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German Pages [266] Year 2013
Medizin und Kulturwissenschaft Bonner Beiträge zur Geschichte, Anthropologie und Ethik der Medizin
Band 9
Herausgegeben von Heinz Schott und Walter Bruchhausen
Johannes Nikolaus Rückher
Die Achtundsechziger-Bewegung und die Medizinische Fakultät der Universität Bonn Eine Fallstudie
V& R unipress Bonn University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0218-2 ISBN 978-3-8470-0218-5 (E-Book) Veröffentlichungen der Bonn University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Medizinhistorischen Instituts der Universität Bonn und der Bonner Universitätsgesellschaft. Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
2. Psychiatriekritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der »Sprecherrat Nervenklinik« an der Universität Bonn . . . . 2.1.1 Entstehung und allgemeine Merkmale . . . . . . . . . . . 2.1.2 Sommersemester 1975: Reform der Psychiatrie . . . . . . 2.1.3 Wintersemester 1975/76: Diskussion um Kriterien für die Besetzung des Psychiatrielehrstuhls . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Sommersemester 1976: Finanzielle Sorgen und Probleme der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Wintersemester 1976/77: Psychiatrie und Sexualität . . . . 2.1.6 Sommersemester 1977: Kritik der Klassischen Psychiatrie . 2.2 Kritik an den psychiatrischen Institutionen in Bonn und ihren Repräsentanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Allgemeine Psychiatriekritik – Sozialpsychiatrie . . . . . . . . . 2.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 15 15 18
60 73 79
3. Kritik an Lehre und Situation der Studenten . . . . . . . . . . . 3.1 Die Zulassungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Mängel und Sparzwänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die medizinische Ausbildung und der Charakter der Lehre
. . . .
81 81 89 96
4. Auseinandersetzungen mit Professoren . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Der Konflikt um Professor Fleischhauer . . . . . . . . . . . . . 4.2 Der Konflikt um Professor Pichotka . . . . . . . . . . . . . . . .
107 108 113
5. Medizin, linke Ideologie und Protest . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Vietnamkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
123 123
0
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24 26 39 52
6
Inhalt
5.2 Drogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Kritik an einer »Gesellschaft der verkümmerten Talente« . . . .
137 144
6. Die Basisgruppe Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die Basisgruppe Medizin und Graf von Ballestrem . . . . . . . .
155 157 164
7. Berufsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Der Fall Thi¦e . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Der Fall Mausbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
169 170 175
8. Forschung und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . 8.1 Allgemeine Kritik: Politische Medizin . . . . 8.2 Der »Bund Freiheit der Wissenschaft« (BFW) 8.3 Vernichtungsforschung für das Pentagon? . .
. . . .
181 181 200 211
9. »Pille« und Abtreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Die »Pille« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Abtreibung und Paragraph 218 . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217 218 221
10. Konservative Kräfte an der Medizinischen Fakultät Bonn . . . . . . .
229
11. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
251
12. Literatur und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
257 257 265
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0
Vorwort
Das teils turbulente Geschehen an deutschen Universitäten während der Achtundsechziger-Rebellion offenbart rückblickend ein höchst heterogenes Bild der damaligen Studentengeneration. Die verschiedenen Städte und Fakultäten waren in ihrem Aufbegehren gegen die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der damaligen Bundesrepublik in sehr unterschiedlichem Ausmaß betroffen. Auch die Art, wie Protest artikuliert und gelebt wurde, äußerte sich in sehr vielfältigen Varianten. Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Doktorarbeit, die das Ziel verfolgte, die Geschehnisse an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn zu beleuchten und sie in den bundesdeutschen Kontext einzuordnen. Es soll damit einen Beitrag zu einem differenzierteren Bild der Achtundsechziger-Bewegung leisten: Abseits der spektakulären Aktionen der »üblichen Verdächtigen« insbesondere der geisteswissenschaftlichen Fakultäten wurde Protest auch theoretischer, moderater, distanzierter – man mag auch unterstellen scheuer – gelebt. Diese Protestkultur ist im Vergleich zu den weit bekannteren Aktionen jener Jahre, etwa am Otto-SuhrInstitut der FU Berlin oder in Heidelberg mit seinem Sozialistischen Patientenkollektiv, keineswegs weniger interessant und aufschlussreich. Dies gilt auch im Bezug auf das Lebensgefühl der damaligen Studentengeneration. Die Arbeit soll so einen Einblick in die Gedankenwelt einer auf Bonn beschränkten, naturgemäß und ungewollt recht konservativen Klientel in Mitten der damaligen bundesdeutschen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen ermöglichen. Bedanken möchte ich mich bei Herrn PD Dr. Ralf Forsbach, der es mir mit vielen Denkanstößen, ermutigenden Worten und konstruktiver Unterstützung ermöglichte, diese Arbeit verfassen zu können. Dass eine Verlegung beim Vandenhoeck& Ruprecht-Verlag überhaupt möglich wurde, verdanke ich dem Direktor des Medizinhistorischen Instituts der Universität Bonn, Herrn Prof. Dr. Dr. Heinz Schott. Auch die großzügig finanzielle Unterstützung für den Druck der Arbeit von Seiten des Instituts und der Bonner Universitätsgesellschaft geht
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Vorwort
auf seine Initiative und Empfehlung zurück. Nicht zuletzt die freundliche und kompetente Betreuung durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verlages ermöglichte mir, dieses Buch in seiner jetzigen Form fertig zu stellen.
1.
Einleitung
»So war man also der ›Prügelknabe der Nation‹, da sich bei den Hohen Herren nicht immer allzu viel machen ließ, das Ergebnis deprimierend und die studentische Stimmung nicht immer auf dem Höhepunkt war.«1
Die hier erkennbare nüchterne Stimmung verbreitete die Fachschaft Medizin der Universität Bonn im Dezember 1969 in der ersten Ausgabe von »med-INFO«, eines Blattes, das sich »Zeitung aller medizinisch Arbeitenden« nannte. Auch wenn der Name nicht neu war2, so gelobte man doch feierlich einen Neuanfang, um den Studenten eine »möglichst umfassende, die gesamte medizinische Fakultät betreffende Information« zur Seite zu stellen. Die neue Fachschaft war »gewählt, aber nicht inaktiv« und verkündete einen neuen Stil, der helfen sollte, der empfundenen Rolle des von allen Seiten als »Harlequin« und »institutionalistische[s] Ablassventil« betrachteten Prügelknaben zu entfliehen. Konstruktiv müsse die Arbeit der Fachschaft sein, alle Studenten sollten hinter ihr stehen, wenn undankbare Aufgaben, etwa Konflikte mit Professoren, anstünden. Das Redaktionskollektiv3 wandte sich zunächst an die eigene Klientel und verlangte, sachlich zu bleiben, und unbegründete persönliche Beschuldigungen gegenüber Professoren zu unterlassen, »da sich die Probleme nicht auf persönlicher, sondern auf institutioneller Ebene abspielten«. Dass man nicht bloß eine »politische Clique von ›Linken‹« sei, davon wollte man alle überzeugen. An die Adresse der Professoren richtete sich gleichzeitig die Warnung, zu glauben, 1 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 1, 01. 12. 1969, S. 2. 2 Man erklärte, es habe bereits zuvor ein »papier gleichen Namens für die Vorklinik« gegeben. Diese Ausgaben sind jedoch nicht erhalten. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 1, 01. 12. 1969, S. 1. 3 In aller Regel vermied »med-INFO«, Verfasser von Artikeln namentlich zu nennen. Peter Schneider erklärt in seinen Erinnerungen an die Jahre der Revolte, dieses Verfahren sei damals durchaus üblich gewesen: Die Nennung eines Autors habe im Verdacht des Egotrips gestanden und im Zweifelsfall die Arbeit des Staatsanwalts erleichtert. Vgl. Schneider, Rebellion, S. 132.
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Einleitung
sie könnten auf Grund ihrer Stellung sachlich unbegründete Repressionen gegen die Studentenschaft geltend machen.4 Diese pragmatisch orientierten Zeilen verfasste das Redaktionskollektiv, als das Jahr 1968, das in den Chroniken der Universität als »eines der stürmischsten in der Bonner Universitätsgeschichte«5 charakterisiert wurde, längst vergangen war. Bonn war – so erklärt Horst-Pierre Bothien – in den Jahren 1967 und 1968 nicht der zentrale, aber doch ein wichtiger Ort dieses Protestes. Die Studentenbewegung in der damaligen Hauptstadt sei zwar nicht über Nacht entstanden und auch nicht über Nacht verschwunden, jedoch habe sich die Lage mit dem Jahr 1969 deutlich beruhigt.6 Bereits hier könnte man also vermuten, »68« habe die Mediziner eher weniger mobilisieren können, da Schriften ihre Aktivitäten, Diskussionen, Ansichten und Konflikte betreffend erst in den Jahren danach in Form von Studentenzeitungen und Flugblättern eifrig gedruckt und verteilt wurden. Von einer allumfassenden Achtundsechziger-Bewegung in Bonn zu sprechen, verbietet sich aber. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass die Rebellion die Fakultäten in sehr unterschiedlichem Maße betreffen konnte. Gerhard Fels bemerkt in diesem Sinne, dass an derselben Hochschule mitunter ein Institut unter ständigem Trommelfeuer studentischer Kritik stand, während ein anderes praktisch ungeschoren blieb.7 Allgemein fielen die naturwissenschaftlich-technischen Fächer eher durch Nichtbeteiligung auf, obwohl die Bedeutung von Technologie und »naturwissenschaftlichem Verwertungswissen« zu den zentralen Themen der studentischen Linken gehörten. Dieter Neumann erklärt das mit den unterschiedlichen Gegenständen und dem sich daraus ergebenden gegensätzlichen Wissenschaftscharakter der verschiedenen Disziplinen und macht darauf aufmerksam, dass sich zwar auch Studenten naturwissenschaftlicher Fächer gegen Überfüllung, Prüfungsverschärfungen und Zwangsexmatrikulationen gewehrt hätten, das Lehr- und Forschungsgebiet an sich in diesen Fächern jedoch durch Gesellschaftskritik nicht zu erschüttern gewesen sei.8 Berücksichtigt man die Formulierungen der ersten »med-INFO«-Ausgabe, so schienen sich Bonns Medizinstudenten in dieser doch sehr moderaten und kompromissorientierten Form des Protests dem von Fels beschriebenen Stil anzupassen. Diese Arbeit soll jedoch zeigen, dass sie ebenso in der Lage waren, etwa Diskussionen um Mängel in der Lehre zu einem »Aufstand gegen alles« zu deklarieren.9
4 5 6 7 8 9
UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 1, 01. 12. 1969, S. 1 f. UAB, Chronik Akademisches Jahr 1967/68, S. 46. Vgl. Bothien, S. 7. Vgl. Fels, S. 134. Vgl. Neumann, S. 26 f. Viehöver, S. 130.
Einleitung
11
Auch wenn Namen wie »Benno Ohnesorg« und »Rudi Dutschke« auch in Bonn sicher jedem geläufig waren, wenn die Ereignisse um den entlassenen, aufmüpfigen Frankfurter Arzt Hans Mausbach ebenso wie an anderen Universitäten Empörung hervorriefen: Schwerpunkt meiner Untersuchungen sind nicht die großen Namen von »68« oder die spektakulären Aktionen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), die Bonn ohnehin wenig beziehungsweise gar nicht tangierten. Vielmehr sollen die vielen Diskussionen von medizinspezifischen bis hin zu allgemeinpolitischen Fragen vor dem Hintergrund der deutschen Achtundsechziger-Bewegung ebenso analysiert werden wie die konkreten Auseinandersetzungen mit Professoren. Wie reagierten speziell die Bonner Mediziner auf die Einführung der Pille, auf die Bestrebungen zur Liberalisierung der Abtreibungspraxis oder auf die Berufsverbote der sozialliberalen Koalition? Welche der linken, gesellschaftskritischen Themen waren den Medizinern hinsichtlich ihrer Rolle als zukünftige Ärzte besonders wichtig und wie wollten sie die Probleme des Gesundheitswesens lösen? Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, wie man auf Kritik von konservativer Seite reagierte und welche Streitkultur man dabei pflegte. Der stets formulierte Anspruch, sachlich zu diskutieren, wurde nämlich nur zu oft nicht berücksichtigt, steigerte sich zeitweise sogar in provozierende Rechthaberei. Die Annahme, die Achtundsechziger-Bewegung habe bei den Bonner Medizinern keine Spuren hinterlassen, ist also falsch. Vielmehr setzte sie verzögert ein und passte sich Schritt für Schritt dem (linken) Zeitgeist der folgenden Jahre an. Aus diesem Grund reicht es bei vielen Themen nicht, sich auf die Quellen der späten sechziger Jahre zu beschränken. Insbesondere die Diskussionen um Reformen in der Psychiatrie nahmen an der Medizinischen Fakultät in Bonn breiten Raum ein und standen unbestreitbar in der Tradition von »68«, jedoch artikulierte sich der Protest erst Mitte der siebziger Jahre. Die Gegner der »linken Mediziner« brauchten ähnlich lange, um sich zu formieren. Der Konflikt zwischen »links« und »konservativ« ist aber angesichts der sehr einseitigen Quellenlage aufschlussreich und daher eine Untersuchung wert. Die mitunter sehr unterschiedliche Länge der einzelnen Kapitel spiegelt die Menge an Material wider, das das Universitätsarchiv Bonn bietet, und zeigt damit auch die Relevanz, die die verschiedenen Themen für die Studenten hatten. Am ergiebigsten sind dabei die vielen Ausgaben des eingangs erwähnten »med-INFO«, daneben die Flugblattsammlung und weitere studentische Presseorgane wie »akut« und das Bonner Universitätsnachrichtenblatt. Nicht zuletzt dieses fast ausschließlich von linken Positionen dominierte Quellenmaterial sorgt jedoch dafür, dass ein vollständiger, umfassend und objektiv darstellender Überblick über die Aktivitäten der Bonner Mediziner im Rahmen der Achtundsechziger-Bewegung von der Quellenlage her nicht möglich ist. Deshalb soll unter Berücksichtigung dieser Besonderheit der Quellen-
12
Einleitung
lage der Versuch unternommen werden, ihre wesentlichen Themen zu entdecken, ihre Diskussionen und Auseinandersetzungen kritisch zu verfolgen und ihre konkreten Leistungen zu eruieren beziehungsweise zu bewerten. Auch auf die Frage, ob die Medizinstudenten tatsächlich »Prügelknabe der Nation« waren oder vielleicht doch eher die sich mit Hilfe der Revolte selbst tröstenden »Beleidigten und Unterdrückten«10, soll in Rahmen dieser Untersuchungen eine Antwort gefunden werden. Die verfügbare Literatur beschäftigt sich – wenn überhaupt – lediglich mit den allgemeinen Geschehnissen in Bonn zu dieser Zeit. Werke, die sich speziell mit der Medizinischen Fakultät befassen, sind bisher nicht erschienen. Das verfügbare, links geprägte Quellenmaterial nimmt so zwar eine zentrale Position ein, muss aber gerade deshalb einer besonders kritischen Betrachtung unterzogen werden. Da die linken Studentenzeitschriften in aller Regel nicht die Verfasser ihrer Artikel benannten geschweige denn die Zusammensetzung ihrer Redaktionen preisgaben, ist ein Interview mit den Studierenden von damals leider kaum möglich gewesen. Bei allen Bewertungen und Urteilen bleibt zu bedenken, worauf Wolfgang Kraushaar völlig zu Recht hinweist, dass alle Versuche, jene AchtundsechzigerRevolte historisch, analytisch oder psychologisierend zu erfassen, bislang nur in Ansätzen vorhanden sind. Ein überzeugender Gesamtentwurf existiert bislang nicht.11 Auch deshalb erscheint es angemessen, den Kontext und den Zeitgeist zwar nicht zu übersehen, sich aber doch darauf zu konzentrieren, was speziell und konkret die Bonner Mediziner bewegte, was sie im Zusammenhang mit der Studentenrevolte dachten oder taten und wie ihr Verhalten rückblickend eingeschätzt werden könnte.
10 Schneider, Rebellion, S. 122. 11 Vgl. Kraushaar, Achtundsechzig, S. 51.
2.
Psychiatriekritik
Das Jahr 1968 und die damit allgemein assoziierte Studentenrevolte stellen eine bedeutende Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland dar. Im Bereich der Medizin nahm die Psychiatriereform, die in Deutschland auf das Einsetzen der Psychiatrie-Enquete12 1971 datiert wird13, eine herausragende Stellung ein. Faktisch handelt es sich um einen Prozess, der in den fünfziger Jahren begann und bis heute noch nicht abgeschlossen ist.14 Die Tatsache, dass noch bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts Zwangsmaßnahmen, Gewalt, Isolation und Personalmangel15 die deutsche »Anstaltspsychiatrie«16 bestimmten, provozierte zwar schon vorher reform- und vergangenheitsorientierte Initiativen (beispielsweise von Beeck, Häfner, Kisker, von Baeyer und anderen), welche jedoch fachinterne Diskussionen und Einzelfälle blieben17. Gegenstand einer wirklichen Bewegung im Zusammenwirken von Psychiatrie, Politik und Gesellschaft wurden die Probleme und Zielsetzungen aber erst als Teil und Folge des Umbruchs im Übergang zu den siebziger 12 Die Psychiatrie-Enquete war eine Ende 1971 von der Bundesregierung berufene unabhängige Sachverständigenkommission, die den Zustand der psychiatrischen Versorgung in der Bundesrepublik erforschen sollte. Das Ergebnis wurde 1975 präsentiert und umfasste einen umfangreichen Bericht, in dem die Zustände der psychiatrischen Versorgung in der Bundesrepublik kritisiert wurden. Dringend verbesserungswürdig waren demnach vor allem die Bereiche der komplementären, der ambulanten und der gemeindenahen Dienste. Ziel der Enquete war »ein frühzeitiges Erkennen psychischer Störung und Vermeidung von Behinderung«. Komplementäre Angebote (Wohnheime, Tageskliniken) sollten Klinikaufenthalte verringern und das Ausgliedern aus der Lebenswelt der Betroffenen verhindern helfen. Die psychiatrische Versorgung sollte also von einer verwahrenden hin zu einer therapeutischen und rehabilitativen entwickelt werden. Dazu zählten insbesondere der Rückbau der dezentralen Großkliniken und die Implementierung psychiatrischer Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern. Vgl. Thomsen, S. 12. 13 Vgl. Schott/Tölle, S. 311. 14 Vgl. ebd., S. 306. 15 Vgl. ebd., S. 304. 16 Ebd., S. 303. 17 Vgl. Kersting, S. 292.
14
Psychiatriekritik
Jahren.18 Zur Infragestellung der bestehenden Verhältnisse in der Psychiatrie wurden hierbei auch – teilweise sogar überwiegend – politische und gesellschaftliche Argumente angewendet.19 Marion Stergar20, ein Mitglied der Kommune II, sagte 1968 in Berlin: »Ich lernte von meiner Person zu abstrahieren, begriff soziale Umstände als Ursache psychischen Fehlverhaltens, dieses wieder als Folge der autoritären Erziehung und diese wieder als gesellschaftliche Notwendigkeit. Entfremdung, Verelendung und Ausbeutung als Grundpfeiler unserer Gesellschaftsstruktur, geplanter Verschleiß und tote Kosten als Notwendigkeit für das Funktionieren des Kapitalismus auf Kosten der unterdrückten Individuen – endlich hatte ich Begriffe für das Unbehagen, das mich schon lange quälte.«21
Sie vereinte in diesem Zitat wesentliche Kritikpunkte und Lösungsansätze der Psychiatriekritik im Wirkungskreis von 1968, die auch am Rhein aufgegriffen wurden. Ziel dieses Kapitels soll es sein, einen Überblick über die dieser Psychiatriekritik entsprechenden Diskussionen, Konflikte und Aktionen innerhalb der Universität Bonn zu gewinnen. Den Schwerpunkt bilden dabei die Betrachtungen hinsichtlich des so genannten »Sprecherrats Nervenklinik«, dessen Aktivitäten im Zeitraum von 1975 bis 1977 gut verfolgt werden können. Dieser Zeitraum erscheint recht spät für eine Bewegung, die üblicherweise mit dem Jahr 1968 assoziiert wird. Der Eindruck verzögerter Psychiatriekritik bestätigt sich insofern, als die wesentlichen Themen und Diskussionen erst sieben bis neun Jahre nach »68« in Bonn in größerem Ausmaß diskutiert wurden. Ergiebig sind in diesem Zusammenhang vor allem die studentischen Zeitschriften (in erster Linie »med-INFO« und »akut«) sowie Flugblätter. Offizielle Publikationen der Universität (beispielsweise das »Universitäts-Nachrichten18 Ebd., S. 287 f. 19 Vgl. Schott/Tölle, S. 206. 20 Marion Stergar war Mitglied des SDS. Mitte bis Ende Juli 1966 traf sie sich in einem Landhaus am Kochelsee in Bayern mit neun Männern, vier Frauen und zwei Kindern. Es handelte sich um die so genannte »Viva Maria«-Gruppe. Unter ihnen waren Mitglieder der Subversiven Aktion, Studenten und SDS-Mitglieder wie beispielsweise Rudi Dutschke, Bernd Rabehl, Dieter Kunzelmann und andere. Eine Woche lang wurde über Bedingungen und Möglichkeiten revolutionärer Praxis in Westeuropa diskutiert, wobei kollektive Wohnprojekte in den Mittelpunkt des Interesses rückten. Angesichts des von Herbert Marcuse geprägten Begriffs des integralen Manipulationszusammenhangs sahen die Diskutierenden nur eine Möglichkeit der Befreiung: die bürgerliche Vereinzelung musste in handlungsfähige politische Lebens- und Wohngemeinschaften, revolutionäre Kommunen, überführt werden. Durch Emanzipation von der eigenen, bürgerlich geprägten Sozialisation sollte die Gesellschaft nachhaltig verändert werden. Marion Stergar war dabei wesentlich an den Überlegungen beteiligt, die letztlich in die Realisierung der Kommune I, in der sie selbst allerdings nicht Mitglied war, mündeten. Vgl. Holmig, Kommune I, o.S.; Hakemi, S. 27. 21 Zit. n. Mosler, S. 157.
Der »Sprecherrat Nervenklinik« an der Universität Bonn
15
blatt« und die Chroniken) gehen auf die psychiatriekritischen Strömungen praktisch nicht ein. Ebenso mangelt es an Stellungnahmen konservativer Studenten, wie man sie etwa vom Bonner RCDS hätte erwarten können. Anhand der Materialen lässt sich herausarbeiten, welche Zustände an der Bonner Nervenklinik konkret kritisiert wurden, welche Themen die Studenten beschäftigten und wie sie ihre Ziele verfolgten. Schließlich wird in diesem Kapitel der Versuch unternommen, die Bonner Mediziner in den bundesdeutschen Kontext der Psychiatriekritik im Rahmen der Achtundsechziger-Bewegung einzuordnen und zu zeigen, dass die Auseinandersetzungen in der Regel auf theoretischer Basis stattfanden.
2.1
Der »Sprecherrat Nervenklinik« an der Universität Bonn
2.1.1 Entstehung und allgemeine Merkmale Die Fachschaftszeitschrift »med-INFO« berichtete regelmäßig über Veranstaltungen des Sprecherrats Nervenklinik an der Universität Bonn. Hierzu gehörten in erster Linie Vorlesungsreihen, deren Themen von Gastdozenten ausgeführt und anschließend diskutiert werden sollten. Hinweise auf die Anfänge dieser Gruppierung finden sich recht spät: Eine Informationsbroschüre der Fachschaft Medizin für Erstsemester vom September 1975 enthält eine Vorstellung der Gründungsmotive, Ziele und bisherigen Aktionen: Demnach gründete sich der Sprecherrat Nervenklinik im Wintersemester 1972/73, um die »Interessen [der Studenten] in Fragen der Lehrinhalte und der Unterrichtsgestaltung gegenüber den Dozenten in einer organisierten Form« zu vertreten. Am 11. Dezember 1973 tauchte der Vorschlag zur »Einrichtung des Erfahrungsaustausches« erstmals auf einer Kollegiumssitzung der Nervenklinik auf und wurde einstimmig angenommen. Rund sechs Wochen später (23. bis 26. Januar 1973) leiteten die drei studentischen Vertreter des Kollegiums Wahlen zum ersten Sprecherrat ein, welcher drei Tage später erstmals tagte und sich eine Satzung gab, die der Fachschaftsvorstand (FSV) am 2. Februar 1973 billigte.22 Das Ziel einer guten medizinischen Ausbildung wollte der (unbekannte) Verfasser der Satzung nicht isoliert von anderen Bestrebungen der Studentenschaft erreicht sehen, sondern »im Rahmen nicht isoliert von anderen Bestrebungen der Studentenschaft erreicht sehen, sondern »im Rahmen des Kampfes 22 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Fachschaft Medizin – Erstsemesterinfo, September 1975, S. 14.
16
Psychiatriekritik
für eine demokratische Studienreform und für eine Verbesserung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung«23. Kritisiert wurde eine zu praxisferne Ausbildung, die zudem einseitig an der naturwissenschaftlichen Medizin orientiert sei. Vielmehr müsse »die Bedeutung gesellschaftlicher und psychischer Bedingungen von Gesundheit und Krankheit« gleichberechtigt in die studentische Ausbildung mit einbezogen werden.24 Die Arbeit des Sprecherrates wurde hierbei in verschiedene »Ebenen« eingeteilt: – »Im Plenum wird die formale und inhaltliche Kritik an den Unterrichtsveranstaltungen der Nervenklinik artikuliert […]«, aus denen Vorschläge und Forderungen abgeleitet wurden, die wiederum als »Diskussionsgrundlage für den Erfahrungsaustausch« dienen sollten. – »Inhaltliche Alternativen und Ergänzungen zum bestehenden Lehrangebot« hingegen sei Aufgabe der beiden so genannten Arbeitsgruppen, die sich seit dem vorausgegangenen Semester insbesondere mit dem Thema Sozialpsychiatrie beschäftigten. Namentlich fanden hier die Themen »Lage der Psychiatrie in der BRD«, »Enquete« und »Alternativmodelle« Erwähnung.25 Bemühungen um eine demokratische Struktur26 innerhalb des Sprecherrats Nervenklinik wurden am Schluss des Artikels deutlich: Entscheidungs- und Diskussionsprozesse unterlagen deshalb einem strengen Reglement.27 Dieser demokratische Eigenanspruch war nicht bloß formal, der Sprecherrat war durchaus zur Selbstkritik fähig. Ein leider nicht datiertes Flugblatt rief jeden Studenten, »dessen Interesse an der Psychiatrie über den Sitzschein hinausgeht«, dazu auf, sich auf einer Informationsveranstaltung über die bisherigen Erfahrungen mit Vortragsreihen, Arbeitskreisen und artikulierter Kritik in Vorlesungen und Seminaren aufklären zu lassen und diese kritisch zu beurteilen. 23 24 25 26
Ebd., S. 13. Ebd. Ebd. Wörtlich heißt es in der Informationsbroschüre für Erstsemester aus dem Jahr 1975: »Die Unterrichtsgruppen […] wählen je einen Vertreter […], der die Erfahrungen und Vorschläge der Gruppe in das Plenum […] einbringt. Dem Plenum gehören ebenfalls drei studentische Vertreter […] des Kollegiums […] an, die von der Fachschaftsvollversammlung (FaV) […] gewählt werden. Das Plenum diskutiert die Erfahrungen, formuliert die Kritik und Vorschläge und trägt sie in den Erfahrungsaustausch […] mit den Dozenten. Es bereitet die Vortragsreihe […] vor und trägt die Arbeitsgruppen […]. Die stud. Kollegiumsmitglieder […] sind im Kollegium […], stimmberechtigt […] bei den Fragen der Organisation und Koordination des akademischen Unterrichts‹ (§ 2. Abs. 1,d der Kollegiumssatzung).« UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Fachschaft Medizin – Erstsemesterinfo, September 1975, S.14. 27 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Fachschaft Medizin – Erstsemesterinfo, September 1975, S. 13 f.
Der »Sprecherrat Nervenklinik« an der Universität Bonn
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Auch erhoffte man offenbar Impulse von Seiten der Studenten, was inhaltliche Schwerpunkte in der zukünftigen Arbeit anging. Dabei interessierte den Sprecherrat insbesondere, welche Probleme im Rahmen der Lehre bestünden und wie man die »berechtigte Kritik in die Vorlesung und in die Kurse« einbringen könne. Schließlich wollte man auch die Organisationsform des Sprecherrates überdenken: Sollte man wie bisher aus jeder Praktikumsgruppe einen Vertreter wählen oder lieber jeden Interessierten mitarbeiten lassen?28 Diese Fragen lassen durchaus ein basisdemokratisches Element erkennen. Es kann dem Sprecherrat nachträglich zu Gute gehalten werden, dass er sich zumindest offiziell darum bemühte, die Studenten angemessen zu vertreten und ihre Anliegen einzubinden suchte. Die bereits angesprochenen Arbeitskreise, kurz »AK«, bildeten eine weitere Institution des Sprecherrats.29 Ziel des im Wintersemester 1974/75 gegründeten, aus »ca. acht Mitarbeiter(innen)« bestehenden AK Sozialpsychiatrie war die Erarbeitung folgender Themenkomplexe: – Geschichte der Sozialpsychiatrie – Lage der Psychiatrie in der BRD – Struktur der Psychiatrie in der BRD – Untersuchung alternativer Versorgungsmodelle Die Gruppe, die sich schon im folgenden Semester wieder auflösen und sich (wie im Folgenden noch dargelegt werden wird) in veränderter Form neu gründen sollte, verstand ihre Arbeit als »berechtigte Kritik an der bestehenden Psychiatrie im Dienste der werktätigen Bevölkerung«.30 Die entsprechenden, im Verlauf dieses Kapitels noch zu behandelnden Dokumente legen jedoch den Schluss nahe, dass dieser »Dienst« rein theoretischer Natur gewesen sein muss. Hinweise auf etwaige Kontakte zu Arbeitern oder anderen Bevölkerungsgruppen (auch medizinischem Pflegepersonal) unter dem Charakter einer praktischen therapeutischen Arbeit sucht man in den Akten vergebens. Schon in den ersten Monaten seines Bestehens sah sich der Sprecherrat Nervenklinik mit Kritik und Infragestellung seiner Existenzberechtigung konfrontiert: Der Dekan Professor Hans Egli31 meldete in einem Schreiben »Be28 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Sprecherrat Nervenklinik – Diskussion der zukünftigen Arbeit des Sprecherrats«, o.S. 29 Die Arbeitskreise waren übrigens keine Erfindung des Sprecherrats. Bereits 1970 berichtete die Fachschaft Medizin in »med-INFO« über ihre im Sommersemester 1969 existierende Arbeitskreise: »Medizin und Gesellschaft«, »Studienreform«, »Psychosomatik (Mitscherlich)«, »Literatur-AK Stefan Leibfried ›Die angepaßte Universität‹« und »Literatur-AK Nitsch ›Hochschule in der Demokratie‹«. Vgl. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO, 08. 01. 1970, S. 9. 30 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 25, April 1975, S. 9. 31 Hans Egli (1922 – 2007) war Gründungsdirektor des jetzigen Insituts für Experimentelle
18
Psychiatriekritik
denken zur Rechtmäßigkeit von Sprecherräten«32 an, zwei Monate später stellte auch Professor Heinz Penin33 die Legitimation der Gruppe in Frage. Mit Unterstützung vor allem durch Professor Hans-Jörg Weitbrecht34 konnte eine Auflösung zwar abgewendet werden, jedoch entschied die »letzt[e] Kollegiumssitzung [der Nervenklinik]« vom 12. Juni 1973, dass »die Studenten zu bestimmten Punkten faktisch ausgeschlossen werden können«.35 Es scheint also, als habe der Sprecherrat Nervenklinik schon in einer sehr frühen Phase seines Bestehens den Weg des Dialogs als unwirksam oder zumindest als nicht allein zum Ziel führend eingeschätzt, was sich dann auch in seiner weiteren Aktivität bestätigte.
2.1.2 Sommersemester 1975: Reform der Psychiatrie Der Leitgedanke der Vortragsreihe in diesem Semester lautete »Reform der Psychiatrie«. Der Sprecherrat Nervenklinik zeigte sich auf Grund des »großen Erfolges der beiden letzten Semester« dazu ermutigt, eine dritte Veranstaltungsserie zu organisieren.36 Materialien zu den Vorlesungen in den vorangegangenen Semestern liegen nicht vor. Daneben veröffentlichte der Sprecherrat eine ausführliche Diskussionsvorlage »zum Erfahrungsaustausch über die Lehrveranstaltungen des SS 75 in der Neurologie/Psychiatrie«37. Er wird im Anschluss an die Veranstaltungsreihe behandelt.
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Hämatologie und Transfusionsmedizin, darüber hinaus auch Mitbegründer des Fachs Hämostaseologie in Deutschland. Die Universität Bonn prägte er als Dekan, Studiendekan und langjähriger Vorsitzender der Ehtikkommission. Vgl. Oldenburg, S. 2. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Fachschaft Medizin – Erstsemesterinfo, September 1975, S. 14. Heinz Penin (*1924) war der erste Klinikdirektor der Bonner Universitätsklinik für Epileptologie. 1978 wurde er auf den ersten deutschen Lehrstuhl für Epileptologie berufen. Zuvor leitete er die Bonner Nervenklinik bis zur Berufung seines Nachfolgers Gerd Huber kommissarisch. Vgl. Schott, S. 269. Hans-Jörg Weitbrecht (1909 – 1975) wurde 1956 gegen den starken Widerstand in der Fakultät, aber mit Unterstützung prominenter Vertreter des Fachs Psychiatrie in Deutschland auf den Bonner Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie berufen. Es gelang ihm, auf dem Gelände der Bonner Universitätskliniken auf dem Venusberg das Fach Psychiatrie und Neurologie in einem Neubau mit über 200 Betten zu etablieren, der bei Bezug im Jahre 1965 als die »modernste Nervenklinik Europas« galt. Weitbrecht verhalf der Institution zu starker Reputation. Vgl. Maier/Linz, S. 78. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Fachschaft Medizin – Erstsemesterinfo, September 1975, S. 14. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 25, April 1975, S. 9. Ebd.
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In den Vorträgen wurden im Einzelnen folgende Themen behandelt: 30. April 1975: Die Misere der psychiatrischen Krankenversorgung in der BRD und Möglichkeiten ihrer Überwindung (Professor Dr. Asmus Finzen38, LKH Wunstorf) 15. Mai 1975: Umgestaltung der stationären Behandlung: Therapeutische Gemeinschaft (Team Professor Dr. Manfred Pohlen39, Marburg) 5. Juni 1975: Ausländische Alternativmodelle am Beispiel der Niederlande (Dr. Mark Richarzt, Hannover) 19. Juni 1975: Rehabilitationsmodelle in der BRD – Frankfurter Werkgemeinschaft (Professor Manfred Pöhler40, Frankfurt) 3. Juli 1975: Strukturreform und politische Durchsetzbarkeit (Professor Dr. Erich Wulff41, Hannover).42
Im Gegensatz zu den späteren Vortragsreihen fehlen im Universitätsarchiv Flugblätter, die die einzelnen Vorlesungen des Sommersemesters 1975 noch 38 Asmus Finzen (*1940) arbeitete zu dieser Zeit am Niedersächsischen Landeskrankenhaus Wunstorf. Er sammelte epidemiologische Daten über Patienten aus Großkrankenhäusern und prägte als Mitglied des Mannheimer Kreises wesentlich die Entwicklung der Sozialpsychiatrie in Deutschland. Er veröffentlichte bis zum heutigen Tage Bücher unter anderem über Schizophrenie, Suizidprophylaxe, Tageskliniken und Angehörigenarbeit. Vgl. Clausen, S. 45 ff. 39 Manfred Pohlen (*1930) ist ein deutscher Psychoanalytiker und Psychotherapeut, der 25 Jahre lang den mit seiner Berufung neu eingerichteten Lehrstuhl für Psychoanalyse in Marburg leitete. Er schuf so eine psychotherapeutische Einrichtung, die mit neuen Therapiekonzeptionen und Spezialambulanzen spezifische Behandlungsangebote machte und als Ort hochqualifizierter Therapieprogramme in Deutschland bekannt war. Seine emanzipatorischen Behandlungsmodelle sollten den Patienten das existentielle Privileg auf souveräne Selbstgestaltung zurück geben. Vgl. Bautz-Holzherr, S. 59. 40 Wilhelm Pöhler war katholischer Pfarrer, der an der Frankfurter Universitätsklinik für Psychiatrie als Seelsorger tätig war. Dort versuchte er (noch bevor die Ergebnisse der Enquete-Kommission vorlagen), den Kranken »ganzheitliche« Hilfe anzubieten mit fließenden Übergängen aus der Klinik in das Wohnen, von dort zur Arbeit und damit zu einer gesicherten Existenz. Der Patient sollte also nach der Behandlung wieder vollwertig in ein normales Alltagsleben eingegliedert werden. Die von ihm gegründete »frankfurter werkgemeinschaft e.V.« verfolgte das Ziel einer Kooperation aller, die mit dem Patienten zu tun hatten (Kliniken, Fachärzte, Psychologen, Sozialarbeiter). Vgl. Gerhardt, S. 16. 41 Erich Wulff (1926 – 2010) war Ethnopsychiater. Nach seinem Medizin- und Philosophiestudium in Köln begann er seine Psychiatrieausbildung und nahm 1961 einen Lehrauftrag der Universität Hue in Vietnam an, wo er bis 1967 blieb. In dieser Zeit wurde er Zeuge des Vietnamkrieges und machte die Kriegsverbrecher der Amerikaner im Westen publik. 1974 wurde Wulff auf die neu geschaffene Professur für Sozialpsychiatrie an der Medizinischen Hochschule Hannover berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1994 tätig blieb. Vgl. Machleidt, S. 2. Auch im Rahmen des Protestes der Bonner Mediziner gegen den Vietnamkrieg einige Jahre zuvor berief sich »med-INFO« bereits auf die Erfahrungen Wulffs, die dieser vor Ort gemacht zu haben glaubte (siehe Kapitel 5.1). 42 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 25, April 1975, S. 9.
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einmal kurz zuvor ankündigten und bereits eine Einführung in die Thematik gaben. Möglicherweise war eine solche Verfahrensweise der Öffentlichkeitsarbeit zunächst noch nicht üblich. Viele Punkte, die in weiten Teilen der Achtundsechziger-Bewegung zu den dringlichen Reformen in der psychiatrischen Krankenversorgung gezählt wurden, sind in der Aufzählung bereits angeschnitten: Die Behebung der Missstände insbesondere der stationären Versorgung in großen Anstalten beziehungsweise Landeskrankhäusern galt als wesentliches Ziel der Reformbewegung.43 Ausländische Modelle beeinflussten vielfach die deutschen Reformkonzepte und dienten wie in diesem Fall die Niederlande als Vorbild.44
Dem Thema der Therapeutischen Gemeinschaft widmete sich ein ganzer Vortrag. Alexander Veltin definiert den Begriff als (revolutionäre) »Leitidee der auf ein gemeinsames Ziel ausgerichteten partnerschaftlichen Zusammenarbeit, die sich unter Ablösung der traditionellen personalbezogenen hierarchischen Krankenhausordnung durch eine Organisation mit demokratischen Umgangsformen vollzieht«45. Der Tatsache, dass zur Reform der Psychiatrie auch eine Reform der Versorgungsstrukturen gehörte, trug die letzte Vorlesung Rechnung. Auch wenn die genauen Aussagen dieses Vortrags nicht bekannt sind, so liegt doch die Vermutung nahe, dass das auch in der Psychiatrie-Enquete angestrebte einheitliche Versorgungssystem mit ambulanten, teilstationären und stationären Behandlungsangeboten sowie das Prinzip einer gemeindenahen Psychiatrie (geographische Nähe der Behandlungsangebote) einen zentralen Gedanken darstellten.46 Der bereits erwähnte AK Sozialpsychiatrie löste sich im Sommersemester 1975 auf. Der Sprecherrat Nervenklinik betonte jedoch, er denke keineswegs daran, seine »berechtigte Kritik« aufzugeben. Vielmehr sollte diese »in einer neuen Arbeitsform deutlicher und effektiver als bisher« fortgesetzt werden, sodass sich die Mitarbeiter des Arbeitskreises einmütig dazu entschlossen, in zwei neuen Arbeitskreisen mitzuarbeiten. Diese sollten sich mit der »Lage der Psychiatrie in der BRD« beziehungsweise mit »Alternativmodelle[n] zur bestehenden Psychiatrie« beschäftigen.47 Die angeblich »ausgezeichneten Arbeitsbedingungen« in den Arbeitskreisen wurden näher erläutert: Sie seien »interdisziplinär« geplant und daher ein Beitrag zu der als notwendig erachteten Zusammenarbeit zwischen Soziologen, 43 44 45 46 47
Vgl. Kersting, S. 286. Vgl. Rudloff, S. 219. Veltin, S. 109. Vgl. Schott/Tölle, S. 317. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 25, April 1975, S. 9.
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Psychologen, Medizinern und »vor allem« Pflegepersonal.48 Diese Hervorhebung der Mitarbeiter im Pflegebereich verdeutlicht das Anliegen einer quantitativen und qualitativen Verbesserung der Personalstruktur insgesamt49, ein Anliegen, das weite Teile der deutschen Psychiatriereform prägte. Es ist durchaus im Rahmen allgemeiner Demokratisierungstendenzen der Reformbewegung interpretierbar, die die Ablösung alter Hierarchien im Psychiatriewesen und die Einbeziehung weiterer neuer Gruppen von Professionellen anstrebte.50 Die Sitzungen wurden außerdem »parallel und koordiniert« zu der bereits erwähnten Vortragsreihe »Reform der Psychiatrie« abgehalten. »Gute und breite Öffentlichkeitsarbeit« sollte ein weiteres Charakteristikum darstellen51, das in den folgenden Semestern offenbar zunehmend wichtiger wurde: Der Sprecherrat ging dann dazu über, vermehrt Flugblätter zu drucken und die interessierte Studentenschaft über aktuelle Konflikte, Forderungen und Vorgehensweisen zu unterrichten. In diesem Zusammenhang sei auf die folgenden Abschnitte dieses Kapitels verwiesen. Keinen Zweifel ließen die Organisatoren der Arbeitskreise zunächst aber an ihrem Ziel und ihrer Parteinahme: Entscheidend sei, dass möglichst viele an der »psychiatrischen Versorgung der Bevölkerung interessierte« die Arbeitskreise nutzen, um »sich die Kenntnisse [zu] erarbeiten, durch die sie fähig werden, in der politischen Praxis (Praxis ist immer politisch.) sachkundig und eben deshalb energisch und parteilich auf der Seite der Arbeiterklasse für eine Verbesserung der psychiatrischen Versorgung« einzutreten.52 Dieses Zitat zeigt deutlich, dass die als Probleme wahrgenommenen Zustände in der Psychiatrie nicht nur zu fachinternen Reformüberlegungen führten, sondern vielmehr als politische und gesellschaftliche Missstände bewertet wurden, die es zu ändern galt. Offenbar sahen sich die Beteiligten zu keinem Zweifel daran veranlasst, dass die Arbeitskreise ihre Teilnehmer tatsächlich zu Sachkundigen machten. Gleichzeitig bildete diese Annahme sozusagen die Voraussetzung für eine politische und gesellschaftliche Haltung: Wer sachkundig ist, muss für die damit verbundenen Erkenntnisse und Ideale eintreten und steht zwangsläufig auf der Seite der nicht näher definierten »Arbeiterklasse«. Ein grundlegendes Dilemma der gesamten deutschen AchtundsechzigerBewegung zeigte sich jedoch auch in dem hier dargestellten Kontext: Die so oft thematisierten Arbeiter konnten sich in aller Regel nicht mit den studentischen Forderungen identifizieren und verstanden darüber hinaus nicht, inwiefern die 48 49 50 51 52
Ebd., S. 9 f. Vgl. Schott/Tölle, S. 314. Vgl. Kersting, S. 291. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 25, April 1975, S. 10. Ebd.
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Studenten für ihre Interessen eintreten sollten. Folglich wurden weite Felder studentischer Vorhaben von der Arbeiterschaft ignoriert oder sogar als Anmaßung abgelehnt. Rückblickend gestand das sogar Johannes Agnoli, einer der theoretischen Vordenker der Bewegung, ein und beschrieb die Situation sehr plastisch: »Die Arbeiter, die samstags auf den Sportplatz gingen, um ›ihre‹ Mannschaft zu sehen, konnten jedenfalls nur negativ auf die ›kritischen Flugblätter‹ reagieren, denen sie entnehmen konnten, eine ›konsumistische Schafherde‹ zu sein […].«53 Daneben veröffentlichte der Sprecherrat im selben Semester eine kleine Broschüre, die sich mit der Lehre in den Fächern Neurologie und Psychiatrie befasste. Thematisiert wurden das Bedside-teaching, ein LKH-Besuch, die Neurologievorlesung, die Psychiatrievorlesung und der Untersuchungskurs. Eine strikte zeitliche, räumliche und personelle Trennung des neurologischen Unterrichts vom psychiatrischen mit einer Verdopplung der Stundenzahl forderte man für das Bedside-teaching. Es sei effektiver, wenn die Assistenten das Fach unterrichteten, in dem sie hauptsächlich tätig sind. Für den Unterrichtsinhalt forderte der Sprecherrat ein für alle Assistenten weitgehend verbindliches Basisprogramm, welches garantieren sollte, dass die wichtigsten neurologischen und psychiatrischen Krankheitsbilder behandelt wurden. Allgemeine Unzufriedenheit löste daneben ein Besuch des Landeskrankenhauses der Studenten aus. Offenbar hatte man eine Führung durch die Einrichtung zuvor gewünscht. Jedoch sei eine große Führung mit 15 bis 25 Studenten mit Einführungsvortrag nie angestrebt worden. Sie hätte eine schwere Belästigung für Patienten und Personal bedeutet, ohne dass ein Lerneffekt zu verzeichnen gewesen wäre. Gefordert wurden daher kleinere Gruppen an unterschiedlichen Terminen und eine intensivere Beschäftigung mit den Patienten.54 Auch mit der Neurologievorlesung waren die Studenten des Sprecherrats nicht einverstanden. Zwei Wochenstunden seien zwar ohnehin zu kurz, man müsse dann aber wenigstens »durch Betonung der Systematik und Vermittlung von Anschauung den Zugang zu dem schwierigen Fach Neurologie« erleichtern. Vom Dozenten wurde darum verlangt, einen Vorlesungsplan in Form eines Skriptes herauszugeben, der einen Überblick bietet und eine gezielte Vorbereitung auf die Inhalte ermöglicht. Zur Veranschaulichung wollte man Patienten besser einbinden und ein größeres Angebot an Filmen integrieren. Vor allem aber sollte mehr Gewicht auf die Demonstration diagnostischer und therapeutischer Techniken (wie offenbar von einer Verhaltenstherapeutin beispielhaft 53 Agnoli, S. 106. 54 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Sprecherrat Nervenklinik – Diskussionsvorlage zum Erfahrungsaustausch über die Lehrveranstaltungen des SS 75 in der Neurologie/Psychiatrie«, S. 1.
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vorgeführt) gelegt werden. Eine bessere Abstimmung mit dem Bedside-teaching, bei dem man sich auf die häufigeren Krankheitsbilder konzentrieren sollte, würde gleichzeitig in der Vorlesung mehr Raum für Wiederholungen beziehungsweise seltenere Krankheiten bieten. »Irrelevante Dinge« (wie etwa die ironisierende Darstellung der historischen Vorstellungen von Schizophrenie) schienen einen Großteil der Psychiatrievorlesung auszumachen und stießen bei den sich kritisch und wissensdurstig zeigenden Bonner Medizinern zwangsläufig auf Kritik. Man verlangte, dass stattdessen praxisrelevantes Wissen und Problemstellungen des ärztlichen Alltags mit Hilfe moderner Didaktik und Unterrichtsmethoden vermittelt würden. Allerdings ergab sich ein Problem: »Hier sollten sie [die Themen] von Spezialisten vertreten werden, die allerdings an der Klinik oft fehlen.« Sicherlich im Hinblick auf die eigene kritische Auseinandersetzung mit der Psychiatrie beklagte man, dass im Wesentlichen nur die »Psychiatrie der Schneider-Weitbrecht-Schule behandelt« werde und dass der Bonner Student über Kritik, die andernorts daran geübt werde, nichts erfahre: »Alte Zöpfe müssen Platz machen für neue Entwicklungen, wie die problembewußte Darstellung der Verhaltenstherapie, der therapeutischen Gemeinschaft, der modernen Beschäftigungstherapie usw.«55
Im Untersuchungskurs zeigten sich die Dozenten anscheinend offen für Kritik und Verbesserungsvorschläge. So berichtete die Broschüre, nach der Hälfte des Sommersemesters 1975 seien diese Punkte mit dem Dozenten Dr. Vogel, einigen Assistenten, Kursteilnehmern und Vertretern der Fachschaft diskutiert worden. Dabei wurden einige Änderungen vereinbart, die sofort beziehungsweise zum neuen Semester berücksichtigt werden sollten. Sicherlich ein Erfolg für den Sprecherrat! Die Forderungen an die Dozenten ähnelten denen, die an die Vorlesungen gerichtet wurden: mehr Semesterstunden, bessere, anschaulichere und praxisnahe Unterrichtsmethoden, bessere Abstimmung der Fächer Neurologie und Psychiatrie und die Einführung eines Kursskriptes. Für das Fach Psychosomatik verlangte man zusätzlich, »bestimmte, die Krankheit mitdefinierende, gesellschaftlich/soziale Faktoren und Zustände konkret zu benennen und explizit aufzuweisen«, eine ganz zentrale Forderung des Sprecherrats, die in den meisten seiner Dokumente eine herausragende Stellung einnahm. Daneben schlug man vor, freiwillige Arbeitskreise einzurichten, die sich mit psychoanalytischen Theorien und Literatur beschäftigen sollten.56 Auch wenn die Ansprüche des Flugblattes an die Dozenten sehr hoch sein mögen, man muss dem Sprecherrat zu Gute halten, dass er sich um die Qualität 55 Ebd., S. 2 f. 56 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Sprecherrat Nervenklinik – Diskussionsvorlage zum Erfahrungsaustausch über die Lehrveranstaltungen des SS 75 in der Neurologie/Psychiatrie«, S. 4 f.
