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German Pages 147 Year 1974
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 231
Menschenrechte und Grundfreiheiten im Ausnahmezustand Eine Fallstudie über die Türkei und die Agitation „strikt unpolitischer“ internationaler Organisationen
Von
Ernst E. Hirsch
Duncker & Humblot · Berlin
E R N S T E. H I R S C H
Meiischenrechte und Grundfreiheiten i m Ausnahmezustand
Schriften
zum
Öffentlichen B a n d 231
Recht
Menschenrechte u n d Grundfreiheiten i m Ausnahmezustand E i n e F a l l s t u d i e über die T ü r k e i u n d die A g i t a t i o n „strikt unpolitischer" internationaler Organisationen
Von E r n s t E. H i r s c h
D U N C K E R
&
H U M B L O T / B E R L I N
Alle Rechte vorbehalten © 1974 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1974 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 428 03054 0
Vorbemerkung Il y a des juges à Ankara!
Rechtliche Vorschriften und Einrichtungen können mißbraucht werden. Diese Erfahrungstatsache bildet keinen zureichenden Grund, von ihnen abzusehen, sondern nur eine Warnung, den möglichen Mißbrauch rechtzeitig und wirksam zu verhindern. Auch der Ausnahmezustand (im Sinne von Staatsnotstand) kann mißbraucht werden. Aber seine Bestätigung oder Verlängerung durch ein frei gewähltes Parlament eines Vierzigmillionenvolkes als „Entscheid über die Suspendierung des Rechtsstaats" zu bezeichnen, wie dies ein Professor für Strafrecht unter der Überschrift „Der Ausnahmezustand i n der Türkei" (Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 99 vom 11. 4. 1973) für richtig fand, ist juristisch unhaltbar und politisch töricht. Ob ein Staat nicht nur nach dem Wortlaut seiner Verfassung, sondern wirklich ein Rechtsstaat ist, zeigt sich gerade unter dem Ausnahmezustand daran, daß auch unter diesen außergewöhnlichen Verhältnissen das soziale Leben an Verfassung, Gesetz und Recht gebunden bleibt, ohne i n W i l l k ü r und Despotie auszuarten. Politisch töricht ist diese Qualifizierung angesichts der Türkei, wo Freiheitsrechte und Demokratie i m westlichen Sinne praktisch keine Tradition hatten und erst seit der Verfassung von 1961, empirisch nachweisbar und faßbar, sich zu einer sozialen Realität verdichten mußten. Erst hierdurch hat der als „Verwestlichung" des Rechts qualifizierbare Rezeptionsprozeß, der nach der Ausrufung der Republik (29.10.1923) durch Übernahme zahlreicher ausländischer Einzelgesetze begonnen hat, seine generelle, auf der Würde des Menschen ruhende rechtsethische Grundlage erhalten. Die hier i n einen größeren Zusammenhang gestellte Entscheidung des erst vor einem Jahrzehnt gegründeten türkischen Verfassungsgerichts ist ein Gradmesser dafür, wie viel des Weges bereits zurückgelegt worden ist zu jenem vor 50 Jahren von Atatürk gewiesenen Ziel, die türkische Gesellschaft auf die Höhe der zeitgenössischen Zivilisation zu heben.
Inhaltsübersicb t Erstes Kapitel Realität und Relativität der Menschenrechte und Grundfreiheiten
11
I. Idee u n d W i r k l i c h k e i t
11
I I . Entwicklungsstufen
14
1. Soziale Fakten u n d rechtliche Regelung
15
2. „Rechtsstaat" u n d „Rule of L a w "
16
3. Postulate u n d gesellschaftliche Realitäten
17
A. Charta der Vereinten Nationen u n d Universelle E r k l ä r u n g der Menschenrechte B. Satzung des Europarats u n d Europäische Konvention Schutze der Menschenrechte u n d Grundfreiheiten
zum
17 18
C. Empirische Nachweise (Positivierung von Postulaten)
20
D. Prinzip der Nichteinmischung u n d Einschränkung der Souveränität
22
I I I . Die Relativität der Menschenrechte u n d Grundfreiheiten
23
1. Mindestgarantie u n d ihre Abstufungen
23
2. Konventionskontrolle u n d ihre Abstufungen
24
IV. Ergebnisse
26
Zweites
Kapitel
Die Türkei und die Menschenrechte und Grundfreiheiten I. Allgemeines I I . Drei Stadien des Transformierungsprozesses
28 28 28
1. Naturrecht — Verfassungsrecht
28
2. Konventionsrecht — Internes Landesrecht
30
3. Rechtsgesetze — Rechtswirklichkeit
36
I I I . Die „informationelle" Vergiftung 1. Das falsche Denkmodell
39 39
8
Inhaltsübersicht 2. „Unterrichtung der juristisch interessierten Weltöffentlichkeit" durch die Internationale Juristen-Kommission A. „ M i l i t a r y Justice i n T u r k e y "
40 41
Β . „Die Prozesse vor den Militärgerichten nichtig e r k l ä r t "
i n der T ü r k e i
für
43
C. „Die T ü r k e i u n d die Herrschaft des Hechts"
45
D. „The Rule of L a w i n Turkey and the European Convention on H u m a n Rights"
46
E. Suspendierung des Rechtsstaats?
51
Drittel
Kapitel
Die Entscheidung des Türkischen Verfassungsgerichts vom 15./16. Februar 1972
52
Vorbemerkung
52
Deutsche Übersetzung der Entscheidung — Abschnitte I, I I , I I I (Übersicht)
53
Abschnitt I V : Prüfung der Hauptsache
53
1. Die durch die Abänderung des Verfassungsartikels 149 u n d durch das Verbot der als Kläger auftretenden politischen Partei entstandene neue Lage .
53
2. Ist für die Entscheidung der ursprüngliche oder der abgeänderte Verfassungstext maßgebend?
55
3. Die v o m Kläger als verfassungswidrig angegriffenen Bestimmungen des Gesetzes Nr. 1402 über den Ausnahmezustand
55
A. B. C. Ç.
Art. Art. Art. Art.
3 11 15 23
Abs. (a), (b) u n d des Gesetzes Nr. des Gesetzes Nr. des Gesetzes Nr.
(c) des Gesetzes Nr. 1402 1402 1402 1402
4. Zeitpunkt des Eintretens der Nichtigkeitswirkung von A r t . 15 des Gesetzes Nr. 1402 Abschnitt V : Tenor der Entscheidung
55 66 71 77 78 79
Sondervoten: M u h i t t i n Taylan (Präsident) u n d Recai Seçkin (Mitglied) Verhältnis von A r t . 124 zu den A r t . 11 ff. der Verfassung
79
1. Betr. A r t . 3 Abs. (a) des Gesetzes Nr. 1402
82
2. Betr. A r t . 3 Abs. (c) des Gesetzes Nr. 1402
82
3. Betr. A r t . 11 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 1402
83
4. Betr. A r t . 11 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 1402
84
5. Betr. A r t . 11 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 1402
86
A v n i Givda (Vizepräsident)
87
Inhaltsübersicht 1. Z u A r t . 3 Abs. (a) des Gesetzes Nr. 1402
87
2. Z u A r t . 3 Abs. (c) des Gesetzes Nr. 1402
88
3. Z u m Zeitpunkt des Eintritts der Nichtigkeitswirkung
88
N u r i Ülgenalp (Mitglied)
89
I I . Z u A r t . 15 Abs. (a) bis (k) des Gesetzes Nr. 1402 I I I . Z u A r t . 15 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 1402 Çahap A r i ç (Mitglied)
89 89 90
I. Ergänzung zu dem die Klage abweisenden Teil der Entscheidung (Art. 3 u n d 11 des Gesetzes Nr. 1402)
90
I I . Abweichendes V o t u m zu der Entscheidung über die Nichtigkeit der A r t . 15 u n d 23 des Gesetzes Nr. 1402
95
Ihsan Ecemiç (Mitglied)
97
A. Z u A r t . 15 (Zuständigkeit ratione materiae)
98
B. Z u A r t . 15 (Zuständigkeit ratione personae)
99
C. Z u r Dreißig-Tagefrist der vorläufigen Festnahme
100
Ziya ö n e l (Mitglied)
100
M u h i t t i n G ü r ü n (Mitglied)
102
1. Z u A r t . 3 des Gesetzes Nr. 1402
102
2. Z u A r t . 11 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 1402
103
3. Z u A r t . 11 Abs. 2 u n d 3 des Gesetzes Nr. 1402
105
4. Z u r Hinausschiebung der NichtigkeitsWirkung
106
L u t f i Ömerba? (Mitglied)
106
Çevket M ü f t ü g i l (Mitglied)
106
Ahmet H. Boyacioglu (Mitglied)
107
Viertes
Kapitel
Kritik der Entscheidung I. Prozessuale Fragen
109 109
Z u Abschnitt I V - 1 der Entscheidung
109
Z u Abschnitt I V - 2 der Entscheidung
110
I I . Materiellrechtliche Z u Abschnitt I V - 3
Fragen
112
(Allgemeines)
Z u Abschnitt I V - 3 - A (Art.
3 des Gesetzes Nr. 1402)
112 115
10
Inhaltsübersicht Z u Abschnitt I V - 3 - Β (Art. 11 des Gesetzes Nr. 1402)
116
Z u Abschnitt I V - 3 - C (Art. 15 des Gesetzes Nr. 1402)
120
Z u Abschnitt I V - 3 - Ç (Art. 23 des Gesetzes Nr. 1402)
127
Z u Abschnitt I V - 4
(Hinausschiebung
der
Nichtigkeitswirkung) 129
I I I . Zusammenfassende Würdigung Fünftes
130 Kapitel
Die Konsequenzen der Entscheidung
133
I. Die Änderungen des Gesetzes Nr. 1402 über den Ausnahmezustand . . 133 1. Zeitliche Lücken
133
A. bei A r t . 23
133
B. bei A r t . 15
134
2. Herabsetzung der Dauer der vorläufigen Festnahme
135
3. Zuständigkeit ratione personae
136
I I . Die Errichtung von Staatssicherheitsgerichten als Sonderzweig der Justizgerichtsbarkeit 136 1. Historische E n t w i c k l u n g
136
2. Die Ergänzung von A r t . 136 der Verfassung
137
3. Das Gesetz Nr. 1773 über die Staatssicherheitsgerichte
138
A . Zuständigkeit u n d Verfahren
139
B. Unabhängigkeit des Gerichts
140
I I I . Verkürzung der Frist für die vorläufige Festnahme
140
1. Abänderung u n d Neufassung von A r t . 30 Abs. 4 der Verfassung . . 140 2. Die verfassungsrechtliche Lage seit dem 20. 3.1973 A. A r t . 15 des Gesetzes Nr. 1402 über den Ausnahmezustand
141 142
B. A r t . 22 des Gesetzes Nr. 1773 über die Staatssicherheitsgerichte.. 142 IV. Zusammenfassung 1. Abwägung von Vorteilen u n d Nachteilen
142 142
2. Die K o r r e k t u r e n des Verfassungsgebers an der Entscheidung des Verfassungsgerichts 143 3. Problematik der Verfassungsgerichtsbarkeit
143
A. Spannungsverhältnis zwischen Gesetzgeber u n d Verfassungsgericht 143 B. Die ideologische Komponente C. Das Vertrauen i n die Legalität des staatlichen Handelns 4. Die Überordnung u n d bindende K r a f t der Verfassung
144 145 145
Erstes Kapitel R e a l i t ä t u n d R e l a t i v i t ä t der Menschenrechte u n d Grundfreiheiten Wenige Menschen sind Menschen, daher die Menschenrechte, äußerst unschicklich, als wirklich vorhanden aufgestellt wurden. Seid Menschen, so werden euch die Menschenrechte von selber zufallen. NOVALIS
I. Idee und Wirklichkeit Der Ausdruck „Menschenrechte und Grundfreiheiten" hat je nach dem Zusammenhang, i n dem beide Wörter gemeinsam oder eines von beiden als pars pro toto gebraucht werden, einen jeweils verschiedenen juristischen Stellenwert. Hierbei ist von Fakten (nachweisbaren Tatsachen oder Ereignissen) auszugehen, die innerhalb eines jeden räumlich-zeitlich-personell bestimmbaren und abgrenzbaren Gesellschaftsintegrats („menschlicher Verband") die dort i n juristischer Geltung stehende Rechtsordnung unmittelbar oder mittelbar beeinflussen. Diese „Rechtstatsachen" sind zur Beurteilung des „So( eseins einer konkreten Rechtsordnung i m Vergleich mit anderen Rechtsordnungen um so wichtiger, je allgemeiner die Rechtsbegriffe und die mit deren Hilfe gebildeten Rechtssätze sprachlich formuliert sind und je verschiedenartiger die immateriellen und materiellen Lebensbedingungen und die hierdurch bedingten und beeinflußten geistig-kulturellen und wirtschaftlich-materiellen Entwicklungshöhen der miteinander i n Vergleich gesetzten Gesellschaftsintegrate liegen. Gerade dieser Umstand aber wird, sei es bewußt, sei es unbewußt, von politischen Eiferern jeder Farbe und jeder Kategorie ebenso wenig beachtet wie von den internationalen oder nationalen Organisationen, die auf nicht-staatlicher, privater Grundlage für die Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten allgemein (wie ζ. B. Liga für Menschenrechte, Amnesty International) oder für einzelne dieser Freiheiten (wie ζ. B. das Internationale Presse-Institut für die Pressefreiheit oder die Internationale Juristen-Kommission für die Herrschaft des Rechts) öffentlich eintreten und i n konkreten Einzelfällen durch Presseerklärungen, Resolutionen, Demarchen u. dgl. angebliche Ver-
12
1. Kap.: Realität u. Relativität der Menschenrechte u. Grundfreiheiten
letzungen von Menschenrechten und Grundfreiheiten öffentlich brandmarken und damit politische Forderungen verbinden. Die Mitglieder dieser sich selbst als politisch ungebunden („strictly non-political") kennzeichnenden Organisationen sind i n ihrer überwiegenden Mehrzahl „Idealisten", denen das Ziel, dessen Erreichung ihre Organisation anstrebt, ein echtes menschliches („humanes" und „humanitäres") A n liegen ist. Jedoch ist auch bei diesen Organisationen offenkundig, daß die Masse der Mitglieder sich mit der Zahlung von Beiträgen begnügt, während nur eine relativ kleine Gruppe A k t i v i t ä t entfaltet. „Die Wenigen herrschen stets und überall." Diese A k t i v i t ä t kann sich darin erschöpfen, auf den für Beschlüsse vorgesehenen Tagungen zu erscheinen, dort bei der Bestimmung der Richtlinien für die künftige Tätigkeit Einfluß geltend zu machen und ihre Stimme und sonstige Machtmittel bei der Wahl derjenigen einzusetzen, denen die Umsetzung der Richtlinien i n die Wirklichkeit anvertraut wird. Daß hierbei weltanschaulich-ideologische, religiöse und parteipolitische Motive und Zielsetzungen auch auf diesem internationalen Parkett trotz aller gegenteiliger Beteuerungen von erheblicher Bedeutung sind, lehrt nicht nur die Erfahrung, sondern entspricht auch der „Natur der Sache". Geht es doch um die Verfolgung politisch-ideologischer Aspirationen unter dem Banner höchster Werte, deren Wortschalen zwar mental wohl allgemein akzeptiert, deren faktische Tragweite und praktische Bedeutung aber, wie der Augenschein lehrt, alles andere als einheitlich sind. Die Folge hiervon ist, daß die Exekutivorgane der oben erwähnten internationalen oder nationalen Organisationen zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, auch soweit sie nicht politisch-einseitig „unterwandert" sind oder entsprechend „manipuliert" werden 1 , außer der Nichtberücksichtigung der Fakten und Gegebenheiten, worauf noch zurückzukommen ist, drei Fehler machen, einen logischen, einen juristischen und einen psychologischen: Der logische Fehler besteht darin, einen bestimmten Vorfall mit dem Maßstab des infolge der menschlichen Schwächen unerreichbaren Ideals zu beurteilen, statt die Realität zu berücksichtigen, die überall und selbst i n den höchstzivilisierten und humanitärsten Gesellschaftsintegraten mehr oder weniger weit von dem Ideal entfernt ist. „Man kann politische Grundsätze nur an ihrer Wirkung auf die Praxis messen, nicht aber an ihrer intellektuellen Faszination. Deshalb kann man auch die Realität politischer Systeme nur mit der Realität anderer politischer Systeme vergleichen, nicht aber mit Idealen. Realisierte Systeme müssen mit realen Menschen und allen ihren Mängeln auskommen, Ideale können hierüber leicht hinweggehen." Müssen die auf ihre Rationalität 1 Vgl. den Bericht: Amnesty International auf Abwegen? (Neue Zürcher Zeitung, Mittagsausgabe Nr. 411 v o m 5. 9.1973).
I. Idee u n d Wirklichkeit
13
und Logik ach so stolzen Geisteswissenschaftler, insbesondere Juristen, Soziologen und Politologen erst von einem Physiker wie Karl Steinbuch sich diese logische Selbstverständlichkeit deshalb entgegen halten lassen, weil diese „sich heute nicht mehr von selbst versteht" 2 ? Der rechtliche Fehler besteht darin, daß i n der Regel überhaupt nicht die Frage aufgeworfen wird, ob der vor der Weltöffentlichkeit i n Verruf gebrachte Staat das gerügte Verhalten einiger seiner Beamten oder Bediensteten völkerrechtlich auf Grund von Handlungen oder Unterlassungen seiner verantwortlichen Organe zu vertreten hat. Es handelt sich hierbei u m die Verletzung eines der wohl selbstverständlichsten Menschenrechte überhaupt, nämlich u m die Verletzung des Prinzips „audiatur et altera pars". Die A r t . 26 ff. der Europäischen Menschenrechtskonvention sind nichts weiter als Anwendungsweisen dieses Prinzips. Das i n A r t . 26 dieser Konvention aufgestellte Erfordernis der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtszugs als Voraussetzung für die Geltendmachung eines völkerrechtlichen Anspruchs beruht auf dem Grundsatz, daß der beklagte Staat zunächst die Möglichkeit haben muß, das dem Einzelnen angeblich zugefügte Unrecht als solches durch seine Gerichte prüfen zu lassen und gegebenenfalls mit eigenen Mitteln i m Rahmen der innerstaatlichen Rechtsordnung wieder gut zu machen 3 . Der psychologische Fehler besteht darin, die Reaktionen außer Acht zu lassen, die eine Presseerklärung, eine Resolution oder Demarche i m obigen Sinne i n dem gescholtenen und vor der Weltöffentlichkeit gebrandmarkten Lande bei dessen Regierung und Bevölkerung (falls diese überhaupt etwas davon erfährt) auslösen kann. Die „Manager" der oben genannten Organisationen scheinen bar jeder historischen Erfahrung und blind gegenüber der zeitgenössischen Wirklichkeit zu sein. Sie scheinen auch nichts von den oft tiefen Spuren zu wissen, welche die Machtpolitik der angeblich auf dem Gipfel der Zivilisation stehenden europäischen Staaten i n der Erinnerung gerade derjenigen Länder und Bevölkerungen hinterlassen haben, für deren Menschenrechte und Grundfreiheiten sie sich heute einsetzen. Dort hat man die noch nicht sehr lange zurückliegende Zeit der „Kapitulationen" mit der ausländischen Konsulargerichtsbarkeit und die zahlreichen, den nationalen Stolz demütigenden Interventionen europäischer Mächte i n der Form von „neutralen" Untersuchungskommissionen nicht vergessen, die sich angeblich aus „humanitären" Gründen i n die inneren Angelegenheiten souveräner, aber macht- und wehrloser Staaten eingemischt haben. Z u diesen i n der Bevölkerung lebendigen Unmutsreaktionen gesellt sich 2
„ K u r s k o r r e k t u r " , 4. Aufl. Stuttgart 1971, 138. Vgl. die Fälle Nr. 304 - 356 i n dem v o m Europarat herausgegebenen Nachschlagewerk „Die Menschenrechte i n der Praxis des Europarats (1955 1967)", Wien 1972. 3
14
1. Kap.: Realität u. Relativität der Menschenrechte u. Grundfreiheiten
bei den maßgebenden Regierungsstellen des vor der Weltöffentlichkeit angegriffenen Landes der Verdacht, es mit „bestellter Arbeit" zu tun zu haben, wobei als „Besteller" entweder diejenigen inländischen Personen und Gruppen i n Betracht kommen, zu deren Gunsten interveniert wird, oder ausländische politische Gruppen, die sich als solche nicht zu erkennen geben wollen. Da nach den allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts kein Staat berechtigt ist, sich i n die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates einzumischen oder sich damit öffentlich zu beschäftigen, soweit der andere Staat dazu nicht vertraglich seine Einwilligung erteilt hat (wie ζ. B. ausdrücklich i n A r t . 24 der Europäischen Menschenrechtskonvention oder durch besondere Erklärungen, wie sie i n A r t . 25 und 46 dieser Konvention vorgesehen sind), werden Presseerklärungen, Resolutionen oder Demarchen der oben genannten nichtstaatlichen Organisationen — ob i m konkreten Einzelfall m i t Recht oder Unrecht, sei ausdrücklich dahingestellt — um so stärker als getarnte völkerrechtswidrige Einmischung i n die inneren Angelegenheiten „empfunden" (ich gebrauche dieses Wort absichtlich), je mehr diese Organisationen den Eindruck erwecken, trotz ihrer satzungsmäßigen Internationalität und unpolitischen Zielrichtung Exponenten bestimmter politischer Gruppierungen, Interessenten und Ideologien zu sein. Diese „Empfindungen" und „Eindrücke" führen zu ganz anderen Reaktionen, als die „Manager" erreichen möchten; vor allem dann, wenn die Beschaffung der Unterlagen, auf Grund deren die Vorwürfe öffentlich erhoben werden, i n einseitiger oder dilettantischer Weise erfolgt, Einzelfälle verallgemeinert oder zu Greuelnachrichten aufgebauscht werden. Man muß sogar mit einer A r t Trotzreaktion rechnen, wenn derartige private internationale Organisationen an das Staatsoberhaupt, die Regierung oder das Parlament politische Forderungen stellen, die i n einem wahrhaft demokratischen Regime von den Adressaten nicht erfüllt werden dürfen, wenn diese sich nicht dem alsdann berechtigten V o r w u r f aussetzen wollen, gegen die zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verfassungsmäßig festgelegten Grundsätze einer auf freien Wahlen beruhenden repräsentativen (parlamentarischen) Demokratie mit Gewaltenteilung und rechtsstaatlichen Garantien zu verstoßen. I I . Entwicklungsstufen Die sich für Menschenrechte und Grundfreiheiten einsetzenden Organisationen stellen bei ihren Aktionen vor allem nicht i n Rechnung, a u f welcher
Stufe
der politischen
Entwicklung
zum „wahrhaft
demo-
kratischen politischen Regime" 4 sich der vor der Welt angeschwärzte 4
Wie es i n der Präambel zur Europ. Menschenrechtskonvention heißt.
I I . Entwicklungsstufen
15
Staat befindet. Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges und der dadurch hervorgerufenen und eingeleiteten weltweiten wirtschaftlichen und sozialen Erschütterungen ist es üblich geworden, von „Entwicklungsländern", „Entwicklungshilfe" u. dgl. zu sprechen. 1. Diese Ausdrücke sind nur dann sinnvoll, wenn man unterschiedliche Entwicklungsstufen als Gegebenheiten voraussetzt und „unentwickelte" oder „unterentwickelte" Gesellschaftsintegrate auf die Höhe der angeblich v o l l entwickelten, aber realiter selbst dauernd i n weiterer Entwicklung befindlichen Kulturstaaten oder Zivilisationsgesellschaften zu heben für möglich und durchführbar hält. Internationale Abkommen und Staatsverträge, welche m i t diesem Ziele eine Rechtsvereinheitlichung oder wenigstens eine rechtliche Gleichbehandlung aller Menschen oder der dem rechtlichen Geltungsbereich der Vertragsstaaten zuzurechnenden Menschen i n völkerrechtlich bindender Form erstreben, müssen diesen Fakten Rechnung tragen, wenn sie nicht von Anfang an toter Buchstabe bleiben wollen. Dies gilt nicht nur für die Bemühungen, relativ eng begrenzte Sachgebiete wie ζ. B. das Urheberrecht unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse i n den „Entwicklungsländern" durch Staatsverträge einheitlich zu regeln 5 ; vielmehr gilt dies erst recht für die rechtlich einheitliche Regelung von Fragen, welche an die Fundamente eines jeden Gesellschaftsintegrats rühren, das als „Staat" politisch strukturiert und rechtlich organisiert ist. Gerade die Versuche einer erdumfassenden oder jedenfalls regional einheitlichen rechtlichen Festlegung des Schutzes der „Menschenrechte und Grundfreiheiten" 6 sind nicht nur Beispiele, welche veranschauli5 Vgl. hierzu meinen Aufsatz: Krise des internationalen Urheberrechts?, i n U F I T A Bd. 63 (1972), S. 49 - 66. 6 Vgl. die auf der Charta der Vereinten Nationen v o m 26. 6.1945 beruhende „Allgemeine E r k l ä r u n g der Menschenrechte v o m 10.12.1948 u n d die auf der Satzung des Europarates v o m 5. 5.1949 fußende Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte u n d Grundfreiheiten v o m 4.11.1950. Die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 16.12.1966 beschlossenen Konventionen über wirtschaftliche, soziale u n d kulturelle Rechte bzw. über bürgerliche u n d politische Rechte (englischer und französischer Text i n ZaöRV 30/1970, 349 - 399) bedürfen zu ihrem Inkrafttreten der Ratifizierung durch 35 Mitgliedstaaten. Die Bundesrepublik hat diese Konventionen zwar am 9.10.1968 gezeichnet, aber das Ratifikationsverfahren noch nicht i n Gang gesetzt. Bis zum 15. 6.1973 hatten erst 19 Staaten die Konventionen ratifiziert, zu denen kürzlich als 20. Staat sich die Sowjetunion gesellte. (Siehe auch Hauser, Menschenrechte i m Sowjetstaat, Bern 1973.) Die Vereinigten Staaten u n d Frankreich haben bisher diese Konventionen noch nicht einmal gezeichnet, kein einziger westlicher Staat von politischer Bedeutung sie ratifiziert, obwohl das Ministerkomitee des Europarats seinen Mitgliedern die Ratifizierung, wenn auch verklausuliert, durch eine Resolution v o m 15. 5. 1970 empfohlen hat. Vgl. i m einzelnen Khol, Der Menschenrechtskatalog der Völkergemeinschaft (1968); Eissen, Convention européenne des droits de l'homme et Pacte des Nations Unies relatif aux
16
1. Kap.: Realität u. Relativität der Menschenrechte u. Grundfreiheiten
chen, sondern Beweise, welche begründen, daß soziale Fakten für die sachgemäße ( = „richtige") Beurteilung rechtlicher Regelungen eine sehr große, um nicht zu sagen unentbehrliche Bedeutung besitzen. 2. Wie ich bereits bei anderer Gelegenheit 7 dargelegt habe, spielen bei der Beurteilung des Schutzes der Menschenrechte und Grundfreiheiten zwei Prinzipien eine Rolle, die man mit den Ausdrücken „Rechtsstaat" und „Rule of L a w " zu bezeichnen pflegt. Das Prinzip „Rechtsstaat" sowie der seine Attribute umfassende Begriff „Rechtsstaatlichkeit" haben während der letzten anderthalb Jahrhunderte i m politischen Bereich „Deutschland" zwar keinen gleichbleibenden Inhalt gehabt, sind aber nach den bösen Erfahrungen mit W i l l kürregimen jedenfalls i n der Bundesrepublik Deutschland erneut mit bestimmten materiellen Grundwerten ausgestattet worden. Das Bundesverfassungsgericht hat sich i n zahlreichen Entscheidungen bemüht, die konstituierenden Merkmale des „Rechtsstaats" herauszuarbeiten und zu konkretisieren. Das andere Prinzip: „Rule of Law", zu deutsch etwa „Herrschaft des Rechts", hat einen ganz anderen Entstehungs- und Entwicklungsprozeß als das Prinzip „Rechtsstaat" durchgemacht und läßt seit der Magna Charta Libertatum von König Johann am 15. 6.1215 durchaus die historischen Spuren i n seiner Verbindung mit der Geschichte der angelsächsischen und, auf dem Umweg über die amerikanische Verfassung und unter deren Einwirkung, auch auf Frankreich und auf die durch die französische Revolution beeinflußten Staaten erkennen. Infolge der verschiedenen historischen Entstehungsursachen und Entwicklungen i n unterschiedlichen Gesellschaftsintegraten decken sich die beiden Prinzipien „Rechtstaat" und „Rule of L a w " nur hinsichtlich des angesteuerten Zieles, nicht aber hinsichtlich der konkreten M i t t e l und Wege, die der Erreichung dieses Zieles zu dienen bestimmt sind 8 . Demnach sind beide Prinzipien jeweils nur für ihren ursprünglichen räumlichen Geltungsbereich empirisch nachweisbare oder i m Streitfall nachzuweisende soziale Grundwerte, denen nur eine partikuläre und partielle gesellschaftliche Realität als rechtlich erhebliche Fakten („Rechtstatsachen") zukommt. droits civils et politiques: problèmes des „coexistences" (ZaöRV 30/1970, 239); Seidl - Hohenv eidern, Koordinationsprobleme bei der Ausarbeitung u n d Anwendung humanitären Völkerrechts (Festschrift für Wengler Bd. I, 1973, 555 ff. insbes. 556 - 563 m i t weiteren Hinweisen). 7 Anläßlich meines am 24. 3.1969 an der Universität Helsinki gehaltenen u n d i n Tidskrift, utgiven av Juridiska Föreningen i Finland, Hefte 1/2 (1970) i n deutscher Sprache wiedergegebenen Vortrags 'über „Die Bindung des Rechtsstabs an das Gesetz als Garantie des Rechtsstaats". 8 Vgl. hierzu Joachim Henkel: England — Rechtsstaat ohne gesetzlichen Richter, F r a n k f u r t 1971.
I I . Entwicklungsstufen
17
3. Bei dieser Sachlage ist die Frage zu stellen, inwieweit diese beiden Prinzipien einander gleichgestellt werden können und i n gleicher oder jedenfalls vergleichbarer Weise als gesellschaftliche Realitäten i n allen denjenigen Staaten empirisch nachweisbar sind, welche die oben erwähnten erdumfassenden oder regionalen Satzungen, Deklarationen und Abkommen rechtsverbindlich gezeichnet und ratifiziert haben. Die Antwort darauf bedarf 9 keiner empirischen Untersuchungen. Sie ergibt sich bereits aus den Präambeln, welche dazu dienen, die soziologisch bedingte Ausgangslage sowie den Zweck und die M i t t e l zu dessen Realisierung in politisch motivierender Weise zu umschreiben. Ich begnüge mich mit der Wiedergabe einiger besonders aufschlußreicher Sätze: A. Die Charta der Vereinten Nationen 1 0 spricht von der „festen Entschlossenheit" der Mitgliedsstaaten, „unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen; Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können; den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard i n größerer Freiheit zu fördern . . . " Es handelt sich also insoweit u m ein politisches Programm, ohne daß von der „Herrschaft des Rechts" die Rede ist. I n der Universellen Erklärung der Menschenrechte heißt es in der Präambel u.a.: „Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens i n der Welt bildet, . . . da es wesentlich ist, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechts zu schützen, damit der Mensch nicht zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung als letztem M i t t e l gezwungen ist . . . ; da die Mitgliedstaaten sich verpflichtet haben, . . . die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durchzusetzen; da eine gemeinsame Auffassung über diese Rechte und Freiheiten von größter Wichtigkeit für die volle Erfüllung dieser Verpflichtungen ist, verkündet die Generalversammlung die vorliegende universelle Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal, damit jeder einzelne und alle Organe der Gesellschaft sich diese Erklärung stets gegenwärtig halten und sich bemühen, durch Un9
Siehe zum Folgenden meinen i n Anm. 7 zitierten Vortrag. I n der v o m Sprachendienst des Auswärtigen Amtes übersetzten deutschen Fassung bei Sartorius Bd. I I Internationale Verträge — Europarecht Nr. 40. 10
2 Hirsch
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1. Kap.: Realität u. Relativität der Menschenrechte u. Grundfreiheiten
terricht und Erziehung die Achtung dieser Rechte und Freiheiten zu fördern und durch fortschreitende Maßnahmen i m nationalen und internationalen Bereiche ihre allgemeine und tatsächliche Anerkennung und Verwirklichung bei der Bevölkerung . . . zu gewährleisten." Bei dem auf diese Präambel folgenden umfangreichen Katalog von Prinzipien, die als Menschenrechte und Grundfreiheiten deklariert werden, handelt es sich nicht um Rechte und Befugnisse i m Sinne des positiven i n Geltung befindlichen Rechtes, d. h. um rechtliche A n sprüche und Verbindlichkeiten, die notfalls durch Inanspruchnahme und mit Hilfe eines monopolistisch gehandhabten Zwangsapparates durchgesetzt werden könnten: denn nur unter dieser Voraussetzung können Verhaltensregel soziologisch als „Recht" qualifiziert werden. Vielmehr sind es Postulate politischen Charakters, über deren Inhalt, Ausmaß und Tragweite die verschiedensten und oft miteinander unvereinbaren Auffassungen bei den Mitgliedsstaaten der UNO bestehen. Dementsprechend bleibt auch die Transformierung dieser Postulate in positives Recht jedem einzelnen Mitgliedsstaat überlassen. Deshalb kann auch nur für jeden einzelnen konkreten Staat ausgemacht werden, ob und inwieweit diese in der angelsächsischen Tradition wurzelnden und dort teilweise zu empirisch nachweisbarer Wirklichkeit gewordenen Werte diese Qualität auch i n den anderen Mitgliedstaaten der UNO oder auch i n außenstehenden Staaten gewonnen haben 11 . B. Diesen Mangel an gemeinsamen Grund V o r s t e l l u n g e n der auf den verschiedensten Stufen der Entwicklung stehenden Mitgliedstaäten der Vereinten Nationen sucht die Satzung des Europarats von 194912 und die von den meisten seiner Mitgliedsstaaten 13 i m Jahre 1950 unterzeichnete „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten" 1 4 11 Vgl. die Einzeldarstellungen i n Bettermann, Neumann, Nipper dey: Die Grundrechte, Band I, Halbbände 1 und 2, Berlin 1966, 1967. Sonderdruck daraus: K . J. Partsch, Die Rechte u n d Freiheiten der europäischen Menschenrechtskonvention, B e r l i n 1966; ferner Menschenrechte i m Staatsrecht und i m Völkerrecht, Vorträge u n d Diskussionen des zweiten internationalen K o l l o quiums über die europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte u n d Grundfreiheiten, Karlsruhe 1967. Khol, Zwischen Staat und Weltstaat. Die Internationalen Sicherungsverfahren zum Schutz der Menschenrechte, 1969; Walter, Die europäische Menschenrechtsordnung. Individualrechte, Staatenverpflichtungen und ordre public nach der Europäischen Menschenrechtskonvention (Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht Bd. 53), 1970. Siehe ferner Heidelmeyer (Hrsg.) Die Menschenrechte. Erklärungen, internationale A b k o m m e n und Verfassungsartikel, 1972. K i m minich, Menschenrechte: Versagen und Hoffnung, 1973. Vgl. i m übrigen die v o m Europarat i m November 1973 herausgegebene „Bibliographie concernant la Convention européenne des Droits de l'Homme". 12 Deutsche Übersetzung bei Sartorius (oben Anm. 10) Nr. 110. 13 Die Konvention ist erst jetzt von Frankreich, dagegen noch nicht von der Schweiz ratifiziert; für Griechenland ist sie 1970 außer K r a f t getreten. 14 Deutscher Text bei Sartorius (oben Anm. 10) Nr. 130.
I I . Entwicklungsstufen
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für den Bereich der westeuropäischen Staaten ausschließlich Portugals und Spaniens, aber einschließlich der Türkei zu beseitigen. Um eine gemeinsame Auffassung wenigstens regional herbeizuführen, ist i n der Präambel zur Satzung des Europarates die Rede von der „unerschütterlichen Verbundenheit" der Mitgliedsstaaten „ m i t den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker sind und der persönlichen Freiheit, der politischen Freiheit und der Herrschaft des Rechts zu Grunde liegen, auf denen jede wahre Demokratie beruht". Dementsprechend bestimmt A r t . 3 der Satzung des Europarats: „Jedes Mitglied erkennt den Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts und den Grundsatz an, daß jeder, der seiner Hoheitsgewalt unterliegt, der Menschenrechte und Grundfreiheiten teilhaftig werden soll." Aus dieser Formulierung ergibt sich zweierlei: Einmal die Zusicherung, d. h. die rechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten des Europarats, die Herrschaft des Rechts als regulatives Prinzip sowohl i m Verhältnis zueinander als auch i m Verhältnis eines jeden Staates zu jedem Individuum gelten zu lassen, das seiner Hoheitsgewalt untersteht; zum andern eine Umschreibung dieses formalen Prinzips dahin, daß die Rechtsordnung eines jeden Mitgliedsstaates jedem, der seiner Hoheitsgewalt untersteht, Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert, ohne daß diese i m einzelnen aufgezählt und näher umschrieben werden. Dies ist erst in der oben erwähnten Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 und den dazu vereinbarten Zusatzprotokollen geschehen, die keineswegs für alle Signatarstaaten der Satzung des Europarats verbindlich sind (siehe unten C, b). Der i n der Präambel der Konvention von 1950 als gemeinsames Erbe an geistigen und sittlichen Werten und Überlieferungen der europäischen Staaten bezeichnete und durch das erste Zusatzprotokoll von 195215 ergänzte Katalog der Menschenrechte und Grundfreiheiten zählt als solche auf: Das Recht auf Leben; das Verbot der Folter, der Sklaverei, der Zwangsarbeit und der Diskriminierung; das Prinzip „nulla poena sine lege"; das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit, auf rechtliches Gehör, auf Achtung der Privatsphäre und des Privateigentums; Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; das Recht auf Bildung unter Beachtung des Elternrechts auf Erziehung und Unterricht entsprechend ihrer eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugung; das Recht auf freie Meinungsäußerung, auf Versammlungs- und Vereinsfreiheit einschließlich des Rechts auf freie und geheime Wahlen der gesetzgebenden Körperschaften u. a. m. I m vierten Zusatzprotokoll 16 werden hinzugefügt: das Verbot der Schuldhaft, das Recht auf Freizügigkeit, auf freie Ausreise aus jedem Land und auf freie Einreise i n das Heimatland, das Verbot der Einzel- oder Kollek15 16
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Deutscher Text bei Sartorius Deutscher Text bei Sartorius
(oben Anm. 10) Nr. 131. (oben Anm. 10) Nr. 133.
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1. Kap.: Realität u. Relativität der Menschenrechte u. Grundfreiheiten
tivausweisung von eigenen Staatsangehörigen und der kollektiven Ausweisung von Ausländern. Dieser Katalog macht ohne weiteres ersichtlich, daß die hier mit dem Stempel des „Rechtlichen" versehenen Grundfreiheiten und Menschenrechte ihren Ursprung großenteils i n Religion oder Moral haben oder Postulaten staatstheoretischer Denker oder Rechtsphilosophen oder politischer Reformer oder Revolutionäre entsprechen. Ferner ergibt sich bei einer Gegenüberstellung der in dem Katalog enthaltenen Rechte und Freiheiten einerseits und dem internen positiven Recht der Mitgliedsstaaten andererseits, daß das, was in der Konvention rechtsverbindlich postuliert ist, i n dem internen Verfassungsrecht und in sonstigen Rechtnormen der einzelnen Mitgliedsstaaten zum Teil nur unvollkommenen Ausdruck gefunden hat oder lediglich als Programmsatz noch des konkretisierenden positiven Ausführungsgesetzes harrt oder gar toter Buchstabe ist. Somit können selbst i m regionalen Bereich der i m Europarat zusammengeschlossenen Staaten die Prinzipien „Herrschaft des Rechts" und „Rechtsstaat" nur als Postulate gelten. Selbst wenn diese höchsten Werte hinsichtlich ihres Ursprungs das gemeinsame Erbe der Mitgliedsstaaten wären — was i n der Präambel zwar feierlich behauptet wird, aber der historischen Wahrheit nicht entspricht 17 — so bleibt für jeden einzelnen Staat erst festzustellen, inwieweit die Prinzipien „Rechtsstaat" und „Herrschaft des Rechts", empirisch nachweisbar und faßbar, sich zu einer unbestreitbaren W i r k lichkeit, d. h. zu einer gesellschaftlichen Realität verdichtet und verfestigt haben. C. Wie notwendig eine derartige dem empirischen Nachweis dienende Feststellung ist, ergibt sich ebenfalls aus den oben erwähnten Texten selbst. a) I n den i n diesem Zusammenhange einschlägigen, sehr allgemein gehaltenen Bestimmungen von Art. 1 Ziff. 3, A r t . 2 Ziff. 1, 2 und 7, A r t . 13 lit. b, A r t . 55 lit. c und A r t . 62 Abs. 2 der Charta der Vereinten Nationen ist zwar von der „Förderung und Festigung" bzw. von „Beiträgen zur Verwirklichung" der Menschenrechte und Grundfreiheiten als „Zielen" und „Grundsätzen" die Rede; jedoch werden die souveräne Gleichheit aller Mitgliedsstaaten und das Prinzip der Nichteinmischung i n Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören, ausdrücklich hervorgehoben. Entsprechendes gilt für die Satzung des Europarats (vgl. dort A r t . 1 : einerseits lit. a - c, andererseits lit. d i n Zusammenhang mit A r t . 23 und 24). Unter diesen Umständen bedurfte der Konkretisierung, welche Menschenrechte und Grundfreiheiten durch den Abschluß einer Konvention „als erster 17 Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Johannes Gross: Unsere Diktaturen, i n F A Z v o m 2. 7.1973.
I I . Entwicklungsstufen
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Schritt auf dem Wege zu einer kollektiven Garantie" aus dem Zustand des Programmsatzes i n denjenigen eines Rechtssatzes zu verwandeln waren. I n Abs. V. der Präambel zur Europäischen Konvention w i r d deshalb mit Recht nur von „gewissen" und nicht von allen in der Universellen Erklärung verkündeten Rechten gesprochen. Die beim Europarat bestehende „Kommission für Menschenrechte" hat eine erhebliche Anzahl der i n der Universellen Erklärung der Menschenrechte aufgezählten Postulate als nicht zu den anerkannten Rechten und Freiheiten gehörend qualifiziert 1 8 . Damit ist bereits ratione materiae der Kreis von angeblichen Verstößen gegen „die" Menschenrechte und Grundfreiheiten sehr erheblich eingeschränkt, weil dort kein Verstoß vorliegt, wo ein sogenanntes „Menschenrecht" als solches nicht positiv-rechtlich anerkannt und kollektiv garantiert ist. b) Neben dieser ratione materiae getroffenen Abgrenzung muß eine w e i t e r e E i n e n g u n g r a t i o n e personae h e r v o r g e h o b e n w e r d e n : W i e oben
bereits kurz erwähnt wurde, haben nicht alle Staaten, welche Mitglieder des Europarats sind, die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ratifiziert; Sowohl die Konvention selbst als auch das erste Zusatzprotokoll von 1952 und das zweite Zusatzprotokoll von 1963 gelten nicht für Frankreich und die Schweiz; das vierte Zusatzprotokoll von 1963 gilt nicht für Frankreich, Großbritannien und Nordirland, Italien, Malta, Niederlande, Schweiz, Türkei und Zypern. Abgesehen von dieser durch das politische Gewicht der genannten Staaten besonders fühlbaren territorialen Verengung, welche die dem jedenfalls regional begrenzten einheitlichen Schutz der wichtigsten Menschenrechte und Grundfreiheiten gewidmete europäische Konvention nebst ihren Zusatzprotokollen aufweist, müssen auch die sachlichen Vorbehalte berücksichtigt werden, die jeder Staat bezüglich bestimmter Vorschriften der Konvention gemäß deren Art. 64 machen kann, soweit ein i n seinem Gebiet geltendes Gesetz nicht mit der betreffenden Konventionsvorschrift übereinstimmt. Insoweit ist die Verbindlichkeit der Konvention für den betreffenden Staat dem Gegenstand nach eingeschränkt. Als Beispiel sei darauf hingewiesen, daß die Bundesrepublik Deutschland zu A r t . 7 Abs. 2 der Konvention den Vorbehalt gemacht hat, daß auf jeden Fall die Grenzen von Art. 103 Abs. 2 GG gewahrt würden. Ferner sind erklärt worden: von Österreich Vorbehalte zu A r t . 5 und 6 der Konvention (Recht auf Freiheit und Sicherheit, auf gerichtliches Gehör und Verteidigung des Angeklagten); von Großbritannien, Malta, den Niederlanden, Schweden und der Türkei zu A r t . 2 des ersten Zusatzprotokolls (Recht auf Bildung). Soweit derartige Vorbehalte nicht gemacht worden sind, haben nach der Ent18 Vgl. die Zusammenstellung unter Ziffer Werkes.
377 des i n Anm. 3 zitierten
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1. Kap.: Realität u. Relativität der Menschenrechte u. Grundfreiheiten
Scheidung der Kommission für Menschenrechte i m sog. de Becker Fall vom 9. 6.1958 19 die vertragschließenden Staaten die Verpflichtung auf sich genommen, die Vereinbarkeit ihrer innerstaatlichen Gesetzgebung mit der Konvention und, falls erforderlich, die nötige Anpassung der Gesetzgebung i n dieser Hinsicht sicherzustellen, da die Konvention für alle Organe der Vertragsstaaten einschließlich der Gesetzgebenden Organe gilt. Dies t r i f f t allerdings nur in jenen Fällen zu, in denen das innerstaatliche Recht der Konventionsmitglieder eine derartige unmittelbare Bindung ihrer Organe durch das Völkerrecht oder durch internationale Abkommen vorsieht. Wo dies nicht der Fall ist, werden durch ein internationales Abkommen nur die vertragschließenden Staaten als solche, nicht aber außerdem noch eines ihrer Organe rechtlich gebunden. Vielmehr bedarf es dazu unter Umständen einer besonderen Transformation (siehe darüber unten Zweites Kapitel, Abschnitt II). D. Trotzdem bedeutet bereits die völkerrechtliche Bindung des Staates durch die Konvention eine erhebliche Einschränkung der einzelstaatlichen Souveränität. Dies ist wohl der Grund dafür, daß ζ. B. Frankreich und die Schweiz, obwohl sie Mitglieder des Europarates sind, der Konvention und ihren Zusatzprotokollen nicht beigetreten sind. Dies kann zu merkwürdigen Konstellationen und Situationen führen: Beide Staaten sind i n der Beratenden Versammlung des Europarates m i t 16 bzw. 6 Sitzen unter insgesamt 144 vertreten. Dieses Organ kann nach A r t . 23 und 24 des Statuts über alle Fragen beraten, Empfehlungen ausarbeiten, Komittees oder Ausschüsse bilden, die nach den Begriffsbestimmungen des Kapitel I der Aufgabe des Europarats entsprechen und i n dessen Zuständigkeitsbereich fallen. Infolgedessen könnte der Fall eintreten, daß unter dem sehr allgemeinen Titel „Schutz und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten" (Art. 1 lit. b der Satzung) die Vertreter Frankreichs und der Schweiz zu Fragen Stellung nehmen und bei Beschlüssen mitstimmen, welche sich auf eine angeblich unzureichende Wahrung, eine unzulässige Einschränkung oder eine Verletzung der von einem Vertragsstaat der Konvention übernommenen Verpflichtungen beziehen, welche Frankreich und die Schweiz nicht übernommen haben. Diese Überlegung zeigt, daß die Beratende Versammlung des Europarats unbeschadet ihrer allgemeinen Aufgaben auf dem Gebiet des Schutzes und der Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten m. E. keine Zuständigkeit zur Beratung, Ausarbeitung von Empfehlungen, Bildung von Komittees oder Ausschüssen besitzt, soweit diese i n Art. 1 lit. b der Satzung aufgeführte Aufgabe durch den Abschluß besonderer Abkommen erfüllt ist; denn diese bringen nicht für alle Mitglieder des Euro19
Ann. de la Cour Européenne des Droits de l'Homme Vol. I I , 234.
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i Relativität der Menschenrechte u
Grundfreiheiten
parats, sondern nur für diejenigen Mitglieder Rechte und Pflichten mit sich, die diese besonderen Abkommen als für sich verbindlich anerkannt haben. Das Verhältnis zwischen der Satzung des Europarats und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten entspricht dem Rechtsprinzip der Subsidiarität. I I I . Die Relativität der Menschenrechte und Grundfreiheiten Dieses Prinzip muß u m so mehr durchschlagen, als diesbezüglich in der Konvention ausdrückliche Vorschriften vorgesehen sind. Diese räumen einerseits jedem einzelnen Mitgliedsstaat das Recht ein, in seiner nationalen innerstaatlichen Rechtsordnung für die Ausübung der i n der Konvention als rechtsschutzwürdig anerkannten Menschenrechte und Grundfreiheiten die i n der Konvention selbst vorgesehenen Schranken zu ziehen, ja die Ausübung sogar vorübergehend ganz außer Kraft zu setzen; andererseits legen sie diejenigen Verfahrensarten und Organe bindend fest, welche bei Nichteinhaltung oder Verletzung der i n der Konvention verbindlich übernommenen Verpflichtungen gegeben sind. 1. Hinsichtlich der Grenzen und Schranken, innerhalb deren jeder Mitgliedsstaat jedermann die Ausübung der i n der Konvention ausdrücklich aufgeführten Menschenrechte und Grundfreiheiten garantieren muß („Mindestgarantie"), lassen sich folgende Abstufungen feststellen, welche die Relativität „der" Menschenrechte und Grundfreiheiten und ihre Abhängigkeit von den faktischen Gegebenheiten besonders deutlich erkennen lassen: a) Absolute, uneinschränkbare und nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention auch nicht vorübergehend aufhebbare Gebote und Verbote finden sich i n A r t . 2 Abs. 1; A r t . 3; A r t . 4 Abs. 1 und A r t . 7 Abs. I 2 0 . b) Absolute und uneinschränkbare, aber gemäß Art. 15 Abs. 1 vorübergehend außer K r a f t setzbare Verbote oder Gebote finden sich i n Art. 4 Abs. 2; A r t . 5 Abs. 2 - 5 ; A r t . 6 Abs. 2 und 3; A r t . 8 Abs. 1; Art. 9 Abs. 1; A r t . 10 Abs. 1 Satz 1; A r t . 11 Abs. 1; Art. 12, 13, 14. c) Konventions-Definitionen, welche bestimmte Handlungen oder Handlungsarten ausklammern, finden sich i n Art. 2 Abs. 2 und Art. 4 20 Vgl. hinsichtlich von A r t . 7 Abs. 2 einerseits den seitens der Bundesrepublik Deutschland gemäß A r t . 64 gemachten und oben erwähnten V o r behalt, andererseits die Entscheidungen der Kommission i n Annuaire Vol. I, 239; I I , 214 u n d 226; I V , 324. Danach w a r der Zweck der Vorschrift, klarzustellen, daß A r t . 7 Abs. 2 „Gesetze nicht berührt, die unter sehr außergewöhnlichen Umständen am Ende des zweiten Weltkriegs erlassen wurden, u m gegen Kriegsverbrechen, Landesverrat und Zusammenarbeit m i t dem Feind vorzugehen u n d daß dieser A r t i k e l keine rechtliche oder moralische Verurteilung dieser Gesetze aussprechen w i l l " .
