handeln" fest, "daß auch die konfliktuöse Form der Interaktion notwendig die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme voraussetzt, vielleicht sogar in höherem Maße. Denn in kaum einer anderen Situation setzt man sich so gründlich mit der Orientierung eines anderen Subjekts auseinander und versucht, sein Handeln zu antizipieren, wie in einem Konflikt, und vielleicht sind manche dabei nur deshalb erfolgreich, weil sie die Operation der Perspektivenübernahme weitergehend und differenzierter beherrschen." Was Geulen da an "konfliktuösen Formen" allgemein anspricht, trifft auch - wie gezeigt - für viele interkulturelle Kommunikationen zu. Nicht nur muß in einem Gespräch an Ort und Stelle eine Rekalibrierung des bisherigen Vorgehens vorgenommen werden, sondern die sprachkompetenteren Kommunikationsbeteiligten wissen im allgemeinen nach relativ kurzer Zeit, manchmal schon kaum nachdem ihr Partner "den Mund geöffnet hat", wie dieser (hinsichtlich seiner Kommunikationskompetenz) einzuschätzen ist. Die erste flüchtige Einschätzung, um welche Art von Rezipienten es sich handelt, führt zu einer ersten Grobkalibrierung, die dann im Laufe des Gesprächs und schließlich der gemeinsamen "Interaktionsgeschichte" immer weiter verfeinert werden kann. Die BEISPIELE l und 2 legen gerade hinsichtlich der Kommunikationsgeschichte der involvierten Parteien dafür Zeugnis ab, Während P in dem Auskunftstranskript zunächst zu einer Einschätzung seines Partners gelangen muß - vielleicht am deutlichsten symbolisiert durch die "können Sie bissl lesen"Frage -, kann der Meister seinem türkischen Kollegen gegenüber bereits auf Kommunikationsgewohnheiten zurückgreifen, weiß er bereits grob um die Möglichkeiten der Verständigung und um das Maß an Effektivität der ihm zur Verfügung stehenden kontrakonfliktiven
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Mittel. Was ich nochmal herausstellen will: Ungleich verteiltes Wissen führt zu Verpflichtungen auf Seiten des Interaktionskompetenteren. Vor allem dieser hat die Bürde der Reziprozitätsbewahrung zu tragen. Vielleicht ein weiteres Paradox: Um die Reziprozität zumindest in einer Hinsicht - aufrechtzuerhalten, muß die Reziprozität - in anderer Hinsicht - verletzt werden: Um weiter miteinander sprechen zu können, um zumindest rudimentäre Verständigung zu erreichen und/oder um den Eindruck von Kooperativität aufrechtzuerhalten, muß der eine Kommunikationspartner, NS, wie P oder M, dem anderen Kommunikationspartner, NNS, wie ta oder Nj, unterstellen, daß er über kein gemeinsam mit ihm (dem NNS) geteiltes Wissen (in vielerlei entscheidender Hinsicht) verfügt, daß man die Perspektive des anderen nicht teilt. Oder doch? Die folgende "Formel" bringt m.E. zum Ausdruck, wie auch das Wissen um das Nichtwissen formal reziprok bleibt: NS weiß, daß p NNS weiß nicht, daß p NS weiß, daß NNS nicht weiß, daß p NNS weiß, daß NS weiß, daß p NS weiß, daß NNS weiß, daß NS weiß, daß p NNS weiß, daß NS weiß, daß NNS nicht weiß, daß p NS weiß, daß NNS weiß, daß NS weiß, daß NNS nicht weiß, daß p etc. ad infinitum. Hier stößt man allerdings auf gewaltige logische Schwierigkeiten. Nämlich, wie kann NNS wissen, daß NS etwas weiß, wenn er es selbst aber nicht weiß? Darauf ließe sich antworten, daß er dies genauso gut wissen kann, wie M. Polanyi beispielsweise das "implizite Wissen" eines Wissenschaftlers begründet, der seine Hypothesen genau auf dieses "implizite Wissen" um Begründetheit stützen muß, obwohl er ja noch nicht den Beweis für seine Wissensberechtigung hat! (vgl. Polanyi 1985). Im übrigen kann dieses Schema in folgender Hinsicht verändert werden: Das sehr absolutistisch formulierte Nichtwissen kann durch "teilweises Wissen" (pO,5) relativiert werden: NS weiß, daß p 1,0 NNS weiß, daß pO,5 NS weiß, daß NNS weiß, NNS weiß, daß NS weiß, NS weiß, daß NNS weiß, NNS weiß, daß NS weiß, NS weiß, daß NNS weiß, etc. ad infinitum.
daß pO,5 daß p 1,0 daß NS weiß, daß p l,o daß NNS weiß, daß pO,5 daß NS weiß, daß NNS weiß, daß pO,5
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Fazit: In der interkulturellen Kommunikation werden die idealisierenden Verständigungsunterstellungen modifiziert bzw. erweitert, ja, man kann vielleicht von einer Verschiebung der Reziprozitätsannahme bzw. der Wirksamkeit von Reziprozität, oder, was mir als Ausdruck am besten gefiele: von der Relativierung der Reziprozität ausgehen: Reziprozität liegt nicht mehr allein in der Unterstellung wechselseitig-gemeinsamen Wissens, beispielsweise über die Integration von grammatikalischen, semantischen, pragmatischen und interaktiven Regeln, sondern gleichfalls in der Unterstellung des partiellen wechselseitigen Nicht-Verstehens und der wechselseitigen Unkenntnis dieser Regeln, bzw. im wechselseitigen Wissen der jeweils nur eingeschränkten Verfügbarkeit über dieses Einzel- und Integrationswissen. Insofern also, daß ich weiß, daß der andere nicht in jeder Hinsicht meine Interaktionsnormen teilt und daß er weiß, daß ich nicht in jeder Hinsicht seine Interaktionsnormen teile; und weiter, daß ich weiß, daß der andere weiß, daß ich u.U. nicht alles über seine Interaktionsnormen weiß und der andere wiederum weiß, daß ich weiß, daß er weiß, daß ich u.U. nicht alles über seine Interaktionsnormen weiß etc., ist das Verhältnis der kommunizierenden Individuen weiterhin formal reziprok, ist Intersubjektivität auf einer abstrakten Ebene des wechselseitig unterstellten Nicht-Wissens oder Teilwissens wiederum abgesichert. Hinzu kommt weiterhin das wechselseitig unterstellte Wissen um die Fähigkeit, trotz reduzierter geteilter Interaktionsnormen, Ressourcen für deren Kompensation zur Verfügung zu haben: Eine notwendige Idealisierung, die den Aufwand miteinander in Verständigungsanstrengungen zu treten, überhaupt erst rechtfertigt. Soweit eine mehr als flüchtige und äußerst tentative Skizzierung meiner kommunikationstheoretischen Voraussetzung, die ich die Hypothese der REZIPROZITÄTSRELATIVITÄT IN DER INTERKULTURELLEN KOMMUNIKATION nennen möchte. Die Beziehung zwischen kontrakonfliktiven Verfahren und dem Konstrukt der Reziprozitätsrelativität kann man am besten in der Weise charakterisieren, daß man erstere als eine Art empirische Korrelate letzterer betrachtet. Daß dieser Nexus nicht unproblematisch ist, ist mir vollständig klar - er bildet aber zumindest eine Grundlage, um deren Rolle in der interkulturellen Kommunikation es sich u.U. lohnt zu streiten! Hyperkooperativität Interessanterweise kann nun sowohl das Prinzip des positiven Kooperationseindrucks verletzt werden als auch die Reziprozitätsrelativität fehlkalkuliert werden. Das folgende BEISPIEL 3, das nicht aus meinem eigenen Datenkorpus stammt, demonstriert dies m.E. in vorzüglicher Weise.19 Es handelt sich dabei um ein Pausengespräch am Arbeitsplatz in 19 Das Beispiel ist entnommen aus: K. Müller 1986 (S.528 bzw. 629). Die dortige Transkriptionweise ließ für meine Fragestellung einiges ungeklärt. Das Original stammt aus Desgranges 1982 (S.74f.), wo es wesentlich ausführlicher transkribiert ist. Diese Quelle war mir zunächst nicht zugänglich. Ilka Desgranges hat mir schließlich sogar die Tonband-Aufnahme zur Verfugung gestellt, aufgrund derer ich eine ganz neue Transkription anfertigen konnte, die von ihrer in einigen Punkten abweicht. Für ihre Unterstützung danke ich Ilka Desgranges. - Die drei unterschiedlichen
93 einer Fabrik zwischen ds, einem deutschen Studenten, und Tu, seinem türkischen Arbeitskollegen. Es sind auch noch weitere Anwesende identifizierbar (XI etc.), wobei nicht klar ist, ob es sich bei jedem derer Beiträge um fokussierte Gesprächsbeiträge handelt; unklar bleibt auch, ob es sich bei XI etc. um einen "Dritten" oder weitere "Dritte" handelt. BEISPIEL 3: TRANSKRIPT "KAFFTE-AUTOMAT"20
01 02 03 04 05 06 07
ds: Tu: ds:
Ich hab mir da unten im Automat Kaffee gezogen, ne/ &Ja In sonm Becher, ne\ (ca. l Sekunde Pause) Tu: (?Das nich gut) ds: Nee, das is Nesskaffee, wa/ Tu: r (bestätigend) Mhm
08 XI: L
Ja
09 ds: Ne'sskaffee, so mit Pulver und dann Wasser drüber, ne\ + nich, 10 kein richtiger Kaffee 11 X2: r (lautmalerisch für "lecker") Mranhhhtn 12 Tu: Jojo + ich weiß das, ich weiß das 13 X3: (?Für mich is das) 14 X4: 15 r
)
16 ds: Lschmeckt nich gut Soweit das Transkript des nur sekundenlangen Gesprächs zwischen ds und Tu. Es gibt nun zwei quer zueinander stehende Interpretationen dieses Beispiels. Die erste ist - und ihr folgt K. Müller (1986) -, daß es sich bei ds' Äußerungen jeweils um Selbstkorrekturen von einer Slang-gefärbten Sprache zu einer transparenteren Sprache mit Hilfe von Mitteln der "Natürlichen Semantik" handelt. Demnach werden Tüs Reaktionen (bzw. ausbleibende Reaktionen) soweit zu hören ist - von ds als Korrekturaufforderungen verstanden. Also hat sich ds der "Be perspicuous!"-Maxime sowie der "Erscheine kooperativ!"-Maxime folgend, korrigiert, also hat er sich die Annahme zu eigen gemacht, daß Tu seine (ds') Beschreibung in Zeile 01 nicht verstanden hat bzw. nicht über das notwendige Wissen verfügt hat, die Beschreibung (was ds soeben gemacht hat) zu verstehen, also hat er die Reziprozitätsunterstellung an diesem Punkt (und weiteren Punkten im Laufe des Gesprächs) relativiert. Das geht augenscheinlich für jede Sequenz bis Zeile 10 so weiter. Diese Interpretation ist zunächst deshalb völlig plausibel, da sie sich die Interpretationen von ds zu eigen macht. Spätestens in Zeile 12 wird aber ersichtlich (und deutlich hörbar), daß Tu diese Interpretation - und von hier hätte die andere Deutung auszugehen - vielleicht auch nicht teilt: "Jojo, ich weiß das, ich weiß das". Dabei ist natürlich offen, worauf und auf
Transkriptionsweisen zeigen ein weiteres mal, daß Transkripte immer schon Interpretationen sind. Objektive' Vertextungen gesprochener Sprache sind nicht möglich. Selbst Genauigkeitsgrade im Sinne von "wie genau" obliegen - zugegeben oder nicht - dem jeweiligen Analyseverfahren. 20 Für die Erläuterungen der Transkriptionsweise vgl. Anhang.
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wieviel von Ko- und Kontext das "das" sich bezieht? Daß es "kein richtiger Kaffee" ist (Zeile 10)? Daß es sich um 'Nescafe' handelt, "so mit Pulver und dann Wasser drüber" (Zeile 09)? Daß er (der Kaffee) "in sonm Becher" sich präsentiert (Zeile 03)? Oder daß er (Tu) gecheckt hat, daß sich ds "da unten im Automat Kaffee gezogen" hat (Zeile 01)? Den wohlriechenden Automatenkaffee im weißen Plastikbehältnis wohl vor sich habend (Zeile 06) "das is Nisskaffee"), der Welt dieser Köstlichkeiten als Fabrikarbeiter notgedrungen ja routinemäßig teilhaftig, erscheint es mir unplausibel, daß Tu gerade hier Transparenz einfordert. Zudem: sowohl aus Tüs schnell angeschlossenem "Ja" (Zeile 02) als auch aus seiner als "Das nich gut" zu verstehenden Antwort (Zeile 05) wird eine Transparenzeinforderung nicht ersichtlich, gleichfalls nicht aus seinem zweigipfligen, ratifizierenden "Mhm" in Zeile 07. Ein möglicher Kandidat für Transparenzeinforderung ist allerdings die nahezu einsekündige Schweigephase (Zeile 04) nach einem deutlich markierten Turn-Ende. Aber (er)fordert sie eine Reparatur? Die Festsstellung "In sonm Bacher, ne\" (Zeile 03) schafft keine "konditionelle Relevanz". Die finale Stimmsenkung läßt auf ein Äußerungsende schließen, nicht auf eine Zwischenratifizierung. Sofern sich Tüs "Das nich gut" auf den Kaffee bezieht, ist ds' Anschlußäußerung "Nee, das is ..." zudem wenig kohärent. Für eine Korrekturnotwendigkeit in Richtung "mehr Transparenz" fehlt m.E. die interaktive Evidenz. Tüs direkt-verbaler 'Eingriff "Jojo + ich weiß das, ich weiß das" kann natürlich dann auch heißen: Mache dich nicht überverständlich! Erscheine nicht zu kooperativ! Denn Hilfe anbieten, wo sie nicht gebraucht wird, unterstellt Hilfsbedürftigkeit, die aber gesichtsbedrohend sein kann - vor allem, wenn sie sich penetrant und hartnäckig offeriert. Rekalibrierung kann auch unangemessen sein, Korrekturen können auch hyperkorrekt sein. Auf die sozialen Implikationen für Unterstellte wie Untersteller wird in Kap. 4 noch einzugehen sein. Festzuhalten bleibt, daß die Überstrapazierung der Reziprozitätsrelativität und der Kooperationsbemühungen in ihrer artikulierten Unangemessenheit gleichzeitig nocheinmal ihre prinzipielle Gültigkeit unter Bedingungen der Angemessenheit unter Beweis stellt.
Schon fast obligatorisch ist am Ende eines jeden Kapitels der Blick zurück auf das Einstiegsbeispiel. Kann man hier vielleicht sagen, daß schon die äußerliche Diskrepanz, die äußere "deutliche Verschiedenheit" einen "common ground" für die alte Dame unmöglich machte? Die erwartbare, präferierte situativ-lokale Komplementarität der Wissensbestände wäre sehr viel "harmloser" ausgefallen; z.B. für den Ausländer: Einen bestimmten Ort aufsuchen wollen, dessen genaue Lokalität ihm nicht bekannt ist; jemanden sehen, den er als einheimisch und daher ortskundig wahrnimmt; sich an diesen Jemand wenden und die Auskunft erfragen; dabei zu wissen, daß dieser Jemand sieht oder sogleich hört, auf jeden Fall merkt, daß er ortsunkundig ist, daß er fremd ist, daß man sich auf ihn einstellen muß. Auf der anderen Seite die alte Dame, die jemanden auf sich zukommen sieht; sie merkt, daß dieser Jemand etwas von ihr will; angesichts der offensichtlichen Fremdheit (angenommen sie ist offensichtlich) kann sie antizipieren, was ein Ausländer am hellichten Tage in der Fußgängerzone
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möglicherweise von ihr will, jedenfalls kann sie erste Indizien deuten, daß sie als jemand, der offensichtlich nicht fremd aussieht, von jemandem angespochen wird, der offensichtlich fremd ist. Aber so ging es ja eben nicht! Bei der Dame wurde ein solches Wissensschema gar nicht erst "aufgerufen", sondern das der Straßenräuberei "initialisiert". Hier wurde das Recht auf Auskunft fehlinterpretiert - ein Recht, das in unserer Gesellschaft auch impliziert, unbekannte Menschen am hellichten Tag im Schütze der Öffentlichkeit ansprechen zu dürfen und damit in das "Territorium des Selbst" (Goffman) einer unbekannten Person vorübergehend einzudringen. Hier wurde somit auch die Pflicht um Hilfe, um Auskunft o.a., deren Erfüllung mit der unterstellten Interaktionsüberlegenheit antizipiert wird, verletzt. Die Asymmetrie der wechselseitig unterstellten Wissensbestände, das Meinen-zu-wissen der interaktionsüberlegenen alten Dame hatte eine Verfolgungsjagd durch die Fußgängerzone, das Aufgebot von vier Streifenwagen etc. und schließlich eine sicherlich unvergeßliche Erfahrung für den Ausländer zur Folge.
Bleibt mir zum Ende dieses Kapitels anzumerken, daß wenn für die Beteiligten Verständigung oder auch nur eine befriedigende Illusion der Verständigung anhand der in diesem Kapitel beschriebenen Techniken, Methoden und Strategien zustandekommt (wie in den BEISPIELEN l und 2), mir der Begriff der "zweitbesten Möglichkeiten" im Grunde genommen nicht mehr gerechtfertigt erscheint, denn stellen sie unter Maßgabe der Umstände dann nicht die besten ("erstbeste") Lösungen dar?
4. Kapitel INTERKULTURELLE KOMMUNIKATION UND DIE REPRODUKTION GESELLSCHAFTLICHER STRUKTUREN
"Auf jeden Fall überlege man einen kurzen Moment, was das Fragen da mit einem angestellt hat." Aron R. Bodenheimer "Ob wir uns nun mit Fremden einlassen oder mit Vertrauten - wir werden immerzu spüren bekommen, daß die Fingerspitzen der Gesellschaft unverblümt in die Begegnung hineinreichen, uns selbst hier noch auf unseren Platz verweisend." Erving Goffman
Manifeste Diskriminierung Im letzten Kapitel habe ich mich auf die Diskussion und Exemplifizierung meiner anfangs formulierten Hypothese eingelassen, mit der ich davon ausgegangen bin, daß jede Sprache über ein Reservoir an kontrakonfliktiven Mitteln verfügt, die bei kommunikationsbedingten Krisen in der Kommunikation ausgeschöpft werden können. Ich habe versucht zu zeigen, wie "zweitbeste Möglichkeiten" in "erstbeste" konvertiert werden, vor allem mit welchen kommunikativen Methoden des "native speaker" (NS) dies kontrakonfliktive "Können", gekoppelt mit bestimmten Arten des Wissens, mit einer "sozialen Kompetenz" und schließlich auch mit dem Wollen und Willen zur Verständigung, zum Erfolg oder zu dem scheinbaren Erfolg einer befriedigenden Verständigung führt. Ich habe damit gleichzeitig aufzeigen wollen, daß interkulturelle Verständigung auch unter großen Verständigungshindernissen grundsätzlich noch möglich ist. Daß unter der Voraussetzung "normaler" Kommunikationskompetenz der Beteiligten Verständigungsschwierigkeiten so weitgehend kompensiert werden können, wie an den BEISPIELEN l und 2 exemplifiziert, macht es aber umso erstaunlicher und umso hinterfragenswürdiger, wenn es dann zu keiner beidseitig befriedigenden Verständigung kommt, wie im folgenden kleinen Transkript, das ich Röche (1982:118f.) entnommen habe. (Die Transkription wurde meinen Konventionen angepaßt):
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BEISPIEL 4: TRANSKRIPT "HIER IS NIX TÜRKEI FAHREN" Szene: A ruft beim Bahnhof an, DB ist Auskunfterteilender. 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10
A: DB: A: DB: A: DB: A: DB: A: DB:
Gruß Gott. Ich Türkei fahren + was machen? (Verstört) Was? Türkei fahren. Was machen? Ah, nix Plan. Bitte? Hier is nix Türkei fahren. Und was machen? Was machen? Bitte? Ach geh!
Ich weiß über dieses Gespräch nur, daß es "gestellt" ist: A ist ein persischer Student, er will gar nicht in die Türkei, er will vielmehr für seinen Auftraggeber "Foreigner Talk" beim "native speaker" elizitieren. Das weiß DB natürlich nicht. Mir ist auch nicht bekannt, bei welchem Bahnhof A anruft: ein zentraler, ein kleiner Provinzbahnhof? Bei der Bahnhofsauskunft oder an anderer Stelle? Das Gespräch fängt natürlich auch nicht mit seinem eigentlichen Beginn an, denn A muß gewählt haben und DB muß sich gemeldet haben. Auch das Ende des Gesprächs ist offen: Legt DB den Hörer auf? Wie dem auch im einzelnen sei, DB kommt weder der Bitte um Auskunft nach, noch hält er sich an irgendeine Regel der Höflichkeit. Er spricht mit A in einer krassen Variante des Foreigner Talk, d.h. er simplifiziert seine Sprache in Richtung des radebrechenden Ausländers selbst (siehe Hinnenkamp 1982a und b, 1984; Röche 1982 und 1988): Er läßt Subjekt wie Verb aus (Zeile 04), verstümmelt bzw. verkürzt "nichts" zu "nix" und "Fahrplan" zu "Plan"; As Bitte um Wiederholung kommt er in expandierender und rephrasierender Weise nach, ist damit sogar im Vergleich zur ersten "Auskunft" recht explizit, gleichwohl mehr als ambig: Von hier aus, Bahnhof X ("hier") kann man/können Sie nicht in die Türkei fahren; bzw. von hier aus kann ich Ihnen nicht mit einer Auskunft behilflich sein, wie Sie in die Türkei fahren können ("is nix Türkei fahren"). Weniger ambig ist wohl die damit einhergehende "Auskunft", daß so oder so bei ihm keine weitere Auskunft zu holen sei! As Rückfrage (Zeile 07) ist insofern eine fast schmeichelnde Unterstellung, daß DB die Kooperation noch nicht aufgekündigt habe. "Was machen?" (Zeile 08) ist wohl als Nachäffung zu werten, denn selbst die Intonation ("?") läßt nicht auf eine "deskriptive" Wiederaufnahme im Sinne der Ratifikation schließen (vgl. Auer 1979) oder sich als eine an sich selbst weitergegebene Frage verstehen, was mit der expliziten Zurückweisung DBs "Ach geh!" nach der Bitte um Wiederholung, sich im Nachhinein zu bestätigen scheint. Die Aufsummierung von simplifizierter Sprechweise, Imitation, Auskunftsverweigerung sowie impliziter und schließlich expliziter kruder Zurückweisung der Person macht unzwei-
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deutig deutlich, daß es sich um Diskriminierung handelt, und zwar noch genauer, um die Diskriminierung des Kunden als Mitglied einer bestimmtem ethnischen und sozialen Kategorie, als Türke nämlich. Dafür spricht im einzelnen: (a) A gibt sich mit dem Inhalt seiner anfänglichen Frage und den "Gastarbeiterdeutsch"-Charakteristika als Türke zu erkennen; (b) DB verwendet Sprachformen, die er (immer unterstellt, er kann auch "normales" Deutsch sprechen!) deutschen Kunden, Auskunfterfragenden etc. gegenüber wohl nicht gebrauchen würde; (c) DB benutzt speziell diejenigen Sprachformen, die innerhalb der deutschen Sprachgemeinschaft bestimmten Kategorien von Ausländern und Sprachlernern vorbehalten sind und die im common-sense als anpassende Imitation aufgefaßt werden; diese Sprachmimesis wird besonders krass deutlich, als DB A nachäfft; (d) DB verwendet die simplifizierten Sprachformen nicht, um der Maxime zu folgen "Drücke dich verständlich aus!" (vgl. 3.3), um sich auf A "einzustellen", sondern er drückt sich vielmehr verkürzt, unpräzise und zweideutig aus, und zwar, um unkooperativ zu erscheinen, wohl spekulierend, daß A weiß, daß DB dies als Zurückweisung meint. - Soweit eine kleine Demonstration offensichtlicher Diskriminierung durch den offensichtlichen Einsatz von Mitteln und Methoden, die in ihrer Rolle als "zweitbeste Möglichkeiten" genau das Gegenteil bewirken können, nämlich Verständigung und Kooperation, und nicht Zurückweisung und Diskriminierung. Wenn aber die "zweitbesten Möglichkeiten" gar nicht ausgeschöpft werden, wo es nötig wäre, oder unnotwendigerweise (und gar nicht mehr als "bester" Ersatz!) ausgeschöpft werden, wie in BEISPIEL 4, oder "über-notwendig" ausgeschöpft werden, wie in BEISPIEL 3, kann dies sicherlich auch aus Gründen sozial-kommunikativer Inkompetenz geschehen, d.h., man ist z.B. nicht in der Lage, die "rituelle Ordnung" der Interaktion (Goffman 1955, 1971) kompetent mitzutragen. Aber Inkompetenz ist hier ja definitiv nicht der Grund für DBs Verhalten im obigen Beispiel, sondern - wie herausgearbeitet - manifeste Diskriminierung. Unversehene Diskriminierung? Diskriminierung hat natürlich eine gesellschaftliche Basis, die das Individuum mit den Möglichkeiten zur Diskriminierung (i.S. des Diskriminierens wie des Diskriminiertwerdens) "ausstattet". Hier wäre nach sozial-strukturellen Grundlagen zu fragen, die die Durchsetzbarkeit von Motiven ermöglichen, wie z.B. die Absicherung von Macht und Kontrolle, die Pflege des Image oder Prestigegewinn. Auf diesem letzten Aspekt baut ja meine zweite Hypothese auf, daß nämlich gesellschaftliche Ungleichheit, Herrschaftsansprüche wie Herrschaftsbeziehungen 'Versehens", also bewußt und intentional, aber auch unversehens, also "hinterrücks" und von den Handelnden nicht explizierbar, in der face-to-face Kommunikation als interaktive Leistung der Handelnden selbst konstituiert, reproduziert und verfestigt oder moduliert werden können - und zwar in der interkulturellen Kommunikation, um die es mir ja speziell geht, unter anderem auch mit scheinbar denselben kontrakonfliktiven Methoden, die für konfligierende interkulturelle Kommunikationen präferiert zum Einsatz kommen oder als speziell dafür reserviert erscheinen. Im Anschluß an den Bedingungskatalog
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am Ende des 2. Kapitels mache ich mich somit nun an die versuchte "Bewältigung" der Postulate (4) und (5), nämlich Code-transzendierende Plausibilisierungen als im Gespräch symbolisiert aufzuweisen. All diese Fragestellungen, so scheint mir, führen notwendigerweise direkt in eine Welt zurück, die eben nicht nur heil ist, wo nicht nur sorgevoll um die Verständigung gerungen wird, Gespräch noch zelebriert werden kann - ein Eindruck, der vielleicht nach der Lektüre des letzten Kapitels gewonnen werden konnte. Diese Welt ist eine der Ungleichheit, der Konkurrenz und der Diskriminierung. Die Diskriminierung von Immigranten und ethnischen Minderheiten geht quer durch die ganze Gesellschaft, quer durch Institutionen, quer durch den Alltag. Ob polititische Programmatiken, juristische Sonderbehandlung, wahltaktisches Ausnutzen von "ausländerfeindlichen" Grundströmungen, Zugangssperren auf dem Arbeitsmarkt - es ergibt eine endlose, traurige Auflistung systematischer Diskriminierungen, die Grundlage und Hintergrund bilden für die Fortsetzungsmöglichkeit der Diskriminierung in den institutionellen wie nicht-institutionellen Diskursformen und Kommunikationen. Die offenen und offen versteckten Diskriminierungen von Immigranten sind mittlerweile Thema verschiedener wissenschaftlicher und journalistischer Aufbereitungen; eine große Anzahl karitativer, politischer und sozialer Gruppierungen haben sich in Reaktion auf die Diskriminierung formiert (wobei auch hier wieder "miserabilistische" Verwertungsinteressen eine Rolle spielen). Diese Diskriminierung ist nicht nur in vielerlei Hinsicht gesetzlich, ökonomisch und sozialstrukturell prädestiniert, sondern sie wird auch täglich interaktiv, in face-to-face Kommunikationen zwischen Deutschen und Ausländern reproduziert, verfestigt oder erst geschaffen, und zwar auch in den kleinen, oft unwichtig und nebensächlich erscheinenden interkulturellen Kommunikationen des Alltags. Diese Form der Diskriminierung ist teils offen, so wie in BEISPIEL 4, aber teils ist sie genauso schwer identifizierbar wie die Funktionen der kulturgebundenen Kontextualisierungshinweise, wie sie Gumperz (Gumperz 1982a, 1983, Gumperz et al. 1979, Gumperz & Cook-Gumperz 1981) beschreibt. Wie Ausländer in der alltäglichen Interaktion und Kommunikation erst einmal zu Ausländern mit all den daran hängenden sozialen Konnotationen gemacht werden, welche Rolle wir als "harmlose" small-talker u.U. dabei spielen, sollte von daher im Rahmen der interaktionalen Soziolinguistik interkultureller Kommunikation nicht unbeachtet bleiben. Untersuchungen zu den offenen und latenten Diskriminierungen gegenüber Immigranten in der Kommunikation bieten beispielsweise in sprachsoziologischer Hinsicht Bodeman & Ostow (1975), in der Pragmatik und Soziolinguistik Gumperz et al. (1979) oder Jupp et al. (1982); eine textlinguistische Analyse hat van Dijk (1984) vorgelegt.
Im folgenden geht es mir also allgemein um das Problem der Reproduktion von ethnischer, kultureller und/oder sozialer Ungleichheit und der Strukturierung von Herrschaftsstrukturen im Akt der interkulturellen Kommunikation. Und gerade der prinzipiell egalitäre Charakter
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von Kommunikation und Reziprozität macht die Analyse von Macht etc. in der Kommunikation und mit den Mitteln und Ressourcen der Kommunikation möglich, macht Kooperation und Verständigung zum notwendigen tertium comparationis. Exemplifiziert werden soll dies anhand der Reproduktion der sozialen und ethnischen Kategorie "türkischer Gastarbeiter". Zu zeigen gilt von daher, wie mit spezifischen Mitteln. die der interkulturellen Kommunikation vorbehalten sind, diese Reproduktion interaktiv bewerkstelligt wird, wie, wann und warum herrschaftsreproduktive, diskriminierende und spezifische-Kategorien-von-Ausländern-hervorbringende Methoden erfolgreich angewandt werden können. Damit bin ich bei der method(olog)ischen Problematik dieser Fragestellung angelangt, zugespitzt auf die im Anschluß an Bourdieu gestellte Frage "Wie und wieso ist es möglich, daß das Gesagte sagbar ist, daß es so gesagt werden kann und darf und so verstanden wird, verstanden werden kann und soll?" Diese Frage ist nicht nur die konsequente Fortführung bisheriger Fragestellungen der ethnomethodologischen Konversationsanalyse und Kommunikationsethnographie, wie Gespräche interaktional zustande kommen und bestimmte Ergebnisse gemeinsam erzielt werden, welche Bedeutungen und Funktionen bestimmten Sprechakten zuzuschreiben sind etc. (vgl. 2.2), sondern sie nimmt auch Bourdieus Postulat auf, die "Bedingungen zur Kommunikations etablierung in Rechnung (zu) stellen" (1977:649), deren von den Akteuren habitualisierte Antizipations- und Rezeptionsmöglichkeiten in ihre Produktionsbedingungen miteingehen. Persönliche Motive und moralisierende Warum-Fragen bleiben dabei im Hintergrund. Vordergründig geht es mir dabei - abgekürzt - allein um das "WIE UND WIESO SO KÖNNEN KÖNNEN?".