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der Lehre ernsthaft sorgte und bemühte. Die Gegenvorschläge darf man zwar nachträglich als hie und da kleinlich bezeichnen, die Linie der Studenten war aber klar : Man wünschte sich eine gut strukturierte, praxisnahe und qualitätvolle Ausbildung und war dazu bereit, Zeit zu investieren. Das Dokument steht eher für die moderate, pragmatische Seite der Gruppierung, die sich gelegentlich aber auch – was die Flugblätter einzelne Vorträgen betreffend zeigen – zu eher revolutionär gefärbten Thesen und Forderungen hinreißen ließ.
2.1.3 Wintersemester 1975/76: Diskussion um Kriterien für die Besetzung des Psychiatrielehrstuhls Im September 1975 erschien eine Erstsemester-Broschüre, aus der bereits zitiert wurde und in der sich der Sprecherrat Nervenklinik vorstellte und seine Ziele darlegte (siehe Kapitel 2.1.1). In der Dezemberausgabe der Zeitschrift »med-INFO« rief der Sprecherrat zur Mitarbeit in einem weiteren Arbeitskreis auf. Die neu zu besetzende Direktorenstelle der Psychiatrie wurde zum Anlass genommen, das Thema »An welchen Kriterien lassen sich die Bewerber um den Psychiatrie-Lehrstuhl beurteilen?« zu diskutieren. Der Verfasser des Artikels bemerkte hierzu, die Kritik an den drei zur Wahl stehenden Kandidaten (allesamt Psychiater : namentlich Huber57, Heimchen58 und Heinrich) sei bisher »noch sehr oberflächlich und zu stark auf die Personen zugeschnitten« ausgefallen. Sie sei damit de facto unwissenschaftlich: »Wer derartig kritisiert, ist angreifbar und muß mit berechtigten Vorwürfen rechnen.« Objektive Kriterien zu erarbeiten, mit denen die Arbeit eines Psychiaters beurteilt werden kann und die somit fundierte Kritik zu ermöglichen schien, sollte also vorrangiges Ziel des neuen Arbeitskreises sein.59 Der Sprecherrat verdeutlichte mit diesem Aufruf seine grundsätzlich kritische Haltung zur Bonner Psychiatrieleitung. Offensichtlich sah er sich als Ver57 Gemeint ist wahrscheinlich Gerd Huber (*1921), der 1961 als außerplanmäßiger Professor von Heidelberg an die Universitäts-Nervenklinik Bonn wechselte. Nachdem er in den folgenden Jahren in Ulm und Lübeck tätig war, wurde er schließlich 1978 zum Direktor der Psychiatrischen Klinik und Poliklinik der Universität Bonn ernannt. Seit 1982 ist er Vorsitzender des internationalen Kuratoriums des Kurt Schneider- und H. J. Weitbrecht-Wissenschaftspreises und der AG für Psychosenforschung. Vgl. EB, S. A 3229. 58 Auch hier muss über die Identität des Dozenten gemutmaßt werden. Wahrscheinlich handelt es sich hier um Jürgen Heimchen (*1943), der heute dafür bekannt ist, sich die Verbesserung von Leben und Konsumbedingungen von Drogenabhängigen zur Aufgabe gemacht zu haben. Nach dem Drogentod seines Sohnes gründete er den Verein »Elterninitiative für eine akzeptierende Drogenarbeit«, dessen Vorsitzender er ist, und engagierte sich für die Einführung des Gedenktages für verstorbene Drogenabhängige. Vgl. Schäffer, Laudatio, o.S. 59 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Med-INFO Nr. 30, Dez. 1975, S. 24.
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treter der Studenten selbstverständlich dazu berechtigt, in wichtigen Personalfragen mit zu entscheiden. Auch an der Fachkompetenz hierfür schien nach eigener Auffassung kein Mangel zu herrschen. Es ist daher möglich, diesen Aufruf als Hinweis auf eine zunehmend selbstbewusster werdende Studentenschaft an der Bonner Universitätsklinik zu werten, die wiederum im Rahmen einer die gesamte Achtundsechziger-Bewegung prägenden antiautoritären Gesellschafts- und Traditionskritik zu sehen ist.60 Nur ein einziger Hinweis lässt sich auf die in diesem Semester stattfindende Vortragsreihe finden: »Probleme bei der Realisierung einer emanzipativen Therapie« ist das Thema einer für den 5. Februar 1976 angekündigten Vorlesung von H. Schlürf (FU Berlin).61 Auch wenn sich der genaue Inhalt der Veranstaltung nicht mehr darlegen lässt, so erscheint doch der Begriff der Emanzipation wesentlich und charakteristisch. In besonders radikaler Form taucht er in den Programmen der so genannten Antipsychiatrie62 auf: Das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK), das sich in Heidelberg und Mannheim Anfang 1970 unter der Führung des suspendierten Psychiatrie-Assistenten Wolfgang Huber gebildet hatte63, begriff in diesem Sinne den befreiten Menschen als Endprodukt der (subjektiven) Emanzipation und der (objektiven) Umwälzung der bestehenden Verhältnisse.64 Die Gruppe radikalisierte sich zunehmend und bildete später den Kern der so genannten »zweiten Generation« der RAF.65 Dass der Sprecherrat Nervenklinik so weit ging, ist nicht zu belegen und erscheint auch im Rahmen der anderen (weniger radikal formulierten) Dokumente wie beispielsweise der erhaltenen Flugblätter der späteren Jahre, die im Folgenden noch analysiert werden, unwahrscheinlich. Anzunehmen ist jedoch, dass sich der betreffende Vortrag (wie im Übrigen auch die westdeutsche Psychiatriereform) für eine Beseitigung der rechtlich-sozialen Benachteiligung
60 Vgl. Kersting, S. 289. 61 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 32, Februar 1976, S. 9. 62 Unter dem Begriff »Antipsychiatrie« versteht man eine nicht nur Psychiatrie-bezogene, sondern auch politische Bewegung, die sich zwischen 1955 und 1975 in den meisten großen Ländern, in denen die Psychiatrie und die Psychoanalyse etabliert waren, entwickelte. Wichtige Vertreter waren Ronald D. Laing und David Cooper in Großbritannien, Franco Basaglia in Italien sowie die therapeutischen Gemeinschaften in den USA. Unter bestimmten Aspekten erwies sich die Antipsychiatrie als die logische Folge und Weiterentwicklung der institutionellen Psychiatrie. Wenn diese versucht hatte, das psychiatrische Krankenhaus durch Reformen zu verändern und die Beziehung zwischen Therapeuten und Patienten umzugestalten, indem sie das Phänomen des Wahnsinns zu verstehen suchte, war das erklärte Ziel der Antipsychiatrie, die Psychiatrie als Institution überhaupt und den Begriff der Geisteskrankheit selbst abzuschaffen. Vgl. Roudinesco/Plon, S. 45. 63 Vgl. Koenen, Jahrzehnt, S. 366. 64 Vgl. Brink, S. 173. 65 Vgl. Koenen, Jahrzehnt, S. 366.
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psychisch Kranker aussprach.66 Die Frage, ob in diesem Zusammenhang auch Forderungen nach politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen laut wurden, lässt sich nicht beantworten. Zwar zeigte sich der Sprecherrat Nervenklinik bis dato relativ fachbezogen, durchaus möglich wäre jedoch eine radikalere Haltung des leider nicht näher vorgestellten Gastdozenten Schlürf (siehe oben) von der FU Berlin, der sich in seinem Vortrag gerade mit der »emanzipativen Therapie« beschäftigen wollte. Eine Gelegenheit, politische Forderungen abzuleiten, war auf alle Fälle gegeben.
2.1.4 Sommersemester 1976: Finanzielle Sorgen und Probleme der Psychiatrie In diesem Semester zeigte sich der Sprecherrat Nervenklinik »von den Finanzierungsproblemen des letzen Semesters unerschüttert« und kündigte selbstbewusst eine neue Vorlesungsreihe an: – 6. Mai 1976: Arbeit mit jugendlichen Strafgefangenen – Sexualaufkärung in Einzel- und Gruppengesprächen (Professor Günter Amendt67, Hamburg) – 20. Mai 1976: Notwendigkeit und Grenzen von Reformen im Gesundheitswesen am Beispiel der Psychiatrie; Die Enquete zur Lage der Psychiatrie in der BRD (Professor Dr. Novack, Homburg) – 10. Juni 1976: Free-Clinic-Versuch einer umfassenden Hilfe für kranke Menschen (Dr. Karl Geck68 und Mitarbeiter, Heidelberg) – 24. Juni 1976: Praktische Arbeit mit so genannten hoffnungslosen Jugendlichen (SSK Köln e.V.69) 66 Vgl. Kersting, S. 286. 67 Günther Amendt (1939 – 2011) war ein deutscher Sozialwissenschaftler, der sich mit den Themen Sexualität und Drogen befasst. Er war »[…] Aktivist der Studentenbewegung, einer der Chefideologen des SDS. Er hat Theodor W. Adorno studiert und mit seinem Klassiker ›Sexfront‹ (1970) erfolgreich gezeigt, wie emanzipatorisch Sexualaufklärung sein kann, wenn man sie nicht verkniffen-humorlosen Puritanern überlässt. Amendt war Bob Dylans Tourbegleiter, hat sich in zahlreichen Büchern mit dessen Werk auseinandergesetzt und untersucht seit mehr als 30 Jahren die soziologischen, politischen und ökonomischen Begleitumstände von Rauschmitteln […].« Schäfer, Trip, S. 1. 68 Karl Geck (*1942), genannt »Chuck«, war von Beginn an der Heidelberger Free Clinic als Arzt beteiligt. Die Gründung der Free Clinic wiederum ging auf die internationale ReleaseBewegung und die von ihr eingerichteten medizinischen und psychosozialen Hilfsprojekte speziell für Drogenabhängige zurück. Geck war maßgeblich an der Entwicklung des medizinischen Angebots von Release beteiligt und baute dieses zu einer voll leistungsfähigen allgemeinen Arztpraxis aus. Vgl. Krüger, Sprechstunden, o.S. 69 Das SSK (»Sozialistische Sondermaßnahmen Köln«) entstand 1969. In ihrer Wohngemeinschaft im Salierring 41 wollte eine Gruppe Pädagogikstudenten obdachlosen Jugendlichen, vorwiegend Heimzöglingen, einen Zufluchtsort geben. Nach Auseinandersetzungen mit der Stadt Köln verzichteten die SSKler auf deren Unterstützung und finanzieren ihr Projekt (bis
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– 8. Juli 1976: Transkulturelle Psychiatrie – Einfluss gesellschaftlicher Normen auf den Krankheitsbegriff in der Psychiatrie. Ein Vergleich BRD – Vietnam (Professor Dr. Erich Wulff70, Hannover)71 Erstmals enthalten die Akten auch Flugblätter, die die letzten drei Vorlesungen näher erläutern (siehe unten). Auch wenn der Inhalt der anderen Veranstaltungen nicht näher gedeutet werden kann, so lassen sich deren Themen erneut als dem Zeitgeist entsprechend deuten: Ob Professor Günter Amendt über die (womöglich schlechten) Haftbedingungen Jugendlicher referierte oder ob es um gesellschaftlich unerwünschtes Verhalten im Allgemeinen ging, bleibt offen. Beide Möglichkeiten lassen sich im Rahmen der Psychiatriekritik der siebziger Jahre einordnen. Erving Goffmans72 häufig zitiertes Referenzwerk von 1972 kritisiert unterschiedliche Arten von Anstalten (darunter auch Gefängnisse) als »totale Institutionen«73, wobei an psychiatrischen Anstalten exemplarische Untersuchungen durchgeführt wurden. Alle diese Einrichtungen waren demnach unter anderem durch eine scharfe Grenze zwischen Innen- und Außenwelt und ein auf Unterordnung und Sanktionsmacht beruhendes Wechselspiel zwischen Insassen und Personal gekennzeichnet, das vor allem Anpassung an die Institution ausdrückte (und nicht etwa Krankheit).74 Entsprechend resultierte hieraus die Forderung nach Abkehr von einseitig auf isolationistische Absonderung ausgerichteten Strukturen hin zu sozialstaatlichen Hilfen.75 Das in derselben Vorlesung besprochene Thema Sexualaufklärung wurde, wie im Verlauf der Arbeit noch dargestellt wird, nicht nur von der Achtundsechziger-Bewegung im Allgemeinen, sondern speziell auch an der Universität Bonn als Befreiungsmöglichkeit von gesellschaftlicher Disziplinierung verstanden.76 Vorweg genommen sei aber bereits, dass sowohl die Propaganda der »sexuellen
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heute) durch Entrümpelungsarbeiten. Hausbesetzungen stehen heute nicht mehr auf der Tagesordnung, außerdem steht das Kürzel nun für »Sozialistische Selbsthilfe Köln«. Vgl. Jooß, SSK, o.S. Bereits ein Jahr zuvor hatte Wulff dem Sprecherrat Nervenklinik für einen Vortrag zur Verfügung gestanden, der die politische Durchsetzbarkeit von Strukturreformen in der Psychiatrie thematisierte. Siehe auch Kapitel 2.1.2. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr 33, Mai 1976, S. 12. Erving Goffman (1922 – 1982) gehört zu den am meisten gelesen Autoren in der Soziologie. Er entwickelte viele Konzepte, die in der Soziologie und auch in Nachbardisziplinen eine hohe Verbreitung fanden. Trotzdem galt er als Außenseiter, unter anderem wegen seiner Absage an die herrschenden Konventionen des Wissenschaftsbetriebs und wegen seines Status als Kultfigur unter den Studenten von Berkely während der Sechziger Jahre. Vgl. Lenz, S. 1. Rudloff, S. 211 f. Vgl. ebd. Vgl. ebd, S. 219. Siehe auch Teilkapitel 2.1.5.
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Befreiung« als auch die Rhetorik der »sexuellen Repression« als eines angeblichen Hauptherrschaftsmittels des so genannten Systems als Ausdruck und Generator eines Gefühlsstaus gewertet wurden, mit dem sich alle gegenseitig unter Druck setzten – während draußen bereits eine kommerzielle »Sexwelle« rollte, gegen die man sich durch Begriffs-Amulette wie Marcuses »repressive Entsublimierung« zu schützen versuchte. Gerd Koenen hat im aktivistischen Kern der politischen Bewegung gar »eine eigentümliche Mischung von permanenter Sexualisierung und puritanischer Abschottung gegenüber den hedonistischen Außenreizen« erkannt.77 Doch zurück zu Professor Amendts Vortrag: Bei den »Einzel- und Gruppengesprächen« ist insbesondere der zweite Begriff interessant. Raoul Schindler bezeichnet die Gruppenarbeit als »Rückgrat der modernen Psychiatriereform«78. Repräsentanten der so genannten Antipsychiatrie sahen die aus ähnlichen Motivationen entwickelte Therapeutische Gemeinschaft79 gar als einzig zulässige psychotherapeutische Möglichkeit.80 Auch wenn in diesem Fall nicht unmittelbar von psychiatrischer Behandlung die Rede ist, so ist doch die Thematisierung dieser neuartigen Kommunikationsform erkennbar. Dass im zweiten Vortrag (Reformen im Gesundheitswesen am Beispiel der Psychiatrie; Psychiatrie-Enquete) Reformen in der Psychiatrie offensichtlich als notwendig erachtet werden, erscheint nach den bisherigen Dokumenten wahrscheinlich. Auch die Auseinandersetzung mit der Psychiatrie-Enquete ist angesichts ihrer schon damals großen Bedeutung nur folgerichtig. Hier ist jedoch gleichzeitig von Grenzen der Reformen die Rede. Möglicherweise wurde die Tatsache, dass beispielsweise Diskussionen um die Organisation von Kliniken, sozialpolitische Strategien oder ähnliches die Psychiatrie zu einer politischen Angelegenheit machten81, als Grenze aufgefasst. Reformen in der Psychiatrie konnten somit nicht auf den medizinischen Sektor begrenzt bleiben, sondern bedurften ebenso politischer und gesellschaftlicher, also wesentlich schwieriger zu erreichender Veränderungen. Eine Vorlesung über »sogenannte hoffnungslose Jugendliche«, vorgetragen vom SSK Köln, lässt erneut Verknüpfungen bis hin zur Antipsychiatrie zu: Asoziales Verhalten ist demnach unbewusster Protest gegen bestehende Gesellschaftsverhältnisse.82 Ausgangspunkt für diese Überlegungen bildeten die in den siebziger Jahren zunehmend deutlicher werdenden Mängel in der Heim-
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Koenen, Jahrzehnt, S. 127. Zit. n. Veltin, S. 109. Siehe hierzu auch S. 16. Vgl. Schott/Tölle, S. 211. Vgl. Brink, S. 179. Vgl. Rudloff, S. 206.
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erziehung.83 Folglich wurden in diesem Zusammenhang weniger die Jugendlichen als die bestehende Gesellschaft insgesamt als »hoffnungslos« betrachtet. Im Folgenden soll nun näher auf die drei in Flugblättern gesondert angekündigten Vorträge eingegangen werden. Dr. Gecks Vortrag über die »Free Clinic Heidelberg« befasste sich mit »Alternativen medizinischer Praxis, Gruppentherapie, Drogenberatung«. Ziel dieser Einrichtung sei es, den Menschen aus der so genannten Heidelberger Szene, zu der vor allem Drogen-, Alkohol- und Medikamentenabhängige gezählt wurden, in einem »möglichst umfassenden Sinne gerecht zu werden«. Erreicht werden sollte dies dadurch, dass der »Hilfesuchende« in seiner Einheit als Mensch erhalten blieb und nicht beispielsweise in den medizinischen, psychischen oder juristischen Fall beziehungsweise Aspekt zergliedert wurde. Die Schlagwörter »Entprofessionalisierung der Berufe« und »umfassende kollektive Praxis« dienten hierbei als Leitideen bei der angestrebten möglichst unbürokratischen und in Selbstorganisation geregelten Verschmelzung von medizinischer Praxis, Kommunikationszentrum, Gruppenprogrammen, juristischer Beratung und Informationen für Frauen (IFF).84 Die möglicherweise noch vom Sozialistischen Patientenkollektiv Heidelberg beeinflusste »Free Clinic« lehnte mit ihren Zielen also wie ihre radikalen Gesinnungsgenossen vom SPK das bestehende Gesundheitssystem im Ganzen und dessen Personalisierung im Arzt-Patienten-Verhältnis ab.85 Die 1972 aus dem damaligen »Release-Centrum« hervorgegangene »Free Clinic Heidelberg« konzentrierte sich zunächst auf jugendliche Drogenabhängige. Beeinflussen ließ sie sich von verschiedenen Vorbildern: Einerseits von Sucht-Selbsthilfeorganisationen vor allem in den USA (Syanon, Daytop, Phoenix House), daneben vom Heidelberger »Release-Centrum«86, andererseits aber auch von Experimenten der Antipsychiatrie (Basaglia, Lang und Cooper als namentlich genannte Vertreter), die durch die »Politisierung des gesellschaftlichen Faktors« gekennzeichnet sei. Neben dem »emanzipatorische[n] Erziehungsprojekt von Paulo Freire87« beriefen sich die Vertreter der »Free Clinic« auf 83 Vgl. ebd., S. 204. 84 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Vortragsreihe Probleme der Psychiatrie: Dr. Geck, Free Clinic Heidelberg«, S. 1. 85 Vgl. Brink, S. 170. 86 Siehe auch Fußnote zum Referenten Karl Geck zu Beginn dieses Teilkapitels. 87 Paulo Freire (1921 – 1997) war ein brasilianischer Pädagoge. Während seiner Arbeit in einer sozialen Einrichtung zur Betreuung der Arbeiterschaft wurde er mit den Problemen der sozial Schwächsten konfrontiert und leitete Kurse zur Erziehung, Alphabetisierung und politischen Schulung. Aus seiner Alphabetisierungskampagne entwickelte sich später seine »Erziehung als Praxis der Freiheit bzw. die Pädagogik der Unterdrückten«. Für sein soziales Engagement erhielt er Mitte der Fünfziger Jahre die Ehrendoktorwürde der Universität Recife. Vgl. Schrön, S. 3.
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die Selbstorganisation unterprivilegierter Gruppen beziehungsweise auf »radikale Sozialarbeit«, für die weitere »Free Clinics« in den USA sowie SSK und Georg-von-Rauch-Haus88 in Berlin als Vorbilder genannt wurden.89 Orientierung gaben hier also theoretische Überlegungen wie die Antipsychiatrie und praktische Vorbilder, zum Beispiel in Form von Selbsthilfegruppen. Offenbar unternahm der Sprecherrat Nervenklinik hier den Versuch, den Bonner Zuhörern Reformüberlegungen und Vorbilder vorzustellen, deren theoretische Grundlagen sich in der praktischen therapeutischen Arbeit verwirklichen zu lassen schienen. Verstärkt wird dieser Eindruck, wenn in dem entsprechenden Flugblatt von den »praktisch wichtigsten Vorbilder[n]« die Rede ist: Hierbei handele es sich um die »unzähligen anonymen, individuellen und kollektiven Initiativen in unserem direkten Lebensbereich«, die wie die »Free Clinic« selbst nach Alternativen suchten und sich wie diese »dauernd zwischen Konfusion und Erkenntnis, Konsequenz und Inkonsequenz, Erfolg und Scheitern, Hoffnung und Resignation« bewegten.90 Die Heidelberger erklärten sich damit solidarisch mit den sicher bewusst nicht als Kranke bezeichneten Menschen (beziehungsweise Patienten) und zeigten insofern Verständnis für sie, als sie sich offenbar in deren Lage hineinversetzen zu können glaubten. Wie vom SPK in drastischer Weise vertreten, so finden sich hier zumindest Ansätze von Infragestellung und Umcodierungen medizinischer Grunddefinitionen von Gesundheit und Krankheit.91 Somit kann man neben dem ausdrücklich beschriebenen Bezug auf die Antipsychiatrie davon ausgehen, dass eine entsprechende radikale (weil grundsätzliche) Psychiatriekritik in Bonn zumindest in kleinem Kreis stattfand. Ausgangspunkt der Überlegungen, die die Free Clinic zu ihren Therapiezielen führte, war die »Erkenntnis, dass das Problem der Drogenabhängigen nicht isoliert von der gesellschaftlichen Realität« sei. Ein Fixer als isoliertes Individuum dürfe nicht mit dem Attribut »krank« versehen werden, da sein Problem bei allen Menschen Analogien aufweise. Diese seien zwar nicht in jedem Falle so
88 Das Georg-von-Rauch-Haus wurde Ende 1971 von Jugendlichen des Kreuzberger Jugendzentrums mit der Parole »Kämpfen-Lernen-Leben« besetzt. Den Besetzern bot die Einrichtung nach eigener Auffassung »Wohn-und Selbstbestimmungsmöglichkeiten fuer Lehrlinge, Jungarbeiter und Trebegaenger«. Auf die Besetzung des ehemaligen Schwesternwohnheims des Krankenhauses am Mariannenplatz spielte Rio Reiser mit seiner Band »Ton Steine Scherben« in dem »Rauch-Haus-Song« an. Dort heißt es: »Der Mariannenplatz war blau, […]« (Blau von den Blaulichtern der Polizeifahrzeuge). Vgl. Schumann, S. 287; Kollektiv des Georg-von Rauch Hauses, Presseerklärung, o.S.; Dubilski, S. 250. 89 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Vortragsreihe Probleme der Psychiatrie: Dr. Geck, Free Clinic Heidelberg«, S. 1 f. 90 Ebd., S. 2. 91 Vgl. Brink, S. 172.
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zerstörend, jedoch grundsätzlich »Ausdruck derselben, die Basis unserer Gesellschaft bildenden Haltung«.92 Eine Definition der daraus folgenden – bewusst in Anführungszeichen gesetzten – Therapie fiel sehr simpel aus und wurde auch nicht näher erläutert: Diese sei der »Versuch eines Zusammenlebens und Zusammen-Produktivseins«. Umgehend wurde auf Kritik dieser Haltung Bezug genommen, die diese Praxis offenbar als utopisch verwarf. Der Grund für jene Zweifel war nach Auffassung des Verfassers offenbar nicht bei etwaigen inhaltlichen Fehlern der Theorien zu suchen, sondern sie schienen vielmehr deshalb verbreitet, »weil den meisten unsere technologische, profitorientierte, vermasste, selbstzerstörerische, ersatzbefriedigende, kurzum entfremdete Gesellschaftsordnung und deren weltanschaulicher Überbau zur resignierend hingenommenen Selbstverständlichkeit geworden« sei.93 Diese nicht weiter begründete Fundamentalkritik an der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung verdeutlicht noch einmal explizit einen der Medizin entgegen gesetzten Krankheitsbegriff: Krankheit bleibt nicht auf den einzelnen beschränkt, sondern ist mit den gesellschaftlichen Verhältnissen untrennbar verflochten. Drogenabhängigkeit ist demnach Symptom der kranken Gesellschaft. Der Vortrag am 24. Juni über die Soziale Selbsthilfe Köln e.V. (SSK) wurde wie die vorangegangene Veranstaltung mit einem aussagekräftigen Flugblatt angekündigt. Der interessierte Student sollte an diesem Termin etwas über die praktische Arbeit mit Jugendlichen, die aus geschlossenen Heimen und LKHs geflohen seien, beziehungsweise über die so genannten »Praktiken« des Landschaftsverbandes Rheinland lernen. Dazu wurden einleitend zwei vermeintliche »Fälle von Irrsinn« vorgestellt. Einmal Rolf R., der, weil »eine Kinderpflegerin auf der Karteikarte des damals ca. 3 jährigen […] den Vermerk machte: ›frühkindlicher Gehirnschaden‹«, 18 Jahre lang durch die »Mühlen der Psychiatrie wandern« musste, erst Kinderpsychiatrie, später Landeskrankenhaus. Dort herausgekommen sei er nur durch die Hilfe des SSK, dessen Mitarbeiter die Vormundschaft übernahmen, sodass er nun mit 25 Jahren endlich lesen und schreiben gelernt habe und seit drei Jahren halbwegs normal leben könne. Auch der ebenfalls entmündigte Heinz E., der sechs Jahre im Landeskrankenhaus behandelt worden sei, habe durch die Hilfe des SSK seine Mündigkeit zurück erhalten und klage zur Zeit mit guten Erfolgsaussichten auf eine »Entschädigung der verlorenen Jahre«.94 92 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Vortragsreihe Probleme der Psychiatrie: Dr. Geck, Free Clinic Heidelberg«, S. 2. 93 Ebd. 94 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Vortragsreihe:
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Verantwortlich für solchen »Irrsinn« sei der Landschaftsverband Rheinland als Träger von Landeskrankenhäusern, Erziehungsheimen und anderen Einrichtungen. Mit seinem Etat von 5 Milliarden D-Mark schien er nichts weiter zu leisten als die Menschen, »deren Schicksale von ihm bestimmt oder mitbestimmt« wurden, jeden Einfluss auf die »Entscheidungen der Bürokraten zu nehmen«. Der Verband habe nämlich dafür gesorgt, dass seine Beamten mit ihren Klienten nicht in Berührung kämen: »Die Seele des Ganzen heißt Berichtswesen«. Der SSK sah sich nun als Alternative zur üblichen Heimerziehung und richtete bereits 1969 ohne Absprache mit den Behörden so genannte »Wohnkollektive« ein. Nachdem die Stadt Köln die zeitweise finanzielle Unterstützung eingestellt hatte, gründeten die Mitglieder ein »Entrümpelungsunternehmen«, das zur damaligen Zeit angeblich etwa 60 bis 80 Menschen beschäftigte. Neben Wohnung, Kleidung und Möbeln erhielt jeder von ihnen monatlich 40 D-Mark für Lebensmittel. Jeden Morgen fände zudem eine Versammlung statt, auf der die Arbeit für den Tag verteilt werde und auf der »Probleme, die sich durch das Zusammenleben und -arbeiten ergeben, besprochen und geklärt« würden. Die Strahlkraft dieser Einrichtung war offenbar so groß, dass sich laut SSK nach einiger Zeit nicht nur obdachlose Jugendliche, sondern auch arbeitslose junge Menschen, Erwachsene und Alte an die Selbsthilfeeinrichtung wandten und um Hilfe baten: »Sie alle haben eins gemein: sie fühlen sich von Ämtern und Behörden verschaukelt und betrogen, und wußten nicht, wie sie allein zu ihrem Recht kommen sollten.« Hier sah die konkrete Hilfe des SSK offenbar so aus, dass man mit den Betroffenen zu den entsprechenden Ämtern ging, »da sich die S S K Mitarbeiter besser in den Sozialgesetzen auskennen«. Auch wenn das meist schon reiche, scheue sich der SSK nicht, bei Bedarf den »Bedürftigen oder Unerfahrenen gerichtlich zu ihrem Recht zu verhelfen«. Das LKW-Unternehmen war dabei ausdrücklich nur die Basis, um die eigentliche Arbeit des SSK, »den Kampf gegen die allgemeine Unterdrückung anzugehen«, finanziell zu ermöglichen. Aufpeitschend erklärte man am Schluss des Flugblatts: »Wir sind lange genug in den Arsch getreten worden[.] Wir wollen Arbeit – keine Ausbeutung und Unterdrückung[.] Wir wollen Wohnungen – keine Heime[.] Wir wollen Anerkennung und Liebe – keine Fürsorge[.] Dafür kämpfen wir[…] Wir werden siegen !!!«95
Die Mängel in der psychiatrischen Versorgung wurden hier also sehr konkret und schonungslos angeprangert. Natürlich lässt sich im Nachhinein nicht Probleme der Psychiatrie – SSK e.V. berichtet über : ›Praktische Arbeit mit Jugendlichen, die aus geschlossenen Heimen und LKH’s abgehauen sind. Zu den Praktiken des Landschaftsverbandes Rheinland«, 24. 06. 1976, S. 1. 95 Ebd., S. 1 f.
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überprüfen, ob die geschilderten Fälle in dieser Form wirklich existierten. Wenn wir aber davon ausgehen, dass das SSK die Zustände annähernd zutreffend beschrieb, so darf man die Anklage an den Landschaftsverband Rheinland für berechtigt halten. Ob der SSK andererseits tatsächlich der »barmherzige Samariter« war, für den er sich ausgab, darf bezweifelt werden. Mit keinem Wort erfuhr man nämlich, wieso beispielsweise die Stadt Köln ihre finanzielle Unterstützung einstellte. Auch ging die SSK ganz selbstverständlich davon aus, dass alle Patienten in den Landeskrankenhäusern dort zu Unrecht eingewiesen seien und allein durch Flucht aus diesem Umfeld wieder genesen könnten. Sicher lag und liegt die Wahrheit dazwischen. Wegsperren und Entmündigung sind aus heutiger Perspektive sicherlich nicht mehr das Mittel der Wahl bei der Behandlung psychisch Kranker. Integration in das soziale Umfeld sollte soweit wie möglich erhalten bleiben. Jedoch erscheint es gleichwohl naiv zu glauben, dass so alle psychiatrischen Krankheiten angegangen werden könnten. Blickt man auf die heutigen Standards in der Psychiatrie, so darf man jedoch behaupten, dass die Ansätze des SSK durchaus richtige Elemente enthielten, die langfristig in die Therapien auch der Landeskrankenhäuser Eingang fanden. Der Sprecherrat Nervenklinik bot für diese Kritik eine Plattform, die es kritischen oder auch nur allgemein interessierten Studenten ermöglichte, die Methoden des Landschaftsverbands Rheinlands zu hinterfragen und Alternativen zu den gängigen Praktiken kennen zu lernen. Daran anknüpfend befasste sich die letzte Veranstaltung der Vorlesungsreihe mit dem Einfluss gesellschaftlicher Normen auf den Krankheitsbegriff in der Psychiatrie. Ein Vergleich zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Vietnam ergänzte den Vortrag. Professor Wulff, der von 1961 bis 1967 als Referent an der Universität Hu¦ lehrte und nach seinen Erfahrungen dort für die Nationale Befreiungsfront Südvietnams Partei ergriff, hatte im Juli 1976 bereits einige Arbeiten über seinen Aufenthalt im Vietnam, Psychiatrie und Fragen der Ethnomedizin veröffentlicht.96 Während seiner Beschäftigung mit der so genannten Ethnopsychiatrie beziehungsweise transkulturellen Psychiatrie untersuchte Wulff, ob Verbreitung und Symptomatik von Psychosen innerhalb anderer Zivilisationen Unterschiede aufweisen, und versuchte, die festgestellten Unterschiede mit kulturgeschichtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Besonderheiten in Beziehung zu setzen. Die Frage lautete also: Wie weit halten bestehende psychopathologische Begriffe
96 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Prof. E. Wulff: Einfluss gesellschaftlicher Normen auf den Krankheitbegriff in der Psychiatrie – Vergleich: BRD – Vietnam«, S. 1.
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einer Erprobung in fremdem Kulturmilieu stand, das heißt inwieweit sind sie selbst kulturgeschichtlich, sozial oder wirtschaftlich bedingt?97 Die hier angeschnittene Problematik enthält deutliche Parallelen zu einer wichtigen These der Psychiatriekritik, nach der eine wirkliche Wechselbeziehung zwischen dem Prozess des Bezeichnens (der Praxis der Psychiatrie) und dem des Bezeichnetwerdens (der Rolle des Patienten) ebenso undenkbar wie nicht gegeben scheint.98 Ronald D. Laing99 fand drastische Worte: »Jemand, dessen Geist in die Metapher gesperrt ist, kann sie nicht als Metapher erkennen. Es ist doch ganz klar : Wie, wird er sagen, kann denn jemand, der unverkennbar krank ist, dadurch krank werden, daß man ihn als krank diagnostiziert?«100
Folgt man dieser Kritik, so erscheinen Theorie und Praxis der Psychiatrie zumindest in dieser Hinsicht als Versuch in undialektischem Denken und undialektischer Praxis.101 Doch zurück zu den Thesen des Flugblattes: Die Schwierigkeit der Ethnopsychiatrie liege zunächst allgemein in der »Erfassung des Spielraums von Normalität, auf dessen Hintergrund sich die psychopathologischen Erscheinungen abheben sollen«. Der Gegensatz zwischen »Soziopathie« (veränderte, abweichende soziale Einstellung) und »Normopathie« (Verschleierung von Widersprüchen, Glättung von Konflikten, Überindentifikation mit angebotenen Konventionen der anderen) lasse »irrationale Befolgung und irrationale Sprengung der Normen« zu zwei nur scheinbar gegensätzlichen Aspekten eines im Prinzip gleichen Phänomens werden.102 Die wahrgenommene Verflechtung 97 Vgl. ebd. 98 Vgl. Laing, S. 130. 99 Ronald D. Laing (1927 – 1989) war ein englischer Psychiater und Psychoanalytiker, daneben eine der emblematischsten Figuren jener Bewegung, die zwischen 1950 und 1970 die gesamten Ideale der bürgerlichen Gesellschaft westlicher Prägung ins Wanken brachte. Zusammen mit David Cooper gründete er die englische antipsychiatrische Bewegung sowie unter anderem das Kingsley Hall Hospital, in dem schizophrene Patienten behandelt wurden. Wie alle Väter der antipsychiatrischen Bewegung sah Laing im Wahnsinn »ein Übergangsphänomen und eine bestimmte Lebenssituation, aber nicht eine Krankheit, also eine Strategie, die das Subjekt erfindet, um mit einer nicht lebbaren Situation fertig zu werden«. Gleichzeitig war für ihn eben jener Wahnsinn eine verständige Reaktion auf eine Welt, die ihrerseits den Verstand verloren hatte. Der vermeintlich normale Mensch ist demnach nur ein Kranker, der von seiner Krankheit nichts weiß. In seiner 1985 erschienenen Autobiographie gestand er jedoch den Misserfolg seiner Behandlungsmethoden der Schizophrenie ein und distanzierte sich von den meisten seiner früheren Theorien. Vgl. Roudinesco/Plon, S. 606 f. 100 Laing, S. 130. 101 Vgl. ebd. 102 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Prof. E. Wulff: Einfluss gesellschaftlicher Normen auf den Krankheitbegriff in der Psychiatrie – Vergleich: BRD – Vietnam«, S. 2.
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von Krankheit und Gesellschaftsordnung blieb dabei nicht auf Deutschland beziehungsweise auf die kapitalistische Gesellschaft beschränkt, sondern wurde als universal geltender Zusammenhang aufgefasst. Trotzdem trage das »Leiden an den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft« charakteristische Züge. Die (nicht näher definierte) vergleichende Psychiatrie könne zeigen, dass bestimmt Krankheitsformen und -symptome spezifische gesellschaftliche Bedingungen verlangten:103 »Sozialisationsformen, die von wirtschaftlichen Notwendigkeiten, kulturellen Leitbildern, etc. abhängen, bringen Krankheitsbereitschaften hervor, die zu ihrer Manifestation wieder bestimmte gesellschaftliche Bedingungen bevorzugen.«104
Wulff glaubte in diesem Zusammenhang unter anderem bezüglich Schizophrenie und Ich-Störungen in Vietnam die Abhängigkeit von sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Voraussetzungen nachgewiesen zu haben.105 Seine Veröffentlichungen bildeten hierbei sicherlich keine Einzelmeinungen. Insbesondere die Jahre 1969 – 1974 kennzeichnet eine große Zahl psychiatriekritischer Schriften, die teilweise sogar die Existenz psychischer Krankheiten ganz leugneten und damit der Psychiatrie als Institution ihre Rechtfertigung absprachen.106 Die praktische Umsetzung psychiatriekritischer Theorien darf also als Schwerpunkt der Vorlesungsreihe im Sommersemester 1976 aufgefasst werden: Wie »therapiert« man von der Gesellschaft diskriminierte und diffamierte Menschen (beispielsweise Drogenabhängige), die den psychiatriekritischen Voraussetzungen folgend nicht oder nur sehr eingeschränkt für ihr Leiden verantwortlich sind beziehungsweise nur im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen eine Art Heilung erfahren können? Die Zeit nach der Psychiatrie-Enquete, deren Schlussbericht zu diesem Zeitpunkt bereits ein Jahr zurück lag, war dadurch geprägt, dass die beteiligten Psychiater und andere Mitarbeiter die Reform in ihren Arbeitsbereichen vermittelten und förderten.107 Praktische Umsetzung war also ein wichtiges Thema. Möglicherweise versuchte der Sprecherrat Nervenklinik durch diese Vortragsreihe, andere (teilweise sicher auch radikale) Praktiken zur Diskussion zu bringen und Sympathien zu wecken. Als die Vortragsreihe zu Beginn des Semesters angekündigt wurde, sahen sich die Veranstalter mit einem Problem konfrontiert: Da die Kosten der Veranstaltungen die Fachschaft finanziell überforderte, war diese auf Zuschüsse des »Studium Universale« angewiesen. Nur die Vorträge von Herrn Amendt und 103 104 105 106 107
Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Häfner, S. 125 f. Vgl. Schott/Tölle S. 312 f.
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Herrn Wulff »fanden das Wohlwollen der zuständigen Herren«, den restlichen drei Vorträgen wurde die Förderung hingegen verweigert, da angeblich Zweifel an der wissenschaftlichen Qualifikation der Dozenten bestanden.108 Provozierend fragte der Sprecherrat Nervenklinik: »[…] wonach beurteilt ein Philosoph [Prof. Kluxen, Geschäftsführer des Studium Universale], fachmännisch unterstützt von einem Urologen, die Qualifikation des Soziologen Novak, die Arbeit von Dr. (med[.]) Geck und seines Teams und die des SSK, wenn nicht nach politischen Kriterien?«109
Vielmehr glaubte der Sprecherrat die mangelnde Kompetenz der Professoren darin zu erkennen, dass sie lediglich »fehlende Titel oder Amtswürden« als Argumente anführten. Es blieb nicht bei diesen Vorwürfen. Dass ein Soziologe über das Thema Enquete spreche (das viele soziologische Bezüge habe), sei nur natürlich, zumal fachübergreifendes Wissen gerade Intention des Studium Universale sei. Auf Beiträge der Free Clinic und des SSK seien die Studenten insofern angewiesen, als ein Mangel an praktischer Ausbildung herrsche: »Was nützt uns ein Referat eines ›hochqualifizierten‹ Herren mit 5 Titeln über ein Thema, das er höchstens als Außenstehender kennt?« Die vom Sprecherrat Nervenklinik organisierten Vorträge sollten diesen Mangel ausgleichen und der »einseitigen Fixierung unserer Ausbildung auf die rein somatische Psychiatrie« entgegen wirken.110 Trotzig stellte der Verfasser angesichts der aktuellen Lage des Streits die Frage nach dem Sinn des »Studium Universale«. Dazu verglich er die angeblich gut besuchten Vorträge des Sprecherrats Nervenklinik, auf denen die Zuhörer, »die mit ihrem Schmalspurstudium nicht zufrieden sind«, »mit nie gekannter Hingabe« diskutierten, mit einem schlecht besuchten Vortrag über Renaissancekunst. Betont wurde hierbei, das »Studium Universale« sei verpflichtet, Veranstaltungen zu fördern, die an den Interessen möglichst vieler orientiert seien. Lust am Konflikt zeigte auch die abschließende Versicherung an die Leser, dass die Vorträge auch ohne Unterstützung stattfinden würden.111 Der Sprecherrat Nervenklinik wertete Zweifel an der Wissenschaftlichkeit seiner Veranstaltungen offenbar als Provokation und wirkte zutiefst gekränkt. Der eher unpassende Vergleich zweier Vorträge aus völlig unterschiedlichen Fachbereichen erscheint vor diesem Hintergrund recht schief und als Mittel zum Zweck. Auch die Finanzierung immerhin eines Teils der Vorträge durch das »Studium Universale« wertete niemand als Kompromiss, auf dessen Basis sich diskutieren ließe. Vielmehr wurde es als selbstverständlich hingenommen, dass 108 109 110 111
UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Med-INFO Nr. 33, Mai 1976, S. 12 f. Ebd. Ebd. Ebd., S. 12 f.
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alle Forderungen – im finanziellen wie fachbezogenem Sinne – widerspruchslos von Seiten der Universität erfüllt zu werden hatten.112 Der Protest wirkt deshalb bisweilen schrill und pubertär. Das ist insofern bemerkenswert, als man den Vorträgen sicherlich zu Gute halten muss, dass in ihnen auch Gedanken geäußert wurden, deren Umsetzung sich im Bereich der Psychiatrie bewährt hat. Zumindest in Teilen wirklich fortschrittliche Ideen wie etwa die Frage nach den Hintergründen psychiatrischer Erkrankungen standen also in deutlichem Kontrast zu den begierig zuhörenden Studenten, die sich damals sicher gern als ebenso fortschrittlich bezeichnet hätten, in Wahrheit jedoch eher emotional handelten und unverhältnismäßig reagierten. Dabei ist es zunächst unerheblich, ob die Zweifel von Seiten der Universität überhaupt berechtigt waren. Festzuhalten bleibt, dass man sich als Sprecherrat auf ganzer Linie durchsetzen wollte und sich im Recht sah, so sehr, dass selbst Kompromissangebote unzumutbar erschienen. Die folgende Ausgabe von »med-INFO« bezog sich erneut auf den bislang ungelösten Streit. Nach »Intervention eines Pädagogik-Profs« erklärte sich der Geschäftsführer des »Studium Universale«, Professor Wolfgang Kluxen113, dazu bereit, auch die Veranstaltung des SSK zu finanzieren. In einem Brief vom 13. Mai 1976 forderte er im Gegenzug jedoch Garantien dafür, »daß es sich tatsächlich um Wissenschaft handelt«. Nach Rücksprache mit dem Dekan der Medizinischen Fakultät und »Kollegen anerkannter Kompetenz« aus Heidelberg und Homburg entschied der Geschäftsführer, die Vorträge von Professor Novack und der Free Clinic Heidelberg nicht zu finanzieren. Auch die Tagung der vom Senat eingesetzten Kommission für das »Studium Universale« kam zu keinem Ergebnis.114 Trotz des Streits fand der Vortrag Professor Novacks am 20. Mai 1976 statt und lockte laut Verfasser eines Artikels, der in »med-INFO« im Juni 1976 gedruckt wurde, 200 Studenten in den Hörsaal, was als großes Interesse seitens der Studentenschaft interpretiert wurde. Womöglich wirkte auch der durch die 112 Selbst die bedürfnislosesten der studentischen Revolutionäre – so erklärt Norbert Klein – wollten ganz selbstverständlich die grundlegenden Vorzüge und Freiheiten des westlichen Lebens (auch die materiellen) jederzeit beanspruchen. In diesem Gegensatz erkannte er einen Moment des Unglaubwürdigen und Doppelzüngigen. Jedoch bedeutete es ihm auch ein wenig Trost: »So ernst, wie viele Parolen klangen, nahmen es (und sich) doch wohl nur wenige.« Klein, S. 217. 113 Wolfgang Kluxen (1922 – 2007) war ein deutscher Philosoph, Mediävist und Ethiker, der wie kaum ein anderer Denker die Scholastik-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg prägte. Er gilt als einer der Initiatoren der »Rehabilitation der praktischen Philosophie« im 20. Jahrhundert. 1969 übernahm er eine Professur für Philosophie an der Universität Bonn. In den Jahren 1976/1977 war Kluxen Dekan der Philosophischen Fakultät, wo er nach seiner Emeritierung im Jahr 1988 weiterhin lehrte. Vgl. Gottlöber, Kluxen, o.S. 114 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 34, Juni 1976, S. 11.
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studentischen Schriften erzeugte Wirbel förderlich auf die Teilnehmerzahl. Die Veranstalter setzten nun offenbar darauf, Protest zu mobilisieren: Angeblich »hunderte von Kommilitonen« unterstützen eine Unterschriftenaktion mit der »Forderung nach sofortiger Finanzierung der Vortragsreihe«. Eine sicher ähnlich intendierte Resolution auf der Fachschaftsleiterkonferenz und die Unterstützung durch den AStA ergänzten den selbstbewussten Widerstand.115 Immerhin erreichte der Protest, dass Professor Novacks Vortrag nun doch finanziert wurde. Trotzdem sparte »med-INFO« keineswegs mit Kritik und zeigte sich kompromisslos: Die Verantwortlichen auf Seiten der Universität forderten einerseits Meinungsvielfalt und Wissenschaftlichkeit, würden aber inhaltliche Einwände hinter Forderungen nach Garantien für eben jene Wissenschaftlichkeit verbergen, sodass das Eingreifen eines habilitierten Pädagogen nötig gewesen sei, um die Veranstaltung durchführen zu können. Dabei wurde offen angezweifelt, dass der Dekan der Medizinischen Fakultät beziehungsweise seine »Kollegen anerkannter Kompetenz« die richtige Instanz für Auskünfte über Wissenschaftlichkeit seien. Vielmehr leiteten die kritisierten Personen aus »Amt und Würden« wissenschaftliche Autorität und Anspruch auf Beurteilung ab.116 Ihnen wurde so Befangenheit unterstellt. Die Forderung, auch den Vortrag der Free Clinic zu finanzieren, wurde am Schluss des Artikels nochmals betont. Darüber hinaus glaubte der Verfasser die Vorgehensweise der universitären Amtsträger als unmittelbare inhaltliche Kontrolle durch das »Studium Universale« und damit Beschneidung »unserer Informationsmöglichkeiten« entlarven zu können.117 Ob auch diese verbliebene Veranstaltung finanziert wurde, bleibt offen. Das ankündigende Flugblatt hierzu legt jedoch die Annahme nahe, dass sie höchstwahrscheinlich durchgeführt werden konnte, möglicherweise auch ohne finanzielle Unterstützung durch die Universität. Auffällig ist also ein scharfer, gelegentlich aggressiver Ton seitens des Sprecherrats und der Fachschaft. Kompromisse und Dialog erschienen von vornherein inakzeptabel. Stattdessen übten sich die Studenten im Fordern und waren auch nach Zugeständnissen von Seiten ihrer Gegner nicht dazu bereit, von diesen Forderungen Abstand nehmen. So wie bei den Beweggründen und Rechtfertigungen für gewalttätige und spektakuläre Aktionen, wie man sie bei vielen ihrer Achtundsechziger-Kollegen findet, die allerdings bei den Bonner Medizinern so sicher nicht stattfanden, wurde wahrscheinlich das von Jürgen Busche beschriebene Scheinrisiko der bedrohlich wirkenden Zusammenrottung ebenso reizvoll wie das vermeintlich hehre Ziel der Bewegung. Gerade das war 115 Ebd. 116 Ebd. 117 Ebd.
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Busches Auffassung nach aber oft weniger durch Gegnerschaft oder gar Hass auf den Angegriffenen bestimmt als durch eine fast kindliche Freude an der Regelverletzung, die man als Gruppe beging.118 Auch wenn es in diesem konkreten Fall sicher schwierig ist, das Verhalten der Bonner Studenten korrekt zu analysieren und obwohl es sich hier nicht um eine Regelverletzung im eigentlichen Sinn handelte, so erscheint es angesichts der hysterischen Reaktionen der Studenten auf die empfundene Repression durchaus erlaubt, auch solche Überlegungen zur Erklärung ihres Handelns heranzuziehen. Ebenso bemerkenswert ist das Verhalten der kritisierten Verantwortlichen, die offenbar dem Druck im Wesentlichen nachgaben und sich auch anscheinend nicht weiter in der Öffentlichkeit verteidigten. Möglicherweise konnte der aggressive Protest der Studentenschaft eine Art Resignation und gleichzeitig den Wunsch nach Beruhigung der Lage bewirken. Dass sich der Sprecherrat und die mit ihm sympathisierenden Studenten jedoch keineswegs in Ruhe übten, sollten ihre Aktivitäten in den folgenden Semestern zeigen.