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1. Kap.: Realität u. Relativität der Menschenrechte u. Grundfreiheiten
Abs. 3, während i n A r t . 16 und 17 bindende Auslegungsregeln gegeben sind. d) Vorbehaltlich des Mißbrauchsverbots i n Art. 18 sind zulässige Einschränkungen oder Beschränkungen aufgezählt i n Art. 2 Abs. 1 Satz 2; A r t . 5 Abs. 1 lit. (a) — (f); Art. 6 Abs. 1 zweite Hälfte; Art. 8 Abs. 2; A r t . 9 Abs. 2; A r t . 10 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2; Art. 11 Abs. 2 und Art. 16. 2. Trotz dieser Abstufungen und ihrer Formulierungen 2 1 ist stets mit der Möglichkeit zu rechnen, daß die Auslegung dieser oder jener Bestimmung der Konvention i m Einzelfall umstritten ist oder die Nichtanwendung oder Verletzung der Konvention als solcher oder einzelner ihrer Bestimmungen behauptet wird. Die Regelung bei der rechtlichen Prüfung derartiger Fragen zeigt auch eine deutliche und an den Lebensverhältnissen orientierte Abstufung. Nach A r t . 19 sind zu dem Zweck, die Einhaltung der Verpflichtungen durch die Vertragsstaaten sicherzustellen, eine Europäische Kommission für Menschenrechte („Kommission") und ein Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte („Gerichtshof") errichtet worden. a) Nach A r t . 24 kann jeder Vertragsstaat die Kommission mit jeder angeblichen Verletzung von Konventionsbestimmungen eines anderen Vertragsstaats befassen. Somit haben diejenigen Staaten keine A k t i v legitimation, die zwar dem Europarat angehören, aber der Konvention und ihren Zusatzprotokollen nicht beigetreten sind. b) Individualbeschwerden an die Kommission wegen angeblicher Verletzungen von Rechten, die in der Konvention anerkannt sind, können nach Art. 25 nur gegenüber einem Vertragsstaat eingelegt werden, welcher durch ausdrückliche Erklärung die Zuständigkeit der Kommission zur Entgegennahme solcher Beschwerden anerkannt hat. Aber selbst dann kann die Kommission erst tätig werden, wenn der innerstaatliche 21 N u r der englische u n d französische Text der Konvention u n d der Z u satzprotokolle sind ebenso wie bei der Satzung des Europarates authentisch. Weichen diese beiden Texte voneinander ab (wie ζ. B. ganz offensichtlich i n A r t . 6 Abs. 3 der Konvention) u n d ergeben sich dabei Auslegungsschwierigkeiten, so ist einer Textstelle, entsprechend einer ständigen völkerrechtlichen Rechtsprechung, derjenige Sinn beizulegen, der die beiden Fassungen so gut wie möglich i n Einklang miteinander bringt. I m „ W e m h o f f " - F a l l (Annuaire Vol. X I , 796) hat sich der Gerichtshof allerdings auf den Standpunkt gestellt, die Konvention sei ein Vertrag m i t normativem Inhalt. Deshalb sei es erforderlich, diejenige Auslegung zu wählen, die dem Ziel des Vertrags am nächsten k o m m t und die am besten geeignet ist, seinen Zweck zu verwirklichen, nicht aber diejenige, welche die Verpflichtungen der Vertragsparteien am stärksten begrenzen würde. Bei dieser Begründung w i r d aber übersehen, daß durch die Konvention die Souveränität der Vertragsstaaten, d. h. die völkerrechtliche Regel, eingeschränkt wird, die diesbezüglichen Verpflichtungen somit die Ausnahme der Regel bilden und eine extensive Auslegung dem W i l l e n der Vertragsstaaten w o h l k a u m entsprechen dürfte.
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i Relativität der Menschenrechte u
Grundfreiheiten
Rechtsweg erschöpft i s t ( A r t . 26). I n d e n b i s h e r ergangenen Entscheid u n g e n h a t d i e K o m m i s s i o n entsprechend A r t . 27 A b s . 2 a l l e B e s c h w e r d e n f ü r u n z u l ä s s i g e r k l ä r t , w e n n sie r a t i o n e personae oder r a t i o n e m a t e r i a e n i c h t u n t e r d i e B e s t i m m u n g e n der K o n v e n t i o n f a l l e n 2 2 . c) D e r G e r i c h t s h o f k a n n sich m i t e i n e r A n g e l e g e n h e i t n u r befassen, w e n n der i n F r a g e k o m m e n d e S t a a t die G e r i c h t s b a r k e i t des G e r i c h t s hofs f ü r a l l e A n g e l e g e n h e i t e n , die sich a u f die A u s l e g u n g u n d die A n w e n d u n g der K o n v e n t i o n beziehen, d u r c h ausdrückliche E r k l ä r u n g a n e r k a n n t h a t ( A r t . 46). d) V o n e i n e r Z u s t ä n d i g k e i t der B e r a t e n d e n V e r s a m m l u n g i n Fragen, die m i t der K o n v e n t i o n z u s a m m e n h ä n g e n , ist i m T e x t d e r K o n v e n t i o n kein W o r t zu finden 2*.
22 Siehe die Zusammenstellung i n dem i n Anm. 3 angegebenen Nachschlagewerk Nr. 291 - 299; 373 - 376; 377. Beachte auch Frede Castberg: Le droit de requête individuelle d'après la convention européenne des droits de l'homme i n Festschrift für W i l h e l m Wengler, B e r l i n 1973, Bd. I, S. 51 - 58. 23 Trotzdem hat man kürzlich versucht, auf einem Umweg die Beratende Versammlung des Europarats einzuschalten: einige ihrer Mitglieder haben i n der Sitzung v o m 22. - 26. Januar 1973 einen Resolutionsentwurf (CE - Doc. 3251 v o m 23.1.1973) eingebracht und die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses verlangt, u m die gegen die T ü r k e i i n der Weltöffentlichkeit erhobenen Anschuldigungen der Verletzung der A r t . 3, 5, 7, 11 und 15 der Konvention zu untersuchen. Aus der Parteizugehörigkeit der Unterzeichner, unter denen sich auch ein schweizerischer Parlamentarier findet (obwohl die Schweiz die Konvention nicht ratifiziert hat), u n d aus den diesem Resolutions Vorschlag vorangegangenen früheren Debatten i n der Beratenden Versammlung des Europarats v o m 11. 5.1971, 15. - 19. 5. 1972 und 17. - 24. 10. 1972 ergibt sich, daß die fraglichen Parlamentarier sich zum Sprachrohr derer gemacht haben, die in ihren durch die Konvention garantierten Rechten und Freiheiten durch Behörden oder Beamte u n d Gerichte der T ü r k e i angeblich verletzt worden sind, ohne daß ihnen die Möglichkeit einer individuellen Beschwerde an die K o m mission offensteht. Da auch kein Vertragsstaat der Konvention deren K o m mission m i t der fraglichen Angelegenheit befaßt hat, soll die Versammlung einen besonderen Ausschuß bilden, u m nach dem I n h a l t des Resolutionsentwurfs diejenigen Funktionen wahrzunehmen, für welche ausschließlich die Menschenrechts-Kommission i m Rahmen der Konventionsbestimmungen zuständig wäre, falls sie zulässigerweise m i t der Angelegenheit befaßt würde. Eine Annahme dieser Resolution, j a bereits ein Beschluß, sie auf die Tagesordnung zu setzen, wäre, falls die T ü r k e i nicht zustimmt, eine Verletzung von A r t . 23 u n d 24 i n Verbindung m i t A r t . 1 lit. b u n d d der Satzung des Europarats und bedeutete zugleich eine Völkerrechtsverletzung durch E i n mischung i n solche innerstaatlichen Angelegenheiten, für welche die T ü r k e i die Zuständigkeit der Organe des Europarats und insbesondere der Menschenrechts-Kommission allein für den F a l l eingeräumt hat, daß ein anderer Vertragsstaat der Konvention die Kommission damit befaßt. Α. A. w o h l Rabl i n „Verfassung u n d Recht i n Übersee" 1973, 219 ff. (227).
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1. Kap.: Realität u. Relativität der Menschenrechte u. Grundfreiheiten
I V . Ergebnisse Als Ergebnis der vorstehenden Ausführungen werden:
kann festgehalten
1. Die Prinzipien „Rechtsstaat" und „Rule of L a w " („Herrschaft des Rechts") sind heutzutage als regulative Ideen noch nicht einmal universell anerkannt. 2. Soweit sie als solche anerkannt sind, gehen sie zwar über den rein formalen Begriff der bloßen Anwendung von Rechtsregeln irgendwelchen Inhalts hinaus 2 4 und müssen diesen oder jenen materiellen und inhaltlichen Merkmalen entsprechen. 3. Über deren Ausmaß und Bedeutung aber besteht eine einheitliche Auffassung selbst innerhalb der zum Europarat gehörenden europäischen Staaten nicht, jedenfalls noch nicht. 4. Die Menschenrechte und Grundfreiheiten beruhen zwar auf der einheitlichen ethischen Grundnorm von der Würde des Individuums, sind aber nur ratione materiae und ratione personae insoweit und dort als rechtsschutzwürdig anerkannt und garantiert, als sie von souveränen Staaten innerhalb oder außerhalb des Rahmens eines völkerrechtlichen Abkommens Gegenstand einer positiven Rechtsordnung geworden sind. 5. Aber auch insoweit sind sie nur i n wenigen Fällen absolut, i n der Regel aber gesellschaftsbezogen, d. h. auf die jeweilige soziale Realität eines jeden nach wie vor als souverän angesehenen Einzelstaates abstimmbar und abgestimmt. 6. Daraus folgt, daß m i t der Unterzeichnung und Ratifizierung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten Bestimmungen zwischen den Vertragsstaaten und nur unter diesen zwar völkerrechtlich i n Geltung gesetzt worden sind. Die Bestimmungen selbst bedürfen aber, auch soweit den Individuen iure conventionis unmittelbar Rechte zuerkannt worden sind, der Transformierung i n innerstaatliches Recht. Dies ergibt sich a) unzweideutig aus A r t . 1 in Verbindung mit Art. 57 und 64 der Konvention; b) aus den verschiedenartigen Abstufungen der i n der Konvention aufgeführten Menschenrechte und Grundfreiheiten; 24 Vgl. V o r w o r t zu dem von der Internationalen Juristen-Kommission herausgegebenen Sammelband: „Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte" (Grundsätze und Definitionen, ausgearbeitet auf Kongressen u n d Konferenzen der I J K 1955 - 1967) Genf 1967.
I V . Ergebnisse
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c) aus dem Umstand, daß ζ. B. i n der Bundesrepublik nach Art. I I des Ratifikationsgesetzes die Konvention ausdrücklich „ m i t Gesetzeskraft" ratifiziert worden ist. 7. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen hat jeder Vertragsstaat einen begrenzten Ermessensspielraum hinsichtlich der Schranken und Grenzen, innerhalb deren i m Geltungsbereich seiner Rechtsordnung die Ausübung von Menschenrechten und Grundfreiheiten gewährleistet ist.
Zweites Kapitel D i e T ü r k e i u n d die Menschenrechte u n d G r u n d f r e i h e i t e n Die Türkische Republik ist ein auf den Menschenrechten und den in der Präambel zum Ausdruck kommenden Grundprinzipien ruhender nationaler, demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. A r t . 2 T ü r k . Verfassung
I. Allgemeines Als Mitgliedstaat der Konvention hatte die Türkei somit eine doppelte Aufgabe: Sie hatte zunächst einmal innerhalb des ihr belassenen Ermessensspielraums die Blankettnormen der Konvention durch innerstaatliche Normen auszufüllen und auf diese Weise eine der internationalen Konvention entsprechende nationale Idealordnung zu schaffen. Zum anderen hatte sie auch alles i n ihrer Macht stehende zu tun und zu veranlassen, daß dieser nationalen Idealordnung entsprochen wird, d. h. daß das gesetzliche Sollen zum rechtlichen Sein, die Idealordnung zur Realordnung erwachsen. Hierbei handelte es sich um höchst komplizierte, ja sogar i n allen ihren Einzelheiten wissenschaftlich nicht faßbare und deshalb auch faktisch nicht voll beeinflußbare „komplexe" Prozesse, die sich i m Sozialleben eines jeden räumlich-zeitlich-personell abgrenzbaren Gesellschaftsintegrats abspielen; Prozesse, die keineswegs einheitlich verlaufen, sondern durch die i n den einzelnen Gesellschaftsintegraten jeweils anzutreffenden unterschiedlichen Lebensbedingungen („Gegebenheiten") immaterieller und materieller A r t determiniert sind 2 5 . II. Drei Stadien des Transformierungsprozesses Die Türkei beging am 29. Oktober 1973 den 50. Jahrestag der Ausrufung der Republik. Betrachtet man die oben erwähnten Transformierungsprozesse historisch, so lassen sich drei Stadien feststellen: 1. Die Türkei ist seit dem 24. Oktober 1945 Mitglied der Vereinten Nationen. Sie hat — i n Übereinstimmung mit Wortlaut und Sinn des 25 Vgl. hierzu meine zahlreichen Veröffentlichungen zum Rezeptionsproblem i n der Türkei, zuletzt i n der i n Anm. 22 angegebenen Festschrift für Wengler, Bd. I, 211 ff u n d das dort zitierte Schrifttum.
I I . Drei Stadien des Transformierungsprozesses
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letzten Absatzes der Präambel — durch Beschluß des Ministerrats vom 6. 4. 194926 die Veröffentlichung einer türkischen Übersetzung der „Universellen Erklärung der Menschenrechte" i m Amtsblatt und die Verbreitung und Erläuterung i n den Schulen und sonstigen Unterrichtsanstalten, i m Hundfunk und in der Presse angeordnet. Sie ist Mitglied des Europarats seit dem 13. 4. 1950 und hat die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und das erste Zusatzprotokoll ratifiziert, jedoch, wie bereits oben erwähnt, die nach Art. 25 und 46 zur Begründung der Zuständigkeit der Kommission für individuelle Beschwerden und zur Unterwerfung unter die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs erforderlichen Erklärungen nicht abgegeben. Die Ratifizierung erfolgte ohne einen nach Art. 64 der Konvention an sich zulässigen Vorbehalt, weil Parlament und Regierung der Auffassung waren, daß zum Zeitpunkt des Ratifikationsgesetzes (10. 3. 1954) i m Bereich des türkischen Rechts kein Gesetz in Geltung stand, das nach seinem Wortlaut mit einer Vorschrift der Konvention nicht i m Einklang stand. Dies erklärt sich daraus, daß bereits die erste Verfassung des Osmanischen Reiches, das Grundgesetz vom 23. 12. 1876, in Art. 8 - 2 6 „Allgemeine Rechte der osmanischen Untertanen" anerkannt hatte und auch die zum Zeitpunkt des Ratifikationsgesetzes geltende Verfassung vom 20. 4.1924 i n ihrem fünften Teil (Art. 68 - 88) „Grundrechte der Türken" ausdrücklich normierte und, soweit ihre Einschränkung unter Gesetzesvorbehalt stand, die diesbezüglichen Gesetze sich damals i m Rahmen der i n der Konvention vorgesehenen Grenzen hielten. Dies gilt insbesondere auch hinsichtlich der absoluten, uneinschränkbaren und selbst i m Ausnahmezustand nicht vorübergehend auf hebbaren Bestimmungen 27 . Allerdings gab es noch keine Verfassungsgerichtsbarkeit. Vielmehr befand über Auslegung, Aufhebung und Außerkraftsetzung von Gesetzen, die als mit der Verfassung unvereinbar angesehen wurden, allein das Parlament durch authentische Interpretation (Art. 26 und 103 der Verfassung von 1924). Inwieweit allerdings den Geboten und Verboten der Verfassung und der Gesetze in praxi entsprochen wurde und inwieweit Verletzungen der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch Beamte erfolgten und von den zuständigen Behörden verfolgt, hingenommen oder stillschweigend geduldet wurden, ist eine andere Frage. Darüber vermittelt die politische Geschichte über den Verfall des Osmanischen Reiches und über die Entstehung und Konsolidierung der Türkischen Republik i m 2β
Türkisches Amtsblatt („Resmî Gazete") Nr. 7217 vom 27. 5.1949. Deutsche Ubersetzung der Verfassungen von 1876 und 1924 i n meinem Buch: „Die Verfassung der Türkischen Republik" (Band 7 der Staatsverfassungen der Welt i n Einzelausgaben), Frankfurt (M) 1966, S. 195 -206; 209219. 27
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2. Kap. : Die T ü r k e i und die Menschenrechte und Grundfreiheiten
Laufe der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dokumentarische Aufschlüsse, auf die an dieser Stelle verwiesen werden kann. 2. Waren die Grundfreiheiten i n der Verfassung von 1924 noch als „natürliche Rechte" für jedermann qualifiziert, also i m Rahmen des übernommenen westlichen Gedankenguts aus der „Naturrechtslehre" begründbar, so atmet die Verfassung vom 9.7.1961 einen anderen Geist, nämlich denjenigen der „Universellen Erklärung der Menschenrechte" von 1948 und der „Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten" von 1950. a) Dies ergibt sich bereits aus Absatz 5 der Präambel, die nach Art. 156 Abs. 1 zum Text der Verfassung gehört und die der Verfassung zu Grunde liegenden Prinzipien klarstellt. Hier heißt es 28 : „von dem Wunsche geleitet, einen demokratischen Rechtsstaat m i t allen seinen rechtlichen u n d sozialen Grundlagen zu errichten, der es ermöglicht, die Menschenrechte und -freiheiten, die nationale Solidarität, die soziale Gerechtigkeit, die persönliche Sicherheit und die Wohlfahrt des einzelnen u n d der Gesamtheit zu verwirklichen und zu sichern ..."
Es handelt sich hierbei nicht bloß um eine Deklamation politischer A r t , sondern um eine rechtlich relevante Grundwertentscheidung, die unmittelbar der Auslegung des Verfassungstextes selbst und mittelbar der übrigen Gesetze dient. Dies w i r d durch A r t . 2 noch ausdrücklich bestätigt, wonach die Türkische Republik „ein auf den Menschenrechten und den i n der Präambel zum Ausdruck kommenden Grundprinzipien ruhender nationaler, demokratischer, laizistischer 29 und sozialer Rechtsstaat" ist. Aus den beiden angeführten Stellen der Verfassung darf aber nicht der Schluß gezogen werden, als ob die Europäische Menschenrechtskonvention in der Türkei sozusagen als self-executing 29a angesehen worden wäre. Vielmehr übt nach A r t . 4 Abs. 2 der Verfassung die Nation die ihr uneingeschränkt und unbedingt zustehende Staatsgewalt m i t tels der zuständigen Organe nach Maßgabe der in der Verfassung festgelegten Grundsätze aus. Damit ist zwar die Bindung dieser Organe für Gesetzgebung, Exekutive und Gerichtsbarkeit auch an die Menschenrechte ausgesprochen, jedoch nur i n dem Umfang und mit dem Inhalt, wie sie als innertürkisches Recht positiviert worden sind. Dies kann einmal in der Weise geschehen, daß der Verfassunggeber selbst 28
Siehe mein i n Anm. 27 angeführtes Buch S. 80 ff. I m Sinne von säkularisiert oder weltlich. Über die rechtliche Bedeutung vgl. Entsch. T ü r k VerfG. 10/1973/52 ff. (66). 29a v g l . zu dieser Frage Bleckmann, Begriff u n d K r i t e r i e n der innerstaatlichen Anwendbarkeit völkerrechtlicher Verträge. Versuch einer allgemeinen Theorie des self-executing treaty auf rechtsvergleichender Grundlage, 1970. 29
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innerhalb der Verfassungsurkunde Menschenrechte und Grundfreiheiten als echte Rechte festlegt, ihren Inhalt und Umfang abgrenzt und garantiert. Dann handelt es sich i n der Hierarchie der Normen um verfassungsrechtliche Vorschriften, die nur durch Verfassungsänderung abgeändert oder aufgehoben werden können. Dies folgt aus der in Art. 8 der türk. Verfassung festgelegten Überordnung und bindenden Kraft der Verfassung für alle staatlichen Organe und für alle Einzelnen. Daneben ist es möglich, daß Menschenrechte und Grundfreiheiten auf Grund eines internationalen Abkommens, das von der Türkei ordnungsmäßig ratifiziert worden ist, durch das Ratifizierungsgesetz nach Art. 65 letzter Absatz der Verfassung „Gesetzeskraft" erhalten. Sie dürfen zwar nicht wie sonstige Gesetze der abstrakten oder konkreten Normenkontrolle durch das Verfassungsgericht unterzogen werden, stehen aber weder über der Verfassung noch neben ihr, sondern unter ihr. Ergeben sich Unstimmigkeiten zwischen einem i n der Verfassung festgelegten und einem i n dem ratifizierten internationalen Abkommen vorgesehenen Grundrecht, so geht die Verfassungsbestimmung vor, selbst wenn dadurch der Staat als Völkerrechtssubjekt gegenüber den Mitgliedsstaaten der Konvention eine Vertragsverletzung beginge. Dies könnte nur durch eine Verfassungsänderung vermieden werden. Auch bei Verschiedenheiten zwischen einer innerstaatlichen Bestimmung und einer Bestimmung der Konvention besteht keine Veranlassung, unter Berufung auf A r t . 2 der Verfassung der Konventionsbestimmung den Vorrang einzuräumen. Solange der innerstaatliche Gesetzgeber das innerstaatliche Gesetz dem ratifizierten internationalen Abkommen noch nicht angepaßt hat, mag er völkerrechtlich zwar den Staat dadurch vertragsbrüchig werden lassen, kann aber innerstaatlich diese Adaptationsarbeit nicht dem Richter zuschieben, der angesichts der verfassungsmäßig festgelegten strengen Gewaltenteilung dazu gar nicht zuständig ist 3 0 . b) Während nach den beiden Verfassungen von 1876 und 1924 die meisten i m Verfassungstext aufgezählten Grund- und Freiheitsrechte dem Gesetzesvorbehalt unterlagen, also nach Inhalt, Ausmaß und Schranken durch einfache Gesetze näher zu bestimmen waren, ist man 1961 einen anderen Weg gegangen. Nach der Begründung war der Verfassungsausschuß der Verfassunggebenden Versammlung der Ansicht, daß eine lediglich i n allgemeinen Formeln gehaltene Aufzählung von Grundrechten, welche die Ausfüllung dieser Formeln dem ordentlichen Gesetzgeber überläßt, zwar einfach sei und praktische Vorteile habe, aber i n Ländern, i n denen Freiheitsrechte und Demokratie keine Tra30
Vgl. hierzu allgemein die i n Anm. 6 angegebene Abhandlung von Seidl Hohenveidern S. 558/559 u n d die dortigen Fußnoten Nr. 17 - 22.
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dition hätten 3 1 , zum Schutz der Grundrechte nicht ausreiche. Vor allem hätten die Erfahrungen i n der Türkei zu einer Meinungsbildung dahin geführt, die Grenzen der Grundrechte unmittelbar i n der Verfassung selbst zu ziehen. Die Gefahren des anderen Systems seien noch i n jedermanns Erinnerung. Deshalb entspreche die Einzelaufzählung aller Grundrechte und die Festlegung ihrer auch von dem ordentlichen Gesetzgeber nicht überschreitbaren Schranken sowohl den Bedürfnissen des Landes als auch den Erfahrungen i n der Vergangenheit, zumal auch in neueren Verfassungen wie denen Italiens und der deutschen Bundesrepublik das gleiche Verfahren befolgt worden sei. Abgesehen davon sei man sich darüber klar geworden, daß die Anerkennung lediglich der klassischen Grundfreiheiten zur Verwirklichung der Wohlfahrt der Gesamtheit nicht ausreiche. Solange menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen nicht gesichert seien, blieben die klassischen Freiheiten der amerikanischen und französischen Menschenrechtsdeklarationen leere Worte. Außerdem würde ein Staat, der tatenlos zusehe, wie Millionen seiner wirtschaftlich schwachen Bürger darbten und nach und nach dahinsiechten, sowohl seine Wirtschaftskraft von Tag zu Tag mehr verlieren, als auch der Gefahr gegenüberstehen, daß sein politisches Regime schweren Erschütterungen ausgesetzt werde. Die verfassungsmäßige Anerkennung „sozialer Rechte" bedeute aber keineswegs, daß man sich dem Sozialismus verschrieben habe. I n allen Ländern, die mit dem Sozialismus nicht das mindeste zu tun hätten, sei der Begriff des „Sozialstaats" anerkannt. Der Ausdruck „soziale Rechte" sei nicht die Frucht einer volkswirtschaftlichen Lehrmeinung, sondern vor allem des Humanismus' und des Gerechtigkeitsgefühls der Menschheit, das logische, ja sogar unausweichliche Ergebnis der Anerkennung der Menschenwürde. c) Die naturrechtliche Doktrin als Legitimierung der Grundrechte i n der Verfassung von 1924 hatte zu zahlreichen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen geführt, ohne daß damit Klarheit und Sicherheit gewonnen worden wären. Deshalb bestimmt Art. 10 Abs. 1 der Verfassung von 1961: I. Wesen und Schutz der Grundrechte
A r t . 10 — Jedermann ist Inhaber höchstpersönlicher, u n verletzbarer, unübertragbarer und unverzichtbarer Grundrechte u n d -freiheiten.
Man hat damit klargestellt, daß es sich um Rechte handelt, die nicht nach dem Gutdünken und Ermessen der jeweiligen politischen Machthaber beseite geschoben werden dürfen. Diese Grundrechte und -freiheiten sind i n der Person ihres Trägers verwurzelt („höchstpersönlich") 31 Siehe zu diesem Gedanken den i n Anm. 17 zitierten Aufsatz von Johannes Gross.
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und deshalb unübertragbar und unverzichtbar. Sie sind unverletzbar i n dem Sinne, daß sie vom ordentlichen Gesetzgeber i m Rahmen der Verfassung zu respektieren sind, widrigenfalls das einschlägige Gesetz vom Verfassungsgericht für nichtig erklärt werden kann (Art. 147 Abs. 1); auch von der Exekutive und von den Verwaltungsbehörden sind sie zu respektieren, widrigenfalls der in seinen Rechten Verletzte den Rechtsweg beschreiten und Schadensersatz verlangen kann (Art. 114); auch für die Gerichte sind sie bindend und erlegen ihnen die Rechtspflicht auf, bei Zweifeln über die Verfassungsmäßigkeit einer von ihnen i m konkreten Fall anzuwendenden Gesetzesbestimmung diese Frage zur Entscheidung dem Verfassungsgericht vorzulegen und bis zu dessen Spruch das Verfahren auszusetzen (Art. 151). d) Die Zahl der i n der Verfassung von 1961 jedermann zuerkannten Grundrechte und -freiheiten geht erheblich über den Katalog der nach der europäischen Konvention und dem ersten Zusatzprotokoll zu garantierenden Grundrechte hinaus: ζ. B. Freizügigkeit, Reise- und Niederlassungsfreiheit, Pressefreiheit, Demonstrationsfreiheit, Recht auf den Wahrheitsbeweis, Arbeits- und Vertragsfreiheit, Recht auf Arbeitsruhe und gerechten Arbeitslohn, Recht auf Gesundheitsfürsorge, Recht auf Eintritt i n den öffentlichen Dienst, Petitionsrecht. Art. 10 Abs. 2 enthält diesbezüglich zwei Verfassungsaufträge: die staatlichen Organe haben alle politischen, wirtschaftlichen und sozialen Hindernisse zu beseitigen, welche die Grundrechte und Freiheiten der Person i n einer mit den Grundsätzen der persönlichen Sicherheit, der sozialen Gerechtigkeit und des Rechtsstaats unvereinbaren Weise beschränken; dieser Auftrag ist, nicht zum wenigsten dank der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, i m Laufe der vergangenen 12 Jahre i m wesentlichen ausgeführt worden. Zum andern hat der Staat die Voraussetzungen zu schaffen, die für die Entwicklung der materiellen und immateriellen Existenz des Menschen erforderlich sind, ein Auftrag, der zwar nur i m Rahmen der wirtschaftlichen Entwicklung und der zur Verfügung stehenden finanziellen M i t t e l zu erfüllen ist, aber den staatlichen Organen zur Pflicht macht, jedenfalls i n diesem Rahmen die gesetzlichen und administrativen Grundlagen zu schaffen. Dieser Auftrag ist bis zur Verfassungsänderung von 1971 nur unzureichend erfüllt worden 3 2 , ein Rückstand, u m dessen Beseitigung sich das Parlament bis zum Ende seiner Legislaturperiode bemüht hat 3 3 . 32 Vgl. hierzu den Ergänzungsband zu meinem i n A n m . 27 angeführten Buch : Verfassungsänderung i n der T ü r k e i (Bd. 7 a der Staatsverfassungen der Welt i n Einzelausgaben), Hamburg 1973; ferner Ali Kazancigil: Die T ü r kei zwischen Demokratie u n d Militärherrschaft, i n Europa-Archiv, Folge 14/1972, zugleich Beilage zu Heft 88 (September 1972) der Mitteilungen der Deutsch-Türkischen Gesellschaft, Bonn.
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e) Aber nicht nur die Zahl der i n der Verfassung anerkannten Grundrechte und -freiheiten geht erheblich über den Katalog der Europäischen Konvention und des ersten Zusatzprotokolles hinaus; auch nach ihrem Inhalt und Umfang überschreiten sie erheblich die „ M i n destgarantie", deren Gewährung die Türkei nach der Europäischen Konvention und dem ersten Zusatzprotokoll völkerrechtlich zugesichert hat. Vor allem waren i n der Verfassung von 1961 die Schranken und Beschränkungen, welche die Konvention ausdrücklich den Vertragsstaaten zugesteht 34 , nur i n einem sehr geringen Maß vorgesehen worden. Als besonders eindrucksvolles Beispiel sei A r t . 11 i n seiner Fassung von 1961 angeführt: I I . K e r n der Grundrechte
A r t . 11 — Die Grundrechte u n d -freiheiten dürfen allein durch Gesetz und nur nach Maßgabe des Wortlautes und Sinnes der Verfassung eingeschränkt werden. E i n Gesetz darf ein K e r n nicht antasten, öffentliche Wohl, die Ordnung, die soziale heit oder aus ähnlichen
Recht oder eine Freiheit i n ihrem selbst nicht im Hinblick auf das allgemeinen Sitten, die öffentliche Gerechtigkeit, die nationale SicherGründen.
Wenn man die von m i r i m Druck hervorgehobenen Stellen mit der oben unter (b) mitgeteilten Begründung des Verfassungsausschusses der Verfassunggebenden Versammlung i n Beziehung setzt, so läßt sich eine Feststellung treffen, die bei Berücksichtigung der allgemeinen und vergleichenden Verfassunggeschichte der Neuzeit fast den A n spruch darauf erheben darf, eine soziale Gesetzmäßigkeit genannt zu werden: Entsteht nach politischen Umwälzungen von einem „Polizeisystem" zu einem freiheitlichen Regime das Bedürfnis nach einer Verfassungsurkunde, welche den neuen freiheitlichen Status quo i m politischen Bereich legitimieren, stabilisieren und garantieren soll, so stehen die „Verfassungsmacher" unter dem Einfluß der selbst- oder miterlebten politischen Vergangenheit und der eigenen, eine schönere Zukunft versprechenden Ideologie. Sie bedenken aber meistens nicht die Risiken und Gefahren, welche die bestgemeinte Verfassungsbestimmung heraufbeschwören kann, wenn sie mißbraucht w i r d und keine ausreichende Vorsorge für die Unterbindung derartiger Mißbräuche getroffen wird. Die „Väter" der Türkischen Verfassung von 196135 hatten zwar die Texte der neueren Verfassungen Italiens und der Bundesrepublik Deutschland vor Augen, erkannten aber die schon damals
33 Sogar das seit 12 Jahren erbittert umkämpfte Landreformgesetz ist noch vor Ablauf der Legislaturperiode anfangs August 1973 verabschiedet worden. 34 Siehe oben Erstes Kapitel, I I I . 35 Siehe hierzu mein i n A n m . 27 zitiertes Buch, S. 43, Fußnote 33.
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deutlich gewordenen Gefahren 36 ebensowenig wie die Ursachen des Untergangs der Weimarer Republik. Obwohl sie davon ausgingen, daß die Türkei zu denjenigen Ländern zu rechnen sei, i n denen Freiheitsrechte und Demokratie noch keine Tradition hätten, waren sie der Überzeugung, daß, wie es i n der Präambel zur Verfassung formuliert worden ist, deren Hauptgarantie i m Herzen und Willen der Bürger liege, so daß man sie „ der wachsamen Obhut ihrer die Freiheit, die Gerechtigkeit und die Tugend liebenden Bürgern" anvertraue. Man übersah dabei die soziologische Grundtatsache, daß es seit jeher und unter jedem Regime Menschen gegeben hat, heute gibt und i n Zukunft geben wird, die neuerungssüchtig („novarum rerum cupidi") sind und i n Gemeinschaft mit Gleichgesinnten auf „SystemVeränderung" hinarbeiten, „natürlich" möglichst „auf dem Boden" oder „ i m Rahmen" der bestehenden Verfassung, was selbst ein Hitler i m sog. Ulmer Reichswehrprozeß 1930 (Jahrb. öff. Rechts Bd. 21, S. 4 ff.) unter Eid beteuerte, um dann ganz „legal" i m Wege der allgemeinen Wahlen die Macht zu erobern. Was er dann mit der Macht anstellte, war die faktische Entmachtung der Verfassung. Bei der oben mitgeteilten Formulierung von A r t . 11 der Verfassung hat man einen anderen, ebenfalls jahrtausendalten Erfahrungs- und Lehrsatz vergessen, daß der Staat die rechtliche Organisationsform eines größeren menschlichen Verbandes ist, dessen Überleben die Garantie für das Überleben seiner Bürger ist. Bei der Formulierung von A r t . 11 Abs. 2 hatte man das überkommene und noch immer gültige Prinzip auf den Kopf gestellt: nicht „salus rei publicae", sondern „libertas singulorum" schien „suprema lex" sein zu sollen. f) Diese geradezu selbstmörderische Preisgabe der existenziellen Belange des Staates als eines geordneten Friedensverbandes von Menschen zu Gunsten der individuellen Freiheiten der einzelnen Bürger enthielt eine Einladung an die fanatischen Extremisten aller Schattierungen, die Grund- und Freiheitsrechte auf Gewissens- und Religionsfreiheit, auf Gedanken- und Pressefreiheit, auf Kommunikations- und Informationsfreiheit, auf Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit i n der Absicht zu mißbrauchen, die Grundrechte und Grundfreiheiten ihrer Mitmenschen abzuschaffen, ihre Ausübung faktisch zu erschweren oder unmöglich zu machen und damit zwar nicht die Republik als Staatsform, aber ihre derzeitigen Wesensmerkmale zu beseitigen. Dies war um so leichter, als, wie bereits mehrfach hervorgehoben, die Türkei zu denjenigen Ländern gehörte, i n denen Freiheitsrechte und Demokratie 36 Das deutsche Bundesverfassungsgericht spricht bereits schon i n Bd. 5 S. 200 seiner amtlichen Entscheidungssammlung davon, daß eine freiheitliche demokratische Verfassung wegen ihrer Offenheit u n d ihrer mannigfachen Gewährleistungen u n d Freiheiten auch eine gefährdete Ordnung sei.
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i n der Bevölkerung noch keine Tradition hatten. Zwar trug bereits das Verfassungsgesetz von 1924 die Tünche von Grund- und Freiheitsrechten und demokratischen Institutionen zur Schau. Der meist schrankenlose Gesetzesvorbehalt für die Grund- und Freiheitsrechte und der Mißbrauch politischer Macht zunächst durch eine Einheitspartei bis zu den ersten allgemeinen, unmittelbaren und geheimen Wahlen von 1950 und alsdann durch die Mehrheitspartei seit Mitte der fünfziger Jahre bis zum Staatsstreich von 1960 hatten weder bei der Beamtenschaft noch bei der Bevölkerung den psychischen Boden vorbereitet, auf dem allein die Sollenssätze der Verfassung und der Gesetze sich i n die Realität des sozialen Lebens umsetzen lassen. Bei der Primitivität eines großen Teils der Bevölkerung, die trotz allgemeiner Schulpflicht noch immer zu mindestens 60 % aus Analphabeten besteht und i n ihrem Denken und Fühlen durch die islamische Religion fixiert ist, verlangt die geistige und psychische Umstellung der Nation auf das „liberale" westliche Gedankengut 37 außergewöhnliche Anstrengungen während eines Zeitraums von mindestens zwei Generationen. Die wichtigste Aufgabe mußte darin bestehen, alle Menschen, die zwecks Ingangsetzung und Betrieb des staatlichen Apparates kommandierende oder ausführende, kontrollierende oder gehorchende Funktionen zu erfüllen haben, i n einer Weise zu erziehen, zu unterrichten, auszubilden und zu schulen, daß sie nicht nur technisch und sachlich Bescheid wissen, sondern, worauf es vor allem ankommt, auch willensmäßig stark genug und gefühlsmäßig geneigt sind, den Apparat ordnungsmäßig so arbeiten zu lassen und zu bedienen, wie Verfassung und Gesetz es erwarten. Es handelte sich also um geeignete Maßnahmen zur „Internalisierung" alles dessen, was zu den anerkannten Attributen des Rechtsstaats gehört. Verfassungskonforme, d. h. auf den reibungslosen Ablauf des Soziallebens i m Sinne der Menschenrechte und Grundfreiheiten und des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats gerichtete Schulung und ein entsprechendes Ethos eines jeden einzelnen Menschen sind die einzig wirklichen, weil wirksamen Garantien dafür, daß die rechtliche Grundlage des Rechtsstaats den höchstmöglichen Grad der Effektivität errreicht. 3. Bedenkt man, wie es damit i n der westlichen Welt bestellt ist, so sollte eine vorurteilsfreie, am „Objektivitätspostulat" ausgerichtete Betrachtungsweise und Information die Anstrengungen und Ergebnisse 37 „Die liberalen' Gesellschaften des Westens verkünden als Grundlagen ihrer Moral nach außen immer noch eine abstoßende Mischung aus jüdischchristlicher Religiosität, wissenschaftlicher' Forischrittsgläubigkeit, »natürlichen 4 Menschenrechten u n d utilitaristischem Pragmatismus . . J a c q u e s Monod: Zufall u n d Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie. Aus dem Französischen übersetzt von Friedrich Griese, 3. Aufl. München 1971, S. 209.
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honorieren, die diesbezüglich i n der Türkei i m Laufe einer relativ kurzen Zeitspanne gemacht worden sind; wie kann man erwarten, daß alle Polizisten und alle für die innere Sicherung des Landes verantwortlichen Beamte die Methoden des erst vor einem Jahrzehnt gestürzten Polizeistaates vergessen und abgetan haben! Die Transformation der Bestimmungen der europäischen Menschenrechtskonvention i n die Form einer Verfassung, der Prinzipien des Verfassungsrechts i n die Form von Gesetzen war zwar eine politisch bedeutsame, aber für Juristen und geschulte Ministerialbeamte relativ einfache Aufgabe. Die eigentliche Schwierigkeit bestand und besteht i n der Transformation des Gesetzesrechts i n die alltägliche Gerichts-, Polizei- und Verwaltungspraxis und durch diese i n die Rechtswirklichkeit des sozialen Lebens, damit die Prinzipien „Rechtsstaat" und „Herrschaft des Rechts", empirisch nachweisbar, sich zu einer gesellschaftlichen Realität verdichten und verfestigen können. Bereits i n meinem 1966 erschienenen Buch über die Verfassung der Türkischen Republik 2 7 hatte ich auf die meta juristischen Gefahren für die verfassungsmäßige Ordnung aufmerksam gemacht und bei dieser Gelegenheit eindringlich auf das geistig-kulturelle Niveau, auf die Gefahren der Industrialisierung und Intellektualisierung, auf die Einbruchstellen der Verfassung für Sozialrevolutionäre Ideologien und auf die Demagogie i m politischen Leben deutlich hingewiesen. Was ich damals habe kommen sehen — auch wenn man m i r die Nichtberücksichtigung des gesellschaftlichen Kontextes zum V o r w u r f gemacht h a t 3 8 —, ist eingetroffen. Die Säumnis von Parlament und Regierung i n der Erfüllung des Verfassungsauftrags zur Verbesserung der Lebensbedingungen einerseits, der vom Verfassunggeber 1961 nicht bedachte und nicht vorausgesehene Mißbrauch der Grundrechte zur Verfolgung extremistischer Ziele durch fanatisierte Gruppen und Terrorbanden andererseits zeigten sich i n sozialen Unruhen, revolutionären Bewegungen m i t anarchistischen u n d terroristischen A k t i o n e n 3 9 und schließlich i n einem Memorandum der militärischen Führung an das Parlament. Dieses Memorandum vom 12. 3. 197140, von den Drahtziehern, 38 Bassam Tibi: Die Verfassungsänderung i n der Türkei und ihr gesellschaftlicher Kontext. Eine K r i t i k an Ernst E. Hirsch, i n Verfassung und Recht i n Übersee 1972, 447 ff. (449); dagegen Kurt Rabl: Nochmals: Die türkische Verfassungsreform von 1971, Verfassung und Recht i n Übersee 1973, 219 ff. 39 Siehe die Schilderung darüber i n Roth - Heinrich: Partner T ü r k e i oder Foltern für die Freiheit des Westens? Hamburg 1973 (rororo aktuell) S. 74 90. 40 U m die rechtliche Seite dieses Memorandums beurteilen zu können, muß man die Stellung der Streitkräfte und ihrer Führung i m Rahmen der Verfassung berücksichtigen. Die entsprechenden Bestimmungen i n den Verfassungsartikeln 110 und 111 stehen i m Abschnitt über die Exekutive i n sach-
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Akteuren und Sympathisanten der revolutionären Bewegung als „ M i l i tärputsch" ausgegeben, hatte zur Folge, daß die auf die Mehrheitspartei i m Abgeordnetenhaus sich stützende Regierung, die für die katastrophalen Zustände verantwortlich gemacht wurde, zurücktrat und einem überparteilichen Kabinett Platz machte, das zur Hälfte aus licher Verbindung m i t dem Ministerrat: Dieser ist gegenüber dem Parlament verantwortlich für die Gewährleistung der nationalen Sicherheit. Der Generalstabschef ist wegen seiner i m Heeresdienstgesetz geregelten Amtspflichten und Befugnisse dem Ministerpräsidenten gegenüber verantwortlich. Die „Nahtstelle" zwischen Ministerrat u n d Führung der Streitkräfte bildet der „Nationale Sicherheitsrat", der unter dem Vorsitz des Präsidenten der Repub l i k aus dem Ministerpräsidenten, einigen gesetzlich bestimmten Ministern u n d der Führungsspitze der Streitkräfte besteht. Nach der zur Zeit des Memorandums geltenden Fassung von A r t . 111 Abs. 3 „hat der Nationale Sicherheitsrat seine Grundansichten dem Ministerrat mitzuteilen, u m diesen bei den Entscheidungen über die nationale Sicherheit zu unterstützen". Das unten i n deutscher Ubersetzung wiedergegebene Memorandum der vier militärischen Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrates hatte zum Adressaten das Präsidium des Abgeordnetenhauses, d. h. derjenigen der beiden Gesetzgebenden Körperschaften, auf deren Vertrauen der Ministerrat f ü r seine Amtsführung angewiesen ist. Wenn der Ministerpräsident nicht bereit war, die ernsten Besorgnisse der militärischen Führung hinsichtlich der nationalen Sicherheit entgegen zu nehmen und sie dem Ministerrat u n d dem Parlament zur Kenntnis zu bringen, so blieb, wenn A r t . 110 u n d 111 der Verfassung nicht leer laufen sollten, der nach dem Heeresdienstgesetz verantwortlichen Führungsspitze der Streitkräfte kein anderer Weg, u m ihre Besorgnis über die gefährdete Lage der Nation u n d über die nach ihrer Meinung erforderlichen Maßnahmen unmittelbar an das Parlament als den Repräsentanten der Nation heranzutragen. Es handelte sich i n Wahrheit u m eine A r t Ausübung des jedem Staatsangehörigen nach Verfassungsartikel 62 zustehenden Petitionsrechts, sich einzeln oder gemeinschaftlich m i t Wünschen u n d Beschwerden, welche das öffentliche Leben betreffen, an das Parlament zu wenden. Es ist infolgedessen unsinnig, das höchst demokratische Verhalten der hohen Generalität als gesetz- und verfassungswidrig zu brandmarken. Das Memorandum lautet i n deutscher Ubersetzung : „1. Parlament u n d Regierung haben m i t ihrer Untätigkeit bei der E r f ü l lung ihrer Aufgaben u n d bei dem Treffen von Maßnahmen unser L a n d i n Anarchie, Bruderzwist u n d soziale u n d wirtschaftliche Unruhe gestürzt, die Hoffnung auf das Erreichen des uns von A t a t ü r k gewiesenen Ziels einer zeitgenössischen Zivilisationshöhe i n der Volksmeinung zerstört u n d die i n der Verfassung vorgesehenen Reformen nicht durchführen können. H i e r durch ist die Z u k u n f t der Türkischen Republik auf das schwerste gefährdet. 2. U m das angesichts dieser kritischen Lage i n der türkischen Nation und ihren Streitkräften aufgekommene Gefühl der Bitterkeit und Hoffnungslosigkeit zu vertreiben, w i r d es für unvermeidlich gehalten, i m Rahmen der demokratischen Regeln eine starke u n d glaubwürdige Regierung zu bilden, die die anarchischen Zustände durch Maßnahmen beseitigt, welche unter einem überparteilichen Gesichtswinkel von den Gesetzgebenden Körperschaften näher zu bestimmen sind, sowie die i n der Verfassung vorgesehenen Reformen i m Geiste A t a t ü r k s anpackt und die Revolutionsgesetze anwendet. 3. K a n n diese Angelegenheit nicht rasch erledigt werden, so sind die t ü r kischen Streitkräfte entschlossen, ihre ihnen durch die Gesetze zugewiesene Pflicht des Schutzes u n d Bestandes der Türkischen Republik zu erfüllen und die Führung der Staatsangelegenheiten selbst zu übernehmen."
I I I . Die „informationelle" Vergiftung
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Parlamentariern aller größeren Parteien, zur Hälfte aus Fachleuten („Technokraten") bestand. Dieses Kabinett sah sich durch die noch immer fortgesetzten terroristischen Akte veranlaßt, am 26. 4.1971, also anderthalb Monate nach dem „Memorandum", über 11 von 67 Provinzen den Ausnahmezustand zu verhängen, der entsprechend Art. 124 der Verfassung von beiden Häusern des Parlaments gebilligt und i n der Folge zunächst von Monat zu Monat und, nach der Verfassungsänderung von 1971, von zwei Monaten zu zwei Monaten verlängert, dann aber nach und nach i n einigen der betroffenen Provinzen und schließlich i m September 1973 völlig aufgehoben worden ist. Die Dauer des Ausnahmezustands erklärt sich daraus, daß nach der Auffassung der Regierung, der sich dann auch das Parlament mit einer höheren als der in der Verfassung geforderten Zwei-Drittel-Mehrheit anschloß, eine Einkehr normaler Verhältnisse nur dann möglich und eine erneute Revolte extremistischer Elemente nur dann zu verhindern waren, wenn einerseits dem Mißbrauch der Grundrechte und -freiheiten zum Zwecke des Umsturzes der i n K r a f t befindlichen freiheitlichen demokratischen Verfassung durch entsprechende Änderungen und Ergänzungen der Verfassung ein Riegel vorgeschoben, andererseits alle diejenigen Maßnahmen verfassungsrechtlich festgelegt würden, welche eine Landreform und andere wirtschaftliche Maßnahmen ermöglichen. I I I . Die „informationelle" Vergiftung Die Durchführung des Ausnahmezustandes und die am 20. 9.1971 verabschiedeten Verfassungsänderungen boten ihrerseits Anlaß zu einer „informationellen Vergiftung". Diese wurde einerseits von den Massenmedien der „freien Welt", insbesondere der politisch links eingestellten Presse m i t Unterstützung der „liberalen" und sozialistischen politischen Kräfte i n den westlichen Ländern, andererseits von den oben genannten nicht-staatlichen Organisationen betrieben und führte schließlich sogar zu dem ebenfalls oben bereits erwähnten Resolutionsentwurf i n der Beratenden Versammlung des Europarats. Diese „informationelle Vergiftung" war nur möglich, weil weder die „verantwortlichen" Redakteure, Moderatoren, Berichterstatter der Massenmedien noch die „Manager" der oben genannten Organisationen die ihnen zugespielten oder zugänglich gemachten Informationen auf ihre Übereinstimmung m i t der Wirklichkeit und vor allem i n ihrem Verhältnis zu dem Verfassungstext und der Verfassungswirklichkeit in der Türkei nachprüften, obwohl für beides ausreichendes Material jedenfalls in deutscher Sprache vorlag. 1. Was diese Fehlinformationen i n der Vorstellung jener, welche sich an deren Verbreitung guten Glaubens beteiligten, rechtfertigte, war ein falsches Denkmodell, nämlich das der griechischen Obristen. „ I n unse-
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2. Kap. : Die T ü r k e i und die Menschenrechte u n d Grundfreiheiten
rer Zeit kommt die Lüge ja meist nicht mehr als Negation der Wahrheit, sondern als falsches Denkmodell" 4 1 . Zu diesem Ergebnis kommt auch Harald Voeke 42 „Manche Vorstellungen und Denkschemen, deren man sich zur Interpretation der türkischen Zustände i n den letzten zwei Jahren i n Westeuropa bediente, sind seit den türkischen Präsidentenwahlen vom A p r i l hinfällig geworden. Ein Militärregime, eine Diktatur ist die türkische Regierung auch seit der i m März 1971 von den Generalen erzwungenen Entmachtung des Führers der parlamentarischen M e h r h e i t . . . niemals gewesen". Die Ursache für falsche Denkmodelle ist einmal die auf mangelndem Verantwortungsbewußtsein beruhende Ungenauigkeit, mit der die realen Sachverhalte i n das Denkmodell hineinprojiziert werden. Vor allem aber sind Denkmodelle, worauf Steinbuch a.a.O. m i t Recht hinweist, oft durch bestimmte Interessenlagen fixiert und hängen i m Ergebnis ausschließlich von den Sympathien und Antipathien des Beobachters zu seinem Objekt ab. Entspringen diese Sympathien und A n t i pathien fixierten politisch-ideologischen Dogmen und Überzeugungen, wie ζ. B. bei den Unterzeichnern des Resolutionsentwurfes i n der Beratenden Versammlung des Europarates 43 , so ist es nicht verwunderlich, wenn ein auf den Menschenrechten beruhender demokratischer Rechtsstaat, der sich einer diese Grundlagen i n Frage stellenden revolutionären Bewegung m i t Hilfe des Ausnahmezustandes zu erwehren sucht, von den angeblich für die repräsentative parlamentarische Demokratie und die Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten eintretenden Massenmedien und Organisationen als Militärregime disqualifiziert wird, das angeblich das frei gewählte Parlament ausgeschaltet habe und die Menschenrechte und Grundfreiheiten mit Füßen trete. Wenn dies, wie ich anmerkte, auch nicht verwunderlich ist angesichts der von Steinbuch mit Recht gegeißelten Unmoral und Leichtfertigkeit großer Teile unserer Publizistik, so muß es doch einmal ausgesprochen und publiziert werden, auch wenn ich auf Grund einer 50jährigen Erfahrung weiß, daß es „gegen die materielle Vergiftung scharfe Kontrollen gibt, gegen die informationelle Vergiftung aber praktisch keine" 4 4 . 2. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel einer von der „Ethik der Erkenntnis" 4 5 nicht berührten Informationsfreiheit bietet die „Unter41 42 43 44 45
Steinbuch i n dem i n Anm. 2 zitierten Werk S. 18. „ I m Herbst zu Fuß über den Bosporus" i n F A Z v o m 3. 7.1973. Siehe Kurt Rabl i n seinem i n Anm. 38 zitierten Aufsatz S. 227. Karl Steinbuch i n dem i n A n m . 2 zitierten Werk S. 89. I m Sinne von Jacque Monod i n dem i n Anm. 37 zitierten Werk, S. 211 ff.,
215 ff.
I I I . Die „informationelle" Vergiftung
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richtung der juristisch interessierten Weltöffentlichkeit" durch das Generalsekretariat der Internationalen Juristen-Kommission und seinen „Gerichtsbeobachter" über die Geschehnisse i n der Türkei aus Anlaß des dortigen Ausnahmezustandes. A. I n der vom Generalsekretariat herausgegebenen Zeitschrift „The Review" Nr. 9, S. 16/17 erschien ein nicht gezeichneter A r t i k e l m i t der Überschrift „ M i l i t a r y Justice i n Turkey". Der Inhalt dieses Artikels war ζ. T. irreführend, ζ. T. einseitig tendenziös. Einige Beispiele mögen dies erhärten: a) Der ursprüngliche Text von A r t . 11 der türkischen Verfassung von 1961 wurde i n englischer Übersetzung wiedergegeben. Ohne eine englische Übersetzung der Neufassung von 1971 gegenüberzustellen, wurde behauptet: „the spirit of the Constitution so proudly set out i n A r t . 11 is dead .. . T r u l y democratic rights have been abrogated . . . " Beide Behauptungen sind objektiv falsch. Durch die Verfassungsänderung ist kein einziges der demokratischen Rechte auch nur i n seinem K e r n angetastet, geschweige denn aufgehoben oder beseitigt worden. Was Juristen normalerweise unter dem „Geist" der Verfassung verstehen, ist w o h l kaum der Mißbrauch der Grund- und Freiheitsrechte zur Beseitigung des freiheitlich demokratischen Rechtsstaats. Da zur Erscheinungszeit der oben genannten Zeitschriftennummer (Jahreswechsel 1972/73) die fragliche Verfassungsänderung i n deutscher Übersetzung i n der w o h l auch i n Genf vorhandenen Zeitschrift „Verfassung und Recht i n Übersee" bereits i m 2. Vierteljahrsheft 1972 (S. 195 - 216) sowie mein Vortrag vom 23. November 1971 vor der Deutsch-Türkischen Gesellschaft i n deren „Mitteilungen" (Heft 87, A p r i l 1972) i m Druck vorlagen, war der von den Anhängern und Sympathisanten der türkischen „Volksbefreiungsfront" inszenierten Agitation der Boden entzogen 46 . I n einem für die juristisch interessierte Weltöffentlichkeit bestimmten A r t i k e l des Generalsekretärs einer internationalen Juristen-Kommission, die unter der Devise „For the Rule of L a w " zu arbeiten vorgibt, hätte man zum mindesten, wenn man schon keine Kenntnis meiner oben genannten Publikationen hatte, den neuen Text von A r t . 11 Abs. 1 und 2 der Verfassung dem alten Text gegenüberstellen müssen, u m jedem Juristen die Möglichkeit zu geben, sich selbst ein U r t e i l zu b i l 46 Der Ausdruck Agitation ist keineswegs übertrieben. Ich verweise auf die Verfälschungen und Verdrehungen der Verfassungsbestimmungen und meiner kurzen Einführung zur deutschen Übersetzung in der Zeitschrift „Verfassung und Recht in Übersee" 1972, 447 und die Zurückweisung dieser A r t „wissenschaftlicher" Berichterstattung durch Kurt Rabl in derselben Zeitschrift 1973, 219 ff.; auf die allein auf verfälschten Übersetzungen beruhenden schwerwiegenden Angriffe gegen die Türkei sowohl i n der Beratenden Versammlung des Europarates als auch in den Verlautbarungen der Internationalen Juristen-Kommission.