4.1 EIN BEISPIEL FÜR DIE HERVORBRINGUNG SOZIALER UND ETHNISCHER KATEGORIEN IN DER INTERKULTURELLEN KOMMUNIKATION 4.1.1 FOREIGNER TALK, CODE-WECHSEL UND KOOPERATIVITÄT Im folgenden steht ein relativ kurzes interkulturelles Ereignis im analytischen Mittelpunkt. Dabei ist m.E. nicht die besondere Art der Zusammenkunft typisch, denn sie ist vom Typus her eher einmalig - in dem Sinne, daß Begegnungen dieser Art eher selten sind. Sie ist hingegen weniger einmalig im Sinne ihres Ablaufs, ihrer kommunikativen Ereignisfolge, ihrer darin zum Einsatz gebrachten Methoden, ihrer unversehenen Funktionalität für die Reproduktion einer Welt wie sie ist und zu sein hat - zumindest für diejenigen, die davon profitieren oder meinen, davon zu profitieren. Als Beispiel zur Analyse wähle ich ein deutsch-türkisches Gespräch, in dem genau eine krasse und unzweideutige Form der Foreigner Talk-Verwendung vorkommt. Krass, weil die Foreigner Talk-Äußerung grammatisch verstümmelt ist, weil sie eine ausländerspezifische lexikalische Idiosynkrasie beinhaltet und weil sie die informelle Anredeform enthält. Unzwei-
101 deutig, weil sie in ihrer Form und in ihrem Kontrast zu anderen Äußerungen nicht rückführbar ist auf umgangssprachliche Ellipse, einen Versprecher oder einen momentanen black-out. Zudem taucht der Foreigner Talk nur an einer einzigen Stelle im Gespräch auf: Der "native speaker" code-switcht hier sozusagen von seiner "normalen", umgangssprachlichen Variante in das vermeintliche Ausländer-Register - und dies für nur eine einzige Frage, um anschließend wieder in die alte Variante zurückzukehren. - Aber schauen wir uns das Beispiel "Türkischmann Du?" einmal näher an. "Türkischmann Du?" Es handelt sich bei folgendem Transkript um eine Begegnung zwischen einem türkischen Passanten (tp) und einem älteren Herrn (B), der im Fußgängertunnel einer westfälischen Großstadt hockt oder steht und bettelt. Wodurch die Aktivität des Betteins im einzelnen erkennbar wird (ob expliziter Hinweis, ob ersichtlich durch Standort und Situierung etc.), bleibt unklar. Wichtig zur Charakterisierung der Gesprächsteilnehmer ist vielleicht noch tps Aussehen, das ihn nicht sofort als Türken identifiziert, da es nicht den Klischeevorstellungen (reproduziere ich sie so?) von dunklem Haar und Schnäuzer entspricht, tp ist Ende zwanzig, schon seit langem in Deutschland, Arbeiter, und seine Deutschkenntnisse sind, wie das Transkript zeigen wird, gut. Sein ostanatolischer Akzent interferiert allerdings kräftig in die deutsche Aussprache. BEISPIEL 5: TRANSKRIPT "TÜRKISCHMANN DU?"1
01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22
l
tp: Gutn Tach B: Gutn Tach tp: Tschuldigen, habn Sie (h) bekommn Sie nicht (h) finanzielle Unterstützung von Stadt? B: Nein, ich hab da bin ich unterm Satz wech&ich krich vierhundertfünf Mark an Rente, nich/ + weil meine Unfallrente, die is geriehmicht, raba ich hab sie noch nich + + verstehn Sie? tp:L Ja, bekommn Sie nicht von Sozialamt rtond so weiter? B: L Ne*in nein tp: Ja aba das is schlecht + muß man da hingehn. B: rJaa, abatp:h Warum so + so bei dieses kalte WetterB: L Ja, ich krich von (?Soz)- vom Sozialamt krich ich hier Mietbeihilfe, nicht\ tp: Mhm B: Nich\, da krich ich ja sechsenachtzich Mark Mietbeihilfe + tp: Sechsenachtzig Mark? B: Jaa tp: Für für Monat? Oder was? B: Ja, fürn Monat tp: (erstaunt) Nur fürn Monat sechsundachzig Mark?
Für die Transkriptionskonventionen siehe Erläuterungen im Anhang.
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23 B: Mietbeihilfe, tschuldigung, für die Miete, nich\ 24
tp: Mhm
25 B: Ich krich ja mein (TEinkommn von) vierhundertfünf Mark eigne 26 Rente, nech\ + + Da muß ich mit auskcanmn + + 27
tp: Hm (1,5 Sek. Pause). Das is schlecht, ne/
28 29 30 31 32
B: tp: B: tp:
Ganz schlecht. Ab ab erstn^iss's glaub ich wohl anders + (emphatisch) Ja, muß man kämpfen gegen, Sche'iße is das! Ja (ganz leise) (?gut) (pathetisch) Haben Sie viel gearbeiet bis jetzt und jetzt hier bei üdce (h) stehn und von Hunger von andre Menschen betteln-
33 B: Sie harn recht!
34 tp: Es is nich gut. 35 B: rNein, is nich chut + Türkisclanann Du? 36 tp: L
Ja-
Ja
37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 46a
B: Ich merk es. tp:nJa, muß man helfen, aba + so B: L Sie brauchn (?mir) nich helfen! tp:rJa klar + ich meine + äähm + + wenn einerB: '-(besonders schnell) Sie ham&Sie harn recht! tp: Bitte? B: Sie harn recht! tp:r(leise) Ja/ + deswegenB: L Harn echt recht! tp: (leise) (TTrotzdem) + das ist auch mein ( . . . ) (tp gibt B ein paar Münzen)
47
B:
Danke!
48 tp: Wiedersehn! 49
B: Widdersehn!
Was ins Auge fällt, ist Bs Frage nach der nationalen bzw. ethnischen Zugehörigkeit seines Gesprächspartners: "Türkischmann Du?" (Zeile 35). In der Tat soll auch diese Zweiwortfrage im Mittelpunkt meiner Analyse stehen, ist sie doch so etwas wie der dramatische Wendepunkt dieses zufälligen Zusammentreffens - und gibt meinem o.a. Motto nur zu recht: "Auf jeden Fall überlege man einen kurzen Moment, was das Fragen da mit einem angestellt hat" (Bodenheimer 1984:101). Ich werde mit der folgenden Analyse länger als nur einen kurzen Moment bei der Frage verweilen, denn das, was sie "anstellt", ist in der Tat eine tiefere Überlegung wert. Die Frage dient mir zunächst als eine Art Scharnier, mit dessen Hilfe das Gespräch nach zwei Seiten hin aufgeklappt werden kann: eine vermeintlich kooperative Hälfte und eine vermeintlich weniger kooperative. Doch zunächst zur ersten Hälfte, Zeile 01 bis 35 bzw. 35a. Kooperation Die Begegnung beginnt keineswegs ungewöhnlich, obwohl man sich gewöhnlichere Alternativen ausdenken kann: tp geht an B vorbei und gibt ihm eine Münze, letzterer mag "Danke" sagen oder nicht, er mag freundlich nicken; ebenso der Austausch der Grußformel mit nachspenderischer Danksagung und Entgegnung, wie am Beginn und Ende unseres Transkripts, sind erwartbar. Denn Begegnungen zwischen Passanten und Bettlern sind für gewöhnlich flüchtiger Natur, ohne Vorgeschichte, ohne Nachgeschichte: Der passierende
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Passant gibt dem bettelnden Bettler ein paar Münzen. Sonst passiert weiter nichts, außer daß vielleicht ein paar Erinnerungen zurückbleiben über einen besonders spendablen Spender oder an einen Bettler, der besonders arm dran war. Auch im vorliegenden Fall bleibt tp zunächst neben B stehen, offensichtlich mit der Bereitschaft, dem Almosenbittsteller seine Spende zu geben. Begrüßungen werden gewechselt, aber tp initiiert dann mit seiner anschließenden Frage nach sozialamtlicher Unterstützung über das Begrüßungsritual hinaus ein Gespräch, sorgsam eingebettet mit einer konversationeilen Präambel, einer Entschuldigung, die sicherlich nicht nur eine "Vorwarnung" für tps Gesprächsinteresse darstellt und seine Zugangsberechtigung für die Gesprächseröffnung legitimiert, sondern auch den Einbruch in die Privatsphäre des Bettelnden in Rechnung stellt, dessen Privatizität allerdings mit dem Akt des öffentlichen Betteins in heikelster Weise eingeschränkt ist - ein Faktum, das den Skopus der Rechte und Pflichten sicherlich nicht unbeeinflußt läßt. Ob nun in Erwartung eines größeren Almosen, oder aufgrund der mit der Bettelei verbundenen Öffentlichkeit des Selbst, oder auch "nur" aufgrund universell- minimaler Höflichkeitsgebote - B beantwortet tps Frage bereitwillig und ausführlich, ja, er liefert gar eine Begründung für seine öffentliche Aktivität: (i)
Er fällt nicht mehr unter den Mindestsatz, der für die Sozialhilfebedürftigkeit angesetzt ist; (ii) er erhält 405,- DM eigene Rente; (iii) er hat einen Antrag auf Unfallrente gestellt, die bereits bewilligt ist, die er aber noch nicht erhält. Bs Antwort ist umfangreich. Sie sagt eine Menge über ihn aus. Der anonyme ältere Herr, bettelnd im Fußgängertunnel, läßt sich nicht nur konversationeil mit einem Passanten ein, sondern er überläßt diesem wichtige biographische Details, soziale Informationen. Er gibt nicht nur etwas, sondern er gibt etwas weg von sich (to give vs. to give off), wie Goffman den Doppelcharakter des kommunikativen Gebens und Nehmens charakterisiert (Goffman 1959:14) und überläßt sich so der möglichen Rückwirkung seiner eigenen Information. Aussage (iii) ist mit den vorherigen explizit kausal verknüpft. Aber neben der Konjunktion ist die Argumentstruktur implizit. Ihre Konklusion könnte wie folgt lauten: "Ich muß momentan öffentlich um Spenden betteln, weil meine genehmigte Unfallrente noch aussteht". Damit wird der Bettler zum Bettelnden auf begrenzte Zeit. Dies impliziert weitere Konklusionen, nämlich neben der Tatsache, daß er Frührentner ist, also durch einen Unfall vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausgeschieden ist, in erster Linie, daß seine Bettelei vorübergehend ist, oder, schärfer ausgedrückt, daß er eigentlich gar kein Bettler ist. Formal wird diese Aussage noch unterstützt durch die Betonung von "hab" (Zeile 07) und vielleicht auch noch durch das "vereindringlichende" Frage-Anhängsel "Verstehn Sie?". Aber diese Nachfrage konvergiert auch mit der Leerstelle nach der Pause, einen Redebeitragsübergabepunkt markierend, die damit durch Selbstwahl abgelöst wird (vgl. Sacks et al.
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1974). Es ist möglich, aber an dieser Stelle unwahrscheinlich, daß dieses "Verstehn Sie?" primär von der Sorge diktiert wird, ob tp als Ausländer in der Lage ist, Soebengesagtem zu folgen. Inwieweit tps Status als solcher hier überhaupt schon von Bedeutung ist, muß offen bleiben. Die fehlerhafte Form "tschuldigen" als auch der Artikelausfall vor "Stadt" sind deutliche grammatische Hinweise. Noch deutlicher markant "ausländisch" erscheinen mir allerdings tps durchgängig angewandte prosodische Eigenheiten - eine starke Interferenz aus tps ostanatolischer Türkischvariante. Aber tp hat den Zusammenhang, die impliziten Argumente nicht verstanden - oder auch nicht verstehen wollen. Jedenfalls hakt er nach, den möglichen finanziellen Unterstützer als "Sozialamt" konkretisierend (Zeile 08f.). Bs eingeschobene Antwort ist eine eindeutige Verneinung, betont, um mit Nachdruck auf das zu verweisen, was mit seiner ausführlichen Antwort eigentlich geklärt sein müßte, tp bewertet im folgenden allein die Tatsache, daß B keinerlei Unterstützung vom Sozialamt erhält und schlägt vor, diese Unterstützung durch aktives Handeln einzuklagen (Zeile 11). Bs Ansatz zur Widerrede, Erläuterung, Klärung (Zeile 12) wird erstickt durch tps Fortführung "Warum so" etc., seinem ersten Versuch, das Unrecht des Bettelnmüssens mit den drastischen Umständen persönlicher und sozialer Deprivation zu beschwören - was ihm aber erst später (Zeile 31f.) gelingt. B geht an dieser Stelle auch nicht darauf ein, vielmehr überlappt er diesen Part, indem er parallel seine oben unterbrochene Ausführung fortsetzt, daß er doch vom Sozialamt etwas bekomme, nämlich Mietbeihilfe in Höhe von 86 DM (Zeile 14f., 17). Diese Klärung mag gleichzeitig zu verstehen sein als Tribut an tps obige Forderung, beim Sozialamt Unterstützung zu fordern, denn das, was dem Rentner vom Sozialamt zusteht, hat er bereits eingefordert: die Mietbeihilfe. Für seinen türkischen Gesprächspartner wird die genannte Summe aber zum einzigen Überlebensgeld. Was folgt, sind (a) eine wiederholende Nachfrage der Summe von tp, (b) Bs Bestätigung, (c) eine ungläubige Nachfrage zum Verrechnungszeitraum der genannten Summe, (d) die erneute Bestätigung durch B und (e) schließlich wieder tp, baff erstaunt, fragend-evaluierend "Nur fürn Monat sechsundachzig Mark?" (Zeile 18-22), was für B nun deutlich werden läßt, daß er wohl mißverstanden worden ist. Er repariert entsprechend, das Mißverstehen entschuldigend, daß dies ja nur die Mietbeihilfe beträfe, und er fährt fort - was er bereits anfänglich erläutert hatte -, daß er außerdem 405 DM Rente bezöge (Zeile 25 f.). Und nach einer Pause faßt B zusammen, daß er auskommen müsse mit dem wenigen, was er habe (Zeile 26) - bewertend, sein Bettelnmüssen legitimierend, und vielleicht auch endlich zum Schluß (des lästigen biographischen Erläuterns) kommend, aber gleichzeitig auch an ihre eigentliche Beziehung erinnernd: als Bettelnder und potentiell Gebender, tps Frage ist damit endlich beantwortet, geklärt durch reparative Umwege. Die anderthalb Sekunden Pause markieren deutlich, daß B gesagt hat, was zu sagen war. Doch nichts rührt sich. Auch kommt (immer noch) keine Spende. Stattdessen erfolgt eine erneute Bewertung, ein lapidares "Das is schlecht, ne/", die aber nur erneut evoziert, was oben bereits gesagt wurde, daß es sich nämlich nur um einen vorübergehenden Zustand handele; und noch
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konkreter: Schon ab ersten (des kommenden Monats) ist es anders, will sagen, daß die genehmigte Unfallrente jedes weitere Betteln erübrigen wird. Auch tp gibt eine Art Resümee von sich. Fast pathetisch wirkt seine Schlußfolgerung mit der durch Pause und Akzentsetzung doppelt hervorgehobenen "Kampfperspektive" und dem entrüstet nachgesetzten "Scheiße is das!" (Zeile 29). Als Ermutigung, gegen sein Schicksal aktiv anzukämpfen oder ähnlich, könnte tps Beitrag, sein verbaler Solidaritätsbeitrag, vielleicht am ehesten charakterisiert werden. Bs halbverschluckte Bejahung weist nicht in Richtung begeisterter Zustimmung, denn tps Solidaritätsvorstellungen weichen offensichtlich nicht unerheblich von denen des Bettlers ab. Letzterer will begreiflich machen, daß er Betteln als individuelles Unglück aufgrund eines vorübergehenden finanziellen Engpasses betrachtet; ersterer sieht es als typisches Phänomen sozialer Ungerechtigkeit, gegen die man kämpfen muß. Diesen Positionen ist nichts hinzuzufügen, vor allem wenn man gesagt hat, was man zu sagen hatte unter Umständen, wo unklar ist, worauf das Gespräch hinauslaufen soll. So bleibt es für B bei einer kurzen, möglichst keine neuen Gesprächsobligationen schaffenden und die mögliche Spende in spe nicht unvorsichtig gefährdenden Bestätigung. tp malt hingegen weiter aus und stilisiert sein Gegenüber zum Prototypen des modernen Sklaven schlechthin: Lebenslange Arbeit und als Belohnung hungernd in der Ecke stehen und andere Menschen anbetteln (Zeile 31f.). Diese faktisch zwar übertriebene, aber im Kern doch durchaus richtige Bewertung macht Schlußfolgerungen in verschiedene Richtungen möglich: Für tp bedeutet sein Beitrag vielleicht sozialpolitische Agitation, der Bettler ist nur Objekt seines allgegenwärtigen Engagements; für B hingegen impliziert er allen gestarteten Relativierungsversuchen zum Trotz die Einordnung in die Sackgasse der Bettlerkategorie. Ihm war es aber mit seinen Erläuterungen vornehmlich um die eigentliche NichtMitgliedschaft in dieser Kategorie gegangen, der er allen Bemühungen zum Trotz unwiderruflich von tp zugeordnet wurde. Das kann arg verletzend sein. "Sie harn recht" wird zum lakonisch-verbitterten Ausdruck dieses Widerspruchs. Und es sei nicht gut, fährt tp sich im Kreis drehend fort. Nein, bestätigt B erneut, es sei nicht gut und setzt gleich nach mit der Frage, um die sich in dieser Analyse alles primär dreht: "Türkischmann Du?". Kooperationsaufkündigung Dieser verunstaltete Satz "Türkischmann Du?" markiert zweifelsohne einen drastischen Code-Wechsel. Seine linguistischen Eigenheiten wurden bereits oben beschrieben. Ich komme damit zur zweiten Hälfte des Gesprächs. Obwohl nur dieser eine Satz typische Foreigner Talk-Charakteristika trägt, bleibt der Code-Wechsel in gewisser Weise über diese Frage hinaus bestehen, wenn auch nicht auf der Ebene grammatikalisch-normabweichender Erscheinungen, so doch markant auf der Ebene der Gesprächskontrolle, der Kohärenz und der Einlösung aufgebauter Obligationen; allgemeiner: der Kooperation. Zunächst: Bs Frage nach der nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit seines Gesprächs-
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partners wird bejaht, tp ist in der Tat Türke. Und damit ist alles anders, tps Versuch, seine Position vielleicht noch näher zu erläutern, seine "Agitation" weiter fortzusetzen, ist damit zum Scheitern verurteilt. Die eingebettete Sequenz 35bB: Türkischmann Du? 36 tp: Ja 37 B: Ich merk es. steht isoliert da, thematisch und situativ, wie man zunächst meinen kann, völlig inkohärent, nur eine Seitensequenz innerhalb eines anderen Gesprächs. Bs registratives "Ich merk es" macht formales Anknüpfen schwierig, ist konditionell irrelevant. "Ich merk es" ist eine Art umschriebenes "Aha" - was immer das in seiner Vieldeutigkeit heißt, was immer darauf noch gesagt werden kann, tps Wiederaufnahme- bzw. Fortsetzungsversuch scheint jedenfalls anschließen zu wollen, als sei diese eingebettete Sequenz nie erfolgt (Zeile 38). Mit "Muß man helfen, aba" will tp vielleicht den Versuch starten, die Richtigkeit der individuellen Hilfe an der Veränderungsnotwendigkeit des sozialen Zustands des Bettelnmüssens im Sinne einer Brecht'schen "Nachtlager'-Dialektik zu relativieren: "Einige Menschen haben ein Nachtlager/Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten/Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße/Aber die Welt wird dadurch nicht anders/Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich dadurch nicht/Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt" (Brecht 1933). Doch was tp hier mehr abstrakt und weniger poetisch zu formulieren versucht, wird barsch unterbrochen und in zweifacher Hinsicht ad personam konkretisiert: "Sie brauchn mir nich helfen" - eine explizite Zurückweisung mit unterschiedlich zu interpretierenden Konsequenzen: Welche Art der Hilfe? Kategorisch, jede Art, die von tp, oder die von der (sozialen, ethnischen) Kategorie, der tp zuzuordnen ist, kommt? Oder: Das, was tp als Hilfevorstellung im Kopf hat? Zudem enttarnt dieser Code-Wechsel in gewisser Weise tps Gebrauch des unbestimmt-persönlichen Subjektpronomens: "Muß man kämpfen gegen", "muß man helfen" - Solidaritätsbekundungen, die an einen unspezifischen Agens delegiert werden, die die Verantwortung für Sprecher und Angesprochenen aber im Dunkeln lassen, obwohl der Adressat klar ist! Formulierungen dieser Art stellen "Formen verringerter Verantwortung" dar (Goffman 1977:549), weil sie Rückzugsmöglichkeiten bieten, wenn sie als Affront aufgefaßt werden. tp jedenfalls ist getroffen, Pathos und Explizitheit sind verschwunden. "Ja klar" ratifiziert sicherlich nicht Bs Zurückweisung, sondern verweist eher auf den Versuch, zur Erläuterung anzusetzen, seine vielleicht mißverstandene Position begreiflich zu machen, wohl "behütet" durch Pausen, durch "äähm" und der turn-Vorlaufkomponente "ich meine", hier
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in der Funktion als "Hecken"-Verb ("hedge", nach Lakoff 1972)2 - alles Ausdrücke der Verlegenheit bzw. Betroffenheit. Und in der Tat, tp spürt die "Wende" des Gesprächs, vom Fragenden und Belehrenden ist er schlagartig in die Defensive des Sich-erklären-Müssens gerutscht. Bevor tp nun dazu kommt, seine Position rechtfertigend darzulegen ("wenn einer-"), wird er formal zumindest in derselben bestätigt (Zeile 41). Bs Zustimmung erfolgt in Überlappung, die auf den ersten Blick sicherlich keine "böse" Unterbrechung darstellt, denn jede längere Pause macht einen turn-Wechsel weniger dyspräferiert. Aber deutlich wird, daß er sich eine Fortsetzung ersparen kann, da er ja sowieso recht habe: "Sie ham recht" kann vervollständigt werden mit "Es erübrigt sich, daß Sie weiterreden, denn ...". Insofern stellt dieser Eingriff mehr dar als nur eine Überlappung, einen Wiederstart oder ein zufälliges Zweiaufeinmal, ist die Äußerung vielmehr doch als eine Unterbrechung zu verstehen, konkreter: als eine "Entwaffnungstaktik" (vgl. Edmondsons "disarmers" 1981:l27f.). Gleichzeitigkeit und Schnelligkeit führen zunächst zum Nichtverstehen (Zeile 42) und zu der erbetenen Wiederholung. Damit ist bereits Entscheidendes gelungen: tp ist nun "leiser" geworden. Sein einleitendes "ja" ist kein affirmativ-ratifiziendes Ja, die steigende Intonation vermittelt vielmehr das Gefühl eines So-ist-es-eben, seine eigenen Schlußfolgerungen nur bestätigend: "deswegen". Wiederum kommt es zur Überschneidung mit einer weiteren "Sie harn recht"-Variante, verstärkt durch das Adverbial "echt". Resultat: Viermal wurde tp "recht" gegeben - Zeile 33, Zeile 41, in der Wiederholung Zeile 43, und schließlich - nochmal verstärkt - in Zeile 45. Im zweiten und vierten Fall koinzidierte es sicherlich nicht zufällig mit der Unterbrechung von tps Argumentationsansatz, im letzten Fall gar nach einer leise einleitenden "Konklusionspartikel". Für tp zumindest scheint die damit einhergehende Botschaft weniger eine Bestätigung seiner Auffassung, als vielmehr Bs Ansinnen auf Abbruch der Begegnung zu demonstrieren. In diesem Sinne ist diese Zustimmung ein indirekter Sprechakt, die durch Wiederholung, Plazierung und Ton - sie wird in zunehmend "scharfer" Paqon artikuliert - alles mögliche beinhaltet, nur nicht, daß tp tatsächlich recht hat! "Recht" gewinnt dabei einen doppelten Charakter: weniger entscheidend ist hier das "Recht-haben" der faktischen Richtigkeit, sondern das "Recht-haben", als "Türkischmann" sein Selbstverständnis in dieser Weise so despektierlich zu ignorieren. Ausführlicher dazu weiter unten. Bleibt zu bemerken, daß B jedenfalls erfolgreich jede weiteren Argumentationsversuche vereitelt hat.
Heckenausdrücke (hedges) sind nach Lakoff "words whose meaning implicitely involves fuzziness - words whose job is to make things fuzzier or less fuzzier" (Lakoff 1972:195). Ob auch meinungseinleitende Verben in der 1. Pers. Sing, wie eben "ich meine ..." dazu gezählt werden sollen, ist für viele sicherlich fraglich. Lakoff selbst zählt keine Verben auf. Ich meine (sie!) aber, daß unter bestimmten Bedingungen - etwa wie im vorliegenden Fall die Einleitung einer Rücknahme oder Relativierung - diesen Verben geradezu klassisch eine "SchutzwallTHecken"Funktion zufällt. (Im hiesigen Kontext habe ich "nur" mit "etwa" und "geradezu" "geheckt", "meinen" hingegen meint (?) hier wirklich meinen.)
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Es kommt schließlich und endlich zu einer Renormalisierung im Sinne der Übergabe der (überhaupt noch erwarteten?) Spende - eine Renormalisierung in Richtung einer nur wieder Bettelnder-und-Gebender-Beziehung, begleitet bzw. nicht zuletzt konzediert mit tps gemurmeltem "trotzdem" usw. Auch diesem nicht ganz eindeutig identifizierbaren "trotzdem" kommt eine wichtige Funktion zu. Es ist hier nicht nur einfach Konjunktion, sondern dient als Anapher, reformulierbar in unausgesprochene Präpositionalphrasen wie "trotz des Ausgangs unseres Gesprächs ...", "trotz Ihrer Meinung, daß ich im Unrecht sei...", "trotz der Tatsache, daß ich nicht sagen konnte, was ich wollte ..." etc. etc., nach dem Modell der "trotzigen" selbst-konzedierenden Ellipse Trotzdem war es schön". Der konventionelle Ausklang folgt: Danksagung, Verabschiedung, Gegen-Verabschiedung, Weitergehen, Ende.
Weiter oben habe ich gesagt, mit der Frage "Türkischmann Du?" werde alles anders. Und in der Tat: Die Kooperation unterlag der Kooperationsaufkündigung, die inhaltliche wie formale Kohärenz wurde zersetzt, die Rollenaufteilung nahm eine dramatische Wende kurz, der Arbeitskonsensus, der im ersten Teil des Gesprächs entstanden schien, kippte mit der Frage "Türkischmann Du?" um. Wie dieser Umkipp-Prozeß vonstatten gegangen ist, sollte mit der obigen Analyse weitgehend klar geworden sein. Dennoch möchte ich mit den folgenden beiden Übersichten nochmal versuchen, die nunmehr "aufgeklappten" Gesprächsflügel in pointierter Weise gegenüberzustellen - auch wenn dies zwangsläufig zu Vergröberungen führt. Gegenübergestellt werden zum einen ausgewählte pragmatische Gesprächseigenschaften von tp und B im Widerspiel, zum ändern pragmatische Gesprächseigenschaften von B vor und nach der Foreigner Talk-Wende im Gespräch. Der erste Teil der ersten Gegenüberstellung ist dabei im üblichen Sinne von links nach rechts zu lesen, während der zweite Teil eine Umkehrung dieser Lesart von rechts nach links erfordert. Aber diese Umkehrung soll nicht nur die Umkehrung des Gesprächverlaufs illustrieren, sondern vermittelt auch die Umkehrung der "Lesart", wie sie die Gesprächsteilnehmer selbst während ihres Gesprächs voneinander vornehmen.
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BEISPIEL 5: ÜBERSICHT I tp
B
Zeilen 01-35a ist initiativ
ist reaktiv
stellt Fragen
gibt Antworten
entlockt persönliche Information
gibt explizite und ausführliche Information
unterbricht (nach turn-Start)
unterbricht (nach erstem möglichen turn-Übergabe bzw. -Beendigungspunkt), um eigenen zuvor unterbrochenen turn fortzusetzen
mißversteht, produziert Mißverständnis
klärt Mißverständnis, entschuldigt sich für Mißverständnis Zeilen 35b-48
ist reaktiv
ist initiativ
beantwortet Frage
stellt Frage
gibt unfreiwillig Information über sich preis
entlockt persönliche und soziale Information
läßt sich zurückweisen
weist explizit und implizit zurück, unterbricht, blockiert
verliert kommunikatives Selbstvertrauen: stockt, bricht ab; Verlegenheitspausen und -vokalisierung, "hedges"; spricht leiser
vermeidet Aufbau neuer Gesprächsobligationen, Beiträge werden immer sparsamer, wiederholen sich
BEISPIEL 5: ÜBERSICHT II B - Zeilen 01-35a
B - Zeilen 35b-48
spricht "Normaldeutsch"
spricht Foreigner Talk und "Normaldeutsch"
beredt
wortkarg
siezt
duzt und siezt
beantwortet Fragen
stellt Frage
gibt Information
entlockt Information
hört Argumenten und Bewertungen ratifiziert sie z.T. positiv
unterbricht und blockiert Argumentationsaufbau
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Betteln und persönliche Territorialrechte Viele der Charakteristika der ersten Hälfte liegen in der Art der Begegnung und der Rollenkonstellation der Interaktanten begründet. B ist der Almosenbittsteller. Betteln ist immer verknüpft mit einer mehr oder weniger öffentlichen Zurschaustellung nicht nur persönlicher sozialer Not, sondern auch gescheiterter Existenz. Wie schuldlos man sich selbst auch fühlt, so geht diese Aktivität doch immer einher mit dem Wissen, daß die Not in den Augen der Anderen Konnotationen sozialer Inkompetenz beinhaltet, eine Sichtweise, die gleichsam inkorporiert ist und sich in der "körperlichen Hexis" (Bourdieu 1976:190) widerspiegelt. So gibt es verschiedene Typen von Bettlern, verschiedene Grade der Professionalität und damit verschiedene Arten des "Betteins". Der "offensive Bettler" geht geradewegs auf Leute zu, dringt gar in Privatbereiche ein, mal mehr auf die "Mitleidstour", mal mehr über Einschüchterungsversuche. Der "defensive Bettler", der in Zeiten zunehmender Arbeitslosigkeit und verringerter Sozialhilfekompensationen das Bild innerstädtischer Einkaufszonen "ziert", gibt sich zurückgezogen, verschämt und passiv. Mitleid wird erweckt durch kleine Papptafeln, die in wenigen Worten das Schicksal schildern, oder auch nur durch den "leiblichen" Eindruck, den der Bettelnde mit Körperhaltung und Gesichtsausdruck vermittelt als jemand, der sich seines "Daß-es-mal-soweit-mit-mir-kommen-mußte" scharnvoll bewußt ist. Auch tps Gesprächspartner ist defensiver Bettler, der sich nicht nur der Öffentlichkeit aussetzt, sondern auch der Gefahr, seine Anonymität preiszugeben. Betteln und das Wie-man-bettelt sind Bestandteile eines bestimmten Schauplatzes, in dem jedes szenische Merkmal wichtige Information vermitteln kann. Mithilfe solcher "äußerer" Informationen über Personen wird Situation mitdefiniert, werden Erwartungen und Reaktionen im voraus beeinflußt und kalkulierbar (vgl. Goffman 1959:13). Zum Beispiel die Plazierung des Bettlers: Er sitzt in einem Fußgängertunnel. Der reine Durchgangscharakter desselben vermittelt in plastischer Weise die Zwickmühle zwischen Anonymitätssicherung und der Notwendigkeit, von möglichst vielen Menschen gesehen zu werden. Damit sind Grenzen des persönlichen Territoriums abgesteckt, die eine Zugangsberechtigung für andere nicht mehr nur auf Auskünfte unpersönlicher Art beschränkt. In dieser Rolle ist B wenig geneigt, potentiellen Spendern Fragen zu stellen. Insofern liegt es zunächst in der Natur dieser Begegnung, daß die Gesprächsinitiative nur ausgehen kann von einer Person, die die Sicherheit privaten Schutzes und persönlicher Anonymität genießt. Wie sich diese beiden Personen gegenübertreten, läßt sich prototypisch am defensiven Bettler und Passanten wie folgt skizzieren: BETTLER- PASSANT abhängig - frei öffentlich - privat kategorial erbittend- optional erhörend und anbietend kategorial empfangsbereit - optional gebebereit kategorial standortgebunden - optionale Zugangsmöglichkeit unbewegt - en passant körperlich zurückgenommen - aufrecht und bewegt Blick vermeidend - optionale Blickkontakte
Ill
Bettler und Passant stehen also in einer nicht-isomorphen und asymmetrischen Beziehungskonfiguration: Die Beziehung von B zu tp ist durch Notwendigkeit bestimmt, die von tp zu B hingegen ist nicht vordergründig notwendig. Was die beiden hier voneinander wollen, gründet damit auf ganz unterschiedlichen Folien, oder mit Bourdieu gesprochen, auf völlig unterschiedlichen "Bedingungen der Kommunikationsetablierung" und beinhaltet damit entsprechend unterschiedliche Rezeptions- und Produktionsbedingungen: Als-Bettler-eineSpende-wollen-Müssen versus Als-Passant-ein-bißchen-sozialpolitisch-agitieren-wollenKönnen. Aber erst die Prädestiniertheit des Gesprächs durch diese gesellschaftlichen und situativen Voraussetzungen macht die zweite Hälfte des Gesprächsverlaufs so markant. Mit jedem Eintritt zweier "Irgendwers" in ein Gespräch über die reine Kontaktfunktion hinaus nehmen konkretere "Jemands" Gestalt an. Aus irgendeinem Bettler und irgendeinem Passanten entstehen im Laufe der Begegnung der "hungernde Bettler" als Opfer einer ungerechten Gesellschaft einerseits und der "Türkischmann", der sozial so "out" ist, daß selbst ein Bettler auf seinen Solidaritätsbeitrag verzichten kann, andererseits. Aus flüchtigen Rollen werden soziale Identitäten, aus Individuen Mitglieder gesellschaftlicher Kategorien mit den daran hängenden Eigenschaften, tps Kategorisierung entfaltet sich dabei gesprächskooperativ, wenn auch entgegen genannten Widerständen von B, aber sie entfaltet sich explizit. Bs Kategorisierung hingegen verläuft implizit. Aber auch diese Implizitheit gewinnt im soziosequentiellen Verlauf des Gesprächs schließlich einen expliziten Charakter - mithilfe der Funktion ihrer Metaphorik: "Türkischmann Du?" ist eine konversationeile Metapher.