2.1.5 Wintersemester 1976/77: Psychiatrie und Sexualität Die mittlerweile fast schon zur Tradition gewordene Vorlesungsreihe des Sprecherrats Nervenklinik wurde auch im folgenden Semester fortgesetzt und beschäftigte sich mit einem neuen Leitthema, das erneut den Wunsch nach Provokation erahnen ließ. Ziel der sich mit »Psychiatrie und Sexualität« befassenden Veranstaltungen sei es, auch hier den Krankheitsbegriff herauszuarbeiten und den Zuhörern eine »Vorstellung vom abweichenden Sexualverhalten« zu geben. Offensichtlich wurde diese Diskussion als so wichtig erachtet, dass sie an das vorangehende Semester anknüpfend erneut thematisiert wurde. Gerade die Einteilung in normales und abweichendes Sexualverhalten sei für die »Ausschreitungen in der ›Therapie‹« mit verantwortlich, wofür Psychochirurgie, Kastration und Isolation in der Anstalt als Beispiele genannt wurden.119 Nach Auffassung des Sprecherrats stellte die damalige Sexualmedizin ein bisher vernachlässigtes Feld dar. Umso wichtiger erschien es den Veranstaltern, »die gesellschaftlichen Verhältnisse […], die die Ausprägung des Sexualverhaltens bestimmen und die Einstellungen der Umwelt zu Sexualität bilden«, zu erörtern.120
118 Vgl. Busche, S. 62. 119 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Sprecherrat Nervenklinik: Psychiatrie & Sexualität«, 04. 11. 1976, o.S. 120 Ebd.
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Vier Vorlesungen fanden in diesem Semester statt: 18. November 1976: Für und Wider bezüglich stereotaktischer Operationen bei Menschen mit abweichendem Sexualverhalten (Professor Dr. Horn, Homburg, und Dr. Rieber, Frankfurt am Main). 30. November 1976: Sexualität und Gesellschaft (Dr. Karl-Heinz Kerscher121, Hamburg). 19. Januar 1977: Homosexualität – individuelle Krankheit oder gesellschaftlicher Konflikt? – Kritik des medizinischen Krankheitsmodells (Professor Rüdiger Lautmann122, Bremen). 3. Februar 1977: Frauensexualität und Psychiatrie – »Alternativmodell Psychosoziale Initiative für Frauen gegen die patriarchalische, biologistische Psychiatrie« (Diplompsychologin Ingrid Bartsch, R. Bittmann, Heide Hammel, Berlin).123
Nicht nur bei der Ankündigung der gesamten Veranstaltungsreihe setzte der Sprecherrat Nervenklinik diesmal auf Flugblätter. Es existieren durchgehend weitere Texte dieser Art, die vor dem jeweiligen Termin des Vortrags verteilt wurden und Aufschluss über den Inhalt geben. Der Vortrag über stereotaktische Operationen bei Menschen mit abweichendem Sexualverhalten war von der Thematik her insofern bemerkenswert, als er erstmalig zwei Parteien mit gegensätzlichen Positionen Raum zu bieten schien: Professor Horn sollte offenbar für die Durchführung stereotaktischer Operationen Partei ergreifen und sich den Gegenargumenten von Professor Rieber stellen.124 Bisher deutete die Überschrift eines Vortrags in der Regel auch schon an, welche Bewertung ein bestimmtes Thema erhalten würde. Das war hier auf den ersten Blick nicht der Fall. Womöglich war der Sprecherrat Nervenklinik hier um den Eindruck von Ausgewogenheit und Objektivität bemüht (vielleicht nach Vorwürfen der Parteilichkeit). Ob diese Sachlichkeit tatsächlich erreicht wurde, ist nicht zu beantworten und auch unwahrscheinlich, da schon 121 Karl-Heinz Ignatz Kerscher studierte Erziehungswissenschaften, Soziologie und Rechtswissenschaft an der Universität Hamburg und war Anfang der Siebziger Jahre Dozent für Sozialpädagogik an der Evangelischen Fachhochschule für Sozialpädagogik der Diakonenanstalt des Rauhen Hauses. Er veröffentlichte bereits zum Zeitpunkt des Vortrags verschiedene Schriften unter anderem zu den Themen Sexualpädagogik, Sozialpädagogik und soziale Probleme. Vgl. Kerscher, Klappentext. 122 Rüdiger Lautmann (*1935) ist Professor für Soziologie an der Universität Bremen. Seit den Siebziger Jahren ist er prominent in der Homosexuellen-Forschung tätig. Vgl. Anonymus, Interview, o.S. 123 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Sprecherrat Nervenklinik: Psychiatrie & Sexualität« vom 04. 11. 1976. 124 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Sprecherrat Nervenklinik – Vortragsreihe: Probleme der Psychiatrie. Stereotaktische Operationen bei Menschen mit abweichendem Sexualverhalten«, S. 1.
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die einleitenden Worte zu der Vortragsreihe nicht den Eindruck neu gewonnener Kompromissbereitschaft weckten. Rückblickend rühmte sich der Sprecherrat in einem Flugblatt des folgenden Semesters überdies damit, den »biologistischen Sexualitätsbegriff« der Klassischen Psychiatrie kritisch behandelt zu haben.125 Das Flugblatt begann mit dem exemplarischen Beispiel des 34-jährigen Thomas R., der als hochintelligent, ruhig und reserviert, höflich und sympathisch charakterisiert wurde. Jedoch zeige er »zeitweilig unvorhersagbares Verhalten«: Die behandelnden Ärzte beschrieben ihn als »gewalttätig gegenüber seiner Frau und seinen Kindern«, die Psychiater als »paranoid mit explosionsartigen Ausbrüchen von Ärger«. Weitere Untersuchungen ergaben ein Epilepsietypisches EEG sowie diffuse Hinweise auf »andere Gehirnabnormalitäten«. Da psychotherapeutische und pharmakologische Behandlungsversuche keine Wirkung erzielt hätten, sei Thomas R. im März 1966 ins Massachussets General Hospital eingeliefert worden, wo er 1967 stereotaktisch operiert wurde. Ein nicht näher vorgestellter »Kritiker der Psycho-Chirurgie« sei dem Fall nachgegangen und habe anamnestisch keine Berichte über Halluzinationen oder paranoide Gedanken gefunden. Vielmehr sei bei Thomas R. zunächst eine »Persönlichkeitsstörung« diagnostiziert worden, was laut Flugblatt lediglich »geringe Probleme mit keiner psychotischen Symptomatologie« bedeute. Tatsächlich hätte es in dem Jahr vor der Eheschließung bereits schwere »Eheprobleme« gegeben. Nach der Entlassung habe sich dann schnell gezeigt, dass Thomas R. »die soziale Orientierung verloren hatte und nicht mehr in der Lage war, mit den Komplexitäten des ›normalen‹ Lebens fertig zu werden«. Nachdem er von der Polizei aufgegriffen und in ein nahe gelegenes Krankenhaus gebracht worden sei, sei er »verwirrt [gewesen], hatte Halluzinationen und endete in der geschlossenen Station – unter starke Drogen gesetzt«. In seinen Berichten von Elektroden, die man ihm in sein Gehirn eingeführt habe, erkannten die behandelnden Psychiater eine »reaktive Schizophrenie vom paranoiden Typ«. Fünf Monate nach seiner Entlassung wurde er auf Grund einer Schlägerei erneut festgenommen. Das Ereignis habe die »erste offiziell registrierte gewalttätige Episode im Leben des Thomas R. [markiert] – einige Jahre[,] nachdem er wegen seiner angeblichen Gewalttätigkeit psycho[]-[]chirurgisch operiert worden war. Er wurde arbeitsunfähig, unfähig, für sich selbst zu sorgen,[]und er ist verschiedentlich wieder im Krankenanstalten als ›aggressiv‹ oder ›psychotisch[‹] eingeliefert worden.«126
125 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Sprecherrat Nervenklinik – Fachschaft Medizin: Kritik der Klassischen Psychiatrie«, 02. 05. 1977, o.S. 126 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Sprecherrat Nervenklinik – Vortragsreihe: Probleme der Psychiatrie. Stereotaktische Operationen bei Menschen mit abweichendem Sexualverhalten«, S. 1 f.
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Der Sprecherrat Nervenklinik legte jedoch auf eine differenzierte Sicht der Dinge wert. So merkte er gleich im Anschluss an, dass er nicht Schädeloperationen generell ablehne. Bestehe eine medizinische Indikation, wie etwa bei Hirnblutungen, sei die Operation lebensnotwendig und nehme zu Recht »den breitesten Raum in der Neurochirurgie ein«. Jedoch habe der portugiesische Psychiater und Hirnchirurg Egas Moniz127 im Dezember 1935 erstmalig ein menschlichen Gehirn operiert in der Absicht, dessen Verhalten zu ändern: So habe er im Rahmen der ersten »Leukotomie« bei einem Schizophrenie-Patienten die Nervenverbindungen zwischen Stirnhirn und restlichem Hirn durchtrennt, der daraufhin in völlige Apathie fiel. Trotz dieses fragwürdigen Erfolges sei die neue Methode begeistert von amerikanischen Neurochirurgen aufgenommen worden, was dazu geführt habe, dass in den folgenden 20 Jahren etwa 50.000 Patienten (Schizophrene, Zwangsneurotiker, Exhibitionisten und aggressive Kinder) entsprechend operiert wurden. Abgelöst worden sei die Technik von der Elektroschocktherapie, die wiederum Ende der Fünfziger Jahre der Psychopharmakatherapie hätte weichen müssen.128 Da es in den letzten beiden Jahrzehnten zumindest ansatzweise gelungen sei, die Baupläne des Gehirns zu entziffern, die beispielsweise Zuordnungen von Hunger-, Angst- und Aggressionsempfindungen sowie Sexualität zuließen, werde nun von Neurochirurgen eine Drahtelektrode in das entsprechende Zentrum des Zwischenhirns eingeführt, von dem man glaubt, es sei für die »betreffende ›Störung‹« verantwortlich. Dieses als Stereotaxie bezeichnete Verfahren zerstöre das entsprechende Areal und werde insbesondere bei Alkoholikern, Suizidgefährdeten, Drogenabhängigen »und in zunehmendem Maße sexuell Deviante[n] wie Homosexuellen, Päderasten, Exhibitionisten und Nymphomaninnen« angewendet. Etwa 50 als sexuell abweichend bezeichnete Männer seien bisher in der Bundesrepublik stereotaktisch operiert worden. Nicht nur die Fragwürdigkeit der Operation an sich sei das Problem, sondern auch die Freiwilligkeit: »Der überwiegende Teil der Operierten waren Inhaftierte und Verwahrte, deren Entschluß entscheidend mitbestimmt wurde von der Hoffnung, sich mit der Operation die Freiheit erkaufen zu können.« Gleichzeitig 127 Egas Moniz (1874 – 1955) war ein portugiesischer Arzt, der neben der von ihm entwickelten und im Flugblatt behandelten Leukotomie vor allem durch die Entwicklung der cerebralen Angiographie Bekanntheit und Anerkennung erlangte. Für die heute nicht mehr angewendete Leukotomie erhielt er 1949 den Nobelpreis. Die Behauptung in dem Flugblatt, er sei von einem seiner Schizophreniepatienten erschossen worden, stimmt so nicht. Er überlebte den Schuss, der von einem 25-jährigen Ingenieurslandwirt in Moniz’ Praxis im neurologischen Krankenhaus Santas Marta abgegeben wurde, und starb erst 17 Jahre später. Vgl. Oakes, S. 203; Fortner, S. 25, 31. 128 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Sprecherrat Nervenklinik – Vortragsreihe: Probleme der Psychiatrie. Stereotaktische Operationen bei Menschen mit abweichendem Sexualverhalten«, S. 2.
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wurde in dem Flugblatt der Verdacht geäußert, auch wirtschaftliche Aspekte spielten eine Rolle. So zitierte man einen Göttinger Psychochirurgen: »Man muß nur bedenken […][,] welch hohe Kosten jahrelange, manchmal sogar dauernde Unterbringung eines Täters in einem Gefängnis oder in einer psychiatrischen Heilanstalt verursachen[.]« Eine einmalige Operation stehe dazu in keinem Verhältnis.129 Die Psychopathologie der Sexualität schien in diesem Gedankengang ihr Übriges zu der Misere beizutragen. Sie gehe nämlich davon aus, dass die sexuellen Perversionen Krankheiten seien, die von den gesellschaftlichen Bedingungen weitgehend unabhängig aufträten (wie beispielsweise Nierensteine oder Hirntumoren). Diese Krankheitsideologie lasse die pathogenen Faktoren der geltenden Normen außer Acht und grenze deviantes Verhalten aus dem Bereich des »Normal-Menschlichen« aus als Unmoral und Krankheit. Gleichzeitig basiere sie darauf, dass »Normalverhalten«, also Gehorsam gegenüber den Normen, zur Gesundheit hochstilisiert werde, dabei verhelfe sexuell abweichendes Verhalten zu einer negativen Bestimmung dessen, was als normale und gesunde beziehungsweise gesellschaftliche zugelassene Sexualität definiert werde. »Das anormale Verhalten wird zur Krankheit, die man eben auch operativ beseitigen zu können glaubt. Geheilt ist dann demnach, wer sich nach dem Eingriff unauffällig und moralkonform verhält und für den aus diesem Komplex Konflikte mit der Umwelt nicht mehr entstehen.«130 Diese recht fundierte Kritik an stereotaktischen Operationen spiegelt einen der Grundkonflikte zwischen etablierter Psychiatrie und Reformern wider. Es geht um den Streitpunkt, ob nicht auch die Gesellschaft Ursache für viele vermeintliche psychische Krankheiten sei und ob nicht hier der Hebel anzusetzen wäre. Schließlich wurden der patriarchalische Umgang mit psychisch Kranken und die rigide Sexualmoral der Gesellschaft radikal in Frage gestellt. Hier gilt das gleiche wie für den vorangegangenen Vortrag: Die formulierten Ideen sind heute zumindest teilweise Allgemeingut in der psychiatrischen Versorgung und lassen durchaus Verbindungen zu den Forderungen und Kritikpunkten der Psychiatrie-Enquete zu. Die folgende Vorlesung »Sexualität und Gesellschaft« war dagegen weniger sachlich und eher durch Umsturzgedanken geprägt: Ausgangspunkt der Gedanken hierzu war die Annahme, menschliches Verhalten einschließlich Sexualverhalten sei weitgehend Ergebnis von Lernprozessen: »Von Geburt an prägt uns unsere Kultur – anders als viele andere Kulturen vor und neben ihr – durch ein vielfältiges System von Beeinflussung nach einer streng heterosexuellen Norm. Die Sitten sind als historische und von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedliche Nor129 Ebd. 130 Ebd.
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men zu begreifen, die sich aus den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen ergeben. Solche Normen sind veränderbar!«131
Hierbei nehme gerade bei den Industriegesellschaften das »traditionelle antisexuelle Syndrom« eine herausragende Stellung ein. Die Sexualerziehung hatte demnach folgende Aufgaben: Neben der Reduktion auf die Fortpflanzungsfunktion solle sie Männer und Frauen dazu bewegen, ihre Rollendifferenzierung zu übernehmen und die Kleinfamilie132 als anzustrebende Lebensform zu wählen. Das voreheliche Leben sei dafür vorgesehen, Triebbeherrschung zu erlernen. Insgesamt gesehen rechtfertige die Sexualerziehung so die herrschenden Ordnungsvorstellungen.133 Ganz im Sinne der so genannten Kritischen Theorie wurde also die bürgerliche Kleinfamilie als Produktionsstätte jenes autoritären Charakters entlarvt, der dazu disponiert war, sich irrationalen Zwängen zu unterwerfen.134 Unter dem Schlagwort »Zwangsfamilie als Erziehungsapparat« wurde die »politische [!] Funktion« der Kleinfamilie näher erläutert: Einerseits reproduziere sie sich selbst, indem sie sich selbst verkrüppele. Durch den Erhalt dieser »patriarchalischen Familie« könne dann auch die Sexualunterdrückung mit all ihren Folgen (Sexualstörungen, Neurosen, Geisteskrankheiten, Sexualverbrechen) konserviert werden. Andererseits erzeuge die Kleinfamilie den »autoritätsfürchtigen, lebenslänglichen Untertanen« und schaffe immer neue Möglichkeiten, Massen durch eine »Handvoll Machthaber« zu beherrschen. Damit sei die Familie ein Bollwerk der von konservativen Kräften favorisierten Gesellschaftsordnung.135 131 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Vortragsreihe Probleme der Psychiatrie: Sexualität und Gesellschaft«, S. 1. 132 Mit »Kleinfamilie« ist hier die so genannte bürgerliche Familie gemeint: Mitte des 20. Jahrhunderts dominierte eine bestimmte Familienform für etwa zwei Jahrzehnte, die als bürgerliche Familie bezeichnet wird und auch heute noch in gewissem Umfang die Idealvorstellungen von Familie prägt. In den sechziger Jahren setzte dann ein Wandlungsschub bezüglich der Lebensformen in der Gesellschaft ein. Das Modell der bürgerlichen Familie und seine institutionelle Basis verloren zunehmend an Relevanz. Zwar nahm die Bedeutung von Partnerschaft und Elternschaft zu, allerdings kam es zu umfangreichen Veränderungen bei der inhaltlichen Ausgestaltung dieser Beziehungen. Das Modell der bürgerlichen Familie ist mit einer Reihe klarer normativer Regeln verbunden, die in Deutschland dann ab den Siebziger Jahren zunehmend hinterfragt wurden und an Relevanz verloren. Wichtige Indizien der Veränderung waren beispielsweise die Abkopplung von Sexualität und Ehe, Rückgang der Zahl der Eheschließungen und die zunehmende Zahl der Personen, die in nichtehelichen Lebensgemeinschaften und in Einpersonenhaushalten lebten. Vgl. Huinink/ Schröder, S. 89 – 91. 133 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Vortragsreihe Probleme der Psychiatrie: Sexualität und Gesellschaft«, S. 1. 134 Vgl. Voßberg, S. 143. 135 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Vortragsreihe Probleme der Psychiatrie: Sexualität und Gesellschaft«, S. 1 f.
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In diesem Sinne galt es für die Studenten, jenen erkannten Zusammenhang zu denunzieren. Der Kampf gegen den »Terrorzusammenhang der Kleinfamilie136« wurde so für die gesamte Achtundsechziger-Bewegung zu einer wichtigen Aufgabe.137 Bemerkenswert ist, dass die erfolgreiche Erziehung (im Sinne der bestehenden gesellschaftlichen Vorstellung von »erfolgreich«) eines Jugendlichen mit der Anpassung an die sexuellen Forderungen der Umwelt gleichgesetzt wurde. Man glaubte diese Praxis auch in anderen Bereichen zu finden. Repressive Sexualerziehung war hier also nur der Anfang einer ganzen Reihe von Mechanismen: Das daraus resultierende schlechte Gewissen bewirkte wiederum ein unbewusstes Strafbedürfnis, das den Menschen zwangsläufig der Manipulation autoritärer Systeme ausliefert. Die »Schamerziehung« wurde in diesem Zusammenhang als Teil der Erziehung zum schlechten Gewissen entlarvt. Die damit verbundene Angst, verursacht durch »Gerede der Leute« oder durch das vom (bewusst in Anführungszeichen gesetzten) »Gewissen« bedingte »Normenkorsett« erzeuge grundsätzlich »verbogene und einer Demokratie abgewandte Persönlichkeiten«.138 Nach Auffassung des Verfassers resultierte aus diesem Wechselspiel die Tendenz vieler Menschen, ihre eigenen verdrängten und nur mühsam beherrschten Triebwünsche auf »Minderheiten, Nonkonformisten und Sündenböcke« zu projizieren. Im Besonderen gelte dies für sexuelle Minderheiten wie beispielsweise Homosexuelle. Indem betont wurde, dass diese »noch vor wenigen Jahrzehnten zusammen mit politischen, ethnischen und religiösen Minderheiten in Konzentrationslagern eingekerkert und zum großen Teil ermordet« wurden, wird ein Bogen zur Zeit des Nationalsozialismus gespannt.139 Allein an diesem Gedanken lässt sich bereits herausarbeiten, dass die Chiffre »68« nicht nur für einen starken Reformimpuls steht, sondern gleichzeitig auch für einen fundamentalen Angriff auf die Gesellschaft als einen Traditionszusammenhang von Identitätsmustern, Werten und Mentalitäten. Eine solche Wucht hätte dieser 136 Nach Auffassung der Kommune II hatte die so genannte »patriarchalische Familie die sexuellen Bedürfnisse der Menschen nie befriedigen können […]«. Eheliche und familiäre Strukturen galten als gewaltsame Fesselung der Sexualität. Dieter Kunzelmann setzte gar die institutionelle Begrenzung der Triebhaftigkeit mit Tod und Sterben gleich. Ebenso wie bei Marx ist auch für die antiautoritäre Revolte ein inhärenter Zusammenhang von Lebenssteigerung und Subjektivität charakteristisch: Bei beiden wurden institutionell stabilisierte (eheliche, familiäre) Formen im Namen zyklischer Lebens- und Naturprozesse überspült, deren inhärenter Dynamik und Prozesshaftigkeit sie im Wege standen. Zit. n. Kießling, S. 42. 137 Voßberg, S. 143. 138 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Vortragsreihe Probleme der Psychiatrie: Sexualität und Gesellschaft«, S. 2. 139 Ebd.
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Vorstoß nicht gewinnen können ohne den »Resonanzkörper der NS-Vergangenheit«, was dem Bezug auf Konzentrationslager eine entscheidende Bedeutung zugesteht.140 Schließlich wollte der Vortrag auch auf die Frage eingehen, ob die »sexuelle ›Liberalisierung‹ der letzten Jahre«, wie sie besonders in den Massenmedien und der Werbung beobachtet würden, echt sei oder ob es sich um eine »Pseudoliberalisierung« handele. Deutlich wurde bereits in dem entsprechenden Flugblatt, dass diese Entwicklung nicht als »Wandel in der Qualität, in der Funktion der Sexualität« aufgefasst wurde, sondern lediglich als »Wandel in der Quantität zum Zwecke der Vermarktung«. Grundsätzlich blieben die Herrschaftsverhältnisse unangetastet. Der Prozess besitze also keineswegs befreiende, sondern in erster Linie verschleiernde Züge: »Die Sexualität wird verkürzt und verkümmert zum Konsummittel ›Sex‹.« Trotz Liberalisierung sei sie also nur ein Köder, mit dem die Bevölkerung über die Verweigerung von Emanzipation, Mitwirkung und Mitbestimmung in anderen gesellschaftlichen Bereichen hinweg getröstet werde.141 Herbert Marcuse entwickelte den Begriff der »repressiven Entsublimierung«, um diesen Zusammenhang zu definieren. Er verstand darunter eine Indienstnahme der Triebökonomie unter dem Schein eines entfesselten Lustprinzips.142 Kurt Holl und Claudia Glunz geben in ihrem Buch über die Ereignisse rund um »68 am Rhein« die damals vermutete Logik der Studenten wider : »Sex als Ware erhöht […] den Wert der Ware Arbeitskraft. Und die sexualisierte Warenwelt selbst schafft neue sexuelle Bedürfnisse, denen dann durch Konsum scheinbar Befriedigung zuteil wird. Es ist eben nicht mehr der lustfeindliche, sparsame Kaltduscher, sondern der bewegliche, genußfreundliche Konsument, den die Industrie braucht und produziert.«143 Inwieweit sich andererseits der (neue) freie Umgang mit der Sexualität bei den Bonner Studenten jener Jahre schon durchgesetzt hatte, lässt sich auf Basis dieser Dokumente allerdings schwer einschätzen. Auch Horst-Pierre Bothien sieht sich nach seinen Untersuchungen über eben jene Studenten zu keiner definitiven Schlussfolgerung in der Lage.144 Gesellschaftliche Moralvorstellungen wurden von den Studenten, die die Haltung des Sprecherrats akzeptierten, also nicht nur als überholt und veraltet angesehen, sie sahen in ihrer Beseitigung auch den Schlüssel zum grundlegenden Wandel der gesamten Gesellschaft.
140 Kraushaar, Achtundsechzig, S. 288. 141 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Vortragsreihe Probleme der Psychiatrie: Sexualität und Gesellschaft«, S. 1 f. 142 Vgl. Kraushaar, Denkmodelle, S. 23. 143 Holl/Glunz, S. 199. 144 Vgl. Bothien, S. 13.
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Bemerkenswert ist hierbei, dass die westdeutsche Gesellschaft, die in einer Demokratie lebte und immerhin so tolerant war, dass Flugblätter wie dieses geduldet werden, noch viele Jahre nach 1968 als herausragendes Beispiel für ein System sexueller Unterdrückung wahrgenommen wurde. Sie veranlasste in den Augen dieser Studenten nicht nur die Unterdrückung jedes einzelnen und sicherte damit ihre Existenz, darüber hinaus erschien sie auch schuldig an einem Großteil psychischer Krankheiten und sogar Sexualverbrechen. Dieses auf Angst basierende System erzeugte demnach erst Randgruppen und die damit verbundene Diskriminierung durch eine Mehrheit, die sich zwar selbst als normal wahrnahm, in Wahrheit aber in mehrfacher Hinsicht gestört schien. Demnach waren nicht Minderheiten wie Homosexuelle die »Patienten«, sondern die Gesellschaft als Ganzes. Der überzogen wirkende Vergleich der Diskriminierung von Randgruppen mit ihrer Ermordung in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten verdeutlicht, dass die Bonner Medizinstudenten jene Epoche mit ihren gesellschaftlichen Ausprägungen nicht als überwunden ansahen, sondern vielmehr ihr Fortbestehen in anderen, verborgenen Formen der Unterdrückung durch eine aber nach wie vor ähnlich strukturierte herrschende Klasse beobachteten. Wahrscheinlich ist damit die Radikalität der Thesen erklärbar. Offenbar wurden die Gesamtsituation der Gesellschaft und ihr Umgang mit der Sexualität als so katastrophal wahrgenommen, dass ein Ausweg nur mit drastischen Maßnahmen und Negierung der bestehenden Wertesysteme erreichbar erschien. Das Flugblatt steht durch diese Charakteristika stellvertretend für die zu dieser Zeit zu beobachtende »Vergesellschaftung der Psychiatrie«145 : Psychische Krankheiten – im besprochenen Flugblatt ist von Sexualstörungen, Neurosen, Geisteskrankheiten bis hin zu Sexualverbrechen die Rede146 – galten als Folge sozialer Prozesse der Ablehnung und Diskriminierung durch die »normale« Gesellschaft.147 Abweichendem Verhalten (hier im Sinne von sexuell abweichendem Verhalten) wurde toleranter begegnet148, die Frage nach dem Platz von Randgruppen (beispielsweise Behinderte und psychisch Kranke) in der Gesellschaft wurde im Gegensatz zu den Jahren vor der Studentenrevolte öffentlich diskutiert.149 Homosexualität, bisher lediglich als Beispiel für abweichendes Verhalten aufgeführt, bildete im nächsten Vortrag den Schwerpunkt. Als Aufhänger diente 145 Kersting, S. 289. 146 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Vortragsreihe Probleme der Psychiatrie: Sexualität und Gesellschaft«, S. 1. 147 Vgl. Bühring, S. 2. 148 Vgl. Veltin, S. 109. 149 Vgl. Rudloff, S. 152.
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die »Meinung der Schulpsychiatrie« zu diesem Thema: »Ausdruck unreifer personaler Beziehungen und gestörter Persönlichkeitsentwicklung«. Nach Auffassung der so genannten fortschrittlichen Sexualwissenschaftler (und damit auch der des Sprecherrates) handelte es sich hierbei jedoch um eine »sexuelle Befriedigung wie jede andere auch«.150 Sicher nicht zuletzt wegen solcher Auffassungen, die innerhalb der Studentenschaft und auch der restlichen Gesellschaft zunehmend Unterstützung fanden, hob der Bundestag bereits am 9. Mai 1969 nicht nur den Straftatbestand des Ehebruchs, sonder auch die Strafbarkeit von homosexuellen Handlungen zwischen Männern über 21 Jahren auf. Der rasante Wertewandel hinsichtlich des heterosexuellen Sexualverhaltens hatte also auch einem Umdenken gegenüber der Homosexualität den Boden bereitet.151 Fast acht Jahre später erklärte der Sprecherrat dennoch, das Problem sei besser verständlich, wenn man Homosexualität als sozialen und eben nicht nur als individuellen Vorgang ansehe, als »ein Merkmal, das seine besondere Bedeutung erst aus dem Verhältnis zwischen den Nichthomosexuellen und Homosexuellen gewinnt«. In der bestehenden Gesellschaft sei Heterosexualität deshalb als normal angesehen, weil sie das Fortbestehen der herkömmlichen Familienkonstellationen gewährleiste (die wiederum die autoritäre und patriarchalische Gesellschaft stützt, siehe oben).152 Kritisiert wurde das Vorgehen, Homosexuelle als Kranke zu betrachten, sie als »abnorm, gefährlich, asozial« zu diffamieren. Kenntnisse über ihr Leben seien nicht vorhanden, zumal sich das wissenschaftliche Interesse an dem Thema auf Devianz, Entstehung und Ursachen (speziell Vererbung und hormonale Ausstattung) beschränke. In diesem Zusammenhang wurden demnach auch Erziehung, Mutter-Kind-Beziehung und Umwelt zur Erklärung herangezogen. Das Ziel, den Homosexuellen mit therapeutischen Techniken »helfen« zu wollen, sei das völlig falsche Konzept: »Aber hat sich damit der Kampf gegen Homosexualität nicht lediglich aus den Gerichtssälen in die Praxis von Psychiatern und Psychologen verlagert? Diese Antihomosexualität hat bei den Betroffenen den Aufbau einer eigenen Subkultur bewirkt, in der im Wesentlichen gesamtgesellschaftliche Normen gelten, jedoch wird die Subkultur nicht von der
150 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Vortragsreihe: Probleme der Psychiatrie – Homosexualität – individuelle Krankheit oder gesellschaftlicher Konflikt«, 18. 01. 1977, S. 1. 151 Vgl. Herzog, Sexualität, o.S. 152 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Vortragsreihe: Probleme der Psychiatrie – Homosexualität – individuelle Krankheit oder gesellschaftlicher Konflikt«, 18. 01. 1977, S. 1.
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Gesellschaft akzeptiert. Gesellschaftliche Reaktion und Gegenreaktion der Betroffenen bilden einen Regelkreis, in dem sich beide wechselseitig verstärken.«153 Folglich müsse hier von einer »besonderen Konfliktsituation« gesprochen werden. Die Betroffenen müssten einerseits die Diffamierung durch die Gesellschaft154 überwinden und sich andererseits selbst akzeptieren lernen. Sich daraus ergebende Verhaltensbesonderheiten, die in einzelnen Fällen zu beobachten seien, würden dann als »Bestätigung des Krankheitskonzeptes« fehlgedeutet und trügen so zur Pathologisierung homosexuellen Verhaltens bei.155 Auch wenn sich das Dokument durch das Fehlen radikaler Parolen von seinem Vorgänger unterscheidet, so gelten doch die gleichen Auffassungen beziehungsweise Prinzipien: – Abweichendes (sexuelles) Verhalten ist Reaktion auf eine einengende und diffamierende Gesellschaft. – Ein Wechselspiel gegenseitiger Entfremdung zwischen Randgruppen und der »normalen« Gesellschaft entsteht. – Gelöst werden kann der Konflikt nur durch Veränderungen in der Gesellschaft, dem auslösenden kranken Faktor. Die Achtundsechziger-Revolte entsprang also unter anderem dem Aufbegehren gegen veraltete Sexualverbote, gegen eine verklemmte Doppelmoral und die Verpönung gleichgeschlechtlicher, aber auch speziell vorehelicher und jugendlicher Sexualität. Simon Kießling zu Folge wird man letztlich aber das radikale Aufbegehren weniger aus einem übermäßigen Konservatismus der Nachkriegsgesellschaft als aus der sozioökonomischen Dynamik der sechziger Jahre erklären müssen, die mit einer weitreichenden Liberalisierung und Kommerzialisierung des Sexuellen verbunden war. Die Studenten griffen diese Tendenzen demnach auf und spitzten sie zu, indem sie eine totale Befreiung propagierten und sich gegen alle bestehenden Grenzen setzenden Strukturen, Regeln und Institutionen wandten.156 Die Vortragsreihe endete im Februar 1977 mit dem Thema »Frauensexualität und Psychiatrie«. Die Berliner »Psychosoziale Initiative für Frauen« stellte sich
153 Ebd., S. 1 f. 154 Die »Vorläufige Grundsatzerklärung« einer der ersten Gruppen ihrer Art, der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW) schilderte die eigene Situation sehr zeitgeistnah: »Wie sehen in der Unterdrückung der Homosexualität nur einen speziellen Fall der allgemeinen Unterdrückung der Sexualität, die der Sicherung der politischen und ökonomischen Macht dient.« Zit. n. Koenen, Jahrzehnt, S. 236. 155 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Vortragsreihe: Probleme der Psychiatrie – Homosexualität – individuelle Krankheit oder gesellschaftlicher Konflikt«, 18. 01. 1977, S. 2. 156 Vgl. Kießling, S. 51.
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vor und präsentierte eine »gegen die patriarchalische biologistische Psychiatrie« gerichtete Haltung.157 Stellvertretend für die theoretische Auseinandersetzung mit weiblicher Sexualität in der psychoanalytischen Literatur, wo einerseits Frauen die Mehrzahl der psychoanalytisch behandelten Personen bildeten, andererseits jedoch Unklarheit und Unkenntnis über das Wesen der weiblichen Sexualität herrsche, stand ein Zitat von Sigmund Freud: »Wollen Sie mehr über die Weiblichkeit wissen, so befragen Sie Ihre eigene Lebenserfahrung, oder wenden sich an die Dichter, oder Sie warten, bis die Wissenschaft Ihnen tiefere und besser zusammenhängende Auskünfte geben kann.«158 Der Grund für diese fehlende Auseinandersetzung schien schnell ausfindig gemacht zu sein: die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Grundsätzlich, so entnimmt man dem entsprechenden Flugblatt, basiere das soziale und kulturelle Leben aller Gesellschaften auf dem Geschlechterunterschied. Folglich begebe man sich in Widerspruch zu allen ethnologischen Untersuchungen, wenn der Inhalt der Geschlechterrolle als biologisch vorgegeben verstanden wird. Anhand des Beispiels tasmanischer Frauen, zu deren Aufgaben die Seehundjagd gehöre, sollte vielmehr verdeutlicht werden, dass diese Inhalte in den einzelnen Kulturen verschieden beziehungsweise sogar konträr seien. Diese »Institutionalisierung« von Geschlechterrollen schien demnach in der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft begründet. Gleichzeitig seien diese ebenso wie die sozialen Formen der Gesellschaft auch dem Wandel der Gesellschaft unterworfen (also prinzipiell veränderbar).159 Wie die gesamte Studentenrevolte bot der Sprecherrat Nervenklinik hier für jeden, der sich in irgendeiner Form, sei es von Eltern, vom Partner, vom Professor, von der Gesellschaft oder von der Natur benachteiligt oder gedemütigt sah, ein Versprechen, dass er in der Bewegung erblicken konnte. Das Wir-Gefühl stand für Schutz: Das Individuelle vermischte sich auf angenehme Art mit dem Allgemeinen. Das konnte andererseits aber natürlich auch so weit gehen, dass im Zweifelsfall immer »die Gesellschaft« schuld war.160 Was also wollten die Veranstalter des Vortrags untersuchen? Ganz allgemein sollte die eigene Gesellschaftsform analysiert und die sich daraus ergebende Geschlechterrolle der Frau herausgearbeitet werden. Die männliche Dominanz, die sich nicht nur bezüglich der Sexualität, sondern gesamtgesellschaftlich beobachten lasse, unterdrücke zwangsläufig die weibliche Sexualität und habe dazu geführt, dass ihre Existenz über Jahrhunderte geleugnet wurde. Frauen 157 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Vortragsreihe Probleme der Psychiatrie – Frauensexualität und Psychiatrie: Alternativmodelle ›Psychosoziale Initiative für Frauen‹ gegen die patriarchalische biologistische Psychiatrie«, S. 1. 158 Ebd. 159 Ebd. 160 Vgl. Schneider, Rebellion, S. 121 f.
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wurden in dieser Argumentation also quasi als Gruppe definiert, die zwar zahlenmäßig die Hälfte der Bevölkerung umfasst, jedoch mit Nachteilen zu kämpfen hat, wie man sie sonst nur von Minderheiten kennt. Offenbar erkannte der Sprecherrat Nervenklinik jedoch einen Wendepunkt in der kritisch beschriebenen Situation: »Mit der Erkenntnis der Orgasmusfähigkeit der Frau treten auch die sexuellen Probleme offener zutage.« Um dies zu belegen, nahm der Verfasser Bezug auf eine Studie von 1971, die zu belegen schien, dass der Anstieg der Patientenzahlen in psychotherapeutischen Beratungsstellen mit einem relativen Überwiegen der Frauen verknüpft ist: Auf die gesamte Psychiatrie bezogen bildeten Frauen demnach – 70 Prozent der als depressiv diagnostizierten, – über 80 Prozent der als paranoid diagnostizierten und – circa 70 Prozent der als senil-dement diagnostizierten Patienten.161 Eine Erklärung hierfür lieferten wie bereits in den ähnlich aufgebauten vorangehenden Vorträgen die gesellschaftlichen Verhältnisse: »Den Widerspruch, spürbar für die Frauen, die mit ihrer von der Gesellschaft auferlegten Rolle in Konflikt geraten, kann die Gesellschaft nicht lösen.«162 (Oder anders ausgedrückt: Psychische Krankheit ist die Konsequenz gesellschaftlich verursachter innerer Widersprüche.) So lasse sich auch nachvollziehen, warum Frauengruppen entstehen, die sich die Frage nach einer »veränderten und verändernden Praxis« stellen: »Ausgehend davon, daß Frauen einer ständigen offenen oder versteckten sexuellen Diskriminierung unterworfen sind, und ›psychisch kranke‹ Frauen der patriarchalischen Unterdrückung in besonderem Maße ausgeliefert sind, entstehen Alternativmodelle psychiatr. Vor- und Nachsorge.« Die angekündigte Frauengruppe aus Berlin wollte dies näher erläutern. Indem sie sich mit Frauen, die psychische Probleme haben, sich kurz vor der Einweisung oder nach der Entlassung aus einer psychiatrischen Klinik befinden, beschäftigen, versuchten sie, frauenspezifische Gesichtspunkte bezüglich der therapeutischen Arbeit aufzuarbeiten.163 Grundsätzlich ähnelte dieser letzte Vortrag vom Charakter her zwar seinen Vorgängern (die kranke Gesellschaft, die ihr Mitglieder krank macht), jedoch standen hier keine Minderheiten im Vordergrund, sondern Frauen. Trotzdem schienen diese unter vergleichbaren Diffamierungen und Einengungen zu leiden. Möglicherweise war damit auch die Intention verknüpft, das Ausmaß der festgestellten Problematik zu demonstrieren: Die gesellschaftlichen Konven161 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Vortragsreihe Probleme der Psychiatrie – Frauensexualität und Psychiatrie: Alternativmodelle ›Psychosoziale Initiative für Frauen‹ gegen die patriarchalische biologistische Psychiatrie«, S. 2. 162 Ebd. 163 Ebd., S. 1 f.
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tionen schienen so allgegenwärtig mächtig, dass der Mensch grundsätzlich keine Chance hatte, ihnen zu entrinnen (beispielsweise ganz trivial durch die Geburt als Frau). Die unterschiedlichen Probleme, die in der Vortragsreihe behandelt wurden, führten letztlich immer zur gleichen »Diagnose« für den »Patient Gesellschaft«, eine Zuspitzung also, die die revolutionär gesinnte Zuhörerschaft möglicherweise auf ein klares und einfaches »endgültiges Ziel« hinlenken wollte: den Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Frage aber, ob durch diese Verallgemeinerungen nicht auch jede Differenzierung verloren ging, blieb hierbei natürlich unbeantwortet. Trotzdem muss man Jürgen Habermas zumindest ein Stück weit Recht geben, als er darauf hinwies, dass erst die Studenten durch abweichende Meinungen und überraschende theoretische Perspektiven eine weiter gehende Aufklärung und Diskussion ermöglicht hätten, die bis dahin weder von den Staatsorganen noch der Presse vorbereitet worden sei. Er erblickte darum im studentischen Protest eine Erfüllung der Prinzipien »unserer sozial rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassung«.164 Hinsichtlich der Gleichberechtigung der Frau – und dazu gehört neben den rechtlichen Aspekten sicher auch jene in einer Partnerschaft – muss man ihm rückblickend Recht geben. Die Thematisierung der Sexualität war allerdings zu dieser Zeit nichts Neues mehr. Allein dass die Bonner Mediziner sie thematisierten, reicht längst nicht, um sie einer Avantgarde zuzuordnen. Sie verstanden lediglich zehn Jahre verspätet, worauf der Hamburger Sexualwissenschaftler Gunter Schmid hinwies: Schon Ende der sechziger Jahre waren sowohl die neulinken Studenten als auch die alarmierten religiösen Konservativen, sie sich über sie empörten, davon überzeugt, dass die Sexualität eine weltbewegende Kraft sei.165
2.1.6 Sommersemester 1977: Kritik der Klassischen Psychiatrie Dass die Vortragsreihen des Sprecherrats Nervenklinik vom Studium Universale mitfinanziert wurden, wirkte in der Ankündigung zu den Veranstaltungen fast schon selbstverständlich. Offenbar konnten sich die Studenten mit ihrer Forderung nach bedingungsloser Finanzierung durch die Universität dauerhaft durchsetzen. Das neue Schwerpunktthema der Veranstaltungen zielte auf den »theoretischen Kern der in der BRD praktizierten Psychiatrie« ab: Kritik der Klassischen Psychiatrie. Dies erschien den Veranstaltern in mehrfacher Hinsicht sinnvoll. 164 Zit. n. Hecken, S. 29 f. 165 Vgl. Herzog, Sexualität, o.S.
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Auf die Diskussionen über psychiatrische Reformmodelle und den Umgang der Psychiatrie gegenüber »Mitmenschen mit sexuell abweichendem Verhalten« in den vorausgegangenen Semestern aufbauend sei das Thema nun besser zu erfassen. Daneben betreffe es gerade die Bonner Medizinstudenten, da sie im Verlauf ihres Studiums zwangsläufig mit dem Thema in Berührung kämen. Den medizinischen Alltag bestimme die Klassische Psychiatrie insofern, als sie die bestehende psychiatrische Anstaltspraxis legitimiere.166 Kritische Töne waren schon vor Beginn der Vorträge in einem Flugblatt zu vernehmen: Es habe sich »in der Vortragsreihe der letzten Semester gezeigt, welch falschen Umgang die sich als medizinische Wissenschaft verstehende Klassische Psychiatrie mit gesellschaftlich bedingten, sich am Individuum niederschlagenden Problemen hat«. Dies gelte neben den bereits besprochenen Themen auch für die psychiatrischen Landeskrankenhäuser (also für die stationäre psychiatrische Versorgung, ein bisher nicht besprochenes Thema). Keinen Zweifel ließ der Sprecherrat an seiner Absicht, »nach den wissenschaftlichen Grundlagen dieser Psychiatrie überhaupt« zu fragen. Es reiche nicht, »diese falsche Praxis und die theoretischen Fehler […] immer nur im einzelnen zu sehen und zu kritisieren«. Gerade Medizinstudenten in Bonn seien gezwungen, sich in den psychiatrischen Kursen mit der Klassischen Psychiatrie auseinanderzusetzen. Spontane Kritik sei hier aber nicht ausreichend, »da sie nirgends zusammengefasst und in einem gemeinsamen Diskussionsprozess zu den grundsätzlicheren und allgemeineren Fragen der Psychiatrie vorangetrieben wird«. Dies verursache lediglich Resignation und Misstrauen gegenüber der Klassischen Psychiatrie: »Doch dies ist kein Ausweg.« Die starke Zunahme psychischer Leiden, die der Sprecherrat mit organischen Vorgängen nicht hinreichend erklärt sah, mache die Teilnahme an der Vorlesungsreihe geradezu zur Pflicht. Mit dem Anspruch, die Aussagen der psychiatrischen Lehrbücher auf ihre Richtigkeit überprüfen zu können, sollten sich die Veranstaltungen besonders zwei zentralen Themen widmen, dem Begriff der Psychopathischen Persönlichkeit und dem Schizophreniebegriff.167 Offenbar konnte auch die bereits zwei Jahre zurückliegende Psychiatrie-Enquete den Sprecherrat nicht dazu bewegen, seine Fundamentalkritik aufzugeben oder zu relativieren.
166 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Sprecherrat Nervenklinik – Fachschaft Medizin: Vortragsreihe Kritik der Klassischen Psychiatrie«, 02. 05. 1977, S. 1. 167 Ebd., S. 1 f.
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Im Einzelnen waren folgende Vorlesungen geplant: 5. Mai 1977: Was ist Klassische Psychiatrie? Historischer Abriss; Krankheitsbegriff und Systematik bei Kurt Schneider168 (Sprecherrat Nervenklinik – Fachschaft Medizin). 10. Mai 1977: Der Begriff der Psychopathologischen Persönlichkeit in der Klassischen Psychiatrie als Ideologisierung (Dr. Hans-Georg Güse169, Bremen). 14. Juni 1977: Der Schizophreniebegriff in der Psychiatrie – eine Übersicht (Professor Dr. Dr. Helm Stierlin170). 30. Juni 1977: Klassische Psychiatrie und Bürgerliche Gesellschaft (Sprecherrat Nervenklinik – Fachschaft Medizin).171
Lediglich zum Vortrag über Schizophrenie fehlen weitere Unterlagen. »Wir begreifen die gesamte Vortragsreihe dieses Semesters als Entwicklung, in der wir uns schrittweise in die klassische Psychiatrie einarbeiten wollen.« Mit dieser Zielsetzung leitete der Sprecherrat Nervenklinik das Flugblatt zur ersten Vorlesung ein. Die Herangehensweise Kurt Schneiders, der den Begriff der Klassischen Psychiatrie prägte, bildete deshalb einen Schwerpunkt. Sein Krankheitsbegriff und seine Systematik sollten der »inneren Eingrenzung« des Themas dienen, daneben wollte man es »äußerlich in einem historischen Abriß« eingrenzen.172
168 Kurt Schneider (1887 – 1967) war ein deutscher Psychiater. Seinem somatischen Krankheitsbegriff lag eine klare Unterscheidung zwischen zwar »abnormen«, als bloßen »Spielarten menschlichen Wesens« jedoch letztlich nicht »wirklich krankhaften« Phänomenen sowie solchen Zuständen zu Grunde, die wegen ihrer körperlichen oder nach damaligem Kenntnisstand doch zumindest postulierbar körperlichen Ursachen als eigentliche »Krankheiten« einzustufen sein sollten. Zur ersten Kategorie gehören demnach (nach damaliger Terminologie) abnorme Verstandeslagen (Schwachsinn), Triebanomalien, abnorme Persönlichkeiten, abnorme Erlebnisreaktionen sowie (als Zwischenstufe) abnorme erlebnisreaktive Persönlichkeitsentwicklungen (Neurosen). Die zweite Kategorie sollte die (»wirklich krankhaften«) Psychosen erfassen. Schneider/Frister/Olzen, S. 128. 169 Hans-Georg Güse (*1945) war von 1973 bis 1995 als Arzt in Psychiatrie, Innerer Medizin, Chirurgie und Anästhesie/Intensivmedizin tätig. Seit 1995 ist er selbstständiger Unternehmensberater und seit 1999 Lehrbeauftragter im Fachbereich Gesundheitswissenschaften der Universität Bremen. Vgl. Anonymus, Mitarbeiter, o.S. 170 Die Zeitschrift »Psychologie Heute« bezeichnete den deutschen Psychiater und Psychoanalytiker Helm Stierlin (*1926) als »Doyen der Systemischen Familientherapie in Deutschland. Mit seinem Heidelberger Modell setzte er sich an die Spitze einer innovativen therapeutischen Bewegung, die psychoanalytisches Denken mit Ideen der Familientherapie, der Kybernetik und Systemtheorie ergänzte.« Vgl. Schäfer, Stierlin, S. 34. 171 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Sprecherrat Nervenklinik – Fachschaft Medizin: Vortragsreihe Kritik der Klassischen Psychiatrie«, 02. 05. 1977, S. 1 f. 172 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Vortragsreihe
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Gezeigt werden sollte, dass sich in der Theorieentwicklung und Praxis der »(Schul)psychiatrie« die geschichtliche Entwicklung des Bürgertums, des Obrigkeitsstaates in Deutschland bis hin zum Faschismus173 und der Nachkriegzeit widerspiegelte. Eine Gegenüberstellung von Krankheits- und Gesellschaftsverständnis zweier historischer Persönlichkeiten sollte dies verdeutlichen: – Wilhelm Griesinger174 als Vertreter der bürgerlichen Emanzipationsbewegung, »dessen naturwissenschaftlich-materialistisch fundierte Psychiatrie der Befreiung der Irren aus den Verwahrungsanstalten der romantisch-spekulativen Psychiatrie diente«. – Emil Kraepelin175, »der den naturwissenschaftlichen Ansatz darauf verkürzte, psychische Krankheiten ausschließlich biologisch determiniert zu sehen, Kritik der Klassischen Psychiatrie – Sprecherrat Nervenklinik: Was ist Klassische Psychiatrie?«, 05. 02. 1977, S. 1. 173 Der ehemalige Achtundsechziger-Aktivist Peter Schneider berichtet in seinen Erinnerungen an die Zeit der Studentenrevolte von einem Erlebnis während eines Hausmusikkonzerts, das – auch wenn es natürlich keine allgemeingültigen Folgerungen zulässt – jene so kritisierte Verstrickung von Psychiatrie und nationalsozialistischer Ideologie verdeutlicht. Auf dieser Veranstaltung in Schneiders Elternhaus stellte er dem ersten Geiger des Quartetts, einem Psychiatrieprofessor, eine für die Gesellschaft peinliche Frage. Dieser hatte während der Nachkriegsjahre seine ehemalige Hausangestellte nach langer Zeit wieder getroffen. Sie habe ihm überschwänglich dafür gedankt, dass er ihr während seiner Zeit als Arzt in der psychiatrischen Heilanstalt Emmendingen das Leben gerettet habe, indem er ihr einen »Persilschein« über ihre geistige Gesundheit ausgestellt und sie so vor dem sicheren Tod bewahrt habe. Jener Professor betonte allerdings das »Ulkige« an der Szene: Er hätte sich an das fragliche, nach damaligen Maßstäben sicher falsche Gutachten, mit dem er seinen Ruf als Psychiater aufs Spiel gesetzt hatte, gar nicht erinnern können. Die Fragen des jungen Peter Schneider, wie viele Patienten er denn damals nicht gesund geschrieben hatte, bewirkte in der Runde eine peinliche Atmosphäre, die seinen Vater zu verärgerten Reaktionen veranlasste. Schneider, Rebellion, S. 37 f. – Dieser Vorfall legt in der Tat nahe, dass die deutsche Nachkriegspsychiatrie durchaus noch vieles an Unaufgearbeiteten in sich hatte und der Wunsch nach Aufklärung beziehungsweise die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, nicht allzu ausgeprägt war. 174 Wilhelm Griesinger (1817 – 1868), dessen Thesen unter der deutschen Ärzteschaft sehr umstritten waren, befasste sich zeitlebens mit »Geisteskrankheiten und Gehirnkrankheiten«. Er erachtete die Empirie als Grundlage aller Theorienbildung, weshalb er für eine sich von der Philosophie lösenden und den exakten Naturwissenschaften zuwendenden Medizin plädierte. Damit machte er sich zu einem Außenseiter in der Psychiatrie. Anonymus, Meyer, S. 77. 175 Emil Kraepelin (1856 – 1926) war ein bedeutender deutscher Psychiater. Sein Hauptinteresse lag in dem organischen Zugang zu den geistigen Krankheiten. Er sammelte tausende von Krankengeschichten und entwickelte daraus ein System der deskriptiven Psychiatrie. Sein Klassifikationssystem wurde zum Teil noch in den Siebziger Jahren verwendet und seine diagnostisch-nosologischen Grundbegriffe fanden noch Jahre nach seinem Tod Gültigkeit in der internationalen Klassifikation (ICD) der Weltgesundheitsorganisation. Sein Interesse galt den psychologischen Dimensionen psychischer Erkrankungen und nicht den biologischen, was den Schilderungen des Sprecherrates widerspricht! Die Durchsetzung der klinischen Forschungsmethode, die durch ihn allgemeine Gültigkeit erfuhr, gilt als seine größte Leistung. Vgl. Rapold, S. 119 f., 124.