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2. Kap. : Die T ü r k e i u n d die Menschenrechte und Grundfreiheiten
den. Auf meinen Protestbrief wurde mir von dem Generalsekretär der Internationalen Juristen-Kommission u.a. geantwortet: „ I n any event, i t seems to us undeniable that the amendments to A r t . 11 of the Constitution completely alter its spirits and effect. We do not accept that these amendments were made in a completely lawful and irréprochable manner. A parliament which is acting under the threats contained in the illegal and unconstitutional declaration by the Chief of the General Staff and the Commanders of the Armed Forces on 12 March, 1971, is not a free parliament 4 7 ." Der Generalsekretär einer internationalen Juristen-Kommission hat noch nicht einmal versucht, mit stichhaltigen Argumenten die etwaige Fehlerhaftigkeit meiner Übersetzung oder die Unrichtigkeit meiner diesbezüglichen Ausführungen substantiiert aufzuzählen und nachzuweisen. Statt dessen hat er i n Unkenntnis der i n völliger Offenheit, Freiheit und Öffentlichkeit geführten Beratungen des türkischen Parlaments über die Verfassungsänderungen 48 und i n Verkennung des weder gesetzwidrigen noch verfassungswidrigen Memorandums 40 der m i l i tärischen Mitglieder des i n der Verfassung institutionalisierten „Nationalen Sicherheitsrates" eine Behauptung aufgestellt, die, wenn man sie ernst nehmen müßte, zu der Einsicht führte, daß es nirgends und niemals ein „freies" Parlament gegeben hat und gibt; denn wenn man auch den berühmten Vortrag von Ferdinand Lassalle über „Verfassung" nicht kennt, so sollte man doch auch als Jurist wissen, daß es i n jedem Staat außerparlamentarische Machtgruppen gibt, die i n der Lage sind, die Entschließungsfreiheit des Parlaments zu beeinträchtigen. Ob dies die Streitkräfte oder die Gewerkschaften, die Lobby der Interessenten oder die Journalistenverbände sind, ändert an dieser Faktizität und dem hierdurch hervorgerufenen Spannungsverhältnis zwischen Verfassungswirklichkeit und Verfassungsurkunde gar nichts. Wer die Verhältnisse i n der Türkei kennt und sich der kläglichen Haltung zahlreicher Parlamente i n Westeuropa gegenüber massivem außerparlamentarischen Druck erinnert, kann nur den M u t bewundern, mit dem das türkische Parlament seine Würde gewahrt und der hohen Generalität anläßlich der Wahl eines neuen Präsidenten der Republik eine politische Ohrfeige gegeben hat, die ihresgleichen i n der Geschichte sucht 49 . b) I n dem A r t i k e l w i r d der Ausdruck „the declaration of martial l a w " gebraucht. A u f meinen Hinweis, daß dieser Ausdruck falsch sei, 47
Siehe deutsche Übersetzung des Memorandums i n Anm. 40. Vgl. die Parlamentsprotokolle: M i l l e t M e d i s i Tutanak Dergisi, Dönem 3, Toplanti 2, Cilt 17, Sayfa 323 ff., 426 ff., 705 ff.; Cumhuriyet Senatosu Tutanak Dergisi, Toplanti 10, Cilt 67, Sayfa 225 ff., 325 ff., 461 ff., 581 ff. 49 Ebenso Vocke i n seinem i n Anm. 42 zitierten Aufsatz. 48
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weil i n Art. 124 der türkischen Verfassung ein sehr deutlicher Unterschied zwischen „Ausnahmezustand" und „Kriegszustand" gemacht werde — was sogar i n der Überschrift des Artikels zum Ausdruck kommt — bekam ich zur Antwort, „martial law" sei der korrekte englische Terminus für „état de siège". Abgesehen davon, daß die türkische Verfassung i n türkischer Sprache und nicht französisch abgefaßt ist, scheint es m i r immerhin für den Generalsekretär einer internationalen Juristen-Kommission erstaunlich zu sein, daß er den Unterschied nicht zu kennen scheint zwischen „martial law" einerseits, das nur i m Kriegsfalle außerhalb des Vereinigten Königreichs durch den zuständigen Militärbefehlshaber verhängt werden kann, und „emergency power" (state of emergency) andererseits, was der König durch Order i n Council i n bestimmten Einzelfällen auf einen Monat (mit Verlängerungsmöglichkeit) und mit Genehmigung des Parlaments anordnen kann. Genau diese Unterscheidung liegt dem A r t . 124 der türkischen Verfassung zu Grunde, so daß die Bezeichnung „martial l a w " für den mit Beschlüssen des Parlaments bestätigten und verlängerten Ausnahmezustand nicht nur falsch, sondern vor allem für eine juristische Weltöffentlichkeit irreführend ist. Daß auch deutschsprachige Zeitungen und Zeitschriften vom „Kriegsrecht in der Türkei" berichten und eine offiziöse englische Übersetzung fehlerhaft ist, sollte einen Generalsekretär einer Juristen-Kommission nicht daran hindern, sich von einem sprach- und sachkundigen Juristen belehren zu lassen. B. Unter dem 14.2.1972 verbreitete die Internationale JuristenKommission eine Presse-Information mit der Überschrift „Die Prozesse vor dem Militärgericht in der Türkei für verfassungswidrig erklärt". a) Bereits diese Überschrift war falsch. Nicht die Prozesse waren für verfassungswidrig erklärt worden, sondern einige prozessuale Bestimmungen i n dem Gesetz Nr. 1402 über den Ausnahmezustand. Der diesbezügliche A r t i k e l 15 trat erst am 14. 4.1973 aufgrund ausdrücklicher Festsetzung des Verfassungsgerichts außer Kraft, um dem Parlament die zur Ausfüllung der entstehenden Lücke erforderliche Zeit zu lassen. Eine Rückwirkung der Nichtigkeitserklärung war so wie so durch Art. 152 Abs. 3 der Verfassung ausgeschlossen. Somit waren die fraglichen Prozesse jedenfalls bis zum 14. A p r i l 1973 (also noch zwei Monate über den Tag der Presse-Information hinaus!) auf Grund eines i n j u r i stischer Geltung stehenden Gesetzes anhängig gemacht und durchgeführt worden und durften noch zwei Monate länger weitergeführt werden, konnten also gar nicht „für verfassungswidrig erklärt" werden. b) I n der Presse-Information wurde gesagt, die fragliche Gesetzesbestimmung sei aus einem doppelten Grunde für nichtig erklärt wor-
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den, weil das Verfassungsprinzip des „Gesetzlichen Richters" und das Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen verletzt seien. Beides war falsch: aa) Eine „bewegliche" Zuständigkeitsregelung verstößt weder gegen das Prinzip des „gesetzlichen Richters" i m Sinne der Rechtsstaatlichkeit, was ζ. B. vom deutschen Bundesverfassungsgericht klargestellt worden ist 5 0 , noch gegen das Prinzip „Rule of Law", weil, wie oben erwähnt 8 , dem angelsächischen Recht der Begriff des „gesetzlichen Richters" fremd ist. Aber davon abgesehen ist dieser Teil der Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts sowohl nach türkischem Verfassungsrecht als auch nach der Europäischen Menschenrechtskonvention unrichtig und unhaltbar: Die türkischen Verfassungsrichter haben übersehen, daß es sich u m eine keineswegs verfassungswidrige „bewegliche" Zuständigkeitsregelung gehandelt hat. Die Menschenrechtskonvention kennt nicht den „gesetzlichen" Richter. Die türkische Regelung entspricht den Anforderungen i n Art. 5 Abs. 1 lit. c und A r t . 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (was unten i m Vierten Kapitel näher ausgeführt wird). bb) Die fragliche für nichtig erklärte Gesetzesbestimmung verstößt auch nicht gegen das Verbot der Rückwirkung von Strafänderungsgesetzen. Dieser Meinung war nur eine Minderheit der Verfassungsrichter, während andere Verfassungsrichter andere Nichtigkeitsgründe annahmen. Aber auch diese waren nicht stichhaltig. Die i m abstrakten Normenkontrollverfahren für nichtig erklärte Vorschrift stand zwar i n einem „neuen" Gesetz, war aber identisch mit der entsprechenden Vorschrift eines Gesetzes aus dem Jahre 1940, an dessen Stelle das „neue" Gesetz getreten war. c) I n der Presse-Information war ferner behauptet worden, zahlreiche Personen seien wegen Handlungen angeklagt und verurteilt worden, die vor der Erklärung des Ausnahmezustandes begangen worden seien. Diese Behauptung ist zwar richtig, bedeutet aber nicht, daß diese Verfahren oder Entscheidungen gesetzeswidrig, verfassungswidrig oder ganz allgemein unrechtmäßig (als Verstoß gegen „the Rule of Law") gewesen sind. Die i n dem für nichtig erklärten A r t i k e l zum Zwecke der „beweglichen" Zuständigkeitsregelung aufgezählten Straftaten sind als materielle Straftatbestände ausnahmslos i n zeitlich lange vorher verkündeten anderen Gesetzen, insbesondere dem türkischen Strafgesetzbuch, Militärstrafgesetzbuch und einigen strafrechtlichen Nebengesetzen mit ihren Tatbestandsmerkmalen normiert worden. Der für nichtig erklärte A r t i k e l enthält keinen einzigen, in anderen früheren Gesetzen noch nicht formulierten neuen Straftatbestand oder des50
BVerfGE 9, 230.
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sen Verschärfung. Dies hat auch keiner der 15 türkischen Verfassungsrichter i n der Entscheidung und den abweichenden Voten zum Ausdruck gebracht. d) I m letzten Absatz ihrer Presse-Information verlangt die Internationale Juristen-Kommission von der türkischen Regierung dringend, ein Wiederaufnahmeverfahren für alle Sachen einzuführen, welche auf Grund der für nichtig erklärten gesetzlichen Bestimmungen verurteilt worden seien. Eine derartige Forderung entbehrt, wie oben gezeigt, jeder rechtlichen Grundlage. Ihre Erfüllung wäre ein klarer Verstoß gegen Wortlaut und Sinn von A r t . 152 Abs. 3 der türkischen Verfassung. e) Aus den unter (a) bis (d) aufgeführten Beispielen ergibt sich, daß der Generalsekretär der Internationalen Juristen-Kommission den türkischen Text der sehr umfangreichen und gemeinsam mit den abweichenden Voten veröffentlichten Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts weder i m Original noch i n einer für ihn verständlichen Übersetzung gekannt, sondern sich auf Informationen und Quellen verlassen hat, die an der falschen Informierung der juristisch interessierten Weltöffentlichkeit ein persönliches oder politisches Interesse hatten. Mag man einer Organisation wie Amnesty International, die sich um politisch Verfolgte bemüht und keinen Anspruch darauf erhebt, die „juristisch interessierte Weltöffentlichkeit zu informieren", ein Verhalten wie das oben geschilderte nachsehen: einer unter der Devise „For the Rule of L a w " segelnden Internationalen Juristen-Kommission kann man diese „informationelle Vergiftung" der Weltöffentlichkeit nicht hingehen lassen. C. Unter dem 21.3. 1973 verbreitete die Internationale JuristenKommission eine weitere „Presse-Information" unter dem Titel: „Die Türkei und die Herrschaft des Rechts". Gestützt auf einen der PresseInformation i n extenso beigefügten Bericht von Peter Noll, ord. Professor des Strafrechts an der Universität Zürich, wurden einige seiner Eindrücke als von Amnesty International und Internationaler JuristenKommission entsandter „Prozeßbeobachter" hervorgehoben und einige Folgerungen über die allgemeine rechtliche Situation i n der Türkei gezogen. a) Was zu den Eindrücken, Meinungen und Wertungen von Peter Noll sowohl i n seinem Bericht für die genannten Organisationen als auch i n einem i n der Neuen Zürcher Zeitung erschienenen A r t i k e l „Der Ausnahmezustand i n der Türkei" juristisch zu sagen ist, kann i n dem oben zitierten 3 8 Aufsatz von Kurt Rabl nachgelesen werden. b) Man ersetze i n dem folgenden Zitat aus einem i n der Monatszeitschrift M E R I A N (Augustheft 1973, S. 82 ff.) erschienenen A r t i k e l von
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2. Kap. : Die T ü r k e i und die Menschenrechte und Grundfreiheiten
Wolf gang Pfeiffer das Wort „Griechenland" durch „Türkei". Damit sind Peter Noll und sein Bericht politisch hinreichend charakterisiert: „Eine M e r k w ü r d i g k e i t der letzten Jahre: Griechenland ist für die Deutschen ein innenpolitisches Thema geworden. Das Griechenlandbild w i r d i n der Öffentlichkeit überwiegend von Leuten bestimmt, die von dem Land selbst wenig wissen, eine Ideologie verkünden, ihrem eignen V o r t e i l nachgehen, unter dem heutigen Regime gelitten haben, die Welt besser machen wollen, f ü r die Freiheit eintreten. Die I n n e n p o l i t i k eines fremden Landes ist leicht zu preisen oder zu k r i t i sieren: die sozialen Zusammenhänge, die gewachsene Struktur, das Wesen der Menschen, die A r t , wie sie sich auf die Schulter klopfen oder ans Schienbein treten, u n d v i e l anderes mehr. Wer ein V o l k beurteilen w i l l , muß seine Spielregeln kennen. Die griechischen Spielregeln sind seit Jahrhunderten anders als die mitteleuropäischen . . . Der Besucher Griechenlands kommt m i t festen Vorstellungen über die politische Situation i n das L a n d und — gleichgültig ob pro, ob contra — i n den wenigsten Fällen ist er bereit, eine vorgefaßte Meinung zu ä n d e r n . .
D. I n der Juniausgabe 1973 der oben genannten Zeitschrift The Review Nr. 10 erschien auf S. 37 - 5 6 ein wiederum nicht unterzeichneter A r t i k e l als „shortened version" einer vom Mitarbeiterstab der Internationalen Juristenkommission erstellten Untersuchung unter dem Titel „The Rule of L a w i n Turkey and the European Convention on Human Rights". Dieser A r t i k e l unterscheidet sich von den unter Α, Β und C kritisch beleuchteten „Informationen" dadurch, daß i n substantiierter Weise angegeben wird, welche A r t i k e l der genannten Konvention durch welche Verfassungs- oder Gesetzesänderungen während der letzten zwei Jahre i n der Türkei angeblich verletzt worden sind. I n einer zeitlich geordneten Einleitung werden die tatsächlichen Ereignisse — wenn auch nicht vollständig — aufgeführt, die zu dem Memorandum der Generalität, der Verhängung des Ausnahmezustandes und den Verfassungsänderungen von 1971 und 1973 geführt haben. Alsdann werden die i n Frage kommenden wichtigsten Bestimmungen der türkischen Verfassung von 1961 und ihre Abänderungen zum Teil dargegestellt, zum Teil i n englischer Übersetzung wiedergegeben. Der letzte Teil behandelt schließlich vier Fragen: ob das allgemeine Recht der Türkei mit der Menschenrechtskonvention zu vereinbaren sei; ob die unter dem Ausnahmezustand getroffenen Maßnahmen die Verpflichtungen der Türkei aus der Konvention beeinträchtigten und ob bejahendenfalls diese Maßnahmen mit Art. 15 der Konvention zu vereinbaren seien, und schließlich, ob irgendwelche rechtswidrigen Verfahren angewandt worden seien, welche als Verletzungen der Konvention zu betrachten seien. Man kann diesen A r t i k e l wohl am besten dahin charakterisieren, daß er als Beschwerdeschrift von seiten eines Mitgliedstaates der Konven-
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tion gegen den Mitgliedstaat Türkei gemäß A r t . 24 der Konvention dienen könnte. Er vertritt dementsprechend einen einseitigen Standpunkt, ist aber i m Gegensatz zu den unter Α, Β und C kritisierten Informationen eine brauchbare Grundlage für eine ernsthafte Diskussion unter Juristen. Ich möchte hier nur kurz auf die Schlußfolgerungen der Studie eingehen: a) Es sei zweifelhaft, ob z. Zt. der erstmaligen Verhängung des Ausnahmezustandes die nach A r t . 15 der Konvention erforderliche Voraussetzung: „any public emergency threatening the life of the nation" gegeben gewesen sei. Jedenfalls bestehe i m gegenwärtigen Zeitpunkt eine derartige Lage nicht mehr. Hierzu ist lediglich zu bemerken, daß das Türkische Parlament dank seiner Kenntnisse der Situation und der besonderen Gegebenheiten der Türkei i m Rahmen der Verantwortlichkeit gegenüber der von i h m vertretenen Nation hierüber allein entscheiden muß. Davon abgesehen genügt ein Hinweis auf das von dem Gerichtshof für Menschenrechte gefällte Urteil i m Lawless-Fall Abs. 26 (Serie A der Entscheidungen S. 56), um die diesbezüglichen Behauptungen i n der Studie als unfundiert erscheinen zu lassen. Der Gerichtshof führt u. a. aus: „Die natürliche und allgemein übliche Bedeutung der Wendung „anderer öffentlicher Notstand, der das Leben der Nation bedroht" . . . bezieht sich auf eine außergewöhnliche Krisensituation oder auf einen Notstand, der die gesamte Bevölkerung in Mitleidenschaft zieht und das geordnete Zusammenleben der staatlichen Gemeinschaft bedroht . . . Die irische Regierung konnte vernünftigerweise aufgrund einer Reihe zusammentreffender Faktoren zu der Auffassung kommen, daß zu jener Zeit ein „öffentlicher Notstand, der das Leben der Nation bedrohte", vorlag: Erstens bestand auf dem Gebiet der Republik Irland eine verfassungswidrig tätige und ihre Ziele mit Gewalt verfolgende Untergrundarmee; zweitens . . . ; drittens nahm die Tätigkeit der Terroristen .. . ständig und i n beunruhigender Weise zu." Vergleicht man diese irischen Verhältnisse von 1957 mit den t ü r k i schen von 1971 aufgrund der von Jürgen Roth 39 aus „antiimperialistischer" Sicht gemachten und deshalb i n diesem Zusammenhang unverdächtigen Angaben, so gab es auch i n der Türkei eine verfassungswidrig tätige und ihre Ziele mit Gewalt verfolgende Untergrundarmee: der irischen I R A entsprach DEV-GENÇ, ursprünglich die Organisation der bis 1967 i m Rahmen der Türkischen Arbeiterpartei tätigen Revolutionären Studentenbewegung, aus der sich später die i m Untergrund arbeitenden Guerillagruppen „Türkische Volksbefreiungsarmee" (THKO) und „Türkische Volksbefreiungsfront" (THKC) entwickelten. Während die Ziele der I R A allgemein bekannt waren, verstand es DEV-GENÇ, die wirklichen Ziele unter Mißbrauch des Namens Atat ü r k als Kampf u m die Erringung und Verteidigung der nationalen
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Unabhängigkeit auszugeben; sie „verlagerte die Aktivitäten auf den konkreten antiimperialistischen Kampf und auf die Mobilisierung und Aktivierung der Basis, der Arbeiter und landlosen Bauern. Mitglieder der DEV-GENÇ arbeiteten i n Mittel- und Ostanatolien bei den landlosen Bauern, klärten sie über ihre soziale Situation auf und aktivierten das revolutionäre Potential der türkischen Landbevölkerung" (op. cit. S. 83). Für DEV-GENÇ „hing nationale Befreiung von kapitalistischer Ausbeutung von der antiimperialistischen nationalen Befreiungsrevolution ab" (op. cit. S. 84). Deniz Gezmis, einer der Wortführer der Bewegung, erklärte vor dem Militärgericht u. a.: „ W i r kämpfen um die nationale Unabhängigkeit. W i r betrachten daher den Kampf gegen den amerikanischen Imperialismus als den ersten Schritt, und dieser Kampf kann nur durch Waffen zum Siege führen. Es ist daher selbstverständlich, daß w i r zur Waffe gegriffen und den bewaffneten Kampf begonnen haben" (op. cit. S. 84). Es mag hierbei besonders darauf hingewiesen werden, daß, wenn der enge Führungskreis von DEV-GENÇ die wirklichen Ziele der Bewegung öffentlich erklärt hätte, diese von der Mehrheit der türkischen Bevölkerung entweder gar nicht verstanden oder nicht gebilligt worden wäre. Auch aus diesem Grunde verdient der von dieser Untergrundbewegung ausgeübte Terror aus demokratisch-ethischer Sicht entschiedene Zurückweisung und darf nicht unter der Parole „For the Rule of L a w " i n seiner wirklichen Bedeutung heruntergespielt werden, um die Verhängung des Ausnahmezustandes als Verletzung der Menschenrechtskonvention diskreditieren zu können. „ I n diesen letzten Monaten vor dem Militärputsch erreichte die proletarisch-revolutionäre Bewegung ein für die Regierung in Ankara . . . nicht mehr kontrollierbares Ausmaß . . . Als sich dann auch noch linke kemalistische Offiziere entschlossen, den Weg der nationalen Befreiungsrevolution zu begehen, konnte es nur einen Weg für die türkische Bourgeoisie und die türkischen NATO-Generale geben (op. cit. S. 90)." Übrigens ist der ursprünglich über 11 (von 67) Provinzen verhängte Ausnahmezustand nach und nach i n allen Provinzen mit Ausnahme von Ankara und Istanbul nicht mehr verlängert worden und auch in diesen beiden Provinzen i n der zweiten Septemberhälfte ausgelaufen. b) Abgesehen von den unter dem Ausnahmezustand getroffenen Maßnahmen verstießen die Änderungen, welche i n der Verfassung und i n den Gesetzen während der letzten beiden Jahre vorgenommen worden wären, i n zahlreichen Punkten gegen die Konvention, vor allem hinsichtlich der Freiheit der Meinungsäußerung, der Vereinigungsfreiheit und des Rechts auf „fair trial". Als Beispiele werden u. a. angeführt: auf S. 46 ff. die Abänderung von Art. 138 Abs. 4 der Verfassung, wonach die Regel, daß i n den Militärgerichten die Mehrheit der M i t glieder die Befähigung zum Richteramt besitzen muß, durch die Aus-
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nähme ergänzt worden ist, daß diese Voraussetzung i m Kriegsfalle nicht verlangt wird. Hierin w i r d ein Verstoß gegen Art. 6 der Konvention gesehen und der Anschein erweckt, als ob die Militärgerichte i m Ausnahmezustand keine unabhängigen Gerichte mehr seien. Man übersieht, daß diese Ausnahme ausdrücklich nur i m Kriegszustand und nicht i m Ausnahmezustand Platz greifen kann und auch dann noch lediglich für die erstinstanzlichen Militärgerichte, nicht aber für den Militärkassationshof gilt, dessen Richter ausnahmslos Volljuristen sein müssen. c) Auf S. 51 werden die i n A r t . 4 des Gesetzes über den Ausnahmezustand dem Kommandanten des Ausnahmezustandes eingeräumten Befugnisse als besonders weitgehende Verstöße gegen die Konvention bezeichnet, ohne daß der Leser darauf hingewiesen wird, daß sich das Türkische Verfassungsgericht i n seiner Entscheidung, auf die sich die oben unter Β behandelte Presseinformation der Internationalen Juristen-Kommission für ihre Forderung auf Wiederaufnahme von Verfahren ausdrücklich berufen hatte, sehr eingehend mit dieser Frage auseinandergesetzt hat und zu einem gegenteiligen Urteil gekommen ist. (Vgl. unten Drittes Kapitel.) d) Auf S. 39 und passim ist von der Unterdrückung der kurdischen Minderheit als Verstoß gegen A r t . 14 der Konvention die Rede. Hierbei w i r d sogar auf A r t . 38 und 39 des Friedensvertrags von Lausanne verwiesen, obwohl feststeht, daß kein auf dieser Konferenz vertretener Staat die i n der Türkei seßhaften Kurden als „Minderheit" i m Sinne des Minoritätenrechts betrachtet hat. I m übrigen sollte man i m Generalsekretariat der Internationalen Juristen-Kommission i n Genf die Begründung der einstimmig gefällten Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts vom 20. 7.1971 über das Verbot der Türkischen Arbeiterpartei sich übersetzen lassen, bevor man von einer „Minderheit" spricht, die sich selbst als solche weder fühlt noch versteht; denn nur wenn eine Gruppe sich selbst als „Minderheit" i n einem größeren Staatsverband empfindet und versteht, kann sie eine entsprechende Behandlung durch den Gesetzgeber und durch die Behörden begehren 51 . Gerade dies ist aber i n der Türkei nicht der Fall. Vielmehr war es die Türkische Arbeiterpartei, übrigens Hand i n Hand mit der türkischen revolutionären Studentenbewegung (DEV-GENÇ), welche (nach Jürgen Roth op. cit. S. 83/84) i n Ostanatolien die landlosen Bauern „aufklärten" und die erste revolutionäre Phase der Agrarrevolution i n der Türkei einleiteten; es ist demnach nicht überraschend, zu lesen (op. cit. 94), daß für die Verhängung des Ausnahmezustands i n den Provinzen Hatay, 51 Vgl. hierzu Rabl, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 2. Aufl. 1973, 132, 178 u n d passim.
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Diyarbakir und Siirt „das Kurdenproblem der Auslöser" war. Die Türkische Arbeiterpartei versuchte, diese Bevölkerungsgruppe vor ihren innerpolitischen Wagen zu spannen und ihr deshalb ein ethnisches Bewußtsein einzureden. Hierbei sollte das „nationale" Anliegen bestenfalls — ebenso wie bei DEV-GENÇ — als Mittel zum Zwecke dienen und war daher von der Substanz her gleichgültig. e) Was den Verstoß der A r t . 141, 142 des türkischen Strafgesetzbuchs gegen A r t . 10 der Konvention betrifft (S. 48 ff. des Artikels), so hat das Türkische Verfassungsgericht diese Bestimmungen und auch A r t . 146 desselben Gesetzes i m Normenkontrollverfahren als nicht verfassungswidrig anerkannt. A n diese Entscheidungen sind alle türkischen Gerichte gemäß A r t . 152 der Verfassung gebunden. Davon abgesehen liegt ein Verstoß gegen A r t . 10 der Konvention i m Hinblick auf die dort in Abs. 2 vorgesehenen Einschränkungsmöglichkeiten nicht vor. Schließlich werden (auf S. 55) als rechtswidrige Verletzungen der Menschenrechtskonvention aufgeführt: die militärische Intervention (d. h. wohl das Memorandum der Generalität und der angeblich dauernde Druck der Streitkräfte auf die Arbeiten des Parlaments) als Verstoß gegen A r t . 17 der Konvention, Folterungen und Mißhandlungen als Verstoß gegen A r t . 15 Abs. 2 der Konvention und unzulässige Festnahmen als Verstoß gegen A r t . 5 der Konvention. Zum ersten Punkt habe ich oben (Anm. 40) ausführlich Stellung genommen. Die anderen Punkte sind Verletzungen der Konvention, wenn festgestellt wird, daß die fraglichen Vorkommnisse auf Veranlassung oder unter Duldung der zuständigen staatlichen Organe geschehen sind oder die zuständigen Stellen gegen die Täter keine Strafverfahren wegen dieser nicht nur i n der Verfassung ausdrücklich verbotenen, sondern i m türkischen Strafgesetzbuch unter harte Strafdrohungen gestellten Handlungen eingeleitet und ordnungsmäßig durchgeführt haben. Was insbesondere die Frage der Folterungen betrifft, so sollte man nicht an der Rechtstatsache vorbeigehen, daß, wie erst kürzlich einer der Herausgeber einer weltbekannten deutschen Tageszeitung schrieb, „ i n vielen Ländern, auch i n hochzivilisierten . . . die Tortur, von Behörden geduldet oder gar wegen „sicherheitspolitischer Unentbehrlichkeit" angeordnet, zu einer Alltagserscheinung geworden" ist. Wenn — oder richtiger gesagt — weil dem so ist, sind erpresserische Mißhandlungen (Tortur), so empörend, schaurig und beschämend dieses Phänomen i m Sozialleben unserer Epoche ist, auch unter dem Ausnahmezustand nicht als K r i t e r i u m für die angebliche Suspendierung des Rechtsstaats zu betrachten, sondern müssen als rechtlich zu ahndende strafbare Handlungen beurteilt werden. Wer die Anwendung der Folter juristisch gleichbedeutend mit der „Suspendierung des Rechtsstaats"
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erklärt, begibt sich damit ohne weiteres jeder juristischen Grundlage für die Behauptung, daß dergleichen Methoden unzulässig sind; denn sie sind es nur i m Rechtsstaat. (Vgl. i n diesem Zusammenhang auch die Berichte und Kommentare über den am 12.12.1973 i n Paris veranstalteten Kongreß von „Amnesty International" für die Abschaffung der Folter und hier offen zu Tage getretene K l u f t zwischen den idealen Bestrebungen und der politischen Wirklichkeit i n den meisten Staaten der Welt.) E. Hoffentlich gibt es noch Juristen, die ebenso wie die 15 Mitglieder des Türkischen Verfassungsgerichts keineswegs, wie Peter Noll, kurzschlüssig den Ausnahmezustand für eine „Suspendierung" des Rechtsstaats, sondern geradezu als Erprobung der Rechtsstaatlichkeit auch unter schwierigsten Verhältnissen halten. I n dieser Hoffnung habe ich m i r die Mühe gemacht, die von der Internationalen Juristen-Kommission zur Grundlage ihrer Angriffe gegen die Rechtsstaatlichkeit i n der Türkei gewählte Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts nebst allen Sondervoten i n extenso zu übersetzen, sie zu kommentieren und ihre Konsequenzen darzustellen.
Drittes
Kapitel
Die E n t s c h e i d u n g des T ü r k i s c h e n Verfassungsgerichts v o m 15./16. F e b r u a r 1972 ( N r . 1 9 7 1 / 3 1 - 1 9 7 2 / 5 ) (Türkisches Amtsblatt Nr. 14 336 vom 14.10.1972 Entsch.Türk. VerfG. 10/1973/155-236) Die Richter haben nach und Recht, zeugung zu
sind bei ihren Aufgaben unabhängig; sie Maßgabe der Verfassung, nach Gesetz nach ihrem Gewissen und ihrer Überentscheiden. A r t . 132 Abs. 1 Türk. Verfassung von 1961
Vorbemerkung Die Arbeiterpartei der Türkei hatte i m abstrakten Normenkontrollverfahren beantragt, A r t . 3 Abs. (a), (b) und (c), A r t . 11, 15 und 23 des Gesetzes Nr. 1402 vom 13. 5. 1971 über den Ausnahmezustand wegen Verstoßes gegen die A r t . 15, 16, 17, 22, 25, 30, 32, 124 und 138 der Verfassung für nichtig zu erklären. Über eine derartige Klage hat das Verfassungsgericht gemäß Art. 148 Abs. 2 der Verfassung 52 auf Grund der Akten zu entscheiden, kann aber, falls es dies für erforderlich hält, die Beteiligten laden (was i m vorliegenden Falle nicht geschehen ist). Nach dem Gesetz Nr. 44 vom 22. 4.1962 über die Organisation und das Verfahren des Verfassungsgerichts sind die Verhandlungen des Verfassungsgerichts nicht öffentlich. Die Entscheidungen werden mit absoluter Mehrheit, d. h. mit mindestens 8 Stimmen von 15 gefällt. Die überstimmten Richter haben die Gründe ihrer abweichenden Voten in der Entscheidung offenzulegen. Diese abweichenden Voten werden der Entscheidung angefügt. Dies ist auch i n dem vorliegenden Falle geschehen und i n der folgenden deutschen Wiedergabe beibehalten worden. Alle Fußnoten i n diesem Kapitel sind von m i r i m Interesse des Lesers hinzugefügt, gehören also nicht zum Text der Entscheidung. 52
Sowohl i n der ursprünglichen Fassung von 1961 als auch i n der Neufassung durch das Verfassungsänderungsgesetz Nr. 1699 v o m 15. 3.1973. Deutsche Ubersetzung von m i r i n Verfassung u n d Recht i n Ubersee 1973, 233/234.
Abschnitt I V -
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Deutsche Übersetzung der Entscheidung Diese ist i n 5 Abschnitte gegliedert: Unter I gibt das Verfassungsgericht eine gedrängte Zusammenfassung der vom Kläger vorgebrachten Begründung. A u f die Wiedergabe kann an dieser Stelle verzichtet werden, da bei der Prüfung der einzelnen Anträge die diesbezügliche Begründung wiederholt wird. Dasselbe gilt hinsichtlich des unter I I angeführten Wortlauts der angeblich verfassungswidrigen Gesetzesvorschriften und der angeblich verletzten Verfassungsartikel. Unter I I I bejaht das Gericht die formelle Ordnungsmäßigkeit der angestellten Klage ratione personae und ratione materiae. Abschnitt V enthält den Tenor der Entscheidung m i t Angabe des Stimmenverhältnisses und der Namen der abweichenden Richter, während Abschnitt I V die Entscheidung als solche enthält, d. h. die Begründung für den Tenor gibt. Diese Begründung w i r d nunmehr i n extenso i n deutscher Übersetzung dargeboten. IV. Prüfung der Hauptsache 1. Prüfung der neu eingetretenen
Lage:
A m 15. 2.1972 wurde m i t der Prüfung der Hauptsache begonnen; das Verfahren war aber bereits am 24.5.1971 anhängig geworden; am 15. 6.1971 war nach Prüfung der Vorfragen Beschluß ergangen, auf die Hauptsache einzugehen; mittlerweile aber sind zwei Veränderungen eingetreten. Dadurch hat sich eine neue Lage ergeben. Die erste Veränderung besteht darin, daß sich unter den Verfassungsbestimmungen, welche das am 20. 9.1971 i n K r a f t getretene Gesetz Nr. 1488 geändert hat, auch der auf das Recht zur Erhebung der Nichtigkeitsklage beziehende A r t . 149 befindet; die zweite Veränderung besteht darin, daß der Kläger, die Arbeiterpartei der Türkei, durch die i m Amtsblatt Nr. 14 014 vom 6.1.1972 veröffentlichte Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 20. 7.1971 Nr. 1971/3 - 3 verboten worden ist. a) Die durch die Abänderung von Art. 149 der Verfassung entstandene Frage: Nach A r t . 149 (alte Fassung) mußte eine politische Partei, welche vor dem Verfassungsgericht Nichtigkeitsklage erheben wollte, entweder bei den letzten allgemeinen Wahlen zum Abgeordnetenhaus ein Zehntel der gültigen Stimmen erhalten haben oder i n der Türkischen Großen Nationalversammlung 5 3 repräsentiert sein. Art. 149 ist durch Art. 1 des Gesetzes Nr. 1488 geändert worden; das Recht auf Erhebung der Nich53 Diese besteht nach A r t . 63 Abs. 1 der Verfassung aus dem Abgeordnetenhaus („Nationalversammlung") u n d dem Senat der Republik.
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3. Kap.: Entscheidung des Türkischen Verfassungsgerichts v. 15./16. 2.1972
tigkeitsklage vor dem Verfassungsgericht, das den i n der Türkischen Großen Nationalversammlung repräsentierten Parteien zuerkannt ist, ist durch die Bedingung beschnitten worden, daß sie i n Fraktionsstärke 5 4 repräsentiert sein müssen. Jedoch enthält die Verfassungsänderung keine Bestimmung, daß diese Beschränkung auch für Verfahren gilt, die vor Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 1488 anhängig geworden sind. Unter diesen Umständen ist natürlich das Recht auf Erhebung der Nichtigkeitsklage nach dem zur Zeit der Eröffnung des Verfahrens i n Geltung befindlichen alten Text von Art. 149 zu beurteilen. (Wird näher ausgeführt). b) Die durch das nachträgliche Verbot der klagenden Partei entstandene Frage: Wie oben erwähnt wurde, ist die Klägerin, die Arbeiterpartei der Türkei, durch die Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 20. 7.1971 Nr. 1971/3 - 3 verboten worden, d. h. nach Anhängigwerden des Verfahrens und nach der vom Gericht getroffenen Feststellung, daß das Verfahren ordnungsmäßig i n Gang gesetzt wurde und auf die Sache selbst einzugehen ist. Das Recht auf Erhebung der Nichtigkeitsklage vor dem Verfassungsgericht, das i n dem abgeänderten A r t . 149 bestimmten Personen, Kollektiven und Institutionen zuerkannt worden ist, bildet einen, und zwar den wichtigsten der vorgesehenen Wege, u m die Kontrolle der Vereinbarkeit der Gesetze und der Geschäftsordnungen der Türkischen Großen Nationalversammlung mit der Verfassung sicherzustellen. Die Begehung dieses Weges führt bei abstrakten Sachen zu allgemeinen Ergebnissen. Die Geltendmachung eines derartigen Rechtes kann dazu führen, daß das Verfassungsgericht eine Gesetzesbestimmung oder eine Vorschrift i n der Geschäftsordnung der Gesetzgebenden Versammlungen daraufhin prüft, ob sie verfassungswidrig ist und damit die Pflicht mit sich bringt, verfassungswidrige Bestimmungen für nichtig zu erklären und die Rechtsordnung des Landes von derartigen Vorschriften zu säubern. M i t anderen Worten, die Nichtigkeitsklage dient unmittelbar nicht dem Schutze persönlicher Interessen bestimmter Personen, sondern der Möglichkeit, die Aufhebung verfassungswidriger Vorschriften vorzubereiten und auf diese Weise die Herrschaft und Überordnung der Verfassung zu garantieren; der öffentliche Zweck und Charakter sind offensichtlich. Deshalb kann keine Rede davon sein, daß nach ordnungsmäßiger Eröffnung eines derartigen Verfahrens die 54 Zur B i l d u n g einer F r a k t i o n sind nach A r t . 85 Abs. 2 Satz 2 der Verfassung mindestens 10 Abgeordnete bzw. mindestens 10 Senatoren erforderlich, w e i l jede der beiden Gesetzgebenden Körperschaften eine eigene Einheit bildet.
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Rücknahme des Antrags durch den Kläger oder der Verlust seiner Rechtspersönlichkeit irgendeinen Einfluß auf den Lauf des Verfahrens und auf die Pflicht des Verfassungsgerichts zur Prüfung und Entscheidung a u s ü b t . . . 2. Der Einfluß der Verfassungsänderung
auf die Entscheidung:
Wie oben ausgeführt, wurde das Verfahren am 24. 5.1971 anhängig; durch das am 22. 9.1971 i n Kraft getretene Gesetz Nr. 1488 vom 20. 9. 1971 wurden einige Verfassungsbestimmungen geändert; ein Teil der abgeänderten Bestimmungen ist für die Entscheidung des Falles erheblich; die Prüfung der Sache selbst hat am 15. 2.1972 begonnen. Deshalb taucht die Frage auf, ob bei der Prüfung der angeblichen Verfassungsverstöße, mit anderen Worten bei der Entscheidung des Falles die früheren Fassungen oder die abgeänderten Fassungen der auf den Gegenstand des Rechtsstreits bezüglichen Verfassungsbestimmungen zu Grunde zu legen sind. Verfassungsänderungen haben das Ziel, an die Stelle der bisherigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen neue Vorschriften zu setzen; sie erhalten ihr Schwergewicht durch ihre Beziehung zur öffentlichen Ordnung. Dieser Umstand macht es erforderlich, bei den nach Inkrafttreten einer Verfassungsänderung auftretenden und i n besonderem Zusammenhang m i t ihr stehenden Fragen sowie bei der Entscheidung entsprechender Verfahren von den i n Kraft getretenen Änderungen auszugehen. Ein derartiges Vorgehen ist mit anderen Worten bei Entscheidungen dieser A r t die Regel. Es ist jedoch denkbar, daß es besondere Umstände geben kann, welche eine Abweichung von der Regel erforderlich machen. Hier fehlt aber jeder Anlaß, der eine Erörterung der Frage erforderlich macht, ob der vorliegende Fall eine Besonderheit bietet. Aus diesen Gründen werden die abgeänderten Verfassungsbestimmungen der Entscheidung des Falles zu Grunde gelegt. 3. Die vom Kläger als verfassungswidrig angegriffenen Bestimmungen des Gesetzes Nr. 1402 vom 13. 5.1971 über den Ausnahmezustand werden im Folgenden einzeln behandelt. A. Art. 3 Absätze (a), (b) und (c) des Gesetzes Nr. 1402: A m Beginn des mit „Aufgaben und Befugnisse" überschriebenen Art. 3 des Gesetzes Nr. 1402 steht folgende Bestimmung: „Der Kommandant des Ausnahmezustandes ist befugt, i m Bezirk des Ausnahmezustandes i n denjenigen Fällen, i n denen die allgemeine Sicherheit und die öffentliche Ordnung es erfordern, die unten aufgeführten außergewöhnlichen Maßnahmen zu treffen." Alsdann werden die Maßnahmen in den mit (a) bis (n) bezeichneten Absätzen der Reihe nach aufgeführt.
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Der Kläger hat vorgetragen, die ersten drei dieser Absätze seien verfassungswidrig. a) A r t . 3 Abs. (a) Die Bestimmungen dieses Absatzes führen zu einer Einschränkung derjenigen Grundsätze, welche sich zum Schutze des Privatlebens auf die Verfassungsbestimmungen der A r t . 15 (abgeänderte Fassung), 16 und 17 über die Intimsphäre, die Unverletzbarkeit der Wohnung und die Korrespondenzfreiheit beziehen. Nach den Vorschriften dieses Absatzes kann der Kommandant des Ausnahmezustandes i n dem Bezirk, über den der Ausnahmezustand verhängt worden ist, wenn es die allgemeine Sicherheit und die öffentliche Ordnung erfordern: aa) die Wohnungen, die Gebäude von Vereinen, von politischen Parteien, von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden, von Klubs und ähnlichen Vereinigungen, Betriebsstätten, Unternehmungen von natürlichen und juristischen Personen einschließlich autonomer Institutionen, deren Nebengebäude sowie geschlossene und offene Örtlichkeiten jeder Art, bb) Briefe, Telegramme und andere Sendungen, cc) die Kleidung von Personen durchsuchen und als Beweismittel diejenigen Gegenstände beschlagnahmen, die nur mit Gewalt weggenommen werden dürfen, ohne daß es irgendeines Ersuchens, eines Antrags oder einer Entscheidung bedarf. Der Kläger hat vorgetragen, daß i n diesem Absatz die Durchsuchung nicht von der Bedingung einer gerichtlichen Strafverfolgung abhängig gemacht sei und daß nicht klargestellt sei, daß derartige Maßnahmen und Handlungen während des Ausnahmezustandes i m Zusammenhang mit der für die Verhängung des Ausnahmezustandes gegebenen Begründung stehen müsse; der Kläger ist deshalb der Auffassung, daß der fragliche Absatz m i t den A r t . 15, 16, 17 und 124 der Verfassung unvereinbar sei. Bevor auf die Behauptungen über die Verfassungswidrigkeit eingegangen und die den Gegenstand des Rechtsstreits bildenden Bestimmungen unter diesem Gesichtspunkt gewürdigt werden, dürfte es zweckmäßig sein, folgende Klarstellung zu treffen: Der Ausnahmezustand steht weder außerhalb noch über der Verfassung, sondern ist in der vollen Bedeutung des Begriffes ein verfassungsmäßiger Zustand. I n seiner abgeänderten Fassung bestimmt A r t . 124: „ I n den Fällen des Krieges, drohender Kriegsgefahr, eines Aufstandes oder, w e n n deutliche Anzeichen für eine gegen das Vaterland u n d die Republik gerichtete starke u n d aktive Bewegung oder für offensichtliche
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Gewalttätigkeiten vorliegen, die den Bestand von Staatsgebiet u n d Staatsv o l k von innen oder außen gefährden oder auf die Beseitigung der verfasfungsmäßig anerkannten freiheitlichen demokratischen Ordnung oder der Grundrechte u n d Freiheiten gerichtet sind, k a n n der Ministerrat für die Dauer von höchstens zwei Monaten i n einem oder mehreren Bezirken des Landes oder überall den Ausnahmezustand verkünden; er hat dies unverzüglich der Türkischen Großen Nationalversammlung mitzuteilen. Die Versammlung kann, wenn sie es für geboten hält, die Dauer des Ausnahmezustandes abkürzen oder i h n gänzlich aufheben. Wenn die Versammlungen nicht tagen, sind sie unverzüglich zur Tagung einzuberufen. Die Verlängerung des Ausnahmezustandes u m nicht mehr als jeweils zwei Monate ist an einen Beschluß der Türkischen Großen Nationalversammlung gebunden. Diese Beschlüsse werden i n einer gemeinsamen Sitzung der beiden Versammlungen gefaßt. Welche Vorschriften i m Falle des Ausnahmezustandes oder allgemein während des Krieges anzuwenden sind, i n welcher Weise die Geschäfte zu führen, die Freiheiten zu beschränken oder auszusetzen u n d welche Lasten i m Falle des Krieges oder drohender Kriegsgefahr den Staatsangehörigen aufzuerlegen sind, ist durch Gesetz zu regeln."
Nachdem durch diese Wiedergabe des klaren und i n alle Einzelheiten gehenden Verfassungstextes die Merkmale, Voraussetzungen, allgemeinen Befugnisse und die Gesetzesgebundenheit des Ausnahmezustandes als eines verfassungsmäßigen Zustandes klargestellt worden sind, muß kurz auf die Grundsätze eingegangen werden, welche die den Gegenstand der Prüfung bildende Bestimmung hinsichtlich des „Schutzes des Privatlebens" vorgesehen hat. Das Grundprinzip des auf „die Privatsphäre" bezüglichen A r t . 15 (n. F.) geht dahin, daß i n die Privatsphäre nicht eingegriffen werden darf. Die durch gerichtliche Verfolgung erforderlichen Ausnahmen sind vorbehalten worden; ferner sind die Leibesvisitation sowie die Durchsuchung und Beschlagnahme der Privatpapiere und persönlichen Sachen einer Person an die Bedingung geknüpft, daß sie nur i n den ausdrücklich i m Gesetz vorgesehenen Fällen und auf Grund einer richterlichen Entscheidung zulässig sind. Hierfür gibt es eine einzige Ausnahme: I n den i n Anbetracht der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung keinen Aufschub duldenden Fällen kann die Durchsuchung und Beschlagnahme auch auf Anordnung der durch Gesetz für zuständig erklärten Dienststelle stattfinden. Das Grundprinzip des die „Unverletzlichkeit der Wohnung" regelnden Art. 16 der Verfassung geht dahin, daß die Wohnung nicht verletzt werden darf. Das Betreten der Wohnung, die Vornahme einer Durchsuchung und die Beschlagnahme der dort befindlichen Gegenstände sind an die Bedingung geknüpft, daß sie nur i n den ausdrücklich i m Gesetz vorgesehenen Fällen und auf Grund einer ordnungsmäßigen richter-
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liehen Entscheidung stattfinden. Die einzige Ausnahme dieser Bestimmung ist folgende: I n den i n Anbetracht der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung keinen Aufschub duldenden Fällen kann das Betreten einer Wohnung, ihre Durchsuchung und die Beschlagnahme auch auf Anordnung der durch Gesetz für zuständig erklärten Dienststelle erfolgen. Das Grundprinzip des die „Korrespondenzfreiheit" regelnden Art. 17 der Verfassung geht dahin, daß jedermann Korrespondenzfreiheit besitzt und das Korrespondenzgeheimnis die Regel bildet. Dieses Geheimnis darf nur i n den gesetzlich vorgesehenen Fällen und auf Grund eines gesetzmäßig erlassenen richterlichen Entscheides gebrochen werden. Wie man sieht, hat man hinsichtlich des Schutzes der Geheimsphäre und der Unverletzlichkeit der Wohnung nur i n den i n Anbetracht der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung keinen Aufschub duldenden Fällen von dem Prinzip einer „richterlichen Entscheidung" abgesehen und sich m i t der „Anordnung der durch Gesetz für zuständig erklärten Dienststelle" begnügt und diese Ausnahmevorschrift i n den Text der A r t . 15 und 16 selbst mit hineingenommen. Abgesehen von den oben berührten besonderen Ausnahmevorschriften der Verfassung finden sich Bestimmungen i n den ersten beiden Absätzen des abgeänderten Verfassungsartikels 11: „Die Grundrechte u n d Freiheiten können zum Schutz des Bestandes von Staatsgebiet u n d Staatsvolk, der republikanischen Staatsform, der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, des öffentlichen Wohls, der allgemeinen Sitten u n d der allgemeinen Gesundheit oder aus den i n anderen Bestimmungen der Verfassung aufgeführten besonderen Gründen allein durch Gesetz und nur nach Maßgabe des Wortlauts u n d Sinnes der Verfassung eingeschränkt werden. Das Gesetz darf den K e r n der Grundrechte u n d -freiheiten nicht antasten."