4.1.2 DIE GEWALT KONVERSATIONELLER METAPHERN Die Frage "Türkischmann Du?" ist in mehrfacher Hinsicht als eine Metapher zu verstehen. Was ich im einzelnen und genau damit meine, kann erst im Rahmen der weitergehenden Analyse deutlich werden. Im Grunde genommen ist der Begriff der Metapher hier auch selbst als eine Art Metapher zu verstehen, denn mir geht es um konversationeile Metaphern, Aber dieses Paradox spiegelt nur wider, was es mit der Metaphernforschung in der Linguistik auf sich hat. "Kaum ein Gegenstand hat sich als so schwer greifbar herausgestellt, wie der der Metapher", schreiben Dirven & Paprotte in ihrer Einführung über "Die Allgegenwärtigkeit der Metapher". Und weiter: "In mehr als 2000 Jahren der Erforschung hat sie sich allen Versuchen hinsichtlich der Entwicklung einer stringenten Theorie widersetzt - und alles was wir wissen ist, daß sie sich auch in Zukunft einer Erklärung widersetzen wird" (1985:vii*). Trotz dieser pessimistischen Perspektive verwende ich den Begriff, trotzdem ist mir an einer "Arbeitsdefinition" gelegen.
112 Metaphern Die schönste, einfachste, auch auf meinen Kontext anwendbare Definition wäre die von Lakoff & Johnson: "The essence of metaphor is understanding and experiencing one kind of thing in terms of another" (1980:5). Aber was heißt das für meinen Kontext? Metaphern sind in der traditionellen Semantik zu verstehen als Beziehungsübertragungen aufgrund ähnlicher oder gleicher Bedeutungsmerkmale bzw. ähnlicher oder gleicher, zumindest aber kompatibilisierbarer Assoziationen auf unterschiedlicher Ebene bestimmter Bedeutungsmerkmale. Dabei geht es fast immer um die Erklärung von Metaphern vom Typ "Y ist/x-t Z". Die Metaphorisierung wird - soweit ihre eigene Kraft nicht ausreicht spätestens mithilfe kontextueller und referentieller Information deutlich. Auf jeden Fall ist der Produzent einer Metapher "angewiesen auf die Mitarbeit des Empfängers, zur Wahrnehmung dessen, was hinter den verwendeten Wörtern liegt", ist angewiesen auf die Resonanz (Black 1979:26*). Aber was ich hier nicht meine ist, daß "Türkischmann Du?" im Rahmen semantischer Theorien der Gegenüberstellung von "wörtlicher" mit "metaphorischer Bedeutung" als eine Metapher zu verstehen ist. Denn die Frage ist ja abgesehen von all dem, als was sie sonst noch zu nehmen ist, auf jeden Fall auch wörtlich zu nehmen. (Zudem ist das Kriterium der Wörtlichkeit selbst äußerst problematisch (Black 1979:36)). Auch ist die Ambiguität zwischen mehr oder weniger Wörtlich-Nahme "ein notwendiges Nebenprodukt metaphorischerSuggestivitat" (Black 1979:30*). Darüberhinaus sind traditionelle Sichtweisen zur Metapher, wie die der Substitution oder des Vergleichs, worauf sie Black (1962:3 Iff.) reduziert, hier nicht anwendbar; wohl aber Blacks alternativ entwickelter "interaction view" (Black 1962 und 1979). Zunächst muß nochmal betont werden, daß "Türkischmann Du?" eine Metapher ganz anderer Art ist, eine konversationelle Metapher nämlich. Sie macht sich Eigenschaften der Konversationsstruktur selbst zu eigen: Durch den Wechsel der Sprachen und Varietäten (Code-Switching), durch einen drastischen Wechsel des Sprechakttyps, durch den plötzlichen Wechsel in eine andere Modalität etc. - kurz: durch lokal unerwartete, strukturell-kontrastiv markierte Wechsel als "Bedeutungsmerkmale" werden hier Bedeutungsübertragungen induziert. Vollzieht sich ein Wechsel behutsam, aufeinander abgestimmt, graduell, dann ist das kontrastive Potential gering zu nennen. Vollzieht es sich aber drastisch, im Sinne eines unvorbereiteten, nicht synchronisierten, plötzlichen Wechsels, dann ist das kontrastive Potential hoch zu veranschlagen, dann verweist der Wechsel auf einen intendierten Rahmenbruch3. Ein Rahmenwechsel im Laufe eines Gesprächs wird im allgemeinen kooperativ erlangt. Gumperz' "Kontextualisierungshinweise" sind die linguistischen bzw. pragmatischen Feinheiten dieser wechselseitigen Ab- und Versicherungsprozeduren, daß man im selben Rahmen agiert bzw. daß man einen neuen Rahmen beschreitet. Es gibt eine Vielzahl linguistischer und pragmatischer Mittel, einen Rahmenwechsel explizit wie implizit vorzubereiten und durchzuführen. Zu diesen Mitteln zählen Vorschaltelemente, passepartout-Konnektoren,
3
Zum Konzept des "Rahmens" und der "Rahmung" vgl. Goffman 1977, Tannen 1979 und K. Müller 1984.
113
Anaphora und vieles andere mehr (vgl. Fritz 1982). Werden diese und andere Formen nicht gewählt, beleuchten sie entweder die mangelnde kommunikative Kompetenz des Sprechers oder ist ihnen eine konversationelle Funktion bzw. Intentionalität zu unterstellen, denn Kohärenzerwartungen sind Teil grundlegender Kommunikationsidealisierungen. Die jeweiligen Kohärenzformen sind wiederum abhängig von solchen Faktoren wie Sprecherkonstellation, der aktuellen wie allgemeinen gemeinsamen Interaktionsgeschichte der Beteiligten, dem Grade gemeinsam geteilten referentiellen Wissens, der Wahl mehr oder weniger gemeinschaftsstiftender Sprechstile etc. (Goffman 1983b)4. Ein intendierter Rahmenbruch hingegen macht sich gerade die Verletzung der Kohärenz"übereinkünfte" zu eigen, indem von der Normalformerwartung abgewichen wird. Und im Rahmenbruch liegt der metaphorische Charakter. Wenn ich zur "wissenschaftlichen Legitimierung" dieses Begriffs auf Blacks Interaktionsmodell zurückgreife, muß ich das, was er im semantischen Zusammenhang definiert, auf einen konversationsstrukturellen Kontext übertragen. Blacks Ansatz in aller Kürze: Der metaphorische Charakter ergibt sich durch die kontrastive Interaktion (als Spannung, Zusammenspiel) zweier "Systeme" (primäres vs. sekundäres Subjekt, metaphorischer Fokus vs. wörtlicher Rahmen) im Text und dem damit entstehenden "implikativen Komplex", der zu bestimmten nicht-standardmäßigen Inferenzen des geteilten Wissens einlädt (Black 1979). Hier wäre auch Weinrichs Definition anschließbar, die ich im folgenden verändere, indem ich lediglich "Wort" mit "Sequenz" austausche: "Eine Sequenz in einem Text (einer Konversation etc., V.H.) setzt eine bestimmte Kontexterwartung, die von dem tatsächlichen Kontext enttäuscht werden kann. Die (konversationeile, V.H.) Metapher ist definierbar als eine Sequenz in einem konterdeterminierenden Kontext" (nach Weinrich u.a. 1968:100). Mein Kontext ist natürlich nicht rein textlich zu verstehen, sondern bezieht sich auf die Textproduzenten in actu und auf den von ihnen selbst verarbeiteten und geschaffenen Kontext. - Abschließend dazu noch einmal Lakoff & Johnson: "The essence of metaphor is understanding and experiencing one thing in terms of another." Was tp hier im einzelnen mit der Frage "Türkischmann Du?" im Lichte des Gesagten versteht, wie er die Frage im einzelnen im Lichte des Ablaufs erfährt, soll nun im folgenden (weiter) unter die konversationsexegetische Lupe genommen werden. Code-Switching und konversationelle Metaphern In der soziolinguistischen Forschung zum Code-Switching sind einige Spielarten des sog. metaphorischen Sprachwechsels in der Konversation exemplarisch untersucht worden (wobei m.W.n. der Metapher-Begriff nie begründet worden ist). Die Grundlage bildete dabei die Erkenntnis, daß "Code-Switching neben seiner linguistischen Signifikanz auch Augenschein dafür liefert, daß tieferliegende, nicht verbalisierte Annahmen über soziale Kategorien existieren, die sich systematisch von offen ausgedrückten Werten und Haltungen unterscheiden" (Gumperz 1982a:99*). Mit der Einführung der Unterscheidung von "situa-
Selbst "formale Brüche" schließen Kohärenz keineswegs aus, solange diese Brüche Teil des "verabredeten" Inventars stilistischer Merkmale sind.
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tivem" versus "metaphorischem" Code-Switching haben Blom & Gumperz (1971) und Gumperz (1982a) zunächst folgende Funktionsunterschiede klar machen wollen: Situatives Code-Switching ist nur dort angezeigt, "wo ein Code oder Sprechstil regelhaft mit einer bestimmten Klasse von Aktivitäten verknüpft wird ..., so daß bereits sein Gebrauch als Signal zu verstehen ist, diese Aktivität in Gang zu setzen - selbst dann, wenn andere kontextuelle Hinweise fehlen" (Gumperz 1982a:98*). Diese Art von Code-Switching stellt also eine unmittelbare Korrelation von Situationswechsel und Sprachgebrauch dar. So in den mehrsprachigen Gemeinden, wie sie Blom & Gumperz (1971) und Gumperz (1982a) beschreiben, wo etwa ein bislang informelles Gespräch, das in der Vernakular-Variante geführt wurde, durch einen Themenwechsel zu professionellen Fachthemen oder durch das Hinzukommen eines Repräsentanten der offiziellen Hochsprache in der formalen Variante oder Sprache fortgeführt wird und der neuen Situation somit gerecht wird. Metaphorisches Code-Switching ist nach Gumperz dadurch charakterisiert, daß keine außerlinguistische Situationsveränderung eingetreten ist, die den Wechsel erwartbar gemacht hätte. Vielmehr gewinnt er hier den Charakter einer Andeutung oder Anspielung und ermöglicht mit der Verletzung der Kookkurenzerwartungen Schlußfolgerungen, die nicht die Aktivität als ganzes berühren, sondern "nur die illokutive Kraft und die Qualität des aktuellen Sprechaktes" (Gumperz 1982a:98*). Nicht der Situationswechsel induziert also den Code-Wechsel, sondern der Code-Wechsel will, wenn auch nicht immer einen Situationswechsel, so doch zumindest Ambiguität und einen Lesartwechsel induzieren. Eine solche Dichotomisierung mag zwar hilfreich erscheinen, ist aber durchaus nicht für jeden Code-Switching Typ durchzuhalten, da natürlich die Beteiligten immer mit ihrem Verhalten Situation schaffen, festlegen, verändern (vgl. Selting 1987) - somit ist CodeSwitching ganz im Gumperzschen Sinn als Kontextualisierungshinweis zu verstehen5. Entscheidender dünkt mich die Erwartungshaltungentsprechung, die natürlich etwas mit Konventionalisierung zu tun hat: Je konventionalisierter Aktivitätstypen und Sprach- bzw. Variantenwahl zusammenfallen, umso erwartbarer und umso weniger metapherhaft sind sie. Die Wahl des Code-Switching Verhaltens als Beispiel metaphorischer Konversationsfunktionen bietet sich nicht ganz unzufällig an. Weiter oben habe ich "Türkischmann Du?" bereits als linguistischen Codewechsel charakterisiert, der sich als diskursiver Codewechsel bis zum Ende des Gesprächs fortsetzt. In Anlehnung an (Blom und) Gumperzsche Kategorien
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Gumperz (1982a) ist mit der Einführung der Kategorie "konversationelles Code-Switching" dieser problematischen Zweiteilung in gewisser Weise entgegengetreten, auch wenn er den transzendenten Charakter nicht hervorhebt. Konversationelle Funktionen des Code-Switching dienen unter anderem der Unterscheidung von Formen zitierter und auktorialer Rede oder unterschiedlicher, aufeinanderfolgender Diskurstypen, der Auswahl bzw. dem Ausschluß von Adressaten ("we-code" vs. "they-code"), der Exposition von besonders relevanter oder neuer Information; weiterhin vermag damit der Grad persönlicher Betroffenheit oder Direktheit vs. Indirektheit etc. zum Ausdruck gebracht werden (vgl. Gumperz 1982a:59-99).
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handelt es sich bei dieser Frage um einen Fall von konversationellem und metaphorischem Code-Switching. Wohlbemerkt, hier steht zunächst allein der Sprechhandlungsaspekt dieser Frage im sequentiellen Fluß der Konversation im Mittelpunkt und noch nicht ihre interaktionslogischen Folgen. Der metaphorische Charakter der Äußerung speist sich aus mehreren "Submetaphorisierungen": (i) (ii) (iii) (iv)
(v)
Mit dem propositionalen Gehalt von Bs Frage nach tps ethnischer bzw. nationaler Zugehörigkeit wird metaphorisch ein Adressatenwechsel vorgenommen, Mit der linguistischen Oberflächenform der Frage wird dem "neuen Adressaten" metaphorisch eine ganz bestimmte linguistische Kompetenz unterstellt, Mit der linguistischen Konvergenz zum "Gastarbeiterdeutsch" wird metaphorisch ein linguistisch minderwertiger Status bzw. symbolischer Kapitalwert zugetragen, Mit der unerwarteten Initiierung des Sprechakttyps Eine-Frage-Stellen an dieser Stelle im Gespräch wird metaphorisch eine Re-Allokation der Rechte und Pflichten eingeläutet, Mit der Thematisierung der ethnischen/nationalen Zugehörigkeit wird metaphorisch etwas relevant gemacht, was dem bislang zur Debatte stehenden Thema des Bettelnmüssens und seinen angesprochenen sozialen wie persönlichen Implikationen extern war.
Alle fünf Submetaphorisierungen haben wiederum die Kontrastivität zum bisherigen Verlauf und zu den damit aufgebauten Erwartungen gemeinsam. Auch die spezifische Lokalität der Äußerung spielt zur metaphorischen Charakterisierung durchgehend eine Rolle, weil erst ihre Plazierung an dieser Stelle den kontrastiven Charakter ermöglicht. Die metaphorische Kraft des Satzes wird somit durch die Kontrastivität erst möglich, wobei die metaphorische Kraft auch wieder auf das kontrastive Potential zurückwirkt. Da sich diese fünf "Metaphorisierer" nicht analytisch voneinander trennen lassen, sondern auf verschiedenen Ebenen ineinanderspielen, lassen sie sich auch nicht einzeln, fein säuberlich nebeneinander, beschreiben. "Hinein-Fragen" Mit der Frage "Türkischmann Du?" wird zwar eine Frage gestellt, aber gleichzeitig hat sie als Alternativfrage, die korrekterweise zunächst mal nur ein alternatives "ja" oder "nein" als Beantwortung verlangt, auch assertorischen und "entäußernden" Charakter, denn sie legt nicht nur offen, was bislang verdeckt und verborgen, sondern zwängt auch etwas Neues in den Befragten hinein. "Fragen wird so zum Ausfragen. Aber das Ausfragen kennt keine Mittel, um das Herausfragen von dem Hineinfragen zu unterscheiden. Es ist beides untrennbar eines" (Bodenheimer 1984:104f.). B fragt hier weniger seinen bisherigen Gesprächspartner, mit dem er ja in einer ganz anderen Varietät des Deutschen - ich habe es oben abkürzungshalber "Normaldeutsch" genannt - gesprochen hat, sondern er adressiert einen potentiell ganz "anderen" Gesprächspartner, einen, der mit der linguistischen Foreigner Talk-Form
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adäquat "relexifiziert" scheint: Aus "Sie" wird "Du", aus einem Titel- und Namenlosen wird "Türkischmann", ein Ausländer, der Gastarbeiterdeutsch spricht, dem nur beschränkte Kategorien der Syntax und der Höflichkeit zur Verfügung stehen, und der ergo auch nur ein entsprechendes Pendant von seiten des Muttersprachlers versteht. Damit ist die Frage nach ethnischer Zugehörigkeit bereits weit überschritten, denn die Frage impliziert ja gleichzeitig, daß es sich (a) um einen Ausländer handelt, der gebrochen Deutsch spricht, und (b) daß dieser nur eine vereinfachte Variante der Normalform versteht. Daß dies mit dem bisherigen Adressaten nicht der Fall war, ist bis zu diesem Punkt mit Bs sprachlichem Verhalten empirisch zur Genüge belegt. Zwar hat B im Laufe des Gesprächs bereits die Erfahrung gemacht, daß Verstehensnachfragen und reparative Umwege zur Verständnissicherung vonnöten waren, diese aber wurden an keiner Stelle als spezifisch Rezipient-abhängig oder spezifisch ausländischer-Rezipient-abhängig, radebrechender-türkischer-Rezipientabhängig etc. hervorgehoben, d.h., B hielt die Normaldeutschvariante für die legitime Sprache ihres bisherigen Gesprächs, eine Sprache, über die sie beide - wenn auch in unterschiedlichen Graden - verfügten. Mit dem Switch gibt es zwei legitime Sprachen: Eine, autorisiert für alle Deutschen, für alle nicht näher identifizierbaren, Neutralität und Respekt erfordernden Gesprächspartner und eine, autorisiert für den Gebrauch mit Türken (und anderen "Gastarbeitern"). Der symbolische Wert linguistischer Akkomodationen Sprachen und Sprachvarietäten werden aber nicht nur sozial unterschiedlich bewertet, sondern sind nach Bourdieu (1977, 1982b) auch Bestandteil eines "linguistischen Marktes", wo sie als Teil des "symbolischen Kapitals" entsprechend dem "Feld", in dem sie verwendet werden, gemäß den Gesetzen des Marktes gehandelt und bewertet werden (vgl. 2.2). Nach Bourdieu ist eine Scheidung von Ökonomischem und Nicht-Ökonomischem nicht statthaft, vielmehr gelte es "die Wissenschaft von den ökonomischen Praktiken als einen besonderen Fall einer allgemeinen Wissenschaft der Ökonomie praktischer Handlungen zu fassen, die ... alle Handlungen, und selbst noch jene, die sich als interesselose oder zweckfreie, also von der Ökonomie befreite verstehen, als ökonomische, auf die Maximierung materiellen oder symbolischen Gewinns ausgerichtete Handlungen zu begreifen" (1976:356f.; letzte Hervorhebg. von mir). So dehnt Bourdieu das ökonomische Kalkül auch folglich auf "alle, sowohl materielle(n) wie symbolische(n) Güter" aus: "handele es sich um 'schöne Worte' oder ein Lächeln, um einen Händedruck oder ein Achselzucken, um Komplimente oder Aufmerksamkeiten, Herausforderungen oder Beleidigungen, um die Ehre oder um Ehrenämter, um Vollmachten oder Vergnügungen, um 'Klatsch' oder wissenschaftliche Informationen, um Distinktion oder um Auszeichnungen usw." (Bourdieu 1976:345). Auf weitere Aspekte des symbolischen Kapitals wird weiter unten noch einzugehen sein. Der Wert des "Gastarbeiterdeutsch" jedenfalls (und z.T. auch der seines "Foreigner Talk"-
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Pendants)6, um den es mir hier geht, ist auf dem Markt der symbolischen Güter allerdings mehr als gering, weder wird er von ändern Formen und Arten des Kapitals parallelisiert, noch ist es in solche konvertierbar. Kurz: Die Gruppe der "Gastarbeiter"-Sprecher ist in keiner Weise kapital- und damit macht- und einflußträchtig. Zu Bourdieus "ganzer sozialer Person, die spricht" zählt auch die Autorisierung dieses Sprechers als porte-parole seiner Gruppe, die ihm als solche ihr Mandat erteilt hat - sofern vertretungswürdige Werte (und Profite) auf dem Spiel stehn (vgl. Bourdieu 1982b:109). Das Mandat lautet: Mit einer Person aus der Gruppe der türkischen Gastarbeiter kann man "so" sprechen (siehe 4.1.4). Der Switch in eine geringgeschätzte Variante zeichnet den Sprecher hier natürlich nicht aus als porteparole einer geringgeschätzten Gruppe, eher als jemanden, der befugt ist, seine "eigentliche" Varietät vorzuenthalten und sich zu einer linguistischen "Konvergenz nach unten" (downward convergence) (Giles 1973) zu ergnaden. Konvergenzverhalten eines Sprechers in der sozialpsychologischen "Akkommodationstheorie" basiert auf einem Kosten-Nutzen-Kalkül, wobei konvergente Sprechakte Gratifikationserwartungen mit sich bringen (Giles & Smith 1979). Das gilt auch für eine Konvergenz, die "beinhaltet, daß der Sender den Empfänger als im Besitz eines Akzents wahrnimmt, der ein geringeres Prestige hat als sein eigener. Um Anerkennung zu finden, kann er ... seine Aussprache in Richtung dieser weniger prestigebesetzten Muster modifizieren. Der Effekt dieses speech shifts liefe darauf hinaus, in der Einschätzung des Zuhörers das Prestige des Sprechers zu verringern ... Durch einen Prestigeverlust in diesem allgemeinen Sinn kann der Sprecher andererseits einen Zugewinn haben und zwar durch die Anerkennung von Seiten des Zuhörers in der dyadischen Situation, da ihre Ähnlichkeit ja zugenommen hat" (Giles & Powesland 1975:174*). B konvergiert herunter in den Sprachgebrauch einer Gruppe, deren ethnolektale Varietäten keinerlei Prestige besitzen, ja, verachtet werden dabei konvergiert seine Sprache allerdings keineswegs mit der tps, in dessen linguistischer und pragmatischer Grammatik weder die Kopula ausfällt, noch morphologische Eigenarten vom Typ 'Türkischmann" gebraucht werden, noch ein unbekannter Gesprächspartner "geduzt" wird. Bs Konvergenz ist von daher eben auch nur metaphorisch: Zwar bewegt er sich sprachlich auf die Gruppe zu, deren putatives Mitglied tp ja ist, aber er konvergiert nach unten an tp als seinen konkreten Gesprächspartner vorbei und führt so anstelle faktischer Konvergenz vielmehr eine doppelte Divergenz durch: Er divergiert von sich als Sprecher einer Varietät mit höherem Marktwert zu einer mit niedrigem, und er divergiert von Bs mesolektaler "Gastarbeiterdeutsch"-Variante zu einer basilektalen Stigmavariante. Gemessen am akkommodationstheoretischen Postulat erscheint dieser Zug zunächst paradox, denn B geht es hier ja kaum um Anerkennung!
6 Foreigner Talk kann zum einen in sekundärer Referenz (vgl. Hinnenkamp 1982a) profitträchtig sein: Etwa im ausländerfeindlichen Witz oder ähnlichen Kontexten, wo er stilistischer Schmuck ist und Anerkennung von einer Zuhörerschaft erheischt (vgl. z.B. den weiter unten zitierten Comic). Zum zweiten ist ihm aber auch im Sinne der Akkommodationsthese Gewinn zuzuschreiben. Ich komme auf diesen Aspekt in 4.1.3 noch einmal zurück.
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Der Markt der symbolischen Güter lebt von der Konkurrenz, von den Möglichkeiten, den eigenen Kurswert ständig an dem anderer zu messen, vom symbolischen Profit. Ist der Marktwert einer Sprache zu gering, ihr Kapital so konkurrenzlos schwach und abgeschlagen, dann verliert sie ihre magische Kraft als marktwertes Gut, dann wird sie nur noch mißachtet und karikiert. Ihr Träger zu sein, ist schmählich, ihr Zuträger an andere zu sein impliziert eine perverse Mischung aus Mitleid und Schimpf an den Zugetragenen - und keinesfalls den Wunsch um Anerkennung. Und so wird sie tp zugetragen. Wie man eingebettet wird, so wirkt man ... Neben die syntaktisch-lexikalisch-pragmatische "Verunstaltung" der deutschen Sprache bei dieser Frage, die mit dem standarddeutschen "Sind Sie Türke?" propositional den gleichen Zweck erfüllt hätte, gesellt sich natürlich noch die Eigenart der konversationellen Einbettung der Frage in den Fluß des Gesprächs, die uneingeleitet und abrupt "aus heiterem Himmel" auf tp niederkommt: kein "Entschuldigen Sie...", kein "Übrigens...", kein "Darf ich Sie mal was fragen?". Die Frage kommt damit einem Coup gleich, einer plötzlichen und unvorbereiteten Vereinnahmung des Gefragten, dem nur die Möglichkeit einer kurzen "Ja/Nein"Antwort bleibt, sofern er das Grundschema Frage/Antwort = In-die-Pflicht-Nahme/DiePflicht-erfüllen nicht verletzen will. Die Frage wird hier zum linguistischen "Erzwingungsgerät" (Goffman), und zwar nicht als Frage an sich, sondern in ihrer Unvermitteltheit, ihrem Adressatenwechsel, ihrer plötzlichen Personifizierung, ihrem thematisch-inkohärenten Kontrast. Gerade letzterer Aspekt erhält in kognitiver Hinsicht noch eine besondere "coupmäßige" Note, weil die Frage aufgrund des bisherigen Gesprächsverlaufs nicht vorhersagbar war, denn ist einmal eine bestimmte Richtung des Gesprächs etabliert, dann sind unangemeldete Richtungswechsel kognitiv nur schwer verdaulich. Grice (1975) hat die Anforderung der Kohärenz unter der Konversationsmaxime der Art und Weise als ein spezielles Kooperationspostulat subsumiert: Äußere den Gehalt deines Gesprächsbeitrages in geordneter Form. Wo eine Konversationsmaxime aber verletzt wird, verweist sie auf eine mögliche "konversationeile Implikatur" (vgl. weiter unten). Sein und Nicht-Sein Mit jeder Frage nach dem, was man ist, geht auch die Komplementärzuweisung einher, was man nicht ist. Wenn man Türke ist, dann ist man nicht Deutscher und umgekehrt. Aber in diesem Sinne etwas zu sein oder nicht zu sein, impliziert mehr als nur eine "unschuldige" Zuordnung, ist in der Tat eine Seinskategorie, etwas Substantielles, Existenzielles. Die Identifizierung eines Gesprächspartners als Türke spricht damit gleichzeitig eine globale, oder mit Goffman: soziale Identität an. Barth spricht von "kategorialer Zuschreibung", eine, die ethnische Identität in Selbst- und Fremdzuschreibung dahingehend versteht, daß sie eine Kategorie konstituiert, die von ändern Kategorien derselben Ordnung unterscheidbar ist (1969:11). Teil derselben Ordnung sind natürlich andere ethnische Kategorien, hier vor allem "deutsch". Mit der kategorialen Zuschreibung "Türkischmann" wird nun eine Sein-
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Kategorie invoziert, "die eine Person hinsichtlich ihrer grundlegendsten, allgemeinsten Identität klassifiziert, eine, die von Mutmaßungen über ihre Herkunft und ihren Hintergrund bestimmt wird" (Barth 1969:13*). Die soziale Identität und globale Kategorienzugehörigkeit spielte lokal bis zu diesem Punkt im Gespräch keine Rolle. Lokal relevant waren die hic-et-nunc-Identitäten Bettler und potentieller-Spender-Passant. Lokal relevant gemacht wurden biographische Daten, die sich unmittelbar aus dem konversationellen Kontext ergaben: biographische Daten des Bettlers wie seine Einkommensverhältnisse und im Zusammenhang damit Daten seiner Arbeitskarriere, erschließbar aus dem Bezugsrecht der Unfallrente. Daß solche biographischen und persönlichen (im Gegensatz zu sozialen) Identitätsdetails während einer Begegnung bislang Unbekannter - hat man sich einmal darauf eingelassen - mit ins Spiel gebracht werden, ist durchaus nicht ungewöhnlich (vgl. Schenkein 1978). (Allerdings lassen solche Details oftmals weitergehende, soziale Schlüsse zu!) Zudem sind diese Identitätsdetails zwar durch Fragen von tp "hervorgelockt", nichtsdestotrotz unterliegen sie der Selbstselektion, mit ändern Worten, es handelt sich bei B um explizite Selbstbeschreibungen von Identitätseigenschaften. Mit Bs Nachfrage-Annahme-Frage handelt es sich im Gegensatz dazu um ein dem Gesprächskontext externes Datum, das eine explizite Fremdbeschreibung darstellt. Wieder stehen sich die beiden aufgeklappten Gesprächshälften kreuzverkehrt gegenüber: elizitierte lokale Identitätsselbstbeschreibungen von B in der einen Hälfte und die kategorial-kategorische globale Identitätsfremdbeschreibung in der ändern Hälfte. Kategoricnwissen An Kategorisierungen dieser Art hängt aber noch mehr als nur das damit invozierte Sein (und Nicht-Sein), sie konnotieren gleichfalls moralische und soziale Bewertungen, die zusammen mit der nomin(alis)ierten Kategorie invoziert werden. Kategorisierungen im Verlaufe der Interaktion sind relevante Kontextualisierer für die beteiligten Parteien, die sich mit ihrer Hilfe eine gemeinsam geteilte Ordnung, Zuordnung und Aufordnung der Dinge anzeigen bzw. unterstellen. Sie verweisen auf Organisationelle Eigenschaften des Wissens um die Welt und bilden somit eine der Grundlagen, die die Generierung von Präsuppositionen gewährleistet. Anhand des Beispiels "The baby cried. The mommy picked it up" zeigte Sacks (1972b) auf, daß es eine präferierte Zuordnung von "mommy" als "Mutter des Babys" gibt und daß beide als zwei Lebensphasen-Repräsentanten der Kategorie "Familie" - und zwar genau einer Familie und nicht verschiedener Familien - gelten. Doch diese scheinbar selbstverständliche Zuordnung der Dinge wirft eine Anzahl relevanter Fragestellungen auf, wie Sacks in verschiedenen Aufsätzen gezeigt hat (Sacks 1967, 1972a, 1972b): Wie kann man die Selektionsregeln bestimmen, nach denen Mitgliedschaften zu bestimmten Kategorien im Verlaufe der Interaktion vorgenommen bzw. erlangt werden? Wie verwenden die Gesellschaftsmitglieder ihr Kategorienwissen bzw. wie wird in der Interaktion darauf aufgebaut und sich auf ihre Bedeutsamkeit verlassen? Mit welchen Schlußfolgerungen und Implikationen sind
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Kategorien und Kategorisierungen für die Beteiligten verknüpft? Fragen, die von weiterreichendem theoretischen Interesse sind (vgl. Jayyusi 1984), die für die vorliegende Diskussion aber nur in Teilaspekten gestreift und nutzbar gemacht werden können (vgl. aber Hinnenkamp 1989). Soziale Implikationen von Kategorien Mit "Türkischmann Du?" wird für tp eine Kategorie relevant gemacht oder doch zumindest lexikalisiert, die bis zu dieser Stelle unthematisiert war. Das Personalpronomen "Sie" in "Sie harn recht" (Zeile 33) hat noch eine andere Kategorisierung zur Grundlage als dasselbe Pronomen ein paar Zeilen später (Zeilen 41 und 43). Wenn man aber explizit zu einem Jemand wird, der man vorher auch nicht implizit war, dann erlaubt dieser neuerliche Rezipient auch einen retrospektiven Abgleich mit dem alten. Der alte Rezipient hat seine Identität als Türke weder offen behandelt noch in irgendeiner Weise kaschiert. Natürlich haben Akzent, grammatikalische und phonologische Abweichungen von der "Normaldeutsch"Varietät eine Identifikation als Nichtmuttersprachler des Deutschen ohne weiteres möglich werden lassen. Aber zur Debatte in der bisherigen Transaktion standen Betteln und soziale Ungerechtigkeit, den äußeren Anlaß dazu gab die leibliche Präsenz des Bettlers. Es bestand also ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Kopräsenz, den begrenzten offenkundigen Rollen und Teilidentitäten der Interaktionsteilnehmer und dem sich entwickelnden Gesprächsthema. Die sozialpolitische Belehrung oder Agitation, die Solidaritätsversuche und Alternatiworschläge hinsichtlich des Bettelnmüssens, ja selbst die drastische Kennzeichnung der Lage seines Gesprächspartners als "bei Ecke stehn und von Hunger von andre Menschen betteln" - sie alle stehen in einem nachvollziehbaren Sinnzusammenhang mit der Almosen-erbittenden "Einladung" des Bettlers, die als erster Schritt, als eine - wenn auch passive - generalisierte Anrede an alle Passanten aufgefaßt werden kann. Ganz anders die vordergründige Beziehung zwischen "Türkischmann" und der aktuellen verbalen wie erhofften pekuniären Transaktion zwischen den Gesprächspartnern: Sie liegt keineswegs auf der Hand! Auch der Zusammenhang von sozialpolitischer Agitation und Ausländerstatus bleibt opak. Gleichwohl ist noch einmal zu betonen, daß tp an keiner Stelle zu verbergen versucht hat, was er äugen- bzw. "ohren"scheinlich ist, nämlich jemand, der mit ausländischem Akzent spricht. Die Verwertbarkeit dieses Akzents ist allerdings in dem Moment, wo er den Mund öffnet, wo er diese Information "von sich gibt", der beteiligten Öffentlichkeit unwillkürlich überstellt. Obwohl nun dieser ausländische Akzent als "Ersatzinformation" (Goffman) für B hinreicht, eine Ja/Nein-Ratefrage bzgl. einer ganz spezifischen Nationalität zu stellen, wird mit der Gesprächsentwicklung deutlich, daß diese unvermeidbare en passant-Information gleichzeitig nicht ausreicht, der Aufdeckbarkeit der "wahren" Identität zu entgehen, gibt es doch ganz verschiedene Kandidaten "ausländischen Akzents", die ganz verschiedenen Kategorien zugeordnet werden können. Der jetzige Adressat "Türkischmann" ist jedenfalls ein ganz anderer als der anfängliche Spenderkandidat und sozialpolitische Agitator. Aber mit der Entdeckung einer zweiten anderen Person
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in einer ersten kann diese zweite natürlich an die ursprüngliche rückangebunden werden. Gleichwohl steht B's erste Kategorisierung von tp als potentieller Spender, dem gegenüber die Legitimität dieser Zuschreibung mit der persönlichen Auskunftserteilung ja unter Beweis gestellt wurde, keineswegs in einem Widerspruch zur zweiten Kategorisierung - sie entstammen nur völlig unterschiedlichen "Kollektionen" (Sacks). "Spender" oder "Jemand-dereinem-Bettler-was-gibt" ist die Typisierung einer Kategorie, die so unterschiedlichen Kollektionen zuzuordnen ist wie "die, die ihre Nächsten lieben" oder "die Bessergestellten der Gesellschaft" oder "die, die Mitleid haben" oder - aus anderer Perspektive - "die, die man ruhig anschnorren kann". Bettler und Spender bilden komplementäre Kategorien, sind ein standardisiertes Paar mit einem relativ klar umrissenen reziproken Wissensbestand um die gegenseitigen Rechte und Pflichten. Die Kategorisierung "Türkischmann" schöpft aus den Kollektionen "Ausländer" und "nationale, ethnische und soziale Zugehörigkeit". Diese Mitgliedschaften setzen die erste keineswegs außer Kraft, dominieren sie aber, da die Ko-Selektion von moralischen und sozialen Kategorien, die damit einhergeht, erstere weniger relevant macht. Schon die Tatsache, daß eine ethnische und nationale Zuordnung gleichzeitig eine soziale impliziert, zeigt die dominierende Kraft dieser neuen Kategorisierung auf. Eine soziale Kategorisierung ist sie schon von daher, da mit "Türkischmann" und "Du" die Ebene der reziproken Anrede verlassen wird. Aber "Türkischmann" besagt nicht nur, daß ein Mann Türke oder von türkischer Nationalität oder Staatszugehörigkeit ist, sondern spricht im Kontext der Migration unmittelbar den Gastarbeiterstatus an - ohne türkische Gastarbeiter in der Bundesrepublik gäbe es genausowenig den "Türkischmann", wie es den "Amerikanischmann", den "Holländischmann" oder "Finnischmann" etc. gibt. "Türkischmann" ist exklusive reserviert für die face-to-face Kommunikation mit türkischen Gastarbeitern bzw. für die Bezugnahme auf solche Kommunikation zwischen Deutschen und Türken. Röche (1988) zitiert eine ähnliche Gebrauchsweise eines seiner deutschen Informanten, der sagt: "Ich hab nix gegen Türkischmann, Türkischfrau hab ich nimmer. Nur ihr anders sprechen wie wir, nä? Ihr anders sprechen. Andere Sprache. Ich hab nix dagegen"7. Auf die soziale Position solcher Ausländerkategorien wie "Gastarbeiter" und Asylbewerber ("Asylanten") braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden, ich unterstelle sie als hingehend bekannt. Auf die soziale Bedeutung dieser Kategorienmobilisierung von Seiten des Bettlers gehe ich abschließend noch einmal ein.