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damit in einen therapeutischen Nihilismus mündet und Psychiatrie wieder zum Disziplinierungsmittel werden läßt«.176 Rückblickend glaubten die Verfasser des Flugblattes feststellen zu können, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg zu keiner Neuorientierung der »etablierten Psychiatrie« kam, sondern dass sich Kurt Schneiders klassische Psychiatrie nahtlos Kraeplins Thesen anpassten. Schließlich berufe sich Schneider öfters in der von ihm verfassten »Klinischen Psychopathologie« auf diesen. »Formale Kritik«, die darin bestehe, Kurt Schneiders Argumente zu prüfen und seine Widersprüche nachzuweisen, die angeblich vom eigenen Anspruch abwichen, sollte in diesem ersten Vortrag die inhaltliche Auseinandersetzung und letztlich die Analyse der Zusammenhänge zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Psychiatrie in den folgenden Veranstaltungen vorbereiten.177 Wahrscheinlich wurde hier erneut die These von der Gesellschaft als dem eigentlichen Irrenhaus aufgestellt: »Wer etwas merkt (nicht irre ist), kommt in die kleineren, weißeren … häuser, die die gesellschaft für die normalen eingerichtet hat.«178 Die erste und letzte Veranstaltung waren überdies als so genanntes Teach-in179 geplant, in dem die Arbeitskreise des Sprecherrats ihre Ergebnisse vortragen und mit den Zuhörern diskutieren sollten. Gerade damit ermöglichte die Vortragsreihe laut Flugblatt einen »Lern- und Arbeitsprozess« für ihre Teilnehmer. In gewohnter Weise kritisierte der Sprecherrat Nervenklinik in diesem Zusammenhang die westdeutsche Gesellschaftsstruktur. Verschiedene Annahmen dienten hierzu als Basis, obwohl sie zu keiner Zeit geprüft oder gar in Frage gestellt wurden: Deutschland sei ein Obrigkeitsstaat, die aktuelle Psychiatrie bringe in erster Linie Disziplinierungsmittel hervor und sei ohnehin noch in der Zeit des Nationalsozialismus verhaftet.180
176 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Vortragsreihe Kritik der Klassischen Psychiatrie – Sprecherrat Nervenklinik: Was ist Klassische Psychiatrie?«, 05. 02. 1977, S. 1. 177 Ebd., S. 1 f. 178 Schneider, Rebellion, S. 172. 179 Bei den so genannten Teach-ins handelte es sich um eine aus den USA übernommene Strategie der Öffentlichkeitsarbeit, die eine zeitintensive Groß- oder Vollversammlung (oft ganzer Institutionen) zum Zweck unhierarchischer Diskussion von Analysen und Plänen beschreibt. Die Teach-ins wurden von Studenten in Ann Arbour anlässlich des Vietnamkonfliktes 1965 entwickelt und dienten der Abgrenzung von den Vorträgen der Professoren. Sie zeichneten sich dadurch aus, »dass sie das Lehren nicht mehr nur den Professoren überließen, sondern dass sie sich den Lerneffekt vielmehr von einer spontanen, sitzstreikähnlichen Aktion versprachen, während der alle Beiträge unabhängig von der Reputation des Sprechenden zugelassen sein sollten«. Vgl. Kraushaar, Denkmodelle, S. 18; Busche, S. 22; Schmidtke, S. 81. 180 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Vortragsreihe
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Der demokratische Staatsaufbau der Bundesrepublik wurde dabei ebenso unterschlagen wie die reform- und vergangenheitsorienterten Initiativen der Nachkriegszeit, auch wenn diese eher isoliert blieben und keine breite Bewegung erzeugen konnten. Insofern reihte sich der Sprecherrat Nervenklinik ein in die pauschale Kritik und Verdrängungsthese der Achtundsechziger-Bewegung, die solche Lehrerfahrungen einiger Psychiater nicht wahrnahmen oder gelten lassen wollte.181 Eben jene wirklichen Reformer arbeiteten – auch auf anderen Gebieten als der Psychiatrie – nicht selten deprimiert und mit hohen Risiken, um die außer Kontrolle geratene Situation zu steuern. Götz Aly beschreibt in seinem kritischen Rückblick auf die eigene Achtundsechziger-Biographie, dass sich – auf lange Sicht – demgegenüber die »Halbwertszeit der begrifflich aufgepumpten Bücher, Broschüren und Zeitungen der Achtundsechziger als extrem kurz« erwiesen hätte. Wie das gesamte totalitäre Schrifttum des 20. Jahrhundert könnten sie heute als Dokumente der Gedankenflucht, Kraftmeierei und Selbstsucht wissenschaftlich analysiert, jedoch nicht mit Gewinn gelesen werden.182 Um den Bonner Studenten zu vermitteln, um was es in der folgenden Veranstaltung über den Begriff der psychopathischen Persönlichkeit ging, bedienten sich die Organisatoren eines erfundenen Dialogs zwischen zwei Studenten, von denen einer offenbar die in den Augen der »Achtundsechziger« vorherrschende Meinung über psychisch Kranken verkörperte: Auf die Frage, was es mit psychopathischen Persönlichkeiten denn auf sich habe, antwortet der Student (»der in der Psychiatrie-Vorlesung immer schön aufgepaßt«183 hat) mit einem Zitat Kurt Schneiders: »Psychopathische Persönlichkeiten sind abnorme Persönlichkeiten (›Abweichungen von einer uns vorschwebenden Durchschnittsbreite von Persönlichkeit‹), die an ihrer Abnormität leiden oder unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet.«184
Unter Einbeziehung von weiteren Zitaten (von J. Lange185, Hans-Jörg Weitbrecht186) konkretisiert die Studentenfigur dieses »Leiden«: Es sei verursacht
181 182 183
184 185 186
Kritik der Klassischen Psychiatrie – Sprecherrat Nervenklinik: Was ist Klassische Psychiatrie?«, 05. 02. 1977, S. 1 f. Vgl. Kersting, S. 292 f. Aly, S. 209. UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Sprecherrat Nervenklinik – Vortragsreihe: Kritik der Klassischen Psychiatrie – Dr. Hans-Georg Güse (Bremen): Der Begriff der ›Psychopathischen Persönlichkeit‹ als Ideologisierung«, 10. 05. 1977, S. 1. Zit. n. ebd. Es ist unklar, wer in diesem Fall gemeint ist. Womöglich kommt der in Hamburg praktizierende Psychiater Jürgen Lange in Frage, es gibt jedoch keine weiteren Anhaltspunkte hierfür. Siehe auch Fußnote 34 auf S. 18 bezüglich biografischer Erläuterungen.
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durch die Störung der Gemeinschaft und der sozial strukturierten Gesellschaft seitens der psychisch Kranken. Der Verfasser versucht im Verlauf darzulegen, dass man mit dieser Definition jeden Menschen, der nicht dem Durchschnitt entspreche, »psychiatriesieren« könne.187 Beispiele, die beweisen sollten, dass der Begriff von seelischer Abnormität immer von den Strukturen einer Gesellschaft abhänge, wurden aus verschiedenen Zeiten aufgeführt. Die Gruppe der so als psychisch krank Bezeichneten umfasste demnach neben Anarchisten, Revolutionären und Königsmördern auch Wehrdienstverweigerer, Frauenrechtler und Menschen, die den Konflikt mit der Gesellschaft suchten. Auch in Bonn schienen revolutionär gesinnte Studenten als »Menschen mit extremer Ichdisposition« zu den so genannten Psychopathen gezählt zu werden. Demnach wurden also immer diejenigen Menschen für krank erklärt, die unbequeme politische Auffassungen vertraten und die »Gesellschaft stören«.188 Die Thesen zeigen eine deutliche Ähnlichkeit mit jenes Ronald D. Laings: »Und die Patienten? Je mehr sie protestieren, desto weniger Einsicht lassen sie erkennen; je mehr sie sich widersetzen, desto mehr müssen sie offenbar besänftigt werden; je verfolgter sie sich in Anbetracht der Zerstörung fühlen, desto notwendiger wird es, sie zu zerstören. Und nachdem sie das alles überstanden haben, mögen sie tatsächlich ›geheilt‹ sein, mögen sie sogar dankbar dafür sein, daß sie keinen Verstand mehr haben, um gegen die Verfolgung zu protestieren.«189
Hunderttausende Menschen seien in diese »erstaunliche politische Operation« verwickelt. Mit der statistischen Aussage, in Großbritannien sei die Aussicht auf Einweisung in die Nervenheilanstalt zehnmal so groß wie die, einen Studienplatz zu erhalten, wollte Laing das Ausmaß und die Dramatik der Situation verdeutlichen.190 Auf Erving Goffman191 und Erich Wulff192 Bezug nehmend sollte die Psychiatrie während der Veranstaltungen des Sprecherrats also als Erzwingungstechnik sozialer Konformität charakterisiert werden. Sie zeige die Tendenz zur universalen Stigmatisierbarkeit und damit zur Diskriminierbarkeit eines jeden durch jeden. Mit drei wesentlichen Fragen des Vortrags verwies der Verfasser abschließend auf die Veranstaltung: Kann die Klassische Psychiatrie als an187 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Sprecherrat Nervenklinik – Vortragsreihe: Kritik der Klassischen Psychiatrie – Dr. Hans-Georg Güse (Bremen): Der Begriff der ›Psychopathischen Persönlichkeit‹ als Ideologisierung«, 10. 05. 1977, S. 1. 188 Ebd., S. 2. 189 Laing, S. 130 f. 190 Ebd. 191 Siehe auch Fußnote 72 auf S. 27 bezüglich biografischer Informationen. 192 Siehe auch Fußnote 41 auf S. 19 bezüglich biografischer Informationen.
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geblich medizinische Wissenschaft solche gesellschaftlichen Funktionen wahrnehmen? Ist sie überhaupt in der Lage, ihr Handeln wissenschaftlich zu begründen? Weshalb handelt es sich bei dem Begriff »Psychopathische Persönlichkeit« um Ideologie?193 Die Gesellschaft als (Mit-)Verursacher psychischer Krankheiten und die etablierte Psychiatrie als politisches Disziplinierungsinstrument der herrschenden Obrigkeit sind zwar Thesen, die in Bonn sicher nicht zum ersten Mal diskutiert wurden. Sie erfuhren jedoch in diesem Flugblatt eine bemerkenswerte Zuspitzung. Unter Zuhilfenahme passender Zitate versuchte der Sprecherrat die Psychiatriegeschichte zu einer Kette von Diffamierungskampagnen jeweils unliebsamer Menschen (in früheren Zeiten Revolutionäre und Königsmörder, im 20. Jahrhundert analog dazu Frauenrechtler und Wehrdienstverweigerer) zusammen zu fügen. So berechtigt die Kritik in vielen Fällen sein mochte, so deutlich verschwieg sie aber auch hier die eingangs angeschnittenen reformorientierten Tendenzen. Das Flugblatt zum letzten Vortrag versprach nicht weniger als eine »Zusammenfassung der immanenten Fehler der klassischen Psychiatrie« zu präsentieren und den Grund für diese Fehler zu erläutern: Das Ergebnis der Diskussionen der vorangegangenen Wochen klang so simpel wie radikal: Die Klassische Psychiatrie sei eine »fehlerhafte Wissenschaft«, die auf »Wissen (schaft)« zu Gunsten gesellschaftlicher Zweckmäßigkeit verzichte. »Objektiver Grund« für diese Fehlerhaftigkeit sei die Tatsache, dass sich die Klassische Psychiatrie in ihrer Tätigkeit »außerwissenschaftlichen, gesellschaftlichen Zwecken unterwirft und daß ihr Wissenschaft nur noch als Mittel dient, die ihr vorausgesetzten gesellschaftlichen Zwecke zu realisieren«.194 Wissenschaft wurde demnach zweckentfremdet und für eine gesellschaftliche Praxis instrumentalisiert, die zur Verfolgung ihrer Zwecke der Wissenschaft bedarf, ihre Zwecke selbst jedoch nicht wissenschaftlich (also aus Erkenntnis) bestimmt. Allgemein bleibe festzuhalten, dass der Grund für die Fehlerhaftigkeit der Klassischen Psychiatrie ihr Verhältnis zur »bürgerlichen Gesellschaft« sei.195 Eben das ändern zu können schien in den Augen der Bonner Studenten aber möglich. Eventuell hätten sie auch hier Ronald D. Laing zugestimmt, der in einem Aufsatz prophezeite: 193 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Sprecherrat Nervenklinik – Vortragsreihe: Kritik der Klassischen Psychiatrie – Dr. Hans-Georg Güse (Bremen): Der Begriff der ›Psychopathischen Persönlichkeit‹ als Ideologisierung«, 10. 05. 1977, S. 1 f. 194 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Vortragsreihe: Kritik der Klassischen Psychiatrie – Sprecherrat Nervenklinik: Klassische Psychiatrie und Bürgerliche Gesellschaft«. 195 Ebd.
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Psychiatriekritik
»Vielleicht besteht das Problem gar nicht darin, daß wir zuwenig Psychiater für zu viele Patienten haben; vielleicht bekommen wir ganz im Gegenteil in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren zuwenig Patienten!«196
In der Tat bot die letzte Vorlesung in diesem Semester eine Art Zusammenfassung der Ansichten des Sprecherrats Nervenklinik zur Beeinflussung der Psychiatrie durch Interessen von Gesellschaft und Politik. Interessant ist darüber hinaus, dass die Gruppe objektives und wissenschaftliches Arbeiten ausdrücklich (nur) für ihre Vorgehensweise beanspruchte. Ihre Gegner in Gestalt der etablierten Psychiatrie waren das per Definition nicht. Spinnt man diesen Gedanken weiter, so wird klar, dass es sich bei ihnen dann streng genommen gar nicht um Wissenschaftler handeln konnte, sondern lediglich um Mitglieder oder zumindest Handlanger der so genannten bürgerlichen Gesellschaft, die vorrangig die Erhaltung ihrer patriarchalischen Struktur im Sinn zu haben schienen und sich der Psychiatrie zur Durchsetzung ihrer Ziele bedienten. Entsprechende Vorwürfe, etwa der, die Psychiatrie bringe in erster Linie Disziplinierungsmittel hervor, wurden ja auch tatsächlich laut. Diese absurd wirkende Haltung machte einerseits einen Konsens schwer beziehungsweise unmöglich und erschien andererseits essentiell für das Selbstbild der Gruppierung, eine revolutionäre studentische Gruppe im einsamen Kampf gegen die übermächtige Gesellschaft zu sein. Möglicherweise ist darin der Grund für das kontinuierlich widerspenstige Verhalten des Sprecherrats zu suchen. Ironischerweise taten die Studenten damit genau das, was sie ihren Gegnern vorwerfen: Sie instrumentalisierten die Wissenschaft zur Durchsetzung ihrer eigenen gesellschaftlichen und politischen Ansichten.
2.2
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Widerstand formierte sich in Bonn nicht nur gegen Krankheitsbegriffe und Therapien der Psychiatrie. Um ihre Forderungen durchzusetzen, strebten die Studenten nach Mitbestimmung. Diese Tendenz war grundsätzlich an allen Fakultäten zu beobachten. Speziell in der Medizinischen Fakultät kämpfen im Jahr 1970 Studenten für eine grundlegende Strukturreform, die sie bis dato in der Vorklinik als »am weitesten fortgeschritten erachtet[en] […], wenn man von der Einrichtung eines Klinikrates in der Nervenklinik absieht«197. Einen wirklichen Schritt »auf dem langen Weg zu einer aus Studenten, As196 Laing, S. 132. 197 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO, 08. 01. 1970, S. 12.
Kritik an den psychiatrischen Institutionen in Bonn und ihren Repräsentanten
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sistenten, nicht-wissenschaftlichen Mitarbeitern und Proff. aller vorklinischen Fächer zusammengesetzten Vorklinikkonferenz« schienen die im Januar 1970 stattfindenden Verhandlungen darzustellen, in denen die Studenten einen Institutsrat für das Fach Biochemie durchzusetzen versuchten. Dabei wollte man schon von vornherein klarstellen, unter welchen Bedingungen man überhaupt erst zu Verhandlungen bereit sei. Schließlich gehe es um nicht weniger als die »Vertretung studentischer Interessen, welche objektiv vorhanden und feststellbar« seien.198 Der geplante Institutsrat sollte demnach ein Entscheidungsgremium sein, dessen Beschlüssen sich alle Beteiligten einschließlich des Institutsdirektors beugen mussten. Hierbei waren die Studenten darauf bedacht, durch »Einführung von definierten und ausreichenden Paritäten bei der Besetzung des IR [=Institutsrats]« ihren Einfluss zu sichern. Misstrauisch sogar gegenüber den eigenen Vertretern und den Menschen »da oben« erachteten die reformwilligen Studenten öffentliche Sitzungen als einzig wirksame Kontrolle. Daneben sei es eine Selbstverständlichkeit, neben Assistenten, Professoren und Studenten auch nichtwissenschaftliche Mitarbeiter einzubeziehen.199 Die Selbstgewissheit, im moralischen und (hochschul)politischen Sinn das Richtige zu tun und zu fordern verband die Bonner Studenten mit den Sprechern der antiautoritären Bewegung und den Autoren der Neuen Linken. Sie ging auf die Auffassung zurück, in einem rationalen, nachweisbaren Sinne angemessen zu planen und zu handeln.200 All diese offenbar nicht verhandelbaren Thesen fanden im Klinikrat der Nervenklinik zwar teilweise Berücksichtigung, jedoch nicht in dieser radikalen Form: Um dies zu verdeutlichen, wurde ein Zitat, das aus der Satzung des Klinikrats zu stammen scheint, aufgeführt. Kritik im Sinne der ersten Forderung entfiel dabei auf die Position des Vorsitzenden, der laut Satzung zugleich Klinikdirektor war, und der bei einem Sondervotum auch »in eigener Verantwortung gegen einen Beschluß des Kollegiums« handeln konnte. Weiterhin stünden lediglich drei Studenten »einer undefinierten und großen Übermacht von Professoren, Akademischen Räten und Assistenten« gegenüber. Dies sei absolut und relativ viel zu wenig. Die Öffentlichkeit könne überdies die Tagungen des Klinikrates nicht verfolgen. Bezüglich der Einbeziehung nichtwissenschaftlicher Mitarbeiter bemängelten die Studenten, dass diese bei Beratungen nur dann mit einbezogen würden, »wenn der Beratungsgegenstand ihr Interesse unmittelbar« berühre.201 198 199 200 201
Ebd. Ebd. Vgl. Hecken, S. 87. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO, 08. 01. 1970, S. 12.
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Psychiatriekritik
Dass die Einrichtung eines Klinikrates möglicherweise auch Dinge erreichen konnte, die durchaus studentischen Interessen dienten, fand allerdings keine Erwähnung. Das Gremium wurde vielmehr als Mogelpackung disqualifiziert und als Negativmodell im Ganzen abgelehnt. Wirkliche Demokratisierung bedeutete für die Studenten nämlich, in »alle Bereiche der Institutsarbeit einbezogen« zu werden: Lehre, Forschung, Haushalt und Personalangelegenheiten.202 Im Fall der Nervenklinik entlarve sich das »Modell eines ›mitbestimmten‹ Instituts oder Klinik als ein Mittel zur Integration studentischer Interessen. Sie sollen hier ausgenützt werden, um die Ausbildung besser funktionieren zu lassen, haben allerdings überdies keine Möglichkeit, über die Grundfragen und Voraussetzungen mitzubestimmen. […] Der Klinikrat als Akklamationsorgan!!!!!! So nicht, Kollegen!«203 Im Gegensatz zu einer im Vergleich eher inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Psychiatrie, die in den Vortragsreihen des Sprecherrats Nervenklinik einige Jahre später zu beobachten war, ging es im Jahr 1970 in erster Linie noch um Macht. Wozu diese letztlich dienen sollte, blieb jedoch unerwähnt. Möglicherweise waren sich die Studenten selbst nicht im Klaren darüber geschweige denn einig, was sie mit dem scheinbar so wichtigen Einfluss tun wollten, wenn er denn erreicht war. Mehr Einfluss zu gewinnen unter dem Schlagwort Demokratisierung erschien hier zunächst einmal Selbstzweck. Dass Kritik an den Strukturen und an fehlender Mitbestimmung durchaus berechtigt war, bleibt davon zwar unberührt, jedoch zeigt es auch, dass die von Simon Kießling beschriebene »antiautoritäre Prozesshaftigkeit« nicht darauf gerichtet war, etwas Stabiles, Positives zu etablieren, sondern im Gegenteil darauf, alles Gegebene, Bestehende, Vorgefundene prozessual zu zerreiben:204 »Dass die Rebellen stets zu sagen wussten, wogegen (gegen Springer, die Notstandsgesetze, die Große Koalition, den Vietnamkrieg, die Apparate usw.), nicht aber wofür sie kämpften, liegt auch darin begründet, dass die entfesselte Prozesshaftigkeit des Lebendigen nicht auf feste Zwecke (Modelle, Einrichtungen, Gegenentwürfe), sondern darauf gerichtet ist, den weltlichen, natürlichen Kreisläufen und Verfallsprozessen im Wege stehenden Bestand sukzessive aufzuzehren.«205
Im gleichen Jahr geriet auch das Landeskrankenhaus in der Kölnstraße in die Kritik, wo vorwiegend Suchtkranke, Demenzpatienten und psychisch Kranke behandelt wurden, Menschen, die sich in den Augen der Zeitschrift »akut« nicht in der Öffentlichkeit bemerkbar machen konnten. Das übernahmen nun Studenten, die auf die unzulänglichen therapeutischen Methoden ebenso auf202 203 204 205
Ebd., S. 13. Ebd. Kießling, S. 117. Ebd.
Kritik an den psychiatrischen Institutionen in Bonn und ihren Repräsentanten
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merksam machen wollten wie auf den maroden Bauzustand sowie die schlechte materielle und personelle Ausstattung. Zwangseinweisungen seien zudem an der Tagesordnung.206 Besonders drastisch wurde die Pflegesituation geschildert: Überfordertes Personal könne trotz guten Willens häufig nicht verhindern, »daß Patienten nächtelang im eigenen Urin liegen und am Tag meist nur oberflächlich mit einem Lappen gesäubert werden«. Doch auch die »individuelle Psychotherapie« schien auf Grund der katastrophalen Zustände gestört: Einerseits würden Beruhigungsmittel und Beschäftigungstherapie als »Allheilmittel« angesehen, andererseits verdecke die medikamentöse Therapie nur die Symptome insbesondere der Suchtkranken und versäume es außerdem, die »psychischen Ursachen der Sucht« ausfindig zu machen.207 Die Schilderungen in der Studentenpresse decken sich mit verschiedenen ähnlichen Beschreibungen, so beispielsweise Wolfgang Kraushaar, der im April 1969 als Kriegdienstverweigerer seinen Zivildienst in einer Psychiatrischen Klinik ableistete. Er beschreibt diese Zeit als eine »ebenso wichtige wie auch bedrückende Erfahrung, weil sie mich mit all dem psychischen Elend konfrontierte, das in der Gesellschaft üblicherweise verborgen blieb, und mir in aller Schonungslosigkeit zeigte, wie rechtlos Individuen, denen ihre Entscheidungskompetenz abgesprochen wurde, in einer derartigen Institution immer noch waren.«208 Kritikpunkte, die von der so genannten Antipsychiatrie hervor gebracht wurden, weisen auch hier Parallelen zu den Artikeln der Bonner Studentenpresse auf. Insbesondere die Empörung über die Behandlung in den psychiatrischen Einrichtungen, die als Verhandeln (Psychotherapie), Befriedung (Beruhigungsmittel), körperlichen Kampf (kalte Packungen und Zwangsjacken), durch zugleich immer »humaner« und »wirksamer« werdende Formen der Zerstörung (Elektroschocks und Insulinkomas) bis hin zur »Endlösung, das menschliche Gehirn in zwei oder mehr Scheiben zu schneiden« wahrgenommen wurde209, deckt sich in einigen Punkten mit den Vorwürfen in der Bonner Studentenpresse. Allgemein, so klagte die »akut«-Redaktion weiterhin, würden die Missstände in den öffentlichen Krankenhäusern nicht behoben, sondern »in unkontrollierbaren Hierarchien verfestigt und auf dem Verordnungswege gnädig mit Papier bedeckt«. Besonderes Augenmerk legte der Artikel auf die Krankenhaushierarchie, die »›heilige Herrschaft‹ der Direktoren des Landschaftsverbandes [Träger] und der Chef- und Stationsärzte« mit praktisch uneinge206 207 208 209
UAB, Sammlung »akut«, Nr. 64, 02. 06. 1970. Ebd. Kraushaar, Achtundsechzig, S. 47. Laing, S. 130.
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schränkter Weisungsbefugnis, die die Verantwortung üblicherweise in der Hierarchie stufenweise nach unten bis zum Pflegepersonal von sich wegschiebe. Das sei insofern besonders verwerflich, als die Anweisungen die vorhandenen Personalressourcen überschätzten und bei Fehlern das Pflegepersonal grundsätzlich zum Sündenbock erklärt werde, unabhängig davon, wer falsch gehandelt hat. Schockierende Beispiele wie etwa das Verschwinden von für Patienten bestimmten Nahrungsmittel sollten die Vorwürfe veranschaulichen.210 Die angeführten konkreten Mängel, die die Kritik am Landeskrankenhaus sicherlich emotionalisierten, konnten letztlich nicht darüber hinweg täuschen, dass es hier – wie auch schon in anderen Zusammenhängen dargelegt – um mehr ging. Eine Problemstellung (etwa die schlechte Pflegesituation) wurde nicht isoliert gesehen, sondern gleich in einen größeren Kontext gesetzt: Nicht nur einzelne Mängel, sondern das Prinzip der Anstalt selbst, die Funktionslogik geschlossener Institutionen, stand zur Debatte.211 Es handelte sich hierbei um Positionen, die im Rahmen der Achtundsechziger-Bewegung häufig zu finden waren. Besonders konkret wurde Erving Goffman, der in Anstalten wie psychiatrischen Kliniken »totale Institutionen« zu erkennen glaubte, wo sich Insassen (in diesem Fall Patienten) und Personal in einem auf Unterordnung und Sanktionsmacht beruhenden Wechselspiel wieder fänden, das die Insassen wiederum zu eigentümlichen Verhalten veranlasse, das weniger Ausdruck von Krankheit als Anpassung an die Institution darstelle.212 Spezifische Mängel in Einrichtungen wie dem Landeskrankenhaus in Bonn wurden so zu grundsätzlichen gesellschaftlichen Missständen erklärt. Die frühen siebziger Jahre prägte – auch als Reaktion auf Zustände wie die oben beschriebenen – die Suche nach institutionellen Arrangements, die zur Gesellschaft hin durchlässig waren und die vollständige Fusionierung der Lebensbereiche (wie Wohnen, Arbeiten, Freizeit usw.) aufhoben.213 Der Artikel kann als Ausdruck dieser Suche beziehungsweise dieses Sich-nicht-damit-abfinden-wollens aufgefasst werden. Im Zusammenhang mit pflegerischen und baulichen Mängeln in der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie finden sich in den Akten erstaunlicherweise keine Hinweise auf Proteste. Aufgegriffen wurden sie erst in den achtziger Jahren, allerdings nicht von studentischer Seite, sondern von der regionalen Presse, die zwar einige Verbesserungen bewirken konnte, jedoch letztlich vergeblich für die als dringend erforderlich erachtete Generalsanierung eintrat.214 210 211 212 213 214
UAB, Sammlung »akut«, Nr. 64, 02. 06. 1970. Vgl. Rudloff, S. 212 f. Zit. n. ebd., S. 212. Vgl. ebd., S. 213. Vgl. Schott, Universitätskliniken, S. 269.
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Neben Einrichtungen wie dem Landeskrankenhaus provozierten auch Haltungen und Äußerungen von Bonner Vertretern der etablierten Psychiatrie Kritik. Im Mai 1971 sahen sich Professor Weitbrecht und der an dem neu zu gründenden Lehrstuhl für Psychosomatik interessierte August Wilhelm von Eiff215 mit einer ganzen Reihe von Vorwürfen konfrontiert. Die Studentenzeitschrift »med-INFO« schien die Situation der Psychosomatik als so ernst zu erachten, dass sie ihr einen ausführlichen Artikel widmete. Untersuchungen, die zu dem Ergebnis gekommen seien, dass 30 bis 50 Prozent aller Patienten an psychischen oder psychisch bedingten körperlichen Krankheiten litten, wurden der geringen Zahl qualifizierter Psychologen gegenübergestellt sowie der fehlenden Kenntnis und Beachtung der gesamten psychosomatischen Problematik durch Ärzte. In Bonn verfüge die psychosomatische Abteilung des Universitätsklinikums nur über sechs Betten (für Forschungszwecke), zehn könne die psychotherapeutische Abteilung der Nervenklinik aufweisen, während nur sechs frei praktizierende Psychotherapeuten in näherer Umgebung tätig seien. Dieser Mangel gelte auch für die Psychiatrie, obwohl sie »gegenüber der Psychotherapie noch relativ gut bestückt« sei, und zwar in der gesamten Bundesrepublik.216 Dass Psychosomatik und Psychotherapie mittlerweile als medizinische Institutionen anerkannt seien (erkennbar etwa daran, dass Psychosomatik neues Prüfungsfach wurde), liege daran, dass die gravierenden Zustände sogar die »etablierte Medizin aufgeschreckt« hätten. Allerdings versuche man »im Kampf gegen die ›romantischen Sozialschwärmer‹ (Prof. ZEH217, Nervenklinik über MITSCHERLICH218) die Psychosomatik nahtlos in das traditionell somatisch orientierte Weltbild der klassischen Medizin hereinzuziehen, die psychoanalytische Theorie den spekulativen Geisteswissenschaften zuzuschlagen.«219 In diesem Zusammenhang richtete sich die Aufmerksamkeit auf die beiden Protagonisten Weitbrecht und von Eiff. Ersterer wurde laut Universitäts-Nachrichtenblatt 1966 zum Vertreter der Lehrstuhlinhaber in den Vorstand der 215 August Wilhelm von Eiff (1921 – 1998) war von 1973 bis 1987 Direktor der Medizinischen Universitätsklinik Bonn. Darüber hinaus beschäftigte er sich mit Fragen der Medizinethik, insbesondere im Zusammenhang mit der AIDS-Problematik und kirchenrechtlichen Aspekten. Vgl. Huber, S. 177. 216 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 10, Mai 1971, S. 3. 217 Wilhelm Zeh (*1915) habilitierte sich in Bonn unter Weitbrecht und war seit 1963 Professor für Neurologie und Psychiatrie und Leiter der Forschungsstelle für allgemeine Psychiatrie. Vgl. Peiffer, S. 1125. 218 Gemeint ist wahrscheinlich der Mediziner und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich (1908 – 1982), der von 1960 bis 1976 das von ihm gegründete Sigmund-FreudInstitut in Frankfurt am Main leitete. Seine Bücher (»Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft« (1963), »Krankheit als Konflikt« (1966), »Die Unfähigkeit zu trauern« (1967)) lösten tiefgreifende Diskussionen aus. Vgl. Anonymus, Mitscherlich, o.S. 219 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 10, Mai 1971, S. 3.
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Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde gewählt und darüber hinaus zum Vorsitzenden der Lehrstuhlinhaberkonferenz seines Fachgebietes.220 Für Weitbrecht, der 1955 ein kritisches Buch insbesondere zur psychoanalytischen Ausprägung der Psychosomatik (»Kritik der Psychosomatik«) verfasst hatte (und aus dem zitiert wurde), stellten »Geisteskrankheiten (endogene Psychosen) grundsätzliche körperliche Krankheiten« dar, welche aus bisher nicht erklärbaren Gründen schicksalhaft aufträten. Befürworter der Psychotherapie, die solche Krankheiten im Kontext psychologischer und soziologischer Bedingungen zu betrachten suchten, erschienen ihm als »Spekulanten, die das Dasein einer Psychose mit ihrem Sosein – also der Verständlichkeit ihrer biographischen Inhalte« verwechselten.221 Obwohl Untersuchungen mittlerweile eine so genannte »Poly-Ätiologie« nahe legten, hätten laut »med-INFO« etwaige psychosoziale Ursachen der Psychosen und die Ansätze und Erfolge der Sozialpsychiatrie bisher keinen Einfluss auf die Therapie.222 Das gelte insbesondere für Weitbrecht, der seine Auffassungen auch auf den Begriff der Neurose ausweitete: »Lebensnot eines Menschen als solche zur Krankheit zu stempeln ist ein Unding und gegenüber den Konsequenzen einer vollkommenen Begriffsanarchie scheint es uns das kleinere Übel zu sein, an dem wissenschaftlichen Seinsbegriff festzuhalten, […] für den Krankheiten ausschließlich Krankheiten des Leibes sind.«223
Weitbrechts Ansicht, die tiefenpsychologische Interpretierbarkeit der Krankheiten sei eine Selbsttäuschung, ein vergeblicher Versuch, Schicksal und Vorsehung in psychologische Immanenz herab zu zwingen, bewertete die Redaktion als dessen »pseudowissenschaftlich abgedeckte[n] ideologische[n] Grundlagen«.224 Empört resümierte »med-INFO«: »Damit wird die Krankheit gegen jeden Bezug zur gesellschaftlichen Realität abgedichtet und durch Verbindung mit religiösen Ideologien vergoldet (›Geborgenheit der Gotteskindschaft‹). Die Reduktion von Krankheiten auf somatische Funktionsstörungen, die Negierung psychischer oder psychosomatischer Krankheitseinheiten[,] sucht die Tatsache zu verschleiern, daß soziale Bedingungen zu Krankheitsquellen werden können und daß der Krankheitszustand des Individuums auf den Krankheitszustand der Gesellschaft schließen läßt.«225
220 221 222 223 224 225
UAB, Sammlung Universitäts-Nachrichtenblatt, Nr. 75, 01. 12. 1966, S. 1. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 10, Mai 1971, S. 3. Ebd. Ebd. Ebd., S. 4 f. Ebd.
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Der damalige aktuelle Gesundheitsbericht der Bundesregierung, nach dem Neurosen zukünftig verbreiteter, aber gesellschaftlich nicht mehr diskriminierend sein würden, und der die Behandlung von Psychosen und Neurosen durch Medikamente für möglich hielt, wurde gleichzeitig nicht als Fortschritt empfunden, sondern symbolisierte »die sarkastische Überspitzung des WEITBRECHT’schen Ansatzes. Die Psychopharmakotherapie als gigantisches Kaschierungsmittel einer neurotisierten Gesellschaft.« Deutlich wie nie hätten sich damit das Selbstverständnis des Arztes, Interessen der pharmazeutischen Industrie und Staatsraison verdichtet, was sich unter anderem darin äußere, dass bereits 1965 »für über 100 Millionen Mark Psychopharmaka in die frustrierten Individuen hineingestopft« wurden. Mit Unterstützung der Politik triumphiere die Scheinlösung von Konflikten.226 Darüber hinaus forderte Weitbrecht, ärztliche Heilung von der Erlangung des Seelenheils durch Arzt und Seelsorger zu trennen, »weil sonst der Ernst der Religion verloren« gehe. Die Ansicht, das Arzt-Patienten-Verhältnis als Verhältnis zweier Vernunftwesen aufzufassen, sei ein falsches Ideal. »Med-INFO« entgegnete, wenn der Arzt seinen Patienten ernst nehmen würden, »müßte er heraus aus dem Glaskasten seiner Krankenhaussubkultur und mit der Aufdeckung von Krankheitsursachen zugleich auch die gesellschaftlichen Widersprüche aufdecken und [’]therapieren.«227 Unter Berufung auf dem Psychotherapeuten Harry Stack Sullivan228 wurde die Auffassung geäußert, unter den aktuellen gesellschaftlichen Zuständen sei der Patient im Recht, der Arzt liege falsch. Würde man daraus Konsequenzen ziehen, erscheine das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) in Heidelberg in einem anderen Licht, das von »offiziellen Stellen« trotz anders lautender Gutachten bekämpft werde. Hier sei nämlich versucht worden, »durch eine aktive Beteiligung von Patienten an Organisation und Durchführung der Therapie als Therapieziel Emanzipation anstatt von Anpassung und Arbeitsfähigkeit zu erreichen und gleichzeitig die psychoanalytische Theorie mit ökonomischen, soziologischen und politischen Dimensionen zu verbinden.«229 Von Eiff, Leiter einer psychosomatischen Abteilung und Internist, stand aus Sicht der Redaktion von »med-INFO« für einen ähnlichen Ansatz wie Weitbrecht. Sich selbst als »vorwiegend somatisch orientiert« beschreibend, versuche er, die aus dem Freud’schen Ansatz entwickelte Psychosomatik »unter die Fittiche der etablierten Medizin zurückzuziehen«, und das gestörte Verhältnis von Psychoanalyse und Medizin in ein institutionelles Selbstverständnis auf226 Ebd., S. 5. 227 Ebd., S. 5 f. 228 Harry Stuck Sullivan (1892 – 1949) war ein amerikanischer Psychiater und Neo-Psychoanalytiker. Er gilt als Begründer der interpersonalen Psychiatrie. Vgl. Stumm, S. 467. 229 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 10, Mai 1971, S. 6.
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zulösen. In diesem Kontext zitierte »med-INFO« seine »unhaltbaren theoretischen Aussagen«: Der sich mit der Untersuchung der essentiellen Hypertonie beschäftigende von Eiff schrieb psychischen Krankheiten vergleichbare Entstehungsmechanismen zu: »Es ist weniger die Persönlichkeit des HypertonusPatienten, die seine Krankheit determiniert, noch ist seine Persönlichkeit Ergebnis dieser Krankheit.«230 Beide kritisierten Ärzte, so der Verfasser des Artikels, verträten einen Ansatz, in dem das Individuum durch somatische und genetische Faktoren soweit festgelegt werde, dass psychosoziale Bedingungen lediglich Epiphänomene darstellten, die in Diagnose und Therapie letztlich keine Rolle spielten. So sei es nicht weiter verwunderlich, warum daraus letztlich nur Psychopharmaka und stereotaktische Eingriffe in das Zentralnervensystem als Behandlung eingesetzt würden. Der Artikel hielt es darum für untragbar, von Eiff den Lehrstuhl für Psychosomatik zu überlassen.231 Etwa ein Jahr später zeigte sich, dass die Kritik, die an von Eiff geübt worden war, keinen Erfolg hatte, denn er wurde mit großer Mehrheit an die erste Stelle der Berufungsliste232 des Lehrstuhls »Innere Medizin des vegetativen Nervensystems und Psychosomatik« gesetzt. Besonders verärgert zeigte sich »medINFO« darüber, dass man sich auch durch Proteste der Deutschen Gesellschaft der Hochschullehrer in der Psychosomatik nicht beirren ließ. In Briefen233 hatten Professor Horst-Eberhard Richter234 aus Gießen und Professor Bräuti230 Ebd. 231 Vgl. ebd., S. 7. 232 Die Praxis der Berufungen stieß bei vielen Medizinern schon zuvor auf grundsätzliche Kritik: Als Relikt einer Zeit der »totalen Ordinarienherrschaft« schien sie eine Berufung auf Grund wissenschaftlicher, objektiver Kriterien gerade zu verhindern, vielmehr seien Beziehungen entscheidend: »Es ist z. B. eine bekannte Tatsache, daß jeder Professor sich gerne auf Berufungslisten findet. Er steigert damit seinen ›Wert‹ in Bleibeverhandlungen (mit der eigenen Fakultät) bzw. Berufungsverhandlungen. Wie ist es zu erklären, daß es Fakultäten gibt (unter anderem die Bonner medizinische), die regelmäßig bei Lehrstuhlbesetzungen auf Ordinarien zurückgreifen, also sowieso schon ›gestandene‹ Herrschaften. Merke: ›Ordinarius‹ als Gütezeichen – Handelsklasse SS.« UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 5/1970, S. 15 f. 233 So schrieb Richter : »Wenn Ihre Fakultät einen Internisten haben will, der lediglich pathologischer Spezialist vegetativer Regulations[s]törungen ist, dann wäre es u. U. notwendig, aus der Lehrstuhlbezeichnung das Wort Psychosomatik herauszulassen. Vor allem müßten sich die Studenten getäuscht fühlen, die mit Recht von einem Psychosomatiker zu erwarten hätten, daß er den Stoff des Lernzielkatalogs Psychosomatik wirklich von seiner Ausbildung und bisherigen Forschung her beherrscht.« Professor Bräutigam kritisierte: »Das Gebiet Psychosomatik hat eine enge Verbindung mit der psychotherapeutischen Untersuchungs- und Behandlungsmethode, es ist kaum vorstellbar, daß ein Lehrstuhl für Psychosomatische Medizin von jemandem vertreten wird, der keine psychotherapeutische Ausbildung selbst hat und auch keine Ausbildung in Psychosomatik vermitteln kann.« Zit. n. med-INFO Nr. 16, Juli 1972, S. 3 f. 234 Horst-Eberhard Richter (*1923) ist ein deutscher Psychiater und Psychoanalytiker.
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gam235 aus Marburg gegen die Berufung protestiert, ebenso ordneten sich die Studenten in die Reihe der Kritiker ein, indem sie erklärten, auch die entsprechende Fachschaftsdokumentation und ein Votum der Fachschaftsvollversammlung seien übergangen worden. Man sah den eigenen Protest offenbar als ebenso legitim an! Neben den bereits kritisierten Punkten befürchteten die Studenten, von Eiff sei weder in der Lage (fehlende psychosomatische Ausbildung) noch gewillt, Psychosomatik im Rahmen des von der neuen Approbationsordnung geforderten und der Hochschullehrerkonferenz präzisierten Themenkatalog in der medizinischen Ausbildung zu unterrichten.236 In einer Art offenen Brief an die »Spectabilitäten« hieß es: »Wieder einmal haben Sie uns demonstriert, mit welch unendlicher Kunkelei und Interessenverfilzung Sie Ihre ›Sachentscheidungen‹ treffen.« Die »verehrte[n] Mitglieder und Sympathisanten des BFdW237« hätten ihren eigenen Ansprüchen, nur Sachverständige238 könnten über medizinische Probleme mitbestimmen, verworfen. Wieder einmal – seit »den Vorgängen im Satzungskonvent« sei das nichts Neues – hätte man sich über ein eindeutiges Votum der Studenten hinweg gesetzt: »Bleiben Sie weiterhin blind dafür, daß gesellschaftliche Verhältnisse für Entstehen und Verlauf von Krankheiten wesentlich sind, daß Ihre mit immer komplizierteren Armaturen vollgestopften Anstalten bei immer mehr Krankheiten nichts mehr messen können.« Stattdessen unterstützten die »Spectabilitäten« die Pharmaindustrie dabei, doppelt an psychosomatischen Krankheiten zu verdienen, einmal, indem diese den Ausbeutungsgrad der Gesellschaft anheize, andererseits durch den Verkauf vermeintlich wirksamer Medikamente, um die Symptome der »psychosomatischen Reaktionen« zu überdecken. Vernichtend urteilte »med-INFO«: »Beharren Sie auch weiterhin auf dem Absolutheitsanspruch Ihrer[e] naturwissenschaftlichen Medizin und testen weiße Mäuse, um die Bedingungen menschlicher Existenz zu erfassen.«239 Mit der Berufungsentscheidung war in den Augen der linken Medizinstu-
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Von 1962 bis 1991 leitete er das Zentrum für Psychosomatische Medizin der Universität Gießen. Richter gehörte 1981 zu den Gründern der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW). Er veröffentlichte zahlreiche soziologische, medizinische, medizin-soziologische und psychoanalytische Standardwerke und Essays. Vgl. Anonymus, Verantwortung, S. 246. Gemeint ist eventuell Matthias Bräutigam, der heute Forschungsleiter Diagnostic Imaging bei Bayer ist. Sonstige Informationen seine Person betreffend liegen nicht vor. Vgl. Anonymus, Krebsmittel, o.S. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 16 /1972, S. 3. Gemeint ist der »Bund Freiheit der Wissenschaft«. Mit ihm, seiner Rolle und den Reaktionen auf seine Thesen bei den Bonner Mediziner beschäftigt sich ausführlich Kapitel 8 beziehungsweise das Teilkapitel 8.2. Wahrscheinlich wird hier auf das vielfach hervorgebrachte Argument angespielt, studentische Mitbestimmung sei insofern fragwürdig, als die Studenten nicht über die notwendige Sachkenntnis und damit Entscheidungskompetenz verfügten. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 16 /1972, S. 3 f.
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denten wieder einmal die Chance verpasst worden, »sich von innen heraus zu regenerieren«. Bereits jetzt könnten die Professoren die schlechte Ausbildungssituation nur noch mit Disziplinierungsmaßnahmen (wie einen nicht näher erläuterter, für unsinnig erachteter »Prüfungsbeschluß«) unter Kontrolle halten. Die Tatsache, dass von den finanziellen Mitteln des Landes NordrheinWestfalen zum Ausbau der Medizinischen Fakultäten nichts in Bonn ankomme, sei daher nur folgerichtig.240 Erbost resümierte man: »Nun ja, Ihnen kann das ja egal sein, solange Sie Ihre ökonomische Machtbasis verteidigen können. Nur reden Sie bitte nicht mehr von Ihrer[e] Verantwortung gegenüber Patienten und Studenten. Das glaubt Ihnen sowieso keiner mehr. Und wundern Sie sich auch nicht, wenn alle jene Patienten, denen Sie nicht mehr helfen können, Sie eines Tages von Ihren weißen Tempeln vertreiben. Die Rolle von tragischen Helden werden wir Ihnen dann nicht zubilligen.«241
Verschiedene zentrale Anliegen der Studenten, die vielfach im Rahmen der Achtundsechziger-Bewegung formuliert wurden, lassen sich in der Kritik an Weitbrecht und von Eiff nachweisen. Es ging hier in erster Linie darum, psychische Krankheiten den rein somatisch verursachten Krankheiten gleichzustellen und damit ihre Ätiologie zu verfolgen. Das Verfahren hierfür musste jedoch ein völlig anderes sein: Nicht etwa Messwerte körperlicher Funktionen und Laborparameter gaben Hinweise und Anhaltspunkte für die Diagnose, sondern das psychische Befinden, das soziale Umfeld des Patienten ebenso wie die Gesellschaft insgesamt. Ein weiteres Ziel der deutschen Psychiatriereform, die Beseitigung der rechtlich-sozialen Benachteiligung der psychisch Kranken242, fand ebenso Erwähnung. Weitbrechts Vorstellung, eine symmetrische Arzt-Patienten-Beziehung sei ein Wunschtraum, entstammte in den Augen der Bonner Studenten einer als rückständig erachteten ärztlichen Philosophie. In der Tat kann diese heute als überwunden angesehen werden. Der Artikel belegt, dass auch in Bonn dahingehende Reformimpulse vorhanden waren, denen offensichtlich großer Widerstand seitens des Universitätsklinikums beziehungsweise einiger Ärzte entgegen schlug. Die Beurteilung der Psychopharmaka als Ruhigstellungsmaßnahme und Mittel zur Verdeckung der Symptome einer nicht therapierten gesellschaftlichen Neurose erscheint angesichts der aus heutiger Sicht überholt geltenden Positionen der Protagonisten Weitbrecht und von Eiff zwar logisch und folgerichtig. Bewahrheitet hat sie sich jedoch nicht. Die heutige Praxis, die häufig eine kombinierte Behandlung mit Psychopharmaka und Psychotherapie vorsieht, 240 Ebd., S. 4. 241 Ebd. 242 Vgl. Kersting, S. 286.