Der Umstand, daß neben den Einschränkungen i n A r t . 15 und 16 der abgeänderte Verfassungsartikel 11 sich das Prinzip zu eigen gemacht hat, daß ganz allgemein aus bestimmten Gründen die Grundrechte und -freiheiten eingeschränkt werden können; der Umstand ferner, daß die Gesamtheit der i n A r t . 124 aufgezählten Gründe für die Verhängung des Ausnahmezustandes unter den i n die Neufassung von A r t 11 als Einschränkungsgründe eingegangenen Begriff „Schutz des Bestandes von Staatsgebiet und Staatsvolk, der republikanischen Staatsform, der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, des öffentlichen Wohles" fallen; der weitere Umstand, daß wiederum in A r t . 11 „die in anderen Bestimmungen der Verfassung aufgeführten besonderen Gründe" als Einschränkungsgrund anerkannt sind: angesichts aller dieser Umstände muß die i m letzten Absatz des abgeänderten Art. 124 noch außerdem eingefügte Vorschrift „ . . . i n welcher Weise die Frei-
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heiten zu beschränken oder auszusetzen sind . . . ist gesetzlich zu regeln" einen besonderen Zweck und eine besondere Bedeutung haben. Denn wenn angenommen würde, daß der für die Einschränkung der Grundrechte i n den besonderen Bestimmungen und ganz allgemein i n Art. 11 vorgesehene Gesetzesvorbehalt auch unter Berücksichtigung der Erfordernisse und Realitäten des Ausnahmezustandes ausreiche und die Befugnisse i m Ausnahmezustand durch diese Einschränkungen begrenzt würden, so müßten sich die Gegenstände, auf die sich der i m letzten Absatz des abgeänderten A r t . 124 genannte Gesetzesvorbehalt bezieht, auf die Regelung beschränken „welche Vorschriften i m Falle des Ausnahmezustandes oder allgemein i m Kriegsfall anzuwenden sind und i n welcher Weise die Geschäfte zu führen und welche Lasten i m Kriege oder i m Zustand drohender Kriegsgefahr den Staatsangehörigen aufzuerlegen sind", so daß der Satzteil „ i n welcher Weise die Freiheiten zu beschränken oder auszusetzen sind . . . ist durch Gesetz zu regeln" nichts weiter wäre als eine überflüssige Wiederholung. Indessen kann nicht angenommen werden, daß der Verfassunggeber überflüssigen und unnützen Wiederholungen Raum gibt. Der Verfassunggeber hat also bei einer Angelegenheit wie dem „Ausnahmezustand", für dessen Verhängung die Voraussetzungen in A r t . 124 Abs. 1 genau bestimmt sind und der für den Staat, das Staatsgebiet und die Nation von lebenswichtiger Bedeutung ist, die Eventualität erwogen, daß die Erfordernisse des Ausnahmezustandes weitergehen als die durch die besonderen Verfassungsbestimmungen und durch A r t . 11 ermöglichten Einschränkungen der Grundrechte, und daß diese Möglichkeiten i n dieser Situation ungenügend sind; deshalb hat er den Ausnahmezustand allein für sich und als einen besonderen Einschränkungsgrund betrachtet und dafür Sorge getragen, daß die Befugnis für die gesetzliche Einschränkung oder Aussetzung der Freiheiten i n Anbetracht der Erfordernisse des Ausnahmezustandes gesondert von den anderen Einschränkungsvorschriften innerhalb des den Ausnahmezustand regelnden Verfassungsartikels ihren Platz gefunden hat. Diesen Grundsatz muß man sich bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Abs. (a) und insbesondere von Abs. (c) von A r t . 3 des Gesetzes Nr. 1402 vor Augen halten . . . I n einer die Verhängung des Ausnahmezustandes erforderlich machenden Situation . . . ist die Ermöglichung von schleunig zu treffenden Maßnahmen, welche die allgemeine Sicherheit und die öffentliche Ordnung erfordern, notwendig und natürlich. I n einer derartigen Situation . . . ist unter dem Gesichtspunkt der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung Gefahr i m Verzug gegeben. Wenn, wie der Kläger vorträgt, die zu ergreifenden Maßnahmen von vorneherein eng begrenzt und lediglich auf die Gründe für die Verhängung des Aus-
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nahmezustandes und der gerichtlichen Verfolgung beschränkt werden müßten, trüge dies den ernsten, schwierigen und wechselnden Umständen keine Rechnung. I m Bezirk eines Ausnahmezustandes sind solche Situationen möglich, bei denen das Abhängigmachen eines Vorgehens von einem Gesuch, einem Antrag oder einer Entscheidung den Weg für eine große nationale Katastrophe und für schwere Verluste freigeben kann. Hinzu kommt, daß alle diese Befugnisse zu außergewöhnlichen Maßnahmen nur eine Person, nämlich der Kommandant des Ausnahmezustandes, gebrauchen darf (Art. 2, 5, 6 des Gesetzes Nr. 1402), dem außer den unter dem Befehl des Gesetzes stehenden militärischen Einheiten auch die gesamten Schutz- und Sicherheitspolizeikräfte unterstellt sind, dem der Bezirk des Ausnahmezustandes i n jeder Beziehung persönlich anvertraut ist, der für alle ihm durch dieses Gesetz überlassenen Aufgaben und Befugnisse unmittelbar dem Ministerpräsidenten verantwortlich ist und mindestens die Aufgaben eines Kommandierenden Generals oder des Kommandanten einer entsprechenden Einheit wahrgenommen hat oder wahrnimmt und darüber hinaus bei seinen außergewöhnlichen Maßnahmen an die Erfordernisse der allgemeinen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung i n seinem Bezirk gebunden und beschränkt ist. Kurz zusammengefaßt: A r t . 3 Abs. (a) des Gesetzes Nr. 1402 entspricht dem i n der Verfassung umschriebenen Begriff des Ausnahmezustandes und überschreitet nicht die durch den Ausnahmezustand bedingten Zwangsläufigkeiten, bildet vielmehr m i t anderen Worten die Bedingung und das Ergebnis der Vorschriften i n dem abgeänderten Verfassungsartikel 124; die Vorschriften des genannten Absatzes verstoßen i n keiner Weise gegen die Verfassung. Der gegen diesen Absatz gerichtete Teil der Klage ist abzuweisen. (Ein Richter hat sich dieser Begründung zwar angeschlossen, sie aber nicht für ausreichend gehalten, während sieben Richter sich der Ansicht der Mehrheit nicht angeschlossen haben 55 .) b) A r t . 3 Abs. (b) Die Bestimmungen dieses Absatzes führen allgemein zu Einschränkungen der Prinzipien, welche sich auf die i n Art. 17 56 bestimmte Korrespondenzfreiheit und i n gewissem Maße auch auf das i n A r t . 26 geregelte „Benutzungsrecht nichtpressemäßiger Nachrichtenmittel" beziehen. Nach den Vorschriften von Abs. (b) ist der Kommandant des Ausnahmezustandes befugt, i n dem Bezirk, über den der Ausnahmezu55 Siehe das Ergänzungsvotum des Verfassungsrichers Ariç unter I und die abweichenden Voten des Präsidenten Taylan u n d der Richter Seçkin und Vrana (gemeinsam), Givda, Gürün, Müftügil u n d Boyacioglu unten S. 90 - 95 bzw. S. 79 ff., 87, 102, 106, 107. 56 I m türkischen Text steht i r r t ü m l i c h „dem geänderten".
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stand verhängt worden ist, i n den Fällen, in denen die allgemeine Sicherheit und die öffentliche Ordnung dies erfordern: aa) die Zensur über alle Veröffentlichungen und Nachrichten einschließlich der Sendungen der türkischen Rundfunk- und Fernsehanstalt zu verhängen, die m i t Hilfe von Telefon oder drahtlos, durch Rundfunk, Fernsehen oder ähnliche Einrichtungen verbreitet werden; bb) diese einzuschränken oder anzuhalten; cc) i n den Fällen, i n denen es der Dienst erfordert, diese Einrichtungen mit Vorrang zu benutzen. Der Kläger hat zur Begründung seiner Behauptung, daß dieser Absatz verfassungswidrig sei, seine Begründung zu Absatz (a) vorgebracht. Da auf den Inhalt von Art. 17 i n den obigen Erörterungen bereits hingewiesen worden ist, bedarf es insofern hier keiner Wiederholung. Was den abgeänderten A r t . 26 betrifft, so geht sein Grundprinzip dahin, daß Einzelpersonen und politische Parteien das Recht besitzen, die in der Hand der juristischen Personen des öffentlichen Rechts befindlichen nichtpressemäßigen Kommunikations- und Veröffentlichungseinrichtungen zu benutzen. „Die Bedingungen und das Verfahren für diese Benutzung sind nach demokratischen Grundsätzen und nach dem Maßstab der Billigkeit gesetzlich zu regeln. Abgesehen von den Fällen, in denen es sich um den Schutz des Bestandes von Staatsgebiet und Staatsvolk, der auf den Menschenrechten beruhenden nationalen, demokratischen, laizistischen 57 Republik, der nationalen Sicherheit und der allgemeinen Sitten handelt, darf das Gesetz keine Bedingungen aufstellen, welche den Nachrichtenempfang der Bevölkerung durch diese Einrichtungen, die Information der Bevölkerung über Meinungen und Überzeugungen und die freie Bildung einer öffentlichen Meinung verhindern." Die natürliche Folge dieser letztgenannten Bestimmung ist: zum Schutze des Bestandes von Staatsgebiet und Staatsvolk, der in der Verfassung begrifflich mit ihren Merkmalen bestimmten Republik und der nationalen Sicherheit darf das Gesetz Bedingungen aufstellen, welche die Benutzung der i n der Hand der juristischen Personen des öffentlichen Rechts befindlichen nichtpressemäßigen Kommunikationsund Veröffentlichungsmittel verhindern. Gerade dies ist durch die dem Kommandanten des Ausnahmezustandes i n A r t . 3 Abs. (b) zuerkannten und oben unter (aa und bb) aufgeführten Befugnisse geschehen. Daß die zur Verhängung des Ausnahme57
Siehe zu diesem Ausdruck A n m e r k u n g 29.
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zustandes i n dem abgeänderten Verfassungsartikel 124 aufgeführten Gründe unter die Ausdrucksform „Schutz des Bestandes von Staatsgebiet und Staatsvolk, von Republik und nationaler Sicherheit" subsumiert werden können, ist unzweifelhaft. Was die Verhängung der Zensur, die Einschränkung und das Anhalten hinsichtlich der mit den i n Absatz (b) erwähnten Einrichtungen verbreiteten Veröffentlichungen und Nachrichten betrifft, so passen sie so natürlich und leicht zu dem Begriff „die Benutzung hindernde Bedingungen", daß sich darüber jede Diskussion erübrigt. Es könnte vorgebracht werden, daß diese Beschränkungen mittelbar das i n A r t . 17 enthaltene Prinzip des Briefgeheimnisses beeinträchtigen sowie die Bestimmung, daß dieses Geheimnis ohne eine dem Gesetz entsprechende richterliche Erlaubnis nicht gebrochen werden darf. Jedoch darf nicht vergessen werden, daß diese Beeinträchtigung die natürliche Folge einer i n einer anderen Verfassungsbestimmung anerkannten Möglichkeit ist und i m Verhältnis zu den Notwendigkeiten des mit dem Ausnahmezustand zu erreichenden verfassungsmäßigen Ziels nicht als schwerwiegend bezeichnet werden kann. Was die oben unter (cc) erwähnte Befugnis zur vorrangigen Benutzung von . . . Kommunikationseinrichtungen angeht, so ist eine derartige Befugnis zur Erledigung des Dienstes unter dem Ausnahmezustand notwendig und normal; die Vorschrift enthält nichts, was gegen die Verfassung verstoßen könnte. Kurz gesagt: A r t . 3 Abs. (b) des Gesetzes Nr. 1402 ist nicht verfassungswidrig. Der gegen diesen Absatz gerichtete Teil der Klage ist abzuweisen. (Ein Richter hat sich dieser Begründung zwar angeschlossen, sie aber für unzureichend gehalten, während drei Richter sich dieser Begründung nicht angeschlossen haben 58 .) c) Art. 3 Abs. (c) Die Bestimmungen dieses Absatzes beschränken allgemein diejenigen Prinzipien und Vorschriften, die sich auf die Pressefreiheit nach dem abgeänderten A r t . 22, auf das Recht zur Herausgabe von Büchern und Broschüren nach A r t . 24, auf den Schutz der Presseeinrichtungen nach Art. 25 und zum Teil auch auf die i n A r t . 17 geregelte Korrespondenzfreiheit und das Recht auf Benutzung der nichtpressemäßigen Kommunikationsmittel nach dem abgeänderten A r t . 26 beziehen. Nach den Bestimmungen dieses Absatzes ist der Kommandant des Ausnahmezustandes befugt, i n dem Bezirk, über den der Ausnahmezustand ver58 Siehe die Sondervoten der Richter Ariç, Vrana, S. 90 ff. bzw. S. 102, 106.
Gürün,
Müftügil
unten
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hängt worden ist, i n den Fällen, i n denen die allgemeine Sicherheit und die öffentliche Ordnung dies erfordern, aa) alle durch Wort, Schrift, Bild, Film, Ton erfolgenden Veröffentlichungen, Nachrichten, Briefe, Telegramme und andere Sendungen jeder A r t zu kontrollieren; bb) den Druck und die Verbreitung von Zeitungen, Zeitschriften, Büchern und anderen Veröffentlichungen einzuschränken, über diese die Zensur zu verhängen oder ihr Verbringen i n den Bezirk des Ausnahmezustandes zu verbieten; cc) diejenigen Druckereien zu schließen, welche Druckerzeugnisse jeder A r t wie Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Broschüren, Plakate drucken, deren Druck oder Verbreitung seitens des Kommandanten des Ausnahmezustandes verboten worden ist. Der Kläger trägt vor, daß A r t . 3 Abs. (c) vor allem wegen der Befugnis zur Zensur und zur Schließung von Druckereien gegen die Art. 22 und 25 der Verfassung verstößt. Da hinsichtlich der A r t . 17 und 26 oben bereits Ausführungen gemacht worden sind, erübrigt sich hier eine Wiederholung. Das Grundprinzip des abgeänderten Verfassungsartikels 22 geht dahin, daß die Presse frei ist und nicht zensiert werden darf. „Der Staat hat Maßnahmen zur Sicherung der Presse- und Unterrichtungsfreiheit zu treffen. Die Presse- und Unterrichtungsfreiheit darf nur zum Schutze des Bestands von Staatsgebiet und Staatsvolk, der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit und der für diese erforderliche Geheimhaltung oder der allgemeinen Sitten, zur Verhütung von Angriffen gegen die Würde, Ehre und Rechte der Person, zur Verhinderung der Aufhetzung zu strafbaren Handlungen oder zur Sicherung einer zweckentsprechenden Erfüllung der richterlichen Aufgaben durch Gesetz eingeschränkt werden. Vorbehaltlich der richterlichen Entscheidungen und innerhalb der Grenzen, welche zur Durchführung einer sachentsprechenden Gerichtsbarkeit durch Gesetz zu bestimmen sind, darf über Tagesneuigkeiten kein Publikationsverbot verhängt werden. Die i n der Türkei erscheinenden Zeitungen und Zeitschriften können beschlagnahmt werden, und zwar bei Begehung strafbarer Handlungen, die gesetzlich bestimmt sind, auf Grund eines Gerichtsbeschlusses, und i n den Fällen, die zum Schutz des Bestandes von Staatsgebiet und Staatsvolk, der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung oder der allgemeinen Sitten keinen Aufschub dulden, auf Anordnung der durch Gesetz ausdrücklich für zuständig erklärten Dienststelle. Die zuständige Dienststelle, welche die Beschlagnahme anordnet, teilt diese Anordnung binnen 24 Stunden dem Gericht mit. Wenn das Gericht
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diese Anordnung nicht spätestens binnen drei Tagen bestätigt, w i r d die Anordnung der Beschlagnahme für nichtig erachtet. Zeitungen und Zeitschriften können durch gerichtliche Entscheidung geschlossen werden, wenn sie wegen Veröffentlichungen bestraft worden sind, die gegen die nationale Sicherheit, die öffentliche Ordnung, die allgemeinen Sitten, die auf den Menschenrechten und -freiheiten beruhenden Wesensmerkmale der nationalen, demokratischen, laizistischen 59 Republik oder die Grundnorm über den Bestand von Staatsgebiet und Staatsvolk verstoßen." Was den auf den Schutz gegen Pressevergehen bezüglichen Verfassungsartikel 25 angeht, so zielt er dahin, daß Druckereien nebst ihren Einrichtungen und Druckwerkzeugen auch nicht mit der Begründung, daß sie als Verbrechenswerkzeuge gedient haben, beschlagnahmt, eingezogen oder unbrauchbar gemacht werden dürfen. Das Grundprinzip i n A r t . 24 der Verfassung geht dahin, daß die Herausgabe von Büchern und Broschüren nicht von einer Erlaubnis abhängig gemacht werden darf und auch eine Zensur unzulässig ist. Hinsichtlich der Beschlagnahme gilt dasselbe Prinzip wie bei Zeitungen und Zeitschriften. Prüft man Abs. (c) von A r t . 3, so finden sich unter den Befugnissen, welche dem Kommandanten des Ausnahmezustandes zuerkannt sind, zwei Hauptbefugnisse, die schwer wiegen, sehr bedeutsam sind und das Interesse auf sich lenken. Es handelt sich hierbei, worauf auch der Kläger hingewiesen hat, um die Befugnis der Zensur über Zeitungen, Zeitschriften, Bücher und andere Publikationen und um die Befugnis, Druckereien zu schließen . . . Das Zensurverbot ist das Grundelement der Pressefreiheit und ist bereits i m Begriff dieser Freiheit enthalten. Der Umstand, daß in dem abgeänderten Verfassungsartikel 22 vom „Zensurverbot" noch besonders die Rede ist, ändert daran nichts und kann ihm keine unabhängige Existenz außerhalb des Begriffs der Pressefreiheit verschaffen. Der Verfassungsgeber war sich dessen bewußt, was das Land jahrelang infolge der Pressezensur ausgestanden hat; um jegliche Zweifel auszuräumen, hat er es für richtig befunden, nach den Wörtern „die Presse ist frei", auf dem Wege der Klarstellung und zur Verstärkung die Wörter: „sie darf nicht zensiert werden" hinzuzufügen. Bei der Regelung des ebenfalls aus dem Prinzip der Pressefreiheit als Hauptquelle stammenden Rechts auf Herausgabe von Büchern und Broschüren i n Art. 24 bedeutet der Umstand, daß von Zensur die Rede ist, nichts anderes. 59
Siehe zu diesem Ausdruck A n m e r k u n g 29.
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Der zweite Absatz des abgeänderten Verfassungsartikels 22 erlaubt die Einschränkung der Presse- und Unterrichtungsfreiheit durch Gesetz zum Schutze des Bestandes von Staatsgebiet und Staatsvolk, der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit und der für diese erforderlichen Geheimhaltung. Bereits oben wurde darauf hingewiesen, daß unter den i m abgeänderten Verfassungsartikel 124 für die Verhängung des Ausnahmezustandes i m einzelnen aufgeführten Gründen in der Ausdrucks weise „Schutz des Bestandes von Staatsvolk und Staatsgebiet, der öffentlichen Ordnung und der nationalen Sicherheit" gerade „der Schutz der für die nationale Sicherheit erforderlichen Geheimhaltung" bei den die Verhängung des Ausnahmezustandes erfordernden Gegebenheiten als Notwendigkeit empfunden wird. Daran kann kein Zweifel bestehen. Demnach entsprechen die i n dem Gesetz Nr. 1402 über den Ausnahmezustand zur Einschränkung der Pressefreiheit enthaltenen Vorschriften i n Wirklichkeit dem zweiten Absatz des abgeänderten Verfassungsartikel 22. Es gibt verschiedene Wege und Stufen für die Beschränkung der Pressefreiheit. Die Zensur ist nur eine dieser Wege und Stufen. Dies bedeutet, daß die Verfassungsbestimmung, welche bei bestimmten Situationen die Einschränkung der Pressefreiheit erlaubt, unter diesen Einschränkungen auch die Zensur als Möglichkeit vorgesehen hat. Bei dieser Sachlage verstößt die in Art. 3 Abs. (c) des Gesetzes Nr. 1402 enthaltene und oben unter (bb) bereits behandelte Befugnis „den Druck und die Verbreitung von Zeitungen, Zeitschriften, Büchern und anderen Veröffentlichungen einzuschränken, über diese die Zensur zu verhängen oder ihr Verbringen in den Bezirk des Ausnahmezustandes zu verbieten", nicht gegen die Verfassung. Was die i n derselben Bestimmung und oben unter (cc) angeführte Befugnis betrifft, „diejenigen Druckereien zu schließen, welche Druckerzeugnisse jeder A r t wie Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Broschüren, Plakate drucken, deren Druck oder Verbreitung seitens des Kommandanten des Ausnahmezustandes verboten worden sind", so handelt es sich dabei um eine vorgesehene, außergewöhnliche Verwaltungsmaßnahme, um dem Druck derjenigen Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Broschüren und dergleichen vorzubeugen, deren Druck und Verbreitung seitens des Kommandanten des Ausnahmezustandes verboten worden sind. Die Notwendigkeit, eine derartige außergewöhnliche gesetzliche Maßnahme zur Verfügung zu haben, liegt auf der Hand, weil i n einer Situation, welche die Verhängung des Ausnahmezustandes notwendig macht, negative, schädigende und destruktive Tätigkeiten von Druckereien zu ernsten und gefährlichen Zuständen, zu schweren Erschütterungen i m Staats- und Volkskörper führen können. Sicherlich bilden das Prinzip und der Begriff der Pressefreiheit auch die Quelle für die Notwendigkeit, die Presseeinrichtungen zu schützen. Diese na5 Hirsch
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türliche Folge hat ihren Ausdruck i n Art. 25 der Verfassung gefunden, und es ist offensichtlich, daß die hier geprüfte Vorschrift dem äußeren Schein nach mit jenem A r t i k e l unvereinbar ist. Jedoch darf nicht vergessen werden, daß durch die Verfassung die Erlaubnis dazu gegeben worden ist, sogar die auf die Presse bezüglichen Grundfreiheiten aus bestimmten Gründen einzuschränken. Abgesehen davon bildet den entscheidenden Maßstab i n dieser Frage nicht A r t . 25, sondern, wie oben (IV - 3 - A - a) ausgeführt und angenommen worden ist, . . . die Vorschrift des abgeänderten A r t . 124, der speziell den Ausnahmezustand regelt. Unter diesem Gesichtspunkt entspricht offensichtlich eine Maßnahme wie das Schließen von Drukkereien dem i n der Verfassung definierten Begriff des Ausnahmezustandes, weitet die Notwendigkeiten des Ausnahmezustandes nicht aus und ist nur eine notwendige Folge der Vorschriften i n dem abgeänderten Verfassungsartikel 124. Kurz zusammengefaßt: A r t . 3 Abs. (c) des Gesetzes N. 1402 verletzt i n keiner Weise die Verfassung. Der gegen diesen Absatz gerichtete Teil der Klage ist abzuweisen. (Ein Richter hat sich dieser Begründung zwar angeschlossen, sie aber nicht für zureichend befunden; sieben Richter haben sich der Ansicht hinsichtlich der Möglichkeit, Druckereien zu schließen, drei Richter auch den übrigen Ausführungen nicht angeschlossen60.) B. Artikel
11 des Gesetzes Nr. 1402:
A r t . 11 des Gesetzes Nr. 1402 trägt die Überschrift „Militärgerichte" und besteht aus fünf Absätzen. Davon beziehen sich der erste Absatz auf die Errichtung von Militärgerichten i n den Bezirken des Ausnahmezustandes, der zweite und dritte auf die Wahlen derjenigen, die bei diesen Gerichten als Richter bestellt werden, der vierte Absatz auf die Ernennung der Offiziers-Mitglieder, der fünfte und letzte Absatz auf die Gremien i m Kriegsfall. Der Kläger hat vorgetragen, die Richter der Ausnahmezustandsgerichte seien an das Exekutivorgan gebunden und würden von einem diesem zugeordneten Gremium gewählt und nach dem Gesetz Nr. 353 bestellt. Dies verstoße gegen die i m letzten Absatz von A r t . 138 der Verfassung verankerten Begriffe der Unabhängigkeit der Gerichte und der Garantie des Richteramtes; es könne nicht angenommen werden, daß die Erfordernisse des militärischen Dienstes die Garantie des Richteramtes zu einem Nichts machten. I m Folgenden soll A r t . 11 Absatz für Absatz geprüft und diskutiert werden. 60
Siehe die Voten der i n A n m . 55 genannten Richter.
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a) Art. 11 Abs. 1 Nach den Bestimmungen dieses Absatzes sind i n den Bezirken des Ausnahmezustandes nach dem Gesetz Nr. 353 vom 25. Oktober 1963 über die Errichtung von Militärgerichten und das Prozeßverfahren seitens des Ministeriums für die Nationale Verteidigung an den für erforderlich gehaltenen Orten i n ausreichender Zahl Militärgerichte zu errichten. Diese werden nach dem Ort ihres Sitzes „Ausnahmezustands-Militärgerichte" genannt und, falls mehrere vorhanden sind, numeriert. Abs. 3 des abgeänderten Verfassungsartikels 138 enthält die Bestimmung: „Für welche strafbaren Handlungen und über welche Personen die Militärgerichte i m Ausnahmezustand oder i m Kriegsfall zuständig sind, w i r d durch Gesetz bestimmt." Bei dieser Sachlage besteht stets die Wahrscheinlichkeit, daß die Zahl der in die Zuständigkeit der Militärgerichte fallenden Straftaten und dementsprechend der anfallenden Prozesse sich erheblich vermehrt und i n Situationen, welche die Verhängung des Ausnahmezustandes erforderlich machen, auch die außerdem begangenen Straftaten zunehmen. Es ist nicht vorstellbar, daß die zum Zeitpunkt der Verhängung des Ausnahmezustandes vorhandenen Militärgerichte zusätzlich zu ihren normalen Aufgaben auch noch alle diese Sachen ordnungsmäßig erledigen können. Abgesehen davon werden Militärgerichte (nach A r t . 1 des Gesetzes Nr. 353) bei den D i v i sions», Korps-, Armee- und Heeresgruppenstäbe errichtet. Die Dienststelle des Kommandanten des Ausnahmezustandes bildet mit ihren gesetzlich festgelegten Zuständigkeiten und Befugnissen, ihrem Dienstbezirk, ihrem Stab und dem seinem Befehl unterstellten militärischen Einheiten eine völlig selbständige eigene Institution. Es versteht sich von selbst, daß auch bei dieser Dienststelle Militärgerichte errichtet werden müssen. Andererseits haben die Kommandanten der Einheiten, bei denen Militärgerichte errichtet sind, i n dieser Beziehung einige Funktionen und Befugnisse. Dem Kommandanten des Ausnahmezustandes sind natürlich dieselben Funktionen und Befugnisse eingeräumt worden (Art. 19 des Gesetzes Nr. 1402). Angenommen, daß ein Militärgericht bei einer Division gleichzeitig die Ausnahmezustandssachen miterledigt, so würde es zwei Kommandanten geben, die auf diesem Gebiet verschiedene getrennte Funktionen und Befugnisse hätten. So etwas gibt es nicht beim Militär, ja sogar nicht i n der Z i v i l Verwaltung. Das Gesetz Nr. 1402 (Art. 11 letzter Absatz) hat allein für den Kriegsfall die Möglichkeit vorgesehen, daß innerhalb des Ausnahmezustandes und der Operationsgebiete die Militärgerichte zugleich auch die Aufgaben eines Ausnahmezustands-Militärgerichts erfüllen; jedoch ist dies an einige Voraussetzungen gebunden, wie ζ. B. daran, daß der Chef des 5*
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Generalstabs dies für erforderlich hält und derjenige, dem diese Befugnis anvertraut wird, seitens des Ministeriums für die nationale Verteidigung bestellt wird. Wenn man sich vor Augen hält, daß die Schwierigkeiten und Notwendigkeiten i m Kriegsfall, gemessen am Ausnahmezustand, noch variabler und schwieriger sind, w i r d der Grund für diese Ausnahmeregelung verständlich. M i t anderen Worten: Die Errichtung von Militärgerichten i n den Bezirken des Ausnahmezustandes ist normal und notwendig. Es kann nicht angenommen werden, daß die der Prüfung unterliegende Regelung i m ersten Absatz dem abgeänderrten Verfassungsartikel 32 zuwiderläuft. Denn dieser A r t i k e l enthält den Grundsatz, daß niemand vor eine andere Behörde als dasjenige Gericht gestellt werden darf, dem er gesetzlich untersteht; und daß mit richterlicher Gewalt ausgestattete Ausnahmebehörden, die dazu führen, jemanden vor eine andere Behörde als dasjenige Gericht zu stellen, dem er gesetzlich untersteht, nicht geschaffen werden dürfen. Nun hat die Verfassung zugelassen, daß i m Ausnahmezustand Prozesse wegen gesetzlich bestimmter Straftaten und Personen vor den Militärgerichten geführt werden; i n A r t . 11 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 1402 ist bestimmt, daß i n den Bezirken des Ausnahmezustandes in ausreichender Anzahl Militärgerichte zu errichten sind, und i n A r t . 15 sind diejenigen strafbaren Handlungen aufgeführt, die von den Militärgerichten abgeurteilt werden. Bei dieser Sachlage besteht weder juristisch noch logisch die Möglichkeit, die i n den Bezirken des Ausnahmezustandes errichteten Militärgerichte als mit richterlicher Gewalt versehene Ausnahmebehörden außerhalb des gesetzlichen Rechtswegs zu qualifizieren. Da die i n den Bezirken des Ausnahmezustandes errichteten Gerichte Militärgerichte sind, ist es natürlich und normal, auch bei ihrer Errichtung die diese Fragen regelnden Bestimmungen des Gesetzes Nr. 353 anzuwenden. Kurz zusammengefaßt: A r t . 11 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 1402 verstößt nicht gegen die Verfassung. Der gegen diese Vorschrift gerichtete Teil der Klage ist abzuweisen. (Drei Richter haben, obwohl sie das Ergebnis billigten, die Begründung für nicht ausreichend gehalten; vier Richter haben sich der Entscheidung nicht angeschlossen61.) b) A r t . 11 Abs. 2 und 3 Der zweite Absatz enthält die Bestimmung, daß die für die Militärgerichte i n den Bezirken des Ausnahmezustandes benötigten Rechtsräte, Militärrichter, Militärstaatsanwälte und deren Hilfskräfte i n ausrei61 Siehe die Ergänzungsvoten der Richter Ariç, önel, Gürün u n d die abweichenden Voten der Richter Taylan, Seçkin, Vrana u n d Müftügil unten S. 95, 100, 103 bzw. S. 79 ff., 106.
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chender Anzahl von einem Ausschuß gewählt und bestellt werden, der aus dem Rechtsrat beim Chef des Generalstabs, dem Direktor für die Militärjustizsachen i m Ministerium für die nationale Verteidigung und dem Präsidenten des Inspektionsrats für die Militärjustiz besteht. Abs. 3 des Artikels macht einen Vorbehalt für die Garantiebestimmung, welche i n A r t . 16 des Gesetzes Nr. 357 vom 26. Oktober 1963 über die Militärrichter und Militärstaatsanwälte „die Versetzungsgrundsätze" festlegt, auch zu Gunsten der Militärrichter und Militärstaatsanwälte bei den i n den Bezirken des Ausnahmezustandes errichteten Militärgerichten; allerdings enthält er die Bestimmung, daß diese Garantie nicht i n Anspruch genommen werden kann, wenn Entschuldigungsgründe vorliegen, welche die Ausübung des Dienstes über einen Monat hinaus ununterbrochen verhindern. Nach der i n diesem Absatz enthaltenen Ausnahmevorschrift gilt somit die i n A r t . 16 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 357 enthaltene Garantie, daß Militärrichter und Staatsanwälte ohne ihre Zustimmung in der dritten geographischen Region nicht vor dem Ablauf von drei Jahren, in den anderen Regionen nicht vor dem Ablauf von vier Jahren an einen anderen Ort oder an eine andere Dienststelle versetzt werden dürfen, grundsätzlich nicht für diejenigen, welche für die Gerichte des Ausnahmezustandes ernannt werden. I n dem Absatz (Art. 16 Abs. 4), welcher bei Versetzungen innerhalb der i n den Stellenplänen der Präsidien der Militärjustizsachen und des Inspektionsrats der Militärjustiz ausgewiesenen Ämtern von Militärrichtern, Militärhilfsrichtern, Militärstaatsanwälten und Militärhilfsstaatsanwälten und Rechtsräten das Einverständnis der Betroffenen als Regel vorsieht, ist zugleich bestimmt, in welchen Situationen diese Garantie nicht in Betracht kommen kann. Insofern hat A r t . 11 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 1402 diesen Ausnahmen eine neue hinzugefügt: der Entschuldigungsgrund, der das Versehen des Dienstes über einen Monat hinaus und ununterbrochen verhindert, gilt als Ausschluß für die Inanspruchnahme der Garantie. Angesichts des Umstandes, daß die i n den Bezirken des Ausnahmezustandes errichteten Militärgerichte kontinuierlich und ordnungsmäßig arbeiten können, ist eine derartige Ausnahme um so leichter als angemessen und notwendig zu erachten, wenn man die Nachteile berücksichtigt, die dadurch entstehen, daß die an diesen Gerichten tätigen Militärrichter oder Staatsanwälte eine längere Zeit dem Dienst fernbleiben. Bei der Prüfung der Vereinbarkeit von A r t . 11 Abs. 2 und 3 mit der Verfassung muß man sich auch folgendes vor Augen halten: Die Gerichte in den Bezirken des Ausnahmezustandes sind keine Einrichtungen mit besonderen und andersartigen Eigenschaften, sondern es handelt sich entsprechend A r t . 138 der Verfassung um Militärgerichte, bei
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denen auch die Mehrheit der Mitglieder Militärrichter sind. Eine Behauptung i n dem Sinne, daß bei der Errichtung von Militärgerichten gegen die Grundsätze der Unabhängigkeit der Gerichte und der Garantie des Richteramtes verstoßen worden sei, betrifft nicht das Gesetz Nr. 1402 über den Ausnahmezustand, sondern das Gesetz Nr. 353 über die Errichtung von Militärgerichten und das Gerichtsverfahren sowie das Gesetz Nr. 357 über Militärrichter und Militärstaatsanwälte. Aber diese beiden Gesetze sind nicht Gegenstand dieses Rechtsstreits. A r t . 11 Abs. 2 und 3 enthalten keine Bestimmung, welche die Struktur der Militärgerichte oder die Garantie der Militärrichter ergänzt oder verändert. Nur der zweite Absatz hat ein i m Gesetz Nr. 357 nicht erwähntes Verfahren vorgesehen; dieses besteht darin, daß das Personal für die Militärgerichtsbarkeit i n den Bezirken des Ausnahmezustandes durch das Sieb eines Ausschusses läuft. Es liegt auf der Hand, daß diese Vorschrift die strittige Frage der Garantie des Richteramts nicht löst, sondern angesichts der Bedeutung und Schwierigkeit des Dienstes in den Bezirken des Ausnahmezustandes einen Weg versucht, besonders hervorragendes Personal dorthin zu entsenden. Selbst unterstellt, diese Vorschrift sei verfassungswidrig und müsse für nichtig erklärt werden, so müßte behauptet werden, daß bei den Ernennungen ohne Wahlakt unmittelbar A r t . 16 des Gesetzes Nr. 357 nebst den anderen einschlägigen Bestimmungen anzuwenden seien. Auch dies zeigt deutlich genug, daß die Feststellung der Frage, ob die Militärgerichte und Militärrichter verfassungswidrig sind, nicht Gegenstand eines „Gesetzes über den Ausnahmezustand" ist, sondern zu dem Komplex des „Gesetzes über die Gründung und das Verfahren der Militärgerichte" und des „Gesetzes über die Militärrichter und -staatsanwälte" gehört. Schließlich ist diese Vorschrift mit ihren oben erläuterten Merkmalen weder verfassungswidrig, noch verursacht sie irgendeine Unausgeglichenheit mit dem, was i n A r t . 138 letzter Absatz der Verfassung über die Militärgerichtsbarkeit umschrieben w i r d als „Unabhängigkeit der Gerichte, Garantie des Richteramtes und Bedürfnisse des militärischen Dienstes". Kurz zusammengefaßt: A r t . 11 Abs. 2 und 3 sind nicht verfassungswidrig. Der gegen diese Vorschriften gerichtete Teil der Klage ist abzuweisen. (Ein Richter hat sich dieser Begründung zwar angeschlossen, aber sie nicht als ausreichend erachtet; sieben Richter haben sich der Auffassung der Mehrheit nicht angeschlossen62.) 62 Siehe Ergänzungsvotum des Richters Ariç u n d die abweichenden Voten der Richter Taylan, Ülgenalp, Seçkin, önel, Vrana, Gürün, Müftügü unten S. 95 bzw. S. 84 - 87, 103.
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c) Die anderen Absätze von A r t . 11 . . . (Wiederholung des Inhalts. Einstimmige Ablehnung der Verfassungswidrigkeit.) C. Art. 15 des Gesetzes Nr. 1402: Art. 15 des Gesetzes Nr. 1402 enthält i m wesentlichen drei Bestimmungen: die erste überläßt es der wertenden Beurteilung und dem Entschluß des Kommandanten des Ausnahmezustandes, ob die Täter und Teilnehmer der i n lit. (a) bis (1) aufgezählten Straftaten von dem beim Kommandanten des Ausnahmezustandes eingerichteten Militärgericht oder von den allgemeinen Gerichten abgeurteilt werden. Die zweite Bestimmung gewährt dem Kommandanten des Ausnahmezustandes die Befugnis, die Beschuldigten höchstens dreißig Tage lang i n Haft zu behalten. I n der dritten Bestimmung bleiben vorbehalten die Vorschriften der Verfassung über die Immunität der Mitglieder der Gesetzgebenden Körperschaften, des A r t . 90 63 und die völkerrechtlichen Bestimmungen über die diplomatische Immunität. Da diese letztgenannte Vorschrift sich unmittelbar auf die ersten beiden Absätze bezieht, ist es zweckmäßig, sie i n diesem Zusammenhang mitzubehandeln. Obwohl der Kläger die Nichtigerklärung des gesamten A r t i k e l 15 begehrt, hat er sich damit begnügt, als Begründung vorzutragen, die Befugnis zur Festnahme für 30 Tage sei ein Verstoß gegen den Verfassungsartikel 30. Die wesentlichen drei Vorschriften von A r t . 15 werden i m folgenden i n zwei Abschnitten untersucht: a) Die dem Kommandanten des Ausnahmezustands zustehende Befugnis, das Gericht zu bestimmen: Nach den Vorschriften von A r t . 15 Abs. 1 werden die Täter und Teilnehmer der unter (a) bis (1) aufgezählten Straftaten, die an den unter dem Ausnahmezustand stehenden Orten begangen werden, falls der Kommandant des Ausnahmezustandes es so bestimmt, ohne Rücksicht auf Stand, Beruf und Beamtenstellung von den bei dem Kommandanten des Ausnahmezustandes errichteten Militärgerichten abgeurteilt. Die für die Verfolgung dieser Straftaten zuständigen Stellen sind verpflichtet, die Akten über die Ermittlungen unverzüglich dem Kommandanten des Ausnahmezustandes zu übersenden. Der Kommandant des Ausnahmezustandes übergibt diese Akten entweder der Militärstaatsanwaltschaft des bei dem Kommandanten des Ausnahmezustandes errichteten Militärgerichts oder sendet sie zur weiteren Erledigung im Rahmen der allgemeinen Bestimmungen der zuständigen Stelle zurück. 63
Über Vorbereitung der Ministeranklage.
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Die den Gegenstand der Prüfung bildende Zuständigkeitsvorschrift hat zwei Seiten: die eine bezieht sich darauf, daß die Täter oder Teilnehmer der i n dem A r t i k e l unter 12 Punkten aufgezählten Straftaten je nach dem Willen des Kommandanten des Ausnahmezustandes vor dem Militärgericht verhandelt oder nach den allgemeinen Bestimmungen behandelt werden. Hier sind die Befugnisse der Militärgerichte, vom Gesichtspunkt der strafbaren Handlungen und der Personen aus betrachtet, etwas durcheinander geraten. Die andere Seite besteht darin, daß der Kommandant des Ausnahmezustandes, wenn er von seiner Befugnis Gebrauch macht, nicht an die Grenzen gebunden ist, welche der Stand, der Beruf und die Beamtenstellung erforderlich machen können. Es dürfte für die Klarheit der Entscheidung zweckmäßig sein, diese beiden Seiten soweit wie möglich getrennt voneinander zu untersuchen. aa) Zuständigkeit ratione materiae Nach der zwingenden Vorschrift von Abs. 3 des abgeänderten Verfassungsartikels 138 ist durch Gesetz zu bestimmen, für welche Straftaten und für welche Personen die Militärgerichte i m Kriegszustand oder unter dem Ausnahmezustand zuständig sind. I n Art. 15 des Gesetzes Nr. 1402 sind unter 12 Punkten eine Anzahl von Straftatbeständen aufgezählt; jedoch bleibt es der Beurteilung und Bestimmung des Kommandanten des Ausnahmezustandes überlassen, ob für diese Straftaten die Militärgerichte oder die allgemeinen Gerichte zuständig sein können. Es kann unmöglich angenommen werden, daß nach den hier zu prüfenden Bestimmungen von A r t . 15 die von den Militärgerichten abzuurteilenden Straftaten als durch Gesetz bestimmt anzusehen sind und der zwingenden Vorschrift von Art. 138 der Verfassung Genüge geschehen ist. Denn die i n A r t . 15 aufgeführten Straftaten enthalten, an und für sich unter dem Gesichtspunkt der Zuständigkeit der M i l i tärgerichte i m Ausnahmezustand, keinerlei Hinweis und endgültige Bestimmung. Die Zuständigkeit zur Aburteilung eines Täters steht nur dann dem Militärgericht zu, wenn der Kommandant des Ausnahmezustandes es so bestimmt. Es sind noch nicht einmal gesetzliche, sachliche und von vorneherein bestimmte Kriterien vorhanden, welche den Kommandanten des Ausnahmezustandes bei seiner Beurteilung und Bevorzugung binden. Der Kommandant kann wegen jeder Straftat und gegen jeden Beschuldigten nach seinem Gutdünken vorgehen. Dies bedeutet, daß die Frage, für welche Straftaten die Militärgerichte i m Ausnahmezustand zuständig sind, nicht durch das Gesetz, sondern i m Ergebnis durch die Kommandanten des Ausnahmezustandes bestimmt werden. Dies aber kann nicht unter den Begriff „durch Gesetz bestimmt sein" subsumiert werden.
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Der abgeänderte Verfassungsartikel 32 enthält das Prinzip, daß niemand vor eine andere Behörde als dasjenige Gericht gestellt werden darf, dem er gesetzlich untersteht. Wenn nicht vorher durch Gesetz endgültig klargestellt ist, für welche Straftaten ein Gericht zuständig ist, so besteht keine Möglichkeit, von einem Gericht zu sprechen, dem der Täter „gesetzlich untersteht". Deutlich ausgedrückt: Wenn jemand, der eine strafbare Handlung i m Gebiet des Ausnahmezustandes begeht, nicht vorher durch Gesetzesvorschrift in den Stand gesetzt worden ist, zu wissen, wegen welcher strafbaren Handlung er vom Militärgericht abgeurteilt wird, so kann das Militärgericht nicht als dasjenige Gericht betrachtet werden, dem diese Person gesetzlich untersteht. Dies bedeutet: die den Gegenstand der Prüfung bildende Bestimmung steht auch in Widerspruch zu dem abgeänderten Verfassungsartikel 32, weil nicht beachtet worden ist, daß auch unter dem Ausnahmezustand das Verfassungsprinzip des gesetzlichen Rechtswegs geschützt ist. A r t . 17 des Gesetzes Nr. 1402 enthält die Bestimmung, daß die vom Ausnahmezustandsgericht verhängten Freiheitsstrafen nicht i n Geldstrafen umgewandelt werden können. Wenn von zwei Personen i m Bezirk des Ausnahmezustandes sachlich die gleichen strafbaren Handlungen begangen werden und die verhängten Freiheitsstrafen nach den Vorschriften des Strafvollstreckungsgesetzes Nr. 647 vom 14. 7.1965 in Geldstrafen umgewandelt werden können, dann würde je nach der Beurteilung und Bestimmung des Kommandanten des Ausnahmezustandes der eine vor dem Militärgericht abgeurteilt werden, während der andere nach den allgemeinen Vorschriften behandelt würde. Von zwei Tätern, die juristisch betrachtet i n der gleichen Situation sind, würde der eine, dessen Strafe vom Militärgericht verhängt worden ist, der Möglichkeit beraubt sein, daß seine Freiheitsstrafe in Geldstrafe umgewandelt wird, während der andere, weil er dem allgemeinen Gericht überlassen worden ist, von dieser Möglichkeit Gebrauch machen könnte. Auf diese Weise steht der Weg offen zu der Auffassung, daß die geprüfte Vorschrift sogar mit dem Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz i n Widerspruch steht. Dadurch daß die Verfassung i n ihrem A r t i k e l 138 vorgesehen hat, daß durch Gesetz bestimmt wird, für welche Straftaten und gegen welche Personen die Militärgerichte i m Ausnahmezustand zuständig sind, w i r d offensichtlich, daß der Ausnahmezustand i n dieser Hinsicht keinen Grund für Ungleichheit vor dem Gesetz bilden kann. bb) Zuständigkeit ratione personae Der Kommandant des Ausnahmezustandes ist bei den Tätern und Teilnehmern der i n Art. 15 aufgezählten Straftaten i n der Regel nicht
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an die Grenzen gebunden, die deren Stand, Beruf und Beamtenstellung erforderlich machen können. Die Ausnahmen von der Befugnis sind i m letzten Absatz des Artikels nur unter drei Voraussetzungen ausdrücklich vorbehalten: Es handelt sich u m „die Verfassungsbestimmungen über die Immunität der Mitglieder der Gesetzgebenden Körperschaften". „Die Vorschrift von A r t . 90 der Verfassung hinsichtlich der parlamentarischen Untersuchungen gegen den Ministerpräsidenten und die Minister", „die internationalen Rechtsbestimmungen über die diplomatische Imunität." . . . Wenn man von dem Widerspruch absieht, der darin besteht, daß mit einer Gesetzesvorschrift einige Verfassungsbestimmungen vorbehalten werden, obwohl das i n A r t . 8 der Verfassung niedergelegte Prinzip der Überordnung und bindenen Kraft der Verfassung unverändert i n Geltung ist, führt die dem Kommandanten des Ausnahmezustandes ratione personae zuerkannte Befugnis zu folgendem Zustand und Ergebnis: Wenn Mitglieder des Verfassungsgerichts, des Kassationshofs, des Staatsrats, des Militärkassationshofs, des Hohen Richterausschusses sowie der Präsident und die Mitglieder des Rechnungshofs einschließlich der Generalstaatsanwälte am Kassationshof, Staatsrat oder Militärkassationshof eine der in A r t . 15 aufgezählten strafbaren Handlungen, die mit ihren Dienstobliegenheiten innerhalb des Bezirks des Ausnahmezustandes zusammenhängen, angeblich begangen oder sich daran als Gehilfe beteiligt hat, stehen wegen aller mit ihrem Dienst zusammenhängenden Delikte der Weg und die Möglichkeit für ihre Aburteilung vor den Militärgerichten offen. Dabei dürfen die genannten Personen nach der abgeänderten Verfassungsbestimmung i n Abs. 2 von Art. 147 wegen der mit dem A m t zusammenhängenden strafbaren Handlungen nur vor dem Staatsgerichtshof abgeurteilt werden. Die Verfassung enthält weder i n ihrem abgeänderten Art. 124 über „Ausnahme· und Kriegszustand" noch i n ihrem abgeänderten A r t . 138 über die Militärgerichtsbarkeit eine Bestimmung, welche diesen Rechtszustand als verfassungskonform rechtfertigen könnte. Den Verstoß der Vorschrift gegen A r t . 147 kann auch der Umstand nicht beseitigen, daß nach Art. 21 Abs. (d) des Gesetzes Nr. 1402 zur Strafverfolgung der oben genannten Personen seitens des Kommandanten des Ausnahmezustandes die vorgängige Erlaubnis der nach besonderem Gesetz dafür zuständigen Kommissionen und Behörden notwendig ist. Denn als Verfassungsverstoß genügt es schon für sich allein, wenn vorgesehen ist, daß die bestimmten Personen i n Ausübung ihrer Pflichten durch die Verfassung als erforderlich anerkannte Garantie durch Vorschriften außerhalb der Verfassung und durch die Erlaubnis irgend einer Kommission oder Stelle zu Nichte gemacht werden kann.
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Andererseits enthält der abgeänderte Verfassungsartikel 138 die Vorschrift, daß durch Gesetz zu bestimmen ist, zur Aburteilung welcher Personen i m Ausnahmezustand die Militärgerichte zuständig sind. Es kann nicht als eine diesem Verfassungsartikel entsprechende gesetzliche Regelung angesehen werden, wenn wie es i n A r t . 15 des Gesetzes Nr. 1402 geschehen ist, die Gesamtheit der Täter bestimmter Delikte ohne Rücksicht auf ihren Stand, ihren Beruf und ihre Beamtenstellung i n einer einzigen Vorschrift zusammengefaßt werden, und die von den Militärgerichten abzuurteilenden Personen der Beurteilung und Bestimmung des Kommandanten des Ausnahmezustandes überlassen werden. ( . . . Verweisung auf die auch hier zutreffende Begründung unter I V - 3 - C - a - aa) . . . b) Die Befugnis zur vorläufigen Festnahme für 30 Tage Der dritte Absatz von A r t . 15 verleiht dem Kommandanten des Ausnahmezustandes die Befugnis, diejenigen, die i m Verdacht einer der i m Gesetz aufgeführten Straftaten stehen, höchstens 30 Tage i n Haft zu behalten, bis darüber eine Entscheidung getroffen worden ist, ob es erforderlich ist, sie festzuhalten und dem Ausnahmezustandsgericht bei der Kommandantur zu überstellen. Der abgeänderte Verfassungsartikel 30, der sich auf den „Schutz der Person" bezieht, und zu den „Vorschriften über den Rechtsschutz" gehört, hat die Festnahme an das Vorhandensein bestimmter Voraussetzungen und an eine richterliche Entscheidung geknüpft und die Möglichkeit einer Festnahme auf frischer Tat oder i n den Fällen, i n denen Gefahr i m Verzug ist, anerkannt, wobei die näheren Bestimmungen gesetzlich zu treffen sind; den festgenommenen oder verhafteten Personen müssen die Gründe der Festnahme oder Verhaftung und die ihnen zur Last gelegte Tat sofort schriftlich mitgeteilt werden; der Festgenommene oder Verhaftete ist innerhalb von 48 Stunden und i n den i m Gesetz ausdrücklich anerkannten Fällen bei kollektiv begangenen strafbaren Handlungen innerhalb von 7 Tagen, i n welche Fristen die für die Verbringung vom Festnahmeort zum nächst gelegenen Gericht erforderliche Zeitspanne nicht eingerechnet wird, dem Richter vorzuführen und darf nach Ablauf dieser Frist ohne richterliche Entscheidung seiner Freiheit nicht länger beraubt werden. Einen Beschuldigten 30 Tage lang festzuhalten, ohne ihn dem Richter vorzuführen, ist eine die Erfordernisse und Notwendigkeiten des Ausnahmezustandes auch m i t dem Ausdruck „außergewöhnlich" nicht begrifflich zu erfassende Maßnahme, eine A r t faktischer Einsperrung. Die Vorschrift ist ein sehr geeignetes Mittel, um jemanden alle 30 Tage bei Ablauf der Frist freizulassen und ihn einen Tag später wieder festzunehmen, ohne daß er die Gründe für das angewandte Verfahren und
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die gegen ihn erhobenen Vorwürfe kennt, ohne daß er vor dem Richter sich verteidigen kann und ohne daß sein Fall gerichtlich untersucht wird, mit anderen Worten, daß er, ohne daß die Sache der richterlichen Kontrolle unterworfen wird, eine sehr lange Zeit eines der wichtigsten verfassungsmäßigen Rechte beraubt werden kann. Auf diese Weise hat der Staat angesichts eines Rechts, das unter der Garantie des abgeänderten Verfassungsartikels 30 steht, das i h m Obliegende, nämlich seine Pflicht zum Schutz der Person in den Bezirken des Ausnahmezustandes auf unbestimmte Zeit aufgehoben und unausführbar gemacht. I n dem abgeänderten Verfassungsartikel 124 (letzter Absatz), der sich auf den Ausnahme- und Kriegszustand bezieht, ist zwar vorgesehen, daß das Gesetz die Freiheiten bis zu einem gewissen Grade beschränken und suspendieren kann; jedoch ist i n A r t . 124 keine Bestimmung aufgenommen worden, — weil eine derartige Beschränkung ganz unvorstellbar ist — daß der Staat die Anwendung einiger der durch Verfassungsbefehl uneingeschränkt und bedingungslos von ihm übernommenen Verpflichtungen, zumal eine der wichtigsten und vom Wesen der Staatlichkeit untrennbaren Verpflichtung wie den Schutz der persönlichen Freiheit i n den Bezirken des Ausnahmezustandes beschränken oder suspendieren würde. M i t einer derartigen Bestimmung würde das Gesetz Nr. 1402 ein Grundrecht wie die Sicherheit der Person als Ganzes aufheben. c) Die nach Prüfung von A r t . 15 deutlich gewordenen Ansichten: Nach Prüfung des gesamten A r t . 15 des Gesetzes Nr. 1402 haben sich folgende Ansichten und folgendes Ergebnis herausgestellt: aa) Sieben Richter sind auf Grund der obigen Erwägungen zu dem Ergebnis gekommen, daß Art. 15 des Gesetzes Nr. 1402 i m Ganzen wegen Verstoßes verschiedener Vorschriften gegen A r t . 11, 12, 30, 32, 124, 138 und 147 der Verfassung verfassungswidrig i s t . . . bb) Ein Richter hat sich der Auffassung angeschlossen, daß das Bestimmungsrecht des Kommandanten des Ausnahmezustandes und die dreißigtätige Haftfrist verfassungswidrig sind. cc) Ein Richter hat ebenfalls das Bestimmungsrecht des Kommandanten und darüber hinaus den Punkt (1) für verfassungswidrig gehalten. dd) Ein Richter hat sich der Ansicht angeschlossen, daß der letzte Absatz (— allerdings aus einem anderen Grunde —) verfassungswidrig ist. ee) Ein Richter hat das Bestimmungsrecht des Kommandanten für verfassungswidrig gehalten und außerdem die Abs. (a) — (1), soweit
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kein Zusammenhang der aufgezählten Straftaten mit dem Ausnahmezustand besteht. ff) Ein Richter hat alle Bestimmungen des Art. 15 des Gesetzes Nr. 1402 mit Ausnahme derjenigen in den beiden letzten Absätzen für verfassungswidrig gehalten. Drei Richter haben die Verfassungswidrigkeit verneint. A u f diese Weise hat sich eine Mehrheit für die Ansicht ergeben, daß Art. 15 des Gesetzes Nr. 1402 i m Ganzen verfassungswidrig ist. Demnach rnuß dieser A r t i k e l für nichtig erklärt werden. Angesichts der Nichtigerklärung des ganzen Art. 15 wurde es nicht für notwendig erachtet, noch zu prüfen, ob unter dem Gesichtspunkt der Unabhängigkeit der Gerichte und der Garantie des Richteramtes in dieser Vorschrift ein Verfassungsverstoß liegt 6 4 . Ç. Art. 23 des Gesetzes Nr. 1402: Nach A r t . 23 des Gesetzes Nr. 1402 endigt mit dem Ende des Ausnahmezustandes die Zuständigkeit der bei der Kommandantur des Ausnahmezustands errichteten Militärgerichte und der bei diesen tätigen Staatsanwälten nicht. Die Militärgerichte und Militärstaatsanwälte arbeiten weiter, beschränkt auf die noch bei ihnen anhängigen Fälle, und zwar unter Zuordnung zu einem i n dem Bezirk des Ausnahmezustandes befindlichen Truppenkommandanten oder zu dem Chef einer militärischen Einrichtung. Das nach dem letzten Absatz des abgeänderten Verfassungsartikels 124 zu erlassende Gesetz kann nur die Verhältnisse während des Ausnahme- oder Kriegszustandes regeln, gibt jedoch keine Handhabe, einen Teil der für die Dauer des Ausnahmezustandes vorgesehenen Befugnisse durch Gesetz auch nach dem Ablauf seiner Dauer weiterhin anzuwenden. Abgesehen davon enthält Absatz 3 des abgeänderten Verfassungsartikel 138 implicite die Bestimmung, daß die Zuständigkeit der Militärgerichte wegen des Ausnahmezustandes auf die Dauer des Ausnahmezustandes begrenzt ist und diese Zuständigkeit mit der Aufhebung des Ausnahmezustandes ihr Ende findet. Wenn der außergewöhnliche Zustand weggefallen ist, ist es natürlich, daß auch die außergewöhnlichen Verfahren und Maßnahmen ihr Ende finden und die normale Rechtsordnung mit allen ihren Erfordernissen wieder einkehrt. Sobald der Ausnahmezustand aufhört, verlieren die Militärgerichte 64 Siehe die Sondervoten der Richter: Uluocak (zu bb), Ülgenalp (zu cc), Ariç (zu çç), önel (zu dd), Ömerba§ (zu ee). Siehe ferner die abweichenden Voten der Richter Koçak, Ecemi§, Zarbun unten S. 97 - 100.