7 In verfeinerter Form setzt sich diese Bezeichnungspraxis auch in den wissenschaftlichen und sozial-engagierten Kreisen mit "Gastarbeiter"-Klientel fort. So ist dort in salopper Weise von "Türkenkindern", "Griechenkindern", 'Türkenklasse" etc., von "Türkengetto", 'Türkenliteratur" etc. die Rede. In manchen Schulen gibt es eine 9. (sie!) TV, will sagen, "Türken-Vorbereitungsklasse". "Deutschenkinder" oder "Deutschenklasse" etc. klingt trotz der gleichen Silbenanzahl komisch, ergo spricht man von "deutschen Kindern", bzw. von "holländischer Literatur", "amerikanischem Club" etc.
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Ich habe auf den letzten Seiten versucht aufzuzeigen, worin die metaphorische Gewalt einer kleinen Frage, an der "richtigen Stelle" und "in der richtigen Weise" gestellt, bestehen kann. Ich habe versucht aufzuzeigen, wie über den symbolischen Adressatenwechsel, die fingierte Konvergenz der Sprechstile, die linguistisch-pragmatische Kompetenzzuweisung, den Coupcharakter der Frage, die entpersönlichende Relevanzsetzung sozialer, prototypenrepräsentierender Identität und die Inanspruchnahme des Rechts auf Fragen eine soziale und moralische Kategorie invoziert wurde, die der bisherigen Transaktion und den damit verbundenen lokalen Identitäten zusammenhanglos entgegensteht. Ich habe schließlich und endlich mit all dem versucht, deutlich werden zu lassen, wie ein Ausländer in der verbalen Kommunikation qua der Mittel derselben erst zu einem solchen bzw. zu einem ganz bestimmten Ausländer gemacht wird, in welche Weise eine interaktive Option gewählt wurde, die sich Ressourcen außerhalb der Kommunikation zu eigen machte und diese lokal einspielte. Kurz: Ich habe versucht zu zeigen, wie ein Ausländer in der interkulturellen Kommunikation hervorgebracht wurde, wie ein irgendjemand zu einem "türkischen GastarbeiterJemand" mit all den damit verknüpften Rechten und Pflichten, moralischen und sozialen Konnotationen wurde und wie damit in der Kommunikation eine soziale Kategorie symbolisch (im doppelten Sinne!) reproduziert wurde. Aber die Geschichte geht ja noch weiter Doch bevor ich die Fortsetzung der Geschichte behandele, sei mir an dieser Stelle ein kleiner Exkurs erlaubt über: KONVERSATIONELLE METAPHERN UND KONVERSATIONELLE IMPLIKATUREN Es stellt sich die Frage, ob nicht mit dem Griceschen Konzept der konversationeilen Implikatur (Grice 1975) das, was ich als Metaphorisierung umschrieben und analysiert habe, genauso gut oder besser hätte erfaßt werden können. Metaphern - wenn auch nur semantische - dienen Grice zudem selbst als wichtige Beispielsquelle der "Maximenausbeutung". Die Frage "Türkischmann Du?" ist zweifelsohne im Griceschen Sinne Implikaturverdächtig: Eine mit der Frage einhergehende Maximenverletzung, nämlich die Verletzung der Forderung "Be orderly!" habe ich bereits oben genannt (die Grice selbst allerdings bei der Exemplifizierung von konversationellen Implikaturen ausspart), eine andere, wie "Sprich in derselben Sprache weiter, in der Du angefangen hast" und vielleicht weitere ließen sich aus dem Griceschen Grundstoff modellieren. Auch andere Maximenverletzungen (wenn auch nicht unbedingt Grice'isch gedeutet) werden im folgenden noch Erläuterung finden, wenn es um die Vor- und Nachgeschichte der Türkischmann-Kategorisierung geht. Eine konversationeile Implikatur wäre aber m.E. nur mit "Türkischmann Du?" im Zusammenhang mit dem dann folgenden Gesprächsverlauf nachzuweisen, nämlich mit der unkooperativen Konsequenz, die mit der Bejahung der Frage eintritt (siehe unten). Als konversationelle Metapher wäre die Frage dann hier nur als eine Art vorbereitendes Mittel zu einer konversationellen Implikatur zu lesen. Bis zu diesem Punkt besteht die einzige deutliche Regelverletzung in Form des Code-Switches in eine soweit nicht gesprochene "Sprache", in den Foreigner Talk. Aber wie ich später zeigen werde, relativiert sich jede Verletzung mit ihrer Sagbarkeit und Verstehbarkeit (siehe 4.1.3ff.)
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Eine entscheidende Einschränkung für mich, im Rahmen des GesprächsimplikaturenKonzepts zu arbeiten, stellt allerdings die Tatsache dar, daß die Griceschen Maximen meines Wissens nach noch nicht auf ihre Anwendbarkeit in interkultureller Kommunikation hin geprüft worden sind - außer meinen schüchternen Versuchen in 3.3. Den Griceschen Maximen kommt zwar ein universeller oder doch zumindest transzendentaler Charakter zu (vgl. Kanngießer 1973), nichtsdestotrotz nennt Grice selbst einige Beschränkungen, die den Schluß zulassen, daß wiederum bestimmte Kommunikationsideale als Ausgangsbedingung verlangt werden, die nicht unbedingt für die Voraussetzungen eines weitgefaßten Begriffs der interkulturellen Kommunikation gelten müssen. Grice erwähnt (a) die "ceteris paribus"Bedingung, beschränkt sich (b) auf "maximal effektiven Informationsaustausch" und nennt schließlich (c) die Bedingung weitgehender Identität referentiellen Wissens (Grice 1975). Soweit einige der "Maximik" interne Beschränkungen, die hier vom Umgang mit Maximenverletzungen abraten lassen. Aber es gibt auch externe Gründe: Schützenhilfe zu dieser Argumentation soll mir Hymes (1986) leisten, der den universellen Anspruch der Konversationsmaximen als eine "ethnozentristische Ungeheuerlichkeit" (ibid.: 72*) bezeichnet: Ihnen komme allerhöchstens Dimensionscharakter zu, keinesfalls aber logische Funktionen des Verstandes (womit sich auch meine eigene Argumentation in 3.3 relativiert!). "Das Kooperationsprinzip selbst findet nicht universell Anwendung. Damit wird es zu einer empirischen Frage, welche Situationen, Ereignisse, Aktivitäten, Beziehungen überhaupt auf seiner Grundlage vollzogen werden - und welche nicht. Es ist eine empirische Frage von höchstem Interesse, was das denn für andere Arten von zugrundeliegenden Prinzipien sind, die in denjenigen Situationen zum Vorschein kommen können, wo es das Kooperationsprinzip nicht ist. Hier betritt man die wahre Welt der konversationellen Organisation, die Welt, in der die diskursiven Mittel von den Menschen auf der Welt zu ganz verschiedenen Zwecken organisiert sind: Wahrheit und Täuschung; Zurückhaltung, Präzision und Weitschweifigkeit; Relevanz und Redundanz; Klarheit, Mehrdeutigkeit, andeutende Obskurität - sie alle sind mögliche Grundlagen eines persönlichen, situationsbezogenen oder kulturellen Stils. Solche Stile können sich aber als die Norm etablieren, von denen eine Abweichung auf eine Implikatur hinweist. Aber warum wahrhaftig, wenn im allgemeinen vermeidend oder täuschend? Warum präzise, wenn ansonsten weitschweifig? Warum relevant, wenn normalerweise phantasievoll? Warum klar, wenn gewöhnlich verklausuliert?" (Hymes 1986:73*, meine Hervorhebg.)
Hier spricht nicht nur der skeptische Kulturrelativist, sondern auch der gewissenhafte Ethnograph. So hat im Rahmen der Ethnographie der Kommunikation z.B. Keenan (1976) den Universalitätsanspruch Gricescher Maximen im Malagasy (Madagaskar) überprüft und aufgezeigt, daß hier die Maxime der Quantität standardmäßig verletzt wird, da Information als symbolischer Kapitalwert und unliebsame In-die-Pflichtnahme betrachtet wird und von daher zurückgehalten werden muß8. Daß Abweichungen von dieser Norm Implikaturen einladen, bleibt auch hier universell - allerdings nur als strukturelle Dimension, entschärft und ent-ethnozentriert! - Hymes' Argumentation ließe sich einiges entgegenhalten, so die Auffassung, daß jede gewohnheitsmäßige Täuschung eben zur erwarteten Wahrheit werden
8 Die "Aufrichtigkeitsmaxime" wäre hier in Anbetracht der Maxime der Quantität verletzt, nämlich seinen Beitrag zur Kommunikation so informativ wie erforderlich zu machen, sie ist aber nicht verletzt hinsichtlich der Maxime der Qualität. Diese Einschränkung verweist auf die Problematik, bei den "logischen Funktionen des Verstandes" die logische Funktion der Definitionsmächtigkeit (vgl. weiter unten) auszuschließen.
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kann und die Wahrheit stattdessen eine Implikatur einlädt! (Was aber sind dann Wahrheit und Täuschung, wenn ihre Umkehrung konventionalisiert ist?) So ließe sich der Relativismus re-relativieren. Hier läge im übrigen für die Kontrastive Pragmatik und die Kontextualisierungshypothese ein geradezu fantastischer Fundus interkultureller Kommunikationsinkompatibilitäten zur Untersuchung vor. Die Vorzüge Gricescher Maximen scheinen jedenfalls mit den ihnen unterstellten Prämissen zu stehen und zu fallen. Vielleicht weil der Status zwischen universellen und transzendentalen Ansprüchen mit den oft beschworenen "empirischen Korrelaten" oder "kontingenten Bedingungen" noch weitgehend ungeklärt ist? Zudem sei noch eine weitere Schwierigkeit erwähnt: Konversationelle Implikaturen können laut Grice letztendlich nicht in Widerspruch zum Kooperativitätsprinzip der Kommunikation stehen, sondern sind unter der Voraussetzung der grundsätzlichen Kooperationsaufrechterhaltung der oben genannten Idealisierungen vor allem Lesartverweise im Widerspruch zum propositionalen Gehalt, also Verweise bezüglich der Diskrepanz von Sagen und Meinen. "Türkischmann Du?" leitet allerdings die unkooperative Wende ein und verweist auf Fragen, inwieweit konversationeile Implikaturen an der Negation ihrer eigenen Voraussetzung noch Bestand haben können oder inwieweit Kooperativität (als Prinzip) auch zum Vollzug der Nichtkooperation vonnöten ist - Fragen, denen ich an dieser Stelle nicht weiter nachgehen will. Da es mir letztendlich auch nicht um den Nachweis der Anwendbarkeit des Griceschen Theorieansatzes in der interkulturellen Kommunikation geht, lasse ich mich theoretisch nicht weiter auf die damit verbundene Diskussion ein, sondern bleibe lieber bei meinem theoretisch weniger verbindlichen Jargon.
Die Legitimierung der Frage durch die Antwort Zurück zur Analyse des Gesprächs. Der Frage "Türkischmann Du?" folgt das aufrichtige "Ja" des Befragten. Eine Frage wird meist dazu gestellt, damit sie beantwortet wird, und jede erfolgte oder unterlassene Antwort ist mehr als nur die Beantwortung oder Nicht-Beantwortung der Frage, sie ist immer auch als ein "Verhaltenskommentar" (behavioral comment) zu glossieren (vgl. Goffman 1983b:49). Und wie immer man antwortet, man ist der Gelackmeierte, weil man Informationen von sich gibt. "Niemals und nirgendwo wird man von dem Fragenden die Antwort verlangen oder nur erwarten - keineswegs: Er hat ja gefragt; das Antworten ist Sache der ändern" (Bodenheimer 1984:103). Der Gefragte ist also der Dumme, So bestätigt dann tp, daß er der "Türkischmann" ist, den B nicht erst mit dem performativen "ich merk es" bemerkt hat, vielmehr zum Zwecke der Fragestellung bereits gemerkt haben mußte, da das Wörtchen "ja" (Zeile 36b) ja wohl kaum zum "Merken" hingelangt hat. Aber kaum, daß diese Seitensequenz dem Rezipienten ihren möglichen Status verdeutlicht hat, ist nach der formalen Ratifizierung qua Fragebeantwortung auch schon ihre pragmatische Legitimität im folgenden ratifiziert: "Ich merk es", die dritte Position dieses kleinen Frageexposes, neutralisiert prepositional alle potentiell aufkommenden Verdachtsmomente, etwas anderes als die Beantwortung einer Neugierfrage im Sinn gehabt zu haben und versperrt mit ihrem formal wie semantisch nichtkontigenten Charakter die leichte Fortführung des Frageinhalts als neuen Topos - es sei denn, tp griff ihn jetzt auf einer Metaebene auf: "Moment mal, wieso ist das denn von Interesse?" oder "Warum interessiert Sie das?" oder
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aggressiver "Ja nun, was hat das mit Ihnen zu tun?". Oder noch besser, mit gleicher sprachlicher Münze heimzahlend, "Warum Du fragen?" etc. (Wie in dem kleinen Comic von Jobst Müller (Titanic 8/1982:39), wo der Wohnungssuchende "Gastarbeiter", der in vorzüglichem Deutsch bei den Vermietern vorstellig wird, bei seiner "Entdeckung" aufgefordert wird, erstmal richtig Gastarbeiterdeutsch zu lernen und sich dann - geläutert - mit "Du mich am Arsch lecken" verabschiedet!) Aber jede dieser nachgeschobenen Metaexpansionen wäre schwierig gewesen, denn die günstigste Stelle für eine infragestellende Gegenfrage oder einen Protest ist mit tps bereitwilligem "Ja" (Zeile 36b) passoe. Die Tatsache, daß tp dann doch noch Geld spendet, ist als Schwäche (und schlechtes Gewissen?) zu werten. "Dann eben nicht" o.a. wäre eine letzte Möglichkeit der Legitimationsrelativierung gewesen. Aber die Zuflucht in die Renormalisierung des Bettler/SpenderVerhältnisses und der gemeinsam getragene rituelle Ausklang setzen Bs "Reparaturerfolg" (siehe weiter unten) die Krone auf. So trifft hier zu, was Bourdieu als die reconnaissance par meconnaissance bezeichnet, nämlich die Verkennung der Fragefunktion qua erwartungsentsprechender Ratifizierung und damit nicht nur ihre konversationeile Anerkennung, sondern auch ihre moralische Legitimierung durch den Beantworter selbst. So sehen wir mit Bodenheimer (1984:107) "wie es zugeht, wenn das Fragen den Befragten trifft und schlägt - und für sein Getroffen- und Geschlagenwerden noch schuldig sein läßt." Die moralischen Folgen der Aufdeckbarkeit Doch die moralischen Folgen dieser Kategorisierung gehen noch weiter: Die Zurückweisung des Rechts auf Spenden "Sie brauchen (mir) nich helfen!" (Zeile 39) ist nur die verbalisierte Konsequenz der Übernahme des "ersten" Gesprächspartners in den "zweiten", ist Ausdruck der Vereinnahmung lokaler hic-et-nunc-Identitäten in die "globalisierte" Identität und Kategorie ethnischer, linguistischer und sozialer Zugehörigkeit des "Türkischmann-Seins". Mit ändern Worten "Sie als Türke brauchen mir nicht helfen!" (Mit der Implikation: "Wenn Sie Deutscher wären, würde ich ja was annehmen".) Daß diese Kategorisierung - implizit ihres moralischen Verweises auf die damit eingeschränkten Rechte eines so Kategorisierten - auf ein geteiltes Kategorienwissen aufbaut, beweisen die weiter vorne beschriebenen nachfolgenden Reaktionen von tp, der getroffen ist, sich in Ausflüchten andeutet etc. Erst damit kommt die Kategorisierung letztendlich zum Zuge. Wenn aber die plötzliche Fremdidentifizierung als etwas, was man vorher angeblich nicht war, die moralische Legitimierung für die Solidaritätszurückweisung, die Argumentationsblockade und den Gesprächsabbruch, kurz: für die Aufkündigung der Kooperation, liefert, impliziert sie nicht nur die soziale Geringschätzung, die mit dieser neuen Kategorisierung einhergeht. Sie unterstellt auch die Nichterfüllung der "Aufrichtigkeitsmaxime" (vgl. Grice
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1975)9, denn die Aufdeckung dieser Identität als Türke bzw. türkischer Gastarbeiter leitet ihre Legitimation und konnotative Kraft bereits aus dem Tatbestand der Aufdeckbarkeit dieser Identität ab. Als aufdeckungsrelevant gelten im allgemeinen solche Eigenschaften und Kategorienmitgliedschaften, die mit dem konventionellen Erwartungshorizont des situativen Rahmens krass inkompatibel und diskrepant erscheinen, die außerhalb der präferierten Selektions- und Koselektionsregeln von Kategorienzuweisungen liegen. Für Sacks' Geschichtchen "The baby cried. The mommy picked it up" würde sicherlich die Lesart "Kindesentführung" eine nicht-präferierte und unkonventionelle Interpretationsweise sein, obgleich die Eigenschaften "Mutter" und "Entführer" sich keineswegs ausschließen. Aufdeckungsrelevante Zugehörigkeiten sollten entweder gesichert kaschierbar sein oder an der richtigen Stelle offengelegt werden. Insofern sind Aufdeckungsrelevanz und Verdeckungsrelevanz in vieler Hinsicht gleiche Beschreibungen von unterschiedlichen Enden des Problems her. Weiterhin unterliegen diese Beschreibungen natürlich nicht kategorial-universellen Beschränkungen, sondern sind abhängig von den beteiligten Erwartungen und den lokalen Produktionsbedingungen der Interaktion. Ihre Nominierbarkeit bleibt von daher weitgehend eine Frage des kommunikativen savoir faire. Eine stark erwartungsdiskrepante Aufdeckung impliziert aber, daß die fragliche Zugehörigkeit von vornherein und unzweideutig hätte offenbart werden müssen. Wo dies unterlassen wird, sieht man sich dann "völlig zu recht" der Wut und Ungnade derjenigen ausgesetzt, die man durch das Verschweigen getäuscht und reingelegt hat, denen man etwas "vormachen" wollte, was man nicht (allein) war. Diese Sichtweise verkehrt in paradoxer Weise das Schicksal eines jeden Diskreditierbaren und Stigmatisierbaren, der über die Manipulation vermittelter Informationen über sich der Diskreditierung und Stigmatisierung entgehen will (vgl. Goffman 1963) in einen, dem aus der Kaschierungsunterstellung seiner Stigmatisierbar; keit der Strick deliberater Stigmamanipulation gedreht wird. Sie impliziert aber auch die traurige Konsequenz, daß die Orte und Gelegenheiten, an denen das ethnische Anderssein stigmatisierbar ist, immer als mögliches Handlungsschema antizipiert und in die Rezeption der Produktionsbedingungen einkalkuliert werden muß. Hier mündet Selbst-Beobachtung dann notwendigerweise in Informationskontrolle, und Informationskontrolle endet in Informationsmanipulation, die als Manipulation der Diskreditierbarkeit wiederum diskreditierbar wird. Der Mechanismus selbstdiskreditierender Fremddiskreditierung nimmt so seinen - sozial wie psychisch - destruktiven Verlauf.
Nebenbei bemerkt: Diese Art des Umgangs mit der Qualitätsmaxime (wie auch mit ändern) findet sich (in unserer westlichen Kultur?) nahezu standardmäßig für bestimmte Professionsschichten wie etwa Politiker wieder. Vgl. z.B. Heringers Abhandlung über das nach-tschernobyle (Dcs-)Informationsmanagement (Heringcr 1987).
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Was bislang allerdings noch nicht deutlich wurde, ist, warum zu diesem Mittel dieser Kategorisierung an dieser Stelle gegriffen wurde bzw. gegriffen werden konnte, wie sich dieser kommunikationsstrategische "Kunstgriff von B konversations- und interaktionslogisch in die thematische und interaktionsgeschichtliche Entwicklung einfügt. Im ersten Teil meiner Analyse habe ich darauf verwiesen, daß B mit der Betonung des temporären Status seiner Bettelei einer eindeutigen und unwiderruflichen Kategorisierung entkommen will, in die ihn tp aber gerade mit seiner prototypischen Überzeichnung zwingt. Diese Kategorisierung ist am deftigsten in der pathetischen Charakterisierung "Haben Sie viel gearbeitet bis jetzt und jetzt hier bei Ecke (h) stehn und von Hunger von andre Menschen betteln" (Zeile 31f.). Mit "Türkischmann Du?" wird diese Kategorisierung mit einer Gegenkategorisierung pariert. Die vorhandenen "Ersatzinformationen" machen diesen Versuch zu einem vielversprechenden Kandidaten in diese Richtung, tp ist B mit seiner Hartnäckigkeit zu weit gegangen, hat das tolerierbare Maß an Einbruch in die "Territorien des Selbst" (Goffman) seines Gesprächspartners überzogen und wird nun seinerseits auf den ihm "gebührenden Platz" verwiesen - sozusagen als "Bestrafung" für den "gesichtsbedrohenden Akt" (face threatening act) (Goffman). Insofern ist diese Gegenkategorisierung auch wieder Teil der kontrakonfliktiven Mittel sozialer Kommunikation, ist sie als eine Reparaturmaßnahme zur Wiederherstellung unterminierter Ordnung anzusehen. Die kontrakonfliktiven Mittel in den weiter vorne beschriebenen interkulturellen Kommunikationen waren linguistische Mittel, die auf entsprechende linguistische und pragmatisch-konversationsstrukturelle Störungen hin zum Einsatz kamen, also linguistische Krisen linguistisch reparierten. Nun handelt es sich bei vorliegendem Beispiel weiterhin um - wenn man so will - linguistische und interkulturell-spezifische Mittel, die aber außerlinguistische Krisen zu reparieren haben (siehe unten). Hier besteht allerdings zunächst das Erläuterungsbedürfnis, wie die sozialwissenschaftlichen Kategorien "Reparatur", "Gesichtsbedrohung" und "Ordnung" in und durch die verbale Interaktion analytisch ineinanderspielen.
4.1.3
GESICHTSVERLUST IM ANGESICHT SYMBOLISCHER KAPITALVERWERTUNG
"Face" Goffmans Konzept "face" bzw. "face work" findet sich in den deutschen GoffmanÜbersetzungen und Rezeptionen in m.E. verkürzter Weise als "Image" und "Imagepflege" übersetzt. "Face" im Goffmanschen Sinn besagt aber viel mehr als das, eher so etwas wie das öffentlich zur Schau getragene und immer wieder bestätigungsdurstige positive Selbstbild des Individuums, "der positive soziale Wert, den ein Individuum gemäß der Linie, die es nach Auffassung der ändern im Laufe einer Begegnung verfolgt hat, erfolgreich für sich in Anspruch nimmt ... eine Vorstellung des Selbst, das sich nach sozial anerkannten Eigen-
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schaftszuschreibungen eingrenzt" (Goffman 1955:5*). "Face" bezeichnet also eine außerordentlich komplexe wie fragile Angelegenheit. "Face" ist allgegenwärtig - in "fokussierter" wie in "nicht-fokussierter" Interaktion. Begegnungen sind immer auch "face engagements" (Goffman 1964:6)10. "Face" verlangt die wechselseitige In-Rechnung-Stellung und Geltungsberücksichtigung des Selbstbildes durch andere sowie die Berücksichtigung des gleichen Bedürfnisses der anderen; es ist - wie Goffman immer wieder aufgezeigt hat (siehe v.a. Goffman 1983a) - ein wichtiges intersubjektives Medium normativer Ordnungskontrolle. Face-to-face Kommunikation gewinnt damit eine Dimension, die die intentionale verbale wie non-verbale Zuwendung in Frage stehender kopräsenter Kommunikanten "von-Angesichtzu-Angesicht" überschreitet, insofern neben der leiblichen Präsenz (oder auditiver etc. Teilpräsenz) im Normalfall der Kommunikation immer auch dieses Selbstbild des Selbst und der anderen Anwesenden "mitspricht": von Angesicht-zu-Angesicht zu (Selbst-)Selbstzu-(Fremd-)Selbst. In der Soziolinguistik und der Pragmatik hat das Goffmansche "face"Konzept, das Goffman wohl ursprünglich aus Durkheims Unterscheidung von "positivem" und "negativem Ritus" (Durkheim 1981:405ff.) entwickelt hat, großen Einfluß gewonnen nicht zuletzt durch Brown & Levinsons Fruchtbarmachung des Face-Konzepts in seiner universellen Funktion als "Grammatikalisierer" von Höflichkeit (vgl. 1.2.1). Mit den Analysen von Scollon & Scollon (1981) und (1983) ist das Konzept z.B. auch auf die interethnische Analyse angewandt worden. In seiner delikaten Abhängigkeit von einer intersubjektiven Balance unterliegt "face" jedoch höchster Störanfälligkeit, wogegen es geschützt und abgeschirmt werden muß. Der beste Schutz ist der präventive, d.h. daß "ein Sprecher nicht nur verpflichtet ist, stetig auf der Hut zu sein, was im Kopf seines Zuhörers vor sich geht..., sondern er muß auch eine Formulierungsweise finden, die in Anbetracht der Umstände weder beleidigend noch heikel ist" (Goffman 1983b:28*). Aber bekanntlich gibt es reichlich Gründe, diese hohen Standards nicht einzuhalten - und analytisch macht immer erst die Verletzung der Regel dieselbe relevant - und interessant! Eine Person kann durch eine Eigen- oder Fremdverletzung "in wrong face" als auch vollständig "out of face" geraten; ersteres bezieht sich auf die nur unvollständige Integration imageträchtiger Aspirationen, während "out" zu sein, den Selbstbilderwartungen des Selbst oder der anderen vollständig widerspricht (vgl. Goffman 1955:8). Als Bestandteil des Systems sozialer Kommunikation unterliegt "Gesichtskontrolle" von daher auch dem Anwendungsskopus prophylaktischer wie post-violativer kontrakonfliktiver und reparativer Mittel. Auch im vorliegenden Fall ist mit tps Einmischung in das vom Bettler vertretene Selbstbild eine Bedrohung dieses Selbstbildes heraufbeschworen worden, die die Reparatur des verletzten Selbst erforderlich werden läßt.
10 "Face" ist in Goffmans Werken ein durchgehend angewandtes Kernkonzept. Allerdings findet es sich später aufgehoben in "ceremonial order" (1967), "remedial interchange" (1971), "ritual constraints" oder "requirements" (1976), "personal territoriality" (1983a).
129 Reparaturen und "Face" Zunächst: Reparaturen sind, allgemein gesprochen, immer dann vonnöten, wenn eine Störungsquelle in der Kommunikation auftaucht und zum Zwecke der Aufrechterhaltung bzw. der Wiederherstellung der Ordnung neutralisiert, weit gemacht oder zumindest gemildert werden muß (vgl. Kap. 3). Was allerdings jeweils als Ordnungsstörung und aufweicher Ebene der Kommunikation angesehen wird, bleibt der subjektiven Einschätzung bzw. intersubjektiven Aushandlung der beteiligten Interaktanten überlassen. Aber nach der Regel des "rituellen Äquilibriums" ist eine Kompensationskorrespondenz von Verletzungsgrad und Reparaturmaßnahme zu erwarten (Goffman 1955:19ff.) Reparaturen unterliegen - wie aus der Konversationsanalyse bekannt - einer sozialen Präferenzhierarchie, wobei selbstinitiierte Selbstreparaturen die bevorzugtesten und fremdinitiierte Fremdreparaturen die geächtetsten sind (vgl. Schegloff et al. 1977). Mit ändern Worten sollte dem "Missetäter" immer zuerst die Möglichkeit der Selbstentdeckung mit der Wahl der Kompensationsmittel und -art eingeräumt werden, bevor der potentiell Verletzte selbst zur Tat, zur Kompensationseinforderung oder gar zu "selbst-justizieller" Vergeltung schreitet. Es muß aber hinzugefügt werden, daß es oft keine eindeutige Grenzziehung zwischen Selbst- und Fremdinitiierung gibt und daß sowohl innerhalb der Selbstinitiierung als auch innerhalb der Fremdinitiierung Abstufungen in Bezug auf ihre Offensichtlichkeit oder Explizitheit existieren. Die Hierarchisierung dieser Optionen ist keineswegs willkürlich, sondern korreliert mit der autonomen Verfügung über das - potentiell immer von Fremdeingriffen (wie Reparaturen) bedrohte - "face" und der gleichzeitigen Bestätigung, daß man die Regeln, die jedes "anständige" Gesellschaftsmitglied auszeichnen, beherrscht, daß man ein kompetentes und vertrauenswürdiges Gesellschaftsmitglied ist (vgl. Goffman 1971:95f.). - Da selbst-initiierte und selbst durchgeführte Reparaturen am wenigsten problematisch sind, werde ich mich hier nicht weiter mit ihnen beschäftigen - außer als tertium comparationis für krisenhafte Verläufe. Goffman hat den unbedrohlichen "Normalverlauf' (fremd-initiicrter) reparativer Ausflüge als "gesichtsrettende Sequenzierung" (1955) und "korrektiven Zyklus" (1971) wie folgt charakterisiert: Mit oder nach der Verletzung erfolgt die "Herausforderung", der unterschiedliche Reparaturangebote folgen können, wie Entschuldigung, (Angebot der) Selbstbestrafung, Umdeutung, Erklärung der Unzurechnungsfähigkeit, (Versprechen von) Schadensersatz etc.11; das Angebot kann ratifiziert werden und die Gratifikation der Vergebung verlangt dann eine Danksagung, der last not least ein "Ist-schon-gut" nachwinken kann. Sowohl die Anzahl
11 Die Reparaturangebote können natürlich auch unterbleiben. Goffman unterscheidet hier als eine Form der "accounts" die Optionen Abstreiten, Gegenbezichtigungen oder Abschwächungen (vgl. Goffman 1971:109ff.).