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beweist, dass beide Therapien durchaus vereinbar sind. Insofern kann in diesem Fall von einer Fehleinschätzung durch die Studentenpresse ausgegangen werden. Interessant ist schließlich der Bezug auf das SPK Heidelberg als radikalem Ansatz im Rahmen der deutschen Psychiatriereform. Zur der Zeit, während der der Artikel verfasst wurde, existierte die Gruppe noch (und löste sich dann im Juli 1971 auf).243 Offenbar wurden die Haltungen der kritisierten Ärzte als so unerträglich empfunden und radikal abgelehnt, dass man entsprechend radikale Änderungen anstrebte. Gleichzeitig gibt die Erwähnung der Heidelberger Gruppe eine Vorstellung davon, wie sehr das SPK auch außerhalb Heidelbergs von sich reden machte. Der Gesundheitsbericht der Bundesregierung, der zwar Psychopharmaka (entgegen der Auffassung der Studenten) gutheißt, aber insgesamt von einer zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz psychischer Krankheiten spricht, wurde möglicherweise auf Grund der beschriebenen Radikalität nicht als Kompromiss akzeptiert. Stattdessen wurde der Sachverhalt so gedeutet, als sei diese Akzeptanz eben nötig, um die gesellschaftlichen Verhältnisse weiterhin unverändert lassen zu können. Und in der Tat zeigten sich die Bonner Studenten auch in den folgenden Jahren wenig diplomatisch und wohlwollend gegenüber Entgegenkommen seitens der Politik beziehungsweise der Universität, was beispielsweise die Auseinandersetzung zwischen Sprecherrat Nervenklinik und Studium Universale um die Finanzierung der 1976 stattfindenden Vorträge unter dem Leitthema »Probleme der Psychiatrie«244 nahe legt. Als die Appelle und Proteste gegen die Berufung von Eiffs scheiterten, zeigte man äußerste Empörung, fühlte sich übergangen und reagierte teilweise unangemessen mit persönlichen Angriffen. Die kritischen Briefe aus Gießen beziehungsweise Marburg, von denen zumindest einer von einem namhaften Psychosomatiker stammte, belegen zwar, dass die Studenten nicht allein waren mit ihren Bedenken, und in der Tat ist es kritikwürdig, einen »PsychosomatikGegner« auf den entsprechenden Lehrstuhl zu berufen. Doch das dahinter sogleich vermutete Kartell aus raffgierigen Professoren und Pharmaindustrie ist eine fragwürdige und waghalsige Schlussfolgerung, die nur unterstellt, aber nicht bewiesen werden konnte. Wie wichtig den Studenten auch noch im Jahr 1976 die Ausbildung in Psychotherapie und Psychosomatik war, zeigte der Ruf des zuständigen Professors Hans Quint245 an die Universität in Essen. Die gesamte Abteilung schien in den 243 Vgl. Brink, S. 166, 169. 244 Siehe auch Kapitel 2.1.4. 245 Biographische Informationen, die Hans Quint betreffen, sind sehr dünn gesäht: Während der siebziger Jahre war er Leiter der Abteilung für Psychotherapie, Tiefenpsychologie und
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Augen der Studenten gefährdet. Mögliche gravierende Konsequenzen beschrieb »med-INFO« in der Juni-Ausgabe: So könne Kleingruppenunterricht in den Praktika nicht fortgeführt werden, ebenso sei die psychiatrische Versorgung im gesamten Bonner Raum gefährdet. Letztlich wirke sich das auch auf die Ausbildung der Studenten aus, die dann weniger psychiatrische Krankheiten im Kurs behandeln könnten. Auch um die psychotherapeutische Versorgung der Studenten zeigte sich »med-INFO« besorgt: Die Arbeit der Psychotherapeutischen Beratungsstelle (PBS) drohe unter dem befürchteten Personalmangel zu leiden.246 Als Angebot für Studenten, die berechtigte Zweifel an ihrem »psychischen Gleichgewicht« hätten, wurde die Einrichtung schon 1969 in »ASTAINFO« vorgestellt.247 Die zuvor so häufig kritisierten Gremien schienen allerdings zumindest in diesem Fall den studentischen Interessen zu dienen: »Daher ist ein Votum von Seiten der Assistenten in das Kollegium der Nervenklinik eingebracht und von Studenten auch ein Antrag an die E-Fak [Engere Fakultät] gestellt worden, unmittelbar Maßnahmen zu ergreifen, die die Erhaltung der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik sicherstellen […].«248
Indirekt kritisierte »med-IFNO«, dass frei werdende Stellen nicht umgehend besetzt würden, und forderte neben der weiteren Erfüllung der Aufgaben in Lehre, Patientenversorgung und Studentenbetreuung die Einrichtung eines eigenen Lehrstuhls für Psychosomatik249, der auch fünf Jahre nach den Diskussionen um von Eiff noch nicht eingeführt worden war. Trotz allem ist die Kritik an den Bonner Psychiatrieinstitutionen und ihren Vertretern nur in diesen wenigen Fällen nachweisbar. Zwar lassen sich einige Themen herausarbeiten, die für ihre Zeit, die Zeit der Achtundsechziger-Bewegung und der deutschen Psychiatriereform, typisch sind, es kann allerdings auf Basis der vorliegenden Quellen nicht von einer breiten Protestfront gesprochen werden. Folglich blieb es offensichtlich bei Diskussionen und Kritik, die sich in erster Linie in vereinzelten Artikeln der studentischen Presse widerspiegelte. Konkrete Aktionen, wie etwa Besetzungen von Instituten oder Störungen von Vorlesungen, wie man sie von anderen Fakultäten und Universitäten kennt, lassen sich nicht nachweisen und sind auch angesichts der schmalen Quellenlage unwahrscheinlich.
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Psychosomatik der Universitäts-Nervenklinik Bonn. Er war einer der acht Gründungsmitglieder des 1958 gegründeten »Instituts für analytische Psychotherapie im Rheinland e.V.« (IPR). Vgl. Anonymus, Institutsgeschichte, o.S. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 34, Juni 1976, S. 10. UAB, Sammlung AStA-Info Band 1 – 3 (1967 – 69), ASTA-INFO Nr. 20, 13. 10. 1969, S. 1. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 34, Juni 1976, S. 10. Vgl. ebd.
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1972 druckte »med-INFO« einen Artikel, der unter der Überschrift »Sozialpsychiatrie« wesentliche Kritik und Reformansätze der deutschen Psychiatriereform thematisierte. Die Zeitschrift bediente sich dabei eines Satzes von Ronald D. Laing250, ohne jedoch seinen Namen zu nennen: »Ein heute geborenes [Kind] hat [hat] eine größere Chance in eine ›Heilanstalt‹ zu kommen, als auf die Universität«. Mit diesem Aufhänger wollte die Redaktion auf den hohen Bedarf psychiatrischer Betreuung aufmerksam machen. Gleichzeitig sei die Versorgungs- und Pflegesituation katastrophal.251 Gegenstand der Psychiatrie seien die so genannten endogenen Psychosen (Schizophrenien und manisch-depressive Verlaufsformen), die als wesensmäßig verschieden von erlebnisbedingten Neurosen und psychosomatischen Erkrankungen wie auch von den charakterlichen Fehlhaltungen, den Psychopathen, abgegrenzt würden. Die medikamentöse Therapie mit Neuroleptika (»chemische[n] Zwangsjacken«) wirke nur symptomatisch, indem sie Symptome drossele, und senke die Therapiedauer mit der Konsequenz steigender Wiederaufnahmen. Ein Blick nach Skandinavien und England schien neue Perspektiven zu eröffnen: Dort befasste sich eine durch das Modell der Therapeutischen Gemeinschaft252 bekannt gewordene Wissenschaft mit den sozialen Faktoren von seelischer Gesundheit und Krankheit – wenn man den Äußerungen des Flugblatts Glauben schenkt.253 Am Beispiel der schizophrenen Psychose konkretisiere sich der Ansatz in zwei Bereichen: – Familienpsychiatrische Untersuchungen beschrieben nach Auffassung der Studenten »eine Art gestörten Sozialverhaltens mit ganz besonderen Kommunikationsformen, die durch die Familie [–] als Vermittler sozialer Normen bedingt ist.« Diese so genannte Pseudogemeinschaft sei durch ein hohes Maß an persönlicher Entfremdung und durch eine Double-Bind-Situation gekennzeichnet. Demzufolge müsse eine entsprechende Therapie den Patienten innerhalb der familiären Umgebung beziehungsweise des Milieus belassen.
250 Siehe auch S. 58. 251 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, med-INFO Nr. 14, Januar 1972, S. 12. Die Seitenzahlen des Artikels entsprechen nicht der tatsächlichen Reihenfolge der Seiten. Statt in der üblichen Folge von Seite 12 bis 16 sind sie folgendermaßen angeordnet: 12 – 15 – keine Seitenangabe – 13 – 14. 252 Zur Erläuterung des Begriffs siehe S. 20. 253 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, med-INFO Nr. 14, Januar 1972, S. 12.
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David Cooper254 erreiche so bessere Ergebnisse als die konventionellen Therapien und das ohne den Einsatz von Psychopharmaka. – Epidemiologische Untersuchungen sprächen gleichzeitig von einem gehäuften Auftreten psychischer Störungen aller Art in den unteren sozialen Schichten.255 Warum aber besteht ein Zusammenhang zwischen der Inzidenz psychischer Krankheiten und der Schichtzugehörigkeit? Für »med-INFO« erschien die Antwort zunächst ganz banal: »wer mehr Belastungen ausgesetzt ist, hat auch das größere Erkrankungsrisiko.« Jedoch hätten Angehörige höherer sozialer Schichten bei gleichem »Stressdruck« eher die Möglichkeit, auf andere »Befriedigungsmöglichkeiten« auszuweichen. Bei Arbeitern hingegen schienen sich die Belastungsfaktoren (beispielsweise stumpfsinnige Arbeitsprozesse, schlechte Wohnverhältnisse) aufzusummieren. Auf diese Untersuchungen, so der Verfasser, könnten die in medizinischen Lehrbüchern genannten »sozialen Alibis wie ›Umwelteinflüsse‹ und ›Milieu‹« spezifiziert werden. Doch auch die Behandlung sei schichtabhängig: Neben der klassenbezogenen Gesundheitsorganisation, vertreten zum Beispiel durch Privatkliniken und Privatstationen, hätten amerikanische Studien auch eine kürzere Behandlungsdauer bei sozial schlechter gestellten Menschen nachgewiesen.256 Resigniert ergänzte »med-INFO« an konkreten Beispielen257, es gäbe außerdem zu wenige Psychotherapeuten, die wenigen vorhandenen wiederum würden auch noch die zahlungskräftigsten Patienten bevorzugen. Auch seien die gegenwärtigen Methoden der Psychotherapie sprachlich auf Angehörige der oberen sozialen Schichten zugeschnitten, die die »Formulierungs- und Abstrahierungsgewohnheiten« mit dem in der Regel der gleichen Schicht zugehörigen 254 David Cooper (1931 – 1986) gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Antipsychiatrie. Seiner Auffassung nach ergaben sich psychopathologische Veränderungen, selbst Geisteskrankheiten wie die Schizophrenie, aus Krisensituationen der sozialen Kleingruppe, meist der Familie. Aus irgendwelchen Gründen, die in der Struktur dieser Kleingruppe liegen, werde das Verhalten einer ihr zugehörigen Person verneint. Sie werde somit zum Sonderling und zur Unperson abgestempelt, ausgesondert und damit in ihrer »Abartigkeit« noch verstärkt. Vgl. Thielicke, S. 60. 255 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, med-INFO Nr. 14, Januar 1972, S. 12; 15. 256 Ebd., S. 15. 257 So wurde beispielsweise beklagt, dass lediglich 500 Psychotherapeuten in der gesamten Bundesrepublik tätig seien. Deren bevorzugtes Patientengut seien diejenigen, die sich den Stundenlohn von gegenwärtig 50 DM bei einer Behandlungsdauer von 500 Stunden (etwa bei einer Neurose) leisten könnten. Demgegenüber gebe es etwa am Kölner Landeskrankenhaus Brauweiler für 500 Patienten keinen einzigen psychotherapeutisch ausgebildeten Arzt. UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, med-INFO Nr. 14, Januar 1972, S. 15.
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Therapeuten teilten. Schließlich verhindere auch die gesetzliche Krankenversicherung eine angemessene Behandlung: Maßnahmen, »die über eine Beseitigung der aktuellen Störung hinaus auf eine Umstrukturierung des Patienten hinzielen«, würden nämlich nicht erstattet. Somit würde – was unzureichend sei – an den Symptomen angesetzt. David Coopers Thesen von der Gewalt in der Psychiatrie wurden unterstützt, weil sie für die Studenten insofern zuzutreffen schienen, als »die ›Guten‹ und ›Gesunden‹ sich selbst als solche definieren, indem sie eine gewisse Anzahl von ihnen für ›Verrückt‹ und ›Schlecht‹ erklären und ausstoßen. Der Psychiater als Agent homöostatischer Moralthesen also.«258 Die Kette von antipsychiatrisch berührten Gedanken wurde also fortgesetzt: Die Beschränkung der Psychologen und Psychiater auf die Psychopathologie des vermeintlich Abnormen müsse einer Beschäftigung mit den »normalen« psychologischen Korrelaten der »normalen« Zustände weichen. Konkret wurde hier beispielsweise der Vietnamkrieg259 als »eine der offenkundigsten normalen Äußerungen« betrachtet.260 Auch der von Klaus Dörner261 geprägte ökonomische Aspekt fand Erwähnung. In einer historischen Analyse der Psychiatrie sprach dieser von der ökonomisch und gleichzeitig zur Systemstabilisierung notwendigen Integration von gesellschaftlichen Randgruppen in der industriell-kapitalistischen Gesellschaft. Vernünftig erscheine damit, was dem »ökonomischen Verwertungsprozess« diene. Was ihm zuwiderlaufe, werde für unvernünftig erklärt und ausgegrenzt. Auch hier wurden die unter einigen Studenten offenbar mit großer Skepsis betrachteten Psychopharmaka als Argumentationshilfe herangezogen. So seien »die randvoll mit Neuroleptica gestopften Patienten« wenigstens zeitweise arbeitsfähig. Hilft auch das nicht mehr, würden sie in Landeskrankenhäuser abgeschoben und verwahrt. Auch Thomas Szaszs262 Thesen, die noch einen anderen ökonomischen Aspekt in der so genannten Hospitalisierung nahe legen, kamen zur Sprache: In den USA habe die Hospitalisierung »nicht ar258 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, med-INFO Nr. 14, Januar 1972, S. 15 und die folgende Seite ohne Seitenangabe. (Nach üblicher Zählung müsste es sich um die Seiten 13 f handeln.) 259 Siehe auch Kapitel 5.1. 260 Laing, S. 138. 261 Klaus Dörner (*1933) war von 1980 bis 1996 Leitender Arzt des Psychiatrischen Landeskrankenhauses in Gütersloh und Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie an der Universität Witten/Herdecke. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen unter anderem Auflösung der Heime und Revision des Gesundheitssystems. Vgl. Dörner, S. 9. 262 Thomas Stephen Szasz (*1920) ist ein US-amerikanischer Psychiater. Er gilt als Antipsychiater und Mitbegründer der Bewegung, was er selbst jedoch bestreitet. Als strikter Gegner der Zwangspsychiatrie machte sich Szasz einen Namen. Darüber hinaus stellte er in seinem Hauptwerk »The Myth of Mental Illness« (1961) die Theorie auf, dass Konzepte wie psychische Normalität und Verrücktheit willkürliche Definitionen seien. Vgl. Anonymus, Thomas Szasz, o.S.
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beitsfähiger ›Irrer‹« die Arbeitslosenquote senken und durch den Aufbau eines dafür geeigneten Krankenhaussystems Arbeitsplätze schaffen können.263 Um auch die politische Relevanz der so postulierten Gewalt in der Psychiatrie zu unterstreichen, zog »med-INFO« ein Beispiel aus der Justiz heran: Für schuldunfähig erklärt wurde darin ein Angeklagter mit Schädelverletzung, die mit messbaren Hirnveränderungen einher ging (also somatisch fassbar war), nicht aber ein psychisch kranker Angeklagter. »Seelische Schäden zählen also nicht bei der Bemessung der Schuldfähigkeit, wo der sichtbare Körperdefekt fehlt – wie bei den Psychosen – wird er hypostasiert.« Dabei sei der so genannte Psychopath zwar abnorm, aber eben nicht krank. Eine Erklärung für das Vorgehen von Justiz, Politik und Gesellschaft war schnell gefunden: »Der Psychopathiebegriff stellt dabei den Abfallkorb alles dessen dar, was sich Psychiatrie und Justiz nicht erklären können oder wollen, weil das zu Erkenntnissen führen könnte, die an dem Konsensus hinsichtlich der erwünschten Schuldfähigkeit rühren würde.« Damit sei ein Teufelskreis geschaffen, der die Menschen letztlich ins Gefängnis führe. Pädagogische Hilflosigkeit resultiere in strafender Härte. Im gleichen Maße wie die Gesellschaft es versäume, soziale Ursachen zu analysieren, schütze sie sich selbst »vor dem möglichen Hilfsanspruch des Abnormen durch die Ghettos des Strafvollzuges«. Erneut wurde Weitbrechts viel kritisierte Definition des Psychopathen (»Geisteskrankheiten sind grundsätzlich körperliche Krankheiten.«) herangezogen, um die gesellschaftlichen Verhaltensnormen zum »Fangeisen des seelisch Kranken« zu erklären.264 Was aber sollte die viel gepriesene Sozialpsychiatrie tun? In erster Linie, so die Meinung von »med-INFO«, sei es ihre Aufgabe, die Faktoren Gesellschaft und ihre Mikrostrukturen (allen voran die Familie) in einer gewaltlosen Psychiatrie einzubringen, die sich vor einer politischen und gesellschaftskritischen Aufgabe nicht mehr verschließen könne. Nur so sei überhaupt eine echte Prävention möglich. Trotzdem werde in der Bundesrepublik die Sozialpsychiatrie fälschlicherweise mit der Öffnung bisher geschlossener Kliniken gleichgesetzt. Progressive Ansätze würden darüber hinaus unterdrückt, so zum Beispiel das SPK Heidelberg, »das aus der Krankheitsentstehung den direkten politischen Kampf von Therapeut und Patient ableitete« und das letztlich an permanenten Behinderungen und Kriminalisierungen gescheitert sei.265 Ein mehr als fragwürdiger Erklärungsversuch! Auch die Bonner Nervenklinik (»die sich gern als modernste Nervenklinik Europas feiern« lasse) zeichne sich durch eben solche Bestrebungen aus: 263 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Med-INFO Nr. 14, Januar 1972, o.S. (nach üblicher Zählung S. 14). 264 Ebd., Seite ohne Seitenangabe; S. 13 f. (nach üblicher Zählung S. 14 f.). 265 Ebd.
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– Erst ab dem Wintersemester 1971/72 würden sozialpsychiatrische Thesen im Unterricht erwähnt, während gleichzeitig ein entsprechender Lehrstuhl fehle. – Ambulante Betreuung sei praktisch nicht möglich. Die neue Nachtstation sei schon wieder zweckentfremdet. – Der einzige Sozialarbeiter sei überlastet und könne sich um die dringenden Probleme der Patienten nicht kümmern. – Empört zeigte sich »med-INFO« außerdem darüber, dass die leer stehende Klinik in der Bonner Wilhelmstraße zu einer chirurgischen Ambulanz umgebaut werden sollte, während die Möglichkeit, darin eine Stadtambulanz aufzubauen, nicht diskutiert werde. Größtes Hindernis in der praktischen Arbeit sei jedoch Schneiders Konzept von der Entstehung psychischer Krankheiten (die bereits beschriebene Unterscheidung zwischen somatisch verursachten »echten« psychischen Krankheiten und den nicht wirklich krankhaften »Spielarten des menschlichen Wesens«), auf das sich wiederum Direktor Weitbrecht berufe, wenn er zwar einräume, die Sozialpsychiatrie habe »viel Interessantes für das Verhalten des neurotischen und psychotischen Menschen in der Sozietät« geliefert, über die Ätiologie von Psychosen seien allerdings keine neuen Erkenntnisse gewonnen worden.266 Viele bereits beschriebene Thesen der psychiatriekritischen Achtundsechziger-Bewegung, etwa die gesellschaftliche Verursachung psychischer Krankheiten, die Kritik an Psychopharmaka, der Selbsterhaltungstrieb der bürgerlichen Gesellschaft und anderes, kamen auch hier zur Diskussion. Was aber war neu? Drei Repräsentanten der so genannten Antipsychiatrie (Cooper, Laing, Szasz) wurden erwähnt und ihre Thesen nicht nur beschrieben, sondern offen unterstützt. In der Tat beschäftigte sich der Artikel wie seine »antipsychiatrischen Vorbilder« typischerweise nicht nur damit, Missstände anzuklagen, sondern wandte sich gegen die medizinischen und psychopathologischen Konzeptionen der Psychiatrie, letztlich sogar gegen das psychisch Kranksein an sich. Psychische Krankheit erschien als ein Produkt sozialer Prozesse beziehungsweise von Fehlentwicklungen sozialer Gruppen einschließlich der Familie.267 Insbesondere die Schizophrenie stand während der Blütezeit der Antipsychiatrie (etwa von 1965 bis 1975) als Metapher für Widersprüchliches, Missliches und Unbewältigtes in der Gesellschaft.268 Vereinfachend gesagt: Schizophren war, was den Zielen der »Achtundsechziger« zuwider lief, in erster Linie natürlich die ver-
266 Ebd., Seite ohne Seitenangabe; S. 13 f (nach üblicher Zählung S. 14 f.). 267 Vgl. Schott/Tölle, S. 210 f. 268 Vgl. ebd., S. 206.
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Psychiatriekritik
meintlich in sich zerrissene Gesellschaft mit all ihren Widersprüchen und Grausamkeiten. Im Rahmen der Überlegungen zu einer Reform beziehungsweise Revolution der Psychiatrie galt die so genannte Therapeutische Gemeinschaft als einzig zulässige psychotherapeutische Möglichkeit. Sie schien die Psychiatrie als Ganzes überflüssig zu machen und ihre potentielle Schädlichkeit zu offenbaren. Von der Realität entfernten sich die Verfechter solcher Thesen, und dazu zählen offensichtlich auch einige Bonner Studenten, allerdings mehr und mehr, indem sie stets von theoretischen Positionen her argumentierten. Das Schicksal der Patienten wurde hier zwar prinzipiell berücksichtigt, indem Missstände und Benachteiligung psychisch Kranker angeklagt wurden. Allerdings stellte niemand in Frage, ob die viel gepriesenen Ansätze der Sozialpsychiatrie den Menschen stattdessen und ausnahmslos helfen konnten.269 Dass dem so sei, davon ging man auch in Bonn offenbar vorbehaltlos aus. Kritiklose, autoritätshörige Haltungen bei Gegnern festzustellen war sicherlich alltäglich in bestimmten studentischen Kreisen. Die Dokumente zu dieser Zeit legen jedoch auch den Schluss nahe, dass die gleichen Studenten selbstkritischen Gedanken, die die eigenen Positionen betrafen, nicht allzu viel Zeit widmeten. Nur so ist es zu erklären, dass man aus heutiger Sicht überholte Auffassungen in der Psychiatrie mit ebenso inakzeptablen Thesen des SPK beantworten wollte, welches auch terroristische Gewalt in Kauf nahm, um seine Ziele zu erreichen. Die von den in der Studentenpresse hochgelobten Laing und Cooper gegründete Kingsley Hall in London zur Behandlung von Schizophreniepatienten bestand im Übrigen nur von 1965 bis 1969. Gründe für ihre Aufgabe waren vor allem ausbleibende Erfolge und überlastetes Personal.270 Ihre Thesen und Ideale wirkten aber fort und erschienen »med-INFO« auch noch im Jahr 1972, also drei Jahre später, aktuell. Man kann dies durchaus als weiteren Hinweis auf ein gewisses Maß an Egozentrik und mangelnde Fähigkeit zur Selbstkritik einiger doch recht radikaler Bonner Studenten deuten. Schließlich fanden die gleichen Repräsentanten (beispielsweise Cooper) auch in den Flugblättern des Sprecherrats Nervenklinik einige Jahre später noch Erwähnung. Trotzdem hielt sich ihre Bedeutung wohl in Grenzen, worauf die insgesamt eher dürftige Aktenlage hinweist. Vermutlich ließen sich weite Teile der Bonner Medizinstudenten spätestens in den siebziger Jahren nicht (mehr) von den antipsychiatrischen Thesen beeinflussen. Allerdings überlebten die Ideen wohl in einem als recht klein einzuschätzenden Kreis noch recht lange. Es finden sich aber letztlich keine Beweise
269 Vgl. ebd., S. 210 f. 270 Vgl. ebd., S. 212.
Zusammenfassung
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für eine wirklich große Verbreitung und Akzeptanz bei den Studierenden der Medizinischen Fakultät.
2.4
Zusammenfassung
Versucht man die Frage zu beantworten, was die Achtundsechziger-Bewegung an der Medizinischen Fakultät in Bonn bewirkt hat, indem man zunächst einmal die Menge an Akten im Universitätsarchiv den jeweils relevanten Thematiken zuzuordnen versucht, so wird bereits an diesem Punkt klar, dass man die eindeutige Konzentration auf den Bereich Psychiatrie als charakteristisch bezeichnen darf. Dies ist insofern nicht überraschend, als es sicher eines der wenigen »medizinischen Themen« war, das von der Mehrheit der Studentenbewegung aufgegriffen und diskutiert wurde, weil es viele Rückstände offenbarte und Angriffspunkte bot, die sich für die Infragestellung gesellschaftlicher Normen und Strukturen zu eigneten. Diskussionen und Vorträge blieben durchgehend das, was sie waren. Zwar forderten die Studenten darin permanent praktische Konsequenzen, von einzelnen Verbesserungen in den Krankenhäusern bis hin zum gesamtgesellschaftlichen Umsturz, letztlich belegen lässt sich zumindest im Bereich der Psychiatrie aber keine einzige wie auch immer geartete Aktion mit praktischem Charakter. Es kann festgehalten werden, dass die wesentlichen Aspekte der deutschen Psychiatriekritik und Psychiatriereform in Bonn diskutiert wurden. Im Vergleich zu anderen Städten (wie etwa Heidelberg mit seinem Sozialistischen Patientenkollektiv) kann die Kritik an der etablierten Psychiatrie aber nur von einer eher kleinen Gruppe geäußert worden sein, die außerdem nicht selten den politischen und auch fachbereichsbezogenen Realitäten (vor allem jener in Gestalt der Psychiatrie-Enquete) zeitlich hinterher hinkte. Von einer Art Pionierrolle der Bonner Mediziner kann also keine Rede sein. Vielmehr reihten sie sich in eine die gesamte Republik erfassende Bewegung zwar eifrig und idealistisch, aber insgesamt doch recht passiv ein.
3.
Kritik an Lehre und Situation der Studenten
»Wir wollen unsere Lehrer behalten!« Im November 1967 protestierte »ASTAINFO« gegen das »alte Anti-Haus-Prinzip« des Instituts für Physiologische Chemie und des Anatomischen Instituts, deren frei werdenden Lehrstühle mit Bewerbern anderer Universitäten besetzt werden sollten.271 Dieser recht hilflose Appell an die Verantwortlichen ist insofern auffällig, da er zu einer Zeit auftrat, während der sich schon viele Fakultäten, nicht jedoch die Mediziner, deutlich aggressiver und fordernder gegen ihre Universität auflehnten. Fundamentale Kritik der Mediziner, die sich wie in anderen deutschen und ausländischen Universitäten an unzureichenden Studienbedingungen ebenso entzündete wie an der bornierten Art der Herrschenden in Hierarchien272, folgte erst in den Jahren danach. Mit ihr soll sich das folgende Kapitel befassen.
3.1
Die Zulassungsfrage
Im Wintersemester 1968/69 standen in Bonn 130 Studienplätze für Medizinstudenten zur Verfügung. 508 Bewerber nannten die Universität an erster Stelle der gewünschten Studienorte.273 Dieses Missverhältnis bot zusammen mit geplanten Änderungen im Zulassungsverfahren offenbar Konfliktpotential. »Akut« griff das Thema auf und glaubte sein politisches Potential zu erkennen: Im Januar 1969 titelte die Zeitschrift »Verschärfte Willkür!« und spielte damit auf die Abschaffung der so genannten »Wechselprüfung« an. Diese verhalf bisher Studienanfängern, die sich provisorisch in der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät eingeschrieben hatten, nach dem ersten Semester zu einem Leistungsnachweis, mit dem diese dann ein Medizinstudium aufnehmen 271 UAB, Sammlung AStA-Info Band 1 – 3 (1967 – 69), ASTA-INFO Nr. 19, 28. 11. 1967, S. 1. 272 Vgl. Bollinger, S. 108. 273 UAB, Sammlung Universitätsnachrichtenblatt, bonner universitäts-nachrichten Nr. 20, 30. 11. 1968, S. 5 f.
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Kritik an Lehre und Situation der Studenten
konnten. Fortan sollten jedoch 60 Prozent der Plätze nach Abiturnoten, der Rest nach Warteliste vergeben werden.274 Bisher hatte folgendes Verfahren gegolten: 40 Prozent der Bewerber wurden nach dem so genannten »Anciennitätsprinzip«, das sich auf den Abiturjahrgang bezog, ausgewählt, von der verbleibenden Anzahl 10 Prozent nach Abiturnote und 50 Prozent durch die beschriebene Fachwechselprüfung in Chemie, Physik und Anatomie.275 Mit der neuen Regelung würden die »willkürlichen und nachweislich der sozialen Chancengleichheit hohnsprechenden Aufnahme- und Zulassungsbedingungen zum Medizinstudium noch verschärft«. Es sei inzwischen offenbar üblich, dass Lehrköper, die Verwaltung der Universität und erst recht die Studenten bei der Ausarbeitung der neuen Aufnahmeregeln von der Ministerialbürokratie ausgetrickst würden. »Akut« schloss daraus, dass die »Formierung der Hochschule« Fortschritte mache. Kennzeichnend für diese Tendenz seien »Zwischenprüfungszwang, oktroyierte Hochschulverfassungen[,] [und] befohlene Forschungsschwerpunkte«. Nachdem in letzter Zeit bereits andere Studenten diese Erfahrungen hätten machen müssen (die Philosophische Fakultät und die Chemischen Institute als namentlich genannte universitäre Abteilungen), seien nun auch die Mediziner zunehmend betroffen.276 Die neuen Bedingungen gingen zurück auf den Beschluss der Ständigen Konferenz der Kultusminister im Oktober 1968. Schon am 15. November mussten die neuen Richtlinien ausgearbeitet sein, die dann am 6. Januar 1969 in Düsseldorf besprochen wurden. »Akut« kritisierte diesen raschen Zeitplan, der die Landesuniversitäten regelrecht überrollt habe. Ministerialdirigent Ludwig Vogtmann277 zeigte sich am Besprechungstermin überrascht von der großen Anzahl anwesender Vertreter der Universitätsverwaltung, Professoren und Studenten, lehnte jedoch eine Diskussion über den Inhalt des Erlasses ab. Gestattet seien lediglich begründete Verständnisfragen. Zudem seien Zulassungsfragen eminent politisch, ihre Klärung obliege daher dem Kultusministerium. »Akut« kommentierte: »Wer es nach solchen Äußerungen noch wagt, der Studentenschaft das politische Mandat abzusprechen, gibt offen zu erkennen, daß er sie zum unmündigen Objekt der Staatsbürokratie bestimmt.«278 Das geplante Auswahlverfahren nach Wartezeit wurde scharf kritisiert. Es laufe darauf hinaus, dass sich materiell besser gestellte Studenten die Zulassung 274 275 276 277
UAB, Sammlung »akut«, akut Nr. 47, 16. 01. 1969, S. 1. Vgl. ebd., S. 3. Ebd., S. 1. Ludwig Vogtmann (*1919) begann seine Karriere im Kultusministerium von NordrheinWestfalen 1954 als Regierungsassessor beziehungsweise Regierungsrat. Zum Ministerialdirigenten wurde er 1967 ernannt. Den Posten behielt er bis zur seiner Pensionierung 1982. Vgl. Ackermann, S. 211. 278 Vgl. UAB, Sammlung »akut«, akut Nr. 47, 16. 01. 1969, S. 3.
Die Zulassungsfrage
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zum Medizinstudium »ergammeln« könnten. Gegen die Zulassung nach Abiturnote anstelle der Wechselprüfung spreche »so gut wie alles«. Während die Kultusministerkonferenz die Gefahr einer Aushöhlung der Hochschulreife sah, argumentierte »akut« im Sinne einer nicht näher genannten Untersuchung aus Münster, nach der Abiturnoten und Ergebnisse der medizinischen Prüfungen nur sehr gering korrelierten. Empfohlen wurde demnach das Losverfahren, das auch »akut« offenbar als das kleinere Übel ansah: »Wo alles durch und durch irrational ist, wirkt die Willkür des Zufalls rational und erträglich.« Unerträglich seien dagegen die durch die gegenwärtigen Aufnahmebestimmungen bedingten Verstöße gegen die soziale Chancengleichheit, die Zulassungsrichtzahlen, die sich nicht nach Bedarf, sondern nach den Forderungen konkurrenzbewusster ärztlicher Standesorganisationen richteten, und »autoritäre und allgewaltige Institutsherren«. Kritisiert wurden weiterhin eine nicht praxisbezogene Ausbildung und ein Prüfungsstoff, der trotz der vielen Prüfungen letztlich nur kurzfristig abfragbares Wissen voraussetze und zudem vom persönlichen und fachbezogenen Geschmack des Prüfers abhänge.279 Ein Jahr später schien die Unzufriedenheit der Bonner Mediziner immer noch groß. Nur so lässt sich erklären, warum die Fachschaft eine Klage gegen die »widerrechtlichen Zulassungsbeschränkungen per ›numerus clausus‹« unterstützte, die mehrere Studenten beim Verwaltungsgericht Köln einreichen wollten. Dazu forderte man alle Kommilitonen, »die bislang an der freien Wahl ihres Berufes durch diese Einschränkungen gehindert worden« seien, auf, sich im Fachschaftszimmer der Anatomie in eine Liste einzutragen.280 Die Mediziner planten nicht weniger als »den Schritt […] aus der so beruhigenden und bequemen Wärme der verbalradikalen Kritik, […] den Schritt […] in das kalte Wasser des praktizierten Widerstandes gegen ein sich demokratisch nennendes Regime, was sich dennoch seiner autoritären […] Sache so sicher ist,[]daß es sich erlauben kann, selbst die im Grundgesetz enthaltenen elementaren bürgerlichen Freiheiten außer Kraft zu setzen, zu einer Farce werden zu lassen.«281
Diese doch recht drastischen geforderten Maßnahmen zielten ausdrücklich auf den Kampf gegen den »CDU-AStA« auf universitärer Ebene, der sich in den Augen des Verfassers mit einem tragikomischen Schauspiel in dieser Frage disqualifiziert hatte, und gegen die »westdeutsche Ministerialbürokratie«282 im 279 Ebd. 280 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Wolfgang Wahl in med-INFO, 08. 01. 1970, S. 8. 281 Ebd. 282 Diese und etliche weitere Aussagen dieses Abschnitts sind exemplarisch für den sich insbesondere unter den Ideologen der Neuen Linken verbreiteten Wissenschaftsjargon, ein durch Fremdwortwahl und Satzbau für den Leser oft qualvolles Soziologendeutsch, dessen
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Allgemeinen.283 Darüber, ob es zu einem Rechtsstreit kam beziehungsweise wie dieser ausging, berichtete die Studentenpresse in den folgenden Monaten und Jahren nicht mehr. Es ist also wahrscheinlich, dass das Vorgehen nicht von Erfolg gekrönt war, sei es wegen des Mangels an Studenten, die vor Gericht ziehen wollten, wegen geringer Erfolgsaussichten oder gar wegen eines Scheiterns284 der Klage. Fest steht jedoch, dass die Praxis des Numerus clausus durchaus emotionale Debatten bewirkte. Die weitere Auseinandersetzung mit diesem Thema blieb dann theoretischer Natur. »Med-INFO« übte sich darin, die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe zu erforschen, die für den Numerus clausus verantwortlich schienen. Hier verlagerte sich das Interesse wenig später auf den Wissenschaftsrat285, der Empfehlungen bezüglich der Planung und des Ausbaus der Barrieren aber das Überspringen der entscheidenden Neologismen und Begriffsumwertungen in die Gebrauchssprache nicht behinderten. Allerdings schwelgte diese Sprache permanent in Abstraktionen, weil Konkretisierungen und Beispiele immer ein Prüfstand waren, an dem Beweisnöte und Denkfehler sichtbar geworden wären. Vgl. Schneider, Sprache, S. 74. 283 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Wolfgang Wahl in med-INFO, 08. 01. 1970, S. 8. 284 1977 erklärte das Bundesverfassungsgericht im Übrigen in seinem Numerus-clausus-Urteil endgültig Zulassungsbeschränkungen an Hochschulen für rechtens. Es wandte sich damit gegen das »unbegrenzte[n] subjektive[n] Anspruchsdenken auf Kosten der Allgemeinheit«, das es für unvereinbar mit dem Sozialstaatsgedanken hielt, jedoch ohne Erfolg: Die plötzliche »Öffnung der Schleusen« bewirkte vor und besonders nach 1969 unerwünschte gesellschaftliche Folgen: Massenbetrieb und Niveauverlust, Frustration und Arbeitslosigkeit. Bracher, S. 311. 285 Das »Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern über die Errichtung eines Wissenschaftsrates« definiert die Aufgaben des Gremiums folgendermaßen: »Der Wissenschaftsrat hat die Aufgabe, im Rahmen von Arbeitsprogrammen Empfehlungen zur inhaltlichen und strukturellen Entwicklung von Hochschulen, der Wissenschaft und Forschung zu erarbeiten, die den Erfordernissen des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens entsprechen. Die Empfehlungen sollen mit Überlegungen zu den quantitativen und finanziellen Auswirkungen und ihrer Verwirklichung verbunden sein. […] Der Wissenschaftsrat hat ferner die Aufgabe, auf Anforderung eines Landes, des Bundes, der BundLänder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung oder der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder gutachtlich zu Fragen der Entwicklung der Hochschulen, der Wissenschaft und der Forschung Stellung zu nehmen.« Zit. n. Hesse/ Ellwein, S. 216. – »Med-INFO« erklärte unter Berufung auf das Buch »Die angepaßte Universität« von Stephan Leibfried, der Wissenschaftsrat setze sich aus Industrievertretern, Wissenschaftlern und »Bürokraten der Kultusministerien« zusammen. Verwaltungs- und Wirtschaftskommission bildeten zusammen die stets einstimmig beschließende Wissenschaftsratsvollversammlung. In der Verwaltungskommission hatten sechs Staatssekretäre des Bundes elf Stimmen und elf Abgeordnete der Kultusministerien insgesamt 22 Stimmen in der Vollversammlung. Der Wirtschaftskommission gehörten 16 Wissenschaftsvertreter und sechs »anerkannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens« an. Anerkannte Persönlichkeiten waren für »med-INFO« dabei lediglich »Herren der Großindustrie«. Da die Beschlüsse nur mit Zweidrittelmehrheit gefasst werden konnten, könne der Bund und vier Ländervertreter jeden unliebsamen Beschluss verhindern. Die Wissenschaftsvertreter
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Hochschulen sowie zum Numerus clausus abgegeben hatte. Zwar lehne dieser die »berufslenkende Funktion« des NC ab, untergrabe aber gleichzeitig Bestrebungen nach dessen Abschaffung.286 Dieses Verfahren wollte man näher beleuchten. Auf das große Interesse an Studienplätzen in Medizin müsse man eigentlich reagieren, indem man die Hochschulen ausbaue, um das Recht auf freie Berufswahl zu garantieren. Stattdessen seien Prognosen erstellt worden, in denen der Ärztebedarf für die nächsten zehn Jahre zu niedrig angesetzt worden sei und auf deren Basis dann von einer ausreichenden Versorgung gesprochen werde. Diese These müsse dann als Begründung dafür herhalten, nicht in die Universitäten zu investieren. Bedarfsprognosen hätten so einen höheren Stellenwert als das Recht auf freie Wahl des Berufs. In der Öffentlichkeit bediene man sich dabei der Behauptung, Studienbeschränkungen seien für eine ordnungsgemäße Forschung und Lehre unabdingbar, um die als falsch erachtete Argumentation zu legitimieren.287 »Der ›numerus clausus‹ ist also die durch prätendierten Sachzwang ›gerechtfertigte‹ Konsequenz einer bedarfsplanerischen Hochschulpolitik. Kritik am ›numerus clausus‹ ist also Kurieren an Symptomen – grundsätzliche Kritik dieser Politik erst trifft die Ursachen dieser Hochschulmisere.«288
würden dabei durch Kooptation der Max-Planck-Gesellschaft, der Westdeutschen Rektorenkonferenz und der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Mitarbeit gebeten. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Karl Kreutzberg in med-INFO Nr. 3/1970, S. 13 f. 286 »Med-INFO« zitierte den Wissenschaftsrat: »Über die rechtliche Zulässigkeit von Studienbeschränkungen besteht vielfach Unklarheit. Es sei daher darauf hingewiesen, daß sowohl von der Rechtslehre als auch von der Rechtsprechung die Zulässigkeit entsprechender Beschränkungsmaßnahmen im Grundsatz anerkannt ist. Hierbei ist zwischen Beschränkungen zur Berufslenkung und solchen zu unterscheiden, die sich aus der Überfüllung der Hochschulen ergeben. Beschränkungen, die der Berufslenkung dienen, sind unzulässig. Finden die Zulassungsbeschränkungen dagegen ihre Grundlage in der Gefahr einer Überforderung der in Betracht kommenden Hochschuleinrichtungen infolge Überfüllung, und zwar in der Weise, daß der von diesen Einrichtungen zu erfüllende Ausbildungszweck in Frage gestellt würde, so wird das in Art. 12 des Grundgesetzes verankerte Grundrecht der freien Wahl der Ausbildungsstätte durch Studienbeschränkungen nicht verletzt. Der Schutz des Bestandes der für die Gemeinschaft notwendigen Rechtsgüter überwiegt in diesem Fall das Recht des einzelnen, seine Ausbildungsstätte frei wählen zu können. Ein solches für den Bestand der Gemeinschaft notweniges Rechtsgut ist in dem Auftrag der Hochschulen zu sehen, mittels Forschung und Lehre einen leistungsfähigen und qualifizierten Nachwuchs heranzubilden. Melden sich zum Studium also mehr Bewerber, als ohne Gefährdung der Ausbildung aufgenommen werden können, so muß ein Teil der Studienbewerber zurücktreten.« Zit. n. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Med-INFO Nr. 3/1970, S. 14. 287 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Karl Kreutzberg in med-INFO Nr. 3/ 1970, S. 13. 288 Ebd.
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Die Rolle des Wissenschaftsrats in der Bildungspolitik, die »Abstimmung der wirtschaftlichen Interessen mit den Absichten der jeweiligen Bürokratie des Bundes und der Länder«, sei schon daran erkennbar, dass jegliche Öffentlichkeit fehle und die Beschlüsse stets einstimmig gefasst würden. Die kooptierten 16 Wissenschaftler schienen lediglich dem Image des Gremiums nützlich. Zitate sollten diese Vorwürfe untermauern: Ludwig Raiser289, Mitglied des Wissenschaftsrats, erklärte beispielsweise, der Rat genieße in Bund und Ländern unbestrittene Autorität. Seine Empfehlungen galten also – so die Auffassung der kritischen Mediziner – als Norm für Hochschule, Verwaltung und Parlamente, obwohl das fragwürdige Zustandekommen dieser Empfehlungen Ergebnis einer »äußerst gefährlichen Verquickung von Wirtschaft und Staat« sei, deren Auswirkungen letztlich die völlig unbeteiligten Studenten zu tragen hätten. »Berufslenkung« werde dabei betrieben, um der Forderung der Wirtschaft nach schnellerer und effektiverer Ausbildung bei möglichst geringem Kostenaufwand und Verhinderung von Fehlinvestitionen in uneffektiven Bereichen nachzukommen. Die Pflicht des Staates, freie Berufsausübung und optimale Ausbildung zu gewährleisten, werde dabei übergangen.290 Der Wissenschaftsrat legitimierte nach der in »med-INFO« propagierten Auffassung nun nicht nur die bestehenden Praktiken der Zulassungsbeschränkung, sondern arbeite sogar noch an der Etablierung eines »totalen numerus clausus«.291 Man berief sich erneut auf die Aussagen des Wissenschaftsrats, um das zu verdeutlichen: »Einerseits wird gefordert, daß der Ausbau der wissenschaftlichen Hochschulen sich an der Nachfrage der Studenten nach Studienplätzen zu orientieren habe, andererseits wird verlangt, vom Bedarf an wissenschaftlich ausgebildeten Kräften auszugehen und die Hochschulen diesem Bedarf entsprechend auszubauen.«292
Beide Forderungen waren nach Auffassung des Gremiums berechtigt. Die Alternative, nämlich die Hochschulen der Nachfrage entsprechend auszubauen, 289 Ludwig Raiser (1904 – 1980) war ein deutscher Jurist, der nach dem Zweiten Weltkrieg an der Universität Göttingen die mit der Entnazifizierung des Lehrkörpers beauftragte Kommission leitete. Als späterer Rektor der Universität war er an der Neugründung der Westdeutschen Rektorenkonferenz und der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, aus der die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hervorging, beteiligt. 1957 wirkte er an der Gründung des Wissenschaftsrates mit, der die Hochschul- und Forschungspolitik zwischen Staat und Universitäten und zwischen Bund und Ländern koordinieren sollte. Von 1961 bis 1965 nahm er den Vorsitz des Gremiums wahr. Die Europäische Rektorenkonferenz wählte ihn 1974 zu ihrem Präsidenten. Dieses Amt übte er bis 1979 aus. Vgl. Kübler, S. 289 f. 290 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Karl Kreutzberg in med-INFO Nr. 3/ 1970, S. 14. 291 Ebd. 292 Ebd.
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erachtete die Gegenseite als nur allzu indiskutabel für den Rat. Schließlich interessiere diesen ja nur die Rentabilität der Universitäten, natürlich verborgen hinter Floskeln: Der Wissenschaftsrat sah in dem schnellen Wechsel des Studienfachs angesichts sich neu entwickelnder Wissenschaftszweige und in der »öfter erkennbaren[n] Neigung, einen Studiengang in der Annahme zu wählen, daß er vergleichsweise geringe Anforderungen stellt«, genügend Hindernisse »greifbare[r] Ergebnisse« gegeben, um sich gegen »die einseitige Orientierung an der Nachfrage nach Studienplätzen« auszusprechen. Dass man zwar einräumte, dass Recht der freien Berufswahl dürfe grundsätzlich nicht angetastet werden, wertete die »med-INFO«-Redaktion als »lustigerweise« hinzugefügte Heuchelei, da man im Fazit der Stellungnahme wieder davon sprach, die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit müsse der entscheidende Maßstab für Entscheidungen sein. Die Studenten glaubten die wahren Motive der Numerusclausus-Politik zu erkennen: »Mangelnde Gelder für den Ausbau [der Hochschulen] werden vorgeschoben,[]um den numerus clausus zu rechtfertigen. Daß diese fehlenden Gelder aber bewußt zur Berufslenkung durch Bedarfsprognose unterschlagen werden, gerät hierüber in Vergessenheit«. Den Bedarfsprognosen der monopolkapitalistischen Wirtschaft wurden so ihrer Meinung nach auch Grundrechte geopfert.293 Die Kritik an den neuen Zulassungsbestimmungen wurde also genutzt, um auf generell empfundene Mängel der Lehre hinzuweisen. Eine Universität beziehungsweise eine Fakultät, die Bestimmungen wie die Numerus-clausus-Praxis auch nur hinnahm und ausführte, so schien es, konnte auch auf anderen Gebieten der Lehre nur versagen. Scharf fiel auch die Kritik an dem Entstehungsprozess des neuen Zulassungsverfahrens aus. So gaben sich die Studenten betont selbstbewusst und reagieren äußerst empfindlich auf die Einschränkung ihrer Kompetenzen. Die Reaktion auf das (womöglich wirklich herablassende) Verhalten des Ministerialdirigenten Vogtmann wies darauf hin. Auch wenn die Empörung dadurch vielleicht gerechtfertigt sein mochte, so fällt doch auf, dass sich »akut« zunehmend, »med-INFO« von Beginn an in eine Fundamentalkritik hineinsteigerte: So beklagte »akut«, die Prüfungen im Medizinstudium seien grundsätzlich ungerecht. Man verwies gar auf eine bald erscheinende Dokumentation über Prüfungserleichterungen bei einzelnen Studenten. Das hatte mit dem NC jedoch nichts zu tun. Immerhin blieb man im Großen und Ganzen auf Universitätsebene, von beiläufigen Einwürfen wie »Formierung der Hochschule« einmal abgesehen. Ganz anders »med-INFO«: Hier sah man ganz offen und in erster Linie Gegner von ungleich größerem Kaliber am Werk und erklärte sich zu »Märtyrern des autoritären Bildungssystems«294. 293 Ebd., S. 15 f. 294 Schneider, Rebellion, S. 122.
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Kritik an Lehre und Situation der Studenten
In welchem Kontext muss die Kritik an den neuen Zulassungsbestimmungen also gesehen werden? Wahr ist zunächst, dass das wissenschaftliche Personal zwischen 1960 und 1965 an den westdeutschen Hochschulen verdoppelt wurde. Die Ausgaben der Bundesländer für Hochschulen (und Schulen) waren zwischen 1957 und 1967 um 300 Prozent gestiegen.295 Wahr ist aber auch, dass sich die Tore der Universitäten in den sechziger Jahren immer mehr Studenten öffnen mussten, was die Hochschulen oftmals strukturell überforderte.296 Natürlich konnten damit auch traditionelle »Mangelfächer« wie die Medizin nicht von dem Ansturm verschont bleiben. Der Vergleich mit der milden Kritik in der Einleitung dieses Kapitels zeigt jedoch, dass man nun offenbar nicht mehr bereit war, Entscheidungen von Autoritäten (hier etwa in Gestalt der Kultusministerkonferenz oder des Wissenschaftsrats) einfach zu akzeptieren. Vielmehr war man wie an den meisten anderen deutschen Universitäten zunehmend der Ansicht, der einzelne Student könne seine geistige Kreativität und Produktivität nur entfalten, wenn er sich aus autoritär-hierarchischer Institutionalisierung, universitären Abhängigkeitsverhältnissen und der Monopolisierung der Entscheidungsmacht löse, die im übrigen eine Erstickung studentischer Potentiale bewirke und die Spontaneität wissenschaftlicher Arbeit unterdrücke.297 Gerd Koenen vermutet in seinen Erinnerungen an das »rote Jahrzehnt«, dieser Versuch, sich in radikaler Opposition zum »Establishment« eine Sphäre strikter Autonomie, einen Kodex eigener Lebensregeln und ein neues Wir-Ideal zu schaffen, sei vielleicht der kleinste gemeinsame Nenner aller (westlichen und auch östlichen) Jugendbewegungen dieser Zeit gewesen. Nicht zuletzt habe das einen tiefen Bruch des Vertrauens in die eigene Gesellschaft bedeutet: Das völlige »Vakuum positiv zu besetzender Ideale« machte sich demnach in einem drastischen Verfall aller etablierten Autoritätsverhältnisse bemerkbar.298 Die Kritik an der Lehre blieb in »akut« gleichzeitig relativ unideologisch für die damalige Zeit: Man kritisierte zwar die mangelnde Praxisbezogenheit der Ausbildung, forderte aber nicht ein grundsätzlich anderes Studium, das die Freiheiten des Aufbegehrens erweitern sollte, um die eigene Emanzipation zu ermöglichen, wie es zu dieser Zeit vielfach gefordert wurde.299 Zwar hielt »akut« das Medizinstudium in Bonn zumindest teilweise sicher für Stückwerk, jedoch wurde hierbei eher eine solide Ausbildung angestrebt statt der Formung eines revolutionären Studenten. Dasselbe galt letztendlich im Prinzip auch – trotz aller schrillen Töne – für »med-INFO«, denn das revolutionäre Gehabe hatte keine praktischen Konsequenzen. 295 296 297 298 299
Vgl. Aly, S. 77. Vgl. Klimke, S. 23. Vgl. Kießling, S. 82. Koenen, Jahrzehnt, S. 479. Vgl. Fels, S. 138.