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unter dem Gesichtspunkt der Delikte und Täter des Ausnahmezustandes den Charakter „des Gerichts, dem sie durch Gesetz unterstellt sind"; mit der Verlängerung der für den Ausnahmezustand vorgesehenen Zuständigkeit gerät man auf einen Weg, daß „ m i t richterlicher Gewalt versehene Ausnahmebehörden geschaffen werden, die dazu führen, jemanden vor eine andere Behörde als dasjenige Gericht zu stellen, dem er gesetzlich untersteht". Dadurch w i r d ein Verstoß gegen die Bestimmungen des abgeänderten Verfassungsartikels 32 hervorgerufen. Somit liegt auf der Hand, daß Art. 23 des Gesetzes Nr. 1402 gegen die A r t . 32, 124 und 138 verstößt, ohne daß noch auf andere Gesichtspunkte eingegangen zu werden braucht. Der A r t i k e l muß für nichtig erklärt werden. (Drei Richter haben sich dieser Auffassung nicht angeschlossen65.) 4. Zeitpunkt
des Inkrafttretens
der Nichtigerklärung
von Art. 15:
Der i m Ganzen für nichtig erklärte A r t . 15 des Gesetzes Nr. 1402 ist einer seiner wichtigsten A r t i k e l und betrifft, wie sich aus seiner Überschrift ergibt, die sachliche und örtliche Zuständigkeit der Ausnahmezustandsgerichte. Nach dem abgeänderten Verfassungsartikel 138 kann nur durch Gesetz bestimmt werden, für welche strafbaren Handlungen und für welche Personen i m Ausnahmezustand die Militärgerichte zuständig sind. Auch wenn A r t . 15 verfassungswidrig ist, hat diese Bestimmung trotzdem diese Frage i n etwa geregelt. W i r d der A r t i k e l für nichtig erklärt, so entsteht eine Lücke, die nur auf dem Wege der Gesetzgebung geschlossen werden kann. Wenn die Nichtigkeitserklärung von Art. 15 am Tage der Veröffentlichung i m Amtsblatt wirksam wird, dann verliert dieser A r t i k e l an diesem Tage seine Geltung, und bis zum Erlaß eines neuen Gesetzes bleibt die Frage offen und i n der Schwebe, für welche strafbaren Handlungen und Personen während des Ausnahmezustandes die Militärgerichte zuständig sind. Dies ist eine die öffentliche Ordnung sehr eng berührende Lücke, zumal zurzeit in mehreren Provinzen des Landes der Ausnahmezustand herrscht. Deshalb muß auf Grund der Bestimmung von Abs. 2 des geänderten Verfassungsartikels 152 und des A r t . 50 des Gesetzes Nr. 44 (über die Organisation und das Verfahren des Verfassungsgerichts) der Zeitpunkt gesondert festgesetzt werden, an dem von den für nichtig erklärten Bestimmungen lediglich A r t i k e l 15 außer Kraft tritt. Es erscheint angemessen, daß die Nichtigerklärung sechs Monate nach der Veröffentlichung der Entscheidung i m Amtsblatt wirksam wird. 65
S. 97.
Siehe die abweichenden Voten der Richter Koçak,
Ariç,
Zarbun
unten
Sondervotum von M u h i t t i n Taylan und Recai Seçkin
79
(Vier Richter waren der Meinung, daß drei Monate ausreichend seien 66 .) V. Ergebnis (Zusammenfassung und Wiederholung der bereits oben zu den einzelnen Bestimmungen getroffenen Entscheidungen.) Unterschriften der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts (einschließlich des Präsidenten und Vizepräsidenten).
Sondervoten Abweichendes Votum des Präsidenten des Muhittin Taylan und des Mitglieds Recai Seçkin.
Verfassungsgerichts
Zur Klärung der Frage, i n welchem Umfange die Grundrechte oder -freiheiten durch den Ausnahmezustand eingeschränkt werden dürfen und i n welchen Situationen für eine bestimmte Zeit einige Grundrechte oder Freiheiten ausgesetzt werden dürfen oder nicht, muß das Verhältnis zwischen dem abgeänderten Verfassungsartikel 124 („durch Gesetz ist zu regeln, wie i m Ausnahmezustand oder allgemein i m Kriegsfall die Freiheiten beschränkt oder ausgesetzt werden") und dem abgeänderten Verfassungsartikel 11 („das Gesetz darf den Kern der Grundrechte und Freiheiten nicht antasten") geprüft werden. Der abgeänderte A r t i k e l 11 hat seinen Platz unter den allgemeinen Bestimmungen der Verfassung, so daß er bei der Anwendung und Auslegung aller Verfassungsbestimmungen beachtet werden muß. Nachdem in Abs. 1 des abgeänderten A r t . 11 bestimmt ist, daß die Grundrechte und Freiheiten zum Schutze des Staatsganzen, der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung oder Wohlfahrt, der allgemeinen Sitten und der allgemeinen Gesundheit oder aus den in anderen Bestimmungen der Verfassung aufgeführten besonderen Gründen durch Gesetz eingeschränkt werden dürfen, derartige Einschränkungen jedoch ausschließlich nur nach Maßgabe des Wortlauts und Sinnes der Verfassung vorgenommen werden dürfen, w i r d deutlich gesagt, daß bei diesen Einschränkungen das Gesetz den Kern der Grundrechte und Freiheiten nicht antasten darf. Demnach ist die Gründen, welche A r t . 11 aufgeführt wähnten Gründen
Beschränkung von Grundrechten oder Freiheiten aus i n anderen Bestimmungen der Verfassung als in sind, also insbesondere auch aus den i n A r t . 124 erdes Kriegs oder Ausnahmezustandes an die Voraus-
66 Siehe die abweichenden Voten der Richter Givda, Müftügil unten S. 88, 89, 106.
Seçkin , Gürün
und
80
3. Kap.: Entscheidung des Türkischen Verfassungsgerichts v. 15./16. 2.1972
Setzungen gebunden, daß dem Wortlaut und Sinn der Verfassung entsprochen und der Kern der Freiheiten nicht angetastet wird. Daher ist die These nicht haltbar, daß Art. 124 der Verfassung eine besondere Vorschrift, A r t . 11 aber eine allgemeine Vorschrift enthalte und daß deshalb i m Anwendungsgebiet von Art. 124 der A r t . 11 nicht in Betracht komme. Die i n A r t . 11 für die Einschränkung von Freiheiten vorgesehenen Voraussetzungen müssen auch auf die nur eine besondere Einschränkungsweise darstellende Aussetzung von Freiheiten angewandt werden; denn i n Wirklichkeit bedeutet die Aussetzung eine A r t Einschränkung i n der Weise, daß von den Freiheiten innerhalb einer bestimmten Zeitdauer kein Gebrauch gemacht wird. Das Verbot der Ein- und Ausreise i n ein Gebiet wegen ansteckender Krankheiten oder der Ausreise in ein bestimmtes Ausland ist ζ. B. eine derartige auf Zeit bestimmte Aussetzung der Freizügigkeit. Derartige Beschränkungen i m Sinne einer Aussetzung von Freiheiten sind daher auch außerhalb der Fälle von Ausnahmezustand und Krieg denkbar. Wenn einmal unterstellt wird, die Ausdrucks weise „Aussetzung von Freiheiten" bedeute eine erheblich weittragendere A r t von Maßnahmen wie ζ. B. die Aufhebung von Grundfreiheiten, dann wäre man zu der Annahme gezwungen, daß auch die für die Einschränkung der Freiheiten in A r t . 11 niedergelegten Beschränkungen von vorneherein für weit schwerere Fälle als die Einschränkung vorgesehen worden sind; denn es ist nicht anzunehmen, daß der Verfassunggeber, der bereits für einen so leichten Eingriff wie die Einschränkung eine Anzahl Bedingungen gesetzt hat, bei weit schwereren Eingriffen als die bloße Einschränkung auf diese Bedingungen verzichtet hat. Auch die Auffassung, daß i m Krieg und Ausnahmezustand Sein oder Nichtsein des Staates i n Frage stehe und deshalb die Grundrechte oder Freiheiten des Individuums nicht beachtet zu werden brauchten, man vielmehr, koste es was es wolle, den Bestand des Staates retten müsse, kann ein Vorgehen nicht rechtfertigen, das die verfassungsmäßige Ordnung beiseite setzt. Zu allererst ist daran zu denken, daß auch Krieg und Ausnahmezustand Situationen innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung sind und deshalb auch diese Situationen an die Verfassungsprinzipien gebunden sind. Die Verfassung hat sich niemals das Prinzip zu eigen gemacht, daß die Grundrechte und Freiheiten i m Interesse des Staats als ein Nichts gelten; der Staat beruht jederzeit auf den Menschenrechten, auf der Demokratie i m Sinne der Verwaltung durch das Volk. Dieser Umstand zwingt dazu, alle Vorschriften der Verfassung oder der Gesetze, welche die Freiheiten einengen, auch eng auszulegen; daraus folgt die Unan-
Sondervotum von M u h i t t i n Taylan und Recai Seçkin
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nehmbarkeit der These, daß die i n Art. 124 der Verfassung dem Gesetzgeber zuerkannte Befugnis, i m Krieg oder Ausnahmezustand die Grundrechte und Freiheiten zu beschränken oder auszusetzen, außerhalb des i n A r t . 11 der Verfassung enthaltenen Verbots steht, daß der Kern der Freiheiten nicht angetastet werden darf. Die Annahme, daß dem Gesetzgeber die Befugnis zuerkannt worden sei, i n bestimmten Situationen zum Schutze des Überlebens des Staates die Freiheiten der Individuen ohne Einschränkung aufzuheben, ist daran gebunden, daß der Verfassunggeber dies in einer jeden Zweifel und jede Diskussion ausschließenden Weise klar kenntlich gemacht hat; jedoch ist keine kategorisch und klar formulierte Bestimmung vorhanden, die zum Nachweis dessen geeignet wäre, daß die auf die Freiheitsrechte bezüglichen Regeln von Art. 124 . . . hierbei außerhalb der auf die Freiheiten bezüglichen allgemeinen Vorschriften der Verfassung bleiben dürfen. Die in A r t . 124 vorgesehenen Prinzipien bedeuten, daß i m Ausnahme· oder Kriegszustand einige gesetzliche Vorschriften erlassen werden, welche denjenigen des normalen Zustandes nicht gleichen können; daß die Grundrechte und Freiheiten noch enger als i m Normalfall eingeschränkt werden und daß je nach der Lage bei diesen Einschränkungen so weit gegangen werden darf, wie dies innerhalb des Rahmens der Verfassungsprinzipien überhaupt möglich ist; und daß schließlich beim Antasten der Freiheiten und Grundrechte das Maß nicht überschritten werden darf, das die durch den Krieg und den Ausnahmezustand hervorgerufenen Notwendigkeiten erforderlich machen. Hält man sich vor Augen, daß außergewöhnliche Situationen Besonderheiten gegenüber den normalen Situationen aufweisen und es rechtfertigen, einige Freiheiten einzuschränken, wozu i m Normalfall keine Notwendigkeit besteht, und daß alle diese Einschränkungen auf dem Gedanken beruhen, daß der Staat mit möglichst geringer Erschütterung den normalen Zustand wiedergewinnt, so begreift man, daß solche gesetzlichen Bestimmungen gegen Art. 124 der Verfassung verstoßen, welche die Befugnis zu Einschränkungen verleihen, die keinerlei Bezug auf die Schwierigkeiten haben, welche die die Verhängung des Ausnahmezustandes veranlassenden Ereignisse heraufbeschworen haben oder i m Hinblick auf die Verwirklichung eines erstrebten und bestimmten Ziels als übermäßig zu betrachten sind. Man darf, nicht vergessen, daß die Notwendigkeiten lediglich innerhalb ihres Bereiches eine Entfernung von den allgemeinen Vorschriften rechtfertigen können; andernfalls w i r d das Vorhandensein einer Notwendigkeit vorgebracht, und es werden Bestimmungen getroffen, die als ihre Folge nicht gelten können, so daß die Grenzen der Notwendigkeit überschritten werden 6 Hirsch
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und dies als auf dieser Notwendigkeit beruhend nicht gerechtfertigt werden kann. Da i n A r t . 124 der Verfassung keinerlei Vorschrift vorhanden ist, welche mit einer jeden Zweifel und jede Unschlüssigkeit ausschließenden Ausdrücklichkeit und Bestimmtheit erkennen läßt, daß auch die besonderen Vorschriften über die Grundrechte und Freiheiten bei der gesetzlichen Regelung des Ausnahmezustandes nicht berücksichtigt zu werden brauchen, bilden auch die anderen Bestimmungen, welche sich auf die Grundrechte und Freiheiten der Verfassung und insbesondere auf deren Einschränkung beziehen, ein Maß für die Prüfung, ob die Gesetze über den Ausnahmezustand verfassungskonform sind. Nach den obigen Ausführungen müssen bei der Prüfung, ob die Vorschriften über die aus Anlaß des Ausnahmezustandes erfolgenden Einschränkungen der Freiheiten der Verfassung entsprechen, nicht nur die Bestimmungen des abgeänderten Verfassungsartikels 124, sondern auch die auf die Einschränkung der Grundrechte bezüglichen Bestimmungen in A r t . 11 und A r t . 14 ff. i n Betracht gezogen werden; außerdem muß geprüft werden, ob die getroffenen Einschränkungen innerhalb der Grenzen bleiben, welche die zur Verhängung des Ausnahmezustandes führenden Ereignisse erforderlich gemacht haben. Nach dieser Klarstellung können w i r auch hinsichtlich der gesetzlichen Vorschriften, die nach unserer Meinung verfassungskonform sind, uns mit Entschiedenheit die Ansicht nicht zu eigen machen, daß Art. 124 der Verfassung den anderen Verfassungsbestimmungen übergeordnet und von diesen unabhängig ist; vielmehr betrachten w i r jene Vorschriften nur deshalb als verfassungsmäßig, weil die Einschränkungen innerhalb des Rahmens der in Art. 11 und i n den anderen Verfassungsartikeln vorgesehen Einschränkungen der Freiheiten liegen. Nach diesen allgemeinen Ausführungen geben w i r die Begründungen für unser abweichendes Votum zu den in Frage kommenden Artikeln: 1. Art. 3 Abs. (a) des Gesetzes Nr. 1402: . . . Das i n dem abgeänderten Verfassungsartikel 15 gewährte Grundrecht über die Intimsphäre und das i n A r t . 16 gewährte Grundrecht über die Unverletzlichkeit der Wohnung sind i n ihrem Kern verletzt, weil sie i n einem i n diesen A r t i k e l n nicht vorgesehenen Ausmaß eingeschränkt worden sind. 2. A r t . 3 Abs. (c) des Gesetzes Nr. 1402: . . . Die dem Kommandanten des Ausnahmezustandes zuerkannte Befugnis zur Schließung von Druckereien verstößt offensichtlich gegen Art. 25 . . .
Sondervotum von M u h i t t i n Taylan u n d Recai Seçkin
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Es muß auch darauf hingewiesen werden, daß das Verbot i n Art. 25 nicht als eine natürliche Folge der Presse- und Veröffentlichungsfreiheit betrachtet werden kann; wenn überhaupt, so ist das Zensurverbot eine natürliche Folge der Presse- und Veröffentlichungsfreiheiten. 3. A r t . 11 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 1402: Überall i n der Türkei gibt es militärische Einheiten und Militärgerichte, die bei diesen Einheiten ihren Dienst versehen. Es steht in Widerspruch zu der Bestimmung i n Abs. 3 des abgeänderten Verfassungsartikels 138 . . . , wenn man für die wegen des Ausnahmezustandes vor den Militärgerichten zu führenden Prozesse Gerichte besonderer A r t errichtet, anstatt den bei den Kommandanten des Ausnahmezustandes angeschlossenen Militärgerichten die sachliche Zuständigkeit von Ausnahmezustandsgerichten zu geben und diese Gerichte dadurch zu verstärken, daß man i m Bedarfsfall bei ihnen eine größere Anzahl von Richtern anstellt und dadurch sicherstellt, daß diese Gerichte die wachsende Zahl von Prozessen erledigen können; denn die Bestimmung in Abs. 3 des abgeänderten Verfassungsartikels 138 sieht nicht etwa vor, daß i m Krieg oder Ausnahmezustand besondere Militärgerichte errichtet werden, sondern daß die bestehenden Militärgerichte die sachliche Zuständigkeit für eine Anzahl strafbarer Handlungen und über eine Anzahl von Angeklagten erhalten; anders ausgedrückt: besondere Militärgerichte für den Ausnahmezustand zu errichten, liegt nicht mehr i m Rahmen der genannten Verfassungsbestimmung. Tatsächlich ist der Ausnahmezustand wegen einiger Notwendigkeiten eine von der normalen Ordnung abweichende Verwaltungsart. Daß die i m Zusammenhang mit den Gründen des Ausnahmezustandes stehenden Prozesse vor Militärgerichten stattfinden, ist die Folge davon, daß diese Verwaltung eine Militärverwaltung ist. Jedoch macht der Umstand, daß der Ausnahmezustand auf diesem oder jenem Grund beruht, oder die Überlegung, daß er besser funktioniert, es nicht notwendig, außer den allgemeinen Militärgerichten noch besondere Gerichte für die Dauer des Ausnahmezustandes zu errichten. Rechtsvorschriften, welche die Grenzen der durch den Ausnahmnezustand entstehenden notwendigen Bedürfnisse überschreiten, sind mit Art. 124 der Verfassung ebenfalls nicht zu vereinbaren; (wird unter Verweisung auf bereits oben gemachte Ausführungen näher dargelegt) . . . Vom Standpunkt der Verfassung aus besteht keine Notwendigkeit, für den Ausnahmezustand eine neue militärische Einheit nebst ihrem Kommando zu bilden; Kommandant des Ausnahmezustandes ist jeder höherrangige Kommandant, der irgend eine militärische Einheit kommandiert . . . 6*
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4. A r t . 11 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 1402: (Zunächst w i r d unter Bezugnahme auf die vorstehende Begründung auch die Vorschrift über die Ernennung von Richtern für diese Ausnahmezustandsgerichte für verfassungswidrig erklärt). Außerdem verstößt diese Bestimmung auch gegen die i n Abs. 5 des abgeänderten Verfassungsartikels 138 enthaltenen Prinzipien der Unabhängigkeit der Gerichte und der Garantie des Richteramtes, weil die Bestellung der Richter von der Entscheidung einer Kommission abhängt, deren M i t glieder dem Präsidium des Generalstabs und dem Ministerium für die nationale Verteidigung angehören; tatsächlich w i r d in der erwähnten Verfassungsbestimmung gesagt, daß die Organisation der Militärgerichtsbarkeit, der Geschäftsgang, die Personalverhältnisse der Militärrichter sowie die Beziehungen der mit staatsanwaltlichen Aufgaben betrauten Militärrichter zu den Kommandanten, in deren Stab sie sich befinden, nach den Erfordernissen der Unabhängigkeit der Gerichte, der Garantie des Richteramtes und der Bedürfnisse des militärischen Dienstes gesetzlich zu regeln sind. Hier muß eine Auslegung unter dem Gesichtspunkt des i n Art. 2 der Verfassung enthaltenen Prinzips des auf den Menschenrechten beruhenden Rechtsstaats Platz greifen. Da der Verfassungsgeber beabsichtigt hat, die Militärgerichte mit dem Prinzip der Unabhängigkeit der Gerichte und auch die Militärrichter mit der Garantie des Richteramtes auszustatten, ergibt sich daraus sein Wille, daß auch diese Gerichte gemäß Art. 132 Abs. 1 der Verfassung nur nach Maßgabe der Verfassung, nach Gesetz und Recht, nach ihrem Gewissen und ihrer Überzeugung entscheiden und keinerlei anderen Vorgänge oder Verhaltensweisen ihre richterliche Entscheidung beeinflussen dürfen. Die erste Voraussetzung dafür, daß die Gerichte unabhängig und die Richter gesichert sind, besteht darin, daß die Errichtung der Gerichte und die Erledigung der Personalangelegenheiten der Richter aus dem Bereich der Exekutive herausgehalten werden. Die Besonderheiten der Militärangelegenheiten können niemals rechtfertigen, daß i n die Personalangelegenheiten der Richter oder bei ihrer richterlichen Tätigkeit auf die Urteilsfällung die Fessel der Kommandogewalt, das Präsidium des Generalstabs oder das Ministerium für die nationale Verteidigung unmittelbar oder mittelbar irgendeinen Einfluß ausüben. I n Wirklichkeit sind die Einflüsse, welche die Eigentümlichkeiten der militärischen Angelegenheiten auf die Errichtung dieser Gerichte und auf die Personalsachen der Richter ausüben, aus zahlreichen Bestimmungen des Gesetzes Nr. 353 über die Errichtung und das Prozeßverfahren der Militärgerichte und des Gesetzes Nr. 357 über die Militärrichter und Militärstaatsanwälte (hier werden die einschlägigen Bestimmungen aufgeführt) . . . zu ersehen, die als solche die Unabhängigkeit der Gerichte und die Garantie des Richteramtes nicht
Sondervotum von M u h i t t i n Taylan und Recai Seçkin
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betreffen. Die Annahme des Gegenteils würde das Verfassungsprinzip, daß die Errichtung der Militärgerichte und die Personalsachen der Militärrichter an der Unabhängigkeit der Gerichte und der Garantie des Richteramtes auszurichten sind, an die zweite (untergeordnete) Stelle, das Prinzip der Anpassung an die Bedürfnisse des militärischen Dienstes an die erste Stelle rücken; eine solche Auffassung läßt sich mit dem Prinzip des Rechtsstaats nicht vereinbaren; denn Rechtsstaat bedeutet einen Staat, dessen Bürger vor unabhängigen Gerichten von Richtern in gesicherten Positionen ihr Recht nehmen. Schließlich gehört es, wie es in einigen völkerrechtlichen Vorschriften auch klargestellt ist, zu den Menschenrechten, daß jedermann verlangen kann, von einem aus unabhängigen Richtern zusammengesetzten Gericht abgeurteilt zu werden, und nach A r t . 2 der Verfassung ist der türkische Staat ein auf den Menschenrechten ruhender Rechtsstaat. I m übrigen sei wiederholt (worauf bereits oben hingewiesen worden ist), daß mit den Bestimmungen von A r t . 124 der Verfassung keine Verwaltung außerhalb der Verfassungsprinzipien vorgesehen worden ist, vielmehr auch während des Ausnahmezustandes alle Vorschriften in Geltung bleiben, die sich auf die Freiheiten sowohl als auch auf die allgemeinen Grundsätze beziehen. Die Phase des Ausnahmezustandes ist ihrem ganzen Wesen nach ein außergewöhnlicher Zeitabschnitt. Unter dem Gesichtswinkel des Vertrauens des Volkes zum Staat weist sie i m Sozialleben die Eigentümlichkeit auf, die Grundrechte und Freiheiten der Individuen in außergewöhnlichen Zeiten wenigstens ebenso wie in normalen Zeiten zu schützen; denn die öffentliche Meinung ist in außergewöhnlichen Zeiten empfindlicher als i n normalen, und der Staat empfindet das Bedürfnis auf Rückhalt i m Volk noch stärker als unter normalen Umständen. Die Wahl der Mitglieder der Ausnahmezustandsgerichte durch einen Ausschuß, dessen Mitglieder zur Verwaltung gehören, kann ebenfalls nicht als eine Maßnahme angesehen werden, welche die als Ausnahmezustand bezeichnete außergewöhnliche Verwaltung erforderlich macht. Die Abhängigkeit der Ausnahmezustandsgerichte während ihrer Errichtung ist unter dem Gesichtspunkt, die Ziele des Ausnahmezustandes zu erreichen, ohne jeden Wert. Die Vorschrift verstößt auch unter diesem Gesichtspunkt gegen die Rechtsstaatlichkeit und damit gegen Art. 2, weil die Rechtsstaatlichkeit erfordert, daß die Vorschriften von Art. 124 der Verfassung und der damit zusammenhängenden Gesetzesbestimmungen mit Richtung auf das öffentliche Wohl hin erlassen werden. Die Befugnis zur Errichtung von Ausnahmezustandsgerichten enthält zugleich die Befugnis, sie aufzuheben; denn nach den allgemeinen Lehren des Verwaltungsrechts w i r d angenommen, daß die zur Errich-
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tung einer Organisation befugte Stelle auch zu ihrer Aufhebung befugt ist. Die Möglichkeit der Aufhebung von Gerichten nach dem Ermessen der Verwaltung kann ebenfalls mit den Grundsätzen der Unabhängigkeit der Gerichte und der Garantie des Richteramtes nicht in Einklang gebracht werden; auch aus diesem Gesichtspunkt muß die Vorschrift für nichtig erklärt werden. Denn die Bürger können nicht leicht zu dem Glauben kommen, daß ein Gericht, das i n jedem Augenblick nach dem Ermessen der Verwaltung aufgehoben werden kann, zu Entscheidungen kommt, die unter keinem anderen Einfluß stehen als denjenigen der Rechtsvorschriften und der Gewissensüberzeugung; und so kommt es, daß man Entscheidungen dieses Gerichtes, die an sich völlig unparteiisch sind, i n der Meinung des Volks mit Zweifeln begegnet. Gerade weil die nur der Verwaltung zustehende Befugnis zur Aufhebung eines Gerichts als Beeinflussung gilt, ist die i m Abs. 4 des abgeänderten Verfassungsartikels 144 aufgenommene Vorschrift (wonach die Aufhebung eines Gerichts oder der Planstelle eines Richters oder die Abänderung eines Gerichtssprengeis der Zustimmung des Hohen Richterausschusses bedarf), für die Justizgerichte und ihre Richter eine Maßnahme, die durchaus am Platze ist. M i t Berufung darauf, daß eine entsprechende Vorschrift und ein dem Hohen Richterausschuß entsprechendes Organ für die Militärgerichte in der Verfassung nicht vorgesehen sei, kann nicht behauptet werden, daß diese Gerichte nach dem Ermessen der Verwaltung errichtet und wieder aufgehoben werden können; denn der Verfassunggeber hat mit der Bestimmung von Abs. 5 des abgeänderten Verfassungsartikels 138 . . . dem Gesetzgeber die Pflicht auferlegt, sich bei der gesetzlichen Ordnung durch die i n der Verfassung vorgesehenen Musternormen anregen zu lassen. Der Gesetzgeber kann eine Kommission bilden, die nicht unter dem Einfluß der Verwaltung steht (wie ζ. B. bei den Mitgliedern des Militärkassationshofes) und auf diese Weise die Angelegenheit erledigen lassen. 5. A r t . 11 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 1402: Die hier vorbehaltene Vorschrift ist das zu den Grundlagen der Unabhängigkeit der Gerichte gehörende Verbot, daß vor Ablauf einer bestimmten Frist ein Richter ohne seine Zustimmung nicht an einen anderen Ort oder in eine andere Stelle versetzt werden darf. Die Aufhebung dieses Verbots bei einem einen Monat überschreitenden Verhinderungsgrund und die Zuerkennung der Befugnis, einen Richter ohne seine Einwilligung an einen anderen Ort oder zu einer anderen Funktion zu versetzen, sind mit dem Grundsatz der Unabhängigkeit der Gerichte unvereinbar.
Sondervotum von
A
i
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(Dem vorstehenden Votum haben sich angeschlossen: Das Mitglied Kani Vrana hinsichtlich der Verfassungswidrigkeit von A r t . 3 Abs. (b) und (c) des Gesetzes Nr. 1402; das Mitglied Nuri Ülgenalp hinsichtlich der Verfassungswidrigkeit von A r t . 11 Abs. 2 und 3 des Gesetzes Nr. 1402; das Mitglied Çevket Müftügü hinsichtlich der Verfassungswidrigkeit des A r t . 11 des Gesetzes Nr. 1402).
Abweichendes Votum des Vizepräsidenten des Verfassungsgerichts Avni Givda. 1. Zu Art. 3 Abs. (a) des Gesetzes Nr. 1402: . . . (Wiederholung der Texte von Art. 11, 15, 16, 17 der Verfassung) . . . Der zweite Absatz des Verfassungsartikels 11 hat auch klar und bestimmt die Grenzen der durch Gesetz zu regelnden Einschränkungen deutlich gemacht. Wie weit auch immer diese Begrenzung gehen mag, so muß sie, sobald sie an den Kern der Grundrechte und Freiheiten stößt, dort haltmachen. I n dem erwähnten Absatz hat das Verbot „Das Gesetz darf den Kern der Grundrechte und Freiheiten nicht antasten" seinen Ausdruck gefunden als ein Prinzip, das in jeder Situation gilt, absolut und umfassend ist . . . (Inhaltsangabe von A r t . 124 der Verfassung ...) Daß i m letzten Absatz von Art. 124 i m Hinblick auf „die Einschränkung oder Aussetzung der Freiheiten" das Wörtchen „wie" gebraucht worden ist, ist deshalb von großer Bedeutung, weil dadurch das Problem ganz klar und deutlich wird: hier nämlich ist vorgesehen, daß die A r t und Weise und das Verfahren hinsichtlich der Freiheitsbeschränkungen i m Gesetz über den Ausnahmezustand stehen. Der Gesetzgeber, dem von der Verfassung eine derartige Befugnis gewährt worden ist, muß bei ihrem Gebrauch innerhalb des Bereichs der Begriffe „ A r t und Weise und Verfahren" bleiben. Sobald dieser Bereich überschritten und angenommen wird, daß in der Befugnis auch die A n ordnung liege, bei der Regelung des Problems der Beschränkung von Grundrechten und Freiheiten nicht mehr an das Grundprinzip gebunden zu sein, zeigt sich der Verstoß gegen die Verfassung . . . Da die Verfassung den Erlaß eines besonderen Gesetzes über den Ausnahmezustand vorgesehen hat und Freiheiten nur durch Gesetz beschränkt werden dürfen und manche Freiheiten wegen des Ausnahmezustandes eingeschränkt werden müssen, ist es natürlich und normal, daß die A r t und Weise und das Verfahren dieser Einschränkungen gut gegliedert und gemeinsam m i t den anderen Regelungen für den Ausnahmezustand i n das Gesetz über den Ausnahmezustand aufgenommen worden sind . . . Schließlich ist die Türkische Republik ein Rechts-
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staat gemäß A r t . 2 der Verfassung; weil sie ein Rechtsstaat ist, findet sich i n A r t . 11 das Prinzip, daß „das Gesetz den Kern der Grundrechte und Freiheiten nicht antasten darf". Ein Rechtsstaat bewahrt auch während des Ausnahmezustandes und i m Krieg seine Rechtsstaatlichkeit und läßt sie fortdauern; dies ist die notwendige, zwingende und natürliche Folge der Rechtsstaatlichkeit. Es mag dahin gestellt bleiben, ob sich für die Auslegung der umstrittenen Bestimmung i m Sinne der Mehrheit i m abgeänderten Verfassungsartikel 124 keinerlei Stütze und Grundlage finden. Jedenfalls entspricht sie nicht dem Charakter der Türkischen Republik als Rechtsstaat. Bei Anlegen dieses Maßstabes (seil. Verfassungsartikel 11 Abs. 2) und bei treuem Festhalten an diesem Prinzip w i r d sofort ersichtlich, daß die Bestimmungen i n A r t . 3 Abs. (a) des Gesetzes Nr. 1402, welche bis zur W i l l k ü r reichende weite, fast unbegrenzte Befugnisse enthalten, den Kern einiger Grundrechte und Freiheiten, insbesondere hinsichtlich der Intimsphäre, der Unverletzlichkeit der Wohnung und des Briefgeheimnisses antasten und deshalb gegen die Art. 15, 16, 17, 11 und 124 der Verfassung verstoßen. 2. Die Frage der Verfassungswidrigkeit hinsichtlich der Befugnis zur Schließung von Druckereien i n Art. 3 Abs. (c) des Gesetzes Nr. 1402: Der Schutz der Presseeinrichtungen steht unter der Garantie von Art. 25 der Verfassung. Entsprechend dem in diesem A r t i k e l zum Ausdruck kommenden Prinzip dürfen Druckereien nebst ihren Einrichtungen und Druckwerkzeugen auch nicht mit der Begründung, daß sie als Verbrechenswerkzeuge gedient haben, beschlagnahmt, eingezogen oder unbrauchbar gemacht werden. Das Prinzip ist in einer absoluten, entschiedenen und bestimmten Formulierung klargestellt worden. Der Verfassunggeber hat bei diesem Gegenstand nicht, wie bei einigen anderen Grundrechten und Freiheiten, eine Abweichung vorgesehen und kein elastisches Verhalten gezeigt.
3. Zeitpunkt des Inkrafttretens Art. 15:
der Nichtigkeitsentscheidung
von
Wenn das Verfassungsgericht von der i m zweiten Absatz des abgeänderten Verfassungsartikels 152 enthaltenen Befugnis Gebrauch macht, so besteht seine wichtigste und schwerste Aufgabe darin, i m Hinblick auf den Umfang der Nichtigkeitsentscheidung zutreffend die
Sondervotum von
i
l
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Dauer zu bestimmen, welche einerseits der auf dem Gesetzgebungsweg zu schließenden Lücke Rechnung trägt, andererseits aber verhindert, daß die als verfassungswidrig erklärte und i m Amtsblatt veröffentlichte Gesetzesbestimmung unnötig lange in Geltung bleibt. Wird dies nicht beachtet, so w i r d entweder das Gesetzgebungsverfahren behindert und kann nicht innerhalb der Frist zu Ende geführt werden; oder eine als verfassungswidrig erklärte und i m Amtsblatt veröffentlichte Gesetzesbestimmung kann einerseits noch eine längere Zeitspanne einen negativen Einfluß auf subjektive Rechte ausüben, andererseits aber auch ihren moralischen Einfluß und Wert verlieren .. . Hier handelt es sich um einen einzigen Artikel, und die an seine Stelle zu setzende Vorschrift bedarf keiner langen Untersuchungen und Vorbereitungen. Da die Begründung für die Nichtigkeit gleichzeitig mit der Entscheidung i m Amtsblatt veröffentlicht wird, ist die für die Weitergeltung zuerkannte Sechsmonatsfrist wirklich zu lang und grundlos und schießt über das Ziel hinaus, so daß zum Schließen der Lücke auf dem Gesetzgebungsweg drei Monate ausreichend sind. Das Mitglied Çevket Müftügil schlossen.
hat sich der Ziffer 3 des Votums ange-
Abweichenes Votum des Mitgliedes Nuri Ülgenalp I.... II. — Art. 15 Abs. (a) bis (k) des Gesetzes Nr. 1402: (Nach der Aufzählung der i n den genannten Bestimmungen enthaltenen Straftatbestände w i r d fortgefahren:) Daß die oben aufgeführten strafbaren Handlungen zu den Ursachen des Ausnahmezustandes i n Beziehung stehen, ist so klar, daß es keiner Verdeutlichung bedarf; es entspricht auch den Erfordernissen des Ausnahmezustandes. Daß die an den anarchischen Vorgängen Beteiligten die aufgezählten Straftaten begangen haben, ist durch die Tatsachen erwiesen. Ich bin deshalb gegen die Nichtigerklärung von Art. 15 Abs. (a) bis (k) des Gesetzes Nr. 1402. I I I . — A r t . 15 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 1402 über den Ausnahmezustand: Wie in der Begründung der Entscheidung klargestellt worden ist, ist in Art. 124 der Verfassung der Weg dafür vorgesehen, daß die Freiheiten entsprechend den Erfordernissen des Ausnahmezustandes abwei-
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chend von den anderen Vorschriften beschränkt werden können. Nichts anderes kann hinsichtlich der in Art. 30 der Verfassung aufgeführten Rechte und Freiheiten über Sicherheit und Schutz der Person gelten. Deshalb kann auch die erwähnte Freiheit entsprechend den Erfordernissen des Ausnahmezustandes gesetzlich beschränkt werden. Die in A r t . 15 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 1402 festgelegte 30 Tagefrist entspricht den Erfordernissen des Ausnahmezustandes und enthält keinen Ermessensfehler des Gesetzgebers. I n den Ereignissen hat sich die Richtigkeit dieser Vorschrift erwiesen. Nach dieser Bestimmung darf der Festgenommene nicht länger als 30 Tage festgehalten werden, und seine Freilassung ist bei Ablauf der Frist zwingend. Einen innerhalb der Dreißigtagefrist dem Richter nicht vorgeführten und dann freigelassenen Beschuldigten erneut festzunehmen, verletzt die klare Bestimmung des Gesetzes. Verstöße, die bei der Anwendung gemacht werden, können nicht als Beweis für die Unrichtigkeit der Vorschrift herhalten. Deshalb bin ich gegen die Nichtigkeitserklärung von A r t . 15 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 1402.
Abweichendes Votum des Mitglieds $ahap Ariç Dieses abweichende Votum enthält zwei Teile. Unter I. w i r d die Begründung zu dem Teil der Entscheidung, welcher die Klage abweist, ergänzt. Unter II. ist das abweichende Votum zu dem der Klage stattgebenden Teil der Entscheidung enthalten. I. . . . Die vor allem anderen zu entscheidende Vorfrage besteht darin, klarzustellen, welchen Platz die den Ausnahmezustand regelnden Bestimmungen von A r t . 124 der Verfassung innerhalb des allgemeinen Systems der Verfassung einnehmen, welche charakteristischen Eigenschaften dem Ausnahmezustand zukommen und ob die außerhalb der Bestimmungen über den Ausnahmezustand stehenden anderen Verfassungsprinzipien auf die wesentlichen Merkmale des Ausnahmezustandes von Einfluß sind oder nicht. Bekanntlich bilden i m dritten Teil der Verfassung, der sich auf den Grundaufbau der Republik bezieht, „Die Gesetzgebung" den ersten Abschnitt und „Die Exekutive" den zweiten Abschnitt. A r t . 124 mit der Randleiste „Ausnahme- und Kriegszustand" hat seinen Platz unter den Vorschriften gefunden, die sich auf „Die Verwaltung" beziehen. I n dieser Ordnung sind unter der Randleiste „Notstandsverwaltungsverfahren" in A r t . 123 die Notstandsfälle und in A r t . 124 der Ausnahme- uud Kriegszustand geregelt.
Sondervotum von
a
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Diese Systematik zeigt, daß die Verfassung die außergewöhnlichen Verwaltungsverfahren von den Verwaltungsverfahren i n den normalen Zeiten getrennt und, die Besonderheiten der außergewöhnlichen Verwaltung vor Augen, die für diese Besonderheiten erforderlichen und notwendigen Grundsätze i n A r t . 124 geregelt hat. (Wörtliche Wiedergabe der in dem genannten A r t i k e l aufgezählten Fälle und nähere Ausführungen dazu) . .. Auch die Verwaltungsform des Ausnahmezustandes ist eine Verfassungsinstitution. Es ist offensichtlich, daß die Verwaltung angesichts dieser Bedeutung und Eigentümlichkeiten der als Gründe für die Verhängung des Ausnahmezustandes angegebenen Fälle außergewöhnliche Befugnisse haben muß, daß also ihre Befugnisse nicht die gleichen sein können wie ihre Befugnisse i m Normalfall. Die Folge davon ist, daß für eine vorübergehende Zeitspanne ein Teil der Rechte und Freiheiten der Person beschränkt oder ausgesetzt werden kann. Dies ist eine notwendige Ausnahme der von der Verfassung für Rechte und Freiheiten angenommenen Regel. Zu diesem Zweck hat die Verfassung dem Gesetzgeber die Aufgabe gestellt, ein Gesetz zu erlassen, um i n den die Verhängung des Ausnahmezustandes notwendig machenden Fällen der Verwaltung die zur sicheren Beseitigung dieses Zustandes dienlichen und erforderlichen Befugnisse geben zu können. Der Gesetzgeber soll die Form und das Ausmaß der der Verwaltung zu verleihenden Befugnisse i m Rahmen der Grenzen abwägen, welche die Verfassung diesbezüglich gezogen hat (wird unten näher ausgeführt). Würde man der Verwaltung diese erforderlichen Befugnisse nicht zuerkennen, so würde dies die Folge haben, daß diese gefährlichen Zustände nicht beseitigt werden können, ein Ergebnis, das der Verfassungsgeber keinesfalls hinzunehmen bereit gewesen ist. Aus diesem Grund war der Verfassungsgeber i n die Notwendigkeit versetzt, den i n der Verfassung als Regel anerkannten Rechten und Freiheiten die erforderlichen Grenzen zu ziehen. A n und für sich schon ist i n einer Gesellschaft ein Recht ohne Begrenzung, eine Freiheit ohne Maß niemals denkbar. Auch die Grenzen der i n zahlreichen A r t i k e l n der Verfassung anerkannten Grundrechte und Freiheiten sind i n denselben oder i n anderen A r t i k e l n aufgezeigt und mit Hilfe von Verfassungsartikeln davon Ausnahmen gemacht worden. Als Beispiel: Obwohl i n Art. 14 der Verfassung dem Individuum das Grundrecht auf Leben zuerkannt worden ist, ist in Art. 33 Abs. 2 der Grundsatz angenommen, daß Strafen und Maßnamen der Besserung und Sicherung nur durch das Gesetz bestimmt werden dürfen, daß aber der Täter nach dem Grade seiner Straftat erforderlichenfalls mit der Todesstrafe bestraft wird, womit eines der wichtigsten Rechte des Individuums, sein Grundrecht auf Leben, ebenfalls
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durch eine Verfassungsvorschrift beseitigt werden kann 6 7 . Diese Sachlage besteht auch bei Art. 64 der Verfassung 68 . I n unserer Verfassung finden sich sehr viele ähnliche Beispiele. I n der gleichen Weise bilden auch die dem Gesetzgeber durch Art. 124 letzter Absatz zuerkannten Befugnisse zur Bestimmung dessen, wie in den die Verhängung des Ausnahmezustandes erforderlich machenden Fällen die Rechte und Grundfreiheiten der Person vorübergehend zu beschränken oder auszusetzen sind, nur die Ausnahme von den Rechts- und Freiheitsregeln, die zum Zwecke der Erhaltung des Staatswesens akzeptiert worden sind. Auch die Rechtslehre in unserem Land läuft i n dieser Richtung: Da der Ausnahmezustand ein außergewöhnlicher Ordnungszustand sei, w i r d angenommen, daß der Maßstab für die Ordnung der sozialen Rechte und Freiheiten von dem in normalen Zeiten üblichen verschieden sein muß; und daß die vorübergehende Einschränkung oder Aussetzung einiger Rechte und Grundfreiheiten zum Leben von Staat und Nation erforderlich sei; die Rechtsfolgen der Notstandsverwaltung werden ganz allgemein durch die i m Gesetz über den Ausnahmezustand zuerkannten Befugnisse illustriert (Die Fundstellen i n den Werken von fünf anerkannten Professoren des Staats- und Verwaltungsrechts werden genau nachgewiesen). Die Verwaltungsform des Ausnahmezustandes ist eine in der Verfassung eines jeden Landes als notwendig anerkannte Realität. „Das englische Parlament hat m i t seinen während des ersten und zweiten Weltkriegs erlassenen und außerordentliche Vollmachten gewährenden Gesetzen der Regierung eine unbegrenzte Befugnis zuerkannt, die sogar die Möglichkeit gab, alle für notwendig erachteten Maßnahmen zu treffen, ja sogar alle überkommenen Freiheiten auszusetzen" (Prof. Münci Kapani, K a m u Hürriyetleri, 1970, S. 157). Die Eigenheiten des Regimes unter dem Ausnahmezustand: Auch wenn nach unserer Verfassung der Ausnahmezustand ein Regime mit Befugnissen ist, welche die zur Beseitigung der in A r t . 124 Abs. 1 der Verfassung aufgezählten gefährlichen Situationen erfordern, so ist dieses Regime doch eine rechtliche und gesetzliche Ordnung und beruht auf dem Prinzip der Über Ordnung der Verfassung; es ist kein W i l l kürregime. Auch dieses Regime unterliegt einer Anzahl von Beschränkungen. Die Grenzen des Regimes unter dem Ausnahmezustand sind in 67 Dies ist ungenau formuliert. Das Verfassungsgericht hat i n einer seiner ersten Entscheidungen (Bd. 1 S. 294) klargestellt, daß durch A r t . 14 Abs. 1 der Verfassung Androhung, Verhängung und Vollzug der Todesstrafe nicht ausgeschlossen sind. 68 Gemeint ist die Befugnis des Parlaments als Inhaber des Gesetzgebungsmonopols, dem Ministerrat durch Gesetz die Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen m i t Gesetzeskraft zu erteilen (deutsche Übersetzung siehe i n meinem i n Anm. 32 zitierten Buch).