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und Verteilung als auch - im beschränkteren Maße - die Art und Reihenfolge der damit verbundenen Züge unterliegen präferenzhierarchisch einer gewissen Variation, die durch die folgenden drei Säulen illustriert werden soll:
Säule l
Säule 2
Säule 3
Zugnr.
Vollzieher
Zugart
l
A
Verletzung
2
B
Reparaturaufforderung
3
A
Durchführung der Reparatur
4
B
Entlastung des Verletzers
5
A
Wertschätzung der Entlastung
6
B
Bagatellisierung
Mit den Elementen dieser drei Säulen ergeben sich nun in der Praxis eine beschränkte Anzahl von Spielarten, die aber verschiedene Voraussetzungen und Konsequenzen haben. So kann A beispielsweise - am galantesten - die Züge 1-3 auf sich vereinigen, so daß weitere u.U. gar nicht mehr notwendig sind, da - falls die Reparatur bemerkt - jeder weitere Zug von B nur den Fingermerk auf die Korrektur lenken würde. Oder bei Fremdaufforderung könnten Zug 4ff. wegfallen oder Züge 4 und 6 könnten zusammenfallen etc. Aber es gibt hier einige Probleme, die für die vorliegende Analyse nicht unwesentlich sind: (i) Reparaturen setzen immer eine Störungsquelle, eine Reparable (Zug 1), voraus. Diese Störungsquelle muß also als eine solche identifiziert werden. Diese Identifizierungsleistung kann angezeigt werden, um dem Störer die Chance für eine Selbstreparatur zu geben. Wo die Identifizierung einer Fremdreparablen aber unvermittelt bleibt und erst mit der Reparatur selbst angezeigt wird, mag es sich zwar formal um eine Abkürzungsstrategie handeln, die "Chancengleichheit", dem Verletzer die Möglichkeit zu eröffnen, sein eigenes Vergehen wieder wett zu machen, wird so aber hintergangen! (ii) Die einfachste Identifizierung einer Reparablen ist ihre genaue Lokalisierung. Eine solche Lokalisierung kann über die reparierte Form selbst - z.B. Abbruch und Wiederaufnahme in "korrigierter" Form - oder eben durch die nomin(alis)ierte Einforderung - z.B. in Form einer skeptischen Nachfrage oder eines Protestes - bewerkstelligt werden. Identifi-
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zierung und Lokalisierung sind subjektive Tätigkeiten bzw. als erfolgreiche Sprechhandlung eine intersubjektive Leistung. Reparablen existieren also noch nicht qua Störung, sondern werden retrospektiv konversationell "produziert". Eine Störung wird durch ihre Identifizierung mit der Reparatureinforderung bzw. mit der Reparatur selbst erst post hoc zur selbigen. Mit ändern Worten: Es gibt keine Reparablen an sich. Sie sind immer nur rückimpliziert. Zug 3 impliziert Zug 2 bzw. Zug 1. (iii) Wo im Resultat einer Handlung Verletzung herauskommt, kann diese aber auch u.U. retrospektiv nicht mehr geortet werden, weil sich der gesichtsbedrohende Effekt graduell aufgebaut hat. Zug l ist dann eher nebulös zu nennen. Meist ist aber an einem Punkt "das Maß voll", und ein ganz bestimmter Akt kann zu einer pars pro toto-Reparablen stilisiert werden. Da es sich dabei meist um den kontingenten Zug handelt, scheint - trugschlüssigerweise - eine Lokalisierung gewährleistet. (iv) Aus allen drei genannten Einschränkungen ergibt sich eine weitere, nämlich daß Reparatureinforderungen bzw. Fremdreparaturen immer die Unterstellung einer Verletzung implizieren, die die Frage nach der Lizenz oder Berechtigung in den Raum stellt. Eine solche Unterstellung mag wiederum abhängen vom Schweregrad der Verletzung bzw. vom putativen Verletzer und seinem putativen Opfer, vom Wert der verhandelten Informationsgüter und von den disponierbaren Autoritätsmitteln und -ressourcen. Für die Analyse der effektiven Realisierbarkeit einer Kategorisierung bzw. der konversationellen Entwicklung zu einer Kategorisierung und Reparatur wie "Türkischmann Du?" und ihren Folgen müssen diese vier Einschränkungen Berücksichtigung finden, wobei die letzte die mit Abstand relevanteste darstellt. "Türkischmann Du?" als Fremdreparatur Ist die "Türkischmann"-Frage in der Tat als eine Fremdreparatur zu verstehen, so stellt sie Initiierung und Durchführung in einem Aufwasch dar, hat folglich keinen Selbstreparaturversuch zugelassen und unterstellt damit die besondere Schwere des Vergehens. Diese Unterstellung mutet umso schwerwiegender an in Anbetracht der Tatsache, daß es sich um interkulturelle Kommunikation handelt, die sich im Moment der Frage ja auch explizit als eine solche auszeichnet und die im Rahmen der weiter vorne erwähnten Korrespondenz von Verletzung und Vergeltung eher zu einer "mildernden" Lesart von tps "Vergehen" einlädt. "Die meisten sprichwörtlich beleidigenden Äußerungen sind nicht ersonnen, um für bare Münze genommen zu werden - zum Beispiel als bösartig oder beleidigend oder rücksichtslos. Lieber ... werden sie im Rahmen von Umdeutungen behandelt, die den Rezipienten der augenscheinlichen Beleidigung dazu veranlassen, sie als Spaß, Fahrlässigkeit oder als sonst eine unserer kleinen Standard-Narrenfreiheiten zu interpretieren" (Goffman 1983b:30*). Diese Bemerkung bezieht Goffman natürlich nicht auf interkulturelle Kommunikationssituationen; hier besteht eine besonders "bequeme Option" zur Fahrlässigkeitslesart,
132 nämlich des Nicht-besser-gewußt-haben-Könnens etc. (im Sinne der in Kap. 3 diskutierten "Reziprozitätsrelativität") - auf jeden Fall doch eher zu Lesarten, die kontrakonfliktive Mittel im heilenden und nicht im vergeltenden Sinne angeboten hätten. Da zudem jede Fremdinitiierung einer Selbstreparatur, wie erst recht jede Fremdreparatur immer auch eine Bezichtigung enthalten, sind sie schon von daher für den Bezichtigten (oder den erfolglosen Bezichtiger) immer auch potentiell gesichtsbedrohend - eben der Grund ihrer Dyspräferiertheit! Der metaphorische Charakter der Frage mag allerdings auch hier ein guter vordergründiger - und vorläufiger - Deckmantel sein für die damit einhergehende Bezichtigung, etwas zu sein, was man ist, aber aus Gründen der möglichen Haftbarmachung unter bestimmten Umständen nicht sein darf. Weiterhin verhindert der metaphorische Charakter, daß rückgreifend unmittelbare Schlüsse auf die "Störungsquelle" gezogen werden können, denn sie ist in der "Reparatur"-Frage selbst nicht explizit aufgehoben, so daß sie analytisch erst rekonstruiert werden muß. Damit steht zunächst die Identifizierung und Lokalisierung des Vergehens an. Zweifelsohne gibt es im vorliegenden Fall keine unmittelbare Vorläuferäußerung, die nach der Kontingenzregel als die Störungsquelle in Frage kommt. Man kann den Text nun zurückverfolgen, um Kandidaten für eine mögliche Quelle zu identifizieren. Die kontingente Äußerung 34 tp: Es is nich gut wird nahezu echohaft ratifiziert: 35a B: Nein, is nich chut. Aber "es" weist zurück auf den oben bereits mehrfach zitierten Kategorisierungs"hammer": 31 tp: (pathetisch) Haben Sie viel gearbeitet bis jetzt und jetzt hier 32 bei icke (h) stehn und von Hunger von andre Menschen bettelnDiese explizite Kategorisierung stellt m.E. nur die Summe aus einer ganzen Anzahl von damit im Zusammenhang stehenden weniger expliziten agitatorischen bzw. agitationsvorbereitenden Zügen dar: (a) die Aufforderung, vom Sozialamt zu holen, was einem zusteht (Zeile 11), (b) der - wenn auch abgebrochene - rhetorische Versuch, mit dem "kalten Wetter" die Miserabilität von Bs aktueller Lage zu unterstreichen, (c) der "Ruf zu den Waffen", daß man dagegen "kämpfen" müsse, (d) die inhaltliche Ausrichtung der Fragen (Zeilen 03f., 08f) und Nachfragen (Zeilen 18,20,22) sowie (e) die in Kontrast zur Empörung stehenden, äußerst "leisen" Rezeptionssignale nach Informationen, die der von tp "eingefragten" Notlage des Bettlers widersprechen (Zeilen 24, 27a), erlauben Schlußfolgerungen zugunsten einer als strategisch zu verstehenden Kommunikationsabsicht (vgl. Goffman 1969:lOOf.). Strategisch sind diese Züge m.E. von daher zu nennen, weil alle möglichen
133 Antworten und Äußerungen von B nicht nur auf einer ganz bestimmten Hintergrunderwartung wahrgenommen werden, sondern auch weil ein Großteil der eigenen Fragen und Reaktionen auf diese Hintergrunderwartung und Absicht (ein bißchen die Gelegenheit zur Agitation zu nutzen), aufbaut. Die einzelnen Züge müssen also diesem Entwurf angepaßt werden. Vor allem der letzte Punkt (e), die "verräterische" Funktion der Rezeptionssignale12, mag auf den ersten Blick "weit hergeholt" erscheinen. Sie sind auch nicht auf einer Ebene mit (a) bis (d) zu sehen, weisen als Symptome aber unterstützende Funktion für diese Intentionsunterstellung auf. In Zeile 16 ist tps "mhm" noch leicht zweigipflig, d.h. die Intonationskontur ist tildenförmig: Empfangsbestätigend wie indizierend, daß B weitermachen kann, der mit einer zusätzlichen Information ("sechsenachtzich Mark") seinen Redeturn expandierend-wiederholend fortführt. (Diese Art von Expansion ist keine Korrektur im Sinne einer (eingeforderten) Präzisierung, für die sie oft gehalten wird, sondern hängt mit der kognitiven Relevanzstrukturierung der Reihenfolge von Informationen zusammen.) Dieses "mhm" wird durch das den Turn (vorläufig) beendende "nicht\" geradezu eingeladen - eine Einforderung zur Ratifizierung, die mit dem unmittelbar anschließenden "nich\" etc. (Zeile 17) zu einer Zwischenratifizierung als Bereitschaftserklärung zu neuer Informationsaufnahme, zu einem Rezeptionssignal bei der "Informationsstaffelung", wird. Ganz anders verhält es sich mit den Reaktionstokens in den anderen beiden Belegstellen: 23 *24 25 26 *27a (1.5 27b
B: Mietbeihilfe, tschuldigung, für die Miete, nich \ tp: Mhm B: Ich krich ja mein (?Einkommn von) vierhundertundfünf Mark Ägne Rente, nech \ + + Da muß ich mit auskommn + + tp: Hm Sek. Pause) tp: Das is schlecht, ne/
Obwohl B in Zeile 23 das Mißverständnis um seine Mietbeihilfe klärt, obwohl er technisch in derselben Weise wie oben zur Rezeption einlädt, folgt ein anderes "mhm", nicht mehr zweigipflig, sondern intonatorisch leicht fallend, eins, das eher Skepsis vermitteln will anstelle einer Ratifikation im Sinne eines "ach so", wie es zu erwarten gewesen wäre. Ob die nun folgende - wiederholte - Angabe der Rentenhöhe als abschließend notwendiger 12 Für die Konversationsanalytiker sind nicht-lexikalisierte Reaktionssignale dieser Art das "gefundene Fressen", da sie nachweisen können, daß die genaue Plazierung (und nicht zwangsläufig (allein) die Intonation) dieser Vokalisierungen in Bezug zu den Grenzen und Übergangspunkten von Turn-Konstruktionseinheiten innerhalb bestimmter Handlungsabläufe ihre Lesart bzw. Funktion bestimmen, wie "weitermachen", "übereinstimmen", "eingestehen", "anerkennen" etc. (vgl. z.B. Schegloff 1982).
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Gesamtüberblick im Zusammenhang mit dieser speziellen Form der Ratifikation (oder Halbratifikation?) zu sehen ist, muß ungeklärt bleiben. Interessant ist die nun folgende Einladung gleichen Typs nach "...eigne Rente, nech\" (Zeile 26), die von tp aber nicht angenommen wird. Nach einer Pause, die ja gerade die hinausgezögerte Leerstelle für die erwartete Rezeption darstellt, fährt B - wohl ganz im Sinne tps - fort mit einer Feststellung, die hier zweifellos bewertenden Charakter hat. Eine explizite Einladung zur Empfangsbestätigung folgt diesem Resümee nicht. Nach kurzer Pause meldet sich tp mit einem kurzen, gebrummten, fast ausgestoßenen und intonatorisch fallenden, ja, man muß sagen: von sich gestoßenen "hm", das weder ratifizierend noch zurückweisend klingt, sondern eher unbefriedigt. Die folgende Pause scheint für das unterstellte strategische Kalkül bedeutungsvoll. Das Mißverständnis um das Einkommen ist geklärt. B hat dem nichts hinzuzufügen, zudem hat das unentschiedene Signal auch keinerlei Aufforderungskraft. Es ist nur ein "hm" auf der Lauer. So scheint es, als leite tp systematisch hin zu der Stelle, an der er seinen Gesprächspartner mit aufklärerischer Attitüde und moralisierender Rhetorik agitieren kann. Aber wo tp aufklären will, fühlt sich B "verklärt", wo tp moralisieren will, fühlt sich B demoralisiert. Die damit einhergehende - sehr wohl verletzende - Kategorisierung als prototypischer Bettler baut sich dabei auf, graduell, und hat ihren Höhepunkt zweifelsohne in tps bekannter pathetischer Wortparade. Damit ist der gesichtsbedrohende Akt in gewisser Weise identifiziert, wenn auch nur begrenzt auf einen Höhepunkt lokalisierbar, der aber wiederum nicht kontingent zur Reparatureinforderung ist. Reparatur-Lizenzen Welche Gründe können aber nun in Betracht gezogen werden, um die Abweichung vom "Standardzyklus" der Reparatur zu erklären? Und erklärt werden muß nicht nur die Abweichung, sondern ebenfalls die Qualität, sprich die Schwere, mit der eine Gesichtsbedrohung, die das Opfer in "wrong face" bringt, zu einer Entgegnung führt, die den Verletzer nunmehr "out of face", gesichtslos, dastehen läßt! Goffman nennt z.B. den Fall, daß alle Warnungen in den Wind geschlagen werden und das verletzende Verhalten ungemindert fortgesetzt wird, was dann Vergeltungsmaßnahmen ärgster Natur mit sich bringen kann (1955:22). Hier erhebt sich die Frage, ob die Relativierungsversuche des Bettlers, die er mit seinem zweifachen Hinweis auf die nur vorübergehende Notwendigkeit seiner Bettelei unternimmt, nicht als implizite Warnungen zu deuten sind. Allerdings sprechen die Kooperationswilligkeit und die z.T. unterstützenden Bewertungen dagegen. So bleiben diese Relativierungen nur Bemühungen einer gefälligeren Selbstdarstellung. Ein weiterer Grund ist in der Schwere des Vergehens zu sehen. Es ist aber zu bezweifeln, daß eine wirklich offenkundige und grobe Verletzung mit einer so kunstvollen Metapher wie im vorliegenden Fall gekontert würde - andererseits können natürlich auch schwere Gesichtsbedrohungen kunstvoll verpackt sein, was sie u.U. umso effektvoller macht!
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Aber auch die Einschätzung der Schwere ist eine Frage der Einschätzung derjenigen, die die Macht zu einer solchen Einschätzung mitbringen. Dies führt zum springenden Punkt. Zum einen zum "Klassencharakter" von Übertretungen, wozu Goffman bemerkt, daß sowohl zwischen unterschiedlichen Gesellschaften als auch zwischen unterschiedlichen Klassen einer Gesellschaft eine beträchtliche Variation in der Auffassung besteht, was als entschuldigungsträchtige Verstöße angesehen wird und was nicht (1983b:34). Dieser Aspekt muß auf unterschiedliche Kategorienzugehörigkeiten ausgeweitet werden. Erickson & Shultz (1982) haben in ihrer Studie über die "gatekeeping"-Funktion von Interviews bei der Laufbahnberatung für Studierende (von denen etwa eine Fortsetzung des Studiums abhängen kann; vgl. 1.2.2) nachgewiesen, wie entscheidend die karrieremäßig durchaus wichtigen Einschätzungen und Beurteilungen der "gatekeeper" während des Interviews abhängen von der möglichen Konstitution bzw. Nicht-Konstitution von "co-membership"-Kategorien mit den Interviewten, also von gemeinsamen Zugehörigkeiten, die anfangen bei gemeinsamen Tennisinteressen und bis zu gleicher ethnischer Gruppenzugehörigkeit gehen (ibid.:169ff.). Der "Klassen-" und "Kategorienzugehörigkeitscharakter" von Urteilen (als Mittel) ist natürlich an Ressourcen gekoppelt, diese Urteile auch zu "exekutieren" und "rechtskräftig" werden lassen zu können - und nicht jeder ist qua Amtes "gatekeeper". "Vergeltungsakte", so wirft Goffman einmal beiläufig ein, "haben natürlich zur Grundlage, daß die verletzte Person die entsprechende Autorität und Ressourcen hat" (1967:222*)13. Zum ändern steuert die Frage nach Autorität die Aufmerksamkeit in Richtung des weiter oben schon angesprochenen Aspektes der Zugangsberechtigung bzw. Lizenz oder Lizenzierung einer Handlungsweise oder eines Akts. Konkreter: Wer (als Person oder Instanz) erteilt bzw. welche Umstände und Voraussetzungen erteilen die Lizenz, diese Frage hier zu stellen, hier stellen zu können? Also eine meiner grundsätzlichen Ausgangsfragen betreffend "Wie und wieso so können können?' Denn für die initialen Zugangsbedingungen, die initiale Allokation der Rechte und Pflichten sowie für den Gang der Gesprächsentwicklung bis zur Zeile 35a mußten ganz andere "Bedingungen zur Kommunikationsetablierung" in Rechnung gestellt werden. Bis hierhin waren "die antizipierten Rezeptionsbedingungen Teil der Produktionsbedingungen" (Bourdieu 1977:649) im Sinne der Begegnung zwischen Bettler und Passant. Aber mit der "Türkischmann"-Wende im Gespräch müssen neue antizipierte Rezeptionsbedingungen als Teil der Produktionsbedingungen und umgekehrt, auch neue Produktionsbedingungen als Teil der Rezeptionsbedingungen unterstellt werden, solche, die nicht nur in einem Zusammenhang mit der Übertretung eines Passanten in die Territorien des Selbst eines Bettlers stehen (die ja u.U. hinnehmbar wäre), sondern solche, die mit der Erkenntnis, dem "Merken" des Bettlers korrespondieren, daß der Passant in erster Linie Türke ist. Dabei ist es einerlei und zudem auch nicht nachprüfbar, ob primär die Entdeckung als "Türkischmann" die Reparatur in dieser Form erst möglich macht, oder ob nicht die
13 Meine Hervorhebung; im übrigen ist diese Erwähnung meiner Kenntnis nach die einzige Stelle bei Goffman, wo er explizit auf diesen Aspekt im Zusammenhang mit dem face-Konzept hinweist - allerdings auch ohne ihn weiter auszuführen!
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Entdeckung des "Türkischmann" selbst die Ursache für die Verletzung und die daraus folgende Reparaturnotwendigkeit ist. Die Ressourcen, die B mit der Entdeckung zur Verfügung stehen, bleiben allemal dieselben und auch die Wahl der Mittel - Überraschungsfrage im Foreigner Talk etc. - bleibt davon unbeeinflußt. Während die Initiierung des Gesprächs in der oben aufgezeigten Art und Weise auf eine Zugangsberechtigung zurückging, die mit der ganz spezifischen Rollenkonfiguration dieser beiden "Irgendwers" als Bettler und Passant zusammenhing, erteilt das "Türkischmann"Sein nun ebenfalls eine Zugangsberechtigung für eine Reparatur bzw. allgemein für "Produktionsbedingungen" für B (und "Rezeptionsbedingungen" für tp), die sich ohne Skrupel der Territorien des Selbst des türkischen Gesprächspartners, nämlich dessen sozialer Identität (siehe oben), bedienen kann. Diese Identität stellt hier, wie Goffman sagen würde, ein "freies Gut" dar. Auf dem Gütermarkt, inklusive dem Markt der symbolischen Güter, gibt es sowohl freie, leicht zugängliche als auch gebundene und weniger leicht zugängliche Güter. Manche Güter sind in fast allen (Handlungs-)Zusammenhängen "frei", manche nur in bestimmten mehr oder weniger beschränkten Kontexten - und manche wohl nie. Mit der zunehmenden Zugänglichkeit eines Gutes nimmt aber sein Wert ab, denn es stellt im Sinne ökonomischer Rationalität kein "knappes Gut" mehr da, ist nicht mehr rar. Das hängt wiederum von der jeweiligen Zirkulationssphäre ab, in der das Gut gehandelt wird. Und für das Selbst eines Individuums kann auch das wertloseste Gut noch wertvoll sein - es ist nur nicht mehr "marktfähig" und bleibt ein wohlbehütetes ent-intersubjektiviertes Geheimnis. Es ist diese Diskrepanz zwischen unterschiedlichen Kurswerten und Freiheitsgraden eines Guts, die es erforderlich macht, es das eine mal gut abzuschirmen und es ein anderes mal als günstiges Investment zu betrachten. "Der Begriff der freien Güter führt unweigerlich zu der Frage, welche Güter in welchem Maße als frei zu betrachten sind und inwieweit frei für jemanden, der nur vorbeigeht im Vergleich zu jemandem, der mit besonderen Befugnissen ausgestattet ist" (Goffman 1983b:38*). Natürlich ist B im vorliegenden Fall mit keinerlei "besonderen Befugnissen" ausgestattet. Er ist kein "gatekeeper", kein "Identitätsverfüger" und Sanktionsgewaltiger qua "höheren Amtes" staatlicher Exekutive o. ä. Andererseits reicht die Kategorienzugehörigkeit seines Gesprächspartners aus, für den einen Moment die Befugnis eingeräumt zu bekommen, über tps Selbst in Form kategorisch-kategorialer Invozierung sozialer Identität verfügen zu können: Qua der Mächtigkeit einer solchen Kategorisierung aus dem Munde eines Nicht-so-Kategorisierbaren, eines deutschen Bettlers - wenn man so will, also auch qua Amtes, qua noch höheren Amtes, qua Amtes gesellschaftlicher Diskriminierung bzw. Diskriminierbarkeit türkischer "Gastarbeiter", qua unversehener Instanzierung staatlicher Exekutive auf die Ebene zufälliger Stegreifkonversation. Reparatur-Gewinne Es ist die Aufwertung des eigenen (von anderen wie immer auch geringeschätzten) Selbstwerts durch den Hinweis auf die Wertigkeit oder die jederzeitige Demonstrabilität der (Minder-)Wertigkeit des Türkischmann"-Seins, die das Wesen von Bs Reparatur ausmacht.
137 "Gesichtskontrolle" wird so genauso zum Handelsobjekt auf dem Markt der symbolischen Güter wie Sprache und Sprachvarianten. Und in gewisser Weise kommt hier zur Anwendung, was Bourdieu das Postulat der Konvertibilität nennt, nämlich die Möglichkeit, "eine Kapitalsorte in eine andere zu konvertieren - zu je nach historischen Momenten variablen Umtauschraten, d.h. je nach Stand des Kräfteverhältnisses zwischen den Eignern der verschiedenen Sorten" (Bourdieu 1982a:209). Die "Sorte", die gehandelt wird, ist "face", seine "Eigner" - individuell wie Kategorien-repräsentativ - tp und B, der "historische Moment" ein doppeltdeterminierter: als gesellschaftlicher "Stand des Kräfteverhältnisses" zwischen Deutschen und bestimmten Kategorien von Ausländern und als konversationeller "Stand des Kräfteverhältnisses" zwischen historisch und situativ konkreten Repräsentanten dieser Kategorien, als Mikro-Reflexion der Makro-Konditionen. Auch die Konvertierung ist eine doppelte: Zum einen wird der niedrige Wert des Ändern konvertiert in einen Wertzuwachs des eigenen Selbst. Aber die Konvertierung von einer Kapitalsorte in eine andere, in eine Kapitalsorte höheren Ranges ist die Face-Reparatur selbst und als Bestandteil dessen der "ostentative Verzicht" auf die zu erwartenden Spende von tp ("Sie brauchn (mir) nich helfen!"): Dieser Zugewinn bedeutet für B sozialen und moralischen Rangzuwachs, ist der Distinktionsprozeß im Vollzug, erhärtet durch den Beweis der eigenen Nicht-Mitgliedschaft in einer "Ganz unten'-Kategorie, aus der er mit tp ja einen leibhaften Vertreter vor sich hat. Almosen an einen Bettler gehen immer von "oben" nach "unten", d.h. die Kategorie des Spenders ist, wie oben erwähnt, mit einer anderen Rangzuordnung verknüpft als die seines "zweiten" Gegenübers: DIE, DIE BESSER GESTELLT SIND vs. DIE GANZ UNTEN schließen sich gegenseitig aus. Doch die Art des expliziten Verzichts ist auch gleichzeitig wieder eine Ausklammerung, eine Selbstausklammerung aus der Gemeinschaft der Bettelnden, zu der B ja soeben noch prototypisch gezählt wurde. Diese Verweigerung stellt neben der offensichtlich unwirksamen demonstratio oris eine demonstratio ad oculos dar: Wer keine Almosen braucht, ist auch kein Bettler. Wer auf das soeben noch als notwendig (vgl. oben) unterstellte materielle Gut verzichtet, demonstriert "Distanz zum Notwendigen", demonstriert "den Anspruch auf die legitime Überlegenheit denen gegenüber, die ... von den Interessen und Nöten des Alltags beherrscht werden" (Bourdieu 1982a:103f.), demonstriert sich selbst und fiktiven anderen Kategorienmitgliedern, Bettlern wie 'Türkischmännern", die Avancierung in die Sphäre der materiellen Wahlfreiheit und die Legitimation der Reparatur nach "unten", demonstriert "klassenspezifische" Distinktivität. Hier soll eine gesellschaftliche Beziehung in ihr Gegenteil verkehrt werden: Von einer Oben-nach-unten-Relation im Sinne des "vßn-Spender-zu-Bettler" in die syntagmatische Permutation im Sinne des "von-deutschem-Bettler-zu-Türkischmann"; oder buchstabenhomologisch in eine Rangfolge vom Typ a -» b in eine vom Typ b -» a. Hier soll schließlich eine Ordnung sanktioniert werden, die nach Bourdieu in Form sozialer Positionierungskämpfe innerhalb eines als bipolar gedachten Systems eines "legitimen", weil vorherrschenden Obens und eines "illegitimen" Untens
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ausgefochten und reproduziert wird. Die Positionen, die es zu ergattern gilt, zeichnen sich aus durch ihre jeweilige Nähe und Ferne zu dem "legitimen" Lebensstil, der "legitimen" Sprache usw. einerseits und genau umgekehrt durch die Ferne bzw. Nähe zum materiell wie psychisch Lebensnotwendigen andererseits (Bourdieu 1982a; vgl. 2.1). Hier nun gerät tps Renormalisierungsversuch in ein neues Licht: Mit seinem dann doch durchgeführten Akt des Spendens reagiert er nun seinerseits mit einer demonstratio ad oculos und wiederholt und legitimiert so demonstrativ die Berechtigung seiner oben geleisteten Bettler-Kategorisierung. Sein "trotzdem" ist hier in der Tat mitzulesen in seiner ganzen "Trotzigkeit" wie oben dargestellt. Aber dennoch ist der "magische Charakter" seiner Gabe schon entzaubert, bevor der Zauber beginnt, denn es bleibt nur ein Versuch: will sich tp vielleicht entlasten, indem er die gemeinsame Interaktionsgeschichte leugnet? So, als knüpfe er mit seiner Spende an, wo er eigentlich gar nicht erst hätte anfangen dürfen, nämlich beim Begrüßungsritual, tp versucht hier eine Re-Anonymisierung - auch eine Art Reparatur -, die aber bezüglich der Legitimität seines Handelns auch eine Selbstbezichtigung impliziert. Der Bettler bekommt somit trotzdem seine Spende, aber tp ist auch trotzdem noch "Türkischmann". Interaktionsgeschichten lassen sich nicht wegzaubern so wenig wie der "Türkischmann" rekonvertibel ist in nur einen Spender en passant!
Ich fasse soweit zusammen, was "das Fragen da mit einem angestellt hat" (Bodenheimer) - was das Fragen, Herausfragen, Hineinfragen in der Begegnung zwischen B und tp angestellt haben: Für B besteht in tps sukzessiver Stilisierung der Bettlerkategorie ein gesichtbedrohender Akt, den er mit einer Gegenkategorisierung pariert. Diese Gegenkategorisierung ist zu verstehen als eine Reparatur des verletzten Selbstbildes des Bettlers. Die Reparatur bedient sich dabei ebenfalls einer Verletzung und zwar der der sozialen Identität des Verletzers selbst. Vermeintliche Verletzungen sind aber keineswegs Verletzungen per se. bestimmte Handlungen keineswegs automatisch gesichtsbedrohende Akte. Entscheidend ist weniger die Art der Verletzung als vielmehr die Art des Verletzers. D.h., eine Person mit bislang gleichem, höherem oder unbekanntem Status kann im Moment diskrepanter Einstufung in eine niedrigere Statuskategorie retrospektiv zum Verletzer werden, denn weder das eigene Selbstbild noch das der ändern kann sich von der Opportunität des symbolischen Profitstrebens befreien: Erst mit der Gegenkategorisierung und ihren Folgen wird tps vorherige Handlung zur Reparablen stilisiert, erst mit der Offenlegung des Faktums, daß sein Gesprächspartner Türke ist, erhält B die Gelegenheit und das "gesellschaftliche Material" an die Hand (und in den Mund), tp als Repräsentanten einer geschlossenen sozialen Gruppe stellvertretend und generalisierend in eine Position zu verweisen, die unter der eines deutschen Bettlers ist und dessen (tps) Solidaritätsangebot die Grenze des Notwendigen überschreitet. Damit aber gewinnt B an symbolischem Eigenkapital, denn vom Bettler auf der Straße ist er avanciert gegenüber jemandem, der noch weiter unten, "ganz unten" in der Gesellschaft steht - und gehört! Doch dazu nun als allerletztes.