Mängel und Sparzwänge
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Im Sinne des Zeitgeistes kann übrigens auch die Favorisierung des Losverfahrens in »akut« verstanden werden. Antiautoritäre Kreise forderten zur gleichen Zeit, niemand solle kraft größeren Wissens oder besonderer Originalität herausragen, in der Universität der Zukunft sollte es sogar überhaupt keine institutionellen Hierarchien und Strukturen, keine Lehrenden und Lernenden im herkömmlichen Verständnis mehr geben.300 Für solche (weiter gehenden) Vorstellungen gab es bei den Bonner Medizinern jedoch keine direkten Anhaltspunkte. Auch wenn das Streben nach Gleichheit sicher eine Rolle spielte und eine Art »Modethema« darstellte, so erschienen die Forderungen, wie die Studentenpresse formulierte, vergleichsweise unideologisch. Ein Blick auf das heutige Zulassungsverfahren zeigt überdies, dass der Protest nicht erfolgreich war. Man kann jedoch davon ausgehen, dass diese »Niederlage« die Studenten nicht zu Resignation veranlasste, sondern ihre Thesen von der Manipulation durch verschiedene Autoritäten zu bestätigen schien und ihre Ansichten über die Notwenigkeit von Veränderungen in Universität und Gesellschaft eher bestärkte.
3.2
Mängel und Sparzwänge
In einem SDS301-Programm für sozialistische Mediziner hieß es:
300 Vgl. Kießling, S. 82. 301 Der »Sozialistische Deutscher Studentenbund« (SDS) wurde 1947 als sozialdemokratische Hochschulorganisation gegründet. Laut Satzung hatten seine Mitglieder für den Sozialismus einzutreten. Seit der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik drifteten SPD und SDS auseinander, bis – nach mehrjährigen Querelen wegen des betont marxistischen SDSKurses und der programmatischen Hinwendung der SPD zur linken Mitte – die Partei im November 1961 die Unvereinbarkeiten beider Mitgliedschaften beschloss. Schon vorher hatte sich mit dem Sozialdemokratischen Hochschulbund einen neue parteinahe Studentenvereinigung gegründet, die Götz Aly zufolge »später ebenfalls aus dem Ruder lief«. Mit dem Eintritt in die Große Koalition im Dezember 1966 habe die SPD dann ihre restliche Bindekraft für den »linken Rand« verloren. Der SDS erklärte die sozioökonomischen Verhältnisse derweil als Gegensatz von Unterdrückern und Unterdrückten, von Bürokraten und zwangsverwalteten Menschen, von Lust und Entfremdung. In den kapitalismus- und imperialismuskritischen Theorien des SDS fand die Jugendbewegung der Sechziger Jahre ihren politischen Angelpunkt. Götz Aly bemerkt hierzu kritisch: »In Wahrheit befreite die Beglückungstheorie nicht die Verdammten dieser Erde, sondern die SDS-Männer aus ihrer misslichen Lage: Der Bannstrahl der SPD hatte sie hart getroffen. Er nahm ihnen die bis dahin selbstverständlichen Karrierechancen im SPD- und Gewerkschaftsapparat. Sie standen mit leeren Händen da. Also erfanden sie die ›systemüberwindende Praxis‹. Sie verteufelten die Apparate, von deren Pfründen sie ferngehalten werden sollten, ebenso die dort tätigen ›Fachidioten‹. ›Halten wir fest‹, so formulierte Rudi Dutschke im Oktober 1967, ›die Bürokratie als Gewaltorganisation muss zerstört werden.‹« Aly, S. 40 f., 56.
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Kritik an Lehre und Situation der Studenten
»Die linken Mediziner haben die Aufgabe, den dialektischen Zusammenhang zwischen ihrer politischen Theorie und ihrer Berufspraxis zu erhalten, in dem sie sich eine politische Praxis ermöglichen, die in der Entwicklung einer revolutionären Medizin und der Praktizierung einer Medizin für Revolutionäre besteht.«302
Wenn auch schon im Verlauf dieser Arbeit mehrfach auf den eher gemäßigten und vielfach sachlichen Protest der Bonner Mediziner hingewiesen wurde, so eignet sich die Kritik an den Zuständen des Gesundheitswesens besonders, um zu zeigen, dass das vom SDS geprägte Bild eines sozialistischen Mediziners in Bonn offenbar wenig Anklang fand, dass in mancherlei Hinsicht gar gänzlich Konträres der Fall war. Richtig ist, dass sich die Kritik an den Problemen, Mängeln und Fehlerscheinungen der deutschen Hochschulen ab Mitte der sechziger Jahre drastisch verstärkte.303 Das galt natürlich grundsätzlich auch für die medizinischen Fakultäten und die ihnen zugehörigen Universitätskliniken als Teil des Gesundheitssystems. In den Überlegungen zu einem Vorlesungsstreik im Jahr 1968 fand dieser Unmut exemplarisch Ausdruck. Der Tübinger Fachverband Medizin (FVM) nahm das Problem des Mangels an Medizinalassistentenstellen304 zum Anlass, eine Aktion aller klinischen Medizinstudenten in Deutschland ins Leben zu rufen. Insbesondere das geringe Einkommen während dieses zwei Jahre dauernden Abschnitts der Ausbildung bot Gelegenheit zur Kritik. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes fehlten in den Jahren 1967 und 1968 mindestens 2200 Stellen (entsprechend 20 Prozent der gesamten Stellen, die benötigt wurden). Robert Schäfer, Redakteur des »ASTA-INFO«, kritisierte, dass, obwohl der Missstand vorhersehbar gewesen sei, keine neuen Planstellen eingerichtet wurden, um den betroffenen Medizinern Gehalt und Ausbildung zu sichern. Als Schuldige wurden die Gesundheits- und Innenministerien der Länder ausgemacht, deren Versagen in organisatorischen Fragen diesen eklatanten Ausbildungsengpass verursacht habe.305 Die vom FVM geplanten (und nicht näher beschriebenen) Aktionen sollten durchgeführt werden und so »der Legislative in Deutschland die unerträgliche und unzumutbare Lage der Medizinalassistenten drastisch vor Augen« führen. Da sich Verhandlungen als erfolglos erwiesen hätten, sei nun durch Information 302 Zit. n. Schlaffke, S. 119. 303 Vgl. ebd., S. 124. 304 Das zu dieser Zeit gültige Ausbildungsgesetz, die so genannte Bestallungsordnung für Ärzte, schrieb die zweijährige Medizinalassistentenzeit unter Aufsicht und Anleitung eines voll approbierten Arztes vor. Hierbei mussten sechs Monate auf einer internistischen, vier Monate auf einer chirurgischen und vier Monate auf einer geburtshilflich-gynäkologischen Abteilung abgeleistet werden. Bei einem Durchschnittsalter von 26 – 30 Jahren verdiente ein Medizinalassistent nach Tarif zwischen 450 und 600 DM im Monat. UAB, Sammlung AStAInfo Band 1 – 3 (1967 – 69), ASTA-INFO Nr. 7, 06. 05. 1968, S. 1. 305 UAB, Sammlung AStA-Info Band 1 – 3 (1967 – 69), ASTA-INFO Nr. 7, 06. 05. 1968, S. 1 f.
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der Öffentlichkeit dafür zu sorgen, dass dieser Missstand thematisiert und so eine baldige Klärung des Problems bewirkt werde.306 Der Streik der Medizinstudenten fand wenige Tage später, am 14. Mai, statt. Als Anlass wurden ausdrücklich die als schlecht erachteten Studienbedingungen genannt, offenbar ohne weitere (etwa für diese Zeit typische revolutionäre oder gesellschaftskritische) Intentionen.307 Charakteristisch und ganz nach Art der Achtundsechziger ist jedoch die mit der Durchführung eines Streiks verbundene Haltung zur Öffentlichkeitsarbeit308 zu werten: Ohne eine funktionierende Öffentlichkeit, so die Überzeugung, konnte auch keine funktionsfähige Demokratie zu erwarten sein. Deshalb war die studentische Bewegung von nichts anderem so sehr geprägt wie dem Versuch, Öffentlichkeitsformen zu erringen, durchzusetzen und dauerhaft zu etablieren, auch wenn diese Vorgehensweise in der Regel zum Erreichen (hier fehlender) politischer Ziele angewandt wurde.309 In den folgenden Jahren übten die Studenten weiterhin Kritik. Von Vorlesungsstreiks hörte man allerdings nichts mehr. Auch wurde diese Kritik in verhältnismäßig harmloser Weise und auf eher theoretische Art geübt. Die Bonner Mediziner waren aber insofern Kinder ihrer Zeit, als sie sich nicht nur um ihre persönliche Situation kümmerten, sondern auch die Situation der Patienten und nichtärztlichen Mitarbeiter im Blick behielten: Im Oktober 1972 verabschiedete die Vollversammlung der Mediziner eine auch von der ÖTV unterstützte Resolution, die der Fachschaftsvorstand (getragen von SHB310, MSB311 und Unabhängigen) eingebracht hatte. Anlass war ein ministerieller 306 Ebd. 307 Vgl. Bothien, S. 60. 308 Kathrin Fahlenbrach erklärt, die Achtundsechziger-Aktivisten hätten erstmals erkannt, was für folgende soziale Bewegungen selbstverständlich wurde: »Eine Bewegung, über die nicht berichtet wird, findet nicht statt.« Erst wenn ihre Themen und Positionen im öffentlichen Diskurs relevant geworden sind – so analysiert sie – entwickeln sich für soziale Bewegungen potentielle Handlungschancen. Nur so sei es letztlich möglich, öffentlichen Druck auf die Entscheidungsträger auszuüben. Gerade wenn eine Gruppe keinen etablierten Zugang zu politischen Entscheidungsprozessen habe, stelle öffentliche Resonanz eine zentrale Protestund Mobilisierungsressource sozialer Bewegungen dar. Dorothee Liehr beleuchtet einen anderen Aspekt: »[…] ohne Flugblätter und Plakate hätten zentrale Ereignisse und Botschaften der Achtundsechziger-Bewegungen weder programmatisch noch atmosphärisch Einzug ins Bewusstsein weltweiter Öffentlichkeit gefunden. Es hätten sich weder Erschrecken noch Empörung über Kriege, Ausbeutung und Unterdrückung einstellen und keine entsprechenden Interessen und Ziele artikulieren lassen‹.« Fahlenbrach, S. 16; Liehr, S. 23. 309 Vgl. Kraushaar, Denkmodelle, S. 18. 310 Die Abkürzung steht für »Sozialdemokratischer Hochschulbund«. Siehe auch Erläuterungen zum SDS (Fußnote 301 auf S. 89 ). 311 Der MSB (=Marxistische Studentenbund) Spartakus war eine Studentenorganisation, die der DKP nahe stand. Zusammen mit deren Jugendorganisation, der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ), rekrutierte der MSB die »Kampfreserve« der Partei. Wolfgang Frühwald charakterisierte den MSB Spartakus als Verbund von »Anarchisten, Chaoten
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Kritik an Lehre und Situation der Studenten
Erlass vom 7. Oktober, der die Entlassung von 500 studentischen Hilfskräften312 der Bonner Universitätskliniken vorsah. Für Angestellte aller Berufsgruppen außer Ärzten wurde außerdem ein Einstellungsstopp verhängt. Schließlich sorgte auch die vorgeschriebene Gehaltsobergrenze von 24 DM für die elfstündige Sitzwache für Empörung.313 Die Zeitschrift »akut« bemerkte hierzu: »Für ein solches Taschengeld werden […] kaum noch Wachen zu bekommen sein.«314 Unterstützung erhielten die Studenten dabei auch von den Klinikdirektoren und Personalvertretern, die die Versorgung der Patienten gefährdet sahen, insbesondere wenn die als lebenswichtig erachteten Sitzwachen wegen zu geringer Bezahlung nicht mehr besetzt werden konnten. In diesem Zusammenhang wiesen sie auch auf die »unverantwortliche[n] Mehrbelastung« des Klinikpersonals hin, das ohnehin bereits überlastet sei. Der Erlass zementiere so den bereits bestehenden Personalmangel. Mit Blick auf ihre eigene Situation befürchteten die Studenten eine Verschlechterung der sozialen Lage ihrer Kommilitonen, sogar von einem Entzug der Existenzgrundlage war die Rede. Die finanzielle Misere im Gesundheitswesen – so resümierte »ASTA-INFO« – werde auf dem Rücken von Patienten, Pflegepersonal und Studenten ausgetragen.315 Sein Bemühen um Sachlichkeit wollte der AStA anscheinend zeigen, indem er detailliert zu den von Ministerien und Verwaltung angegebenen Gründen für die Maßnahmen Stellung nahm: Die relativ geringe Auslastung der Planbetten von 71 Prozent im letzten Monat (September 1972) wurde mit der Urlaubszeit des Personals begründet, die die vorübergehende Schließung von Stationen und eine geringere Zahl von Neuaufnahmen zur Folge gehabt hätte. Zum Vergleich führte »ASTA-INFO« die Bettenauslastung vom März mit 79 Prozent an. Außerdem wurde die geringe Auslastung mit dem Mangel an Pflegepersonal und zu wenigen Planstellen316 begründet. In Wahrheit, so glaubte die Studentenzeitschrift feststellen zu können, werde also mehr (und keinesfalls weniger) Personal be-
312
313 314 315 316
und Roter Hilfe«, der recht rational und kalkulierbar dachte und arbeitete. Nach der Auflösung 1990 entstand 1997/98 die Assoziation Marxistischer StudentInnen (AMS), die sich als Nachfolgeorganisation verstand und »Marx wieder an die Uni« führen wollte. Schulze, S. 121; Frühwald, S. 48 f. »Akut« gibt die Anzahl der Personalstellen (wahrscheinlich ist nur der Pflegebereich gemeint) an den Bonner Universitätskliniken mit 3000 an. Die Folgen einer Entlassung von 500 Pflegekräften schätzte die Zeitschrift als nicht absehbar ein. Vgl. UAB, Sammlung »akut«, akut, 01. 11. 1972. UAB, Sammlung AStA-Info Band 6 (1972), ASTA-INFO Nr. 33, 05. 10. 1972, S. 2. UAB, Sammlung »akut«, akut, 01. 11. 1972. UAB, Sammlung AStA-Info Band 6 (1972), ASTA-INFO Nr. 33, 05. 10. 1972, S. 2. Die Zahl der Planstellen wurde von der Deutschen Krankenhausgesellschaft berechnet. »ASTA-INFO« bemerkte dazu, dass deren Zahl noch weit unter den Richtlinien der WHO liege. Vgl. UAB, Sammlung AStA-Info Band 6 (1972), ASTA-INFO Nr. 33, 05. 10. 1972, S. 2.
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nötigt. Der Bemerkung, in der Frauenklinik würden sechs studentische Hilfskräfte für die Privatlabore von Professoren aus dem Kliniketat bezahlt, entgegnete »ASTA-INFO«: »Statt die verantwortlichen Professoren zu nennen und diesen Mißstand aus der Welt zu schaffen, muß diese ›Begründung‹ für die Verschlechterung der Krankenversorgung und die Massenentlassung von 500 studentischen Hilfskräfte herhalten.« Dem von der Verwaltung beklagten Zustand, für eine Sitzwache würden bisher immer zwei Sitzwachenbelege ausgestellt, um die Notfallüberwachung sicher zu stellen, wurde daneben mit der Rechnung begegnet, nach der sonst nur ein Stundenlohn von 2,20 DM gezahlt werden könne. Insgesamt – so die Studenten – seien die für den Klinikhaushalt 1972 geplanten Mehrausgaben im Pflegebereich von 100.000 DM nicht ausreichend. Sie äußerten den Verdacht, dass dies nur durch Einsparung von Personalkosten möglich sei.317 In diesem Zusammenhang verwies »ASTA-INFO« auf Proteste in Reaktion auf ähnliche Überlegungen zu einem Einstellungsstopp vor einem Jahr, die offenbar erfolgreich waren. Die Studenten sahen die Sparbemühungen im Rahmen einer konsequenten Vernachlässigung des Gesundheitswesens durch die SPDLandesregierung, die »die Unregelmäßigkeiten im Klinik-Etat zum Anlaß einer sozialen Demontage großen Ausmaßes« nehme. Neben einer Erhöhung des Etats der Universitätskliniken, die die Personalkosten decken konnte, erhoben die Studenten dann aber auch weitergehende Forderungen: Offenbar um Kontrolle über den Haushalt zu erlangen, forderten sie demokratische Mitbestimmung aller Beteiligten und Betroffenen, eine Offenlegung des Klinikhaushaltes sowie öffentliche Rechenschaftslegung der Verantwortlichen.318 Wie diese demokratische Kontrolle im Einzelnen aussehen sollte, blieb für den Moment unbeantwortet. Jedoch lassen die dargelegten Forderungen wieder einmal Rückschlüsse auf den Zeitgeist zu. So fällt zunächst auf, dass der AStA keine konstruktiven Vorschläge formulierte, wie diese Forderungen finanziert werden sollten oder könnten. Dass die erforderlichen Mittel prinzipiell vorhanden waren, wurde anscheinend einfach vorausgesetzt. Die Bonner Studentenvertreter näherten sich, um eine bemerkenswerte Metapher zu gebrauchen, somit dem beispielsweise von Gerhard Fels gezeichneten Bild der Generation, die sich den Staat meist als eine Frau Holle wünschte, die statt Schnee Geld regnen lässt.319 Vergleicht man den Textumfang von Kritik und Gegenvorschlägen, so lässt sich eine Haltung erkennen, die Kritik an den bestehenden Verhältnissen in vielerlei Hinsicht übt, deren destruktive Kraft jedoch größer scheint als ihre 317 UAB, Sammlung AStA-Info Band 6 (1972), ASTA-INFO Nr. 33, 05. 10. 1972, S. 2 f. 318 Ebd., S. 3. 319 Vgl. Fels, S. 136.
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konstruktive.320 So fehlten neben Vorschlägen für eine Gegenfinanzierung auch konkrete Pläne für die geforderte Demokratisierung und Beteiligung aller Mitarbeiter und Studenten. Schließlich sahen sich die Kritiker offenbar auch in der Lage, beispielsweise den offen gelegten Klinikhaushalt angemessen zu bewerten und betriebswirtschaftlich fundierte Verbesserungsvorschläge zu machen. Diese Kompetenzen dürfen aber angezweifelt werden, auch wenn zusätzliches Geld für die Pflege natürlich grundsätzlich eher von Vorteil für Patienten sein mag. Jedenfalls erreichte der AStA eine gewisse Mobilisierung gegen die Sparpläne, womöglich deshalb, weil der Widerstand Studenten, Assistenten und Professoren einte321 und weil die Vorgänge offenbar nur als ein Höhepunkt im Rahmen der gegenwärtigen »materiellen[n] Hochschulmisere«322 wahrgenommen wurden. Um diese Mobilisierung gegen die Finanzplanung von Land und Universität zu erreichen, bedienten sich die Studenten des Mittels der Öffentlichkeitsarbeit: Unterschriftenkampagne und Teach-In323 erfolgten in enger Zusammenarbeit von »fortschrittlichen Fachschaften […] mit den Arbeitern und Angestellten der Kliniken«324. Leider muss offen bleiben, wie genau diese Veranstaltung ablief und ob sie von Erfolg gekrönt war. Entscheidend ist jedoch zunächst das Stattfinden an sich, das allgemeines Engagement der Studenten ihre eigene Situation und auch die anderer Gruppen betreffend ausdrückte, das aber auch die Auseinandersetzung auf einer zwar sachlichen, aber auch recht theoretischen Ebene nahe legt. Jürgen Busche hat in diesen Theorie-Diskussionen ein herausragendes Merkmal der Zeit der Achtundsechziger gefunden325, ein Merkmal, das hilft, die Kritik an der Bonner Universität in den Kontext der Studentenrevolte einzuordnen, auch wenn hier von einer Revolte auf fast ausschließlich theoretischer Ebene gesprochen werden muss. Bei aller Analyse der Vorgänge sollte jedoch nicht übersehen werden, dass das Organisieren von gezieltem Protest womöglich vielen Bonner Studenten schlichtweg Spaß bereitete.326 So ist neben den unbezweifelbaren sachlichen Beweggründen für die Kritik wohl auch noch eine eher emotionale Motivation anzunehmen. Die während dieser Diskussion bisher nicht betroffenen Ärzte (Sie waren vom Einstellungsstopp ausgenommen!) reagierten auf hohe Arbeitsbelastung und niedrige Entlohnung übrigens bereits im Oktober 1971. »Med-INFO« berichtete zwar darüber, jedoch interessiert der Streik an dieser Stelle nicht, da die Stu320 321 322 323 324 325 326
Vgl. Kraushaar, Denkmodelle, S. 15. UAB, Sammlung »akut«, Akut, 01. 11. 1972. UAB, Sammlung AStA-Info Band 6 (1972), ASTA-INFO Nr. 33, 05. 10. 1972, S. 2. Zur Erläuterung des Begriffs siehe Fußnote 179 auf S. 56. UAB, Sammlung AStA-Info Band 6 (1972), ASTA-INFO, 03. 11. 1972, S. 1. Vgl. Busche, S. 29. Vgl. Bothien, S. 14.
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dentenpresse die Vorgänge lediglich beschrieb und sich mit den Ärzten solidarisierte, jedoch nicht aktiv an dem Konflikt teilnahm.327 Ansätze zu einer Verknüpfung zwischen Kritik am Gesundheitssystem und jener an gesellschaftlichen Verhältnissen ließen sich im Jahr 1970 beobachten, zu einer Zeit, die sicherlich noch mehr als die beschriebenen Proteste unter dem Eindruck der Achtundsechziger-Revolte stand: »Med-INFO« titelte mit einem »AUFRUF AN ALLE MEDIZINISCH ARBEITENDEN«, der Pflegepersonal und Medizinisch-technische Assistenten (zusammenfassend als »Arbeiter der Medizin« bezeichnet) aufforderte, sich in Arbeitsgruppen zu organisieren. Das Ziel, durch Aufhebung von »irrationalen Standesunterschiede[n]« die Zusammenarbeit und das Betriebsklima zu verbessern, sei dabei sowohl im Interesse der Patienten als auch des medizinischen Personals, das unter diskriminierenden Arbeitsbedingungen zu leiden habe.328 Interessant ist, dass Ärzte von dieser Diskriminierung ausdrücklich ausgenommen wurden. Möglicherweise versuchte »med-INFO« als ein Blatt, das sich als Presseorgan aller medizinisch Tätigen verstand, sich von seiner primären Rolle als Studentenzeitung zu lösen und seinen Vertretungsanspruch auf das Klinikpersonal auszuweiten. Die Tatsache, dass in diesem Zusammenhang ausdrücklich von Arbeitern die Rede ist, legt den Schluss nahe, dass der Aufruf durchaus von ideologischen Positionen der Achtundsechziger beeinflusst war. Demnach galten die Arbeiter, das Proletariat, als Träger der Revolution329, die durch studentische Intellektualität zum Widerstand gegen ihre Rolle in der Gesellschaft ermuntert werden sollten. Da sich aber in den folgenden Ausgaben kein Hinweis mehr auf die geplanten Arbeitskreise findet, muss angenommen werden, dass das Vorhaben scheiterte. Grund war wahrscheinlich mangelndes Interesse der Angestellten, die sich von »med-INFO« beziehungsweise studentischen Protesten eher weniger vertreten sahen. Dass Arbeiter mit Unverständnis und Befremdung auf solche studentischen Initiativen reagierten, war ein häufiges Phänomen, das die bereits un327 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 13, Oktober 1971, S. 3. 328 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 3/1970, S . 1. 329 Peter Schneider berichtet in seinen Erinnerungen an die Zeit der Studentenrevolte von einer selbst gehaltenen Rede, die er am 1. Februar 1968 auf der ersten »Springer-Veranstaltung« im Audimax der TU Berlin hielt. Darin kommt die typische Haltung zur Arbeiterklasse deutlich zum Ausdruck: »Wir, die Studenten und Arbeiter, haben eines gemeinsam: Wir haben den gleichen Feind. Dieselben Produktionsverhältnisse, die unsere Bedürfnisse nicht befriedigen, befriedigen die Bedürfnisse der Arbeiter nicht. Das gleiche System, das uns verrückt macht, macht die Arbeiter kaputt. Wir haben die gleichen Unterdrücker, die gleichen Ausbeuter, die gleichen Verdummer. Und wenn wir das begreifen, werden wir nicht die Unterdrücker bitten, den Verdummern das Handwerk zu legen, und nicht die Verdummer, die Unterdrücker bloßzustellen, sondern wir werden sie als unseren gemeinsamen Feind bekämpfen!« Schneider, Rebellion, S. 244.
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Kritik an Lehre und Situation der Studenten
terstellte Theoriefixiertheit der Achtundsechziger-Bewegung auch in Bonn ausdrückte.
3.3
Die medizinische Ausbildung und der Charakter der Lehre
Zwei große Kritikpunkte standen offenbar im Vordergrund, wenn die Bonner Medizinstudenten die Lehre beurteilten: die zu kurz kommende Ausbildung am Krankenbett und die strengen Hierarchien beziehungsweise Autoritäten. Erörtert werden sollen in diesem Kapitel einerseits die (Lehr-)Situation in den Kliniken, wo vielfach »Zustände wie im Mittelalter«330 zu herrschen schienen, andererseits der allgemein als repressiv empfundene Alltag in der Universität. Als Studentenbewegung stellte die Achtundsechziger-Generation die Ordinarienuniversität in Frage. Das Wort wurde in den Reden zahlreicher Studenten zum Schimpfwort.331 Wie so häufig war es auch hier die Zeitschrift »akut«, die Missstände anklagte. Im Mai 1969 berichtete sie in einem ausführlichen Artikel, dass an der Universitätsklinik nicht etwa (so wie es sein sollte oder wie man es erwarten würde) Patienten und Studenten im Mittelpunkt stünden, sondern der Ordinarius, welcher »als Herrscher über seine Klinik regiert und den der Patient nur sieht, wenn er großes Glück hat oder sich die Kosten für die Privatstation leisten kann«.332 Dieser Zustand wurde auch für die Probleme in der personellen Struktur der Klinik mit verantwortlich gemacht. Strenge Hierarchie und Abhängigkeit von den jeweiligen Vorgesetzten sorgten demnach nicht nur für psychischen Druck unter den Ärzten, die deshalb häufig überfordert waren und ihre Patienten nicht angemessen behandeln konnten, sondern verhinderten auch Mitbestimmung in wichtigen Fragen der Klinikorganisation, selbst wenn eine hohe ärztliche Qualifikation gegeben sei. Folglich erschienen die kritisierten Zustände nicht nur als ein Problem für sich, sondern verhinderten auch, dass sich etwas zum Positiven änderte. Positiv hieß hier ärztliche Teamarbeit zum Wohle der Kranken nach amerikanischem Vorbild. Obwohl die Hochschulgesetzgebung hier Abhilfe schaffen könne, seien die Chancen hierzu im gegenwärtigen Gesetzestext vertan worden. Es verwundert also nicht, dass in diesem Kontext die gesamte Ärzteausbildung kritisiert, gar als verantwortungslos bezeichnet wurde. Schon in der Vorklinik seien die Zustände bereits so haarsträubend, dass »ein Aufbegehren der Studenten unausweichlich wurde«.333 Ein Ausdruck dieser Auflehnung war 330 331 332 333
UAB, Sammlung »akut«, akut Nr. 51, 07. 05. 1969, S. 4. Vgl. Busche, S. 50. UAB, Sammlung »akut«, akut Nr. 51, 07. 05. 1969, S. 4. Ebd.
Die medizinische Ausbildung und der Charakter der Lehre
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die Gründung der Basisgruppe Medizin334, die in Seminaren und Diskussionen eine Reformgrundlage erarbeiten sollte.335 Gleichzeitig wurde heftige Kritik am Fach Physiologie geübt336 : Berichtet wurde von einem Vorfall während des Praktikums, wo ein Student als dummes Schwein bezeichnet worden sein soll, das sich glücklich schätzen könne, wenn sich der Ordinarius mit ihm beschäftige. Sachfragen in Vorlesungen würden darüber hinaus vom nicht benannten Direktor des Instituts337 abgelehnt. Dieselbe Ablehnung werde der Durchführung schriftlicher Prüfungen entgegen gebracht, die von der Studentenschaft offenbar zwecks größerer Objektivität gefordert wurde. Studenten, die Flugblätter vor dem Institutseingang verteilten, würden der Vorlesung verwiesen. All dies, so urteilte »akut«, führe zwangläufig dazu, dass auch der uninteressierte Student merke, dass etwas passieren müsse:338 »Das Studium an der medizinischen Fakultät zu Bonn zeichnet sich durch einen hohen Grad von Lehrunfähigkeit der Professoren aus. Dies ist den meisten Studenten nicht neu und sie versuchen es, durch zusätzliche Lehrveranstaltungen an anderen Universitäten im In- oder Ausland sowie durch häufiges Famulieren wieder wett zu machen. Die Tatsache, daß dies so ist, hat aber trotz der dabei entstehenden Ausbildunglücken weder Ordinarien noch Assistenten und die betroffenen Medizinstudenten selbst allzusehr beunruhigt. Angesichts der Verantwortung, die ein Mediziner nach Absolvierung seines Staatsexamens zu tragen hat, fragt man sich, wo der Gleichmut der Beteiligten herrührt.«339
Den Ordinarien beziehungsweise »Klinikchefs« wurde hierbei ein großer Teil der Schuld an den bestehenden Zuständen zugeschoben. Diese sähen zu oft ihren Aufgabenbereich darauf beschränkt, Patienten zu behandeln, »vermittels der ›Privatliquidationen‹ ihr ärmliches Professorengehalt auszubessern«, den Verwaltungsbetrieb nach veralteten Organisationsformen auszurichten und sich nur gelegentlich einmal mit Lehrveranstaltungen zu beschäftigen.340 Interessanterweise stellte »akut« fest, dass gerade die Medizinische Fakultät 334 Zum Zeitpunkt des Drucks der Akut-Ausgabe lag die Gründung der Basisgruppe nur zwei Wochen zurück. Kapitel 6 beschäftigt sich ausführlich mit diesem studentischen Gremium. 335 UAB, Sammlung »akut«, akut Nr. 51, 07. 05. 1969, S. 4. 336 Offenbar ließen es sich die Studenten nicht nehmen, das Physiologische Institut zu kritisieren, wenn sie einen Aufhänger dazu hatten. Wie in Kapitel 4.2 beschrieben, war das Verhältnis zwischen Studenten beziehungsweise AStA und Professor Pichotka als Leiter des Physiologischen Praktikums ein sehr gespanntes. 337 Höchstwahrscheinlich ist Professor Pichotka gemeint. Die Auseinandersetzung mit ihm sorgte für großes Aufsehen bei den Bonner Medizinstudenten. Ihr ist das Kapitel 4.2 gewidmet. 338 UAB, Sammlung »akut«, akut Nr. 51, 07. 05. 1969, S. 4. 339 Ebd. 340 Ebd.
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echte Reformen besonders nötig habe. Die Zeitschrift begründete dies mit dem Anspruch des Bürgers auf Behandlung nach modernsten Erkenntnissen in gut organisierten Kliniken und auf eine optimale Ausbildung von Studenten zu Ärzten, die ihre große Verantwortung tragen könnten. Daraus wurde erneut die Forderung abgeleitet, Studenten müssten in gemeinsamer Verantwortung mit Professoren und Assistenten Entscheidungen in Fragen von Lehre und Forschung treffen, also im Klinik- und Universitätsalltag mitbestimmen dürfen.341 Festzuhalten bleibt also, dass die autoritären Strukturen in der Universität als vielleicht wichtigste Ursache der Mängel in der Lehre angesehen wurden. Wie an anderen deutschen Universitäten waren vor allem in studentischen Kreisen immer aggressivere Stellungnahmen gegen selbstherrliche Ordinarien und hierarchische Strukturen, unzureichende Leistungen der Lehre und Praxisferne zu vernehmen.342 Offenbar hatten die Bonner Mediziner nicht den landläufigen Eindruck, das Studentenleben zeichne sich durch einen – verglichen mit anderen Lebensformen – hohen Grad an Freiheit aus. Eine etwaige Hoffnung auf Befreiung von der Enge in Elternhaus, Schule und Militär, wie man sie vor allem bei Studienanfängern erwarten könnte, schien zum Scheitern verurteilt. Vielmehr werde Fleiß, Strebsamkeit und Kritiklosigkeit verlangt.343 Den Studenten hingegen ging es um die langfristige Aufhebung von demokratisch nicht legitimierten Hierarchien, nicht nur in der Politik, sondern gerade dort, wo die Menschen nach eigener Auffassung in Dauer-Unmündigkeit344 gehalten wurden: In den Betrieben, den Bürokratien, den Schulen, den Universitäten, der Bundeswehr, den Kirchen.345 Viele Fragen, etwa danach, was wirklich wichtig oder schlicht unklar sei, schienen an der Universität ebenso unberücksichtigt zu bleiben wie besondere Interessen für tiefer gehendes Wissen. »Med-INFO« prophezeite den Erstsemestern gar : »Das Unbehagen wird nie weichen! Man wird es in jeder Etappe seines Studiums deutlicher verspüren.« Jeder Student schien in eine Rolle gedrängt, die sich durch spezifische Eigenschaften auszeichnete: Die im Studium »vorgekaute Materie« gelte es passiv hinzunehmen und unverarbeitet zu reproduzieren. Dabei bleibe der einzelne (trotz aller scheinbaren Freiheit) letztlich in Abhängigkeit des Dozenten, des potentiellen Prüfers. Mögliches Interesse für 341 342 343 344
Vgl. ebd. Vgl. Schaffke, S. 124. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/1970, S. 7. Der Mangel an historischer Erkenntnis, vor allem aber an gesellschaftshistorischer Einsicht, führte nach den Beschreibungen von Karl Erlinghagen zu der immer wieder vorgetragenen Behauptung, das spätbürgerlich-kapitalistische Gesellschaftssystem und das aus ihr geborene Erziehungsdenken sei ein in sich geschlossener, undurchbrechbarer Regelkreis, der nur durch radikale Maßnahmen, etwa der Revolution oder einer total neuen Erziehungsform, aufgebrochen werden könne. Vgl. Erlinghagen, S. 44. 345 Vgl. Holl/Glunz, S. 14.
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ihn sei lediglich in der Prüfungswillkür des Vorphysikums begründet, die etwa den Besuch einer Vorlesung notwendig mache, um Hinweise auf den Prüfungsstoff zu erhalten. Während dieses Kampfes um Praktikumsplätze und gute Noten blieb demnach kein Raum für freie Entfaltung und Förderung sozialer Verhaltensweisen, womit Isolation als weiterer Aspekt der aufgezwungenen studentischen Rolle anzusehen sei. Die Fremdbestimmung gehe überdies so weit, dass man immer weniger das tun könne, was interessiere: »Wo die Arbeit nicht mehr deckungsgleich ist mit Interesse, da b[e]reitet sich zwangsläufig allgemeines Unbehagen und Unlust aus.«346 Was hier angeschnitten wurde, verweist auf einen zentralen Angriffspunkt der Achtundsechziger : das Leistungsprinzip. Der unter der studentischen Linken weit verbreiteten Auffassung nach hatte dieses nicht mehr (wie noch zu Beginn des industriellen Zeitalters) die Funktion eines rationalen Mittels der Produktivitätssteigerung, sondern fungierte weitgehend unökonomisch nur noch als eine Disziplinierungstechnik, die Loyalität mit herrschenden Interessen und Lebensformen zu belohnen schien. Die Berufung auf das Leistungsprinzip bildete demnach ein erfolgreiches Instrument, um die hierarchische Ordnung und die immensen Einkommensunterschiede auf eine scheinbar technische, unideologische Weise zu rechtfertigen. Tatsächlich schienen sie jedoch auf durchgesetzten, kulturell als angemessen akzeptierten Statusansprüchen zu basieren.347 Das praxisfernes Pauken, welches sich konkret im Auswendiglernen einer »Unzahl zusammenhanglos angehäufter Einzelfakten« ausdrücke, enttäuschte laut »med-INFO« schnell die Erwartung, dass mit dem Schulabschluss auch der theoretisch-abstrakte Teil der Ausbildung beendet sei. Mehr noch, die Medizin werde hierbei als »wertfreie« Wissenschaft ausgegeben, die Fragen nach einem humanen Gesundheitswesen nicht stelle geschweige denn beantworten könne. Hier werde dann fälschlicherweise auf die Politik verwiesen, bedingt durch den Irrglauben, die Wissenschaft sei völlig unabhängig von gesellschaftlichen Gegebenheiten348. Dies wiederum habe die fatale Folge, dass »bestehende Unmenschlichkeiten perpetuiert würden, da die Wissenschaft es vermeide, ihre Irrationalität zu beweisen«.349 Für Medizinstudenten bedeutete das, dass die universitäre Ausbildung nicht reichte, um das bei vielen vorhandene humanitäre Berufsideal zu praktizieren. Dadurch, dass der Arzt in einer Gesellschaft wirke, stehe er damit zwangsläufig in vielfältigen Abhängigkeiten, die neben seiner Ausbildung die therapeutischen 346 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/1970, S. 7 f. 347 Vgl. Hecken, S. 84. 348 Das Wechselspiel von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik ist ein zentrales Thema der Achtundsechziger-Bewegung. Auch in Bonn wurde es aufgegriffen und wird in Kapitel 8 thematisiert. 349 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/1970, S.11.
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Möglichkeiten beeinflussen und beschneiden: Durch die Festlegung auf ein »mechanistisches Krankheitsbild […], das allein physische und intraindividuelle Faktoren« berücksichtige, werde nämlich verhindert, dass Menschen als solche betrachtet würden. Der Blick auf die Gesellschaft und insbesondere die Produktionsverhältnisse als krank machende Faktoren, bliebe so versperrt. Dieses Krankheitsbild suchte demnach die Schuld für die Krankheit beim Einzelnen, der nur als Produktionsfaktor intakt bleiben musste. Ob er sich dabei wohl fühlte, war unerheblich. »Med-INFO« glaubte einen Weg gefunden zu haben, um hier Abhilfe zu schaffen: Die Psychosomatik, jedoch nur jene im emanzipatorischen Sinn350. Vorsicht sei geboten, da sie leicht einen repressiven Charakter annehmen könne, wenn man den psychogenen Charakter vieler Krankheiten dahingehend integriere, dass man versuche, den Menschen auf dem Weg der Beeinflussung über die Psyche noch besser anzupassen und mit Ersatzbefriedigungen abzuspeisen. Die Form und Aufgliederung des Medizinstudiums bewirkte nach dieser Theorie durch die vielen Prüfungen eine Konsumentenhaltung, eine unkritische Einstellung und Fixierung auf den vorgesetzten Wissenschaftsbegriff und Stoffumfang. Das Ausleseprinzip hatte die Funktion, die Studenten in einer permanenten Existenzangst zu halten. Leistungsdenken und Konkurrenzangst würden so verinnerlicht. Man verhinderte also wirksam eine Reflexion der Grundwidersprüche des Systems.351 Der Begriff »System« kann hier sowohl für Gesellschaft als auch Universität angewendet werden. Die fehlende Abgrenzung weist vielleicht darauf hin, dass »med-INFO« gesellschaftliche und universitäre Verhältnisse als untrennbare Einheit betrachtete. Und in der Tat waren sich die meisten Analysen im Wesentlichen darin einig, dass eine bloße Verbesserung der Hochschulsituation den Protest nicht beseitigen konnte, weil es den studentischen Aktivisten um eine Veränderung nicht nur der Universität, sondern der gesamten Gesellschaft ging. Eine Sondernummer des »Kommunist«352 (erschienen im September 1970) beschrieb es so: »Fest steht, daß die Mehrzahl der politisch aktivierten Studenten sich heute als Keimzelle einer außerparlamentarischen Organisation, nicht als Zweckverband zur
350 Diese als »emanzipatorisch« definierte Psychosomatik sollte helfen, sich seiner eigenen Lage in der Gesellschaft bewusst zu werden und Automatismen sowie Abhängigkeitsverhältnisse zu durchschauen. Sie ermöglichte laut »med-INFO« auch ein ganz bestimmtes Wissenschaftsverständnis, nachdem Wissenschaft an den Bedürfnissen der Menschen orientiert sei und nicht etwa an Profitinteressen. Mit diesem Aspekt beschäftigt sich auch Kapitel 8. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Med- info Nr. 4/1970, S. 13. 351 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Med- info Nr. 4/1970, S. 13. 352 Die Zeitschrift definierte sich selbst als das »Organ des Kommunistischen Bundes/Marxisten-Leninisten«. Schlaffke, S. 129.
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Hochschulreform verstehen, und daß diese Studentenschaft in Zeiten des Konfliktes mächtig genug ist, gewisse politische Wirkung zu erzielen.«353
Wie aber sah nun die konkrete Gefahr für Studenten, speziell für Universitätsneulinge, aus? »Med-INFO« erkannte die Unsicherheit (bedingt etwa durch neuen Wohnort, neue Bekannte, Desorientierung im Massenbetrieb der Universität und Kombination aus schlechter Information und hohem Leistungsdruck), die diese neue Situation mit sich bringe, als Grund dafür, dass sich Studienanfänger zwangsläufig an (nur durch ihr Amt legitimierten) Autoritäten orientierten:354 »Die Anpassung an quasi naturgegebene Verhaltensweisen und D[e]nkstrukturen,[] die sich durch diese Beziehung des verunsicherten isolierten Individuums Student mit der Fachautorität Professor ergibt, wird erleichtert durch den Anpassungsprozeß, dem sich jeder in der Familie, im Kindergarten, in Kirche, Schule und Bundeswehr ausgesetzt sieht.«355
Enttäuschte Erwartungen führten dann zur Schuldsuche des Studenten bei sich selbst, was wiederum einen Anpassungsprozess anstoße. Damit werde er »zu jenem leicht steuerbaren, unkritischen Individuum, das gewissen Kreisen zur Durchsetzung ihrer vordergründigen Profitinteressen erstrebenswert erscheint« und das nicht mehr das Bedürfnis nach dem Verständnis von Zusammenhängen oder kritischem Hinterfragen verspüre. Vielmehr trete an die Stelle der nicht erfüllten Erwartungen überzogener Ehrgeiz und die (Ersatz-)Befriedigung durch Erfolge an der Universität, das bereits erwähnte unreflektierte Leistungsprinzip also. Verstärkt zu werden schien dies durch Sanktionen bei Versagen (etwa in Gestalt von Stipendienverlust, Studienplatzverlust, Enttäuschung der Familie, die das Studium finanziert) und den Wunsch, »die schlechte soziale Lage, die Unterdrückung des Sexualtriebes und die Kontaktschwierigkeiten, die die Studienzeit mit sich bringt, zu überwinden«. Wie zu erwarten, fiel das Urteil über diese Zustände vernichtend aus: Folge dieses Kreises sei schlichtweg der »angepaßte unkritische, nicht einmal fachlich gut ausgebildete ›Medizinier‹ (Chemotherapeut)«.356 Für »med-INFO« gab es nun zwei Möglichkeiten: Entweder gelingt die Anpassung. Während der Student so den Konflikten und der Angst entging, so wurde er doch zwangsläufig in seinen persönlichen Fähigkeiten verkrüppelt. Zweites Szenario: Die Anpassung gelingt nicht ganz reibungslos. Dann störten der unbewusste Konflikt mit der Autorität und der »bewusstere« zwischen eigenem Interesse und der gesellschaftlichen Norm das Funktionieren im Leis353 354 355 356
Zit. n. Schlaffke, S. 129. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/1970, S. 11 f. Ebd. Ebd.
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tungsprinzip und potenziere die Examensangst. »Die Folge: Arbeitsstörungen, sexuelle Unfähigkeit, kurz: die individuelle Neurose, schließlich Studienabbruch […].« Durch den Vergleich der Studienabbrecherquote von Geisteswissenschaftlern (über 50 Prozent) mit Medizinern (etwa 17 Prozent) leitete »medINFO« die Frage ab, ob sich Mediziner der autoritären Struktur leichter anpassten.357 Neben der Kritik an dem System Universität wurde der traditionellen Erziehung also vorgeworfen, dass sie durch bewusste und unbewusste Indoktrinationen die heranwachsende Generation in einem Zirkel erzog, der sie nicht zur Selbstständigkeit eines ich-starken Individuums kommen ließ und jede Emanzipation gegenüber bestehenden Normvorstellungen ausschloss.358 Die einzige Möglichkeit, sich gegen die Manipulierung durch Autoritäten und den zwanghaften Anpassungsprozess zu wehren, schien die Arbeit in so genannten Kritischen Gruppen zu sein, die die vorgestellten Thesen nicht nur diskutierten, sondern »in der konkreten Praxis langfristiger kollektiver Arbeit« beweisen wollten. Letztendlich ging es natürlich nicht nur um die Verbesserung der Studienverhältnisse, sondern um die Veränderung der bestehenden Gesellschaft. Die angebliche Beschränkung der Arztrolle darauf, durch Kenntnis von Einzelfaktoren den Menschen wieder für den Arbeitsprozess verwendbar zu machen, sollte endlich aufgehoben werden.359 Zu Grunde lag diesem Anliegen die typische Neomarxismus-Theorie, nach der das Arbeitsvermögen die Menschen dazu befähige, sich als Ware Arbeitskraft auf dem Markt gegen Lohn auszutauschen, um dem Kapital seinen qualifizierten Gegenwert zu liefern.360 Freizeitgestaltung, finanzielle Unabhängigkeit und soziale Wohnverhältnisse wurden als Beispielthemen für Diskussionen in den Kritischen Gruppen genannt, die offenbar die Funktion hatten, eine Art ersten Schritt zur Erweiterung des Themenspektrums auf politische und gesellschaftliche Fragen zu sein. Gezeigt werden sollte, dass die dargelegten Probleme nicht auf die Universität beschränkt waren und folglich nicht nur durch Maßnahmen, die auf die Universität beschränkt blieben, gelöst werden konnten. Sicher waren sich die Studenten in folgendem Punkt: Für alle Bedürfnisse gelte, dass sie sich nicht von selbst verwirklichten, sondern dass sie erkämpft werden mussten. Diese Aufgabe also sollten die Kritischen Gruppen übernehmen.361 Jedoch blieb auch die individuelle Ebene nicht unberücksichtigt: Durch eigenständiges Denken und unangenehmes Fragen (beispielsweise in der Vorlesung) sollte der Kampf der Gruppen offenbar unterstützt werden. Die geplante neue Approbationsordnung konnte diese Missstände in den Augen der Studenten übrigens nicht lösen. 357 358 359 360 361
Ebd., S.12. Vgl. Erlinghagen, S. 50. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/1970, S. 11 f. Vgl. Schlaffke, S. 154. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/1970, S. 11 f.
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»Med-INFO« ging davon aus, dass vor allem die Probleme der häufigen Prüfungen, des Massenbetriebs in der Universität und der Vernachlässigung der Lehre bestehen bleiben würden.362 Die Auflehnung gegen Autoritäten und etablierte Hierarchien war eine herausragende Facette der Studentenrevolte (für Peter Schneider sogar die »wichtigste Errungenschaft der 68er-Bewegung in Deutschland«363), auch in Bonn drängten Studenten nach mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Auffällig war in der damaligen jungen Generation laut Wulf Schönbohm ein »tief sitzendes Unbehagen über die Muffigkeit, die Autoritätsgläubigkeit, die spießige Kleinkariertheit und geistige Enge ihrer Familien und ihres Lebensumfeldes«, was zu Protesten gegen die etablierten Autoritäten geführt habe.364 Im Zuge der Aufarbeitung des Nationalsozialismus vertraten viele Protagonisten von 1968 (beispielsweise Rudi Dutschke) die Ansicht, der Faschismus wurzele in der autoritären Persönlichkeit und diese gehe wiederum auf Erziehung zurück.365 Dieser Kontext spielte sicher auch eine Rolle bei der Kritik, die an den Bonner Verhältnissen laut wurden. Das zu dieser Zeit viel diskutierte Thema der antiautoritären Erziehung ließ Verbindungen auch zu den Zuständen an der Universität zu. Wie beim Verhältnis eines antiautoritär erzogenen Kindes zum Erwachsenen lag der Akzent auf der Freiheit des einzelnen, gleichzeitig wurde von Autoritäten ausgehender Zwang kritisch reflektiert.366 Charakteristisch für die damalige Zeit war das Suchen nach Alternativen wie im Falle der Medizinischen Fakultät Bonn die Kritischen Gruppen. Man kann sie als den von Dieter Neumann beschriebenen Versuch werten, der eigenen »muffigen, bleiernen und verlogenen Umgebung zu entkommen und ein irgendwie anderes Leben«367 zu führen. Ausgehend hiervon ist nachvollziehbar, warum »med-INFO« das Leistungsprinzip so vehement ablehnte und die Anpassung an die universitären Strukturen als eine Art »Weg zur Selbstverkrüppelung« ansah. Neben sicherlich berechtigter Kritik erscheinen einige Thesen allerdings fragwürdig. So ist es schwer nachvollziehbar, dass fachliches Interesse von Studenten in Wahrheit auf die Prüfungswillkür von Professoren zurückgehen sollte, das heißt, dass in Wahrheit das Interesse durch Angst bedingt sei. Sicher war (und ist) das vereinzelt der Fall, eine Verallgemeinerung ist jedoch unangemessen. Die Behauptung, durch fehlendes Interesse (auf Grund mangelhafter Lehre) verbreite sich zwangsläufig Unbehagen, barg außerdem die Gefahr, die Verantwortung für Mängel im Lehrbetrieb einseitig der Gegenseite zuzuschie362 363 364 365 366 367
Vgl. ebd., S. 7 f. Schneider, Rebellion, S. 278. Schönbohm, S. 16. Vgl. Baader, Erziehung o.S. Vgl. ebd. Neumann, S. 17.