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Art. 124 Abs. 1 der Verfassung hinsichtlich der Voraussetzungen und Förmlichkeiten für die Verhängung des Ausnahmezustandes aufgezeigt. Abgesehen davon unterliegen auch die dem Gesetzgeber zuerkannten Befugnisse insofern Beschränkungen, als i n Art. 124 letzter Absatz gesetzlich zu regeln ist, „welche Vorschriften i m Ausnahmezustand anzuwenden sind", „ i n welcher Weise die Geschäfte zu führen sind" und „wie die Freiheiten zu beschränken oder auszusetzen sind". Indessen besteht die Notwendigkeit, daß diese Beschränkungen eine den Eigentümlichkeiten der Ausnahmezustandsverwaltung entsprechende Einschränkung bilden. Diese Einschränkung liegt darin, daß sie sich auf die Beseitigungsmöglichkeit der in Art. 124 Abs. 1 der Verfassung angenommenen und die Verhängung des Ausnahmezustandes erforderlich machenden Situationen bezieht und diesem Ziele angemessen ist. Deshalb sind die den Gegenstand des Rechtsstreites bildenden Vorschriften über den Ausnahmezustand, d. h. die der Verwaltung zuerkannten Befugnisse, in dem Maße der Verfassung angemessen, als sie zur Verwirklichung des Zieles, nämlich zur Beseitigung derjenigen Situation, welche die Verhängung des Ausnahmezustandes erforderlich machte, notwendig und erforderlich sind und sich darauf beziehen, ζ. B. würde eine i m Gesetz über den Ausnahmezustand enthaltene Vorschrift, welche sich auf die Eheschließung oder das Erbrecht bezieht, weder das Ziel haben, die Ursachen für die Verhängung des Ausnahmezustandes zu beseitigen noch auch mit dieser Angelegenheit i n irgendeiner Beziehung stehen. Das Regime des Ausnahmezustandes ist ein in der Verfassung angenommenes, rechtliches und gesetzliches Regime und beruht auf dem Grundsatz der Überordnung der Verfassung. Indessen sind bei dem Ordnen der Verfassungsgrundlagen auch diejenigen Grundsätze insgesamt und gemeinsam mitgeregelt worden, welche den Schutz gegen die Gefahren einer auf der harmonischen Abstimmung der Rechte und Pflichten des einzelnen mit der Gesellschaftsordnung gegründeten demokratischen Ordnung garantieren. Wenn man von der Überordnung der Verfassung spricht, dann muß man zugeben, daß in diesem Begriff alle Regeln gemeinsam mit ihren Ausnahmen und ihren Einschränkungen enthalten sind. Demnach sind auch die dem Gesetzgeber zuerkannten Befugnisse, die i n die Verfassung aufgenommenen Freiheitsregeln in den Fällen, welche die Verhängung des Ausnahmezustandes erforderlich machen, mit dem Ziel der Beseitigung des Gefahrenzustandes ausnahmsweise und vorübergehend zu beschränken oder auszusetzen, in dem Prinzip der Überordnung der Verfassung mitenthalten, da sie auf einer Verfassungsbestimmung beruhen. Daraus folgt: Die i n der Verfassung geordneten Freiheitsregeln sind die in den normalen Zeiten anzuwendenden Prinzipien, während die auf den Ausnahmezustand
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gemünzten Ausnahmebestimmungen Vorschriften für anormale Zeiten sind. Da somit ihre Anwendungsgebiete verschieden sind, kann nicht behauptet werden, daß die für den Ausnahmezustand geltenden Ausnahmebestimmungen der Verfassung i n Widerspruch zu den i m Normalfall anzuwendenden anderen Vorschriften der Verfassung stehen; ebensowenig muß angenommen werden, daß eine Gesetzesbestimmung, welche den Verfassungsbestimmungen über den Ausnahmezustand gerecht wird, ein abstraktes, für Normalzeiten anwendbares Verfassungsprinzip verletzt; nur wenn ein Verstoß der für den Ausnahmezustand maßgebenden Verfassungsbestimmungen vorliegt, kann eine Nichtigerklärung durch das Verfassungsgericht erfolgen. Die Annahme der gegenteiligen Ansicht macht die Durchführung des von der Verfassung vorgesehenen Instituts des Ausnahmezustandes unmöglich. Hätte der Verfassungsgeber als Grundsatz erwogen, daß alle i n Normalzeiten anzuwendenden Prinzipien auch in den den Ausnahmezustand erforderlich machenden Fällen zur Anwendung kommen, so wäre es überflüssig gewesen, eine Institution unter dem Namen „Ausnahmezustand" in die Verfassung aufzunehmen. Wenn i n der Vorschrift von Art. 124 letzter Absatz der Verfassung formuliert ist „wie die Freiheiten eingeschränkt oder ausgesetzt werden", so hat der Ausdruck „Einschränkung" die Bedeutung von „Begrenzung". Was den Ausdruck „Aussetzung" der Freiheiten betrifft, so hat er die Bedeutung, daß diese Freiheiten vorübergehend aufgehoben werden. So wie i n unserer Verfassung die Ausdrücke „Freiheit" und „Recht" allein für sich gebraucht werden, so w i r d jeder der beiden Ausdrücke i n manchen Vorschriften i n demselben Sinne gebraucht. Deshalb umschließt der Ausdruck „Freiheiten" in A r t . 124 letzter A b satz hier auch die „Rechte". Denn die Freiheit gewährt zugleich auch das Recht. Deshalb kann nicht angenommen werden, daß, weil in A r t . 124 letzter Absatz nur der Ausdruck „Freiheiten" gebraucht ist, dem Gesetzgeber diese seine Befugnis nur für die Einschränkung von Freiheiten, nicht aber auch für Rechte zuerkannt worden sei. Angesichts der großen Bedeutung, welche den die Verhängung des Ausnahmezustandes erforderlich machenden Situationen zukommt, ist es undenkbar, daß der Verfassungsgeber, welcher die Einschränkung oder Aussetzung von Freiheiten vorsieht, die Einschränkung oder Aussetzung von Rechten nicht anerkannt hat. Deshalb ist die Annahme gerechtfertigt, daß unter dem i n Art. 124 letzter Absatz stehenden Ausdruck „Einschränken und Aussetzen" Rechte und Freiheiten gemeint sind. Unter dem Gesichtspunkt dieser Darlegungen: 1. — sind die den Nichtigkeitsantrag bildenden Vorschriften von Art. 3 Abs. (a), (b) und (c) des Gesetzes Nr. 1402 über den Ausnahmezu-
Sondervotum von
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stand mit den Bestimmungen von A r t . 124 letzter Absatz der Verfassung vereinbar; es kann nicht zugegeben werden, daß sie gegen die abstrakt nur i n normalen Zeiten anzuwendenden Prinzipien i n den A r t i keln 11 Abs. 2, 15, 16, 17, 22 und 25 verstoßen. 2. — bin ich der Ansicht, daß der Begründung für die Abweisung des auf die Vorschriften von A r t . 11 Abs. 1, 2 und 3 des Gesetzes Nr. 1402 bezüglichen Teils der Klage noch folgende Erwägung anzufügen ist: Die Vorschriften i n den erwähnten Absätzen 1, 2 und 3 von Art. 11 entsprechen der i n A r t . 124 letzter Absatz der Verfassung gebrauchten Ausdrucksweise „welche Vorschriften i m Falle des Ausnahmezustandes anzuwenden sind, ist durch Gesetz zu regeln". Denn die so ausgedrückte Vorschrift gewährt dem Gesetzgeber die Befugnis, i m Ausnahmezustand die den Erfordernissen dieses Zustands angemessenen Vorschriften zu erlassen. II. — Gegenvotum zu der Entscheidung des Verfassungsgerichts über die Nichtigkeit von A r t . 15 des Gesetzes Nr. 1402: I n dem die Nichtigkeit von A r t . 15 aussprechenden Teil der Entscheidung ist die Mehrheit zu dem Ergebnis gelangt, daß alle i n diesem A r t i k e l enthaltenen Grundsätze gegen A r t i k e l 12 und die abgeänderten Verfassungsartikel 11, 30, 32, 124, 138 und 147 verstoßen. Abgesehen von der i m letzten Absatz von A r t . 15 enthaltenen Ausnahme (zu Gunsten der Mitglieder des Staatsgerichtshofs und des Generalstaatsanwaltes der Republik) trete ich diesem Spruch nicht bei. a) (Wortlaut von A r t . 15 und Auszug aus der Begründung der Mehrheitsentscheidung) . . . I n Absatz 3 des abgeänderten Verfassungsartikels 138 ist klargestellt, daß durch Gesetz zu bestimmen ist, für welche strafbaren Handlungen und über welche Personen die Militärgerichte i m Ausnahmezustand oder i m Kriegsfall zuständig sind; ebenso heißt es i m letzten Absatz des abgeänderten Verfassungsartikels 124: „Welche Vorschriften i m Falle des Ausnahmezustandes anzuwenden sind und i n welcher Weise die Geschäfte zu führen sind, ist durch Gesetz zu regeln." Diese beiden sich gegenseitig ergänzenden Bestimmungen gewähren dem Gesetzgeber die Befugnis, durch Gesetz diejenigen Bestimmungen zu treffen, welche ihren Platz i n dem für nichtig erklärten Art. 15 Abs. 1 gefunden haben. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern der Gesetzgeber dadurch, daß er, gestützt auf die ihm verfassungsmäßig zuerkannte Ermächtigung, i n Wahrnehmung seiner Befugnisse diejenigen Vorschriften erlassen hat, welche i m Rahmen des außergewöhnlichen Verwaltungsverfahrens die dieser Verwaltung angemessenen Vorschriften enthalten. Überdies ist die Bestimmung von A r t . 15 Abs. 1 ratione personae entsprechend den Vorschriften von Art. 21 des Gesetzes Nr. 1402 über den
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Ausnahmezustand an eine Bedingung geknüpft: I n Art. 21 ist bestimmt: „Die Strafverfolgung durch den Kommandanten des Ausnahmezustandes ist für die i n diesem A r t i k e l aufgezählten Personen wegen der in diesem Gesetz aufgezählten strafbaren Handlungen an die Genehmigung derjenigen Kommissionen und Instanzen gebunden, die nach den besonderen Gesetzen dafür zuständig sind. Wird die Zustimmung von den zuständigen Kommissionen und Instanzen verweigert, so w i r d nach den besonderen Gesetzen verfahren." I n Anbetracht dessen ist es natürlich, daß hinsichtlich derer, die i n Art. 21 Abs. (d) genannt sind, von den zuständigen Kommissionen und Instanzen die Zustimmung nicht gegeben werden w i r d m i t der Begründung, daß die Aburteilung dieser Personen entsprechend A r t . 147 der Verfassung durch den Staatsgerichtshof erfolgen muß. Ferner stützt sich die Mehrheit auf Art. 12 und die abgeänderten A r t . 32 und 147 der Verfassung . . . (Verweisung auf die Begründung unter I seines Votums ...). b) Ich stimme auch gegen die Nichtigerklärung der Vorschrift hinsichtlich der i n Art. 15 Abs. 3 enthaltenen Befugnis, die den Kommandanten des Ausnahmezustandes ermächtigt, Beschuldigte höchstens 30 Tage festzuhalten. Die Mehrheit stützt sich hierbei auf die abgeänderten Verfassungsartikel 11 und 30 . . . (Ablehnung dieser Auffassung unter Hinweis auf I. des Votums . . . ) . . . Die Verfassung hat dem Gesetzgeber unter der Bedingung, die durch A r t . 124 Abs. 1 gezogenen Grenzen einzuhalten, i n den ihm i m letzten Absatz zuerkannten Gegenständen der Ermächtigung auch ein Ermessen hinsichtlich der Bestimmung von Förmlichkeiten und Gradunterschieden eingeräumt. Der Gesetzgeber hat dieses Ermessen entsprechend der Situation und den Bedingungen zu gebrauchen, i n denen sich das Land befindet. Die Befugnis, jemanden 30 Tage lang festhalten zu können, enthält nichts, was gegen das Ziel und die Erfordernisse verstößt, die Ursachen zu beseitigen, welche den Ausnahmezustand erforderlich gemacht haben. Unter den Gründen, welche den Ausnahmezustand erforderlich machen, finden sich auch Situationen wie der Kriegszustand, während dessen sich das Land i n der schwierigsten Lage befinden kann. I n den Fällen, welche die Verhängung des Ausnahmezustandes erfordern, ist es immer möglich, daß wichtige Ereignisse eintreten, welche eine 30tägige Frist nötig machen. Eine Anzahl derartiger Ereignisse hat dies gezeigt. Schließlich ist diese Befugnis zur vorläufigen Festnahme auf 30 Tage beschränkt; dies bedeutet, daß diese Befugnis je nach dem Bedürfnis bis zu 30 Tagen i n Anspruch genommen werden kann. I n dieser Hin-
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sieht hat die Verfassung i n der für normale Zeiten anwendbaren Bestimmung von A r t . 30 Abs. 4 bei kollektiv begangenen Straftaten eine Frist von 7 Tagen für zulässig erklärt; i n den Fällen des Ausnahmezustandes, in denen das Land Gefahren gegenüberstehen kann, eine sieben Tage überschreitende Höchstfrist von dreißig Tagen als übermäßig anzusehen und sie . . . als Verstoß gegen die nur i n normalen Zeiten anwendbaren Verfassungsbestimmungen zu halten und deswegen für nichtig zu erklären, entspricht nicht den Verfassungsvorschriften über den Ausnahmezustand. c) Ich stimme auch gegen die Nichtigerklärung von A r t . 23 des Gesetzes Nr. 1402 . . . Die i n Art. 23 erwähnten außergewöhnlichen Mittel und Maßnahmen sind nicht auf die nach Aufhebung des Ausnahmezustandes eintretenden Ereignisse, sondern nur auf die zur Zeit des Ausnahmezustandes eingetretenen und noch nicht abgewickelten Ereignisse anzuwenden. I n Art. 23 w i r d das Ziel verfolgt, die zur Zeit des Ausnahmezustandes anhängig gewordenen Sachen zu Ende zu führen und abzuwickeln. Diese Befugnis ist dem Gesetzgeber i m letzten Absatz von Art. 124 prinzipiell zuerkannt. Bekanntlich kann die Nichtbeendigung der Untersuchung von Ereignissen während des Ausnahmezustandes manchmal zu Ergebnissen führen, welche dem Zweck des Ausnahmezustandes nicht entsprechen und seine Wirkung mindern. Die Möglichkeit eines derartigen Ergebnisses kann zu der Notwendigkeit führen, den Ausnahmezustand zu verlängern. U m den Zwang zur Verlängerung des Ausnahmezustandes in diesen Fällen auszuschließen, hat der Verfassungsgeber es für zweckmäßig erachtet, trotz Beendigung des Ausnahmezustandes die zu ihm gehörigen aber noch nicht zu Ende geführten Sachen nach den Ausnahmezustandsverfahren zu erledigen. Diese Ermächtigung ist durch Art. 124 letzter Absatz der Verfassung gedeckt.. . (Die Mitglieder Sait Koçak und Halit Zarbun haben sich dem Votum unter I I angeschlossen.)
Abweichendes Votum des Mitglieds Ihsan Ecemi§ Es ist unzweifelhaft, daß die Verfassungsnormen zusammenpassen und zwischen ihnen kein Widerspruch besteht. Wenn in der Verfassung für einen Gegenstand mehrere Bestimmungen vorhanden sind, so muß bei der Wahl der auf einen bestimmten Sachverhalt anwendbaren Vorschrift zunächst diejenige beachtet werden, welche von ihnen die speziellere ist. Es ist eine ganz offensichtliche Realität, daß A r t . 124 der Verfassung i m Verhältnis zu zahlreichen Verfassungsbestimmungen eine spezielle 7 Hirsch
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und außergewöhnliche Vorschrift ist und angesichts des Bestandes von Staat und Nation eine lebenswichtige Bedeutung hat. Wenn man sich außerdem vor Augen hält, daß das auf diese Vorschrift gestützte und erlassene Gesetz über den Ausnahmezustand ein Gesetz ist, das lediglich unter den i n der Vorschrift enthaltenen sehr engen Einschränkungen und Bedingungen für eine vorübergehende und bestimmte Zeit eine Anwendungsmöglichkeit hat, dann ist leicht verständlich, daß auch der Maßstab bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der den Gegenstand des Rechtsstreits bildenden Vorschriften des Gesetzes Nr. 1402 eben dieser A r t . 124 der Verfassung sein muß. Ein Gesetz über den Ausnahmezustand hat Vorschriften über die Einschränkung oder Aussetzung von Freiheiten der Person zu enthalten und muß demnach ganz natürlich die Bereiche zahlreicher Verfassungsbestimmungen beeinflussen. Infolgedessen liegt zwar auf der Hand, wie wichtig die Fragen sind, ob das Gesetz über die aus Art. 124 fließenden Notwendigkeiten und Bedürfnisse hinausgehen darf oder nicht und ob ein Verstoß gegen den Geist und Zweck des Textes dieser A r t i k e l vorliegt oder nicht; trotzdem kann, nachdem A r t . 124 seinen Platz in der Verfassung gefunden hat und die Verwaltungsart des Ausnahmezustandes die Natur einer verfassungsmäßigen Verwaltung gewonnen hat, keine Rede davon sein, daß gegen andere Verfassungsartikel durch Vorschriften verstoßen wird, welche dem Grund und Ziel angemessen und dafür erforderlich sind, auch wenn sie von einschränkender oder aussetzender W i r kung auf Freiheiten sind. Andernfalls wäre es ohne Sinn und Wert, daß Art. 124 i n der Verfassung einen besonderen Platz erhalten hat. Wenn man die i n A r t . 15 enthaltenen Vorschriften unter diesem Gesichtspunkt prüft, so kommt man zu dem Ergebnis, daß sie in keiner Weise verfassungswidrig sind. A. . ..
I n Frage steht die Verfassungsmäßigkeit der dem Kommandanten des Ausnahmezustandes zuerkannten Befugnis, wegen der i n den Bezirken des Ausnahmezustandes begangenen und i m Gesetz aufgezählten Straftaten die Beschuldigten vor den Militärgerichten oder den allgemeinen Gerichten aburteilen zu lassen. I n A r t . 138 der Verfassung ist bestimmt, daß gesetzlich zu regeln ist, wegen welcher Straftaten i m Ausnahmezustand und i m Kriegsfall die Militärgerichte zuständig sein sollen; ebenso ist i m A r t . 124 allgemein klargestellt, daß durch Gesetz zu bestimmen ist, welche Vorschriften unter dem Ausnahmezustand anzuwenden und wie die Geschäfte zu führen sind und wie die Freiheiten einzuschränken oder auszusetzen sind. A r t . 15 ist ein auf diesen Vorschriften beruhender A r t i k e l und hat mit voller Klarheit diejenigen Straftaten aufgezählt, deren Täter vor den Militärgerichten abgeurteilt
Sondervotum von Ihsan Ecemiç
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werden sollen. Daß dem Kommandanten des Ausnahmezustandes neben der Befugnis, die Akten über diese Straftaten an die Militärgerichte weiterzugeben, auch die Befugnis eingeräumt worden ist, die Sachen an die nach den allgemeinen Vorschriften zuständigen Stellen weiter zu leiten, ist die Folge einer Notwendigkeit; es ist offensichtlich, daß daraus nicht der Sinn abgeleitet werden darf, der Kommandant des Ausnahmezustandes könnte wegen einer i m Gesetz nicht aufgeführten Straftat ein Verfahren vor dem Militärgericht eröffnen. Denn es ist klargestellt, für welche Straftaten die Militärgerichte zuständig sind. Unter dem Gesichtspunkt, daß i m Ausnahmezustand die Zuständigkeit der Militärgerichte für einige Straftaten eine Ausnahme bildet, ist es erforderlich, i m Bereich des Möglichen nicht über das unbedingt Notwendige hinauszugehen und nur das vom Ausnahmezustand erwartete Ziel nicht zu gefährden. Da nicht bestimmt vorauszusehen ist, wie sich die den Ausnahmezustand erforderlich machenden Verhältnisse entwickeln werden und der Erlaß eines neuen Gesetzes Zeit erfordert, dies aber i n einer den Ausnahmezustand erforderlich machenden Situation unerträglich ist, hat man in Rechnung gestellt, daß einerseits soweit wie möglich eine Garantie für die vom Ausnahmezustand zu erwartenden Ergebnisse erreicht, andererseits aber nur so weit wie nötig von den allgemeinen Vorschriften abgewichen, die Arbeitslast der Ausnahmezustandsgerichte nicht unnütz erhöht und ihr eigentlicher Zweck nicht verzögert wird; mit anderen Worten: man hat Elastizität in dem Maße gewährt, wie sie das aus Art. 124 der Verfassung entstandene Bedürfnis erforderlich macht. Solange für irgendeine i n dem A r t i k e l aufgezählte Straftat wegen dieser strafbaren Handlung die Zuständigkeit des Militärgerichts ratione materiae nicht als Verfasungswidrigkeit bezeichnet wird, kann dieserhalb auch von einer Verfassungswidrigkeit keine Rede sein. B. Was die Täter betrifft, so faßt Art. 15 zunächst ganz allgemein diejenigen zusammen, welche die in seinem ersten Absatz aufgezählten strafbaren Handlungen begehen; aber i m letzten Absatz und i n Art. 21 desselben Gesetzes sind Ausnahmen vorgesehen; man hat versucht, einen Bereich abzugrenzen, der sowohl der Vorschrift von Art. 138 als auch den sich aus A r t . 124 ergebenden Notwendigkeiten und Bedürfnissen entspricht. Da Ausnahmezustand und Kriegsfall besondere, außergewöhnliche und vorübergehende Zustände sind, muß man bei der Bestimmung darüber, welche Personen unter derartigen Verhältnissen vor den Militärgerichten abgeurteilt werden sollen, zweifellos zuvor die diese Verhältnisse betreffenden besonderen Vorschriften, nämlich Art. 138 Abs. 3 und A r t . 124 der Verfassung berücksichtigen. Bei den diesbezüglichen Überlegungen ist von ganz besonderer Wichtigkeit, daß man nicht über die sich aus Art. 124 ergebenden Notwendigkeiten und 7*
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Bedürfnisse hinausgeht. Auch der Gesetzgeber hat mit den Bestimmungen i m letzten Absatz von A r t . 15 . . und i n A r t . 21 .. und insbesondere dadurch, daß er das wichtige Kapitel (seil, des Strafgesetzbuchs) über die von öffentlichen Bediensteten i n Ausübung ihres Dienstes begangenen Straftaten, abgesehen von wenigen Artikeln, aus dem Bereich von A r t . 15 herausgelassen hat, dies erreichen wollen. Darin daß der Gesetzgeber i m Ausnahmezustand und Kriegsfall seine Ermessensfreiheit hinsichtlich der diesbezüglichen Notwendigkeiten und Bedürfnisse i n dieser Weise gebraucht hat, liegt kein Verstoß gegen die Verfassung. C. . . . (Hinsichtlich der 30tägigen Frist w i r d die Begründung, die von der diesbezüglichen Mehrheit für deren Nichtigkeit gegeben wird, als i m Widerspruch zu der Begründung zu Art. 3 und 11 stehende zurückgewiesen und darauf aufmerksam gemacht, daß allein geprüft werden muß, ob für eine Vorschrift des Gesetzes über den Ausnahmezustand unter dem Gesichtspunkt von A r t . 124 der Verfassung ein Bedürfnis bestehe oder nicht. Daß die 30 Tagefrist ein derartiges Bedürfnis überschreite, könne nicht leichthin angenommen werden. Auch für die Begründung, der nach 30 Tagen Freigelassene könne einen Tag später wieder festgenommen und dadurch seines Grundrechts beraubt werden, enthalte die Bestimmung keinen Anhaltspunkt. Ganz i m Gegenteil sei durch die Formulierung klargestellt, daß die Frist für die mögliche Festnahme ohne richterliche Entscheidung fest bestimmt sei) Aus diesen Gründen bin ich gegen den Teil der Entscheidung der sich auf die Nichtigkeit von A r t . 15 des Gesetzes Nr. 1402 bezieht. Diesem Votum haben sich die Mitglieder Sait Zarbun angeschlossen.
Koçak
und Halit
Abweichendes Votum des Mitglieds Ziya Önel Gesetze sind Rechtsvorschriften, die mit dem Ziel gesetzt werden, das Leben und die Entwicklung der Gesellschaft i n Ruhe und Frieden zu sichern und sie soweit wie möglich glücklich zu machen. Was die Verfassung angeht, welche die Rechte und Freiheiten der Person definiert und als unantastbare Rechte garantiert, so weist sie unter diesem Gesichtspunkt vor allem die Eigenschaft auf, die Bürger gegen die Regierung zu schützen 69 . Tatsächlich hat unsere Verfassung mit ihren allgemeinen Prinzipien die Rechte und Freiheiten geschützt und mit dem Grundsatz, daß Gesetze nicht gegen die Verfassung verstoßen dürfen, die Überordnung der Verfassung und die Unantastbarkeit dieser Rechte 69 I m amtlichen Text ist ein offensichtlicher Druckfehler: dort heißt es wörtlich: „die Verwaltenden gegen die Verwalteten zu schützen".
Sondervotum von
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klar und deutlich herausgestellt. Jedoch muß man dabei zugeben, daß diese weitgehenden und fast unbegrenzt erscheinenden Rechte und Freiheiten für normale Zeiten aufgestellt sind. So hat auch Art. 124 letzter Absatz unserer Verfassung bestimmt, daß i n außergewöhnlichen Zeiten Rechte und Freiheiten eingeschränkt und ausgesetzt v/erden können. Wenn diese Einschränkung und Aussetzung die allgemeinen Verfassungsprinzipien mehr oder weniger nicht beeinträchtigte, so wäre es unmöglich, diesen Absatz und den Grund dafür zu verstehen. Denn es gibt keinen Zweifel daran, daß jedes Gesetz erlassen werden kann unter der Bedingung, daß es den Verfassungsprinzipien entspricht. Bei dieser Sachlage müßte man den erwähnten Absatz als überflüssige Vorschrift ansehen. Eine derartige Annahme ist jedoch vor allem m i t Logik und Verstand unvereinbar. So ist ζ. B. das Verbot oder die Beschränkung der Freizügigkeit eine unbestreitbare Notwendigkeit bei einer verbreiteten ansteckenden Krankheit. Eine Beunruhigung der Bevölkerung auf diesem oder jenem Weg kann die Grenzen der Angst und der Aufregung sprengen, die Sicherheit für Gut und Leben zunichte machen, die Unversehrtheit von Nation und Land und die Gesamtheit i n Gefahr stürzen. Unter diesen Bedingungen kann nicht vorgebracht werden, daß die für normale Zeiten gedachten Gesetzesbestimmungen als ausreichend betrachtet werden. Es ist selbstverständlich, daß außergewöhnliche Situationen außergewöhnliche Maßnahmen erfordern; vorausgesetzt, daß die Maßnahmen durch Gesetz geordnet sind und nicht der W i l l k ü r Tür und Tor lassen. Dies ist der Sinn von A r t . 124 letzter Absatz. Deshalb muß die Prüfung in der Richtung erfolgen, ob die außergewöhnliche Situation die i m Gesetz vorgesehenen Beschränkungen und Entziehungen erforderlich macht oder nicht, anders ausgedrückt, ob sie geeignet sind, den außergewöhnlichen Zustand i n den normalen Zustand zurückzuführen, der W i l l k ü r Tür und Tor zu öffnen, und ob auch durch das Antasten und die Verletzung von Rechten und Freiheiten zum Normalzustand zurückgekehrt werden kann oder nicht. Unter diesem Gesichtspunkt liegt i n einer jede Diskussion überflüssig machenden Weise offen zu Tage, daß die i n Art. 11 Abs. 2 und 3 vorgesehenen Vorschriften über die Ernennung und Versetzung der Richter die Unabhängigkeit der Richter und die Garantie ihres Richteramtes beeinträchtigen. Die Entscheidungen von Richtern, die i n dieser Weise ernannt und jeden Augenblick versetzt werden können, wird, um von den Verurteilten ganz zu schweigen, von der Bevölkerung i n starkem Maße beargwöhnt und führen zur Beunruhigung. Dies ist eine bekannte Tatsache. Abgesehen davon besteht die Möglichkeit zu einer den Prinzipien der Unabhängigkeit und Garantie Rechnung tragenden Regelung ; man w i r d nicht gut die Ansicht verteidigen können, daß Richter,
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die jeder Garantie beraubt sind, für die Überführung des außerordentlichen Zustandes i n den Normalzustand brauchbarer sind. Deshalb verstoßen diese Absätze vor allem gegen die Art. 132 und 138 der Verfassung und sind für nichtig zu erklären. Was den A r t . 15 anlangt, so ist diese Regelung der Überführung des außergewöhnlichen Zustandes i n den Normalzustand dienlich; deshalb muß man die Beeinträchtigung einiger Rechte zu den durch die Natur und die Notwendigkeiten des Ausnahmezustandes bedingten Umständen rechnen. Jedoch ist der Absatz, welcher dem Kommandanten ein absolutes Ermessen einräumt und es möglich macht, daß bei Begehen der gleichen strafbaren Handlung ein Teil der Täter von den Militärgerichten und ein anderer Teil von den allgemeinen Gerichten abgeurteilt wird, eine Vorschrift, welche zu willkürlichen, mit dem außerordentlichen Zustand nicht zusammenhängenden Handlungen führen kann. Es ist kein Grund vorhanden, der es rechtfertigt und erfordert, daß derartige mit dem außergewöhnlichen Zustand nicht zusammenhängende strafbare Handlungen einschließlich einiger Sachen, welche die Vorschriften des Zivilgesetzbuchs berühren, vor den Militärgerichten verhandelt werden. Von diesem Gesichtspunkt aus verstoßen diese Absätze gegen die Art. 11, 12, 30, 32, 124, 138, 147 der Verfassung und sind für nichtig zu erklären.
Abweichendes Votum des Mitglieds Muhittin
Gürün
1. Zu A r t . 3 des Gesetzes Nr. 1402: (Nach Wiedergabe des Artikelinhaltes heißt es) . . . Diese Befugnisse umfassen . . . die Gesamtheit der Rechte und Freiheiten der Person, welche die Grundlage der Verfassung bilden. Diese seitens der Verfassung (Art. 11) i n ihrem Kern als unantastbar erklärten Rechte und Freiheiten sind i n den Zeiten des Ausnahmezustandes zu einer Anzahl von „Erlaubnissen" umgewandelt worden, die nach dem Ermessen und innerhalb des Rahmens der Genehmigung des Kommandanten des Ausnahmezustandes oder der von i h m nach Art. 5 Abs. 3 des Gesetzes eingesetzten Mitarbeiter gebraucht werden können und die Gesamtheit der verfassungsmäßigen Garantien zunichte machen; da sie i n den fraglichen Perioden keine Rechte mehr sind, die verteidigt werden können, haben sie sogar die Eigenschaft des „Rechts" verloren und sind zu „Erlaubnissen" des Kommandanten des Ausnahmezustandes geworden. Zwar ist i n der Theorie der Grundsatz anerkannt, daß auch die Ausnahmezustandsverwaltungen innerhalb der Verfassung den allgemeinen Rechtsvorschriften und der Kontrolle der richterlichen Organe
Sondervotum von
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unterworfen seien und ihre Funktionen erfüllten. I n Wirklichkeit ist die Lage dieser Verwaltungen gegenüber unserer Verfassung keineswegs eine andere. Jedoch läßt es der erwähnte A r t . 3 des Gesetzes Nr. 1402 genügen, daß die Erledigung der Aufgaben und der Gebrauch der Befugnisse, welche diese Verwaltung ihrem Kommandanten zuweist, lediglich an zwei Bedingungen geknüpft sind, die gekennzeichnet sind als diejenigen Fälle, welche die (allgemeine Sicherheit) und die (öffentliche Ordnung) erheischen; die Grundsätze, welche der Kommandant bei Ausübung dieser Befugnisse sich vor Augen zu halten hat, nämlich die in A r t . 124 der Verfassung enthaltene Bindung an die Gründe des Ausnahmezustandes und ihre dadurch herbeigeführte Begrenzung und ihre Unterwerfung unter die richterliche Kontrolle sind nicht ausdrücklich hervorgehoben . . . Der Umfang der Begriffe „allgemeine Sicherheit" und „öffentliche Ordnung" ist so weit, daß dem Kommandanten des Ausnahmezustandes eine Interventionsmöglichkeit sogar auf Gebieten eingeräumt wird, welche zu dem i n A r t . 124 der Verfassung geregelten Ausnahmezustand keine nähere und keine weitere Beziehung haben, wie ζ. B. das tägliche Leben der Bürger, die Marktangelegenheiten, die gewöhnlichen Dienstleistungen der Gemeinden. Obwohl der Ausnahmezustand ein Zustand innerhalb des Rechts und der Verfassung ist, bildet er eine außergewöhnliche als Ausnahme zu begreifende Verwaltungsart. Bei dieser Sachlage müssen auch die Befugnisse und Verfahren unter der Ausnahmezustandesverwaltung durch die Gründe begrenzt sein, die i n Art. 124 der Verfassung genannt sind und die Erklärung des Ausnahmezustandes erforderlich machen. ( . . . Wortlaut von A r t . 124 Abs. 1; es w i r d näher ausgeführt, jeder der die Verhängung des Ausnahmezustandes erforderlich machenden Fälle bedürfe besonderer, i h m angepaßter Maßnahmen. Deshalb müßten auch die dem Kommandanten des Ausnahmezustandes gesetzlich zustehenden Befugnisse für den jeweiligen Einzelfall abgestuft sein. Es gehe nicht an, alles über einen K a m m zu scheren. Wegen Überschreitung dieser Grenzen müßten die Art. 11, 15, 16, 17, 22, 23, 24 und 25 der Verfassung herangezogen werden. Danach seien sie Absätze (a), (b) und (c) von A r t . 3 des Gesetzes Nr. 1402 verfassungswidrig). 2. Zu A r t . 11 Abs. 1 des Gesetzes 1402. Der Begründung müssen noch die folgenden Überlegungen angefügt werden: Die Errichtung irgendeines Gerichts ist ein Ergebnis, das durch den öffentlichen Dienst veranlaßt wird. Wenn man sich die Eigenart des Vorgangs i n dieser Weise vorstellt, ist es natürlich, daß dasjenige M i n i sterium, welches innerhalb des Staatsaufbaues den auf die Militärge-
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richtsbarkeit bezüglichen Abschnitt des öffentlichen Dienstes zu leiten hat, den diesbezüglichen Bedarf feststellt und die Entscheidung über die Errichtung eines Gerichtes trifft. Wenn es sich jedoch u m die Aufhebung eines Gerichtes handelt, liegt die Sache anders. Gewiß können die Gründe, welche die Errichtung eines Gerichtes erforderlich gemacht haben, i m Laufe der Zeit wegfallen; dann liegt auf der Hand, daß unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Dienstes kein Vorteil i n der Fortführung des Gerichts liegt und durch unnütze Kosten und Leerlauf einer bestimmten Planstelle A r beitskraft und Geld verloren gehen. Deshalb könnte, oberflächlich betrachtet, das zur Errichtung des Gerichts zuständige Ministerium auch für befugt gehalten werden, das Gericht in der gleichen Weise aufzuheben. Jedoch handelt es sich hier um ein viel wichtigeres Problem als die Feststellung der Bedürfnisse des öffentlichen Dienstes, nämlich um die Unabhängigkeit der Gerichte und die Garantie des Richteramtes. Nach der Neufassung des letzten Absatzes von A r t . 138 der Verfassung „sind die Organisation der Militärgerichtsbarkeit, der Geschäftsgang, die Personalverhältnisse der Militärrichter . .. nach den Erfordernissen der Unabhängigkeit der Gerichte, der Garantie des Richteramtes und der Bedürfnisse des militärischen Dienstes durch Gesetz zu ordnen". . . . Bei der Regelung müssen diese drei Bedingungen miteinander i n Einklang gebracht werden. Man kann sagen, daß bei der Errichtung eines Gerichts und der Bestimmung des Errichtungsortes die Erfordernisse des militärischen Dienstes i m Vordergrund stehen und die beiden anderen Gesichtspunkte i n diesem Stadium keinen Einfluß ausüben. Dagegen kann man sich bei der Aufhebung eines vorhandenen Gerichts — abgesehen von dem Wegfall des Bedürfnisses — ein militärisches Erfordernis nicht vorstellen. I n diesem Stadium müssen die Prinzipien der Unabhängigkeit der Gerichte und der Garantie des Richteramtes im Vordergrund stehen. Denn man kann daran zweifeln, ob die Richter, die ein nach dem freien Ermessen der Verwaltung aufhebbares oder nach einem anderen Ort versetzbares Gericht bilden, solange dieses Risiko über ihnen schwebt, i n Ruhe und besorgnisfreier Atmosphäre ihre Aufgaben lediglich nach Maßgabe ihres Gewissens und ihrer Kenntnisse erledigen können. Zwar muß das Verwaltungshandeln allein an den Bedürfnissen des öffentlichen Dienstes ausgerichtet sein und darf daneben kein anderes Ziel und keinen anderen Zweck verfolgen. Aber es ist nicht fehlerhaft, wenn man bei der Anwendung i n einigen Fällen diesem Prinzip nicht unbedingt treu bleibt. Deshalb hat sogar die Verfassung i n A r t . 144 die Aufhebung eines Gerichts oder einer planmäßigen Richterstelle oder die Veränderung des Gerichtssprengeis an die Zustimmung des Hohen Richterausschusses gebunden.
Sondervotum von
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Deshalb darf auch die Entscheidungsbefugnis über die Aufhebung von Militärgerichten nicht dem freien Ermessen der Verwaltung überlassen werden; vielmehr muß unter Berücksichtigung der Unabhängigkeit der Gerichte eine Regelung angestrebt werden, welche mehr Sicherheit gewährt . . . Obwohl die Mehrheit der Meinung ist, es bedürfe angesichts des Wortlauts der Bestimmung keiner Diskussion darüber, und deshalb keinen Anlaß gesehen hat, meine obigen Erwägungen in die Begründung mitaufzunehmen, halte ich es für wichtig festzustellen, daß die Befugnis zur „Errichtung" vorbehaltlich einer gegenteiligen Bestimmung nicht auch die Befugnis zur „Aufhebung" (eines Gerichts) enthält. 3. A r t . 11 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 1402 über den Ausnahmezustand ordnet das Verfahren hinsichtlich der Bestellung von Richtern und Staatsanwälten bei den i n den Bezirken des Ausnahmezustandes zu errichtenden Militärgerichten, während Absatz 3 einen Vorbehalt für die Vorschriften von A r t . 16 des Gesetzes Nr. 357 vorsieht. Wenn man den Erfordernissen des militärischen Dienstes den Vorrang einräumt und den Prinzipien der „Unabhängigkeit der Gerichte" und der „Garantie des Richteramtes" nur in dem Maße entspricht, wie es die Erfordernisse des militärischen Dienstes erlauben, dann ist es unmöglich, dies mit den i m Verfassungsabschnitt über die Gerichtsbarkeit enthaltenen Prinzipien und mit dem Grundsatz des demokratischen Rechtsstaats (Art. 2) und dem Grundsatz von Art. 7, „daß die Funktion der Gerichtsbarkeit i m Namen der türkischen Nation von unabhängigen Gerichten wahrgenommen w i r d " , auf einen Nenner zu bringen. Die Bedeutung der Prinzipien „Unabhängigkeit der Gerichte" und „Garantie des Richteramtes" springt u m so mehr in die Augen, als es sich insbesondere hier darum handelt, daß die Militärgerichte in den Bezirken des Ausnahmezustandes zur Aburteilung nicht nur von M i l i tärpersonen, sondern von allen Personen zuständig sind, welche nach Lage der Dinge i m Verdacht stehen, eine strafbare Handlung begangen zu haben. Die Merkmale der Unabhängigkeit der Gerichte und der Garantie des Richteramtes finden sich in A r t . 132 und 133 der Verfassung, und auch die zu ihrer Realisierung dienenden Regeln sind i n den anderen Artikeln des Abschnittes über die Gerichtsbarkeit, insbesondere in den Art. 134, 143 und 144 getroffen. Betrachtet man sie nur einzeln jeweils für sich allein, so können sie den beabsichtigten Zweck nicht erfüllen. Nur wenn man sie alle zusammen nimmt, können sie die Eigenschaft als leitende Prinzipien für die Verwirklichung der Unabhängigkeit der Gerichte und der Garantie des Richteramtes gewinnen.
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Die Verfassung hat für die Militärrichter eine derartige Ordnung nicht getroffen, sondern sie den Gesetzen überlassen, jedoch die Prinzipien offen gelegt, welche sich der Gesetzgeber bei Erlaß dieser Gesetze vor Augen zu halten hat . . . (Es w i r d näher ausgeführt, daß dies bei den hier strittigen Bestimmungen in Art. 11 des Gesetzes Nr. 1402 nicht geschehen sei.) Deshalb hätten die Absätze 2 und 3 von Art. 11 wegen Verstoßes gegen die Verfassungsartikel 2, 7 und 138 für nichtig erklärt werden müssen; deshalb bin ich gegen diesen Teil der Entscheidung. 4. (Die Nachfrist für das Außerkraftteten der für nichtig erklärten Bestimmung von A r t . 15 w i r d für übermäßig lang gehalten und eine Dreimonatsfrist für genügend erachtet.)
Sondervotum des Mitglieds Lutfi Ömerba§ . . . Eine außergewöhnliche Verwaltung erfordert auch außergewöhnliche Befugnisse. Die Verfassung hat dieses Erfordernis empfunden und i h m m i t der Vorschrift von A r t . 124 Rechnung getragen. Andernfalls hätte sich die Verfassung mit A r t . 30 („Vorschriften über den Rechtsschutz und Schutz der Person") begnügt und die in A r t . 124 enthaltene Bestimmung nicht getroffen. Deshalb verstößt der diesbezügliche A b satz von A r t . 15 nicht gegen die Verfassung. Ich bin gegen die diesbezügliche Nichtigkeitserklärung der Entscheidung.
Sondervotum des Mitglieds Çevket Müftügil 1. . . .
Der Ausnahmezustand ist eine A r t der Verwaltung mit der Absicht, das Land und die verfassungsmäßige Ordnung gegen Gefahren von außen oder innen zu schützen. Es ist undenkbar, daß eine A r t der Verwaltung, welche die verfassungsmäßige Ordnung schützen will, dazu übergeht, die von der Verfassung vorgesehenen Grundrechte beiseite zu schieben und ihren K e r n anzutasten. Deswegen kann man die Bestimmung von A r t . 124 unter dem Gesichtspunkt des Ausnahmezustandes nicht als eine unabhängige, für die Anwendung allein i n Frage kommende Vorschrift betrachten. Man muß annehmen, daß diese Vorschrift innerhalb des Rahmens aller Verfassungsvorschriften über die Grundrechte und Grundpflichten steht und einen einschränkenden Charakter hat. Auch wenn es erforderlich ist, durch Gesetz klarzustellen, in welcher Weise während des Ausnahmezustandes einige Grundrechte beschränkt, ja sogar für kurze Zeit ausgesetzt werden, so darf
Sondervotum von Ahmet H. Boyacioglu
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eine derartige Regelung niemals den Charakter haben, den Kern des Rechts zu beseitigen. Wenn man unter diesem Gesichtswinkel Art. 3 des Gesetzes Nr. 1402 über den Ausnahmezustand prüft, so kann man die Feststellung treffen, daß dem Kommandanten des Ausnahmezustandes so große Befugnisse gegeben worden sind, die geeignet sind, nicht etwa die verfassungsmäßige Ordnung zu schützen, sondern i m Gegenteil die verfassungsmäßige Ordnung von Grund auf zu zerstören. Tatsächlich w i r d am Anfang dieser Vorschrift angegeben, welche Befugnisse gebraucht und welche Maßnahmen in den Fällen getroffen werden können, welche die allgemeine Sicherheit und das öffentliche Wohl erfordern. Indessen ist der Ausnahmezustand i m absoluten Sinn nicht für den Schutz der allgemeinen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung vorgesehen. „Allgemeine Sicherheit" und „öffentliche Ordnung" sind Begriffe mit so weitem Umfang, daß ein Kommandant, der eine Maßnahme treffen w i l l und diese auf die genannten Begriffe stützt, seine Hand nach dem gesamten sozialen und wirtschaftlichen Leben des Landes ausstrecken, völlig einseitig und allein maßgebend werden kann. Aber der Ausnahmezustand als verfassungsmäßige Ordnung muß sich gegen derartige Neigungen richten und Maßnahmen vorsehen, welche zum Ziele haben, Gewalttätigkeiten innerhalb einer demokratischen freien Ordnung zu beseitigen, und sich deshalb in dieser Hinsicht lediglich i n den Grenzen der i n A r t . 124 gezeigten Gründen des Ausnahmezustandes halten . . .
2. ... 3. . . .
Abweichendes Votum des Mitglieds Ahmet H. Boyacioglu I. Unter Hinweis auf frühere Entscheidungen des Verfassungsgerichts wird u. a. ausgeführt: „Aus dem Begriff des Rechtsstaates ergibt sich die notwendige Folgerung, daß ohne jeden Zweifel die Staats- und Regierungsverfügungen und -Akte auf dem Recht beruhen müssen, d. h. daß für alle diese Verfügungen und Akte die als „Recht" bezeichnete Macht und das Gesetz, das dieser Macht entsprechen muß, beherrschend sind. Diese Grundanschauung, die ihren Ausdruck in A r t . 2 der Verfassung gefunden hat, ist als Grundphilosophie der Verfassung ein Symbol geworden; Art. 11 der Verfassung hat das gleiche Prinzip i n einer anderen Gestaltung verdeutlicht, und zwar durch die Vorschrift: „Das Gesetz darf den Kern von Grundrechten und Freiheiten nicht antasten"; damit hat die Verfassung i n einer anderen Weise wiederholt, daß ein Gesetz nicht dem Inhalt der Verfassung, sondern den Rechtsprinzipien entsprechen muß,
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welche den Geist der Verfassung beherrschen und einen über der Verfassung stehenden Wert beinhalten. Die Grundauffassung und Philosophie der Verfassung ist auch i m Ausnahmezustand und i m Kriegsfall die gleiche Verfassung der Türkischen Republik. Sie weist mit Entschiedenheit den Gedanken zurück, daß der A r t . 124 die in diesen Fällen allein anzuwendende Bestimmung ist. Die Annahme des Gegenteils würde die Prinzipien und Grundlagen i m ersten Teil der Verfassung i m Abschnitt „Allgemeine Grundsätze" völlig beseitigen und sie i n eine Anzahl wertloser und toter Ordnungsvorstellungen verwandeln. Man darf auch nicht außerachtlassen, daß die Verwaltung i n Form des Ausnahmezustandes kein Ziel, sondern ein M i t t e l zu dem Zweck ist, die Verfassungsordnung zu schützen. Deshalb ist es erforderlich, bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften, welche in Zeiten des Ausnahmezustandes die Freiheiten beschränken, nicht nur den abgeänderten Art. 124, sondern auch zugleich die i n A r t . 11 und i n den i h m folgenden Artikeln der Verfassung hervorgehobenen Regeln sich vor Augen zu halten und die Untersuchung darauf zu richten. II. (Deshalb werden die Absätze (a), (b) und (c) von A r t . 3 des Gesetzes Nr. 1402 über den Ausnahmezustand wegen Verstoßes gegen die Verfassungsartikel 15, 16 und 25 für nichtig gehalten.)
Viertes
Kapitel
K r i t i k der Entscheidung Die Mitglieder der Universität
des Lehrkörpers und die Hilfskräfte können frei forschen und publizieren. A r t . 120 Abs. 4 T ü r k . Verfassung (neue Fassung von 1971)
I . Prozessuale Fragen Zu Ziffer
IV-1:
M i t Recht w e i s t das Verfassungsgericht d a r a u f h i n , daß das a b s t r a k t e N o r m e n k o n t r o l l v e r f a h r e n n i c h t d e m Schutz persönlicher Interessen oder P e r s o n e n g r u p p e n d i e n t , s o n d e r n i m A l l g e m e i n i n t e r e s s e z u r N a c h p r ü f u n g gesetzlicher V o r s c h r i f t e n auf i h r e V e r f a s s u n g s m ä ß i g k e i t h i n v o n d e n d a z u verfassungsrechtlich a k t i v l e g i t i m i e r t e n Personen, K o l l e k t i v e n u n d I n s t i t u t i o n e n i n G a n g gesetzt w e r d e n k a n n . I s t e i n d e r artiges V e r f a h r e n e i n m a l a n h ä n g i g g e w o r d e n , so i s t es der D i s p o s i t i o n des A n t r a g s t e l l e r s entzogen u n d m u ß v o m Verfassungsgericht k r a f t seiner A m t s p f l i c h t z u E n d e g e f ü h r t w e r d e n . Dies g i l t selbst d a n n , w e n n d i e politische P a r t e i , d i e d e n A n t r a g a u f E r ö f f n u n g des N o r m e n k o n t r o l l v e r f a h r e n s g e s t e l l t h a t , n a c h t r ä g l i c h v o m Verfassungsgericht w e g e n Verstoßes gegen A r t . 57 A b s . 1 der V e r f a s s u n g 7 0 v e r b o t e n w i r d ; oder, 70 A r t . 57 der Verfassung bestimmt unter der Überschrift „Bindende Grundsätze für die Parteien" i n seinem Absatz 1: „Statuten, Programme u n d Tätigkeit der politischen Parteien müssen den auf den Menschenrechten und -Freiheiten beruhenden Idealen der demokratischen und laizistischen Repub l i k und der Grundnorm der Unteilbarkeit des Staatsgebiets und des Staatsvolks entsprechen. Parteien, die sich nicht danach richten, werden für immer verboten." Wegen Verstoßes gegen das von m i r i m Druck hervorgehobene Verfassungsgebot und nicht etwa, wie wiederholt i n der Öffentlichkeit, j a sogar i n der Beratenden Versammlung des Europarats behauptet worden ist, wegen klassenkämpferischer oder marxistischer Bestrebungen ist die A r b e i terpartei der T ü r k e i durch einstimmige Entscheidung des Verfassungsgerichts v o m 20. 7.1971 verboten worden (Amtsblatt Nr. 14 064 v o m 6.1.1972). Die juristisch zutreffenden Ausführungen von R A B L auf S. 228 ff. seines i n A n m e r k u n g 38 zitierten Aufsatzes beruhen, wie man sieht, auf der von einigen Mitgliedern des Europarats betriebenen „informationellen Vergiftung", von der diese Parlamentarier sich selbst anstecken ließen, ohne sich gegen Fehlinformationen vorzusehen. I n diesem Zusammenhang mag angemerkt werden, daß eine andere politische Partei, die „Nationale Ordnungspartei",
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. Kap. :
i
der Entscheidung
selbst w e n n sie n i c h t v e r b o t e n w o r d e n w ä r e , i m H i n b l i c k auf eine nach A n h ä n g i g w e r d e n des V e r f a h r e n s i n K r a f t getretene Verfassungsänder u n g w e g e n d e r n i c h t ausreichenden Z a h l i h r e r A b g e o r d n e t e n oder W ä h l e r s t i m m e n f ü r das Ingangsetzen des a b s t r a k t e n N o r m e n k o n t r o l l verfahrens nicht mehr a k t i v legitimiert wäre 71. Zu Ziffer
IV - 2:
N a c h A r t . 149 A b s . 2 ( i n der seit d e m 20. 3.1973 g e l t e n d e n Fassung) entscheidet das Verfassungsgericht a u f G r u n d d e r A k t e n , s o w e i t es n i c h t als Staatsgerichtshof t ä t i g w i r d oder ü b e r das V e r b o t politischer P a r t e i e n z u b e f i n d e n h a t . Das a b s t r a k t e N o r m e n k o n t r o l l v e r f a h r e n ist dagegen e i n schriftliches V e r f a h r e n . Es w i r d d u r c h d e n A n t r a g eingel e i t e t , i n d e m b e h a u p t e t w i r d , daß i r g e n d e i n e z u r Z e i t der A n t r a g s t e l l u n g i n G e l t u n g stehende V o r s c h r i f t eines Gesetzes 7 2 , das i m A m t s b l a t t v o r noch n i c h t 90 T a g e n v e r k ü n d e t w o r d e n ist, gegen b e s t i m m t e V e r f a s s u n g s n o r m e n verstoße, die zu demselben Z e i t p u n k t i n G e l t u n g stehen. Dies e r g i b t sich aus d e m i n A r t . 26 A b s . 2 des Gesetzes ü b e r das Verfassungsgericht vorgeschriebenen B e g r ü n d u n g s z w a n g f ü r d e n A n t r a g s t e l l e r . Das s c h r i f t l i c h e V e r f a h r e n z i e h t sich ü b e r l ä n g e r e Z e i t h i n . W ä h r e n d dieser Z e i t s p a n n e ist eine A u f h e b u n g oder Ä n d e r u n g der als
wegen Verstoßes gegen das Verfassungsprinzip des Laizismus vom Verfassungsgericht am 20. 5.1971 verboten worden ist (Türk. Amtsblatt Nr. 14 072 v o m 14.1.1972), ohne daß man dieses Verbot einer, u m dem politischen Sprachgebrauch Genüge zu tun, „rechtsextremistischen" Partei i n der Beratenden Versammlung des Europarats oder i n den Verlautbarungen der I n t e r nationalen Juristen-Kommission auch nur m i t einem Wort erwähnt hätte, ein Beispiel dafür, m i t welch' ungleichem Maß gemessen w i r d ! 71 I n diesem Zusammenhang sei darauf aufmerksam gemacht, daß nach der i n einer anderen Entscheidung des Verfassungsgerichts zum Ausdruck gekommenen Auffassung das Verbot einer Partei nur diese selbst und ihre Organisation betrifft, aber keine W i r k u n g auf ihre Vertreter i m Abgeordnetenhaus oder i m Senat der Republik hat. Als Begründung w i r d darauf hingewiesen, daß nach A r t . 76 der Verfassung die Mitglieder der Gesetzgebenden Körperschaften weder ihren Wahlbezirk noch ihre Wähler, sondern die ganze Nation repräsentieren. Das politische Gedankengut der verbotenen Partei bleibt somit als Wirkungsfaktor i n der täglichen Arbeit des Parlaments bis zum A b l a u f der Legislaturperiode erhalten, und zwar nicht nur theoretisch, sondern, wie man sich an Hand der stenografischen Protokolle der parlamentarischen Verhandlungen leicht überzeugen kann, auch praktisch. Ein gutes Beispiel für die Achtung vor der Volkssouveränität und dem Prinzip der rechtsstaatlichen repräsentativen Demokratie — i n der T ü r k e i ! 72 Ratifikationsgesetze unterliegen nicht der Normenkontrolle durch das Verfassungsgericht (Art. 61 letzter Absatz der Verfassung). Jedoch sind formelle Gesetze wie der Erlaß einer Amnestie oder die Genehmigung der V o l l streckung eines nach Erschöpfung des Rechtswegs rechtskräftig gewordenen Todesurteils (Art. 64 Abs. 1 n. F. der Verfassung) der Normenkontrolle durch das Verfassungsgericht unterworfen (Entsch. Türk. VerfG. 10/1973/273 - 317). M i t einem derartigen Gesetz i m formellen Sinne übernimmt das Parlament als Repräsentant der Nation die Verantwortung zwar nicht für die Verhängung, w o h l aber für die Vollstreckung einer Todesstrafe.
I. Prozessuale Fragen
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verfassungswidrig angegriffenen gesetzlichen Vorschrift durch den Gesetzgeber ebenso möglich wie eine Aufhebung oder Abänderung der im Antrag als verletzt bezeichneten Verfassungsbestimmung durch den Verfassunggeber. W i r d eine dieser Möglichkeiten Wirklichkeit, so entsteht — wie i m vorliegenden Falle — die Frage, welcher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtslage maßgebend ist. Es könnte die Rechtslage zu dem Zeitpunkt sein, an dem die Rechtshängigkeit eintritt, so daß Änderungen nach diesem Zeitpunkt gleichgültig wären. Es könnte die Rechtslage zu dem Zeitpunkt sein, an dem das Verfassungsgericht seine Entscheidung fällt. Es könnte schließlich die Rechtslage zu dem Zeitpunkt i n Betracht kommen, der unmittelbar vor dem Tag der Veröffentlichung der m i t Gründen versehenen Entscheidung liegt; während nämlich nach der ursprünglichen Fassung von Art. 152 Abs. 2 der Verfassung die vom Verfassungsgericht für nichtig erklärte gesetzliche Vorschrift bereits am Tage der Entscheidung außer Kraft trat, ist nach der seit dem 22. 9. 1971 geltenden Fassung derjenige Zeitpunkt maßgebend, i n dem die Entscheidung des Verfassungsgerichts, die vor schriftlicher Abfassung ihrer Begründung nicht verkündet werden darf, mit ihrer Begründung i m Amtsblatt veröffentlicht wird. Das Verfassungsgericht geht — unter ausdrücklichem Vorbehalt etwaiger Ausnahmen aus gebotenem Anlaß — als Regel davon aus, daß erst mit dem Inkrafttreten einer Verfassungsänderung der frühere Text seine bindende K r a f t verliert und der neue Text seine bindende und den einfachen Gesetzen übergeordnete Kraft erwirbt. Diese Auffassung ist bei Änderungen i m Verfassungstext richtig. Wie aber, wenn nicht die angeblich verletzten Verfassungsvorschriften, sondern die als verfassungswidrig angegriffenen gesetzlichen Bestimmungen in der Zeitspanne zwischen dem Anhängigwerden des Normenkontrollverfahrens und dem Tage der Entscheidung oder gar dem Tag der Veröffentlichung der Entscheidung vom Gesetzgeber geändert werden? Das Verfassungsgericht brauchte sich mit dieser Frage nicht auseinanderzusetzen. Sie ist aber keineswegs akademisch. Es ist denkbar, daß der Gesetzgeber z.B. unmittelbar nach einer Neuwahl noch während eines schwebenden Normenkontrollverfahrens die als verfassungswidrig angegriffene Gesetzesvorschrift aufhebt oder abändert. T r i t t diese Aufhebung oder Abänderung vor dem Tage i n Kraft, i n dem das Verfassungsgericht seine Entscheidung fällt, so muß dieses die neue Rechtslage berücksichtigen. T r i t t die Aufhebung oder Änderung des einfachen Gesetzes aber erst i n Kraft zwischen dem Tage, an dem das Verfassungsgericht seine Entscheidung gefällt hat, und dem Tage, an dem die mit Gründen versehene Entscheidung i m Amtsblatt veröffentlicht wird, so fällt die Entscheidung ins Leere; die Gesetzesbestimmung, über deren Verfassungsmäßigkeit oder -Widrigkeit das Verfassungsgericht ent-
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. Kap. :
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der Entscheidung
schieden hat, ist nicht mehr i n Geltung, während die etwa abgeänderte oder neue Gesetzesbestimmung nicht Gegenstand des Normenkontrollverfahrens gewesen ist. II. Materiellrechtliche Fragen Zu Ziffer IV - S.Gegenstand des Normenkontrollverfahrens waren einige Bestimmungen des Gesetzes Nr. 1402 über den Ausnahmezustand. Dieses am 13. Mai 1971 erlassene und mit seiner Verkündung i m Amtsblatt am 15. M a i 1971 i n K r a f t getretene Gesetz löste das frühere Gesetz Nr. 3832 vom 22. Mai 1940 über den Ausnahmezustand ab, soweit dessen Vorschriften mit der freiheitlichen und rechtsstaatlichen Verfassung von 1961 nicht zu vereinbaren waren. Z u dem Zeitpunkt, an dem das Normenkontrollverfahren nach der Feststellung des Verfassungsgerichts anhängig wurde, nämlich am 24. Mai 1971, galt noch die Verfassung in ihrer ursprünglichen Form. Der oben bereits mitgeteilte Art. 11 Abs. 2 der Verfassung lautete: „ E i n Gesetz darf ein Grundrecht oder eine Freiheit i n ihrem Kern nicht antasten, selbst nicht im Hinblick auf das öffentliche Wohl, die allgemeinen Sitten, die öffentliche Ordnung, die soziale Gerechtigkeit, die nationale Sicherheit oder aus ähnlichen GründenDas Prinzip „salus rei publicae suprema lex" schien damit durch das andere Prinzip „libertas singulorum suprema lex" ersetzt zu sein mit der Folge, daß auch die unter dem Ausnahmezustand gesetzlich zulässige Einschränkung der Grundrechte und Freiheiten deren Kern nicht antasten durfte 73 ·. Wäre der Rechtsstreit bereits vor Inkrafttreten der Verfassungsänderung vom 20. September 1971 entscheidungsreif gewesen, so hätten die meisten der vom Kläger beanstandeten Bestimmungen als verfassungswidrig für nichtig erklärt werden müssen. Durch die Verfassungsänderung aber war gerade der oben i m Druck hervorgehobene Halbsatz von A r t . 11 Abs. 2 gestrichen worden. Durch die Neufassung von Abs. 1 war gleichzeitig klargestellt worden, daß „salus rei publicae" einen höheren Wert und Rang hat als „libertates singulorum". Da, wie oben gezeigt, der abgeänderte Text der Verfassung maßgebend war, hing die Beurteilung der einzelnen Bestimmungen des Gesetzes über den Ausnahmezustand unter dem Gesichtspunkt ihrer Verfassungsmäßigkeit von der Entscheidung über eine generelle Vorfrage ab, die so formuliert werden kann: Sind die i n der Verfassung ausdrücklich vorgesehenen Grenzen, die dem Gesetzgeber für die Einschränkung von Grundrechten und Freiheiten allgemein i n Art. 11 Abs. 2 und gesondert i n einigen anderen Verfassungsartikeln gezogen 73 I n diesem Sinne auch Erl. 2 b zu A r t . 11 und Erl. 2 zu A r t . 124 i n meinem i n A n m . 27 angeführten Buch.