139 4.1.4 PLATZZUWEISEN UND PLATZZUWEISEN-KÖNNEN "Ob wir uns nun mit Fremden einlassen oder mit Vertrauten - wir werden immer zu spüren bekommen, daß die Fingerspitzen der Gesellschaft unverblümt in die Begegnung hineinreichen, uns selbst hier noch auf unseren Platz verweisend" (Goffman 1963:70f.*). Ein Platzverweis bedarf nicht nur individueller Autorität und Macht, er bedarf - wie Goffman es mit dem Zitat und Motto dieses Kapitels zum Ausdruck bringt - vor allem der gesellschaftlichen Sanktionierung dieses individuellen Könnens, der Habitualisierung einer Norm, die gleichsam darüber wacht, wem welcher Platz zusteht. Wie formulierte es Goffman? "Es ist von der notwendigen Bedingung sozialen Lebens auszugehen, daß sich alle Teilnehmer einen einzigen Satz normativer Erwartungen teilen, wobei die Normen zum Teil dadurch aufrechterhalten bleiben, weil sie einverleibt worden sind. Wird nun eine Regel gebrochen, kommt es zu restaurativen Maßnahmen: Dem Schädigen wird ein Ende bereitet und der Schaden wird repariert - entweder durch äußere Kontrollmaßnahmen oder durch den Beschuldigten selbst. ... Allerdings reicht der bloße Wunsch, den Normen zu entsprechen - reiner guter Wille nicht aus. Denn wie in so vielen Fällen hat das Individuum keine unmittelbare Kontrolle über sein Maß, sich an die Norm zu halten. Das ist vielmehr eine Frage des Ranges des Individuums, nicht eine des Willens; es ist eine Frage der Konformität, nicht eine der Willfährigkeit. Erst mit der Annahme, daß das Individuum seinen Platz kennt und ihn auch hält, kann für die soziale Stellung des Individuums ein volles Äquivalent eigensinnigen Handelns gefunden werden" (Goffman 1963:152f.*). Der Spielraum des Individuums ist also nicht nur begrenzt durch äußere Kontrollmechanismen, sondern es hat diese Kontrollmechanismen auch "im Körper", hat sie inkorporiert, hat sie (sich) zum "Habitus" werden lassen und läßt uns an uns selbst und an andere den Zollstock der Angemessenheit, des Könnens und des Dürfens anlegen. All die Informationen, die wir geben und weggeben, die wir aufnehmen und wegnehmen, z.B. wie wir sprechen, wann wir sprechen, worüber wir sprechen, mit wem wir sprechen etc. oder wie und was wir wahrnehmen, verstehen etc. sind Ausdruck einverleibter Ordnung und "Klassenzugehörigkeit" (im Bourdieuschen Sinn - vgl. 2.1), derer wir uns mit den Reaktionen der anderen auf uns und derer sich die anderen mit unseren Reaktionen auf sie versichern: angesprochene wie verschwiegene Topoi, Varietätengebrauch, Sprechstile, rezipientenspezifisches Akkomodieren und Akkomodieren-Können, Proxemik, Körperhaltung, Lautstärke, Öffnen des Mundes - und vieles andere mehr "verraten" unseren sozialen Standort, geben uns Rahmen der Deutung und Bewertung vor14. 14 In diesem Zusammenhang ist eine alte soziolinguistische Methode zur Einstellungsmessung gegenüber Sprachvarietäten interessant, die in unterschiedlichen Kontexten in je variierter Weise angewandt und entwickelt worden ist: die matched guise technique. Die Methode besteht vor allem darin, daß ausgewählten Beurteilergruppen Stimmen vorgespielt werden. Gemäß dem Eindruck, den die Varietäten beim Zuhörer hinterlassen haben, werden sie dann auf einer Skala von sozialen und Persönlichkeitsmerkmalen gewertet (Multiple Choice-Fragen zur Schicht- und Berufsgruppenangehörigkeit etc.; Fragen wie "Würden sie diese Person gern als Freund haben?" "Würden Sie dieser Person etwas an Ihrer Haustür abkaufen?" etc.). Daneben werden aber auch noch Einstellungsvariablen der Bewerter gemessen wie Vorurteile, persönliche Einstellungen, Gruppenpräferenzen etc. Die Ergebnisse solcher subjektiven Reaktionstests sind insofern
140 Bs Platzverweis an tp ist zu verstehen als ein Reflex inkorporierter Ordnung, als symbolisierte Praxis der Einverleibtheit des eigenen sozialen Seins in die Hierarchie des sozialen Raums, in dem sich B wie tp bewegen. Diese inkorporierte Ordnung "wirkt" kategorisch "hinunter" bis in den Kampf um Distinktion zwischen einem Bettler und einem "Türkischmann". Aber ist denn der soziale Unterschied wirklich ein solcher, daß B andere nach unten verweisen kann? Wie systematisch ist dieses Auf-den-gebührenden-Platz- Verweisen-Können und dieses In-eine-ganz-unten-Kategorie-Kategorisieren-Können in seiner methodischenund sozialen Logik? Bs symbolischer Zugewinn, seine reparative Lizenz und Legitimation fußen auf einer durchaus realen Basis. Denn was hier an distinktivem Potential, an symbolischem Profit noch herauszuholen ist, scheint mir neben dem linguistischen und kulturellen Kapital (vgl. sprachliche Kompetenzzuweisung) und dem sozialen Kapital (vgl. die Demonstration zur Distanzierung vom Notwendigen) vor allem auch noch ethnisches Kapital zu sein - eine Kategorie, der ich den Bourdieuschen damit noch hinzufügen möchte. Aus all den möglichen Ressourcen, die zur Distinguierung ausgeschöpft werden können, ist die ethnische Kategorie die einzige, die objektiv eine Unterscheidung zieht zwischen B und tp. Eine Unterscheidung, die unwiderbringlich "mitgebracht" ist - was noch nichts über ihre jeweils interaktional "hervorgebrachte" Bedeutung aussagt. Die ethnische Unterscheidung ist aber nur wirksam aufgrund des ihr zuschreibbaren sozialen, kulturellen und linguistischen Kapitals. Die ethnische Zugehörigkeit "Türken" in der Bundesrepublik Deutschland verschmilzt so zu einer untrennbaren Einheit mit ihrer sozialstrukturellen Marginalität, die sowohl "Produktionsbedingungen" wie "Rezeptionsbedingungen" dessen, was sagbar und verstehbar ist, bereits von ihrer Antizipation an beeinflußt. "Türkischmann"-Lexikalisierungen, duzen, Foreigner Talk, explizite Abweisungen, nachäffen etc. - sie alle schöpfen aus derselben gesellschaftlichen Ressource, sie alle sind Mittel, die in ihrer Sagbarkeit und Verstehbarkeit realisiert werden mithilfe des subjektiven Könnens auf der Basis des objektiven, gesellschaftlich legitimierten Können-Könnens. Dieses subjektive Können aufgrund des objektiven Können-Könnens schöpft aber nicht nur aus einer gesellschaftlichen Ressource, die neben den Interaktanten besteht, sozusagen Undefiniert im gesellschaftlichen Raum und gleichsam "demokratisch" allen Handelnden potentiell zur Verfügung, sondern diese Ressource existiert mit oder in den Interaktanten, ist habitualisiert, sie "macht" den ethnischen Habitus: ein Habitus, der "im Bündnis" mit den anderen "klassenspezifischen" Habitualisierungen bzw. Inkorporierungen die subjektiv-objektivierte Basis abgibt für das interkulturell, interethnisch Sagbare und Verstehbare. Der ethnisch-sozial-linguistische Habitus definiert noch nicht das Handeln selbst, wohl aber definiert er das verblüffend (und in diesem Zusammenhang erwähnenswert), da die Identifizierungen und Bewertungen der "Klassenzugehörigkeit" der vorgespielten Sprecher relativ unabhängig von der eigenen Zugehörigkeit ausfallen: D.h. der auditive Kanal allein bringt aufgrund oft nur weniger phonetischer Variablen sehr weitgehende Kategorisierungsinferenzen mit sich. Soweit erhärten diese Ergebnisse den Zusammenhang von einverleibter Ordnung, Klassenzugehörigkeit und Verstehbarkeit (vgl. zur Übersicht und Kritik Dittmar 1973:221ff. sowie Hudson 1980: 202ff.).
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Handeln-Können, das so und so Handeln, Sprechen, Verstehen Können - natürlich immer inklusiv der reflexiv-kausativen bzw. passiven Pendants: sich so behandeln lassen können, sich so ansprechen lassen können, so verstanden werden können15. B und tp mögen sich individuell voneinander abgrenzen wollen als ein jeweiliger Jemand, der dies und das besitzt, weiß, kann, was der andere alles nicht besitzt, weiß, kann, darf etc., aber erst in kategorisch distinktcr Klassifikation, erst in Anbindung des individuellen Habens und Seins in sozialer, kultureller, linguistischer etc. Hinsicht an das kategoriale und subsumtionsmächtige Haben und Sein ethnischer Zugehörigkeit, als deren Repräsentanten B und tp unter gegebenen Umständen handeln, können individuelle Differenzen zu systematischen, klassenspezifischen, ja kategorischen Differenzen werden und können damit zum distinktionsträchtigen und profitablen Leben erweckt werden. Mit der Profitträchtigkeit dieser Distinguierbarkeit gekoppelt ist die Sanktionierung sozialer (inklusiv der "ethnischen") Ordnung. Denn diese Ordnung korreliert mit den Zugehörigkeiten zu Klassen, Kategorien und Märkten in hierarchischer Ordnung, um deren Mitgliedschaften und Anteile nach dem ökonomischen Prinzip von Knappheit und Seltenheit qua Distinktivität "mit jedem Wort" gekämpft wird. Die Logik des Marktes will es, daß Prestige, Ansehen, Statusgewinn, Anerkennung etc. immer mit der Partizipation an der jeweils höheren "Rangordnung" korrespondieren, die aber schon aus Gründen der Status QuoBewahrung die Abgrenzung nach "unten" sicherstellen muß. So muß auch die Ordnung im Kontext Deutsche/Ausländer bzw. Deutsche/Gastarbeiter etc. gegen jedes Durchsickern von unten nach oben verteidigt werden. Allen Anzeichen für die Aufweichung dieser Ordnung muß sich von Anfang an widersetzt werden. Und bedroht scheint die Ordnung unter Umständen schon, wenn ein "Türkischmann" sich legitimiert fühlt, in das Selbstbild eines deutschen Bettlers einzubrechen. Aber mit der symbolisch-ökonomischen Ordnung scheint 15 Es ist hier nicht der Raum, Spekulationen über die Genese des ethnischen Habitus anzustellen. Strukturell wird sein "Erwerb" sehr ähnlich verlaufen wie die ebenfalls noch zu untersuchende Genese des Geschlechter-Habitus: Ethnische und geschlechtliche Unterschiede werden schon sehr früh zu Wertkategorien des Handelns, werden schon sehr früh symbolisch profitabel (vgl. z.B. Meditch 1975; zum habituellen geschlechtsspezifischen "display" vgl. Wex 1980 und Goffman 1981). Wie kommen Jungen im Grundschulalter beispielsweise zu folgender Gegenüberstellung bei einer (beiläufig von mir beobachteten) Spielregel-Bestimmung? "Und dann können wir gegen die Mädchen und schwächeren Jungs spielen." Hier wird ja festgelegt, daß "Mädchen" und "schwächere Jungs" zwei Kategorien aus ein und derselben Kollektion darstellen - einmal unterstellt, diese Ko-Kategorisierung meine nicht, die 'schwachen Jungen' würden den 'starken Mädchen' aus Gründen der ausgleichenden Fairneß zur Seite gestellt. Aber der Tatbestand des Bestimmenkönnens, wie die "Mannschaften"/Spielgruppen sich zusammenzusetzen haben, spricht natürlich nicht für die Fairness-Variante! Erhebt sich die Frage, woher dieses sehr frühe So-Kategorisieren-Können kommt. Dazu eine zweite kleine "Anekdote": Großvater geht mit seinem vielleicht 2-jährigen Enkel spazieren. Der Kleine will nun in seiner noch unverdorbenen Neugier überall rein und stürmt so in eine Toreinfahrt. Darauf der Großvater "Da darfst net 'nein, das is fremd!" Das Konzept der "Fremdheit" wird also sehr früh sehr systematisch eingeimpft. Es wäre interessant (im Rahmen einer anderen Disziplin), auch einen solchen Prozeß der "Einimpfung" (Bourdieu) des ethnischen Habitus einmal nachzuzeichnen zu versuchen.
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hier auch die "rituelle Ordnung" der Gesellschaft infligiert zu sein, die "informelle" soziale Kontrolle scheint ignoriert, der zugewiesene Platz in der Gesellschaft überschritten zu sein. Das muß repariert werden. Unter Umständen mit gewaltsamen (symbolischen) Methoden, mit Sanktionen als die Fortsetzung von Reparaturen mit anderen Mitteln. Und die Ordnungswidrigkeit des Verlassene des zugewiesenen Platzes geht natürlich sogleich einher mit der Gefahr der Platznahme auf "fremden" Märkten. Ein "Kromschröder-Türke" ist von daher natürlich "fehl am Platz", wenn er im Frankfurter Operncafe ein Bier trinken will und natürlich wird er folglich nicht bedient (vgl. stern 42/1982)16; oder ein "Wallraff-Ali" ist natürlich "fehl am Platz" bei einer bayerischen Franz-Josef Strauss-Zelebration - und er wird natürlich als "Mulitreiber" angemacht (vgl. Wallraff 1985:23ff.); und - so könnte man mit Mary Douglas' bekanntem Beispiel in bildhafter Analogie hinzufügen - genauso sind Schuhe auf dem Tisch natürlich "fehl am Platz" (s.u.). Es ist eine Frage "moralischer" und "sozialer Ordnung", die da hinter - vielleicht nur rituellen? - Übertretungen zum Vorschein kommt, denn: "Schuhe sind als solche nicht unbedingt schmutzig, aber es ist schmutzig, sie auf den Eßtisch zu stellen", denn "Schmutz ist nur das Nebenprodukt einer systematischen Geordnetheit und Klassifikation der Angelegenheit, insoweit als die Geordnetheit immer auch die Zurückweisung unangemessener Elemente beinhaltet" (Douglas 1966:48*). - Aber mit welch zynischen Parallelen man diese gesellschaftliche Ordnung bzw. die Mechanismen ihrer Reproduktion auch geißelt, so scheint sie doch in noch so kleinen Akten immer wieder aufs Neue erzeugt zu werden. Selbst die geringfügige Macht eines Bettlers, im richtigen "historischen Moment" die eigene Definition der Situation oder der sozialen Zugehörigkeit des Gesprächspartners durchsetzen zu können, stellt einen solchen Reproduktions- und Ordnungsfaktor dar.
16 Der stern-Reporter Gerhard Krqmschröder trat 1982, lang vor Wallraffs "Ganz unten"Reportage, mit einer "Wallraffiade" an die Öffentlichkeit. Er "lebte mehrere Wochen als 'Hilfsarbeiter aus Anatolien' in Frankfurt. Es war ein Unterricht zum Ducken, um zu überleben" (stern 42/1982: 110).
5. Kapitel WEITERFÜHRUNG, RÜCKSCHAU UND AUSSTIEG "Manche dieser Ideinen Gewinne und Verluste mögen noch so banal erscheinen, aber wenn man die Summe aus allen sozialen Situationen zieht, in denen sie vorkommen, so erkennt man, daß ihre Gesamtwirkung gewaltig ist." Erving Goffman "Macht gibt es nur, insofern sie zugleich symbolische Macht ist." Jean Baudrillard 5.1 WEITERFÜHRUNG: KOMPETENZ ALS RESSOURCE Am Anfang von Kapitel l habe ich mit Karl Kraus gewarnt: "Je näher man ein Wort anschaut, desto ferner blickt es zurück". Das 'Türkischmann Du?"-Beispiel ist wohl "Opfer" dieses "Blicks" geworden. Wie jedoch aus dem unvermeidlichen Umfang der Analyse ersichtlich, ist der dort praktizierte Fernblick für andere Beispiele interkultureller Kommunikation kaum durchhaltbar. Aber liegt der "Zugriff von Gesellschaftsstruktur auf die Gesprächsiruation und auf die darin beteiligten Personen wirklich so "fern"? Daß das mit dem einmal gewonnenen methodisch-analytischen Blick nicht so sein muß, will ich im folgenden mit zwei weiteren kleinen Beispielen zu demonstrieren versuchen. In beiden Fällen basiert die interaktionale Hervorbringung der ethnischen und sozialen Kategorie "türkischer Gastarbeiter" auf anderen Mitteln, Methoden und Strategien, aber auf derselben Ressource, nämlich der Möglichkeit, entsprechende Ressourcen "so" ausschöpfen zu können, mit ihrer Hilfe "so" kategorisieren zu können. Im Anschluß an die Analyse des "Türkischmann Du?"-Beispiels erhebt sich die Frage, ob die darin angewandten Methoden der Kategorisierung nicht einfach übertragbar sind auf alle möglichen Fälle interkultureller Kommunikation, die sich durch ähnliche Voraussetzungen auszeichnen, nämlich Reparaturunterlassungen oder Reparaturmißbräuche, wie in meiner Hypothese 2 im 1. Kapitel ausgeführt. Nun wäre es aber irreführend, auf Grundlage der in BEISPIEL 5 herausgearbeiteten Merkmale des konversationeilen Verlaufs (CodeSwitching in den Foreigner Talk, überraschende Fremdnominierung eines einschlägigen Topos, kumulativ entstandene Reparable etc.) nach anderen Fällen Ausschau zu halten, in denen es zu ähnlichen Ergebnissen kommt, da Kategorisierungen dieser Art durchaus
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nicht immer auf solchen Methoden aufbauen. Nur der (vermeintlich) ethnische Unterschied1, der Unterschied, ein deutscher oder türkischer Gesprächspartner zu sein, sowie bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse, unter denen Deutsche und Türken sich als Gesprächspartner gegenübertreten, sind natürlich durchgängig anzutreffende Ausgangsbedingungen. Die interaktiv hervorgebrachte Kategorisierung von türkischen Gastarbeitern (oder anderen ethnisch-sozialen Minderheiten) ist nicht zwangsläufig gebunden an die für die interkulturelle Kommunikation typisch reservierten kontrakonfliktiven Mittel und Methoden, sie ist nicht gebunden an konversationelle Strukturmerkmale wie das Code-Switching vom Normaldeutsch in den Foreigner Talk und sie ist nicht gebunden an bestimmte Topoi. Sie ist allein gebunden an das So-Können, nämlich alle möglichen, in eine Kommunikation und vor einem bestimmten gesellschaftlichen Hintergrund mitgebrachten "Eigenschaften" in einer Weise verfügbar machen zu können, zur Verfügung haben zu können und verfügbar werden lassen zu können - für die Verfüger, oder verfügbar werden lassen zu müssen - für die Verfügten. Eine solche Kompetenz ist eine gesellschaftlich autorisierte und lizensierte, und sie hängt nicht ab von irgendwelchen linguistischen oder kommunikativen Adäquatheitsurteiien, sondern allein von der Möglichkeit, damit eine jeweils überlegenere Machtposition besetzt halten zu können (Bourdieu 1977:651). Kompetenz ist somit gleichzusetzen mit symbolischem Kapital (ibid.:646). Kompetenz heißt, die gesellschaftlich und situativ vorhandenen Ressourcen (die sich z.T. im Habitus "Vereinigen") mithilfe bestimmter Mittel und Methoden gewinnbringend ausschöpfen zu können. Lizenzen zum So-Machen-Können - da man z.B. Deutscher ist, die deutsche Sprache beherrscht etc. - sind ebenfalls aus den Ressourcen zu schöpfen, gleichwohl sie selbst wiederum Ressource sind. Dieses Können aufgrund der Ausbeutbarkeit ethnischer, hier konkret: deutsch-türkischer Verschiedenheit (eigentlich "Verschieden-Seibarkeit") ist die symbolische Kapitalgrundlage des Handelns auf den jeweiligen Märkten, ist das ethnische Kapital: Wo es investiert wird, bringt es den einen Gewinn und den anderen Verlust. Zur Reproduktion und Absicherung des ethnischen Kapitals gibt es sicherlich präferierte Mittel und Methoden der Kommunikation (wie etwa die bislang analysierten), diese sind aber nicht zwingend, sondern allerhöchstens naheliegende Optionen.
Leute, die so aussehen wie man sich Ausländer, vor allem südländische Immigranten vorstellt, machen mitunter ähnliche Erfahrungen wie Ausländer - nur sind solche Mißverständnisse meist reparierbar. Ein Experiment machte eine Kölner Schulklasse: Sie verkleideten sich ihren Vorstellungen gemäß als Türken "und machten schlimme Erfahrungen" ('stern' 4/83). (Vgl. hier auch die Kromschröder- und Wallraff-Experimente.)
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5.1.1 DIE KONVERTIBILITÄT SPRACHLICHER (IN-)KOMPETENZEN: ZWEI BEISPIELE Institutionelle Kommunikation Die beiden folgenden Beispiele unterscheiden sich von der Rahmung her grundsätzlich von allen vorherigen Beispielen, da es sich um Begegnungen zwischen deutschen Sachbearbeitern mit türkischen Klienten auf dem Arbeitsamt handelt, also um einen institutionellen Rahmen im engeren Sinne. Das Handlungsfeld "Behörde" bringt ziemlich andere "Bedingungen zur Kommunikationsetablierung" (Bourdieu 1977:649) mit sich als etwa eine Wegauskunft, ein Gespräch mit einem Bettler, ein Telefonat mit dem Meister oder ein Kantinengespräch über Nescafe. Ohne näher in die Diskussion um den besonderen sprachlichen Stellenwert behördlicher Kommunikation einsteigen zu wollen, kann man vielleicht mit Goffman Kommunikation unter ganz allgemeinen institutionellen Bedingungen subsummieren unter "ein System absichtsvoll (purposeful) koordinierter Aktivitäten, welches geschaffen wurde, um allgemeine, klar umrissene Ziele zu erreichen" (1973:173). Auf den Zusammenhang von institutioneller Genese, den Goffman hier in den Vordergrund stellt, und ihrer aktualen Funktion gehe ich nicht ein. Es sollte nur deutlich sein, daß das Diktat institutionellen Handelns von der Rigidität jener absichtvoll koordinierten Aktivitäten und der Macht ihrer Koordinatoren bzw. Überwacher abhängt. Rigidität korreliert mit der je unterschiedlichen Verfügbarkeit über Sanktionspotentiale (vgl. Schütze 1975:743ff., der von "primären, sekundären und tertiären Sanktionssystemen" spricht), mit denen die Aktivitäten zur Erreichung der "klar umrissenen Ziele" überwacht werden können. Wir sollten uns dabei vor allem vor Augen halten, daß insbesondere Arbeitsimmigranten (und Asylsuchende) mit der Entrechtung in Bezug auf viele bürgerliche Freiheiten bzw. mit der Unterwerfung unter eine Sondergesetzgebung (auf dem Arbeitsmarkt zum Beispiel das Arbeitsförderungsgesetz, das Deutschen ein Vorrecht bei der Arbeitsplatzvermittlung einräumt) im Verbund mit der allgemeinen sozio-ökonomischen Diskriminierung sehr weitgehender Rigidität unterworfen sind bzw. Teile der Verwaltung genau zum Zwecke der "Überwachung" von Ausländern ins Leben gerufen worden sind. (Was das für die interkulturelle Kommunikation bedeuten kann, vgl. z.B. Hinnenkamp 1980 und 1985.) Wenn das obige wie das folgende Beispiel deutschtürkischer Kommunikation auch nicht speziell in einer die Arbeitsimmigranten "verwaltenden" Institution stattfinden, sollte dennoch die grobe Ungleichverteilung von Rechten und Pflichten zwischen ausländischen Klienten und den Verwaltungs"agenten" im Auge behalten werden, die auch schon bei der Kommunikation mit Sachbearbeitern des Arbeitsamts angelegt ist. Die Konvertibilität von Kompetenz in Inkompetenz Im folgenden geht es um ein Beispiel, bei dem die linguistische Kontrastmarkierung z.B. keinerlei Rolle spielt. Hier steht die "propositionale Kraft" der Äußerung zunächst im Vordergrund, allein das, was gesagt wird - allerdings nicht unabhängig von der soziosequen-
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tiellen Determiniertheit. Vorerst jedoch gilt, über die in Frage stehende Äußerung aus dem folgenden BEISPIEL 6 einen Zugang zu dem Gesprächsverlauf anzubahnen. Die interessierende Äußerung ist die folgende: Bf. dann erklär ich denen das .... in Deutsch und die übersetzen dir das genau in Türkisch. Diese Äußerung ist verkürzt und aus dem Zusammenhang gerissen. Was impliziert sie soweit? Bt spricht zu jemandem, der Deutsch und offensichtlich Türkisch versteht, denn er spricht ja mit jemandem in Deutsch und schlägt dabei vor, daß etwas ("das") derselben Person ("dir") ins Türkische übersetzt wird. Handelt es sich dabei nicht um einen Spaß oder eine Verulkung, ist anzunehmen, daß dieser Vorschlag gegenüber jemandem gemacht wird, der auch Türkisch spricht. Allerdings scheint die in Deutsch angesprochene Person identisch zu sein mit derjenigen, der etwas ins Türkische übersetzt werden soll. Oder muß hier die Unterscheidung getroffen werden zwischen Sprecher und zwei Typen von Adressaten? Nämlich zwischen einem Angesprochenen, für den die Information gilt, und einem Vermittler, jemand der hört, übersetzt und als porte-parole fungiert? Aber warum sollte dann eine dritte, der aktuellen Situation externe Instanz angerufen werden, etwas zu übersetzen, wenn der Übersetzer anwesend ist? Also ist vielleicht doch kein Übersetzer dabei? Oder nur einer, der nicht "genau" ist? Als Möglichkeit bleibt jedoch im Raum stehen, daß Bt direkt zu jemandem spricht, dem er folglich in normalstem Deutsch vorschlägt, daß etwas für ihn. der offensichtlich das Deutsch, das Bt in diesem Moment spricht, versteht, ins Türkische übersetzt wird. Bleibt noch die Möglichkeit, daß das "das" etwas ist, das aus Zeitgründen, Genauigkeitsgründen o.a. eine spezielle Verstehenskompetenz erfordert, die mit dem hier Gesagten nicht zu vergleichen ist. - Doch Kotext wie Kontext dieser Äußerung klärt alle Fragen auf. Zu dem nun folgenden Beispiel ist zu sagen, daß es längst nicht so gründlich diskutiert und analysiert werden wird, wie das "Türkischmann Du?"-Beispiel. Auch bin ich unter anderem Aspekt bereits auf dieses Beispiel eingegangen (Hinnenkamp 1985). Bt ist Sachbearbeiter im Arbeitsamt und Vorgesetzter von Sb, an den sich Ahmet (A), ein türkischer Jugendlicher, zuerst wendet. A war nach der alten Gesetzeslage noch arbeitsberechtigt, hat aber seine Arbeitsstelle verloren und ist nun per Gesetz wieder voll schulpflichtig. Die Schulen sind allerdings auch nach längerer Zeit dafür noch nicht eingerichtet. A geht nur einmal wöchentlich zur Berufsschule, den Rest der Zeit "hängt er rum". Er geht nun innerhalb von 14 Tagen zum zweiten mal zum Arbeitsamt und fordert eine Lösung: Entweder wieder Arbeitsvermittlung oder täglich Schule. Letztendlich geht es ihm aber strategisch um eine Arbeitsvermittlung - und auch allein dafür ist das Arbeitsamt zuständig. Hier nun zunächst zwei zur Information wichtige Ausschnitte aus dem Gespräch zwischen A und Sb:
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BEISPIEL 6.1: TRANSKRIPT "Was soll ich die andre Tach machen?"2 AUSSCHNITT l 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25
A: Guten Morgen (schließt Tür hinter sich) (ca. 20 Sek. Hintergrundgeräusche, laute Stimmen durcheinander) (unverständlich, A fängt leise und in abgehackter Form zu sprechen an) A: (...) vor zwei Woche auch hier komme, vor zwei Woche hab ich hier auch kommen, ne (20 Sek. unverständlich) Sb: Mhm A: und jeden Tach in Schule will ich gehen aber ich hab nich Schule gehn jeden ( . . . ) jeden Tach + nur ei- eine eine Woche ein Tach (3 Sek. Pause) Sb: (leise) Das is nur vorübergehend ( . . . ) (ca. 40 Sek. Pause, Geräusche, es wird in Papieren geblättert) A: Ich hab in Schule gewesen, ne\. Schule ( . . . ) jeden Tach harn wa keine Schule, keine Platz (ca. 10 Sek. Pause) Sb: Kann ma nix machen (3 Sek. Pause) A: rJa/, was soll ich die andre Tach machen? + Von der ( . . . ) Sb: L Ja, das is vorübergehend, wie gesacht, ist das nur einmal die Woche inner Schule. Das is normalerweise is das jeden Tach das Berufsvorbereitungsjähr, nur unter den ( . . . ) , wie gesacht, es gäbe kein Platz und nich genuch Lehrer um das eben durchzuführen
AUSSCHNITT 2: 60
61 62 63 64 65 66 67 68 69 70
Sb: *-
( · · > ) Ja wir dürfen Dir aber keine
Arbeit vermitteln weil das als Kinderbeschäftigung zählt, und das is verboten zu vermitteln + (?also) darfste nich mehr arbeiten, (lauter) es se*i denn wie gesacht Du krichst reine Bescheinigung von der Schule + (—) das regelt. A: "Ja das krich ich (?...) Sb: ( . . . ) Neue Schule? A: Ja, Neue Schule Sb: Neue Schule, daß der Direktor dann ein- eine Bescheinigung ausstellt, daß Du befreit wirst von dem Berufsvorbereitungsjähr + dann dürfen wir Dich vermitteln, ansonsten nicht.
Eine Bescheinigung von der Schule erhält A aber leider nicht: 50 A: Ja ich hab schon fraacht hab ich Di- Direktor gegangt, ne/.
2 Für die Erläuterungen zur Transkriptionsweise siehe Anhang.
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A geht nach diesem erfolglosen Versuch zur nächsten Instanz, Sbs Vorgesetztem Bt. Dieses Gespräch soll hier in voller Länge wiedergegeben werden, wenn es auch nicht in Gänze einer Analyse unterworfen wird: BEISPIEL 6.2: TRANSKRIPT "Die übersetzen dir das genau in Türkisch" 01
(A tritt ein und geht auf Bts Schreibtisch zu. Bt unterhält
02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14
sich 11 Sek. mit einer Kollegin,die ebenfalls gerade den Raum betreten hat, bevor er sich A zuwendet) Bt: Setz dich Junge + Jetz muß ich dir dasselbe erzählen, was ich dir neulich schomma erzählt hab (4 Sek. Unterbrechung der Aufnahme) A: Und jeden Tach keine Schule Bt: rJa\ das spielt keine ROlle A: L Ja, was soll ich die andere Tach machen? Bt: Eh mh, das we"iß ich nicht. Das is Sache von der Schule A: r-Ja, ich hab in die Schule (h) gegangen ( — ) Bt: L Das we*iß ich, das is aber Sache von der Schule. Du mußt dahin, da sp da
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beißt die Maus keinen Faden ab
16 (0.8 Sek. Pause) 17 A: (erstaunt) Wie? 18 Bt:
Da da hilft da gibts keine Möglichkeit, is Gesetz, du imißt
19 20 A: 21
hin zur Schule Ja, Gesetz hab ich auch schon, aber ich hatte (h) Arbeiterlaübnis gemacht
22
Bitte?
Bt:
23 A: Ich hatte Arbeiterlaubnis (?von Ihnen) gemacht 24 Bt: LrJaa aber jetzt so bald du darfst jetz nicht arbeiten ++ 25 A: ( ) 26
Bt:
du darfst jetzt nicht arbeiten
27 A: 28 29 30 Bt: 31 32 33 34 A: 35
(schnell und vorwurfsvoll) Ja was soll ich die andere Tach machen in die Schule wenn wenn keine Plätze bekommen sind ( . . . ) ? (deutlich und heftig) Das is Sache der Schule. Die Schule muß dafür soVgen, daß ihr Klassen bekommt und die sind auch dabei, das einzurichten. Ob das jetzt am ersten Jcinuar so weit is, das weiß ich nicht Jaja, gibst du mir eine Papier, sach der die Junge muß jeden Tach in Schule gehn, dann kann ich jeden Tach in die
36 37
Schule gehn Ja das brauch ich nicht, das is Gesetz,das is ein Gesetz,
Bt:
38 39 A: 40
das hat die Schule dä'a + + (etwas verächtlich) Ja, Gesetz + aber vor die Gesetz von vor vor die Gesetz hab ich schon gearbeiten
41 Bt: rVo*r dem Gesetz hast du gearbeitet? 42 A: L Ja
43
Bt: r(?Aber/und) anschließend wieder ra'usgekommen und da he'ißt es
44
A:
45 46 47 48
Bt:
L
Ja
(hastig und schnell) Ich hab&ich hab&ich hab nich genuch Geld gekricht und dahinter hat mir rausgeschmissen Hier steht in einem- aus einem Arbeitsverhältnis ä'usscheidet, werden in die Klassen der Berufsvorbereitungsjähre
149 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67
Eingeschult, damit Schluß, damit darfst du nicht arbeiten + + Da is nix zu machen + is nich möglich A: (leise und entmutigt) Jaa Bt: Du kannst folgendes machen, du gehst ma hin, meinetwegen, Breite Straße A: (laut) Davon hab ich schon gewesen zwei drei (?mal/Monat), pwas (?soll ich-) Bt: L Die solln mich anrufen A: Ja Bt: dann erklär ich denen das in Türkisch, nee in Deutsch und die übersetzen dir das genau in Türkisch A: (beleidigt) Ja, ich verstehs, was hast du alles gesacht, hab schon ge- verstanden Bt: Ja, dann kann ich dir nicht weiter helfen, Junge A: Jaa Bt: (schnell und schnodderig) Wenn ich helfen kann, tu ich das, wenn ich aber nich helfen kann, dann kann ich nich helfen. Hierbei kann ich nich helfen + ja/, komm. (A verlaßt Raum)
Ich werde dieses Gespräch in groben Zügen in Form von großflächigen Handlungsschemata darstellen, wobei sich die Hauptschemata wiederum in Unterschemata (röm. Ziffern) untergliedern; letzteren weise ich Überschriften zu ihrer Charakterisierung zu. Innerhalb der Unterschemata versuche ich dann, den jeweiligen Gesprächsturns zentrale inhaltliche oder formale Sprechakteigenschaften zuzuschreiben. Damit ist natürlich noch keine Analyse erfolgt, sondern allerhöchstens eine verdeutlichende (weil vereinfachte) Paraphrase. Dennoch hoffe ich so in hinreichend deutlicher Weise auf die interaktionslogische und soziologische Funktion dieser mir wichtig erscheinenden anfangs zitierten Sequenz von Bt (Zeile 58f.) hinsteuern zu können.