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ben. Dass man sich auch nicht scheute, Abbrecherquoten mit Autoritätshörigkeit zu vergleichen, weckt den Verdacht, dass nicht immer sachlich argumentiert wurde und dass gegebenenfalls Zahlen und Fakten bewusst fehlinterpretiert wurden, um die eigenen Thesen zu untermauern. Gerd Koenen stellt in Anbetracht solcher Kritikpunkte sogar in Frage, ob die Gesellschaft der damaligen Bundesrepublik tatsächlich noch besonders autoritär zu nennen war. Diese Auffassung gehe nämlich mit anderen großen, generationsbedingten Fehlwahrnehmungen einher, wonach es sich um eine »restaurative«, erstarrte Gesellschaft und ein reformunfähiges System gehandelt habe. Auch den Bonner Medizinern müsste er dann rückblickend erklären: »Nichts war weniger zutreffend.«368 Andererseits bemerkt Karl Dietrich Bracher, der Ruf nach durchgreifenden Reformen im Bildungs- und Erziehungswesen überhaupt, in Schulen und Hochschulen speziell, habe auch deshalb in Westdeutschland mit größerer Brisanz gewirkt als in anderen Ländern Europas, weil er in besonders kurzem Zeitraum dramatisiert und mit Blick auf die jüngste Vergangenheit mit besonderem Nachdruck erhoben wurde.369 Neben der strengen Hierarchie betonte also nicht nur die Bonner Studentenpresse die fehlende Koordinierung und Abstimmung des Lernstoffs sowie den Prüfungsdruck. Das Studium, so wie es zu damaligen Zeitpunkt betrieben wurde, schien für echte Freiheit und Emanzipation nicht die nötigen Voraussetzungen zu bieten. Alles, was sich dort tat, wurde in breiten studentischen Kreisen als Stückwerk angesehen. Einziges Ergebnis dessen schien eine Ansammlung von Wissen zu sein, die letztlich nichts verständlicher machte. Abhilfe versprach hier nicht die Auseinandersetzung mit Problemen der jeweiligen Fächer, sondern nur eine strukturelle Änderung des gesamten Wissenschaftsbetriebs.370 In den Augen vieler Studenten sollten der Arbeitswelt entstammende Maßstäbe wie Leistungsprinzip, Wettbewerbsfähigkeit und Outputmaximierung sowie der damit verbundene Zeit- und Prüfungsdruck das eigenständige Denken unterbinden und für die Herausbildung politisch bewusstloser, fungibel einsetzbarer, nach den Zwecken von Wissenschaft nicht mehr fragender Vollzugskräfte sorgen.371 Ergebnis dieses Prozesses waren demnach unkritische, angepasste, einzig auf die Erfüllung von Spezialfunktionen im ökonomischen Getriebe vorbereitete Fachkräfte.372 Folglich erschienen Probleme in Universität beziehungsweise Lehre und Probleme der Gesellschaft untrennbar miteinander verbunden. Dieser Zusammenhang wurde in der linken Studentenpresse der Bonner Mediziner zu einem herausragenden Merkmal ihrer Kritik der Lehre. 368 369 370 371 372
Koenen, Jahrzehnt, S. 479. Vgl. Bracher, S. 302. Vgl. Fels, S. 138. Vgl. Kießling, S. 78. Vgl. ebd., S. 77 f.
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Verbesserungen ihrer Lage wollen die Bonner Studenten offenbar zunächst mit der fortschrittsgläubigen Idee des kritischen Hinterfragens373 aller Traditionen und Konventionen erreichen, einer Idee mit zeitgeistgeprägter Qualität, die im übrigen fast alle gesellschaftlichen Systeme und Praxen in ihren mehr oder weniger nachhaltigen Einfluss nahm.374 Interessant ist an der gesamten Diskussion um mehr Freiheit, dass sie ausgerechnet von Studenten hervorgebracht wurde, Menschen also, die von gesellschaftlichen Arbeitszwängen weitgehend frei gestellt waren und sind.375 Trotzdem fühlten sie sich in unerträglicher Weise eingeengt und fremdbestimmt. Dass sie gleichzeitig auch andere gesellschaftliche Bereiche in ihren Kampf mit einbezogen, lag in dem damaligen Bewusstsein begründet, nur die Intellektuellen, zu denen sich natürlich auch die Studenten zählten, seien in der Lage, die Manipulation durch wie auch immer geartete Autoritäten zu durchschauen, die Massen aufzuklären und gegen das System zu mobilisieren.376 Einflüsse dieser Ideen auch auf das Verhalten der Studenten sind also sehr wahrscheinlich, obwohl man eher von einer Revolte der »wenig Unterdrückten« sprechen muss. Die permanente Beschwörung von Außensteuerung und Manipulation signalisierte weniger eine faktische Verhärtung des politischen und universitären Systems als einen verabsolutierten Emanzipationsanspruch. Von der politischen Liberalisierung und Aufbruchstimmung der sechziger Jahre ausgehend empfanden die »Rebellen« oft jede institutionelle Struktur, jede Hierarchie und Regel als repressiv, als unerträgliche Bevormundung und Manipulation.377 Auch in Bonn gingen die Mediziner also mit dem Zeitgeist, wenn auch – wie in vielen anderen Bereichen – in recht gemäßigter Form. Der »Kampf« gegen die Autoritäten erschöpfte sich in mehr oder weniger reißerischen Artikeln der Studentenpresse und Diskussionsforen wie der Basisgruppe. Festzuhalten bleibt 373 Norbert Klein arbeitet in seinem Buch »1968 – Jugendrevolte und globaler Protest« einen interessanten Aspekt dieser so typischen Methoden des Hinterfragens heraus, insbesondere im Hinblick auf die Auswirkungen auf die heutige Geschichtsschreibung: »Soviel Fantasie und Energie zwangen schon zeitgenössisch unentwegt zur Selbstauslegung, und daraus ist ein Habitus geworden. Als ihre eigenen Interpreten sind die ›68er‹ noch immer am ehesten bei sich. ›68er‹ sein, hieß schon damals und heißt bis heute, über ›68‹ zu reden: untereinander wie mit den Nachgeborenen. Es heißt, die Ergebnisse allen Redens und Streitens immer wieder neu zu ›hinterfragen‹ – und sich gerade so die Deutungshoheit über das Gewesene zu sichern. Das ist kein Frondienst im Steinbruch der Geschichte, sondern Narzissmus als selbstbestimmte Arbeit am Mythos, das hält offensichtlich jung und die Erinnerung vermeintlich frisch. Der Historisierung aber entkommt man auch auf diese Weise nicht.« Klein, S. 210 f. 374 Vgl. Neumann, S. 27. 375 Vgl. Voßberg, S. 171. 376 Vgl. Schönbohm, S. 18. 377 Kießling, S. 106.
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jedoch, dass die wesentlichen Themen von »68« im Bereich Lehre diskutiert wurden, dass ein ausgeprägtes Bewusstsein für Missstände vorhanden war und dass nach Lösungen gesucht wurde, sowohl was den Einzelfall anging (zum Beispiel die schriftliche Prüfung in Physiologie) als auch gesamtgesellschaftliche Phänomene (die Studenten als Instrumente der Profitgier gesellschaftlicher und politischer Autoritäten). Womöglich können wir uns dem herrschenden Bewusstsein vieler Mediziner damals mit einem Gedanken von Jürgen Habermas ein wenig annähern. Dieser erklärte 1968, laut Gerd Koenen »nicht ohne Feierlichkeit«, er sei mittlerweile »zu der Überzeugung gelangt, daß die von Studenten und Schülern ausgehende Protestbewegung […] eine neue und ernsthafte Perspektive für die Umwälzung tiefsitzender Gesellschaftsstrukturen eröffnet« habe. Gerade durch ihren relativ privilegierten Status und den immateriellen Charakter ihrer Kritik an einer sinnlos gewordenen kapitalistischen »Leistungsideologie« mit ihren Verdinglichungen, Ersatzbefriedigungen und Entfremdungen gebe diese Jugendbewegung erstmals wieder den Blick auf eine mögliche Transformation der entwickelten Industriegesellschaften frei, »die eine sozialistische Produktionsweise zur Voraussetzung, aber eine Entbürokratisierung der Herrschaft […] zu ihrem Inhalt hat«.378
378 Zit. n. Koenen, Jahrzehnt, S. 26.
4.
Auseinandersetzungen mit Professoren
Konflikte mit der Universität drückten sich unter anderem in Auseinandersetzungen mit Professoren aus. Angesichts der Tatsache, dass die Achtundsechziger-Bewegung in ihrem Kern eine studentische Bewegung war, erscheint es auch rückblickend nahe liegend, dass sie ihren Ursprung in der Auseinandersetzung mit den Ausbildungsdefiziten der Massenuniversität hatte.379 Bis dahin waren es die Hochschullehrer gewohnt gewesen, wie »mittelalterliche Feudalherren« unumschränkt über ihre Fakultäten und Institute zu herrschen. Sie diktierten, was geforscht und gelehrt wurde, wie studiert und geprüft wurde. Laut Norbert Kozicki basierte ihre Allmacht auf der Vereinzelung der Studenten, die sich vor der Achtundsechziger-Bewegung siezten und mit dem Hausnamen anredeten. »Mit dem Sturz der professoralen Götter vom akademischen Olymp« habe sich jedoch schlagartig ein vertrautes »Du«380 unter den Studenten etabliert.381 An der Universität Bonn, die von derartigen Entwicklungen natürlich nicht ausgespart blieb, wurden an der Medizinischen Fakultät sachliche Argumente gern als Aufhänger genutzt, die Auseinandersetzungen selbst jedoch waren in weiten Teilen von Ideologie und Emotionen geprägt. Gleichzeitig versuchte man, als Studentenschaft mit einer Stimme zu sprechen, um eine wirkungsvolle Druckkulisse aufzubauen. Nicht zuletzt basierte die Stärke der Studentenbewegung darin, dass sie die Offensive und Provokation suchte.382 All dies soll an 379 Vgl. Kraushaar, Denkmodelle, S. 16. 380 Peter Schneider bemerkt hierzu, die neue Offenheit und Duz-Bereitschaft hätte auch Kehrseiten gehabt. Zu der Parole »Alles Private ist politisch« habe es keinen Umkehrsatz gegeben. Folglich sei das Private, soweit es sich nicht in politische Energien überführen ließ, aus der Kommunikation ausgegrenzt worden: »Es gab keine Gesprächskultur, die den Wünschen oder Leiden des einzelnen Raum gegeben hätte – schon das Wort ›privat‹ oder ›persönlich‹ erregte Mißtrauen.« Erst die Frauenbewegung, die im Herbst 1968 mit den Tomatenwürfen auf SDS-Männer öffentlich in Erscheinung getreten sei, habe mit der Ausgrenzung des Subjekts und des Subjektiven aus dem politischen Diskurs gebrochen. Schneider, Rebellion, S. 120 f. 381 Kozicki, S. 11 f. 382 Vgl. Schneider, Rebellion, S. 167.
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Auseinandersetzungen mit Professoren
zwei Konflikten mit den Professoren Kurt Fleischhauer und Josef-Peter Pichotka383 dargelegt werden.
4.1
Der Konflikt um Professor Fleischhauer
Im Juli 1972 berichtete die Studentenzeitschrift »akut«, die sich schon seit längerem als ein Presseorgan verstand, das sich über die engeren und aktuellen Fragen studentischer Politik hinaus auch mit allgemeinen gesellschaftspolitischen Fragen beschäftigen wollte384, von den diese Auseinandersetzung prägenden Ereignissen: Den Ausgangspunkt bildete Professor Fleischhauers Verbot von Veranstaltungen politischer Hochschulgruppen im Anatomischen Institut.385 Fachschaftsvollversammlungen im Hörsaal blieben zwar möglich, jedoch sollten sie seiner Zustimmung bedürfen.386 Die Resolution einer solchen Vollversammlung vom 25. April 1972 forderte daraufhin die Freigabe der Räumlichkeiten.387 Die Zeitschrift »med-INFO«, die über denselben Vorfall berichtete, zitierte Fleischhauer mit den Worten: »Ich setze mein Hausrecht über das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit.« Er sollte dies während einer Diskussion mit dem Fachschaftsvorstand geäußert haben.388 Wenige Wochen später gründete die Vollversammlung vom 13. Juni 1972 ein Komitee, das eine Unterschriftenaktion mit dem Ziel organisieren sollte, die Freigabe des Hörsaals zu bewirken und eine ordentliche Vollversammlung einzuberufen, auf der Professor Fleischhauer zu seinen Maßnahmen Stellung nehmen sollte. »Akut« bewertete dieses Vorhaben als im Sinne der Studenten, da angeblich mehr als ein Drittel der Studenten mit ihrer Unterschrift die Forderungen des Komitees unterstützt hätten. Zudem seien aus zehn Fachschaften aller Fakultäten Solidaritätsadressen eingegangen.389 Ein Gespräch zwischen Fachschaftsvorstand, dem Komitee und Fleischhauer verlief ohne Ergebnis, außerdem bemerkte »akut«: »Prof. Fleischhauer zog es vor, die Fronten noch weiter zu verschärfen und sich nicht inhaltlich mit den 383 Über Josef-Peter Pichotka (1911 – 1991) liegen nur bruchstückhafte biographische Eckpunkte vor. Aus Freiburg im Breisgau stammend, wurde er 1958 zum Ordinarius für Physiologie der Charit¦ berufen. Seine Amtszeit wurde mit dem Mauerbau beendet. Er blieb nach der Teilung Deutschlands Bundesbürger, woraufhin ihm – da »republikflüchtig« – rückwirkend zum 1. September 1961 gekündigt wurde und er seine Karriere in Westdeutschland fortsetzte. Vgl. Einhäupl/Ganten/Hein, S. 54. 384 Vgl. Bothien, S. 67. 385 UAB, Sammlung »akut«, akut, 05. 07. 1972, S. 4. 386 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 15, Mai/Juni 1972, S. 4. 387 UAB, Sammlung »akut«, akut, 05. 07. 1972, S. 4. 388 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 15, Mai/Juni 1972, S. 7. 389 UAB, Sammlung »akut«, akut, 05. 07. 1972, S. 4.
Der Konflikt um Professor Fleischhauer
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Vorwürfen des FSV [Fachschaftsvorstand] auseinanderzusetzen; er beharrte weiter auf seiner Hausrecht-Position.« Trotzdem erklärte er sich in einem zweiten Gespräch dazu bereit, sich am 28. Juni 1972 am Rande seiner Vorlesung den Fragen der Studenten zu widmen. »Akut« begründete das mit den »eindeutigen Solidaritätsbeweise[n] der großen Mehrheit der Studenten, der Assistenten und einiger Professoren«390. Schon einen Tag später, während eines Teach-ins, zeigte sich Fleischhauer unbeeindruckt von den Forderungen: Er wollte die Angelegenheit nicht nur an die zuständigen Stellen im Ministerium weiterleiten, sondern auch grundsätzlich die Zusammenarbeit mit dem Fachschaftsvorstand beenden. Darüber hinaus sagte er die Teilnahme an einer Vollversammlung, die am 4. Juli 1972 stattfinden sollte, ab, was »akut« im Widerspruch zu einem früheren Versprechen sah. Die Ankündigung, die Unterschriftensammlung fortzuführen und deren Ergebnisse an die Engere Fakultät weiterzuleiten, und die Absicht, Assistenten und Professoren verstärkt in die Kampagne mit einzubeziehen, wirkte dabei selbstbewusst und völlig unbeeindruckt von den Drohungen des Professors.391 Darüber hinaus wurde der Konflikt in einen größeren Zusammenhang gestellt und gewissermaßen »politisiert«. »Med-INFO« widmete der Auseinandersetzung einen recht ausführlichen Artikel. Der Konflikt um Fleischhauer wurde darin im Kontext der »Bonner Reaktion« gesehen, die mit Relegationen und Hausverboten im Sinne so genannter »BFdW392 Proffs« die fortschrittliche Studentenbewegung zurückdrängen wolle:393 »Die schwarz-braun-goldene Clique bläst in Adenauerscher Roll[-]Back-Manier zum Sturm auf fundamentale Grundrechte, wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit, sie verbietet politische Betätigung gerade da, wo Konflikte gerade am deutlichsten auftreten: am Ausbildungsort, am Arbeitsplatz. Angriffe auf ASTA-Repräsentanten und Fachschaften sollen auf kaltem Wege nachholen, was der entschlossene Widerstand der Bonner Studenten im letzten Semester verhindert hat: die Zerschlagung von Fachschaften, SP und ASTA, die Zerschlagung der verfaßten Studentenschaft.«394
Weiterhin handele es sich bei diesem reaktionären Kreis um die »professoralen Ziehväter« des RCDS, die sich an den Protesten offenbar nicht beteiligen. Dieser 390 Ebd. 391 UAB, Sammlung »akut«, akut, 05. 07. 1972, S. 4. 392 Gemeint war hier der »Bund Freiheit der Wissenschaft«, dessen Kürzeln eigentlich BFW lautet. Mit dieser Organisation, die in den linken Presseorganen der Mediziner scharfe Kritik hervorrief, befasst sich ausführlich das Kapitel 8.2. 393 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 15, Mai/Juni 1972, S. 4 f. 394 Ebd.
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Auseinandersetzungen mit Professoren
sowie der angegriffene Bund Freiheit der Wissenschaft395 seien dazu ausersehen, die Vorstellungen von Hochschulformierungen der CDU/CSU und des BDI durchzusetzen. Letztlich solle damit die Grundlage für ein Hochschulrahmengesetz bereitet werden, das die Forderungen des BDI-Memorandums »Zur Lage von Forschung, Lehre und Studium« erfülle, wie sie im bayerischen Hochschulrahmengesetzentwurf (»dessen Charakter die preußische Pickelhaube wohl treffend symbolisiert«) verwirklicht seien: In diesem würde jede Mitbestimmungsmöglichkeit für Gewerkschaftler und Studenten auf allen bildungspolitischen Entscheidungsebenen aufgehoben, an deren Stelle trete ein bundeseinheitliches, scharfes Ordnungsrecht. Gewerkschaftsfeindliche und militaristische Lehrinhalte würden nicht abgebaut, Bundeswehrhochschulen und der Wehrkundeerlass schienen sogar auf das Gegenteil hinzuweisen. Die Kritik gipfelte in dem Vorwurf, die unumschränkte Fachaufsicht des Staates zerschlage (»wie nicht anders zu erwarten«) die verfasste Studentenschaft.396 »Med-INFO« war hierbei überzeugt, dass die Studenten, die an den Fachschaftsvollversammlungen des Semesters teilgenommen hatten, den entscheidenden Zusammenhang erkannten: Nämlich den zwischen den scheinbar nebensächlichen Einschränkungen in der Wahrnehmung von Grundrechten an der Universität Bonn (womit Konflikte wie der mit Professor Fleischhauer gemeint sind) und der »bildungspolitischen Gesamtstrategie des Rechtsblocks in der BRD«. Dass die kritische Studentenschaft durchaus zum Handeln bereit war, sollte ein Rückblick auf die beschlossenen Maßnahmen des Semesters belegen: Wurde auf der ersten Fachschaftsvollversammlung die Resolution des AStA gegen die Relegationen und Hausverbote verabschiedet, wobei angeblich über 120 Studenten anwesend waren, so folgte in der zweiten Sitzung ein Forderungskatalog397, den der Fachschaftsvorstand Fleischhauer zukommen ließ. Darin kamen nicht nur die aktuellen Konfliktthemen zur Sprache. Neben der Freigabe der Hörsäle für studentische Veranstaltungen im Allgemeinen forderten die Studenten, einen Saal im Bereich der Vorklinik regelmäßig, nämlich einmal pro Woche für die Zeit von 10 bis 14 Uhr, für solche Zwecke zu reservieren. Zweimal pro Monat sollte außerdem eine feste Zeit im Stundenplan angegeben werden, in der die Fachschaft eine ordentliche Vollversammlung 395 In einer Vortragsankündigung des ASTA für den 20. Juni 1972, die »med-INFO« in derselben Ausgabe druckte, wurde er als »treibende Kraft der Rechtsentwicklung an den Hochschulen« definiert. Der Vortrag diente dazu, dessen vermeintlichen »Kampfmethoden und -ziele« sowie seine politischen und ideologischen Positionen zu entlarven. Gleichzeitig wollten die Referenten von unterschiedlichen Universitäten aus ganz Westdeutschland die Alternative, den »Bund demokratischer Wissenschaftler«, vorstellen. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 15, Mai/Juni 1972, S. 5. 396 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 15, Mai/Juni 1972, S. 6. 397 Im Originalartikel ist von »Förderungskatalog« die Rede, was aber höchstwahrscheinlich als Druckfehler aufzufassen ist.
Der Konflikt um Professor Fleischhauer
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abhalten konnte, deren Teilnahme allen Studenten des Fachbereichs möglich sein sollte.398 Obwohl dieser Forderungen sicher schwierig zu erfüllen waren, weil es zu Kollisionen mit anderen Veranstaltungen in den Hörsälen gekommen wäre, erreichte die Fachschaft einen Teilerfolg: Nach Vorlage bei der Engeren Fakultät durften drei Vollversammlungen in den letzten sechs Semesterwochen stattfinden, wobei die parallel laufenden Veranstaltungen ausfielen. Politische Veranstaltungen in den Hörsälen blieben jedoch verboten. Das erklärte »medINFO« mit Fleischhauers Nähe zum »Bund Freiheit der Wissenschaft« und dem damit offenbar zwangsläufig verbundenen Wunsch nach Auflösung der eigenständig verfassten Studentenschaft. Konkret schien das die »Unterdrückung jeder politischen Regung am Institut, und damit Verhinderung jedes solidarischen Handelns der Studentenschaft zur Durchsetzung ihrer berechtigten Interessen« zu bedeuten. Das Zitat eines nicht näher genannten BFW-Vertreters, in dem die Sorge vor der Politisierung auch scheinbar »reiner« Wissenschaften wie der Medizin zum Ausdruck kommt, welche die Leistungsfähigkeit und Arbeitsfähigkeit der Universität beeinträchtige, sollte diese Vermutung belegen.399 Somit erschien die Gründung des bereits erwähnten, auf der Vollversammlung gegründeten Komitees notwendig. Man wähnte sich nämlich lediglich auf dem ersten Höhepunkt eines Weges, den die reaktionären Kräfte der Bundesrepublik beschritten hätten, um Demokraten und so genannte fortschrittliche Organisationen mundtot zu machen: »Jetzt kommt es für uns [die Studenten] darauf an, in einer gemeinsamen Aktion das Komitee zu unterstützen, und solidarisch unsere demokratischen Rechte durchzusetzen.« Eine weitere Konsequenz aus der erlebten Bedrohung sollte ein durch die Fachschaft Vorklinik gegründeter Arbeitskreis »Studienreform« sein, der diese Problematik thematisierten wollte.400 Ein Streit, der rückblickend womöglich eher wenig Konfliktpotential beziehungsweise Auswirkungen auf die Situation der Studenten haben mochte, eskalierte innerhalb kurzer Zeit also völlig, wenn man den emotionsgeladenen Artikeln der studentischen Presse glauben mag. Erkennbar ist, dass ein verhältnismäßig nichtiger Konflikt umgehend als Symptom einer reellen Bedrohung der Grundrechte und der Demokratie aufgefasst wurde. Dass sich zumindest einige Studenten wohl ernsthaft Sorgen um Errungenschaften wie die freie Meinungsäußerung machten, erscheint angesichts ihrer politischen Überzeugungen womöglich folgerichtig, rückblickend jedoch unberechtigt. Auch fehlt jeder Beleg dafür, dass hinter einem simplen Streit um die Hörsaal398 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 15, Mai/Juni 1972, S. 6 f. 399 Ebd., S. 7. 400 Ebd.
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Auseinandersetzungen mit Professoren
nutzung unmittelbar die direkte Auseinandersetzung mit einem so genannten Rechtsblock der Bundesrepublik steht. Vielmehr kommt hierbei der Verdacht auf, dass die Studenten den Rest der Welt einfach in Freunde und Feinde unterteilen. Zu letzteren wurden in Bonn (wie auch sonst an westdeutschen Universitäten) eben auch viele Professoren gezählt.401 Möglicherweise wurden diese Übertreibungen bewusst genutzt, um Ängste zu schüren, Fronten zu verhärten und das eigene (linke) Lager zusammenzuhalten. Im günstigsten Fall waren die Darlegungen der Studentenzeitungen einseitig und unangemessen emotional, zumal offenbar vorhandene Kompromisse und sogar ausdrücklich geschildertes Entgegenkommen seitens der Universität (etwa die Zusage, drei Vollversammlungen am Ende des Semesters abhalten zu dürfen) auch nicht in Ansätzen gewürdigt wurden. Wie auch an anderen westdeutschen Universitäten konnten Versuche, etwa durch Deutungen oder das Bemühen um Verständnis anderer Meinungen vermittelnd zu wirken, wenig ausrichten, weil sie von der einen oder anderen, oft sogar von beiden Streitparteien als bewusste Schwächung oder Verdrehung der Wahrheit beziehungsweise des Rechts aufgefasst wurden.402 Die Radikalität der studentischen Seite lässt vermuten, dass ihr an einer Eskalation gelegen war, was wahrscheinlich im Rahmen von HorstPierre Bothiens Beschreibung der Konflikte zwischen Bonner Studenten und Universitätsführung zu sehen ist. Demnach entstanden Konflikte vor dem Hintergrund des Nicht-Verstehens, des Nicht-Verstehen-Wollens, der Unflexibilität, der Missverständnisse, der Taktlosigkeit und schließlich des Unvermögens, miteinander respektvoll umzugehen.403 Schlichtweg erstaunlich wirkt außerdem die offenbar verbreitete Ansicht, eine Vollversammlung mit freiwilliger Teilnahme (und mit womöglich im Voraus bekannten Zielen), an der 120 Studenten teilnahmen, repräsentiere die Studentenschaft beziehungsweise symbolisiere eine breite Unterstützung. Man könnte also vermuten, dass der Fall Fleischhauer in Wahrheit doch nicht eine beschworene »revolutionäre Stimmung« in der Studentenschaft bewirkte, wie »akut« und »med-INFO« glauben machen wollten.
401 Vgl. Viehöver, S. 131. 402 Vgl. Hecken, S. 33. 403 Vgl. Bothien, S. 69.
Der Konflikt um Professor Pichotka
4.2
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Der Konflikt um Professor Pichotka
»Mediziner! Helfen Sie Ihren Kommilitonen!« Mit diesem Aufruf eröffnete »ASTA-INFO« einen kurzen Artikel, der sich mit Klagen von studentischer Seite über angebliche Willkür bei Professor Pichotkas Prüfungen befasste. Das Blatt vermutete, dass einige Studenten auf Grund dessen in ernste Notlagen gebracht wurden, und bat alle Kommilitonen, die »weiteres Material« liefern konnten, um den betroffenen Studenten zu helfen, den Sozialreferenten des AStA zu informieren. Dabei wurde zugesagt, dass alle Angaben vertraulich behandelt würden.404 Es hat den Anschein, als wollte der AStA eine gezielte Kampagne gegen den Professor starten. Was genau die bestehenden Vorwürfe waren, blieb unerwähnt. Ebenso muss die Tatsache verwundern, dass das »Material« trotz der offenbar ernsten Konsequenzen der angeblichen Prüfungswillkür noch nicht für eine Art Kampagne gegen Pichotka ausreichte. Der Verdacht liegt also nahe, dass bestimmte studentische Kreise gezielt und womöglich ohne hinreichenden Beweis Vorwände suchten, um Repräsentanten der verhassten Universitätsleitung anzugreifen. In diesem Fall verfehlte der Artikel jedoch seine Wirkung. Etwa vier Wochen später erklärte der AStA in seiner Zeitschrift auf Verlangen des Fakultätssprechers Hanisch und des Vorklinik-Fachschaftssprechers Ringleff405 sein Bedauern über den Eindruck, er habe sich die Vorwürfe über Pichotka zu Eigen gemacht. Der entsprechende Protestbrief, in dem von »unsachlichen und unbewiesenen Unterstellungen« die Rede ist, wurde zitiert. Darin forderten die Verfasser dazu auf, sich bei Beschwerden in erster Linie an die Fachschaftsvertretung zu wenden. »ASTA-INFO« ruderte zurück und behauptete, man habe nie die Absicht gehabt, Professor Pichotka zu beleidigen, was nach eigener Auffassung auch nicht geschehen sei. Trotzig ergänzte der Verfasser des Artikels, man habe als Organ der studentischen Selbstverwaltung jedoch die Pflicht, Missstände zu prüfen und sie gegebenenfalls zu beseitigen. Verbesserungen ließen sich nur so erreichten, denn: »Die berechtigten Interessen der Betroffenen wie der studentischen Organe gehen klar dem Bestreben nach guten Kontakten zu Professoren und Universitätsorganen vor.«406 Ohne es zu wollen offenbarte der AStA hier, dass er offenbar nicht immer seinem Anspruch, für studentische Interessen einzutreten, gerecht wurde. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Vorwürfe gegen den Professor glaubwürdig 404 UAB, Sammlung AStA-Info Band 1 – 3 (1967 – 69), ASTA-Info Nr. 29, 13. 12. 1968, S. 4. 405 Die Vornamen der beiden Studenten werden nicht erwähnt, auch biographische Informationen fehlen. 406 UAB, Sammlung AStA-Info Band 1 – 3 (1967 – 69), ASTA-Info Nr. 29, 13. 12. 1968, S. 4.
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Auseinandersetzungen mit Professoren
und schwerwiegend waren, so wertete der AStA die Geschehnisse hier nicht als Aufklärung von Missverständnissen, sondern als Niederlage, vielleicht sogar als »In-den-Rücken-fallen« der Fachschaft Medizin. Der Vorfall war wohl insofern ärgerlich und peinlich für die Verantwortlichen, als sie ihren Rückhalt bei den Medizinstudenten in Gefahr gesehen haben könnten und zumindest den Verdacht weckten, nicht objektiv zu sein. Eben diese Objektivität beanspruchte der AStA jedoch gern für sich. Jürgen Busche beschreibt es so: »Lernen ist entlarven. Entlarven macht Spaß. Also macht Lernen Spaß. Das ist eine der Grundüberzeugungen der 68er. Die brachte sie nun allerdings dazu, Entlarvung zu betreiben, wo es nichts zu entlarven gab. Verdächtigungen anzustellen, wo nichts im argen lag. Damit gingen sie alsbald den Älteren und Jüngeren erheblich auf die Nerven. Aber das machte sie lange Zeit glücklich.«407
Möglicherweise ist dies ein Grund, warum im November 1969 erneut Kritik an der Person Pichotka thematisiert wurde: Unter dem Titel »Widersprüche um Pichotka« schilderte »ASTA-Info« die Situation der Vorklinik-Studenten, die am Physiologischen Praktikum teilnehmen wollten. Da 103 Studenten die Aufnahmeprüfung hierfür nicht bestanden hatten, drohte ihnen der Verlust eines ganzen Semesters. Auf Intervention des AStA hin sollten 60 weitere Plätze zur Verfügung gestellt werden, jedoch entbrannte Streit um die Finanzierung: Während Professor Pichotka das Gespräch mit den Studentenvertretern so auslegte, als wolle der AStA die notwendigen 8000 DM beisteuern, sprach dieser lediglich von einer Art Hilfestellung und lehnte es ab, Gelder der Studentenschaft bereitzustellen. Gegenwind erhielt Pichotka dann auch von der Universitätsverwaltung, die darauf hinwies, dass im Haushaltsjahr 1970 genügend Mittel für das Physiologiepraktikum vorhanden seien. Nach Auffassung der Studentenzeitschrift führte diese »Niederlage« zu einer Art Verweigerungshaltung des Professors: Pichotka sagte nämlich lediglich zu, 64 der durchgefallenen Studenten, die eine verhältnismäßig hohe Punktzahl erreicht hatten, zur erneuten Aufnahmeprüfung zuzulassen. Die Aufforderung des AStA, diesen Studenten ohne weitere Prüfung die Teilnahme am Praktikum zu ermöglichen, beantwortete der Professor mit dem Hinweis auf eine so genannte »Dunkelziffer« von Studenten, die ebenfalls an der Prüfung zu beteiligen seien.408 Die Forderung, alle durchgefallenen Prüflinge inklusive der »Dunkelmänner« zuzulassen, wurde aber aufrecht erhalten. Auch wies der AStA auf eine Bemerkung hin, die Pichotka während des Gesprächs geäußert haben soll. Demnach bezeichnete er die Aufnahmeprüfung zu seinem Praktikum stolz als die schwierigste aller deutschen Universitäten. Auf Grund des Charakters einer 407 Busche, S. 80. 408 UAB, Sammlung AStA-Info Band 1 – 3 (1967 – 69), ASTA-INFO Nr. 24, 12. 11. 1969, S. 3.
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Leistungsprüfung409 glaubten die Studenten damit erkannt zu haben, dass es nur in zweiter Linie um die Besetzung freier Praktikumsplätze gehe und in Wahrheit andere Motive im Vordergrund stünden.410 Wahrscheinlich wollte der AStA so andeuten, die Prüfung diene schlichtweg der Reduzierung der Studentenzahl beziehungsweise der Ausübung von zusätzlichem Druck. Auffällig ist, dass der Artikel in seiner Kritik recht objektiv bleibt. Offenkundig war man bemüht, die Vorwürfe gegenüber Professor Pichotka mit Tatsachen zu belegen. Möglicherweise zogen die Verfasser damit die Konsequenzen aus der unangenehmen Niederlage wenige Monate zuvor. Kurz darauf, am 13. November 1969, fand im Hörsaal der Anatomie eine Vollversammlung der Fachschaft Medizin statt. In der ersten »med-INFO«Ausgabe wurde von Resolutionen berichtet, die als Reaktion auf den Streit mit Professor Pichotka verabschiedet wurden: Man forderte, alle Examenssemester, die die Aufnahmeprüfung zum Physiologiepraktikum am 24. Oktober nicht bestanden hatten, ohne neue Aufnahmeprüfung zuzulassen. In Zukunft sollte dann generell auf Aufnahmeprüfungen verzichtet werden. An der Ausrichtung dieser kommenden Praktika seien alle habilitierten Lehrkräfte des Instituts zu beteiligen, sowohl was inhaltliche Gestaltung als auch Prüfungen angehe. Die offenbar unter den Studenten gefürchteten »Cheftestate« sollten entfallen.411 Der Streit war jedoch nicht beigelegt, er weitete sich sogar noch auf die Assistenten Pichotkas aus: Bedauerlich nannte der AStA den Beschluss der Assistentenversammlung des Physiologischen Instituts am 14. November 1969, also einen Tag nach der Fachschaftvollversammlung. »Störrisch« und »verstört durch die Untersuchungen des AStA im Fall Pichotka« und dessen Einsatz für die Studenten, habe man dort über die große Arbeitsbelastung geklagt, die auf die hohe Zahl an Praktikumsteilnehmer (470 pro Jahr) zurückgehe. Eine weitere Steigerung sei nicht zu verkraften. »ASTA-INFO« ließ diese Argumente nicht zählen, bemerkte vielmehr die »Angabe überspannter, weil falsche[r] Angaben« und kritisierte, dass man sich auf die angeblich vorgesehene Zahl von 432 Praktikumsplätzen beschränken wollte.412 Den Verweis der Assistenten auf die »gegenwärtigen Umstände« im Verhältnis zwischen Studenten und Professor Pichotka und die damit verbundene Androhung, die angebliche Mehrbelastung nicht weiter auf sich zu nehmen, wertete 409 Das Wort »Leistung«, dem man eine positive Wertigkeit nicht rauben kann, wurde in der Studentenpresse in der Regel gemieden. Da in der Leistungsgesellschaft nicht die Chance durch Leistung, sondern der Zwang zur Leistung gesehen wurde, lebte das Wort Leistung so gut wie ausschließlich nur in negativen Bindungen wie Leistungsdruck und Leistungszwang (oder wie hier : Leistungsprüfung) weiter. Vgl. Schneider, Sprache, S. 72. 410 UAB, Sammlung AStA-Info Band 1 – 3 (1967 – 69), ASTA-INFO Nr. 24, 12. 11. 1969, S. 3. 411 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 1, 01. 12. 1969, S. 3. 412 UAB, Sammlung AStA-Info Band 1 – 3 (1967 – 69), ASTA-INFO Nr. 26, 04. 12. 1969, S. 3.
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der AStA als »emotionsgeladen« und zeigt sich verständnislos: Schließlich habe man sich stets darum bemüht, die Lage von Studenten als auch Assistenten zu verbessern. Eine Presseerklärung des AStA kritisierte noch einmal den »eigenmächtig installierten numerus clausus im numerus clausus« und berief sich auf den Dekan und den Studiendekan der Medizinischen Fakultät, die dieses Verfahren angeblich für unzulässig hielten. In der Hoffnung, dass sich die Assistenten letztlich noch anders entscheiden würden, drohte der AStA gleichzeitig damit, notfalls den Kultusminister und das Verwaltungsgericht einzuschalten.413 Dass sich die Assistenten auf die Seite des Professors stellten, war übrigens durchaus etwas Besonderes. In den meisten Fällen taten sie nämlich genau das Gegenteil. Ihre Situation, die sich in einer starken Abhängigkeit vom jeweiligen Ordinarius manifestierte, ließ diese universitäre Gruppe für Forderungen nach Demokratisierung der Hochschule besonders aufgeschlossen scheinen.414 Auf der Fakultätssitzung der Mediziner vom 7. Januar 1970 wurden Anträge eingereicht, die belegen, dass der Streit die Bonner Medizinstudenten auch im folgenden Jahr weiter beschäftigte: Einerseits sollte die Universität die Rechtssituation von nicht ausdrücklich im Studiengang vorgesehenen Zulassungsprüfungen für Praktika und ähnliche Lehrveranstaltungen überprüfen. Andererseits sollten alle im Fach Physiologie habilitierten Fachvertreter anteilsmäßig an der Hauptvorlesung und der ärztlichen Vorprüfung beteiligt werden. Offenbar lag dies zu diesem Zeitpunkt noch allein oder überwiegend in den Händen von Professor Pichotka. »Med-INFO« erklärte hierzu, diese Forderungen seien auf die »einmütige Haltung der Studentenschaft und das konsequente Beharren der FS-Vertreter in der Studienkommission« zurückzuführen. Weiterhin favorisierte die Fakultätssitzung anscheinend eine Art Konkurrenzpraktikum415. Dieses sollte »unter Vorgriff auf die für den 2.[]Lehrstuhl bewilligten Mittel« finanziert werden.416 Damit wurde ganz offen ein Richtungswechsel vollzogen, denn auf der Fachschaftsvollversammlung vom 10. Dezember 1969 wurde noch ein von »allen […] Lehrkräften […] kollegial durchgeführtes Praktikum« gefordert. »MedINFO« kritisierte diese geplante Zweiteilung damals scharf, da nur durch ein einheitliches reformiertes Praktikum »die psychische Abhängigkeit und die Fixierung des physiologischen Stoffes an die Person von Professor Pichotka« überwunden werden könne. Zwar seien konkurrierende Lehrveranstaltungen grundsätzlich zu begrüßen, in diesem Fall aber sei auf Grund der geringen Kapazität des zweiten Praktikums (75 – 100 Plätze, davon 60 für Zahnmediziner) 413 Ebd. 414 Vgl. Schlaffke, S. 128. 415 Wie dieses Praktikum genau aussehen sollte und wer dafür eintrat, wurde in »med-INFO« nicht geschildert. Sicherlich sollte es weniger unter dem Einfluss Pichotkas stehen. 416 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO, 08. 01. 1970, S. 5.
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keine echte Wahlfreiheit gegeben, solange das Physikum in seiner bisherigen prüferfixierten Form beibehalten werde.417 Im »Jahresbericht der Fachschaft Vorklinik«, der in der Januar-Ausgabe veröffentlicht wurde, erfuhr der Leser dann, dass die beschlossenen »devoten« Petitionen vom Dezember keinerlei Reaktion durch Professor Pichotka provozierten. Die Fachschaft sah sich daher gezwungen, »zu härteren Maßnahmen zu [greifen]«: Man habe mit einer Verwaltungsklage gedroht, die Fakultät eingeschaltet, ein konsequentes Vorgehen der Fachschaftsvertreter angemahnt und darüber hinaus auf einer Vollversammlung (unbekannten Datums) beschlossen, eventuell einen Vorlesungsstreik418 in der Physiologie zu organisieren. Diese Drohungen hatten Erfolg: »Med-INFO« berichtete, dass – wie gefordert – alle Examenssemester ins Praktikum aufgenommen werden sollten und dass die übrigen Dozenten des Instituts an den zukünftigen Praktika und Vorlesungen beteiligt würden.419 Der Kampf schien für die Studenten also gewonnen. Doch wenige Monate später eskalierte der Streit mit Pichotka erneut: Ein Flugblatt vom 19. Juni 1970 berichtete, dass von 220 Teilnehmern der Physiologie-Abschlussklausur des Sommersemesters 161 bestanden hatten. Eine Nachprüfung war ursprünglich nicht vorgesehen, jedoch hätte eine »studentische Intervention mit Unterstützung einiger Assistenten« diese Möglichkeit für jene Studenten erreicht, die nur knapp (mit 90 bis 99 Punkten) die erforderliche Punktezahl (von 100) nicht erreicht hatten. Eine öffentliche oder auch nur persönliche Überprüfung der Ergebnisse habe Professor Pichotka jedoch mit den Worten »Da könnte ja jeder kommen.« abgelehnt.420 Weiterhin soll er erklärt haben, nach »irgendeinem (obskuren) amerikanischen System« zu verfahren, bei dem Einsichten in die korrigierten Klausuren nicht vorgesehen seien. Zwar befasste sich sogar die Studienkommission der Fakultät als Schlichtungsausschuss mit dem Thema, ihre Intervention sei jedoch »nur Episode« geblieben. Nicht umsonst habe »die Ordinarienwillkür Jahrhunderte unbeschadet überstanden«. Und trotzdem: Per Dekret wurde den Studenten die geforderte Einsicht in ihre Klausuren doch noch ermöglicht. Jeder von ihnen habe diese Möglichkeit wahrgenommen. Die von der Fachschaft erhobene Forderung nach prinzipieller Wiederholbarkeit der Prüfung für alle sei
417 Vgl. ebd. 418 Leider ist nicht klar, ob ein solcher Streik lediglich Abwesenheit in der Vorlesung bedeutete oder noch weitere Maßnahmen beinhalteten sollte. 419 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO, 08. 01. 1970, S. 9. 420 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Fachschaft Medizin-Vorklinik. ZUR SITUATION AM PHYSIOLOGISCHEN INSTITUT«, 19. 06. 1970, S. 1.
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Auseinandersetzungen mit Professoren
hingegen »im Abwägen und Abwiegeln stecken« geblieben, da sie als »zu gewagt« empfunden worden sei.421 Jene restlichen 32 Studenten wurden auf das nächste Semester vertröstet. Da angeblich viele von ihnen am Ende des Semesters das Physikum ablegen wollten, vermutete der Verfasser des Flugblatts, dass etliche von ihnen auf Grund dieser Maßnahmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten durch den Verlust eines Semesters oder gar des Stipendiums geraten dürften. Professor Pichotka (»der Meister«) habe einem solchen Studenten erklärt: »Wenn man ihm die Studienbeihilfen streiche, möge er sich an ihn, P. [Pichotka], wenden – er werde ihm Geld geben.« Da auch alle anderen »Privatinitiativen« erfolglos geblieben seien, beauftragte eine Fachschaftsvollversammlung am 9. Juni 1970 das neu gewählte (nicht näher vorgestellte) »Sprecherkollektiv«, eine Wiederholungsklausur für alle Studenten durchzusetzen.422 Es waren wahrscheinlich die Assistenten, die beklagten, dass ihre Belastungsgrenze überschritten werde, wenn sie weitere Arbeiten korrigieren müssten. Um dieses Argument zu überprüfen, sprach nach Aussage von »med-INFO« die Fachschaft mit dem Sprecher der Assistenten des Physiologischen Instituts. Dieser habe zwar Sympathie gezeigt, die versprochene Diskussion mit allen Assistenten sei jedoch nie geführt worden. Stattdessen erhielt die Fachschaft einen als provozierend empfundenen Brief, in dem es hieß: »Nach Auffassung der Assistenten ist für das schlechte Abschneiden der betroffenen Gruppe mangelnde Arbeitsfreude, […] sowie zum Teil nicht ausreichende Begabung verantwortlich«. Statt zu protestieren solle die Fachschaft »ihre Studenten lieber zu besserem Studieren anhalten«.423 Möglicherweise wurde auf den zunächst entgegenkommenden Assistentenvertreter Druck von Seiten der Praktikumsleitung ausgeübt, was diese Kehrtwende erklären könnte. Während eines von der Fachschaft initiierten Treffens zwischen betroffenen Studenten, Fachschaftssprechern, Mitgliedern der Basisgruppe und des AStA sei eine juristische Klärung dieses Falles in Erwägung gezogen worden. Einen Tag nach der Vollversammlung – so erfuhr der Leser des Flugblattes – wurde Pichotka von Studenten in einem Seminar auf den Konflikt angesprochen. Auf die Frage nach dem Grund für die beschlossene »90er-Auswahl« entgegnete er : »Ich bin verpflichtet […] eine Bewertungsgrenze festzusetzen; darüber bin ich Ihnen keine Rechenschaft schuldig.« Studenten mit weniger als 90 Punkten könnten den Stoff ohnehin nicht in sechs Wochen (der Zeit bis zur Nachprüfung) nachholen. Im Flugblatt wurde das angezweifelt, Gegenbeispiele könnten ge421 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 7/1970, S. 9. 422 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Fachschaft Medizin-Vorklinik. ZUR SITUATION AM PHYSIOLOGISCHEN INSTITUT«, 19. 06. 1970, S. 1. 423 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 7/1970, S. 9.
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nannt werden, und überhaupt sei es ja schließlich Sache der Studenten, ob sie ein zweites Durchfallen riskieren wollten. Der Erfolg in der Prüfung hänge außerdem in erster Linie von dem Besitz der richtigen Fragensammlung ab, da der Praktikumsstoff mit dem der Prüfung wenig gemeinsam habe. Nach diesem Seitenhieb besann man sich aber wieder auf das eigentliche Thema:424 »Einer weiteren Diskussion um diese Argumente entging Prof. P. mit dem Hinweis auf nicht näher definierte Kriterien, die ihm die Urteile über die zukünftigen Leistungen der Praktikumsteilnehmer ermöglichten. Nähere Erläuterungen ersparte er sich: bei Studenten sei ein Verständnis dafür nicht vorauszusetzen.«425
Im Anschluss ließ Pichotka in dem Seminar abstimmen, ob man weiter diskutieren solle. Diese vermeintlich demokratische Geste entlarvte man in dem Flugblatt jedoch als Entscheidung über die Fortsetzung seiner »Willkürherrschaft«, was einem Plebiszit über den Verzicht auf Demokratie gleichkomme. Die meisten – so hieß es enttäuscht – hätten diesen Zusammenhang aber nicht erkannt, sodass die »demagogische Forderung« nach einem Abbruch der Diskussion eine knappe Mehrheit errang. Kampfesmutig hieß es am Schluss: »Einmal mehr hat sich gezeigt, daß Prof. Pichotka, fossil selbst in einer reaktionären Ordinarienhierarchie, noch nicht einmal zu einer sachlichen Auseinandersetzung bereit ist. Die Studentenschaft wird diese Herausforderung annehmen.«426 »Med-INFO« knüpfte mit einem Bericht, der wenig später verfasst worden sein muss, an die Ereignisse an: Hier war von einem »Gnadenerlaß« des Dekans Kersting die Rede, der es den 27 »Unter-Rest«-Studenten ermöglichte, doch noch an der Nachklausur teilzunehmen. Der Weg dorthin war anscheinend steinig: Glaubt man den Beschreibungen der Studentenzeitschrift, so übermittelte die Fachschaft dem Dekan am 1. Juli ein förmliches Schreiben der von der Ausschlussregelung betroffenen Studenten. In einem persönlichen Gespräch mit ihnen zeigte er Sympathie und versprach, sich für sie einzusetzen. Jedoch blieb es dabei. »Med-INFO« riet seinen Lesern, sich für das kommende Wintersemester zu wappnen, da man vermutete, dass nach der nächsten Abschlussklausur das »Gerangel« erneut losbrechen würde. Zuvor wollte die Fachschaft versuchen, mit den Assistenten ein Einvernehmen über eine Neugestaltung des Praktikums zu erzielen. Denn man hielt die Rede von »Begabungsmängeln« – wie angeblich in dem Brief an die Fachschaft nach dem Assistentengespräch behauptet – für »schiere Zeilenfüllerei« und erachtete stattdessen die »unmög424 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »Fachschaft Medizin-Vorklinik. ZUR SITUATION AM PHYSIOLOGISCHEN INSTITUT«, 19. 06. 1970, S. 1 f. 425 Ebd., S. 2. 426 Ebd.