I I . Materiellrechtliche Fragen
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sind, auch für die den Ausnahmezustand regelnden Gesetze verbindlich, oder gewährt die Sonderbestimmung über den Ausnahmezustand in A r t . 124 Abs. 3 i m Zusammenhang mit A r t . 138 Abs. 3 dem Gesetzgeber einen weiteren Spielraum? Die Mitglieder des Verfassungsgerichts haben diese Frage zwar sehr eingehend geprüft, aber i n ihrer Zusammenfassung als Spruchentscheidung nicht als generelle und damit präjudizielle Vorfrage für alle vom Kläger zur abstrakten Normenkontrolle gestellten Gesetzesbestimmungen, sondern allein bei Gelegenheit der nach der Reihenfolge des Antrags an erster Stelle stehenden Bestimmung geprüft. M i t 8 gegen 7 Stimmen entschied das Verfassungsgericht, daß für die gesetzliche Regelung des Ausnahmezustandes der Gesetzgeber allein an die Sonderbestimmung von A r t . 124 der Verfassung gebunden sei und deshalb die allgemeinen, nur für normale Verhältnisse geltenden verfassungsrechtlichen Grenzen bei der Einschränkung und Aussetzung von Grundrechten und Freiheiten nicht zu beachten brauche. Das Gericht als Ganzes hat i m Gegensatz zu dem zustimmenden Sondervotum eines Mitglieds und zu den abweichenden Voten seines Präsidenten und zweier Mitglieder die präjudizielle Bedeutung dieser seiner Entscheidung nicht erkannt und durch diesen methodischen Fehler grobe Widersprüche innerhalb der Begründung hervorgerufen: Während diese grundlegende Frage nur anläßlich von Art. 3 Abs. (a), (b), (c) und A r t . 11 des Gesetzes über den Ausnahmezustand i n dem obigen Sinne entschieden worden ist, hat sich bei der Beurteilung der A r t . 15 und 23 desselben Gesetzes die entgegengesetzte Auffassung durchgesetzt. Die Entscheidung gleicht um so mehr einem Zwitter, als — was aus der deutschen Übersetzung nicht zu entnehmen ist — der Formulierungsstil der Begründung zu A r t . 3 und 11 ganz deutlich ein anderer ist als zu A r t . 15 und 23. Nach A r t . 19 Abs. 2 der auf Grund von Art. 41 des Gesetzes über das Verfassungsgericht erlassenen Geschäftsordnung obliegt die Abfassung der Entscheidung dem Präsidenten oder einem damit betrauten Mitglied. Es ist also durchaus zulässig, bei einem Normenkontrollverfahren, das sich auf zahlreiche gesetzliche Bestimmungen bezieht, mehrere Mitglieder mit der Abfassung von Teilstücken der Begründung zu betrauen. Jedoch sieht A r t . 19 Abs. 3 der Geschäftsordnung ausdrücklich vor, daß der Entwurf der begründeten Entscheidung von den Mitgliedern gemeinsam geprüft und i m Streitfall die endgültige Form der Entscheidung vom Präsidenten bestimmt wird. Abgesehen von dieser äußerlichen Seite fällt auf, daß das Verfassungsgericht sich bei seinen Beratungen an den sehr ausführlichen Auseinandersetzungen 74 des als Corps Constituant und nicht als
74 Siehe die Aufzählung i n Anm. 7 auf S. 56 meines i n Anm. 32 erwähnten Ergänzungsbandes zur t ü r k . Verfassung.
8 Hirsch
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einfacher Gesetzgeber fungierenden Parlamentes 7 5 nicht orientiert hat, obwohl der W i l l e des Verfassungsgebers gerade i n dieser Frage daraus ersichtlich ist. Ferner sind die völkerrechtlichen Bestimmungen unbeachtet geblieben, welche die T ü r k e i hinsichtlich der Grundrechte u n d Freiheiten u n d der Möglichketi ihrer Begrenzung, Einschränkung und zeitweiligen Aussetzung eingegangen ist. Gerade aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, der die T ü r k e i als M i t g l i e d angehört 7 6 , ergibt sich die Abstufung der zulässigen Grundrechtsbeschränkungen je nach dem politischen Normalzustand oder dem Ausnahmezustand. Während i n den A r t . 2 - 1 2 der Konvention die einzelnen Menschenrechte u n d Freiheiten als solche aufgezählt und hierbei gleichzeitig der sachliche Geltungsbereich (Umfang des Grundrechts) u n d die der nationalen Gesetzgebung der Mitgliedsstaaten gezogenen Grenzen für die Beschränkung der einzelnen Rechte normiert sind, bestimmt A r t . 15 der Konvention ausdrücklich, daß i m Falle eines Krieges oder öffentlichen Notstandes, der das Leben der Nation bedroht, jeder Vertragsstaat Maßnahmen ergreifen kann, welche die i n der Konvention vorgesehenen Verpflichtungen i n dem Umfang, den die Lage unbedingt erforderlich macht, außer K r a f t setzen. (Die vorgesehenen Ausnahmen sind i m vorliegenden Falle bedeutungslos.) Der Mitgliedsstaat, der dieses Recht der Außerkraftsetzung ausübt, hat den Generalsekretär des Europarates eingehend über die getroffenen Maßnahmen u n d deren Gründe zu unterrichten u n d i h n über den Zeitpunkt i n Kenntnis zu setzen, i n dem diese Maßnahmen außer K r a f t getreten sind und die Vorschriften der Konvention wieder volle Anwendung finden 7 7 . Wenn die 15 Mitgliedsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention, darunter außer der Bundesrepublik auch Großbritannien, die Beneluxländer u n d die skandinavischen Staaten eine derartige „ N o t stands"klausel als für sich verbindlich anerkennen, w e i l die Beseitigung eines Staatsnotstandes die vorübergehende Beschränkung oder sogar x\ussetzung von Grundrechten u n d Freiheiten der Einzelpersonen nach Lage der Dinge als eine unausweichliche Notwendigkeit erforderlich macht, so hat der türkische Gesetzgeber von 1971 der i n der K o n vention anerkannten Zweiteilung i n den abgeänderten Verfassungsartikeln 11 und 124 Rechnung getragen.
75 Siehe über diesen Unterschied meinen Aufsatz: Verfassungswidrige Verfassungsänderung, i n Archiv des öffentlichen Rechts Bd. 89 (1973), 53 - 70 (59/60). 76 Siehe oben Zweites Kapitel. 77 Wie sich aus der Tabelle auf S. 125/126 der deutschsprachigen Ausgabe des vom Europarat herausgegebenen Werks (siehe oben Anm. 3) ergibt, hat die Türkei dieser Mitteilungspflicht während der Berichtszeit (1955 - 1967) jeweils entsprochen.
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Diesen Gesichtspunkt noch nicht einmal gesehen, geschweige denn geprüft und beachtet zu haben, ist ein erstaunlicher Mangel, der einem großen Teil der geäußerten Argumente den Boden entzieht und damit die Überzeugungskraft raubt. Deshalb kann ich mich i m Folgenden zu den Einzelfragen u m so kürzer fassen, als ich nur auf diejenigen Ausführungen einzugehen brauche, welche sich mit einem angeblichen Verstoß gegen den Verfassungsartikel 124 beschäftigen; dabei kann auch gegebenenfalls geprüft werden, ob Verstöße gegen A r t . 15 Abs. 2 der Menschenrechtskonvention vorliegen. Zu Ziffer
IV - 3 - A (Betr. A r t . 3 Abs. (a), (b) und (c) des Gesetzes über den Ausnahmezustand; Einschränkung und Aussetzung einiger Verfassungsbestimmungen über den Schutz des Privatlebens und der Pressefreiheit) :
Alle 15 Verfassungsrichter sind sich i n dem einen Punkte einig, daß auch der Ausnahmezustand einen verfassungsmäßigen Verwaltungszustand unter Gesetz und Recht bildet. Nur t r i t t für bestimmte Sektoren des öffentlichen Lebens an die Stelle der Zivilverwaltung die Militärverwaltung, an die Stelle des Gouverneurs einer Provinz der Kommandant des jeweils eine Provinz umfassenden Bezirks des Ausnahmezustandes. Auch darin sind sich alle Verfassungsrichter einig, daß dem Kommandanten i m Bezirke des Ausnahmezustandes außergewöhnliche Befugnisse und Vollmachten zugestanden werden müssen, u m ihn in die Lage zu versetzen, jeweils diejenigen Maßnahmen anzuordnen, welche der konkreten Situation entsprechen und letzten Endes dem Zwecke dienen, den Ausnahmezustand i n den Normalzustand zurück zu verwandeln. Einige Verfassungsrichter halten die Befugnisse und Vollmachten, welche dem Kommandanten des Ausnahmezustandes i n Art. 3 Abs. (a), (b) und (c) des Gesetzes über den Ausnahmezustand abstrakt eingeräumt worden seien, teils sachlich für zu weitgehend, teils rechtlich für unbegrenzt und deshalb zu Willkürmaßnahmen geeignet, teils für nicht genügend abgestuft. Eine derartige Argumentation übersieht, daß die dem Kommandanten i m Bezirk des Ausnahmezustandes eingeräumten und sehr weitgehenden Befugnisse nur die Grenzen seines Ermessensspielraumes abstecken, i h m selbst aber die persönliche und — auf dem Wege über die hierarchische Bindung an den Ministerpräsidenten — diesem die politische Verantwortung dafür auferlegen, daß er sein Ermessen pflichtgemäß ausübt. Gewiß sind Ermessensmißbräuche nicht nur vorstellbar, sondern, wie die geschichtlichen Erfahrungen zeigen, auch tatsächlich möglich. Aber die tatsächliche Möglichkeit, d. h. das Risiko, daß eine Vollmacht überschritten und das Ermessen pflichtwidrig gebraucht und damit mißbraucht wird, ist so lange kein stichhaltiges Argument, als ein pflichtwidriges Verhalten strafrechtliche, disziplinäre und zivilrechtliche Folgen haben kann. Die i n 8*
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A r t . 114 der Verfassung enthaltenen Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung m i t Offenheit des Rechtswegs und der Schadensersatzpflicht bei rechtswidrigem Verwaltungshandeln gelten auch für das Verwaltungshandeln unter dem Ausnahmezustand. Wer einen Befehl, dessen Gegenstand eine strafbare Handlung bildet und deshalb unter keinen Umständen ausgeführt werden darf, trotzdem erteilt oder befolgt, ist nach A r t . 125 der Verfassung persönlich verantwortlich. Bei dieser durch Ausführungsgesetze näher konkretisierten verfassungsrechtlichen Regelung bleiben die i n A r t . 3 Abs. (a), (b) und (c) des Gesetzes über den Ausnahmezustand aufgezählten Befugnisse — abstrakt betrachtet —, i m Rahmen von A r t . 124 der Verfassung. Und nur darum kann es sich i m Rahmen eines abstrakten Normenkontrollverfahrens handeln. Die Verhängung von Sanktionen wegen konkreter Ermessensmißbräuche liegt anderen verfassungsmäßig bestimmten Gerichten und Disziplinarverfahren ob. Auch ein Verstoß gegen A r t . 15 Abs. 1 und 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention liegt um so weniger vor, als Art. 124 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung i n seiner neuen Fassung diejenigen Fälle konkret aufzählt, welche i m Sinne der allgemeinen Bestimmung von A r t . 15 Abs. 1 und 2 der Menschenrechtskonvention — abgesehen vom Kriegsfall — als „ein anderer das öffentliche Leben der Nation bedrohender Notstand" anzusehen sind. Nur wenn einer dieser Notstandsfälle vorhanden ist, hat der Ministerrat die Befugnis, aber auch gleichzeitig gegenüber der Nation die Verpflichtung, den Ausnahmezustand i n denjenigen Teilen des Landes zu verhängen, i n denen nach seiner Überzeugung das Leben der Nation bedroht ist. U m Mißbräuche nach Möglichkeit auszuschließen, darf dies zunächst nur für die Dauer von zwei Monaten unter unverzüglicher Benachrichtigung der Gesetzgebenden Körperschaften geschehen, die endgültig über die Aufhebung, A b k ü r zung oder Verlängerung um jeweils höchstens zwei Monate zu beschließen haben und damit als Repräsentanten der Nation dieser gegenüber die Verantwortung übernehmen. Zu Ziffer
IV - 3 - B (Betr. A r t . 11 des Gesetzes über den Ausnahmezustand; Errichtung von Militärgerichten während des Ausnahmezustandes) :
Die als verfassungswidrig angegriffene gesetzliche Bestimmung beruht auf den Gesetzesvorbehalten i n Art. 124 Abs. 3 und i n Art. 138 Abs. 3 und 5 der Verfassung. Darüber daß i n den Bezirken, über die der Ausnahmezustand verhängt wird, Militärgerichte ratione materiae et personae örtlich und sachlich zuständig sein können und daß diese Militärgerichte keine „Ausnahmegerichte" sind, sondern einen i n der Verfassung vorgesehenen und geordneten Sonderzweig der staatlichen
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Gerichtsbarkeit bilden, bestand Einigkeit. Verschiedener Ansicht war man dagegen innerhalb des Verfassungsgerichts über folgende Fragen: Darf das Gesetz über den Ausnahmezustand vorsehen, daß neben den bei den Kommandanten zahlreicher militärischer Einheiten eingerichteten ständigen Militärgerichten für die Bezirke, über die der Ausnahmezustand verhängt wird, zusätzlich vorübergehend Militärgerichte errichtet werden können? Bejahendenfalls: Darf das Gesetz für die Bestellung und Versetzung des richterlichen Personals dieser zusätzlich und nur vorübergehend errichteten Militärgerichte andere Wege, Formalitäten und Voraussetzungen enthalten, als sie i n den einschlägigen Vorschriften für die ständigen Militärgerichte vorgesehen sind? Beide Fragen hat das Verfassungsgericht mit Recht bejaht, und zwar die erste m i t einer Mehrheit von 11 zu 4, die zweite mit einer Mehrheit von 8 zu 7 Stimmen. Einigkeit bestand darüber, daß während des Ausnahmezustandes keine „Standgerichte" wie i m Kriegsfall gebildet werden dürfen, die Militärgerichte i m Ausnahmezustand vielmehr als Sondergerichte und nicht als Ausnahmegerichte zuständig sind. Einigkeit bestand ferner darüber, daß während des Ausnahmezustandes die den Militärgerichten anfallende Arbeitslast erheblich größer ist als i n normalen Zeiten. Die i n der Minderheit gebliebenen Verfassungsrichter sind der Auffassung, dieser Zunahme der Arbeitslast der ständigen Militärgerichte könne dadurch begegnet werden, daß vorübergehend das dort tätige richterliche Personal verstärkt und vermehrt würde. Dies wäre eine reine Organisationsfrage, die verfassungsrechtlich irrelevant ist. Was den abweichenden Voten i n dieser Frage zu Grunde liegt, scheint m i r etwas anderes zu sein: Wenn neben den ständigen Militärgerichten während des Ausnahmezustandes weitere, nur vorübergehend tätige Militärgerichte errichtet werden, die sogar zur Unterscheidung von den ständigen Militärgerichten die Bezeichnung „Ausnahmezustands-Militärgericht" erhalten, so kann leicht der Eindruck entstehen, daß es sich i n Wirklichkeit doch um „Ausnahmegerichte" handelt, deren Errichtung nach A r t . 32 Abs. 2 der Verfassung verboten ist. Diese Auffassung hätte sich nach der ursprünglichen Fassung von Art. 32 der Verfassung vertreten lassen, nach welcher niemand vor einen anderen als seinen „natürlichen" Richter gestellt werden durfte. „Natürlicher" Richter war der nach den einschlägigen Rechtsnormen sachlich, örtlich und nach der Geschäftsverteilung generell zuständige Richter 78 . Die Neufassung bestimmt statt dessen, daß niemand vor eine andere Behörde als dasjenige Gericht gestellt werden darf, dem er „ge78
Vgl. Erl. 2 u n d 3 zu A r t . 32 meines i n Anm. 27 genannten Buches.
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setzlich" untersteht, ersetzt somit den juristisch unscharfen Begriff des „natürlichen Richters" durch den juristisch eindeutigen Begriff des „auf Gesetz beruhenden Gerichts" 79 . Diese Formulierung stimmt mit Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention überein und entspricht auch der Auslegung, welche das Türkische Verfassungsgericht dem Ausdruck „natürlicher Richter" in ständiger Rechtsprechung gegeben hatte. Es genügt somit, wenn gesetzlich bestimmt ist, daß zur Aburteilung von gesetzlich festgelegten Straftaten i m räumlichen Bezirk eines etwa verhängten Ausnahmezustandes statt der Strafgerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit auch Militärgerichte als Sondergerichte zuständig sein können. Da der Ausnahmezustand seiner Natur nach ein zeitweiliges, außergewöhnliches Verwaltungsregime ist, dessen räumliche Ausdehnung jeweils nur i n dem Umfang rechtens ist, den die Lage unbedingt erfordert, wäre eine andere Regelung als die i n Art. 11 Abs. 1 des Gesetzes über den Ausnahmezustand nicht praktikabel. Abgesehen von A r t . 32, dessen Grundrecht i m Ausnahmezustand hätte eingeschränkt oder ausgesetzt werden können — was nicht erfolgt ist — ist nach dem Verfassungsartikel 138 letzter Absatz die Organisation der Militärgerichtsbarkeit u. a. „nach den Bedürfnissen des militärischen Dienstes durch Gesetz zu regeln". Dies ist in Art. 11 Abs. 1 des Gesetzes über den Ausnahmezustand unter ausdrücklichem Hinweis auf das einschlägige Gesetz Nr. 353 über die Errichtung und das Verfahren der Militärgerichte geschehen. Die zweite i n diesem Zusammenhang geprüfte Frage hat mit dem Grundrechtsteil der Verfassung nichts zu tun, sondern berührt die Ausführung des in A r t . 7 der Verfassung festgelegten Prinzips, daß die Ausübung der Gerichtsbarkeit i m Namen der türkischen Nation ausschließlich von unabhängigen Gerichten wahrgenommen werden darf. Eine Übertragung auf andere Stellen oder Personen ist nach dem Verfassungsartikel 4 Abs. 3 ausgeschlossen. Die Gerichtsbarkeit ist i m dritten Abschnitt der Verfassung (Art. 132 - 152) eingehend behandelt, wobei die Unabhängigkeit der Gerichte i m Verhältnis zur Legislative und Exekutive und die Garantie des Richteramtes vor Eingriffen der Exekutive i n die Personalangelegenheiten der Richter so stark verfassungsrechtlich verankert ist, wie dies meines Wissens i n keiner anderen Verfassung anzutreffen ist 8 0 . Hinsichtlich der Militärgerichtsbarkeit ist es dem Gesetzgeber durch A r t . 138 Abs. 5 zur Pflicht gemacht, neben der Organisation der Militärgerichtsbarkeit auch die Personalverhält79 Es sei angemerkt, daß man damit zu der Formulierung von A r t . 83 der Verfassung von 1924 zurückgekehrt ist, welche die Verfassunggebende V e r sammlung i m Jahre 1961 bewußt geändert hatte. 80 Siehe hierzu auch mein i n Anm. 27 zitiertes Buch S. 52 Nr. 51 und die Erläuterungen insbesondere zu den A r t . 132 und 133.
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nisse der Militärrichter nach den Prinzipien der Unabhängigkeit der Gerichte, der Garantie des Richteramtes und der Bedürfnisse des m i l i tärischen Dienstes zu regeln. Ob diesen drei Erfordernissen i n sachentsprechendem und abgewogenem Ausmaß durch Art. 11 Abs. 2 und 3 des Gesetzes über den Ausnahmezustand entsprochen worden sei, darüber konnten sich die Verfassungsrichter nicht einigen. Die Begründung der Mehrheit (8 Richter) ist insofern unangreifbar, als das Verfassungsgericht bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit sich auf die i m Antrag als verfassungswidrig bezeichnete Vorschrift zu beschränken hat, auch wenn es an die von den Beteiligten angegebenen Gründe nicht gebunden ist. Die Vorschriften der Gesetze aus dem Jahre 1963 über die Errichtung und Organisation der Militärgerichte und über die Militärrichter und -staatsanwälte, auf die i n der als verfassungswidrig angegriffenen Bestimmung verwiesen ist, konnten wegen Ablaufs der für die Erhebung einer abstrakten Normenkontrollklage i m Verfassungsartikel 150 vorgesehenen Frist von 90 Tagen seit Verkündung des Gesetzes nicht mehr auf ihre Verfassungsmäßigkeit nachgeprüft werden. Somit mußte, durfte und konnte sich das Verfassungsgericht nur auf die i n A r t . 11 des Gesetzes über den Ausnahmezustand enthaltenen, von den Vorschriften der erwähnten beiden Gesetze abweichenden Vorschriften befassen. Deshalb liegen die von der Minderheit (7 Richter) in den Sondervoten vorgebrachten Begründungen großenteils neben der Sache. Wenn ζ. B. i n dem abweichenden Votum des Präsidenten Taylan und des Richters Seçkin ausgeführt wird, die erste Voraussetzung für die Unabhängigkeit der Gerichte und die persönliche Garantie des Richteramtes bestehe darin, daß die Errichtung der Gerichte und die Erledigung der Personalangelegenheiten der Richter aus dem Bereich der Exekutive herausgehalten werde, so handelt es sich dabei um ein Postulat, das zwar i n der türkichsen Republik für alle oberen Gerichte einschließlich des Militärkassationshofs und für die erstinstanzlichen Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit ausnahmslos verwirklicht worden ist, aber i n zahlreichen anderen Staaten, die sich als Rechtsstaaten verstehen (ζ. B. Bundesrepublik Deutschland) bisher mehr oder weniger Postulat geblieben ist. Auch was hinsichtlich der Aufhebung der Gerichte i n den abweichenden Voten ausgeführt wird, überzeugt um so weniger, als dieselben dissentierenden Richter bei der Prüfung von Art. 23 des Gesetzes über den Ausnahmezustand die Auffassung vertreten, mit der Beendigung des Ausnahmezustandes habe die Tätigkeit der für den Ausnahmezustand errichteten Gerichte ihr Ende gefunden. Es ist die Regierung, welche den Ausnahmezustand verhängt, aber das Parlament, das ihn aufheben oder verlängern kann. Es ist also letzten Endes nicht die Exekutive, sondern das Parlament
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als einzige Repräsentantin der Nation, welche darüber entscheidet, ob und wie lange die Notwendigkeit besteht, für eine i m voraus nicht zu bestimmende, aber nach der Natur der Sache nur vorübergehende Ausnahmesituation Militärgerichte für die Bezirke des Ausnahmezustandes ins Leben rufen zu lassen. Gerade dieser vorübergehende Charakter der Militärgerichte i m Ausnahmezustand rechtfertigt die damit zusammenhängenden Besonderheiten hinsichtlich der Bestellung und Versetzbarkeit der Militärrichter. Hier stehen die Bedürfnisse des militärischen Dienstes i m Vordergrund. Zu Ziffer
IV - 3 - C (Betr. Art. 15 des Gesetzes über den Ausnahmezustand; Zuständigkeit der Militärgerichte ratione materiae et personae):
Jedem Juristen ist bekannt, daß i n der Regel jedes Gesetz mehrere Artikel, jeder A r t i k e l mehrere Absätze, jeder Absatz mehrere Sätze und jeder Satz mehrere Einzelvorschriften enthalten kann. Das Verfassungsgericht kann nicht von amtswegen die Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Bestimmung nachprüfen, sondern nur i m Rahmen des abstrakten oder konkreten Normenkontrollverfahrens. I n beiden Fällen ist das Verfassungsgericht, wie oben bereits erwähnt, hinsichtlich der sachlichen Prüfung an die i m Antrag als verfassungswidrig bezeichnete Bestimmung gebunden. Eine Ausnahme von dieser Regel „ne ultra petita partium" enthält lediglich Art. 28 Abs. 2 des Gesetzes über die Organisation und das Verfahren des Verfassungsgerichtes. Danach kann das Verfassungsgericht, wenn sich der Antrag allein gegen bestimmte A r t i k e l oder Vorschriften eines Gesetzes richtet und durch die Nichtigerklärung dieser bestimmten A r t i k e l oder Vorschriften alle oder einige anderen Bestimmungen des fraglichen Gesetzes unanwendbar werden, mit entsprechender Begründung auch die anderen Einzelbestimmungen oder alle Bestimmungen des fraglichen Gesetzes für nichtig erklären. Der Kläger hatte zwar die Nichtigerklärung von A r t . 15 des Gesetzes über den Ausnahmezustand verlangt, i n seiner Begründung aber lediglich geltend gemacht: „Abs. 4 (es handelt sich i n Wahrheit um Abs. 3) des Verfassungsartikels 30 enthält das Prinzip, daß festgenommene oder verhaftete Personen innerhalb von 24 Stunden dem Richter vorzuführen sind, und verbietet, daß nach Ablauf dieser Frist jemand ohne richterliche Entscheidung seiner Freiheit beraubt werden darf. Art. 15 des Gesetzes Nr. 1402 verstößt gegen diese zwingende Bestimmung." Dieser eben genannte A r t i k e l enthält vier Absätze. Lediglich Abs. 3 Satz 2 enthält den angeblichen Verstoß, weil hier eine Frist von 30 Tagen vorgesehen ist. Die anderen Absätze des Artikels haben es dagegen
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mit der Zuständigkeitsfrage zu tun und sind durch die Frage nach der Dauer der vorläufigen Festnahme nicht berührt. Das Verfassungsgericht geht hierauf gar nicht ein. Es begnügt sich mit einem recht eigentümlich formulierten Satz: „Obwohl der Kläger die Nichtigkeitserklärung des gesamten A r t i k e l 15 begehrt, hat er sich damit begnügt, als Begründung vorzutragen, die Befugnis zur Festnahme für 30 Tage sei ein Verstoß gegen den Verfassungsartikel 30." Angesichts des vom Verfassungsgericht selbst unter Ziffer I V - 4 hervorgehobenen Umstandes, daß Art. 15 „eine der wichtigsten Bestimmungen des Gesetzes Nr. 1402 ist und die Zuständigkeit der Militärgerichte i m Ausnahmezustand ratione materiae et personae regelt", hätte es prüfen müssen, warum der Antragsteller dann nicht diese viel schwerer wiegenden Bestimmungen als verfassungswidrig gekennzeichnet und lediglich die Dauer der vorläufigen Festnahme, d. h. eine einzige, zwar sachlich wichtige, aber i m Verhältnis zum gesamten Inhalt von Art. 15 kaum ins Gewicht fallende Bestimmung als verfassungswidrig gerügt hat. Bei dieser Sachlage hätte das Verfassungsgericht zunächst einmal den Umfang des Sachantrags durch Auslegung ermitteln und sich auf die Prüfung der einen, als verfassungswidrig gerügten Vorschrift beschränken müssen. Wäre es entsprechend der Absätze A und Β der Begründung zu der Auffassung gekommen, daß diese eine Bestimmung über die 30-Tagefrist noch innerhalb der Grenzen liegt, welche durch die Erfordernisse des Ausnahmezustandes gerechtfertigt werden, so war damit der Sachantrag abschlägig beschieden. K a m das Verfassungsgericht aber zu dem Ergebnis, daß diese Frist unangemessen lang ist, so muß te diese den zweiten Satz von Abs. 3 des A r t . 15 bildende Bestimmung für nichtig erklärt werden. Erst dann hätte das Verfassungsgericht entsprechend dem oben zitierten A r t . 28 Abs. 2 seines Organisationsgesetzes prüfen dürfen und müssen, ob durch die Nichtigerklärung dieses einen Satzes die Bestimmungen i m ersten Satz von Abs. 3 oder i n den anderen Absätzen dieses Artikels unanwendbar werden, so daß es bejahendenfalls auch diese für nichtig hätte erklären können. Alles dies ist unterblieben. Auch i n den abweichenden Voten findet sich darüber kein Wort. Die Verfassungsrichter haben sich allein an die Formulierung des Antrags gehalten, ohne die Begründung zur Feststellung des Umfangs des gestellten Antrags zu berücksichtigen. Dies aber widerspricht nicht nur dem Sinn, sondern sogar dem Buchstaben von A r t . 26 Abs. 2, 4 und 5 des Gesetzes über die Organisation des Verfassungsgerichtes. Hier ist eine Vorprüfung angeordnet, ob der Antrag Angaben darüber enthält, welche Bestimmungen der Gesetze mit welchen Verfassungsartikeln nicht zu vereinbaren sind. Etwaige Mängel sind durch Beschluß festzustellen und dem Antragsteller bekannt zu
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geben m i t der Auflage, das Fehlende binnen einer bestimmten Frist zu ergänzen. Bei einem so groben Mißverhältnis zwischen Antrag und Begründung, die auch, wie der oben zitierte Satz beweist, dem Gericht aufgefallen ist, wäre ein Aufklärungsbeschluß nicht nur ein „nobile", sondern ein gesetzlich zwingendes „officium" gewesen und hätte das Verfassungsgericht vor dem Vorwurf bewahrt, sich unter dem Deckmantel einer rein formalen Begründung eine sachliche Kontrolle über eine Anzahl sehr wichtiger gesetzlicher Bestimmungen angemaßt zu haben, deren Verfassungwidrigkeit vom Kläger noch nicht einmal angedeutet worden war. I n der Sache selbst beschäftigt sich das Gericht außer mit der 30-Tagefrist sehr ausgiebig mit der Zuständigkeitsregelung ratione materiae et personae. I n seinem ersten Absatz zählt A r t . 15 des Gesetzes über den Ausnahmezustand unter L i t . (a) bis (1) eine große Anzahl von Straftatbeständen auf, die i m Türkischen Strafgesetzbuch, i m Militärstrafgesetzbuch und i n einigen Nebengesetzen normiert sind, und bestimmt, daß diejenigen Personen, die i m Bereich des Ausnahmezustandes Straftaten der aufgezählten A r t begehen oder sich daran beteiligen, ohne Ansehen der Person vor den bei dem Kommandanten des Ausnahmezustandes errichteten Militärgericht abgeurteilt werden, falls dies von dem Kommandanten des Ausnahmezustandes verlangt wird. Deshalb sind die mit einer derartigen Sache befaßten Dienststellen verpflichtet, die Akten des Ermittlungsverfahrens unverzüglich dem Kommandanten des Ausnahmezustandes zu übersenden. Dieser gibt die ihm zugesandten Akten entweder an die Staatsanwaltschaft bei dem ihm zugeordneten Militärgericht ab oder sendet sie an die zuständige Dienststelle zur Weiterverfolgung nach den allgemeinen Vorschriften zurück. U m mit dieser letzten Bestimmung zu beginnen, so handelt es sich von der Sache her betrachtet, um eine keineswegs ungewöhnliche Vorschrift, die i n der deutschen Gerichtsverfassung 81 ebenso anzutreffen ist wie i m englischen Recht 82 :Sind für eine Straftat mehrere Gerichte ratione materiae kraft Gesetzes alternativ zuständig, so bleibt es einer gesetzlich bestimmten Behörde überlassen, je nach der Schwere und den besonderen Umständen des Falles nach pflichtmäßigem Ermessen zu bestimmen, bei welchem Gericht die Anklage erhoben werden soll. Es handelt sich hierbei noch nicht u m eine richterliche, sondern um eine der Staatsanwaltschaft oder einer anderen Behörde überlassene Ange81 § 24 Abs. 1 Zif. 2 letzte Alternative, § 25 Abs. 2 lit. e, § 26 Abs. 2, § 74 Abs. 1 Satz 2, § 74 a Abs. 2, § 120 Abs. 2, § 142 a des deutschen Gerichtsverfassungsgesetzes. 82 Über die Rechtslage i n Großbritannien vgl. das i n Anm. 8 zitierte Werk von Henkel.
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legenheit. Das Prinzip des gesetzlichen Richters wird also überhaupt nicht berührt. Da nach heute allgemein geltender Auffassung in der westlichen Welt das Strafrecht kein „Tat"-, sondern ein „Täter"strafrecht ist, gibt es keine zwei einander gleiche Straftaten, wie das Verfassungsgericht i m letzten Satz (unter C - a - bb) meint. Gerade die alternative oder, wie man i m deutschen Strafprozeßrecht sagt, die „bewegliche" Zuständigkeit mehrerer nach der Besetzung der Richterbank verschiedener Gerichte gibt eine Gewähr dafür, daß zwei äußerlich einander gleichende Straftaten, die von der Person des Täters her und von den Folgen der Tat aus betrachtet, sich stark von einander unterscheiden, deshalb unterschiedlich zu bestrafen sind. Insbesondere die Umwandlung einer Freiheitsstrafe i n eine Geldstrafe kann i n einem Falle zweckmäßig, i m anderen Falle unstatthaft sein, weil das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und eine i m Rahmen des pflichtmäßigen Ermessens bleibende Differenzierung seitens des Gesetzgebers den Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzen 83 . Ob und bei welchem Gericht die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt oder nicht, ob das angerufene Gericht auf Grund dieser Anklage das Hauptverfahren eröffnet oder nicht, richtet sich nach den gesetzlichen Bestimmungen, denen Staatsanwälte und Richter unterworfen sind. Auch die Staatsanwaltschaft beim Militärgericht ist der Verfassung und dem Gesetz unterworfen und demnach zur Erhebung der öffentlichen Klage vor dem Militärgericht nur berechtigt und verpflichtet, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen dafür vorliegen. I n der Abgabe der Akten an den M i l i t ä r staatsanwalt liegt kein militärisch zwingender Befehl des Kommandanten des Ausnahmezustandes zur Erhebung der Anklage, sondern lediglich die Anweisung, diese Angelegenheit gesetzentsprechend weiterzuverfolgen und, falls die Militärstaatsanwälte die entsprechenden Voraussetzungen für gegeben ansehen, die Anklage vor dem Militärgericht zu erheben. Daß für bestimmte Straftaten i m Bereich des Ausnahmezustandes eine „bewegliche" Zuständigkeitsregelung durch Gesetz geschaffen worden ist, verstößt somit weder gegen das Prinzip des gesetzlichen Richters nach A r t . 32 der Verfassung noch gegen allgemeine Prinzipien des Rechtsstaats noch gegen „the Rule of L a w " i m Sinne des angelsächsischen Rechts, wo das Prinzip des gesetzlichen Richters unbekannt 83 Die sog. „bewegliche Zuständigkeitsregelung" ist m i t dem Gleichheitssatz vereinbar. Heben sich gewisse Strafverfahren durch besondere M e r k male deutlich aus der großen Masse der Strafverfahren heraus, die den gleichen Tatbestand betreffen, darf der Gesetzgeber sie verfahrensrechtlich anders behandeln, sofern die Regelung unter justizgemäßen Gesichtspunkten generalisiert, das Ziel also ein gerechtes, der Straftat und der Persönlichkeit des Täters angemessenes Verfahren u n d U r t e i l durch ein dazu geeignetes Gericht ist (BVerfGE 9, 230 nach Leibholz - Rinck, Erl. 30 a zu A r t . 3 GG).
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ist. Daß die Entscheidung darüber, welche Staatsanwaltschaft (und nicht etwa, welches Gericht) ein Ermittlungsverfahren weiter bearbeiten soll, dem Kommandanten des Ausnahmezustandes gesetzlich überlassen ist, entspricht dem von zahlreichen Verfassungsrichtern i m vorliegenden Falle besonders hervorgehobenen Grundsatz, daß die außergewöhnlichen Maßnahmen während des Ausnahmezustandes nicht weitergehen dürfen, als es die Erfordernisse der Situation unbedingt notwendig erscheinen lassen. Dies aber kann allein der Kommandant des Ausnahmezustandes nach seinem pflichtmäßigen Ermessen entscheiden. Die fragliche Gesetzesvorschrift liegt somit durchaus i m Rahmen von Art. 124 Abs. 3 der Verfassung. Wenn eine knappe Mehrheit der Verfassungsrichter zu dem gegenteiligen Ergebnis gekommen ist, ja sogar eine Verletzung des Verfassungsartikels 32 angenommen hat, so ist dies juristisch — u m es ganz offen zu sagen — ein schwerer Mangel. Wie zweckmäßig diese Vorschrift i n der Wirklichkeit gewesen ist und welche außergewöhnlich große Schutzwirkung sie zu Gunsten der verfolgten Personen gehabt hat, ergibt sich aus einem auf amtlichen Unterlagen beruhenden Bericht von Peter Rothe 84, daß bis Ende September 1972 an die allgemein zuständigen Staatsanwaltschaften i n den Bezirken des Ausnahmezustandes 11 600 Ermittlungsakten zurückgegeben worden sind, während nur 1316 Fälle an die Staatsanwälte bei den Kommandanten des Ausnahmezustandes gingen. M i t anderen Worten: rund 88 °/o der den Kommandanten des Ausnahmezustandes zugegangenen Ermittlungsakten sind dank der vom Verfassungsgericht i n fehlerhafter Rechtsanwendung für nichtig erklärten Bestimmungen von A r t . 15 Abs. 1 und 3 Satz 1 des Gesetzes über den Ausnahmezustand an die ordentliche Gerichtsbarkeit gegangen, ein Beweis dafür, wie sorgsam die Kommandanten des Ausnahmezustandes und ihre Rechtsberater sich an Verfassung, Gesetz und Recht gehalten haben. Hinsichtlich der angeblichen Verfassungswidrigkeit der i n Ar.t 15 Abs. 1 lit. (a) bis (1) aufgezählten Tatbestände, für welche die M i l i t ä r gerichte i m Ausnahmezustand kraft der beweglichen Zuständigkeitsregelung sachlich zuständig sein können, w i r d in der Begründung der Entscheidung keine sachliche Begründung gegeben. Dies wäre auch, wie dem abweichenden Votum des Verfassungsrichters Ülgenalp zu entnehmen ist, gar nicht möglich, da alle aufgezählten Tatbestände, falls sie i m Gebiet des Ausnahmezustandes verwirklicht werden, zu den U r sachen oder den Ereignissen des Ausnahmezustandes i n Beziehung stehen können, was nicht nur eine bloße Annahme, sondern eine durch die Tatsachen erhärtete Realität ist (vgl. auch Abschnitt A des abweichenden Votums des Verfassungsrichters Ecemis). 84
Frankfurter Rundschau v o m 6.12.1972.
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Hinsichtlich der Zuständigkeit der Militärgerichte ratione personae ist bestimmt, daß Täter oder Gehilfen der in Art. 15 Abs. 1 des Gesetzes über den Ausnahmezustand aufgezählten Straftaten ohne Ansehen der Person von dem Militärgericht i m Ausnahmezustandsbezirk abgeurteilt werden können. Hiervon werden i m Gesetz bestimmte Personen ausdrücklich ausgenommen, für andere Personen eine Strafverfolgung vor den Militärgerichten von der vorgängigen Erlaubnis einer übergeordneten Behörde oder des Gremiums, dem sie angehören, abhängig gemacht. Ich verweise dieserhalb auf Abschnitt Β des abweichenden Votums des Verfassungsrichters Ecemis, das allein der Verfassungsrechtslage entspricht. Die Begründungsversuche für die Verfassungswidrigkeit, die von 7 Richtern i n der Entscheidung selbst unter C - a - bb gemacht worden sind und denen sich 5 andere Verfassungsrichter mit anderen Begründungsversuchen angeschlossen haben, können mit dem klaren Wortlaut und Sinn von A r t . 138 Abs. 3 der Verfassung nicht i n Einklang gebracht werden. Wenn in der genannten Verfassungsvorschrift gesagt wird, der (einfache) Gesetzgeber habe durch Gesetz zu bestimmen, für welche Straftaten und über welche Personen die Militärgerichte i m Ausnahmezustand oder i m Kriegsfall zuständig sind, so handelt es sich um einen für zwei ganz bestimmte Situationen gegebenen Gesetzesvorbehalt. Dieser Gesetzesvorbehalt steht zwar systematisch an der falschen Stelle; er ergänzt nämlich den Gesetzesvorbehalt in A r t . 124 Abs. 3 der Verfassung und dient der Klarstellung, daß nicht nur Grundrechte und Freiheiten der Bürger, sondern auch Privilegien von Staatsdienern, i n welcher Position auch immer sie sich befinden mögen, insofern gesetzlich eingeschränkt oder ausgesetzt werden können, als auch sie unter bestimmten Voraussetzungen wegen ihrer i m Bereich des Ausnahmezustandes begangenen und i m Gesetz aufgezählten Straftaten als Täter oder Gehilfen vor ein Militärgericht gestellt werden können. Daß auch hohe und höchste Staatsdiener i n Ausübung ihres Dienstes Täter oder Gehilfen i m strafrechtlichen Sinne sein können, ist kein Hirngespinst, sondern gehört auch in der Türkei zu den unschwer nachweisbaren historischen Tatsachen. Es ist höchst merkwürdig, daß das Verfassungsgericht i n seiner Begründung drei Absätze zuvor das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz als unverzichtbares Verfassungsprinzip anführt und, wenn auch unberechtigt, zum Nachweis für die Verfassungswidrigkeit der beweglichen Zuständigkeitsregelung zu verwenden bemüht ist, dieses Prinzip noch nicht einmal erwähnt, wenn es am Platze wäre. Denn es kann doch wohl keinen Unterschied machen, ob derjenige, welcher eine der i n A r t 15. Abs. 1 lit. (a) bis (1) aufgezählten strafbaren Handlungen i m Bereich des Ausnahmezustandes begeht,
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ein Arbeiter oder ein Landrat, ein Soldat oder ein General, ein Jurastudent oder ein hoher Richter ist. Trotzdem hat der Gesetzgeber die i h m vom Verfassungsgeber zur Ausfüllung überlassene Blankettnorm des Art. 138 Abs. 3 i n einer dem Wortlaut und Geist der Verfassung entsprechenden Weise ausgefüllt und eine den staatlichen Bedürfnissen unter dem Ausnahmezustand und den Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaates entsrechende differenzierende Regelung getroffen: Die parlamentarische Immunität bleibt i m Rahmen von Art. 79 und 105 Abs. 3 der Verfassung und nur i n diesem Rahmen unberührt, so daß ζ. B. ein Abgeordneter, der i m Bereich des Ausnahmezustandes eine mit schwerem Gefängnis bedrohte Handlung begeht, auf frischer Tat ohne weiteres festgenommen werden kann und lediglich das Abgeordnetenhaus davon benachrichtigt werden muß (Art. 79 Abs. 3 Satz 2 der Verfassung). Der Vorbehalt des A r t . 90 der Verfassung schützt eines der Grundrechte des Parlaments: die Eröffnung der parlamentarischen Untersuchung gegen den Ministerpräsidenten und die Minister zum Zwecke der etwaigen Verweisung der Angelegenheit an den Staatsgerichtshof. Der Kommandant des Ausnahmezustandes hat insoweit überhaupt keine Befugnisse. Der Vorbehalt der diplomatischen Immunität beruht auf völkerrechtlichen Bestimmungen, die auch unter dem Ausnahmezustand zu beachten sind. Damit nicht genug w i r d die Strafverfolgung vor den Militärgerichten des Ausnahmezustandes für höhere Offiziere und Beamte von der Erlaubnis derjenigen Stelle abhängig gemacht, der sie nach der hierarchischen zivilen oder militärischen Ordnung unterstehen. Gegen Richter und Staatsanwälte aller Gerichtszweige (einschließoich der Militärgerichtsbarkeit) vom Verfassungsrichter abwärts bis zum jüngsten Hilfsstaatsanwalt darf der Kommandant des Ausnahmezustandes wegen der von diesen Personen i m Bereich des Ausnahmezustandes begangenen strafbaren Handlungen eine Strafverfolgung durch Weitergabe der Ermittlungsakten an die Militärstaatsanwaltschaft nur einleiten, wenn dasjenige Gremium, das normalerweise für die Strafverfolgung dieser Personengruppen die Erlaubnis zu erteilen hat oder zur Aburteilung allgemein zuständig ist, einen entsprechenden Beschluß faßt. M i t anderen Worten: der den Richtern und Staatsanwälten gewährte Schutz entspricht demjenigen, den die Mitglieder der Gesetzgebenden Körperschaften kraft ihrer Immunität genießen: Auch diese kann durch Beschluß des Abgeordnetenhauses oder des Senats der Republik nach Art. 79 Abs. 2 Satz 1 der Verfassung aufgehoben werden. Ein größerer Schutz der richterlichen Unabhängigkeit und der Garantie
I I . Materiellrechtliche Fragen
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des Richteramtes während der außergewöhnlichen Verhältnisse i m Bereich des Ausnahmezustandes ist schlechterdings nicht vorstellbar. Es ist bedauerlich, daß keiner der 15 Richter diese Erwägungen überhaupt angestellt hat und nur drei Richter unter dem richtigen Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit und unter Heranziehung von Art. 21 des Gesetzes über den Ausnahmezustand die i n Art. 15 dieses Gesetzes getroffene Zuständigkeit ratione personae sowohl hinsichtlich der Regel („ohne Ansehen der Person") als auch ihrer Ausnahmen für verfassungskonform gehalten haben. Was schließlich die vom Antragsteller allein als verfassungswidrig bezeichnete Bestimmung von Abs. 3 Satz 2 des A r t . 15 angeht, wonach ein Verfolgter bis zu 30 Tagen vorläufig i n Haft genommen werden kann, während welcher Zeitspanne sich der Kommandant des Ausnahmezustandes darüber schlüssig werden muß, ob er die ihm zugegangenen Ermittlungsakten zur weiteren Verfolgung an die ordentliche oder an die militärische Staatsanwaltschaft weitergibt, so ist eine Begründung aus dem Gesichtspunkt einer Grundrechtsverletzung (Art. 30 Abs. 4 der Verfassung), wie es unter C - c durch 8 von 15 Richtern geschehen ist, allein deshalb nicht haltbar oder jedenfalls nicht überzeugend, weil i n den Abschnitten A und Β der Entscheidungsgründe mit Mehrheit die Ansicht vertreten worden ist, daß Grundrechte und Freiheiten unter dem Ausnahmezustand nach dessen Erfordernissen, aber nicht nach den für die normalen Verhältnisse maßgebenden Bestimmungen der A r t . 11 ff. der Verfassung beurteilt werden dürfen. Da auch ich diese Auffassung unter Hinweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention und die Systematik der Verfassung oben begründet habe, kann sich nur fragen, ob diese 30 Tagefrist unter dem Gesichtspunkt von Art. 124 Abs. 3 der Verfassung noch tragbar ist oder selbst unter den besonderen und außergewöhnlichen Verhältnissen, welche die Verhängung des Ausnahmezustandes notwendig machen, zu lange erscheint. Dies ist eine Wertungsfrage, die nicht generell und allgemein, sondern nur unter den besonderen Bedürfnissen und Verhältnissen der Türkei beantwortet werden kann. Ich enthalte mich insoweit eines eigenen Urteils, verweise aber ausdrücklich auf die abweichenden Voten der Verfassungsrichter Ecemis (unter Abschnitt C), Ömerba§ und Ülgenalp (unter Abschnitt III). Zu Ziffer
IV - 3 - Ç (Betr. Art. 23 des Gesetzes über den Ausnahmezustand; Folgen der Aufhebung des Ausnahmezustandes für die vor den Militärgerichten i m Gebiet des Ausnahmezustandes anhängigen Prozesse) :
Die i n den Bezirken des Ausnahmezustandes nach dessen Verhängung errichteten Militärgerichte sind, wie oben ausführlich dargetan,
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keine ständigen Einrichtungen, sondern für eine vorübergehende, wenn auch i m voraus nicht zu bestimmende Zeitspanne tätig. Es bedarf somit einer gesetzlichen Regelung, welche Folgen die Aufhebung des Ausnahmezustandes für die zu diesem Zeitpunkt noch nicht endgültig erledigten Prozesse und für die Auflösung des Gerichtes selbst hat. Diese Fragen sind i n A r t . 23 des Gesetzes über den Ausnahmezustand geregelt 8 5 . Die Mehrheit der Verfassungsrichter (12 zu 3) hält diese Bestimmung für verfassungswidrig, weil, sobald der Ausnahmezustand aufgehoben würde, damit auch die außergewöhnlichen Zustände, die seine Verhängung erforderlich gemacht und damit die besondere Ausnahmezustandsverwaltung gerechtfertigt habe, sein Ende gefunden habe. Es müsse demnach wieder auf diejenigen Verfassungsbestimmungen abgestellt werden, welche für die normalen Verhältnisse gelten. Dies scheint logisch richtig zu sein, ist aber ein Trugschluß: die bei den Militärgerichten i m Bezirk des Ausnahmezustandes anhängigen Sachen sind Straftaten aus dem Bereich des Ausnahmezustandes. Das vom Verfassungsgericht i n anderem Zusammenhang — allerdings zu Unrecht — bemühte Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz verlangt, daß nicht der zufällige Termin, an dem der Ausnahmezustand sein Ende findet, dafür maßgebend sein kann, daß diejenigen, die erst nach diesem Zeitpunkt abgeurteilt werden, anders behandelt werden als diejenigen, gegen die das Verfahren vor diesem Zeitpunkt abgeschlossen worden ist. Dies gilt sowohl für die noch nicht bis zum Urteil gediehenen als auch für diejenigen Sachen, die i n der Revisionsinstanz vor dem Militärkassationshof noch nicht endgültig erledigt worden sind und, falls die Urteile der ersten Instanz aufgehoben werden, unter Umständen an die erste Instanz zurückverwiesen werden. Der Gesetzgeber hatte zwei Möglichkeiten der Überleitung: Er konnte bestimmen, daß die bei Aufhebung des Ausnahmezustandes noch anhängigen Sachen von dem für die Zeit des Ausnahmezustandes errichteten Militärgericht an das nächst belegene ständige Militärgericht übergehen; er konnte aber auch, wie es geschehen ist, i m Hinblick auf die dadurch drohende Überbelastung der ständigen Militärgerichte die Regelung treffen, welche das Verfas85
A r t . 23 des Gesetzes Nr. 1402 lautet i n deutscher Übersetzung: „ M i t der Beendigung des Ausnahmezustandes erlöschen die Befugnisse der bei der Kommandantur des Ausnahmezustandes errichteten Militärgerichte u n d der bei diesen Gerichten tätigen Militärstaatsanwälte nicht. Die M i l i t ä r gerichte u n d Militärstaatsanwälte setzen ihre Tätigkeit, beschränkt auf die anhängigen Sachen, fort, u n d zwar unter Bindung an einen i m Bezirk des Ausnahmezustandes stationierten Truppenkommandanten oder Chef einer militärischen Anlage. Bestehen i n diesen Fällen mehrere, bei demselben Kommandanten des Ausnahmezustandes errichtete Ausnahmezustands-Militärgerichte, so k a n n die Z a h l dieser Gerichte u n d der bei ihnen tätigen M i l i tärrichter u n d Militärstaatsanwälte entsprechend den Bedürfnissen herabgesetzt werden."