BEISPIEL 6.2': SCHEMATICHE DARSTELLUNG 01-03 Nebenkommunikation 4a Bt: Aufforderug zum Platznehmen SCHEMA 04b-40: OBJEKTIVIERUNG DER NICHmVTIFIZIERUNG
I Zuständigkeitsverweise vs. Moralisierung 04b/5 07 08 09/10 II 12 13-15 17 18/19
Bt: A: Bt: A: Bt: A: Bt: A: Bt:
Antizipation von As Problem Problemformulierung Nihilisierung des Problems Appellative Problemformulierung Zuständigkeitsverweis auf Instanz Schule Zurückweisung Zuständigkeitsverweis (Schule) -t- kategorische Aufforderung implizite Wiederholungsaufforderung Zuständigkeitsverweis (Gesetz) + kategorische Aufforderung
150 II "Gewohnheitsrecht" vs. Verbot 20/21 22 23 24-26 27-29 30-33
A: Bt: A: Bt: A: Bt:
Widerspruch + neues Argument Nachfrage Wiederholung Verbot Widerspruch + moralischer Appell Zuständigkeitsverweis + Vertröstung + Reduzierung der persönlichen Verantwortung
III Zuständigkeitsdifferenzen 34-36 A: Widerspruch + neue Strategie: Aufforderung zum amtlichen Handeln 37/38 Bt: Negierung + Zuständigkeitsverweis 39/40 A: Widerspruch + neues Argument SCHEMA 41-51: INDIVIDUALISIERUNG DER NICHTRA FIZIERUNG 41 + 43Bt: 44-46 A: 47-50 Bt: 51 A:
Aufgreifen von 39/40 als Nachfrage + Feststellung/Unterstellung Rechtfertigung von 43 Schlußfolgerung aus 41ff.: Individualisierung von As Problemlage Ratifizierung
SCHEMA 52-63: HILFSANGEBOT 52/53 Bt: Hilfsangebot 54/55 A: Relativierung IV Präzisierung der Individualisierung: Sprachkompetenz-Frage * 56+58/59 Bt: Präzisierung des Hilfsangebots: Reduzierung auf Sprachproblem 60/61 A: Zurückweisung von 58/59 62 63
Bt: persönliche Entlastung A: Ratifizierung
V Ausstieg, Entlastung und Schluß 64-66 Bt: Entlastungserklärung, Schlußfolgerung + "Entlassungs"aufforderung
Im ersten Schema schiebt der Sachbearbeiter Bt die Unmöglichkeit, As Problem zu lösen, auf die "objektiven" Instanzen "Schule" und "Gesetz". Im zweiten Schema wird über As Insistieren auf dem "Gewohnheitsrecht", vor dem Inkrafttreten des Gesetzes auch schon gearbeitet zu haben (Zeile 39f. als "Scharnier" zwischen den Schemata), eine neue Begründungsstrategie für Bt greifbar, indem er As Ausscheiden aus dem "vor-gesetzlichen" Arbeitsverhältnis zum Anlaß nimmt, einen "wenn-dann"-Konnex herzustellen zwischen As individueller Geschichte und dem Zusammentreffen mit einer neuen objektiven Lage (Zeile 4Iff.): Wäre das Ereignis X in der persönlichen Biographie nicht eingetreten, wäre auch das Gesetz
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nicht anwendbar. Damit kann As mißliche Lage nun unmittelbar mit seinem individuellbiographischen Verhalten in Zusammenhang gebracht werden. Nicht mehr: "die Schule muß", "das ist ein Gesetz" etc., sondern "da du X gemacht hast, ist nun Z... damit Schluß, damit darfst du nicht arbeiten" (Zeile 49). Das Wörtchen "damit" hat hier die suggestive Kraft unausgesprochener Rückanbindbarkeit an "rausgeschmissen" (Zeile 46) und "Arbeitsverhältnis ausscheidet" (Zeile 47f.). Nicht mehr objektive Instanzen müssen bemüht werden, um die Unlösbarkeit von As Problem zu erklären, sondern allein er selbst als Individuum A wird nun zu der entsprechenden Instanz. Jetzt folgt das nächste Schema (HILFSANGEBOT): Bt möchte A nach der erfolgreichen Individualisierung seines Problems (die A ja um alle Widerworte bringt) nicht ganz so im Nassen stehen lassen und bietet ihm einen Schirm an - allerdings mit Löchern, oder noch krasser: ein unbespanntes Schirmgestell: "Breite Straße" (Zeile 53) bezeichnet den Ort des stadtbekannten Ausländerzentrums. An dieses Zentrum soll sich A mit seinen Sorgen wenden. (Psychosoziale Beratung ist immer dann eine empfehlenswerte Instanz, wenn man Klienten dorthin ab- und herunterschieben kann und dabei noch suggeriert, man habe ihnen geholfen!) Aber As Mühen, diesen guten Ratschlag zurückzuweisen, folgt die doch immerhin vielversprechende Unterbrechung "Die solln mich anrufen" (Zeile 56). Erst dann konkretisiert sich das vermeintliche Hilfsangebot auf den "Übersetzungsschirm". Wenn er dann nicht angenommen wird, ist man selbst schuld, naß zu werden - auch wenn der Schirm gar kein richtiger Schirm ist. Bislang war A "Junge", war ein Jemand, der das Pech hatte, in die Mühlen zwischen Gesetz, den unerfüllten Provisionen dieses Gesetzes und die diesen Widerspruch verwaltende Bürokratie zu geraten. Dabei war irgendein "ethnischer" Jemand in keiner Weise verbalisiert worden. Nun aber ist er jemand, der das, was um ihn herum vorgeht, nicht oder nicht richtig begreift, der all seine Mühen um Schulbesuch, Arbeitsplatz, Weg-von-der-Straße, "Papier" etc. fehlinvestiert, weil er all das gar nicht versteht, weil das alles in einer anderen, ihm unverständlichen Sprache "gespielt" wird. So jedenfalls die suggestiv-magische Formel von Bt, die mit der Nominierung deutsch-türkischer Übersetzungsnotwendigkeit kontextualisiert wird. Der ethnische Habitus kommt hier wieder ins Spiel, diesmal nicht so sehr im Bündnis mit dem sozialen und kulturellen, dafür mit dem linguistischen. Die objektive, ethnisch begründete Nichtteilhabeschaft an der "legitimen Sprache" legitimiert zur Kategorisierung des Nicht-verstanden-Habens, des Nicht-verstehen-Könnens, des Übersetzen-lassen-Müssens, des Reduzieren-Könnens objektiver sozialer Tatbestände auf das individuelle Eine-andere"Muttersprache"-Haben. Allein das Haben einer anderen Sprache oder andersherum: allein das Nicht-Haben der legitimen Sprache legitimiert zur Unterstellung des Nicht-Könnens in der angesagten Sprache. Wohlbemerkt, es geht um das Haben der legitimen Sprache, was zunächst noch nichts über das Können aussagt, wohingegen das Können in das Haben bzw. Nicht-Haben konvertiert werden kann. Das Haben ist allein eine Frage der Definition. Und mit dem so-sagbaren, so-definierbaren "die übersetzen dir das genau in Türkisch" ist es auch so-verstehbar: Verstehbar als die Unterstellung, nicht mitgekommen zu sein,
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Nachhilfestunde nötig zu haben, kurz: nicht kompetent zu sein\ Oder noch weitergehender: Obwohl A als Individuum während beider hier dokumentierten Gespräche hinreichende Kompetenz bewiesen hat, den Argumenten zu folgen, Gegenargumente ins Spiel zu bringen, ja selbst sogar amtsspezifische Schemata zu initiieren, wird ihm nun als Repräsentant der ethnischen und linguistischen Minderheit Türken diese Kompetenz abgesprochen - entgegen jeder Evidenz. Natürlich ist As "Gastarbeiterdeutsch" unüberhörbar - Simplifizierungen, Auslassungen, Fehler und pragmatische Verstöße (duzen) sind zahlreich vorhanden -, aber bis auf kleinere lokale Reparaturnotwendigkeiten, wie nach der von Bt verwendeten idiomatischen Phrase "da beißt die Maus keinen Faden ab" (Zeile 17), oder wie Bts Nachfrage "Bitte?" (Zeile 22) nach der unklaren Einführung eines neuen Topos, funktioniert der konversationelle Ablauf ziemlich 'geschmiert': Von der Notwendigkeit des Gebrauchs kontrakonfliktiver Kommunikationsmittel oder gar allgemeiner Rekalibrierung kann nicht die Rede sein. Allerhöchstens könnte beispielsweise die ständige Wiederholung von As Argument, er sei schon in der Schule gewesen, auf ein referentielles Nichtverstehen vorgängiger Argumente zurückgeführt werden, doch würde gleichwohl ja kaum das argumentative 'recycling' von Bt als sprachliches Verstehensproblem gedeutet, wenn er etwa immer wieder betont, die Schule habe das Gesetz da - diese Reduktion aufs Nichtverstehen bleibt ein Privileg des native speaker gegenüber dem non-native speaker! Referentielle oder konversationeile Reparaturleistungen sind jedenfalls keine hervorragende Gesprächsleistung hier. Im Gegenteil: Der argumentative Schlagabtausch bringt auch die Verwendung verschiedener Tempora und Modalitäten mit sich oder entpuppt As verbale Schlagfertigkeit. Kurz: konversationeil besteht kaum Hinweis auf die Unterstellbarkeit des Nicht-verstehenKönnens. Auch die explizite Abwehr und Richtigstellung von A, der Versuch, die Legitimität der Unterstellung infragezustellen, da er sehr wohl in der Lage war, alles zu verstehen, nutzt nichts mehr, wenn die definierende Macht mächtig genug ist, ihren eigenen Schluß daraus zu ziehen: "Ja, dann kann ich dir nicht weiter helfen, Junge" (Zeile 62). Denn wie auch? "Wenn ich aber nich helfen kann, dann kann ich nich helfen" (Zeile 65). Ein tautologischer Gemeinplatz, der nach Gülich (1978) legitimatorische und verteidigende Funktion zugleich hat: "Der Sprecher macht es sich ... also doppelt einfach: Er läßt sich weder auf die Komplexität des Einzelfalles ein, noch unterzieht er sich der Mühe einer eigenen Formulierung" (ibid.:23). Aber darüberhinaus gewinnt Bts Nicht-helfen-Können hier noch den weiteren Doppeleffekt von einerseits "Nicht-in-der-Lage-Sein" aufgrund objektiver Umstände (wie der Nichtzuständigkeit) sowie andererseits vor allem vom "Nicht-Gelassen-Worden-Sein", da ja A das "Hilfsangebot" abgelehnt und zurückgewiesen hat: "Ja dann ... ja, komm", will sagen: Dann geh, die Vorstellung ist zu Ende. Bt schlägt somit mehrere Fliegen mit einer Klappe, er selbst hat sich weitestgehend von der amtlichen und moralischen ("Junge")
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Verpflichtung entlastet3, den Klienten A hingegen dreifach belastet: (a) Daß A sich mit seinem früheren, "vor-gesetzlichen" Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis die jetzige Lage selbst zuzuschreiben hat; (b) daß er die objektiven wie subjektiv verschuldeten Gründe für seine mißliche Lage bzw. für die Unerfüllbarkeit seiner Forderungen an den Arbeitsamtsachbearbeiter nicht "checkt", was darin begründet liegt, daß er die deutsche Sprache nicht hinreichend beherrscht, ergo eine "genaue Übersetzung" ins Türkische notwendig ist (im Text ist die Konklusion natürlich genau umgekehrt); (c) daß A gar nicht verstehen will, da er das Hilfsangebot ja zurückweist. Die Konvertibilität von Inkompetenz in Kompetenz Wurde im BEISPIEL 6.2 mit der Invozierung der Sprachkompetenz-Frage der ethnische Habitus der Gesprächsteilnehmer relevant, bedingt durch Bts kontrafaktische Kategorisierung von A in die Gruppe derjenigen, denen zur Verständnissicherung etwas vom Deutschen ins Türkische übersetzt werden muß und denen folglich unterstellt wird, inkompetent im Verstehen der deutschen Sprache zu sein, kommt es im nun folgenden Gesprächsausschnitt gleichfalls zu einer kontrafaktischen Kategorisierung, allerdings genau umgekehrt, in die Gruppe der Sprachkompetenten, gleichwohl der so Kategorisierte keineswegs kompetent ist, seine Belange kaum selbst vorträgt, sondern einen Freund als Übersetzer und Vermittler (mit-)sprechen läßt. - Auch bei diesem Beispiel wird die Analyse knapp ausfallen. Der folgende Gesprächsausschnitt ist die Anfangssequenz einer insgesamt 16-minütigen Begegnung. Ort ist wieder das Arbeitsamt, aber eine andere Abteilung, ein anderer Sachbearbeiter (SA). Ali Kaplan (K) ist Asylbewerber aus der Türkei. Er ist seit längerer Zeit arbeitslos. Er hat sich arbeitslos gemeldet, aber seit drei Monaten kein Arbeitslosengeld erhalten. (Die Gesetzeslage zum Zeitpunkt der Begegnung hat Asylsuchenden noch eine Arbeitsaufnahme gestattet). Ks Begleiter tu kommt in der Funktion als Dolmetscher, Vermittler, Helfer mit. (Im Rahmen von vereinsmäßig organisierter Selbsthilfe.) K und tu waren am Vortag dort, haben Ks Anspruch geltend gemacht und wurden für den nächsten Tag, vorliegende Begegnung, erneut vorgeladen. BEISPIEL 7: TRANSKRIPT "Hervorragend Deutsch"4 01 (K und tu treten ein, K unterhält sich noch mit vorherigen 02 Klienten) 03 K: (schnell) Kaplan Ali, guten Tach 04
SA:
Ha?
05 K:
(schnell) Kaplan Ali, guten Tach
06
Ja\
SA:
3 Die Anrede von Ahmet als "Junge" hat insofern moralische Implikationen, als damit beispielsweise ein besonderer Fürsorgestatus zum Ausdruck gebracht werden kann. Ich glaube nicht, daß so eine Anrede "infantilisieren" will, wie in Seminar-Diskussionen über dieses Beispiel mehrfach vertreten wurde. 4 Für die Transkriptionserläuterungen siehe Anhang.
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07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27
tu: Gestern (?abend) wir sind hier gewesen, ne/ SA: Soo?K: Kaplan Ali SA: rKaplan + + Was war das K: '-(fast flehend) Bitte schön ein bißchen, ein bißchen bitte schön (8 Sekunden Pause, SA zieht Schublade auf) tu: r-Er hat keine G^ld, keine Pfennichs, nix SA: l· Mhm- jau, ja nun K: L bestimmt drei Monat, hier + kuck mal + + SA: (seufzt) Ach nu- + dann kuck bei mir ma hier, was hier los is K: Ja\, (gedrückt lachend) ggch^mehr SA: Etwas mehr, wa? - ^ ·*/ K: rieh bin kaputt, drei Monat tu: L(gedrückt lachend)' ich bin kaputt *^ /-»«/»»< ·« ^ » »» K: Ja SA: Sieht doch gut aus. Jetzt hat er richtich FiguV K: r-Nein, hier hier , keine Geld ( . . . ) SA: L Gehört ihr zusammn? tu: Ja (?Kaplan) Dolmetscher
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K:
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SA:
30
tu:
31 32 33 34 35 36 37 38
SA: Brauch er doch gar nich. Hier: Ich bin kaputt, keine Essen. Er spricht doch giit Deutsch tu: Nee nee SA: Alles Deutsch spricht er, was er braucht tu: Er ist Asyl. Asyl kann das nicht Deutsch K: Ich bin Asyl, ja/ SA: Spricht doch gut Deutsch K: Nein, nich
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SA:
40 K: 41 SA:
i-Dolmetscher, Kollege (?Dolmetscher)
L
(kurz)
Von wem?
Für ihn
(übertrieben) Prilima Deutsch
(zurückweisend) Ach, nein (noch übertriebener) Hervorragend Deutsch
42
(6 Sek.
43 44 45 46
SA:
Pause)
K:
47
SA: Hier isser
(leise geflucht) (?Wasn das) alles fürn Scheißdreck hier + Wo isser denn? Hier isser + Däa liecht er + + (lauter) Kaplan Ali Ja
Das Gespräch weist mehrere Eigentümlichkeiten auf, etwa indem rein behördliche Belange scheinbar vermischt werden mit Seitensequenzen über Aussehen, Arbeitsbelastung und Sprachkompetenz der Teilnehmer. Auch formal, in seinem sequentiellen Ablauf, ist es durch eine gewisse Diskontinuität charakterisiert. Die Vorstellungssequenz geht bis Zeile lOa, von Zeile 10b-17 folgt der Vortrag des Klientenbelanges. Von Zeile 15 bzw. Zeile 18-41 ist der Klientenbelang und seine Vertretung bzw. sein Vortrag von nur mittelbarem Interesse, da der Belang nicht als solcher ratifiziert wird, sondern hier sozusagen das "auf der Hand liegende" Rohmaterial liefert für die Verhohnepiepelung von Ks deutscher Sprachkompetenz. Die Sequenz Zeile 21-25 wird durch Ks Selbstqualifizierung bestimmt, Zeile 26-32 durch die Nominierung der Dolmetscherrolle und Zeile 32-41 durch die Wert-
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Schätzung von Ks Deutschkenntnissen - eine explizite Fremdqualifizierung. Erst nach der Pause, Zeile 43ff., wird zum Belang des Klienten zurückgekehrt. An dieser Stelle steige ich aus dem Gespräch aus. Zum Ausgang des Gesprächs sei gesagt, daß K das Arbeitsamt schließlich mit der gewünschten Abschlagssumme verläßt. Nun einige nähere Bemerkungen und Beobachtungen zum Gespräch: Im Vergleich zu dem forschen und selbstbewußten Auftreten von A in BEISPIEL 6.2 bleiben K und tu auf Distanz beim Eintreten, sie sprechen sehr leise und höflich. K stellt sich "ordnungsgemäß" vor: Name, Vorname, Begrüßung - was SA seinem "Hä?"-Laut nach nicht verstanden hat und von K als Wiederholungsaufforderung, wohl in SAs Sinn, interpretiert wird. "HA ist, wie sein Name, HÄmisch", sagt Bodenheimer zu jener "kürzesten 'deutschen' Frageexpression" (1984:84/83)5. tu ergreift (nach einem eindeutigeren Ratifikationssignal als "ha") nun die Initiative: Erinnerungshilfe, daß sie am Vortage bereits da waren (Zeile 07). Was heißt darauf das "soo-" in intonatorischer Schwebe? Soso, ihr seid gestern schon dagewesen? Vielleicht wird auch eine neue Handlungsbereitschaft signalisiert ä la "So, dann wolln wir mal" o.a. (in prärhematischer Funktion, sozusagen)? Auf jeden Fall wird Ks Vorstellung - hervorgehoben - wiederholt. Erst in Zeile 10 wird der neue Klient explizit wahrgenommen, wird seine dreimalige Selbstvorstellung amtlich ratifiziert, woraufhin K sein Belang und seine Not unmittelbar anschließend bzw. in Überlappung mit SAs Weiterrede formuliert. Eine verbale Reaktion, ob gehört, verstanden, ob für den Vorgang nützlich etc. folgt nicht. SA wendet sich seinem Schreibtisch zu, Schubladen werden aufgezogen, Unterlagen auf den Tisch gelegt. Hier wird tu nun tätig mit dem Versuch, Ks Bitte zu explizieren (Zeile 14). SA erweist sich als Meister in mehrdeutigen Antwortvokalisierungen: "Ha", "soo" und nun "jau". Und was heißt "ja nun" im Anschluß daran? Was soll's? Und wenn schon? Der Status dieser Partikeln ist selbst noch im Kontext schwer verständlich. Sind sie Antwortpartikeln? Aufforderungspartikeln? Affirmationspartikeln? Gliederungspartikeln? Oder sind sie eher zu verstehen als Interjektionen, von denen Mauthner schon sagte, daß sie mehr
5 Um Bodenheimer an dieser Stelle etwas ausführlicher zu Wort kommen zu lassen, etwas mehr zum HA: "... der Laut also, welcher so grob herausgeworfen werden kann, daß man nicht weiß, soll man ihn mit einem Frage- oder mit einem Ausrufezeichen versehen. Und dies, weil HA von sich aus vieldeutig ist;... HA kann nämlich sagen: 'Bitte nochmals, ich habe dich nicht verstanden', so gut wie es meinen kann: WAS SAGST DU DA? Darüberhinaus ist dem HA auszudrücken überlassen: WIE KOMMST DU DAZU, MIR DAS ZU SAGEN? ... Damit nicht genug, sagt HA überdies noch: 'Das kannst du doch nicht meinen, was du da sagst.' Und antworten auf HA, das ist ein hoffnungsloser Versuch. Hoffnungs-, weil sinnlos. Namentlich deshalb wird ein Antworten auf HA nicht gelingen, weil diese Silbe - eher freilich: dieser Laut die Grenzstelle zwischen verbaler und averbaler Expression markiert und mit der Stoßkraft des Nichtverbalen seine Vieldeutbarkeit verbindet (...). HA bedient sich, um gehört zu werden, eines elementar hervorgestoßenen Geräusches mit entsprechender gestisch-mimischer Untermalung. Dazu aber schließt es ... zugleich den mit diesem Ausdruck Angezielten von jeder Möglichkeit aus, daß dieser seinerseits im Bereich des Nichtverbalen verbleiben, also durch einen ähnlichen Elementarlaut seine Antwort zurückgeben könnte. Die Rede kann deshalb ... nur von averbaler Expression, nicht jedoch von averbaler Kommunikation sein, wann immer von HA die Rede ist."
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aussagen würden als ein ganzer Satz (1982,11:426)? Und bei "soo-" kann gefragt werden, "ob der Andere, an den ich meine Äußerung richte, überhaupt schon ins Blickfeld rückt", ob also Gesagtes oder Geschehendes damit "kommentiert" wird (vgl. Trabant 1983:75). Für den Gesprächspartner ist diese Art Resonanz auf jeden Fall undurchsichtig und verunsichernd, denn wie soll er damit umgehen? Jedenfalls erhärtet K seinen Belang durch die Betonung, was für eine lange Durststrecke er hinter sich hat. Mit "hier + kuck mal" (Zeile 17) zeigt er irgendwas - was, ist unklar. Leere Taschen? Seinen abgewetzten Anzug? Oder, wie später aus SAs Kommentar hervorgeht (Zeile 24), seine vielleicht magere Gestalt? Ernsthaftigkeit oder Angemessenheit einer solchen möglichen Selbststilisierung mögen dahingestellt bleiben. Ks "hier"-Aufmerksamkeitserheischer erhält jedenfalls sogleich Konkurrenz mit SAs Verweis auf all die Arbeit auf seinem Schreibtisch, "was hier los is" (Zeile 18). "Mhm- jau, ja nun" (Zeile 15) und im Anschluß daran ein Seufzer und "Ach nu- + dann kuck bei mir ma hier" etc. (Zeile 18) laufen natürlich mit der einhergehenden Relativierung der Klientenbelange hinaus auf eine Nihilisierung von Ks Problem, wenn auch auf "lockere Art" exerziert. Was soll K in seiner Position daraufhin anderes machen, als die Relativierung hinzunehmen und auch noch zu bestätigen (Zeile 19)? Sein gedrückte Lachen hat dabei die Funktion, die Unernsthaftigkeit dieses Vergleichs zu markieren, aber auch gleichzeitig sich davon zu distanzieren: Damit erlangt die Nihilisierung durch den Nihilisierten selbst eine Abschwächung und wird so im geforderten Eingeständnis dem Sachbearbeiter wie seinem eigenen Selbst gerecht. Eine andere Funktion hat das gleichfalls gedrückte Lachen von tu (Zeile 22), wo er Ks Versuch, mit "Ich bin kaputt" (Zeile 21) auf das Thema zurückzukommen, imitiert, aber auch gleichzeitig kommentiert: "Ich bin kaputt" wird somit als pragmatisch inadäquat eingestuft, aber doch auch gleichzeitig vor SA entschuldigt, weil das damit einhergehende Zeigen zeigt, daß man weiß, daß man es so eigentlich nicht sagen darf. Die Unmittelbarkeit der Wiederholung weist auf den Reparaturcharakter hin, gleichzeitig ist sie aber auch eine SA möglicherweise vorgreifende Reparatur. Am Rande erwähnt: Hier liegt m.E. auch eine deutliche Relativierung des FremdreparaturKonzepts vor, da die vorgreifende Fremdreparatur von Ks Kollegen weniger gesichtsbedrohend ist als eine Fremdreparatur von SA. Dies korreliert mit der subjektiven wie objektiven Zusammengehörigkeit von K und tu, insbesondere mit tüs Rolle als "Sprachmittler", in der er aber nicht neutral zwischen K und SA mittelt, sondern für K. Neben der Präferenzhierarchie von selbstinitiierten Selbstkorrekturen zu fremdinitiierten Fremdkorrekturen (vgl. 4.1.3) gesellen sich noch die Präferenzen für mehr oder weniger Korrektur-lizensierte Personen hinzu. SA geht in der Tat auf genau diese Äußerung von K ein, allerdings nicht ihn selbst ansprechend, sondern nur in der 3. Person Singular auf ihn Bezug nehmend: "(Er) sieht doch gut aus. (Denn) jetzt hat er richtig Figur" (Zeile 24). Man sieht's ihm also nicht an - und wenn, dann steht ihm das "Kaputtsein" ganz gut. K wehrt ab, sein Lamento wiederholend, aber er wird unterbrochen durch die Initiierung einer sachbezogenen Frage nach der Zusammen-
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gehörigkeit von K und tu. Beide Angesprochenen ("ihr") antworten. Auch der Status von SAs Rückfrage "von wem?" ist hier unklar. Will er wissen, wer von beiden für wen dolmetscht? Aber war das nicht klar soweit? Oder kommt der Frage der gleiche ironische Gehalt zu, wie der "richtig Figur"-Passage? (Denn hat SA nicht soeben noch zu tu über K gesprochen?) tu klärt auf jeden Fall unzweideutig auf: "Für ihn" (Zeile 30). Die nun folgende Sequenz hat einen mehrfach paradoxen Charakter: (a) Spricht K tatsächlich, wie SA sukzessive in immer auszeichnenderer Form behauptet, "gut Deutsch", "prima Deutsch", "hervorragend Deutsch"? (b) Ist "Ich bin kaputt, keine Essen" (Zeile 31) wirklich hinreichend für alles, "was er braucht?" (Zeile 34) - und wofür braucht? (c) Wie verträgt sich die Unterstellung hinreichender Deutschkenntnisse (und damit auch hinreichend für den aktuellen Zweck, ausstehendes Arbeitslosengeld einzufordern) mit der durchgehenden Adressierung von tu für Ks Belange, selbst noch nachdem (Zeile 37: "(Er) spricht doch gut Deutsch")) sich dieser selbst als Angesprochener einschaltet (Zeile 36: "Ich bin Asyl, ja/")? - Natürlich haben diese Fragen einen suggestiven Charakter, denn es ist ziemlich offensichtlich, daß (a) K weder "gut", noch "prima" und erst recht nicht "hervorragend Deutsch" spricht. Insofern ist diese Behauptung kontrafaktisch. Kontrafaktische Behauptungen, die zudem so offensichtlich kontrafaktisch sind, daß der Äußerer es zur Voraussetzung macht, daß der Zuhörer sie als solche erkennt und der Zuhörer weiß, daß er sie als solche erkennen soll, laden nach Grice ein zu einer konversationellen Implikatur aufgrund der Verletzung der Maxime der Qualität: "1. Do not say what you believe to be false. 2. Do not say that for which you lack adequate evidence" (Grice 1975:46). Grice nennt diese Art von konversationeller Implikatur als typisch für den Effekt der "Ironie". Für (b) trifft im Grunde genommen dasselbe zu: Auch zu sagen, man spreche in der Weise, in der die beiden Beispielssätzchen zitiert werden, hinreichend Deutsch, kann, wenn es nicht schlecht gelogen sein soll, nur ironisch gemeint sein. Gleichwohl erbringt K auch kommunikative Leistungen, die man in der Tat positiv beurteilen könnte, wenn man es ernst meinen würde: etwa die "perfekte" Vorstellung "Kaplan Ali, guten Tach". Mit (c) tritt SA nur den Beweis dafür an, daß zumindest an dieser Stelle, wo es um seine "Qualitätsurteile" von Ks Deutschkenntnissen geht, er über diesen hinwegspricht, ihn als intersubjektiven Gesprächspartner ignoriert, zumindest bis zur Zeile 37. ("(Er) spricht doch gut Deutsch" etc.) Aber wird "Ironie" der tatsächlichen Bedeutung dieser Passage gerecht? Ich glaube nicht. Hier sind noch mehr Phänomene zu erwähnen: (d) Mit SAs Zitat "Ich bin kaputt" (Zeile 31) wird ein vorher von K verwendetes Gastarbeiterdeutsch-Element wiederaufgenommen, das tu bereits prophylaktisch mit dem "Inadäquatheitsurteil" zu belegen versucht hat. (e) tu bringt ein gewichtiges, sogleich von K bestätigtes Gegenargument - wenn auch nur angedeutet (Zeile 35/36) -, das man in der rhetorischen Frage fassen könnte: "Wie soll denn ein Asylant gut Deutsch können?" Natürlich besteht kein kausaler Zusammenhang zwischen Asylstatus und Deutschkenntnissen. Aber allein schon aufgrund der ständigen Ungewißheit über ihre Zukunft (Ablehnung, Abschiebung etc.), besteht kaum Motivation. Deutsch zu lernen. "Er ist Asyl. Asyl kann das nicht Deutsch" will genau diese, von SA
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unterstellten Sprachkenntnisse abstreiten, (f) Nach der dreifachen Steigerung versiegen die Widerworte (vgl. Zeile 42). Gab es sowieso nichts mehr zu steigern, oder hetzt der Hund nur, wenn das Opfer läuft? Meines Erachtens treibt SA ein Spiel mit seinen Klienten: Der Sinn des Spiels ist die Verhohnepiepelung, wenn nicht gar Verhöhnung von Ks Deutschkenntnissen. Für Ironie ist der Effekt zu stark. Wenn ich mit Grice' Beispiel über einen uns beidseitig bekannten üblen Burschen sage "Der ist ein guter Freund", "Der ist ein ausgezeichneter Freund" und schließlich "Der ist überhaupt der allerbeste Freund" o.a., ist der Effekt entweder verloren, weil ich übertrieben habe, oder ich halte meinen Gesprächspartner für so blöd, daß ich so dick auftragen muß - und dann will ich ihm genau das damit mitteilen. Aber was für eine Beziehung würde diese Art von Ironie mit einem Gesprächspartner beinhalten? Entweder eine sehr gute oder eine sehr verächtliche; beides mal müßte ich so handeln können "dürfen", müßte ich aus der Beziehung die Lizenz ableiten. Beziehungen zwischen behördlichen Sachbearbeitern und ihren Klienten sind in erster Linie durch starke Sachlichkeit geprägt. Mit den sprachlichen Kompetenzen des Klienten (und damit auch mit ihm selbst) sein Späßchen zu treiben, welches, wenn die Kompetenz tatsächlich bestehen würde, so nicht getrieben werden könnte, setzt also jemanden voraus, der über diese sprachliche Kompetenz nicht verfügt: radebrechende Ausländer. Der Effekt ist nahezu pervers: (a) K erfährt aus autorisiertem Munde, daß seine Sprachkenntnisse alles andere als ausreichend sind, indem seine Deutschkenntnisse als "hervorragend" von SA gelobt werden; (b) SA begründet sein übertriebenes Lob für Ks Deutschkenntnisse, indem er markante Gastarbeiterdeutsch-Konstruktionen von K zum Zwecke der Veranschaulichung zitiert, (c) SA demonstriert K die Überflüssigkeit seines "Dolmetschers", indem er dem Dolmetscher Ks Gastarbeiterdeutsch vorführt. Welche Motive SA für sein Handeln hat, soll hier nicht interessieren. Inwieweit diese Art von Verhohnepiepelung einen "Lustgewinn" für SA bedeutet, sei auch dahingestellt. Gleichfalls ist es schwierig nachzuvollziehen, was diese Behandlung bei den Klienten bewirkt. Festzustellen bleibt nur: SA kann so handeln, kann so ein Spiel spielen; K und tu können bzw. müssen sich so behandeln lassen, müssen so ein Spiel mitspielen, da sie als "Gastarbeiterdeutsch"sprechende Ausländer die einzig möglichen Mitspieler für dieses Spiel sind. Die jeweilige Komplementarität dieses Könnens und Müssens korrespondiert mit den objektiven Konvertierungsmöglichkeiten symbolischer Kapitale in symbolische Gewinne. Die Stigmatisierbarkeit ethnisch und sozial gebundener Sprachkompetenz und genauso die Stigmatisierbarkeit sprachlich gebundener ethnischer und sozialer Identifizierbarkeit - noch dazu von Seiten eines Sachwalters apparativer Interessen - machen die Verteilungsstruktur von Gewinn und Verlust unzweifelhaft deutlich: "Manche dieser kleinen Gewinne und Verluste mögen noch so banal erscheinen, aber wenn man die Summe aus allen sozialen Situationen zieht, in denen sie vorkommen, so erkennt man, daß ihre Gesamtwirkung gewaltig ist. Wenn Unterwerfung und Dominanz durch diese Fülle von situationsabhängigen Mitteln Ausdruck finden, so ist dies mehr als nur
159 Abbild, Symbol oder rituelle Bestätigung der sozialen Hierarchie. Solche Ausdrucksformen konstituieren zum großen Teil erst die Hierarchie; sie sind Schatten und Substanz zugleich." (Goffman 1981:29) Methoden der Kompetenzzuweisung Sowohl die soeben diskutierten Beispiele als auch das "Türkischmann Du?"-Beispiel sind methodisch gegensätzlich und identisch in einem. Was sie unterscheidet, sind die jeweiligen lokal verwandten Einzelmethoden, wie Reparaturen, Code-Switching etc. Man könnte diese die mikro-methodischen oder lokal-methodischen Verfahren nennen. Vermutlich wird es unzählige solcher lokalen Verfahrensweisen geben, obwohl ganz bestimmte unter ihnen präferiert sind, weil einige Methoden rezipientenspezifisch konventionalisiert sind. Viele der "typischen" Foreigner Talk-Phänomene müßten dazu gerechnet werden (vgl. Hinnenkamp 1982a und 1982b, Röche 1988). Aber in den BEISPIELEN 5, 6 und 7 sind diese Verfahren durchaus unterschiedlich: der plötzliche Wechsel in den Foreigner Talk, die implizite Unterstellung von zweitsprachlicher Inkompetenz und schließlich die übertrieben ironische Lobhudelei von ganz offensichtlich schlechten Zweitsprachkenntnissen: drei Beispiele und drei unterschiedliche lokale Herstellungsverfahren der Reproduktion der ethnischen und sozialen Kategorie "türkischer Gastarbeiter" oder "Ausländer". Was die drei BEISPIELE 5, 6 und 7 gemeinsam haben, ist zweierlei. Zunächst wird in allen drei Fällen die deutsche Sprache der türkischen Kommunikationspartner in einer bestimmten Weise zum Thema: in BEISPIEL 6 und 7 explizit6, in BEISPIEL 5 implizit. Das ist natürlich nicht zufällig. Die Sprachunterschiede werden in allen Fällen markant deutlich. Sprachkenntnisse sind, sobald der Mund geöffnet wird und gesprochen wird, unentrinnbares "Erkennungszeichen" (Goffman). Die Information, die von einem Individuum damit "weggegeben" wird, ist unvermeidbar "verräterisch", sie ist unkaschierbar. im Gegensatz etwa zu Kleidung, Haarfarbe u.a., und sie ist unabtrennbar von der "sozialen Person" in der Hinsicht, daß soziale Bewertung und Sprache niemals unabhängig voneinander sind (vgl. Fußnote 13, Kap. 4). Im BEISPIEL 5 waren es die beiden Äußerungen "Türkischmann Du?" und "Ich merk es", mit dem der (il)legitime Gebrauch der deutschen Sprache implizit explizit wurde. "Türkischmann Du?" erlaubte im Moment, wo das "Merken" relevant wurde, die doppelte Identifizierung des Gesprächspartners einerseits als Angehöriger "türkischer Nationalität" o.a. und andererseits als jemand, mit dem man "gebrochen" Deutsch spricht und dem folglich genau dieser Grad an Kompetenz im Deutschen unterstellt wird. Ich erinnere hier daran, daß man mit Kleinkindern, Haustieren, Schwerhörigen oder geistig Behinderten ebenfalls oft eine
6 In BEISPIEL 7 wird 'deutsche Sprachkenntnisse' natürlich bereits mit der Vorstellung/Erfragung der Dolmetscherrolle implizit explizit.