I I . Materiellrechtliche Fragen
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sungsgericht mit Mehrheit für verfassungswidrig erklärt hat. Die rein am Buchstaben von A r t . 138 der Verfassung klebende Auffassung, der Gesetzgeber dürfe nur Regelungen für die „ i m " Ausnahmezustandsbezirk errichteten Militärgerichte treffen und infolgedessen nicht die Fortdauer dieser Gerichte auch nach der Aufhebung des Ausnahmezustandes anordnen, übersieht den wesentlichen Punkt: Nach Wortlaut und Sinn des fraglichen A r t . 23 sind lediglich die bereits anhängigen Sachen zu erledigen. Es handelt sich also um eine Abwicklungstätigkeit. Neue Sachen können nach Aufhebung des Ausnahmezustandes nicht mehr anhängig gemacht werden, sondern sind nach denjenigen Bestimmungen zu erledigen, die normalerweise gelten. Der Gesetzgeber hat aus Gründen der Zweckmäßigkeit gehandelt und weder die Grenzen des Gesetzesvorbehalts i n A r t . 138 Abs. 3 der Verfassung überschritten noch auch eine Regelung getroffen, die als willkürlich oder als mit der Rechtsstaatlichkeit unvereinbar qualifiziert werden kann. Der Verfassungsrichter Ariç weist i n seinem abweichenden Votum ( I I - c) mit Recht darauf hin, daß die vorgesehene, aber für verfassungswidrig erklärte Regelung dazu beitragen kann, den Ausnahmezustand so früh als möglich aufzuheben, entspricht also dem i n A r t . 124 der Verfassung enthaltenen Grundprinzip auf Beschränkung der außergewöhnlichen Maßnahmen auf das erforderliche Mindestmaß. Zu IV - 4 (Betr. Verlängerte Geltungsdauer einer für nichtig erklärten Vorschrift) : Nach der ursprünglichen Fassung von Art. 152 der Verfassung traten die vom Verfassungsgericht für nichtig erklärten gesetzlichen Bestimmungen i m Zeitpunkt der Entscheidung außer Kraft. Eine Rückwirkung war ausgeschlossen; doch konnte das Verfassungsgericht den Zeitpunkt des Außerkrafttretens bis zu sechs Monaten nach dem Tag der Entscheidung hinausschieben. Durch die Verfassungsänderung von 1971 hat sich die Rechtslage geändert: einmal darf das Verfassungsgericht Entscheidungen erst verkünden, wenn ihre Begründung schriftlich niedergelegt ist. Die für nichtig erklärten gesetzlichen Bestimmungen treten erst außer Kraft, wenn die Entscheidung mit ihrer Begründung i m Amtsblatt veröffentlicht wird. Durch diese beiden Änderungen verschiebt sich der Zeitpunkt, an dem die für nichtig erklärten Bestimmungen außer Kraft treten, ganz erheblich: I m vorliegenden Fall ist die Entscheidung am 16. 2.1972 ergangen, aber mit ihrer Begründung erst am 14.10.1972 i m Amtsblatt veröffentlicht worden. Trotzdem hat es das Verfassungsgericht für sachlich angemessen gehalten, von der ihm auch nach der Verfassungsänderung von 1971 verbliebenen Ermächtigung Gebrauch zu machen, soweit es sich u m die Nichtigkeit von Art. 15, einer der wichtigsten Bestimmungen des ganzen Gesetzes über den 9 Hirsch
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Ausnahmezustand handelt. Infolgedessen blieb dieser A r t i k e l mit seinen Bestimmungen 1. über die alternative („bewegliche") Zuständigkeit der Militärgerichte i m Bezirk des Ausnahmezustandes ratione materiae, 2. über die Befugnis des Kommandanten des Ausnahmezustandes, die i h m von den Ermittlungsbehörden zugesandten Ermittlungsakten nach seinem pflichtmäßigen Ermessen an die ordentliche Staatsanwaltschaft oder an die Militärstaatsanwaltschaft seines Kommandobezirks weiterzugeben, 3. über die i h m hierzu zugebilligte Überlegungsfrist von 30 Tagen nebst der damit verbundenen Festhaltung eines Verdächtigen, 4. über die Zuständigkeit der Militärgerichte ratione personae mit ihrer Regel „ohne Ansehen der Person" und den Ausnahmen von dieser Regel bis zum 14. A p r i l 1973 i n Kraft, während Art. 23 bereits am 14. Oktober 1972 außer Kraft trat. Die diesbezügliche Begründung des Verfassungsgerichts gibt zu Bemerkungen keinen Anlaß, weil die angestellten Erwägungen innerhalb des dem Verfassungsgericht eingeräumten Ermessens bleiben. I I I . Zusammenfassende Würdigung Der Gesamteindruck der Entscheidung läßt sich vielleicht in folgender Weise charakterisieren: 1. Die Mitglieder des Verfassungsgerichts, das seinen Sitz in Ankara hat, haben trotz des über die Provinz Ankara verhängten Ausnahmezustandes und des politischen Machtkampfes zwischen den Spitzen der Armee und dem Parlament entsprechend A r t . 132 der Verfassung nach Maßgabe dieser Verfassung, nach Gesetz und Recht, nach ihrem Gewissen und ihrer Überzeugung entschieden und damit nicht nur ihre Unabhängigkeit, sondern auch die Fortdauer der Rechtsstaatlichkeit unter dem Ausnahmezustand i n der Türkei unter Beweis gestellt. 2. Alle Verfassungsrichter haben ausnahmslos die i n A r t . 2 der Verfassung niedergelegten Wesensmerkmale der Türkischen Republik, d. h. die auf den Menschenrechten und den i n der Präambel der Verfassung zum Ausdruck kommenden Grundprinzipien des nationalen und demokratischen Rechtsstaats zum Ausgangspunkt und zur Richtschnur ihrer richterlichen Erwägungen und Wertungen gemacht und waren dabei unter dem Gesichtspunkt der Europäischen Menschenrechtskonvention „päpstlicher als der Papst". 3. Da bei diesen rechtlichen Wertungen die persönlichen Überzeugungen und Gewissensentscheidungen eines jeden Richters verfas-
I I I . Zusammenfassende Würdigung
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sungsrechtlich zu respektieren sind, ist es nicht verwunderlich, daß hinsichtlich der Grenzziehung zwischen den Befugnissen der staatlichen Machtträger und den Grundrechten und Freiheiten der Bürger unter den tatsächlichen und rechtlichen Bedingungen des Ausnahmezustandes erhebliche Meinungsverschiedenheiten auftreten können, die i n den sehr knappen Mehrheiten ihren Ausdruck gefunden haben. 4. Diese knappen Mehrheitsverhältnisse hätten aber nicht dazu führen dürfen, daß innerhalb der Begründung der Entscheidung gravierende Widersprüche auftreten und ein Argument, das von einer Mehrheit bei der Beurteilung von zwei, jeweils mehrere Einzelbestimmungen enthaltenden A r t i k e l n als unzutreffend abgelehnt wird, von einer anders zusammengesetzten Mehrheit bei der Beurteilung zweier anderer, ebenfalls mehrere Einzelbestimmungen enthaltenden A r t i k e l als entscheidendes K r i t e r i u m für die Verfassungswidrigkeit anerkannt wird. 5. Die Entscheidung leidet vor allem unter einer juristischen Argumentationsmethode 86 , welche bei der Auslegung den Buchstaben über den Sinn und Zweck einer Verfassungs- oder Gesetzesnorm stellt und nicht i n Betracht zieht, daß der Verfassunggeber bei Gesetzesvorbehalten dem Gesetzgeber und dieser bei der Übertragung von Befugnissen an den Kommandanten des Ausnahmezustandes diesem jeweils einen Ermessensspielraum geben und geben müssen. Das Ermessen darf zwar nicht frei ( = willkürlich), sondern muß pflichtgemäß ausgeübt werden. Deshalb findet es seine Grenzen erst dort, wo die Ausübung des Ermessens nicht mehr als pflichtgemäß, sondern als pflichtwidrig zu qualifizieren ist. Die Folgerungen liegen auf der Hand: a) Bis zum Beweis des Gegenteils gilt auch hier die Vermutung, daß der (einfache) Gesetzgeber sich innerhalb der Grenzen des verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehaltes gehalten hat, bis durch die Veröffentlichung einer mit Gründen versehenen Entscheidung des Verfassungsgerichts diese Vermutung durch die Nichtigerklärung bestimmter ge86 Es w i r k t besonders peinlich, w e n n selbst dabei noch offensichtliche Fehler gemacht werden, wie ζ. B. bei dem ersten abweichenden Votum. Dort heißt es, der abgeänderte A r t . 11 habe seinen Platz unter den allgemeinen Regeln der Verfassung. Dies ist nicht richtig: Der erste Teil der Verfassung, nämlich die A r t . 1 - 9 , stehen unter der Überschrift „Allgemeine Grundsätze". Der zweite Teil der Verfassung unter der Überschrift „Grundrechte u n d Grundpflichten" umfaßt die A r t . 10 - 62, von denen die A r t . 10 - 13 den ersten Abschnitt unter der Überschrift „Allgemeine Vorschriften" bilden. A r t . 124, auf dessen Stellung es hier (bei dieser Begründungsmethode) ankam, steht aber i m dritten T e i l der Verfassung („Grundaufbau der Repub l i k " ) , u n d zwar i m zweiten Abschnitt „Die Exekutive" unter dem Unterabschnitt „C. V e r w a l t u n g " (Art. 112 - 125). A r t . 11 hat somit seinen Platz nicht unter den „allgemeinen Regeln der Verfassung", sondern unter den allgemeinen Regeln des „ Z w e i t e n Teiles der Verfassung", was ein erheblicher Unterschied ist.
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setzlicher Vorschriften beseitigt worden ist, selbst wenn die Entscheidung des Verfassungsgerichts fehlerhaft ist. b) Bis zum Beweis des Gegenteils i m Einzelfall gilt die Vermutung, daß diejenigen Generäle, denen die Befugnisse eines Kommandanten des Ausnahmezustandes übertragen werden, integre Persönlichkeiten sind, deren Verfassungs- und Gesetzestreue ebenso wenig angezweifelt werden darf wie die Verfassungs- und Gesetzestreue eines jeden Beamten und Richters. Vor allem aber muß bedacht werden, daß der Ausdruck „Kommandant des Ausnahmezustandes" die staatliche Behörde bezeichnet, an deren Spitze als verantwortliche Person der Kommandant steht. Entscheidungen, die er unterzeichnet, und Befehle, die er gibt, sind von i h m zwar zu verantworten, aber die entsprechenden Vorlagen werden von einem Mitarbeiterstab vorbereitet, i n welchem bei allen Rechtsfragen Juristen das entscheidende Wort zu sagen und innerdienstlich die Verantwortung zu tragen haben. Gerade i n einer streng geordneten Verwaltungsstruktur, wie sie i m militärischen Bereich üblich ist, liegt eine Garantie für die korrekte Erledigung der anfallenden Sachen. Manche Erwägungen i n den abweichenden Voten tragen diesen Tatsachen keine Rechnung und disqualifizieren sich damit selbst. 6. Ein besonderer Mangel der Entscheidung liegt darin, daß die türkische und außertürkische Rechtslehre (abgesehen von einem einzigen Verfassungsrichter i n seinem Sondervotum) ebenso wenig i n Betracht gezogen worden ist wie das Material zum Gesetz Nr. 1402 über den Ausnahmezustand und die von der Türkei ratifizierte Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Freiheiten; zumal deren Art. 15 hätte wesentliche Anregungen zur Auslegung des Verfassungstextes und der den Gegenstand des Rechtsstreits bildenden Bestimmungen über den Ausnahmezustand geben können. Vor allem hätte dadurch die Fehlentscheidung zu A r t . 15 des Gesetzes über den Ausnahmezustand — abgesehen von der 30-Tagefrist — vermieden werden können. 7. Schließlich hat sich ein verfahrensrechtlicher Nachteil des schriftlichen Verfahrens deutlich gezeigt: Wäre dem Kläger ein Repräsentant des Parlamentes als „Verteidiger des Gesetzes" entgegen getreten (sei es der Generalstaatsanwalt der Republik oder der Justizminister oder einer der Präsidenten der Gesetzgebenden Körperschaften oder der Fachausschüsse des Parlaments), so wären dem Verfassungsgericht diejenigen Gesetzesmaterialien zugänglich gemacht worden, die es selbst nicht beigezogen hat, obwohl es dies hätte tun können und sollen. Art. 29 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes über die Organisation des Verfassungsgerichts gibt die Handhabe, erforderlichenfalls die „Beteiligten" zu laden und anzuhören.
Fünftes Kapitel D i e K o n s e q u e n z e n der E n t s c h e i d u n g Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts sind endgültig... Die Nichtigkeitsentscheidung wirkt nicht zurück. Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts ... binden die Gesetzgebenden, Vollziehenden und Rechtsprechenden Organe sowie die Verwaltungsbehörden und alle natürlichen und juristischen Personen. A r t . 152 Abs. 1, 3, 5 der T ü r k . Verfassung von 1961
I. Die Änderungen des Gesetzes über den Ausnahmezustand Wie oben bereits ausgeführt wurde, trat Art. 23 des Gesetzes über den Ausnahmezustand bereits am 14. Oktober 1972 außer Kraft, während für A r t . 15 noch eine verlängerte Geltungsdauer von sechs Monaten bis Mitte A p r i l 1973 vom Verfassungsgericht angeordnet worden war, um dem Gesetzgeber ausreichend Zeit zu geben, die durch das Außerkrafttreten der für nichtig erklärten Vorschriften eingetretene sachliche Lücke zu schließen. Aber selbst diese von einigen Verfassungsrichtern für übermäßig lang gehaltene Nachfrist reichte nicht aus. Die parlamentarischen Arbeiten konnten erst einen Monat später, nämlich am 15. Mai 1973 mit dem Gesetz Nr. 1728 betreffend „Änderung einiger A r t i k e l des Gesetzes Nr. 1402 über den Ausnahmezustand und Einfügung eines Übergangsartikels" abgeschlossen werden. Dieses Gesetz wurde i m Amtsblatt Nr. 14 540 vom 20. Mai 1973 verkündet und trat an diesem Tage i n Kraft. 1. Dadurch ergaben sich zwei zeitliche Lücken: A. Der bereits am 14. Oktober 1972 außer Kraft getretene Art. 23, welcher auch nach Aufhebung des Ausnahmezustandes die weitere Zuständigkeit der Militärgerichte für die anhängigen Sachen vorgesehen hatte, führte zunächst zu keiner Lücke, weil der seit dem 26. A p r i l 1971 verhängte Ausnahmezustand i n den 11 davon betroffenen Provinzen zunächst noch weiter verlängert wurde. Die Lücke wurde erst fühlbar, als i m März der Ausnahmezustand über mehrere Provinzen nicht verlängert wurde. Deshalb wurde eine Übergangsbestimmung mit Rück-
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5. Kap.: Die Konsequenzen der Entscheidung
Wirkung auf den 26. März 1973 in das Abänderungsgesetz eingefügt, das ihre verfassungsmäßige Absicherung in dem der Verfassung durch Parlamentsakt Nr. 1699 vom 15. März 1973 eingefügten und am 20. März 1973 i n Kraft getretenen Übergangsartikel 21 findet. Nach dem neuen Übergangsartikel 2 zum Gesetz Nr. 1402 über den Ausnahmezustand dauert für den am 26. A p r i l 1971 verhängten Ausnahmezustand bei dessen Aufhebung die sachliche und örtliche Zuständigkeit für die bei den Militärgerichten i m Ausnahmezustandsbezirk anhängig gewordenen Prozesse bis zu deren Erledigung fort, wobei auch weiterhin die Bestimmungen über den Ausnahmezustand anwendbar bleiben. Nur soweit die öffentliche Klage noch nicht erhoben oder das Verfahren ausgesetzt worden ist, werden die einschlägigen Akten entsprechend ihrem Inhalt an die nach den allgemeinen Vorschriften zuständigen Amtsstellen zur Erledigung abgegeben. Gegen die Rückwirkung i n diesem Falle dürften sich keine Bedenken ergeben, da am entscheidenden Stichtag (26. März 1973) bereits vom Parlament als Corps Constituant diejenige Vorschrift als Verfassungsnorm i n Geltung gesetzt war, welche dasselbe Parlament als Corps Législatif 8 7 in der Form eines Übergangsartikels der Neufassung des Gesetzes über den Ausnahmezustand einfügte. Angesichts der i m Verfassungsartikel 8 festgelegten Überordnung und bindenden Kraft der Verfassung kann bei Fehlen einer Gesetzesnorm auch eine Einzelbestimmung der Verfassung unmittelbar angewandt werden 8 8 . Für zukünftige Fälle allerdings ist i n dem neuformulierten A r t . 23 des Gesetzes über den Ausnahmezustand bestimmt worden, daß mit der Beendigung des Ausnahmezustandes auch die sachliche und örtliche Zuständigkeit der bei der Kommandantur des Ausnahmezustandes errichteten Militärgerichte und Militärstaatsanwälte ihr Ende finden. Die Akten der anhängigen Prozesse und der Ermittlungsverfahren gehen entsprechend ihrem Inhalt an die außerhalb des Ausnahmezustandes sachlich und örtlich zuständigen Amtsstellen. Diese Änderung ist durch die Errichtung von besonderen Staatssicherheitsgerichten ermöglicht worden, weil diese Gerichte außerhalb des Ausnahmezustandes, also i n normalen Zeiten, für die meisten der i n A r t . 15 des Gesetzes über den Ausnahmezustand aufgeführten strafbaren Handlungen künftighin zuständig sind (siehe darüber unten 2 B). B. Der vom Verfassungsgericht für nichtig erklärte Art. 15 des Gesetzes über den Ausnahmezustand trat am 14. A p r i l 1973 außer Kraft. Da i n dieser Gesetzesbestimmung die Zuständigkeit der unter dem Aus87
Siehe A n m e r k u n g 75. Vgl. hierzu Erl. 5 zu A r t . 8 auf S. 89 meines i n A n m e r k u n g 27 zitierten Buchs. 88
I. Die Änderungen des Gesetzes über den Ausnahmezustand
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nahmezustand tätigen Militärgerichte ratione materiae et personae geregelt war und das Prinzip des „gesetzlichen Richters" auch nach t ü r k i scher Auffassung ein den Rechtsstaat konstituierendes Prinzip bildet, blieb die Frage, wie es mit dieser Zuständigkeit nach dem 14. 4. 1973 stehe, zunächst in der Schwebe. Man konnte nur formal argumentieren, daß, wenn schon die Zuständigkeit der Militärgerichte im Ausnahmezustand auch noch nach dessen Aufhebung bis zur Erledigung der bei ihnen anhängigen Verfahren kraft der Verfassungsbestimmung zuständig bleiben, sie dann erst recht auch noch während der Dauer des Ausnahmezustandes bis zu dessen Aufhebung ihre Zuständigkeit behalten. Der Gesetzgeber hat angeordnet, daß der an die Stelle des für nichtig erklärten A r t . 15 tretende neuformulierte Art. 15 rückwirkend am 14. 4. 1973, d. h. an dem Tage i n Kraft tritt, an dem der für nichtig erklärte alte Art. 15 seine Geltung verliert. Man w i r d auf Grund der obigen Argumentation keine Einwendungen erheben können, soweit die Neufassung mit der vom Verfassungsgericht zwar für nichtig erklärten, aber durch den Zusatzartikel 21 zur Verfassung trotzdem selbst über den Aufhebungstermin des Ausnahmezustandes als weitergeltend angeordneten Vorschrift übereinstimmt. Dies ist jedenfalls hinsichtlich der Zuständigkeit der Militärgerichte ratone materiae zur Aburteilung der bisher schon i n dem Katalog unter lit. (a) bis (1) aufgezählten strafbaren Handlungen der Fall. Soweit unter l i t (f) noch einige Straftatbestände aus dem Türkischen Strafgesetzbuch (nämlich Art. 191, 192, 296 und 537) hinzugefügt worden sind, kann die Zuständigkeit des Militärgerichts erst vom 20. Mai 1973 an begründet sein, weil bis zu diesem Tage für diese Straftatbestände die Justizstrafgerichte allein als „gesetzlicher Rechtsweg" i m Sinne der Verfassung vorgesehen waren. 2. Die wirklich bedeutsame Änderung i n dem neu gefaßten Art. 15 des Gesetzes über den Ausnahmezustand liegt darin, daß die Höchstfrist der vorläufigen Festnahme von 30 Tagen entsprechend der Änderung von Art. 30 Abs. 4 der Verfassung (siehe darüber unten 3) auf 15 Tage abgekürzt worden ist. Innerhalb dieser wegen derselben Handlung nur einmal zulässigen Frist kann ein Verdächtiger vorläufig festgehalten werden, bis entschieden ist, ob er vor das Militärgericht beim Kommandanten des Ausnahmezustandes gestellt und verhaftet werden soll. Die Militärstaatsanwaltschaft beim Kommandanten des Ausnahmezustandes und nicht wie bisher (jedenfalls der äußeren Form nach) der Kommandant selbst hat das Nötige zu veranlassen. Da die genannte Verfassungsbestimmung ebenfalls bereits am 20. März 1973 i n Kraft getreten war, war jede, eine Frist von 15 Tagen überschreitende vorläufige Festnahme von diesem Tage an verfassungswidrig, obwohl der Gesetzesakt, der die 30 Tagefrist enthält, als Ganzes erst am 14. A p r i l
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5. Kap.: Die Konsequenzen der Entscheidung
1973 seine Geltung verlor. Somit ist auch insofern gegen die Rückwirkung nichts einzuwenden, weil sie nur dem bereits eingetretenen Verfassungszustand entspricht. 3. Auch ratione personae hat sich de facto nichts geändert. Nur ist durch die Neufassung von A r t . 21 des Gesetzes über den Ausnahmezustand klargestellt worden, worauf in den abweichenden Voten einiger Verfassungsrichter und in meiner K r i t i k aufmerksam gemacht worden ist: Die Mitglieder der Regierung und des Parlaments, die höchsten und höheren Spitzen der Zivilverwaltung und des Militärs, die Richter und Staatsanwälte aller Gerichtszweige können wegen der zur Zuständigkeit der Militärgerichte i m Ausnahmezustand gehörenden und von ihnen innerhalb des Bezirks des Ausnahmezustandes i m Dienste begangenen strafbaren Handlungen nur dann von den Militägerichten abgeurteilt werden, wenn diejenigen Stellen, die in normalen Zeiten für die Verfolgung von strafbaren Handlungen i m Dienst zuständig sind, ihre Zustimmung geben. Dies war trotz der gegenteiligen Meinung der Mehrheit der Verfassungsrichter schon bisher rechtens, bedeutet also trotz der Fehlentscheidung des Verfassungsgerichts i n diesem Punkte keine Änderung des Rechtszustandes. II. Die Errichtung von Staatssicherheitsgerichten als Sonderzweig der Justizgerichtsbarkeit 1. Wie sich aus den einschlägigen Parlamentsdrucksachen 89 ergibt, hatte der Präsident der Republik am 13. 7.1972 die Führer derjenigen politischen Parteien, die i n den Gesetzgebenden Körperschaften i n Fraktionsstärke (d.h. mindestens 10 Abgeordnete bzw. Senatoren) repräsentiert waren, zu einer Besprechung i m Beisein des Ministerpräsidenten und des Justizministers empfangen. Nach einer vom Pressebüro des Ministerpräsidenten unter dem 14. 7.1972 herausgegebenen Erklärung hatte der Präsident der Republik den Parteiführern mitgeteilt, die Verfassung müsse erneut i n einigen Punkten geändert werden. Hierzu gehörte die Frage, ob ein Bedürfnis zur Errichtung von Staatssicherheitsgerichten i m Rahmen der Justizgerichtsbarkeit bestehe. Da nach A r t . 155 der Verfassung Anträge auf Änderung der Verfassung nicht von der Regierung oder von einzelnen Abgeordneten, sondern nur von mindestens einem Drittel der Gesamtzahl der Mitglieder beider Gesetzgebender Körperschaften schriftlich gestellt werden können, trat am 19. 7. 1972 auf Einladung des Präsidenten des Abgeordnetenhauses eine aus Abgeordneten und Senatoren bestehende überparteiliche Kommission zur Vorbereitung eines entsprechenden Antrags 89
M i l l e t Medisi, Dönem 3, Toplanti 4, S. Sayi 794, 794 e 1 inci ek.
I I . Staatssicherheitsgerichte als Sondergerichtszweig
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auf Verfassungsänderung zusammen. Diese Kommission beendete ihre Arbeiten am 5.12.1972 und schlug die Abänderung bzw. Ergänzung von 10 Verfassungsartikeln und drei Übergangsartikeln vor. Mitte Januar 1973 stellte sich heraus, daß nur ein Teil der i n Vorschlag gebrachten Abänderungen die erforderliche Anzahl von Unterschriften erhalten hatte, so daß nur dieser Teil i n den Geschäftsgang des als Corps Constituant tätig werdenden Parlaments gelangte. I n diesem Teil befanden sich Vorschläge u. a. zur Abänderung der A r t . 30 und 136 der Verfassung und zur Annahme eines neuen Übergangsartikels. Diese Vorschläge hatten unmittelbaren Bezug auf die während der Beratung der überparteilichen Kommission i m Amtsblatt am 14. 10.1972 veröffentlichte Entscheidung des Verfassungsgerichts mit der Nichtigerklärung von A r t . 15 und 23 des Gesetzes Nr. 1402 über den Ausnahmezustand. Der Geschäftsordnung entsprechend ging der Antrag auf Verfassungsänderung an den Verfassungsausschuß des Abgeordnetenhauses, wurde dort am 25.1.1973 durchberaten, i n einigen Punkten abgeändert und bei 5 Gegenstimmen dem Plenum zur Verabschiedung zugeleitet. A m 15. März 1973 fanden die parlamentarischen Beratungen ihren Abschluß i m Parlamentsakt Nr. 1699 „Änderung einiger Absätze der A r t . 30, 57, 136, 138 und 148 der Verfassung der Türkischen Republik und Hinzufügung von zwei Übergangsartikeln". Die neuen Vorschriften traten am Tag ihrer Verkündung, d.h. am 20. März 1973 i n K r a f t 9 0 . 2. Die bedeutsamste Ergänzung der Verfassung bildeten die ihrem Art. 136 eingefügten sechs neuen Absätze. Dieser A r t i k e l enthielt ursprünglich unter der Überschrift „V. Organisation der Gerichte" lediglich einen allgemeinen Gesetzesvorbehalt dahin, daß die Organisation der Gerichte, ihre sachliche und örtliche Zuständigkeit, der Geschäftsgang und das Prozeßverfahren gesetzlich zu regeln seien. Es hätten also auch neben den sog. schweren Strafgerichten Staatssicherheitsgerichte durch einfaches Gesetz errichtet werden können. Nachdem aber das Verfassungsgericht die Bestimmungen des A r t . 15 über die „bewegliche" Zuständigkeitsregelung der i n den Bezirken des Ausnahmezustandes zu errichtenden Militärgerichte ratione materiae et personae wegen angeblichen Verstoßes gegen einige Verfassungsbestimmungen für nichtig erklärt hatte, schien es angebracht zu sein, diesen für die Türkei neuartigen Sondergerichtszweig i n der Verfassung selbst zu verankern. A. Die Antragsteller begründeten ihren Vorschlag auf Verfassungsergänzung i n folgender Weise: 90 T ü r k . Amtsblatt Nr. 14 482 v o m 20. März 1973. Deutsche Übersetzung von m i r i n Verfassung u n d Recht i n Übersee 1973, S. 233/234.
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5. Kap. : Die Konsequenzen der Entscheidung
„Ebenso wie i n der ganzen Welt sind auch i n unserem Lande i n den letzten Jahren neue Begriffe des Verbrechens u n d des Verbrechertums aufgetaucht; dementsprechend ist es zur Notwendigkeit geworden, für die Verfolgung u n d A b u r t e i l u n g von Verbrechen und Verbrechern neue Verfahren zu suchen u n d zu finden. Insbesondere bei der Verfolgung u n d Aburteilung strafbarer Handlungen, welche „gegen den Bestand von Staatsgebiet u n d Staatsvolk, gegen die freie demokratische Ordnung und gegen die republikanische Staatsform m i t ihren i n der Verfassung festgelegten Wesensmerkmalen begangen werden und unmittelbar die Staatssicherheit berühren", sah man i n der Errichtung von „Staatssicherheitsgerichten" einen Vorteil, u m sowohl i m Interesse der Erhöhung der S t r a f w i r k u n g ein rasches V e r fahren zu gewährleisten als auch die Möglichkeit dafür zu schaffen, daß diese Straftaten m i t ihren besonderen Eigentümlichkeiten i n spezialisierten Gerichten beurteilt werden."
B. Die Mehrheit des Verfassungsausschusses i m Abgeordnetenhaus hat den Vorschlag kommentarlos gutgeheißen, während fünf Ausschußmitglieder ihn unter dem Gesichtspunkt des Rechtsstaatsprinzips für nicht annehmbar bezeichneten. Sie hätten zwar grundsätzlich nichts gegen die Errichtung derartiger Spezial-Gerichte einzuwenden, unter der Voraussetzung, daß sie nicht den Charakter von Ausnahmegerichten erhielten. Diese Gefahr bestehe aber, wenn für die Auswahl und Ernennung der Richter vom Prinzip der Gewaltenteilung abgegangen und entgegen den für die Auswahl und Ernennung der übrigen in der Justizgerichtsbarkeit tätigen Richter und Staatsanwälte dem Ministerrat ein Präsentationsrecht von je zwei Kandidaten eingeräumt werde, von denen einer vom Hohen Richter- bzw. Hohen Staatsanwalts-Ausschuß gewählt werden müsse. Damit gewinne die politische Macht Einfluß auf die Gerichtsbarkeit, deren Unabhängigkeit damit i n Frage gestellt werde, ein Argument, das i m Verfassungsgericht bei der Diskussion über die Verfassungswidrigkeit von Art. 11 Abs. 2 des Gesetzes über den Ausnahmezustand eine Rolle gespielt, aber keine Mehrheit gefunden hatte. Trotz dieser Bedenken wurde der vom Verfassungsausschuß gebilligte Entwurf mit der für Verfassungsänderungen erforderlichen Zweidrittelmehrheit vom Parlament verabschiedet 91 . 3. I n Ausführung dieser neuen Verfassungsbestimmungen von Art. 136 wurde das „Gesetz Nr. 1773 über die Gründung und das Prozeßverfahren der Staatssicherheitsgerichte" am 26. 6. 1973 verabschiedet; es ist mit seiner Verkündung i m Amtsblatt Nr. 14 591 vom 11.7.1973 in Kraft getreten und findet nach seinem Übergangsartikel 1 auf alle von diesem Tage an begangenen und i n die Zuständigkeit der Staatssicherheitsgerichte fallenden Strafsachen Anwendung. Ohne hier auf die 91 Deutsche Übersetzung des Wortlauts der neuen Absätze 2 - 7 von A r t . 136 der Verfassung siehe an der i n A n m . 90 angegebenen Stelle.
I I . Staatssicherheitsgerichte als Sondergerichtszweig
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Einzelheiten dieses Gesetzes eingehen zu wollen, sei nur Folgendes hervorgehoben: A. A r t . 1 ist eine fast wörtliche Wiederholung des neu eingefügten Abs. 2 von A r t . 136 der Verfassung. Da hier ausdrücklich die für den Ausnahmezustand und den Kriegszustand vorgesehenen Bestimmungen vorbehalten sind, ändert sich zumal nach der Neuformulierung von Art. 15 des Gesetzes über den Ausnahmezustand hinsichtlich der Zuständigkeit der Militärgerichte für die während des Ausnahmezustandes begangenen und i n diesem A r t i k e l aufgezählten strafbaren Handlungen gar nichts. Auch die sonstige sachliche Zuständigkeit der M i l i tärgerichte i m Frieden wie i m Kriege, i m Normalzustand wie unter dem Ausnahmezustand bleibt vorbehalten (Art. 10 Abs. 1), jedoch abgesehen von den i n Abs. 2 unter Α, Β und C aufgeführten Fällen, i n denen bei einer der dort genannten strafbaren Handlungen Militärpersonen gemeinsam m i t Zivilisten als Täter oder Gehilfen i n Betracht kommen. I n diesen Fällen sind nicht die Militärgerichte, sondern die Staatssicherheitsgerichte zuständig. Die Staatssicherheitsgerichte sind demnach prinzipiell als Sondergerichte außerhalb des Kriegs und des Ausnahmezustandes ohne Ansehen der Person für alle i n A r t . 9 des Gesetzes aufgezählten strafbaren Handlungen ratione materiae et personae zuständig. Der umfangreiche Katalog entspricht i m wesentlichen demjenigen i n Art. 15 des Gesetzes über den Ausnahmezustand. Dies bedeutet, daß alle diese Delikte, die bisher — außerhalb des Ausnahmezustandes — zur Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte gehört hatten, nunmehr zur Aburteilung vor ein Sondergericht gelangen, dessen Zusammensetzung (drei Justizrichter einschließlich des Vorsitzenden und zwei Militärrichter) und dessen von dem Strafprozeßgesetz teilweise abweichende Verfahrensordnung (ζ. B. die Schärfe und Härte der Sitzungspolizei-Vorschriften i n Art. 27 des Gesetzes) bei sachgemäßer Handhabung eine wesentlich schärfere und raschere Durchführung derartiger Prozesse erwarten läßt. Daß hierdurch auch ein gewisser Abschreckungseffekt erreicht werden soll, dürfte außer Frage stehen. Zugleich aber kann mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden, daß selbst bei Terrorakten schlimmster A r t und größten Ausmaßes ein geeignetes Bekämpfungsmittel vorhanden ist, das die Ausrufung des Ausnahmezustandes nicht erforderlich macht. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, bedeutet das Gesetz zwar eine harte Waffe gegen alle unfriedlichen Staatsfeinde und politischen Extremisten, aber zugleich eine wesentliche Erleichterung für die Masse der friedliebenden Bürger, denen die Nachteile und Gefahren des Ausnahmezustandes auf diese Weise erspart bleiben können.
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5. Kap.: Die Konsequenzen der Entscheidung
B. Da die Staatssicherheitsgerichte trotz Beteiligung von M i l i t ä r richtern und Militärstaatsanwälten i n die Justizgerichtsbarkeit eingegliedert sind und gegen ihre Entscheidungen als Rechtsmittel die Möglichkeit der Revision bei dem allgemeinen Kassationshof (und nicht etwa bei dem Militärkassationshof) vorgesehen ist, besteht eine Garantie für die Unabhängigkeit der Rechtspflege, auch wenn die Ernennung der Justiz- und Militärrichter zu den Staatssicherheitsgerichten von dem sonst üblichen Verfahren abweicht und die Ernennung nur auf drei Jahre (mit der Möglichkeit der Verlängerung) erfolgt; denn hinsichtlich der Richterbank am Kassationshof gelten die allgemeinen Bestimmungen für die Unabhängigkeit dieses Gerichts und für die Garantie des Richteramtes der Kassationsrichter. I I I . Verkürzung der Frist für die vorläufige Festnahme I n dem Rechtsstreit vor dem Verfassungsgericht hatte die in Art. 15 Abs. 3 des Gesetzes über den Ausnahmezustand vorgesehene 30 Tagefrist, die zwischen der vorläufigen Festnahme eines Verdächtigen und der Entscheidung des Kommandanten des Ausnahmezustandes über den Gebrauch der „beweglichen" Zuständigkeitsregelung eine besondere Rolle gespielt. Eine knappe Mehrheit hatte diese Frist als Verstoß gegen den Verfassungsartikel 30 angesehen. 1. Der Verfassungsgeber hat diese Frage nunmehr i m Zusammenhang mit der Errichtung von Staatssicherheitsgerichten geregelt und Abs. 4 des Verfassungsartikels 30 wie folgt formuliert: „Der Festgenommene oder Verhaftete ist innerhalb von 48 Stunden und bei strafbaren Handlungen, die zur sachlichen u n d örtlichen Zuständigkeit der Staatssicherheitsgerichte gehören, sowie bei den i m Gesetz ausdrücklich genannten Fällen k o l l e k t i v begangener strafbarer Handlungen und ganz allgemein während des Kriegs- u n d Ausnahmezustandes innerhalb der gesetzlich vorgesehen Fristen, i n welche die für die Verbringung v o m Festnahmeort zum nächstgelegenen Gericht erforderliche Zeit nicht eingerechnet w i r d , dem Richter vorzuführen. Diese Fristen dürfen 15 Tage nicht überschreiten. Nach A b l a u f dieser Fristen darf niemand ohne richterlichen Beschluß seiner Freiheit beraubt werden. Die Festnahme oder Verhaftung ist sofort den Angehörigen des Betroffenen mitzuteilen."
A. I n der Begründung der diesen Abänderungsvorschlag unterstützenden Parlamentarier wurde unter Hinweis auf die Erörterungen des Verfassungsgerichts u. a. ausgeführt, es bestehe ein dringendes Bedürfnis, die für den Normalfall vorgesehenen Höchstfristen von 48 Stunden bzw. 7 Tagen allgemein i m Kriegsfall und i m Ausnahmezustand zu verlängern; jedoch entspräche es dem Geist der auf den Freiheiten der Bürger beruhenden Verfassung, diese Frist auf 15 Tage zu beschränken.
I I I . Verkürzung der Frist für die vorläufige Festnahme
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B. Der Verfassungsausschuß des Abgeordnetenhauses machte sich diese Begründung zu eigen, hielt es aber für richtig, außer einigen Verbesserungen der Formulierung i n seinem Ausschußbericht Folgendes festzuhalten: „Unser Ausschuß ist einstimmig zu der Auffassung gelangt, daß der i n diesem A r t i k e l gebrauchte Ausdruck „Festnahme" (yakalama) auch den F a l l der Stellung unter Aufsicht (gözaltina alma) umfaßt u n d daß deshalb die Vorschriften, welche für die Festgenommenen u n d Verhafteten vorgesehen sind, auch auf diejenigen angewandt werden müssen, die unter Aufsicht gestellt werden. Jedoch bezieht sich der letzte Satz des Absatzes, daß die Festnahme oder Verhaftung sofort den Angehörigen des Betroffenen mitzuteilen ist, n u r auf die Fälle der vorläufigen Festnahme und der Stellung unter A u f sicht; was dagegen die i n Abs. 3 erwähnten „Gründe der Festnahme oder Verhaftung" angeht, so ist nach der einstimmigen Auffassung des Ausschusses zwar erforderlich, diese Gründe dem Festgenommenen mitzuteilen, jedoch i m Interesse der Ungestörtheit und Sicherheit der Untersuchung nicht notwendig, diese Gründe auch den Angehörigen des Festgenommenen m i t z u teilen. Ferner hat der Ausschuß beschlossen, i n der Begründung k l a r u n d deutlich darauf hinzuweisen, daß die i n diesem Absatz festgesetzte Höchstfrist der Haftdauer von 15 Tagen wegen derselben Straftat und gegen dieselbe Person durch wiederholten Gebrauch nicht verlängert werden darf, w e n n nicht ein wichtiger G r u n d wie das Auftauchen neuer Tatsachen oder neuer Beweism i t t e l vorliegt."
C. M i t dieser offiziellen Feststellung einer einmütigen Auffassung der i m Parlament vertretenen Parteien sind alle etwaigen Mißbräuche als verfassungswidrige und zugleich strafwürdige Freiheitsberaubungen qualifiziert und damit der Exekutive deutlich gemacht worden, ohne Ansehen der Person gegen alle diejenigen die gesetzlich vorgesehenen Sanktionen einzuleiten, welche die bisherige Verfassungsbestimmung durch Auslegungskunststücke, die sogar von manchen Verfassungsrichtern als Argumente gewertet wurden, „manipulieren" zu können glaubten. 2. Seit dem 20. März 1973 ist die verfassungsrechtliche
Lage folgende:
Wer wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung vorläufig festgenommen oder auf Grund eines Haftbefehls verhaftet wird, ist dem Richter am nächstgelegenen Gerichtsort i n der Regel innerhalb einer Höchstfrist von 48 Stunden vorzuführen. Bei strafbaren Handlungen, die seit dem 11. J u l i 1973 zur Zuständigkeit der Staatssicherheitsgerichte gehören, sowie bei den ausdrücklich durch Gesetz kenntlich gemachten kollektiv begangenen Straftaten und ganz allgemein i n den Fällen des Ausnahmezustandes und i m Kriegsfall kann gesetzlich eine längere Frist vorgesehen werden; doch darf diese i n keinem Fall 15 Tage überschreiten. Niemand darf nach Ablauf dieser Frist ohne richterliche Entscheidung seiner Freiheit beraubt werden. I n diese Fristen w i r d die von dem Ort der Festnahme bis zum nächstgelegenen
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5. Kap.: Die Konsequenzen der Entscheidung
Gericht erforderliche Zeit nicht eingerechnet. Der Vorteil dieser Formulierung liegt darin, daß man für alle Staatsschutzsachen, gleichgültig ob sie vor eines der neu errichteten Staatssicherheitsgerichte oder i m Ausnahmezustand vor ein Militärgericht gehören, eine gleichlange Höchstdauer für die vorläufige Festnahme ohne richterliche Entscheidung festgelegt hat. Trotzdem besteht ein Unterschied nach den Ausführung sgesetzen: A. Nach der Neufassung von A r t . 15 des Gesetzes über den Ausnahmezustand darf der Kommandant des Ausnahmezustandes diejenigen, welche i m Verdacht stehen, eine unter das Gesetz fallende strafbare Handlung begangen zu haben, solange vorläufig festhalten, bis die ihm zugeordnete Militärstaatsanwaltschaft eine Entscheidung darüber getoffen hat, ob der Verdächtige vor das Militärgericht gestellt und verhaftet werden soll oder nicht. „Diese Frist darf 15 Tage nicht überschreiten und darf für dieselbe Person wegen eines und desselben ihr vorgeworfenen Delikts nicht mehr als einmal gebraucht werden, falls keine wichtigen Gründe wie etwa neue Beweismittel vorliegen." Hiermit ist i n gesetzlicher Form der oben erwähnten Protokollfeststellung des Verfassungsausschusses des Abgeordnetenhauses Rechnung getragen worden. B. Nach Art. 22 des Gesetzes über die Staatssicherheitsgerichte ist derjenige, der wegen einer zur Zuständigkeit dieser Gerichte gehörenden Straftat festgenommen oder verhaftet worden ist, bei Beendigung der Ermittlungen und auf alle Fälle innerhalb von 15 Tagen dem örtlich zuständigen Richter vorzuführen. Jedoch darf die Polizei einen Verdächtigen nicht länger als 48 Stunden festhalten, wenn sie nicht dieserhalb eine schriftliche Anweisung seitens der Staatsanwaltschaft beim zuständigen Staatssicherheitsgericht oder der örtlichen Staatsanwaltschaft oder, bei deren Fehlen, des Friedensrichters, des Untersuchungsrichters oder des Militärstaatsanwalts erhalten hat. Der Gesetzgeber hat damit sehr deutlich den Unterschied einerseits zwischen den Befugnissen der Polizei und der gerichtlichen und staatsanwaltlichen Behörden, andererseits zwischen Normalzustand und Ausnahmezustand hervorgehoben, was durchaus i m Sinne der Verfassung, des Verfassungsgebers und des Verfassungsgerichts liegt. IV. Zusammenfassung Faßt man die vorstehend geschilderten rechtlichen Konsequenzen der Entscheidung des Verfassungsgerichts zusammen, so kommt man zu folgenden Ergebnissen: 1. Die Entscheidung hat zu Verfassungsänderungen geführt, die einerseits i m Sinne der Entscheidung die Höchstfrist einer vorläufigen
IV. Zusammenfassung
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Festnahme i m Ausnahme- und Kriegszustand von 30 auf höchstens 15 Tage herabgesetzt haben, andererseits aber durch die verfassungsrechtliche Verankerung von Staatssicherheitsgerichten m i t gemischter Richterbank aus Justiz- und Militärrichtern der Militärjustiz auch außerhalb des Ausnahme- und Kriegszustandes einen erheblichen Einfluß i m Rahmen der Justizgerichtsbarkeit für alle Staatssicherungssachen eingeräumt haben. Ob diese Konsequenz i m Sinne der Verfassungsrichter lag, kann füglich bezweifelt werden. 2. Die wegen ihrer angeblichen Verfassungswidrigkeit für nichtig erklärten Bestimmungen der A r t . 15 und 23 des Gesetzes über den Ausnahmezustand sind durch Vorschriften ersetzt worden, die zwar sprachlich verfassungsgerechter gefaßt sind, aber an der bisherigen Rechtslage vor allem deswegen nichts geändert haben, weil das Parlament als Corps Constituant die vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Bestimmungen über die Zuständigkeit der Militärgerichte i m Ausnahmezustand ratione materiae et personae durch einen Übergangsartikel zur Verfassung nachträglich wieder verfassungskonform gemacht hat, bevor die rechtliche Folge der Nichtigkeitserklärung eingetreten war. 3. Allerdings w i r d gerade in dem vorliegenden Fall die Problematik der Verfassungsgerichtsbarkeit i n heiklen politischen Situationen besonders deutlich: A. Alle echten Verfassungsgerichte sind i n der mißlichen Lage, die i n den Ausschüssen des Parlaments eingehend durchberatenen und i m Plenum durchdiskutierten, aber die politische Farbe der jeweiligen Parlamentsmehrheit tragenden gesetzlichen Bestimmungen an den i m Verfassungstext zum Ausdruck gekommenen Wertmaßstäben mit Hilfe juristischer Kriterien und Begriffe auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu prüfen. Liegt dem Verfassungsaufbau das Prinzip der Gewaltenteilung zu Grunde und ist dieses Prinzip so folgerichtig durchgeführt wie i n der türkischen Verfassung von 1961, so ist ein starkes Spannungsverhältnis zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht unvermeidlich. Dieses Spannungsverhältnis w i r d dadurch verschärft, daß durch den Grundsatz der Überordnung und der bindenden Kraft der Verfassung die jeweilige Parlamentsmehrheit und ihre Regierung bei dem Versuch, politische Konzepte i n die Form von Gesetzen zu transformieren, i n Konflikt mit den Wertvorstellungen geraten kann, die i n der Verfassung ihren Ausdruck gefunden haben und noch außerdem durch internationale Verträge garantiert sind. Soweit das Parlament i n der Lage ist, i m Rahmen der verfassungsrechtlichen Formvorschriften als Corps Constituant die Verfassung zu ändern, steht es über der Verfassung, während das Verfassungsgericht selbst stets und immer an die
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5. Kap.: Die Konsequenzen der Entscheidung
Verfassung i n ihrer jeweiligen Fassung gebunden bleibt. Daraus können sich politische Machtkämpfe ergeben, wenn das Verfassungsgericht eine gesetzliche Bestimmung wegen ihrer Verfassungswidrigkeit für nichtig erklärt, i m Parlament aber eine Zweidrittelmehrheit i n der Lage ist, die vom Verfassungsgericht zwecks Nichtigerklärung der Gesetzesbestimmung herangezogene Verfassungsvorschrift nachträglich so abzuändern oder zu ergänzen, daß die für nichtig erklärte Gesetzesbestimmung in einem neuen Gesetz fröhliche Urständ feiern kann. B. Konflikte zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht werden um so schwieriger, je stärker die ideologische Komponente sowohl i m Parlament als auch auf der Richterbank eine Rolle spielt. Auch ein parteipolitisch freier und — wie i n der Türkei kraft Rechtssatz — keiner politischen Partei angehörenden Richter hat eine bestimmte politische Überzeugung, die bei der Auslegung und Bewertung sowohl der wegen angeblicher Verfassungswidrigkeit angegriffenen Gesetzesbestimmung als auch der angeblich verletzten Verfassungsnorm bewußt oder unbewußt mitspielt. Dies ist durch rechtliche Vorschriften nicht auszuschließen, w i r d sogar wie i n A r t . 132 Abs. 1 der türkischen Verfassung vom Richter i m Hinblick auf die Garantie seiner Unabhängigkeit ausdrücklich verlangt. Dadurch können auch innerhalb eines aus 15 Mitgliedern bestehenden Richterkollegiums Spannungen auftreten. Die Meinungsbildung kann sich derart polarisieren, daß — wie der vorliegende Fall zeigt — oft eine einzige Stimme den Ausschlag geben kann. Daß derartige Entscheidungen keine allzugroße Überzeugungskraft besitzen, wenn selbst diese knappe Mehrheit i n der Begründung nicht einhelliger, sondern verschiedener Meinung ist, zeigt die A r t und Weise, wie die Mehrheit zur Nichtigerklärung von A r t . 15 des Gesetzes über den Ausnahmezustand „errechnet" werden mußte. Noch schlimmer steht es dann, wenn durch die rein arithmetische Methode die Gründe, die i m ersten Teil der Entscheidung zur Verneinung der Verfassungswidrigkeit einiger Bestimmungen führen, i m zweiten Teil der Entscheidung für die Bejahung der Verfassungswidrigkeit anderer Bestimmungen desselben Gesetzes herhalten sollen. Wenn das Entscheidungsgremium daran nichts Anstößiges findet, so handelt es sich nicht nur um eine fragwürdige Technik, sondern um die Verkennung des sachlichen Unterschiedes zwischen einem Verfassungsgericht und einem Kassationshof. Der letztere hat darüber zu befinden, ob i m Einzelfall das erstinstanzliche Gericht bei der Anwendung von Gesetzen rechtliche Fehler gemacht hat, die korrigiert werden müssen. Betroffen sind lediglich die Prozeßbeteiligten. Das Verfassungsgericht dagegen wacht über die Vereinbarkeit der Gesetze mit der Verfassung. W i r d eine gesetzliche Bestimmung wegen Verfassungswidrigkeit für nichtig erklärt, so können dadurch nicht nur zahllose Personen getroffen werden, sondern
I V . Zusammenfassung
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i m Rahmen eines geordneten Staatsapparates nur schwer zu reparierende Schäden auftreten. Die Verfassungsrichter müssen also, wenn sie entsprechend A r t . 132 Abs. 1 der Verfassung nach ihrem Gewissen und ihrer Überzeugung entscheiden, hierbei auch die Folgen bedenken, die ihre Entscheidung unter Umständen haben kann. Dies ist bei der Hinausschiebung des Eintritts der Nichtigkeitsfolge bei A r t . 15 des Gesetzes über den Ausnahmezustand geschehen, nicht aber anläßlich der Nichtigerklärung von A r t . 23 desselben Gesetzes. C. Hinzu kommt, daß ein Nichtjurist kaum verstehen kann, daß Gerichte, deren Zuständigkeit ratione materiae et personae auf einer — wenn auch rechtsirrtümlich — für nichtig erklärten gesetzlichen Bestimmung beruht, noch 14 Monate lang nach dem Tag der Entscheidung und noch 6 Monate lang nach dem Tag der Veröffentlichung der Entscheidung mit voller rechtlicher Wirkung weiter judizieren dürfen 9 2 . Wenn dann noch obendrein das Parlament als Corps Constituant mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit die nicht nur politisch unerwünschten, sondern auch sachlich nicht zu rechtfertigenden Folgen der rechtsfehlerhaften Entscheidung des Verfassungsgerichts nachträglich durch Einfügung eines Übergangsartikel i n die Verfassung zu verhindern sucht, aber i n seiner Funktion als Corps Législatif die Transformierung der Verfassungsnorm i n eine gesetzliche Vorschrift nicht rechtzeitig zu Ende führen kann, so werden hier Mängel sichtbar, welche das Vertrauen i n die Legalität des staatlichen Handelns erschüttern können. Dies ist u m so schlimmer, wenn sich ausländische Kreise i n diese Angelegenheiten einmischen und die rechtlich fehlerhafte Entscheidung des Verfassungsgerichts zum Anlaß nehmen, die Rechtsstaatlichkeit der Türkei vor der Weltöffentlichkeit anzuzweifeln, sowie i n der Beratenden Versammlung des Europarates zu Entschließungsanträgen auf eine internationale Untersuchung der Vorgänge i n der Türkei führen und Interventionen nichtstaatlicher internationaler Organisationen hervorrufen, i n denen Regierung und Parlament zu Maßnahmen aufgefordert werden, die ihrerseits verfassungswidrig wären. 4. Gerade deshalb ist es bewundernswert, mit welcher Zähigkeit und Überlegenheit die politisch maßgebenden Kräfte der Türkei, insbesondere die Gesetzgebenden Körperschaften auf der einen Seite und die unter dem massiven Druck jüngerer Stabsoffiziere stehenden Spitzen der Streitkräfte auf der anderen Seite es verstanden haben, auch unter dem Ausnahmezustand die Überordnung und bindende Kraft der Verfassung gegenüber allen revolutionären Angriffen und vor allen rechtswidrigen Eingriffen zu bewahren und die Autorität des Verfassungsgerichts zu respektieren, eine politische Leistung, welche die A n 92
Als Beispiel siehe Entsch. T ü r k . VerfG. 10/1973/389 - 406.
10 Hirsch
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5. Kap.: Die Konsequenzen der Entscheidung
erkennung aller derer finden sollte, denen die Erhaltung und Festigung des auf dem parlamentarischen System fußenden demokratischen Rechtsstaats eine politische Notwendigkeit i m Interesse der Entwicklung der türkischen Nation und der gesamten westlichen Welt bedeuten. Dies aber haben gerade diejenigen übersehen, welche sich i m Interesse von politischen Revolutionären und Terroristen und ihrer Sympathisanten zum Gralshüter der gerade von diesen mißachteten Menschenrechte und Freiheiten berufen fühlen unter der Parole „for the Rule of L a w " .