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bestimmte Sprechweise pflegt, da sie als ganz spezielle Sprachrezipienten angesehen werden, die selbst nur bedingt oder (bei Haustieren) überhaupt nicht mit dem vollkompetenten "native speaker" (NS) kommunizieren können. In BEISPIEL 6 war die Thematisierung der Sprachkenntnisse in Deutsch explizit: Übersetzungsnotwendigkeit und Sprachkenntnisse in der Sprache, die als übersetzenswert betrachtet wird, korrelieren deutlich miteinander. Allerdings ging der NS nicht so weit zu sagen: "Du sprichst ja so schlecht Deutsch, daß ich Dir rate, Dir das ganze nochmal von einem türkischen Dolmetscher erzählen zu lassen." Wesentlich expliziter war da hingegen der NS im zuletzt diskutierten BEISPIEL 7, wenn er sagt: "Er spricht hervorragend Deutsch" und vermutlich meint: "Er spricht miserabel Deutsch". Aber was er wirklich meint, ist einerlei. Was er macht und wie er es macht, ist mir wichtig. Und vor allem, wieso er es so machen kann. Diese Fragestellung führt zu der zweiten deutlichen Parallele zwischen den drei Beispielen: Die makro-methodischen Verfahren oder global-methodischen Verfahrensweisen der "native speaker" sind identisch. Sie können so handeln, weil ihnen qua gesellschaftlicher Verhältnisse ermöglicht wird, so zu handeln, indem sie es zunächst einmal wagen können. so zu handeln. Bereits in der Motivstruktur und in den situativen und lokalen Wahlmöglichkeiten wird eine präferierte Wahl getroffen. Diese Wahl ist weder reflektiert noch bewußtseinsmäßig für den einzelnen rekonstruierbar. Ermöglichungsoptionen sind Bestandteil des "habitualisierten Klassenethos", wie Bourdieu sagt, sind den Handelnden zum Habitus geworden und erzeugen bestimmte Handlungsstrukturen. Sie gehen als sich gegenseitig antizipierende Produktions- und Rezeptionsbedingungen ein in die Kommunikationsetablierung (vgl. Bourdieu 1977:649). Ich habe am Ende des letzten Kapitels, auch in Anlehnung an Bourdieu, vom "ethnischen Habitus" gesprochen. Eine solche Einschlägigkeit ("ethnisch") ist natürlich nur plakativ. Sozialer, linguistischer, ethnischer, kultureller Habitus sind nicht in jedem Fall voneinander zu trennen. So stehen etwa ethnisch-soziale Stigmatisierbarkeit und die Thematisierung linguistischer Kompetenz in einem Verhältnis gegenseitiger Ermöglichung. D.h. einerseits, daß aufgrund des offensichtlichen "Materials" schlechter und als Gastarbeiter-Pidgin identifizierbarer Deutschkenntnisse soziale, kulturelle und moralische Ressourcen erschließbar werden können. D.h. aber andererseits, daß auch im Falle hinreichender (und möglicherweise sogar "perfekter") Deutschkenntnisse diese aufgrund ihrer "ethnischen Bindung" dennoch als inadäquat bewertet und stigmatisiert werden können, wenn - wie im "Türkischmann Du?"-Fall - andere Indizien oder auch ein "un-indiziertes" Wissen entsprechende Inferenzen zulassen. In beiden Fällen dienen Deutschkenntnisse der Reproduktion der ethnischen und sozialen Kategorie "türkischer" oder "ausländischer Gastarbeiter", "Asylant" etc. In beiden Fällen wird ein Stück Sozialstruktur reproduziert, ein "Stück", das die kleinen "Gewinne und Verluste" auf die Dauer zu großen werden läßt, weil die kleinen auch in "ihrer Gesamtwirkung gewaltig" sind (Goffman).
161 5.2 RÜCKSCHAU: WAS AUS DEN HYPOTHESEN UND POSTULATEN GEWORDEN IST... Die Diskussion der letzten beiden Beispiele hat einen zunehmend "transzendenten" Charakter angenommen. In einer Rückschau ist es vielleicht noch einmal lohnenswert, die diskutierten Beispiele in einen Zusammenhang zu bringen mit den anfangs aufgestellten zwei Hypothesen und jenen beiden letzten Postulaten (4) und (5) des 2. Kapitels, die ich an eine interaktionale Soziolinguistik interkultureller Kommunikation gestellt habe. Die erste Hypothese lautete: Es ist davon auszugehen, daß jede Sprache über ein Reservoir an kontrakonfliktiven Mitteln verfügt, die bei kommunikationsbedingten Krisen allgemein, aber insbesondere bei interkulturell bedingten Krisen in der Kommunikation ausgeschöpft werden können. Die zweite Hypothese kann hier gleich angeschlossen werden: Es ist davon auszugehen, daß gesellschaftliche Konkurrenz, Ungleichheit und Herrschaftsansprüche Versehens wie auch unversehens in der face-to-face Kommunikation mithilfe der interaktiven Leistungen der Beteiligten selbst konstituiert, reproduziert und verfestigt oder moduliert werden können. In der interkulturellen Kommunikation stehen dabei spezielle Ressourcen und Mittel zur Verfügung, deren Ausschöpfung und Einsatz allein der interkulturellen Kommunikation vorbehalten sind und die bei der ethnischen und sozialen Reproduktion bestimmter Kategorien von Ausländern interaktional konstitutiv sind. Sofern Hypothesen unter der Bedingung aufgestellt werden, daß die darin aufgestellten Behauptungen 'sich behaupten', haben die sieben diskutierten Beispiele deutsch-türkischer Kommunikation diese Bedingung wohl erfüllt: Die BEISPIELE l und 2 waren eindeutig der ersten Hypothese zuzuordnen, die BEISPIELE 5, 6, und 7 eindeutig der zweiten. Verkürzt kann man vielleicht festhalten, daß sich mit diesen Beispielen Fälle von Kooperativitäts- und Reziprozitätssicherung mit solchen von Herrschaftsabsicherung und symbolischer Profitsicherung gegenüberstehen. Noch weiter zugespitzt ließe sich dieser Gegensatz charakterisieren anhand der beiden Adjektive "symbiotisch" und "parasitär". Diese Vokabeln verwende ich hier nicht im biologischen Sinn, sondern in Bezug auf den Militaristischen Aspekt der Kommunikation. "Symbiotisch" heißt dann soviel wie 'Von gegenseitigem Nutzen und Vorteil", da das primäre gemeinsame Ziel Verständigung ist. "Parasitär" stellt den Nutzaspekt als einseitigen Gewinn auf Kosten des anderen Gesprächspartners in den Vordergrund. Nun könnte vielleicht der Eindruck entstanden sein, daß sich die Hypothesen (und mit ihnen ihre "Ergebnisse") in gewisser Weise gegenseitig ausschließen: Entweder trifft also das zu, was in der einen behauptet und erhärtet worden ist, oder das in der anderen. Dem ist aber nicht so. Selbstverständlich können kontrakonfliktive Mittel im linguistischen und allgemein kommunikativen Sinne zum Zwecke der Kommunikationsaufrechterhaltung zur Anwendung gelangen und gleichzeitig auch die "parasitäre" Funktion übernehmen, "symbolische Profite" (Herrschaftsabsicherung bis Prestigegewinn) abzuwerfen, wie Bourdieu sagen
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würde. Mit Bourdieu müßte sogar angenommen werden» daß dieses Streben dem ethnischen (wie jedwedem) Habitus intrinsisch ist. Und da der Habitus in persona allgegenwärtig ist, wäre eine solche Trennung in "symbiotisch" und "parasitär" fast überflüssig. Es könnte allerhöchstens noch darum gehen, daß entweder das eine oder das andere in der Kommunikation im Vordergrund steht. Allerdings - und das habe ich wiederholt betont - ist die Allgegenwart des Habitus durchaus keine zwingende Ressource des Handelns. So-handeln-Können Mein methodisches Vorgehen im Verlaufe dieser Arbeit war gemäß den Hypothesen davon bestimmt, von linguistischen Verständigungskrisen in der interkulturellen Kommunikation "emporzusteigen" zu Verständigungskrisen, die nicht mehr auf der propositionalen etc. Verstehensebene anzusiedeln sind, sondern deren Ursachen ich in Gründen gesellschaftlicher Natur vermutet habe und die in Formen offener Diskriminierung bis zur unversehenen und subtilen Reproduktion der ethnischen und sozialen Kategorie Ausländer, türkischer Gastarbeiter etc. manifest wurden. Auch hier stellt sich die Frage, ob nicht der Reproduktionsaspekt auf der Ebene linguistischer Reparaturnotwendigkeit in der interkulturellen Verständigung ein unvermeidbarer Effekt ist. Denn solange die Reparaturen zur Sicherung der Verständigung notwendig sind, solange muß auch auf Verfahren der Reparatur oder allgemein der Rekalibrierung zurückgegriffen werden, die im Ergebnis einen starken "rezipientenspezifischen Zuschnitt" haben. Das heißt wiederum, daß Verfahren zum Einsatz gelangen, die ganz bestimmten Kategorien von Gesprächspartnern vorbehalten sind, nämlich Sprechern mit einem Niveau an Deutschkenntnissen, die diese kontrakonfliktiven Verfahren nötig machen. Solche Sprecher sind aber in aller Regel Ausländer. Insofern kann man fast sagen, daß man sie nicht nicht reproduzieren kann. Allerdings läßt sich auch hier entschärfend hinzufügen, daß es einen gewaltigen Unterschied macht, ob ich einen Ausländer als Zweitsprachlerner reproduziere oder ihn als Mitglied einer sozial, linguistisch und ethnischen Minderheit mit einem "ganz unten"-Status reproduziere. Zwei weitere Gemeinsamkeiten der Hypothesen müssen hier festgehalten werden. Einmal das Können: Hier sind zwei Arten von Kompetenzen angesprochen. In dem einen Fall rekurriert das Können auf kommunikative Kompetenz, hier: auf die Fähigkeit, sich auf einen Gesprächspartner einzustellen, die Reziprozitätsrelativität in die Tat umsetzen zu können und die kommunikative Verantwortung zu übernehmen, daß das kooperative Gesprächsziel erreicht wird. Mit der Analyse der BEISPIELE l & 2 habe ich versucht, dies exemplarisch zu demonstrieren. Im anderen Fall ist das Können begrenzt auf das gesellschaftlich autorisierte und lizensierte Handeln. Hier kommt die mehrfach gestellte Frage zum Zuge, wie und wieso ist es möglich, daß so gehandelt werden kann? Wieso ist das So-Gesagte so sagbar, und das So-Verstandene so verstehbar? Das "so" heißt natürlich, daß es gesellschaftlich möglich ist, daß man so handelt, wie man handelt. Gesellschaftlich wiederum sollte heißen, die Hervorbringung, die Reproduktion, die Legitimation von Strukturen, die für die beteiligten Akteure ungleich verteilte Rechte und Pflichten, Gewinne
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und Verluste mit sich bringen, da - und hier muß die Motivebene des Handelns zwangsläufig mit hinein - das Streben nach Distinktion (Bourdieu) immer auch korreliert mit dem symbolischen Zugewinn durch das Sich-unterscheiden-Können nach "unten" (im "klassenspezifischen" Sinn). Aber symbolischer Gewinn auf der einen Seite bedeutet nach dem Distinktionsprinzip immer auch symbolischer Verlust auf der anderen Seite. Der von Goffman als gesellschaftliche Grundlage beschriebene Ethos des Handelns durch die reziproke In-Rechnung-Stellung des Selbst muß also zu diesem Zweck verletzt werden. In den meisten Fällen kommt es allerdings erst zu einer Verletzung der Reziprozität, wenn der gesellschaftlich unausgesprochene Status quo des Interaktionsverhältnisses der Kommunikationspartner als porte-paroles in Frage gestellt wird. Der Status quo ist aber solange Undefiniert (oder vermeintlich unhinterfragt definiert), solange es nicht zu Krisen in der Interaktion kommt. Ich meine damit, daß im Handeln der Selbstverständlichkeitscharakter der wechselseitig unterstellten Annahmen der jeweiligen Legitimationsbasis des So-Handelns bei einer Krise als in Frage gestellt betrachtet wird. Daß auch diese Krisendefinition bereits eine ausgehandelte oder einseitig so-definierbare ist, wurde im "Türkischmann Du?"-Beispiel deutlich. Mit der Krisendefinition geht natürlich auch eine unvermeidliche Definition des Status quo einher, insofern er mit der Krise bedroht erscheint. Sowohl Krisendefinition als auch der Umgang mit der Krise werden so zum Ausdruck "symbolischer Klassenkämpfe" (Bourdieu). Zur Reparatur der Krise, zur Wiederherstellung des Status quo muß auf Ressourcen zurückgegriffen werden, die zu diesem Zweck ausschöpfbar sind. Die "Kunst" dieser Ausschöpfung liegt darin, situative und mitgebrachte Eigenschaften mit "höheren" gesellschaftlichen Eigenschaften (Klassenstruktur, ethnische Zugehörigkeit etc.) in Verbindung zu bringen und mit Mitteln der interkulturellen Kommunikationssituation zu symbolisieren. Aber auch diese "Kunst" ist insofern wieder Können im objektiven Sinne der gesellschaftlichen Ermöglichung, als die Ausschöpfbarkeit wie auch der "Blick" dafür, was ausschöpfbar ist, gesellschaftlich "mitgebracht" werden, eben in Form des "klassenspezifischen" Habitus (hier als Überbegriff für den ethnischen etc. Habitus). Nun noch einmal zurück zu der in der ersten Hypothese angesprochenen Rolle kontrakonfliktiver Mittel: Kontrakonfliktive Kommunikationsmittel sind zunächst beschränkt auf rein kommunikative Krisen, kontrakonfliktive Methoden hingegen transzendieren den linguistischen Bereich, so daß linguistische Reparaturen gleichzeitig einen soziologischen Charakter haben können. Eine denkbare Variante wäre hier z.B. die Kombination von linguistischer Reparatur und "face"-Bedrohung, wie in BEISPIEL 4, wo die mit der Hyperkorrektur einhergehende Unterstellung, daß NNS nicht richtig verstanden habe, durchaus eine Gesichtsbedrohung für NNS darstellt. Ich habe das "Nescafe"-Beispiel daraufhin nicht weiter untersuchen können, da der kleine Gesprächsausschnitt darüber keine Auskunft erteilt. Auch in BEISPIEL 6 ging es insofern um die Reparatur einer interaktionalen Krise, da der mit der individuellen Schuldzuweisung einhergehenden Gesichtsbedrohung für den türkischen Klienten ein Milderungsversuch angeschlossen wurde, indem der Sachbearbeiter mit einem persönlichen Hilfsangebot aufwartete. Daß sich das Hilfsangebot darin erschöpfte, dem
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türkischen Klienten zu unterstellen, daß er einen Übersetzer nötig habe, führte unversehens zu einer noch größeren Verletzung des Selbst. Aber dieser Effekt beruht genau darauf, daß der Sachbearbeiter auf diese Ressource (allgemeine Verständigungsschwierigkeiten von türkischen Gastarbeitern in Deutsch) in Rückanbindung an seinen Gesprächspartner als einen Repräsentanten (porte-parole) dieser Kategorie zurückgreifen konnte (wie in dem oben beschriebenen doppelten Sinn). In BEISPIEL 7 und BEISPIEL 4 ging es weder um eine Reparatur von Krisen im kommunikativen noch im soziologischen Sinn. Das Beispiel "Hier is nix Türkei fahren" illustrierte schlicht die offene Diskriminierung eines ausländischen Auskunfterfragenden mit Mitteln wie der Nachäffung, der Informationsverweigerung und schließlich des Gesprächsabbruchs ("Ach geh"). Im BEISPIEL 7 ist der Sachbearbeiter keineswegs unkooperativ, was die amtlichen Belange des türkischen Klienten anbelangt. Sein kommunikatives Verhalten ist keine Reaktion auf overte Verständigungskrisen, sondern eine vielleicht "generalisierte" kommunikative Reaktion auf die Repräsentanten einer bestimmten ethnischen und sozialen Kategorie. Amtliche Autorität gepaart mit gesellschaftlicher Ermöglichung qua deutscher, und damit legitimer "Sprachgewalt" vermischen sich hier im objektiven So-handeln-Können. Die X-barkeit als Kontextualisierer Von den Hypothesen zu den Postulaten: Ein Forschungsprogramm zur interaktionalen Soziolinguistik interkultureller Kommunikation muß sowohl Code-bezogene als auch Codetranszendierende Erklärungsmöglichkeiten liefern. Soweit meine eine Forderung. "Codebezogen" umfaßt linguistische Mittel, linguistische Krisen, aber auch "konversationsanalytische Methoden" und Gumperz' Kontextualisierungshinweise - all diejenigen interaktionsstrukturellen Phänomene, die es erlauben, "im Code" zu bleiben, ohne "außersprachliche Wirklichkeit" als in den Interaktionsstrukturen symbolisiert und für den Interaktionsverlauf relevant oder entscheidend in Rechnung zu stellen, wie es "Code-transzendierend" impliziert. Die Frage ist dabei nicht, ob es einen von den gesellschaftlichen Strukturen auf die Interaktionsstrukturen rückwirkenden und von den Interaktionsstrukturen auf die gesellschaftlichen Strukturen wirkenden Einfluß gibt, sondern inwieweit dieser im Gesprächsverlauf wirksam ist, und zwar wirksamer als die dem Gesprächsverlauf inhärenten "konditionellen Relevanzen". Die Frage wäre also z.B., ob bestimmte "lokale Erwartbarkeiten" erwartbar sind aufgrund des formalen und semantischen Charakters der Vorläuferäußerung, oder ob diese Erwartungen nicht auch enttäuscht werden können - aufgrund von Bedingungen, die konversationsstrukturelle Zugzwänge ersetzen durch sozialstrukturelle? Was war mit der Frage "Türkischmann Du?" im Anschluß an "Nein, is nich chut"? War sie von der Struktur her erwartbar? Und betrachtet man die Frage als Reparatur, so gab es auch keine unmittelbare Vorläufer-Reparable, wie ich gezeigt habe. Oder: Wie verhält es sich mit der vom Arbeitsamt-Sachbearbeiter initiierten Sequenz, in der Ahmed Übersetzungshilfe angeboten wird? Was erklärt konversationsstrukturelle Logik, wenn sie nicht an die Interaktionslogik gelangt?
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Natürlich ist jeder Kontingenz-Bruch auch konversationsstrukturell ableitbar, da ja jeder Sprecher das Recht hat, an dafür "erarbeiteten" Stellen einen Toposwechsel vorzunehmen, eine neue Initiative zu ergreifen oder zu schweigen. Nur erklärt das nichts darüber, wieso denn an der entsprechenden Stelle so gefragt, vorgeschlagen, imitiert, gelacht, "partikelt" wird und nicht anders, und wieso so gehandelt werden kann - vor allem, wenn das Reziprozitäts- oder Kooperationsprinzip damit verletzt wird. Genau aus diesem Grund sind Transkripte mit interaktionalen Krisen sehr interessant, denn gerade hier ist der KrisenVerlauf schwerlich aus dem soziosequentiellen Verlauf ableitbar. An dieser Stelle nun sollte mein letztes Postulat nochmal angeführt werden, das die Forderung beinhaltet, daß Code-transzendierende Gründe sowohl auf die außersprachliche "Wirklichkeit" rückführbar als auch im ethnomethodologischen Sinne interaktional interpretierbar sein müssen. Weiterhin muß sowohl die praktische "Hervorbringung" als auch die Reproduktion von Machtstrukturen als der jeweiligen Kommunikation intrinsisch aufzeigbar sein. - Mit dem analytischen und methodischen Hinführen zu einem Konzept, wie dem des "ethnischen Habitus" in Anlehnung an Bourdieu habe ich versucht, der in diesem Postulat enthaltenen Doppelforderung gerecht zu werden. Ich habe versucht aufzuzeigen, wie kommunikative Kompetenz erweitert um die gesellschaftliche Ermöglichung des So-handelnKönnens bzw. So-behandelt-werden-Könnens zu Kapital des Handelns, hier u.a. zum ethnischen Kapital, wird. Erst als diese gesellschaftliche Ressource in-der-Person kann sie (die Ressource) auch interaktional zu einer Ressource in-der-Situation und in-der-Interaktionsstruktur werden. Ich habe das im einzelnen bei den Analysen der BEISPIELE 5, 6 und 7 aufgezeigt. Hier kann m.E. auch das Gumperzsche Programm der interpretativen Soziolinguistik wieder Anschluß gewinnen, von dem ich mich in gewisser Weise sehr weit entfernt habe. Gumperz' Interesse gilt ja primär jenen "fortlaufenden Prozesse(n) der Interpretationen der Teilnehmer in der Konversation und ... was sie dazu befähigt, in Reaktion auf andere und in Verfolgung ihrer eigenen kommunikativen Ziele, bestimmte Konstellationen von Hinweisen wahrzunehmen und zu interpretieren" (Gumperz 1982a:4f*). "Befähigung" bedeutet hier kognitives Können. Aber es kann auch zu gesellschaftlichem Können erweitert werden. Wie ich oben mehrfach gezeigt habe, ist auch, in einer bestimmten Weise zu handeln, zunächst ganz gleich wie, natürlich ein interpretierbarer Hinweis, indem die Handelnden sich z.B. etwas über die Verteilungsstruktur der Rechte und Pflichten mitteilen. Und nicht erst die interaktionsstrukturellen Konventionen können als (Miß-)Kontextualisierer in der interkulturellen Kommunikation fungieren, sondern bereits die im ethnischen etc. Habitus angelegte Diskriminierbarkeit. Kategorisierbarkeit etc. sind Kontextualisierer, zumindest dort, wo sie in Krisensituationen zu Re-Kontextualisierern werden. Um zu zeigen, daß der ethnische Habitus nicht beschränkt ist auf ausgewählte Transkripte, möchte ich abschließend geradezu anekdotisch, aber in jeder Hinsicht realitätsnah auf alltägliche Reflexe dieses ethnischen Habitus hinweisend einen Fall erzählen:
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Wenn ich einen ausländischen Besitzer einer KFZ-Werkstatt während einer Wageninspektion frage, wie lange er schon "hier" sei, und er antwortet mir: "Seit fünfzehn Jahren" und meint damit "hier in der Bundesrepublik Deutschland", obwohl ich wissen wollte, seit wann er diese Reparaturwerkstatt übernommen hat, da sie vor nicht allzu langer Zeit noch einen anderen Besitzer hatte, dann ist mit der Antwort deutlich, daß er qua seines AusländerSeins a) mir unterstellt, daß ich die Frage so gemeint habe, ich also trotz unserer Aufmerksamkeit auf das Fahrzeug eine persönliche Information von ihm haben wollte; und b), daß er aus der Möglichkeit eines mehrdeutigen "hier" (KFZ-Werkstatt; Augsburg etc.) genau diejenige auswählt, die an die Kategorie Ausländer gebunden ist. - Ein typisches Beispiel dafür, wie das Verstehen mit dem ethnischen Habitus verknüpft ist. Ich breche an diesem Punkte die Rückschau ab, da fast alle hier genannten Aspekte in der einen oder anderen Weise im Zusammenhang mit den Fallanalysen diskutiert worden sind inklusive ihrer theoretischen und method(olog)ischen Probleme. Aber es bleibt noch eins: Das in den letzten beiden Kapiteln stark vernachlässigte Eingangsbeispiel, das ich aber mit Absicht dort nicht wieder aufgenommen habe, um zum Schluß nochmal darauf zurückzukommen. Fast habe ich das Beispiel wie ein Rätsel behandelt, immer wieder neue Versionen, was wirklich passiert sein könnte, konstruierend, immer wieder die neuen theoretischen Erkenntnisse daran testend.
5.3 AUSSTIEG: DIE MACHT DES "SO" DEUTEN-KÖNNENS Ich zitiere den Fall in der Augsburger Fußgängerzone hier nochmal in voller Länge bzw. Berichterstattung: Verfolgungsjagd in Fußgängerzone ANGEBLICHER RÄUBER WAR DAS OPFER EINES IRRTUMS (kpk). Ein vermeintlicher Raubüberfall sorgte gestern in den Mittagsstunden für einige Aufregung in der Innenstadt. Nach Angaben der Polizei hatte ein Ausländer in der HeiligKreuz-Straße eine Frau angesprochen und ihr eine Frage stellen wollen. Die ältere Dame war darüber aus unerklärlichen Gründen so erschrocken, daß sie offenbar an einen Raubüberfall glaubte und laut um Hilfe schrie. Passanten versuchten daraufhin, der Frau zu Hilfe zu eilen. Angesichts der herannahenden "Retter" bekam es der junge Mann mit der Angst zu tun und rannte weg. Nach einer Verfolgungsjagd quer durch die Fußgängerzone rettete sich der vermeintliche Übeltäter am Moritzplatz in eine Straßenbahn. Dort wurde er von der inzwischen alarmierten Polizei mit einem Aufgebot von vier Streifenwagen und einem Zivilfahrzeug gestellt und herausgeholt. Zu seinem Glück stellte sich seine Unschuld aber bald heraus. Was immer der tatsächliche Grund dafür war, daß die alte Dame sich so herzzerreißend erschrocken hat: Sie konnte sich so erschrecken, so schreien. Die Deutung des Publikums
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war unzweideutig: Ein Ausländer und eine alte Dame, ein Mann und eine Frau in der Öffentlichkeit, ein ausländischer junger Mann und eine deutsche, ältere Frau, die um Hilfe schreit - wer sollte da deuten, die Frau wolle was von dem Ausländer; oder: die Frau erschrecke sich, weil sie verrückt ist; oder: es handele sich um ein Mißverständnis. Daß das Hilferufen so erfolgreich war, die ganze Fußgängerzone und auch noch einen Großeinsatz der Polizei zu mobilisieren, hängt mit der Deutbarkeit zusammen. Nicht jeder kann sich jedem gegenüber in der Öffentlichkeit so "erfolgreich" erschrecken und mit dem unversehenen Erschreckensschrei so viel Ressourcen mobilisieren - im materiellen wie im symbolischen Sinn: Die geballte Deutung fing an zu rennen, wegzurennen, und hinterherzurennen. Und alles nur, weil so gedeutet werden konnte.
ANHANG ERLÄUTERUNGEN ZU DEN TRANSKRIP ONSKONVENTIONEN
Die Transkriptionskonventionen lehnen sich in ihrer Schreibweise so eng wie möglich an die Standardorthographie an. Komma, Punkt und Doppelpunkt haben ihre entsprechende Funktion gemäß der Standardzeichenregelung. Sie werden aber nur verwandt, um die Lesbarkeit zu erhöhen. Das '?' hat bereits die weitergehende Funktion, deutliche Fragesatz-Intonation damit anzuzeigen. Die in den Transkripten verwendeten Symbole haben im einzelnen folgende Funktion: + + +, + +
steht für Mikropause steht für kurze Pause
In beiden Fällen ist es schwierig, eine genaue Angabe in Zehntelsekunden zu geben, da das Pausenverhalten auch mit der jeweiligen Sprechgewohnheit und Sprechweise zusammenhängt. Im allgemeinen werden längere, auffälligere Pausen (bzw. gefüllte oder ungefüllte Pausen und Schweigephasen) mit der jeweiligen Zeitangabe in Klammern angegeben. (l Sek.) Länge der gefüllten/ungefüllten Pause, Schweigephase. 23 A: raber man 24 B: L ja, ich meine charakterisiert eine Überlappung und den Punkt der Überlappung der Sprecherbeiträge (turns). Die Ziffern vor den Sprecherkürzeln sagen lediglich etwas über die genaue Zeilenabfolge aus; die Anzahl der Zeilen korrespondiert nicht mit der Dauer einer Zeile, eines Beitrags bzw. Gesprächs(auschnitts). uh-, Braheißt, daß sich die Stimme in der Schwebe befindet, Sprecher also kein turn-Ende markiert, (h) steht für stockender Beginn, noch kein 'Stottern', eher Unsicherheit indizierend. & bezeichnet einen auffällig schnellen Anschluß innerhalb der eigenen turnSequenz oder im beginnenden Anschlußturn. ? bedeutet Frageintonation (vom letzten Satzzeichen links davor an) (....) steht für eine unverständliche Passage. (?vielleicht) steht für einen Wortlaut, der nicht ganz definitiv identifiziert ist. (?zwei/drei) alternativer Wortlaut: Verschiedene Hörer der Tonbandaufnahme identifizieren eine der beiden Alternativen. (steht auf), (weinerlich) etc. sind Kommentare, die sich auf den (Rest des) laufenden turn(s) beziehen oder nicht-transkribierte Aktivitäten beschreiben.
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bi/z/chen ne/ ne\ dreizehn jawo*!! und dann
umschließt eine Passage mit deutlichem Moduswechsel (der mit einem vorausgeschickten Kommentar erläutert wird). Steht kein finaler "/", gilt das Äußerungsende als natürliche Grenze, Schrägstriche im. Wort charakterisieren phonetisch erwähnenswerte Aussprache. Intonationskontur der Anhängsel-Frage: Stimme geht nach oben. entsprechend: Stimme geht nach unten, bedeutet langsames, fast silbisches Sprechen, verweist auf starke Akzentsetzung, charakterisiert eine (unterdrückt, verstockt) lachende Sprechweise.
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