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Auseinandersetzungen mit Professoren
liche didaktische Gestaltung des Praktikums für den auszumerzenden Fremdkörper«.427 Da aber in den folgenden Jahren nichts mehr von diesen Dingen zu lesen war, kann man davon ausgehen, dass es doch noch zu einer Einigung kam. Man muss den Studenten von damals zu Gute halten, dass sie den Umgang mit ihnen, wie er sich etwa in den doch recht herablassenden Sätzen ablesen lässt, die an sie gerichtet wurden, nicht hinnahmen und sich zielstrebig und auch verhältnismäßig sachlich an die Verbesserung ihrer Lage machten. Nach vorliegender Quellenlage lieferten die Presseorgane der linken Studenten die einzigen und – wie aus dem Gesagten zu entnehmen ist – wohl durch ihre Grundhaltung und die persönliche Interessenberührung wahrscheinlich nicht immer objektiven Berichte diesen Streit betreffend. Von den sicher zum geistigen Repertoire dieser Studenten gehörenden Übertreibungen und emotionalen Anschuldigungen in einem größeren, gesellschaftskritischen Kontext abgesehen, zeigten sie allerdings in diesem Fall ein Beispiel sinnvoller und verantwortungsvoller Emanzipation, von der grundsätzlich alle Studenten – egal welcher politischen Gesinnung – profitierten. Das Echo der studentischen Presse auf den Streit mit Professor Pichotka war also geprägt von einem sehr wechselhaften Ton. Nach aggressiven und offenbar schwer zu belegenden Anfangsvorwürfen übte sich der AStA in für diese Zeit sachbezogener und objektiver Kritik, die sicher als im Interesse der damaligen Medizinstudenten zu sehen ist. Als die Forderungen jedoch keine Wirkungen zeigten, verschärfte sich die Auseinandersetzung wieder recht schnell. Durch den Aufbau einer Druckkulisse einerseits und durch die permanente Unterrichtung der Studenten durch die verschiedenen Zeitschriften wollte man die Ziele doch noch erreichen. Ob dies gelang, ist zwar nicht zu belegen, angesichts des abrupten Verstummens der studentischen Berichterstattung aber nahe liegend. Wahrscheinlich ist, dass – sollte der Vorwurf stimmen, die Zulassungsprüfung zum Praktikum sei nicht rechtens – ein Teilerfolg erzielt wurde, dass also der Zugang zum Praktikum erleichtert und die Dominanz Pichotkas im Fach Physiologie möglicherweise begrenzt wurde. Doch allein schon die Forderung nach Reduzierung der Leistungsanforderungen im Bildungssystem ist ganz dem Zeitgeist entsprechend, eine Forderung übrigens, mit der die APO relative Erfolge feiern konnte. Gefördert wurde dieser Prozess dann langfristig durch die Aufgeschlossenheit einiger Länderregierungen gegenüber derartigen Forderungen und die Verbeamtung ehemaliger Achtundsechziger als Hochschullehrer.428
427 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 7/1970, S. 9. 428 Vgl. Schönbohm, S. 21.
Der Konflikt um Professor Pichotka
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Um die Eskalationsdynamik und das Verhalten der Professoren zu erklären, lohnt der Versuch, die Perspektive zu wechseln, auch wenn das auf Grund der einseitigen Quellenlage schwierig ist. Wahrscheinlich ist, dass jede Seite ihr Handeln immer nur als angemessene Reaktion auf die Verfehlungen der anderen Seite betrachtete. Im Namen der Demokratie sahen die Studenten ihre Forderungen als unabweisbar sinnvoll an, während die Professoren jeden kleinen Verstoß gegen geltendes Recht oder womöglich auch nur die Tradition als manifeste Bedrohung der demokratischen Ordnung betrachteten.429 Wie so häufig in der Geschichte der Jugendrebellionen fand der so notwenige Dialog zwischen den Generationen nicht statt.430 Eine so offene Auflehnung gegen Professoren wäre einige Jahr zuvor kaum denkbar gewesen. Die Auseinandersetzung ist sicherlich im Zusammenhang mit dem Zeitgeist der späten sechziger und frühen siebziger Jahre zu sehen. Eine der damals einflussreichsten Studentenorganisationen, der SDS, sah es als seine wichtigste Aufgabe an, innerhalb des Bildungssystems eine antiautoritäre, repressionsfreie Erziehung zu verwirklichen. Dieser Gedanke führte wie auch in den recht exemplarischen Konflikten um die Professoren Fleischhauer und Pichotka dazu, dass die Autorität von Professoren in Frage gestellt wurde und dass man danach strebte, die Leistungsanforderungen und Leistungskontrollen in einem begrenzten Maße abzubauen.431 Sicherlich kann man in den beiden geschilderten Fällen von einer eher gemäßigten Auseinandersetzung sprechen, die Tendenz zu jenen Vorstellungen, die das Autoritäts- und Machtgefälle innerhalb der Universität zu überwinden suchten, bleibt jedoch erkennbar und zeigt, dass auch die eher weniger revolutionär eingestellten Medizinstudenten von der allgemeinen Entwicklung nicht unbeeinflusst blieben.
429 Vgl. Hecken, S. 33. 430 Vgl. Kozicki, S. 13. 431 Vgl. Schönbohm, S. 21.
5.
Medizin, linke Ideologie und Protest
Während Bonner Medizinstudenten auf vielfältige Weise Missstände in ihrer unmittelbaren Umgebung – sei es in der psychiatrischen Versorgung oder im Aufbau ihres Studiums – wahrnahmen, beschäftigten sie sich daneben auch mit welt- und gesellschaftspolitischen Vorgängen. Diese doch eher abstrakten Themen machen mengenmäßig einen weit geringeren Teil der Dokumente aus, die uns auf die Aktivitäten und Gedanken der damaligen Studentengeneration schließen lassen. Vermutlich ging man mit derartigen Diskussionen einfach deshalb zurückhaltender um, weil sie ein wichtiges Interesse der Kommilitonen, nämlich gute Studienbedingungen, nicht unmittelbar betrafen. Trotzdem wurde auch in Bonn über den Einsatz der USA im Vietnam diskutiert. Man untersuchte die gesellschaftlichen und sozialen Hintergründe von Drogenmissbrauch und räumte marxistisch orientierten Theorien und Gedanken rund um das Stichwort »Bildungsnotstand« einen gewissen Raum ein. Das vorliegende Kapitel soll sich mit eben jenen »Achtundsechziger-Aspekten« beschäftigen. Sie sind nicht zuletzt deshalb interessant, weil sie meist aus einer sehr medizinspezifischen Perspektive abgehandelt wurden und sich so von der meist geistes- und politikwissenschaftlich dominierten Mainstream-Kritik abgrenzen lassen.
5.1
Vietnamkrieg
Als eine Art Katalysator für die Radikalisierung der Studentenbewegung wird der Vietnamkrieg gelegentlich beschrieben. Rückblickend erklärte der ehemalige Westberliner SDS-Aktivist Eckhard Siepmann 1984, die vietnamesische Revolution habe in den kapitalistischen Metropolen alle überkommenen Politikund Moralverständnisse zersetzt, Dynamit in überlieferte Generationenkonflikte gestreut, Reste von Staatsloyalität aufgesprengt, Zehntausende zur Suche nach einer neuen politischen und persönlichen Identität gezwungen und das
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Medizin, linke Ideologie und Protest
gesamte Arsenal der Legitimationsideologien des »freien Westens« dem historischen Mülleimer ausgeliefert.432 Lange bevor sich die Empörung über den amerikanischen Einsatz im Vietnam in Deutschland und anderen Teilen der westlichen Welt ausbreitete, waren die Vereinigten Staaten im Südvietnam mehr oder weniger verdeckt militärisch aktiv. Seit dem Rückzug der Franzosen im Herbst 1954 schien die wachsende Bedrohung des dortigen Regimes durch kommunistische Guerilla aus der Sicht des Pentagons eine Ausweitung des Engagements zu verlangen. Als Anlass diente Anfang August 1964 der wohl provozierte Beschuss des US-Zerstörers »Maddox« durch nordvietnamesische Patrouillenboote.433 Jedoch stellten sich langfristig die erhofften Erfolge nicht ein: Am 30. Januar 1968 attackierte der Vietcong mit seiner Tet-Offensive die mächtigste Militärmacht der Welt, die den Krieg 1973 nicht zuletzt wegen der weltweiten Proteste verlor. Die Bilder von durch Napalm verbrannten Kindern und durch Agent Orange entlaubten Wälder zerstörten die Legitimation dieses Krieges.434 Die Kritik an seiner Unmenschlichkeit wurde mit den Kriegsfotografien sinnlich und emotional wahrnehmbar. Daher fungierten sie auf den Plakaten und Demonstrationen nicht bloß als aufklärerische Dokumente, sondern ebenso als emotionale Appelle.435 Die Dritte Welt436 diente den rebellierenden Studenten in Deutschland als »Projektionsbühne«437 für ihre romantisch aufgeladenen Bilder eines internationalen Befreiungskampfes. Wolfgang Kraushaar erklärt: »Die fernen Guerillieros dienten der Achtundsechzigerbewegung als Ersatz für ihre im eigenen Land mehr oder weniger gegenstandslosen revolutionären Hoffnungen. Die politische, moralische oder ethische Integrität der Befreiungsbewegung in Zweifel zu ziehen, galt als frevelhaft. In der Identifikation mit dem Vietcong wollte man selbst in die Rolle einer Partisanengruppe schlüpfen […]. Sich als Teil internationaler Solidarität zu verstehen, war zugleich der Versuch, an einem globalen Mythos teilzuhaben und sich auf diesem Umweg einen revolutionären Nimbus zu geben.«438
432 433 434 435 436
Vgl. Kraushaar, Achtundsechzig, S. 104. Vgl. Frei, S. 48 f. Vgl. Sievers, S. 9. Vgl. Fahlenbrach, S. 15. Der Begriff »Dritte Welt« stammt von dem französischen Philosophen Alfred Sauvy, der ihn 1952 erstmals im »L’Observateur« in seinem Artikel »Trois mondes, une planÀte« verwendete. Sein Ziel war, den Entwicklungsstand in den zumeist von europäischen Nationen kolonisierten Ländern der Dritten Welt (»tiers-monde«) mit dem Dritten Stand (»tiers¦tat«) zu parallelisieren. Vgl. Kraushaar, Achtundsechzig, S. 100. 437 Es handelt sich hierbei um eine selbstkritische Formulierung des ehemaligen SDS-Bundesvorstandsmitglieds Peter Gäng, der auf Grund seiner Publikationen damals als einer der Vietnam-Experten galt. Vgl. Kraushaar, Denkmodelle, S. 24. 438 Kraushaar, Achtundsechzig, S. 109.
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Auch in Bonn blieb der Vietnamkrieg nicht ohne Reaktionen. Im Januar 1970 titelte »med-INFO«: »was hat anatomie mit vietnam zu tun[]?«439 Diese Frage soll ein Unbekannter unter ein Plakat geschrieben haben, das die Fachschaft Vorklinik im Rahmen einer Vietnam-Kampagne im Dezember 1969 im Anatomischen Institut aufgehängt hatte. Dieses Plakat zeigte zwei Bilder und die Aufschrift »Der freie Westen zeigt sein Gesicht«. Aus diesem Anlass veröffentlichte »med-INFO« eine Fabel von Bertold Brecht: »Der Arzt Schin-fu nahm an dem Krieg des Kaisers Ming zur Eroberung der Provinz Chensi teil. Er arbeitete als Arzt in verschiedenen Lazaretten, und sei[n] Wirken war vorbildlich, insofern als man noch nach langer Zeit von ihm in den medizinischen Schulen lehrte, daß man dieses sein Wirken als Arzt eben vorbildlich nennen mußte. Seine Konstruktion einer künstlichen Hand für Soldaten, welche eine Hand verloren hatten, machte viel von sich reden. Er konnte als Arzt das Problem der Ersetzung von Gliedmaßen durch Prothesen für gelöst ansehen. Er pflegte zu sagen, daß er diese Vervollkommnung seiner ärztlichen Kunst nur einem strengen Verzicht auf alle anderen Interessen als nur medizinische verdanke. Über den Zweck des Krieges, an dem er teilnahm, befragt, sagte er : Als Arzt kann ich ihn nicht beurteilen, als Arzt sehe ich nur beschädigte Menschen, nicht ergiebige Kolonien. Man nahm ihn bei Hofe das infolge seiner Verdienste nicht übel. Der Hof konnte ein Auge zudrücken, da er befragt, wie er zu den Schriften des Aufrührers Ki-en stehe, der den Krieg, die Eroberung, den Gehorsam der Soldaten, das Kaisertum und den niedrigen Lohn der Bauern und Kulis verwarf, nur antwortete: Als Philosoph könnte ich darüber eine Meinung haben, als Politiker könnte ich das Kaisertum bekämpfen, als Soldat könnte ich den Gehorsam oder die Tötung des Feindes verweigern, als Kuli könnte ich meinen Lohn zu niedrig finden, aber als Arzt kann ich das alles nicht, und nur das, was sie alle nicht können, nämlich Wunden heilen. Jedoch soll Schin-fu doch einmal, bei einer bestimmten Gelegenheit, diesen hohen und konsequenten Standpunkt aufgegeben haben. Bei der Eroberung einer Stadt, in der sein Lazarett lag, durch den Feind soll er Hals über Kopf geflohen sein, um nicht als Anhänger des Kaisers Ming getötet zu werden. Verkleidet soll er Leute getötet haben und als Philosoph soll er einigen, die ihm seine Haltung vorwarfen, geantwortet haben: Wie soll ich als Arzt weiterwirken, wenn ich als Mensch getötet werde?«440
Auf diese in der Tat elegante Art gelang es »med-INFO«, den Verfasser der fachschaftskritischen Parole als naiven und engstirnigen Zeitgenossen darzustellen, für dessen rückständige Kritzeleien er sich eigentlich schämen müsste. Sicher nicht beabsichtigt war aber der Eindruck, den die Redaktion selbst hinterließ. Mit einer »weisen Geschichte« zu antworten wirkt fast schon biblisch und lässt an den erhobenen Zeigefinger denken, den die Studenten – sich selbst progressiv wähnend – ja so vehement ablehnten. 439 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO, 08. 01. 1970, S. 1. 440 Ebd., S. 2.
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War die Fabel tatsächlich so gemeint, wie sie abgedruckt wurde, so lassen sich mehrere Thesen daraus ableiten: Die Stellung des Arztes in der Gesellschaft wurde als eine besondere aufgefasst. Sie schien verbunden mit einem hohen Maß an Prestige und Freiheiten, aber auch Einflussmöglichkeiten. Der Arzt weiß demnach um diese besondere Stellung und nutzt sie, um das eigene Ansehen zu steigern. Er hält sich aus brenzligen Situationen heraus und argumentiert wiederum mit seiner Stellung, die ihm scheinbar keine andere Wahl lässt, weil er sonst nicht seinen Aufgaben von vermeintlich unschätzbarer Bedeutung nachkommen könne. Konkret hieß das in unserem Fall: Obwohl Mediziner im gesellschaftlichen und oft auch finanziellen Sinne privilegiert waren, nutzten sie dies nach Meinung von »med-INFO« nicht, um auf unbequeme Wahrheiten hinzuweisen, sondern sie betonten stets, dass sie machtlos seien und dass ihnen nicht einmal ein Urteil zustehe, was den Krieg (hier beispielsweise den Vietnamkrieg) und die damit verbundenen Verbrechen gegen die Menschenwürde anging. Würde es doch einmal für solche Ärzte ums Ganze gehen, so vergäßen sie eben jene Prinzipien, mit denen sie ihren vermeintlichen Dienst am Menschen verrichten, sehr schnell und fühlten sich auch noch im Recht (»Wie soll ich als Arzt weiterwirken, wenn ich als Mensch getötet werde?«). »Med-INFO« wollte den Kritiker also offensichtlich blamieren und sein Verhalten mit einer Gesinnung erklären, die die Hauptfigur Schin-fu in der Fabel symbolisiert. Die Redaktion zeigte sich gleichzeitig aber auch kritisch gegenüber den eigenen Kommilitonen und Kollegen, da sie die Schattenseiten, die zu der herausragenden Stellung des Arztberufes gehören, schonungslos zur Sprache brachte. Der Vietnamkrieg war hier sicher ein wichtiger Aspekt, da er symptomatisch (durch das verbreitete Desinteresse und die Verdrängung der Grausamkeiten dieser Auseinandersetzung) die Problematik erkennbar werden ließ, allerdings nicht der entscheidende: Man wollte sicher ebenso das Gesicht wahren und sich selbst das Gefühl geben, im Recht zu sein. Angesichts der hohen Wellen, die der Protest in der ganzen Bundesrepublik damals schlug, mag das erstaunlich wirken. Es unterstreicht aber nochmals die Tendenz der Bonner Mediziner, sich in erster Linie mit sich selbst zu beschäftigen. Ende des Jahres griff »med-INFO« das Thema erneut auf und druckte anlässlich eines am 22. Oktober 1970 stattgefundenen Vietnam-Hearings der »Initiative Internationale Vietnam Solidarität« im Hauptgebäude der Universität ein Interview mit einem der Redner ab. Der bereits aus den Vortragsreihen des Sprecherrats Nervenklinik bekannte Erich Wulff441 wurde dem studentischen 441 Siehe auch Kapitel 2.1.2 beziehungsweise Fußnote 41 auf S. 15 bezüglich biographischer Informationen.
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Leser als Dozent und Oberarzt an der Uniklinik Gießen vorgestellt, der von 1961 bis 1967 als Arzt in Vietnam tätig war und dort als Dozent für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Hue lehrte. Das und sein Buch »Vietnamesische Lehrjahre« schienen ihn in den Augen der Redaktion als Experten auszuweisen.442 Wulff beschrieb in dem Interview, wie er Augenzeuge des Massakers während der Buddhistenunruhen war und aus Südvietnam ausgewiesen wurde, weil er Dokumente darüber veröffentlichte.443 Jene sechs Jahre dauernden Unruhen waren gegen die Politik des Diktators Ngo Dioh Diem gerichtet. Dessen fanatischer Katholizismus versuchte gewaltsam die Religionsausübung der buddhistischen Mehrheit und ihre politischen Rechte zu beschneiden und schreckte auch vor Folter und Schüsse auf Demonstranten nicht zurück. Buddhistische Mönche reagierten darauf unter anderem mit Hungerstreiks und Selbstverbrennungen und erregten damit große Aufmerksamkeit. Ein Artikel in »Die Zeit« von 1961 thematisierte damals in diesem Zusammenhang einen deutschen Arzt, »der bis vor kurzem in Hue […] lebte«, über einen Giftgaseinsatz gegen demonstrierende Studenten berichtete und deshalb des Landes verwiesen wurde.444 Höchstwahrscheinlich handelt es sich hierbei um den von »medINFO« interviewten Wulff. Ein Beitrag in einem Internetforum, der sich als eine Art Nachruf auf den im Januar 2010 verstorbenen Arzt versteht, bescheinigt Wulff, »das Seine zum Sturz DiÞms beigetragen« zu haben, indem er als »Zeuge der Terroraktionen der Machthaber« Dokumente über deren Machenschaften veröffentlichte.445 In »med-INFO« berichtete Wulff dann weiter, er habe sich nach seiner Ausweisung nach Saigon begeben, wo er Kontakt zum FNL446 aufgenommen habe. Dort habe er es sich zur Aufgabe gemacht, ausländische Journalisten an die »richtigen Leute« zu verweisen, »damit sie nicht im Netz der amerikanischen Information hängenblieben«. Ende 1967 – so schilderte Wulff weiter – habe er Vietnam auf Grund nicht näher erläuterter »politischer Schwierigkeiten« ver442 443 444 445 446
UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 8/1970, S. 3. Vgl. ebd. Sommer, S. 1 – 3. Anonymus, Memorian, o.S. Nach dem Indochinakrieg (1946 – 1954) wurde nach der Niederlage Frankreichs auf der Genfer Konferenz 1954 die Unanhängigkeit unter anderem Vietnams beschlossen. Gleichzeitig wurde eine vorübergehende Teilung des Landes in einen kommunistisch orientierten Norden und einen westlich orientierten Süden vollzogen, die jedoch 1956 durch eine gemeinsame Wahl des Staatschefs rückgängig gemacht werden sollte. Da jedoch Südvietnam das Ergebnis annullierte, blieb es bei der Teilung und es bildete sich als Reaktion die »Front National de Lib¦ration« (FNL) im Norden als Opposition zur südvietnamesischen Regierung. Die FNL war kommunistisch geprägt und wurde später von den Amerikanern in »viet cong«, also »vietnamesischer Kommunist« umbenannt. Vgl. Bitzer, S. 4.
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lassen. Im dänischen Roskilde habe er dann vor dem so genannten VietnamKriegsverbrecher-Tribunal ausgesagt, »um die amerikanische Vietnam – Politik und die Hilfsdienste vor der Weltöffentlichkeit anzuprangern«.447 »Med-INFO« interessierte sich nun besonders für Wulffs Erfahrungen hinsichtlich medizinischer Einrichtungen, die dieser auf seiner Reise im April 1970 durch die sicher bewusst so benannte »demokratische Republik Vietnam (DRV)« gesammelt zu haben glaubte. Der Befragte nutzte diese Frage zu einem Vergleich zwischen Nord- und Südvietnam, in dem das »erstaunlich gut ausgebaute medizinische[s] Versorgungssystem« des Nordens über alle Maßen gelobt wurde. So habe dort nicht nur jedes Haus eine »hygienische Latrine«, die verhindere, dass nicht wie im Süden 97 Prozent der Kranken an schweren Anämien litten, sondern dass stattdessen diese Krankheit fast ausgerottet sei. Die durchgeführten Schutzimpfungen gegen Pest, Cholera und andere Krankheiten würden das Patientengut gar an europäische Verhältnisse heranführen. Die Sozialpsychiatrie, eines der großen Themen der Achtundsechziger-Bewegung, schien in Nordvietnam schon fast selbstverständlich »nach den modernsten Erkenntnissen aufgebaut«: Es gebe nur offene Abteilungen, die obendrein noch eine Patientenselbstverwaltung organisierten. Auch das Arzt-Patienten-Verhältnis wirkte im Norden im Vergleich geradezu paradiesisch: Während dort auf einen Arzt 4.000 Patienten kämen, seien es im Süden 12.000, auf dem Lande sogar 200.000. Auf dem Sektor der medizinischen Ausbildung lobte Wulff den Beruf des so genannten Hilfsarztes, der kein Abitur benötige und an »Medizinschulen« ausgebildet werde. Rechne man sie ebenfalls zu den voll ausgebildeten Ärzten, kämen auf jeden Arzt lediglich 1.500 Patienten.448 Sichtlich beeindruckt kam die Redaktion wieder auf den Kampf gegen den Vietnamkrieg in Europa zurück. »Wie« – so fragte sie – »äußern sich Ihre Kollegen zu Ihrer politischen Arbeit[,] z[.]B. Teilnahme an Vietnam-Veranstaltungen?« Wulff erklärte, er werde zwar dank einiger Veröffentlichungen auf Grund seiner fachlichen Kompetenz akzeptiert, seine politische Tätigkeit werde jedoch als Spinnerei abgetan und nicht weiter beachtet. Als Direktor einer Poliklinik habe er eine Beratungsstelle für Rauschgiftsüchtige eingerichtet, wo er versuche, »die modernen sozialpsychologischen Erkenntnisse in der Klinik anzuwenden«. Auch die »Ordinarienherrschaft« nahm Wulff ins Visier und versuchte sie durch »sehr aktive Gruppen von Studenten und Assistenten« zu bekämpfen. In diesem Zusammenhang sprach er auch dem von der so genannten Berufsverbot-Politik betroffenen Dr. Mausbach seine Solidarität aus.449 447 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 8/1970, S. 3. 448 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 8/1970, S. 3. 449 Mit dem Fall Mausbach und den Reaktionen darauf innerhalb der Bonner Studentenschaft beschäftigt sich ausführlich das Kapitel 7 beziehungsweise das Teilkapitel 7.2.
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Zur Verwirklichung seines Traums vom »Klassenlosen Krankenhaus« empfand es Wulff als notwendig, die Chefarzthierarchie und die private Krankenversicherung abzubauen. Aber : »Ein ›Klassenloses Krankenhaus‹ gewährleistet noch lange kein klassenloses Gesundheitswesen.« Dieser Weg müsse auch unter Schwierigkeiten beibehalten und zu Ende geführt werden.450 Um diese Thesen zu unterstreichen, druckte »med-INFO« gleich im Anschluss einen Artikel aus der Zeitschrift »Humanit¦« ab, der einer Lobeshymne auf das nordvietnamesische Gesundheitssystem451 glich. Das 25-jährige Jubiläum der Demokratischen Republik Vietnam wurde darin zum Anlass genommen, die »beachtliche Effizienz« der Anstrengungen, die etwa durch die deutliche Senkung der Sterblichkeitsrate bewiesen würde, zu bewundern, all das natürlich vor dem Hintergrund »der bescheidenen Mittel, die ihnen [der Bevölkerung] zur Verfügung standen«. Das Land wurde in dem Artikel als eine von Kolonialismus und Krieg gebeutelte Insel der Wehrhaften präsentiert, deren »sozialistische Medizin« dank der Arbeiterpartei »im Dienste der Arbeiter, der Mütter und Kinder und der nationalen Verteidigung« stünde. Überhaupt schien Nordvietnam geradezu ein Paradies für linke reformorientierte Mediziner zu sein, denn man habe dort erkannt, »daß die Prophylaxe die Hauptaufgabe der Medizin zu sein habe, die sich im übrigen um die Krankenpflege im Rahmen eines Systems von Polikliniken und Gesundheitszentren bemühen« sollte. »Andererseits, vom organisatorischen Aspekt, konnte die vietnamesische Medizin die ihr anver450 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 8/1970, S. 3 f. 451 In einem Leserbrief, unterzeichnet von »T.[]Alfen«, der eine Veranstaltung am 11. Februar 1976 ankündigte, die sich mit der Lage der Psychiatrie in sozialistischen Ländern befassen sollte, wurden der Sowjetunion zwar»ebensolche unmenschliche Erscheinungsformen, wie sie im kapitalistischen Westen vorherrschen« (Isolierung von Kranken, Ausschluss aus der Gesellschaft, breiter Einsatz von »Psychodrogen«), vorgeworfen. China (als Land der Dritten Welt) hingegen schien auf dem Gebiet der Psychiatrie – ähnlich wie einige Jahre zuvor Nordvietnam in der medizinischen Versorgung – geradezu vorbildlich zu sein: »Die Zahl der psychisch Erkrankten ist hier in den 26 Jahren ihres Bestehens beständig zurückgegangen, die Heilerfolge sind beeindruckend. Im Mittelpunkt steht der Mensch. Die chinesischen Genossen betrachten die Heilung von Krankheiten als einen Kampf darum, wieder die ganze Person des Kranken für die große Aufgabe des sozialistischen Aufbaus zu mobilisieren. Die Geisteskranken werden in China nicht von der Gesellschaft isoliert. Ärzte und Pflegepersonal leben mit ihnen zusammen und stellen einen Teil der Gemeinschaft dar, in die die Kranken zurückkehren sollen. Die Behandlung entwickelt vor allem das politische Bewußtsein der Kranken und den Willen, gegen die Krankheit zu kämpfen. Die Heilung von Geisteskranken in der VR China beruht auf den Erfahrungen der alten chinesischen Medizin wie auch westlicher Erfahrungen. Der Kern der Erfolge liegt aber darin, daß erstmals unter den Bedingungen der Herrschaft der Arbeiterklasse die Kranken als vollwertige Menschen betrachtet werden, mit denen man gemeinsam kämpfen muß und daß erstmals die gesellschaftlichen Bedingungen geschaffen sind, die es für die Kranken lohnend machen, diesen Kampf gemeinsam zu Ende zu führen.« UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 32, Februar 1976, S. 20. Eine Analyse der Bonner Kritik an der deutschen Psychiatrie beinhaltet Kapitel 2.
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traute Mission nur erfüllen, indem sie sich auf die Massen stützte, diese sorgfältig bildete und eine Linie einschlug, die dem Willen und den Interessen der Massen nicht zuwiderlief.« Die angeblichen Erfolge auf den Gebieten der Epidemien, Hygiene, Ernährungssituation, Impfungen und sogar der innovativen Einbeziehung der traditionellen vietnamesischen Volksmedizin schienen dem Land Recht zu geben.452 Darüber hinaus sei man sogar in der Lage gewesen, der Zerstörungskraft des militärisch scheinbar weit überlegenen Feindes in Gestalt der USA zu widerstehen: »Der Luftkrieg der USA hat durch seine unerhörte Brutalität die Stärke des Sanitätssystems in Nordvietnam gezeigt. Fest verwurzelt bis in das kleinste Dorf hinein, war es in der Lage, allen Verwundeten Hilfe zu bringen und 8 Prozent von ihnen, selbst auf Dorfebene,[]zu operieren. Jedoch haben sich die US-Piloten auf die Bombardierung von Gebäuden, die das rote Kreuz trugen, spezialisiert. […] Dennoch haben die Hilfsdienste ihren Funktionen immer nachkommen können, indem sie sich unter der Erde installierten und soweit wie möglich die Dienststellen dezentralisierten. Die vietnamesische Medizin hat also ihre Aufgabe gut erfüllt.«453
Gegen dieses so beschriebene, friedliche und unterdrückte Volk mit weit überlegenen Waffen vorzugehen, musste freilich Empörung hervorrufen. »MedINFO« tat dies auf eher subtile Art: So druckte das Blatt 1970 eine aus dem »Spiegel« entnommene Anzeige der »Dow Chemical Company ab«, dem angeblich größten Napalm-Produzenten der Welt, dessen »Chemikalien nicht nur zur Menschenverbrennung, sondern auch zu Kinderverstümmelung im Mutterleib, zur Nutztier- und Erntevernichtung sowie zur Dschungelentlaubung in Vietnam, Laos und Kambodscha eingesetzt werden«. Man zitierte den Anzeigentext bewusst ohne Kommentar. Darin sprach der Konzern vom »Ringen der Wissenschaft um die Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen« und von seinem Einsatz für eine »schönere, saubere Welt«: »Das, was wir verkaufen, ist ein besseres Leben.«454 Angesichts der Auswirkungen von Napalm musste die Selbstbeweihräucherung des Konzerns zwangsläufig unerträglich zynisch wirken. Zwei Jahre später war die Solidarität der Bonner Mediziner mit der »Vietnamesischen Studentengruppe« der Universität Aachen gefragt. Diese hatte am 10. Mai 1972 eine Stellungnahme zum Vietnamkrieg herausgegeben, die in Auszügen in »med-INFO« zitiert wurde. Darin hieß es unter anderem, die Amerikaner seien unrechtmäßig nach Vietnam gekommen, hätten die Gesellschaftsstruktur zerstört und Völkermord begangen. An einer diplomatischen Lösung seien sie nicht interessiert, vielmehr zeigten die neuen Maßnahmen 452 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 8/1970, S. 4 f. 453 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 8/1970, S. 4 f. 454 Zit. n. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/1970, S. 2.
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(Verminung des Hafens von Haiphong, Verschärfung der Bombeneinsätze) den unmenschlichen Charakter der USA, die in erster Linie den Interessen der »USGroßkapitalisten« verpflichtet seien und dabei keine Rücksicht auf das vietnamesische und amerikanische Volk oder die Weltöffentlichkeit nähmen. Man lehnte daher jedwede Maßnahmen »gegen die berechtigten Interessen unseres Volkes« ab, forderte die Regierung Nixon auf, »die Kriegseskalation rückgängig zu machen und endlich ernsthaft zu verhandeln« und pochte auf dem »Selbstbestimmungsrecht des vietnamesischen Volkes«.455 Nun gilt für all diese Artikel, dass es natürlich ein großer Unterschied ist, ob man gegen die Intervention der USA aus humanitären Gründen und völkerrechtlichen Bedenken protestiert oder ob man den politischen Kampf des Vietcong und der nordvietnamesischen Truppen unterstützt. Der Schriftsteller Uwe Johnson456, der mit lakonischer Unerbittlichkeit die »guten Leute457« verspottete, die sich gegen die amerikanische Militärmaschinerie wendeten, ohne sich den vietnamesischen Sozialisten zuzuwenden, pointierte den Unterschied mit ganzer Härte. Thomas Hecken berichtet, das habe häufig bedeutet, über die Gräueltaten des vietnamesischen Militärs, das von den Amerikanern unterstützt wurde, zu reden und über die entsprechenden Taten der kommunistischen Guerilla zu schweigen. Letztere seien nur in neutraler gehaltenen Berichten geschildert worden und nicht in den Veröffentlichungen der Neuen Linken.458 Mit »wirklichkeitsblinder Nonchalance« wurde dabei laut Wulf Schönbohm über Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen hinweg gesehen.459 455 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 16/1972, S. 5 f. 456 Uwe Johnson (1934 – 1984) war ein deutscher Schriftsteller, der dem christlichen Widerstand in der DDR zumindest nahe stand, zugleich aber für den Sozialismus eintrat. Während seiner Studienzeit in den Fünfziger Jahren war Johnson in eine Reihe von zunehmend erbitterten Kämpfen mit der politischen Obrigkeit verwickelt. Nachdem er beschuldigt worden war, seine Kommilitonen zum Widerstand anzustiften, konnte er seine akademische Karriere als Germanist und Anglist nicht weiter verfolgen und ging 1959 ins Westberliner Exil. Dort geriet er allerdings ins Zentrum politischer Kontroverse, als man ihn (fälschlicherweise) beschuldigte, ein getarnter Kommunist zu sein und den Bau der Berliner Mauer zu unterstützen, was zum Boykott seiner Lesungen und Bücher führte. Es folgte sein Rückzug ins Privatleben. 1973 zog er nach England, das er als »rettenden Hafen« betrachtete, und starb dort 1984. Vgl. Schmid, Johnson, o.S.; Riordan, S. 157. 457 Johnson schrieb: »Die guten Leute haben es mit der Moral, die Einhaltung des Genfer Abkommens wünschen sie sich, Verhandlungen, faire Wahlen, Abzug der fremden Truppen, Anstand sagen sie und Würde des Menschen; sie sprechen zum übermenschlichen Egoismus eines Staatswesens wie zu einer Privatperson mit privaten Tugenden. Die guten Leute mögen am Krieg nicht, daß er sichtbar ist; die guten Leute essen von den Früchten, die ihre Regierung für sie in der Politik und auf den Märkten Asiens ernten. Die guten Leute wollen einen guten Kapitalismus, einen Verzicht auf Expansion durch Krieg, die guten Leute wollen das sprechende Pferd; was sie nicht wollen, ist der Kommunismus. Die guten Leute wollen eine gute Welt; die guten Leute tun nichts dazu.« Zit. n. Hecken, S. 50 f. 458 Vgl. Hecken, S. 50 f. 459 Schönbohm, S. 21.
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So auch in unserem Fall: »Med-INFO« empörte sich über die südvietnamesische Botschaft, die behauptete, die Aktion der Aachener Studenten sei kommunistisch unterwandert. Man beschuldigte die Gruppe gar, dass einige von ihnen gekauft seien und die Namen der anderen vietnamesischen Studenten unter die Erklärung eingetragen hätten. »Med-INFO« hielt jedoch dagegen, dass die Schrift von einer Vollversammlung einstimmig verabschiedet wurde und dass die Unterschriften tatsächlich von den betroffenen Studenten stammten. »Mit diesem Vorwand versucht die südvietnamesische Botschaft in der BRD ihre ungeheuerlichen Terrormaßnahmen und Sippenhaftrepressalien zu begründen.« So habe der südvietnamesische Botschafter am 15. Mai 1972 ein Ultimatum an die 38 Studenten der Gruppe gestellt, in den sie aufgefordert worden seien, bis zum 25. Mai ihre Stellungnahme für ungültig zu erklären. Andernfalls werde man »geeignete Maßnahmen« treffen. Zudem würden die Familienangehörigen in Vietnam von der dortigen Polizei durch tägliche Verhöre unter Druck gesetzt, den Eltern werde gar verboten, Geld für den Lebensunterhalt ihrer Kinder zu überweisen. »Med-INFO« vermutete, dass die Studenten so keine Arbeitserlaubnis in Deutschland bekämen, was wiederum den Entzug der Aufenthaltsgenehmigung und letztlich den Militärdienst in Südvietnam zur Folge habe. Man war überzeugt, dass den vietnamesischen Kommilitonen geholfen werden musste. Auch wenn AStA und VDS460 »als die Repräsentanten der Studentenschaft« ihre Unterstützung zugesagt hätten, käme es nun darauf an, für die Durchsetzung der Forderungen in der Erklärung »eine breite, solidarische Basis zu schaffen«. Zu diesen Forderungen gehörte, die südvietnamesische Botschaft solle den betroffenen Studenten die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung geben und sie solle veranlassen, dass die Einschüchterungsmaßnahmen gegen die Familien und die Geldüberweisungssperre eingestellt werden. »Med-INFO« forderte in diesem Zusammenhang dazu auf, an einer vom (wahrscheinlich Bonner) AStA initiierten Unterschriftenaktion teilzunehmen.461 Die Solidarität zumindest eines Teils der Bonner Mediziner mit der vietna460 Die Abkürzung steht für »Vereinigte Deutsche Studentenschaften«. Der ASten-Zusammenschluss VDS nahm bis 1968 im Wesentlichen hochschulpolitische Informations- und Vertretungsaufgaben wahr, jedoch änderte sich diese Konzentration auf Sachfragen mit der erstmaligen Mehrheit von ASten des SDS und anderer linker Studentengruppen in diesem Jahr. Der SDS versuchte, die VDS zu einem sozialistischen Kampfverband zu machen, dessen Hauptaufgabe in der Unterstützung linker Hochschulgruppen mit Drucksachen und Geld bestehen sollte. Strukturell war die VDS zwar formal ein ASten-Dachverband, im Selbstverständnis ihrer Mitglieder und in der Praxis aber ein so genannter Strömungszusammenschluss von durch Studentenverbände repräsentierten politischen Strömungen. RCDS-ASten (wie jener in Bonn zu dieser Zeit) zogen den Austritt oder das Fernbleiben vor der sicheren Ausgrenzung auf der Mitgliederversammlung vor, sie erwarteten auch kaum sinnvolle Hilfen für ihre Arbeit von der VDS. Vgl. Darmstadt, S. 118 – 124. 461 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 16/1972, S. 6 f.
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mesischen Studentengruppe aus Aachen zeigte die Gemeinschaft stiftende Ausrichtung des Protests gegen den Krieg. Die Intervention der überlegenen Weltmacht USA gegen ein »kleines asiatisches Bauernvolk« galt als Symbol illegitimer Machtausübung schlechthin.462 Auch an anderen Universitäten in Nordrhein-Westfalen erhoben sich ähnliche Stimmen. So zitierte ein Extrablatt der Bochumer Studenten Zeitung vom 11. Dezember 1969 folgende Thesen Ho Tschi Minhs: »Die Revolution in der dritten Welt unterstützen heißt für euch konkret: Die Revolution im eigenen Land vorbereiten. […] Der Kapitalismus ist ein Blutsauger, der mit einem Stachel das Proletariat in den Metropolen, mit dem anderen das Proletariat in den Kolonien aussaugt. Wenn man das Vieh töten will, muss man beide Stacheln auf einmal ausreißen. Reißt man nur einen aus, so wird der andere weiter das Blut des Proletariats saugen, das Vieh wird weiterleben und der Stachel nachwachsen.«463
Dass sich auch der westdeutsche Staat im Rahmen dieses Krieges schuldig machte, davon waren anscheinend auch viele Mediziner in Bonn überzeugt. »Med-INFO« berichtete 1970 über eine am 9. Mai in Westberlin stattfindende, zunächst »ruhig und diszipliniert« verlaufende Demonstration gegen »die verbrecherische Südostasienpolitik des amerikanischen Präsidenten Nixon« und appellierte an die verfassungsgemäßen Organe der Bundesrepublik, »nicht länger durch Freundschaftsphrasen die imperialistische Machtpolitik der USA offiziell zu decken«. Jedoch habe die Polizei nach der Schlusskundgebung die Demonstration »sofort mit allen Gewaltmitteln […] zerschlagen«. Ähnliche Zustände hätten auch am 2. Juni 1967 während des Protests gegen den Besuch des persischen Schahs geherrscht, als der Student Benno Ohnesorg zu Tode kam. Dass am 9. Mai niemand erschossen wurde, sei reiner Zufall gewesen.464 »MedINFO« resümierte: »Noch eines haben die Vorfälle in Berlin am 2.6.67 und 9.5.70 gemeinsam: Der staatliche Machtapparat wurde konsequent und brutal und grausam dazu benutzt,[]um die sich regende Opposition massiv einzuschüchtern und zu zwingen,[]in Zukunft nicht mehr in Erscheinung zu treten.[]Dabei geht man über Leichen.«465
Rudi Dutschke verkündete im Februar 1968 auf dem Internationalen Vietnamkongress kurz nach Beginn der nordvietnamesischen Tet-Offensive: »Genossen! Wir haben nicht mehr viel Zeit. In Vietnam werden auch wir tagtäglich zerschlagen«466. Er drückte damit im Prinzip aus, was viele auch in Bonn fühlten: Man erkannte hinter der Ausweitung der Flächenbombardements und der 462 463 464 465 466
Fietze, S. 5. Zit. n. Kozicki, S. 70. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 5/1970, S. 2. Ebd. Zit. n Frei, S. 129.
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Entsendung einer halben Million amerikanischer Soldaten einen exemplarischen Bestrafungs- und Vernichtungsfeldzug der USA467 und empfand Mitleid mit einem kleinen, um seine nationale Befreiung kämpfenden Volk.468 Darüber hinaus fühlten sich die Bonner Studenten auf eine rückblickend absurde Art in einer ähnlichen Situation wie der Vietcong: Man kämpfte ja im Prinzip um dieselbe Sache. In unserem Fall ist das einerseits eine wie auch immer im Detail aussehende, sozialistisch bestimmte Gesellschaft und auf dem Gebiet der Medizin die Etablierung von als modern aufgefassten Methoden (wie die Konzentration auf Prävention) und Einrichtungen (beispielsweise Polikliniken). Interessanterweise wurden Fortschritte in der Medizin mit »sozialistischer Medizin« gleichgesetzt. Sie schien nur im Rahmen der angestrebten Gesellschaftsordnung durchsetzbar. Viele teilten deshalb sicher auch Dutschkes Auffassung, es gelte nun, dem Vietcong viele andere (beispielsweise europäische) »Congs« an die Seite zu stellen.469 Herbert Marcuse forderte gar, die Opposition der Metropolen müsse die revolutionären Kämpfer der Dritten Welt zu ihrer ausdrücklichen Machtbasis machen. Der Vietnamkrieg könne ein Wendepunkt in der Entwicklung des Systems, vielleicht sogar der Anfang vom Ende des Imperialismus werden: »Denn was sich hier gezeigt hat, ist, daß der menschliche Körper und der menschliche Wille mit den geringsten Waffen das leistungsfähigste Zerstörungssystem aller Zeit in Schach halten kann.«470 Im Alltag hieß darum beispielsweise auch Protest gegen Fahrpreiserhöhungen den Vietcong zu unterstützen. Es wurde tatsächlich als eine Möglichkeit gesehen, die Revolution in den Metropolen des Kapitalismus auszurufen, die letztlich den Menschen in Vietnam helfen könne. Auch in diesem Zusammenhang fand Rudi Dutschke rundum revolutionäre Worte: »Die Revolutionierung der Revolutionäre ist so die entscheidende Voraussetzung für die Revolutionierung der Massen. Es lebe die Weltrevolution und die daraus entstehende freie Gesellschaft freier Individuen.«471
467 Hans Magnus Enzensberger lieferte die klassische Formulierung dieses neuen linken Antiamerikanismus. Er schrieb in einem in der »Zeit« veröffentlichten Brief an den Präsidenten der Wesleyan University, wo er seine Stelle als Gastdozent aufgeben wollte, im Januar 1968: »Ich halte die Klasse, welche in den Vereinigten Staaten von Amerika an der Herrschaft ist, und die Regierung, welche die Geschäfte dieser Klasse führt, für gemeingefährlich. […] Sie liegt mit einer Milliarde Menschen in einem unerklärten Krieg mit allen Mitteln, von Ausrottungs-Bombardements bis zu den ausgefeiltesten Techniken der Bewußtseins-Manipulation. Ihr Ziel ist die politische, ökonomische und militärische Weltherrschaft.« Zit. n. Koenen, Jahrzehnt, S. 84. 468 Vgl. Koenen, Jahrzehnt, S. 85. 469 Zit. n. ebd., S. 63. 470 Zit. n. ebd., S. 48. 471 Zit. n. Kozicki, S. 67.
Vietnamkrieg
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Eine alternative und keinesfalls dem widersprechende Erklärung für das Bild vieler Studenten von der nordvietnamesischen Gesellschaft und Politik liefert Wolfgang Kraushaar : »Die Länder der Dritten Welt […] schienen in gewisser Weise Völker im Urzustand zu repräsentieren. Für die Missstände, die dort existierten, die Verbrechen, die dort verübt wurden, waren sie nicht verantwortlich. Sie spielten durchweg die Rolle von Unschuldigen. Alles Negative war für die Mächte der Ersten Welt reserviert, in der Vergangenheit für den europäischen Kolonialismus472, in der Gegenwart für den US-Imperialismus und die jeweiligen Vasallen-Regierungen, die von den revolutionären Kräften bekämpft wurden. Aus dieser manichäischen Weltsicht konnte es nicht ausbleiben, dass die Guerillatruppen […] als Befreiungsbewegungen idealisiert wurden. Alles, was nicht in dieses Bild passte, wurde entweder ignoriert oder aber hartnäckig abgestritten.«473
Neben diesen Eindrücken auf die Vietnamkriegsgegner sollte man berücksichtigen, dass sie als eine Generation von Studenten, für die Amerika ursprünglich Avantgarde demokratischer Fortschrittlichkeit gewesen war, nun feststellen musste, dass in Vietnam ausgerechnet eine Militärdiktatur verteidigt wurde und dass bei der Kriegsführung anscheinend jedes Mittel recht war.474 Wahrscheinlich wurde auch darum die Forderung »Frieden für Vietnam« vielfach rasch als »vorpolitisch« und »bloß pazifistisch« entlarvt und man wünschte sich den Sieg des Vietcong.475 Womöglich trug dieser Zusammenbruch des Bildes von der Schutzmacht USA seinen Teil zu der auch in Bonn gut nachzuvollziehenden radikalen Aufteilung der Welt in Gut und Böse bei. Damit direkt in Zusammenhang stehend ist der von Jürgen Busche geschilderte Hang zum Konfor472 1970 erklärte »med-INFO« in diesem Sinne dem angolanischen Volk seine Solidarität. Dieses kämpfte gegen die Kolonialmacht Portugal um Unabhängigkeit. 45 Prozent des Landes erklärte das Blatt damals als »befreit«, als Gebiete, wo »Schulen, Krankenhäuser und ein System von ›Volksläden‹ errichtet« worden sei. Neben der Aufforderung, die Aktion »Medikament für Angola« (anscheinend initiiert vom Bonner AStA) zu unterstützen, die Arzneimittel und »Instrumente aller Art« für die befreiten Gebiete liefern wollte, bekannte man feierlich: »Wir sind davon überzeugt, daß die angolanischen Freiheitskämpfer über kurz oder lang sämtliche portugiesischen Kolonialsoldaten aus dem Lande verjagt haben werden, und jenseits aller diplomatischen Floskeln, die lediglich die Beteiligung der BRD an der kriminellen Ausbeutung und Unterdrückung des[]angolesischen Volkes verschleiern, halten wie es für unsere selbstverständliche Pflicht, die angolesischen Patrioten in ihrem gerechten Befreiungskampf zu unterstützen. Wir rufen daher[]die gesamte Studentenschaft der Universität Bonn und speziell alle medizinisch Arbeitenden auf, sich an[]der Aktion ›Medikamente für Angola‹ zu beteiligen und diese Kampagne zu einer machtvollen Demonstration internationaler Solidarität mit dem revolutionären Befreiungskampf Angolas werden zu lassen.« UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/ 1970, S. 3 f. 473 Kraushaar, Achtundsechzig, S. 108. 474 Vgl. Kleinert, S. 10. 475 Aly, S. 44.
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mismus: »Ob in Seminarsitzungen oder auf studentischen Vollversammlungen, im Gespräch über […] politische Entscheidungen, oft wurde ein Klima des Einverständnisses geschaffen, daß es dem einzelnen schwermachte, der für die jeweilige Gruppe sakrosankten Ansicht laut zu widersprechen.«476 In der Tat: »Med-INFO« weckte den Eindruck, als sei seine Auffassung ganz selbstverständlich die richtige und die unter den Studenten vorherrschende. Auch wenn die linken Bonner Mediziner beim Thema Vietnamkrieg durchaus auf der bundesdeutschen Protestwelle mit ritten und deren Kernthesen nicht nur übernahmen, sondern auch auf dem ihnen vertrauten Gebiet der medizinischen Versorgung zu belegen versuchten, hielt sich der Protest in Wahrheit wohl doch eher in Grenzen. Denn selbst »med-INFO« druckte nicht gerade viele Artikel zu dem Thema, präsentierte sich dann aber wo immer möglich als engagiertes Sprachrohr des Protests. Das war aber sicher nicht der Fall. Rückblickend wirkt die spärliche Berichterstattung des Blattes vielmehr wie ein Alibi, um auch bloß zu der Protestbewegung gerechnet zu werden. Es ist jedoch schwer vorstellbar, dass die Bonner Mediziner diesen Protest in irgendeiner Form aktiv antrieben. Wie in den meisten Fällen hinkte man auch hier den Ereignissen deutlich hinterher. Würde man nur die Artikel aus »med-INFO« kennen, könnte man vermuten, der Vietnamkrieg wäre erst ab 1970 einen Bericht wert gewesen. Trotzdem lässt sich zeigen, dass man auch an der Medizinischen Fakultät den Einsatz der USA kritisierte und im Vietcong ein Vorbild für die eigene Gesellschaft, sogar für das westdeutsche Gesundheitssystem, sah. Auch zeigt die Art der Studenten zu kritisieren exemplarisch die von Edgar Wolfrum herausgearbeiteten drei unterschiedlichen Quellen, aus der sich die Gesellschaftskritik der Protestbewegung seiner Auffassung nach speiste: Er zählt hierzu den Neomarxismus477 (in diesem Sinne beispielsweise der angebliche Kampf des Vietcong im 476 Busche, S. 62. 477 Alle neueren marxistischen Theorien verwerfen das einfache Zwei-Klassen-Schema, das das Faktum der Ausbeutung von Menschen (Proletariat) durch Menschen (Bourgeoisie) zur Erklärung sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft macht. Es wird ein Dominanzprinzip sozialer Ungleichheit unterstellt, wobei in der kapitalistischen Produktionsweise der Besitz an Produktionsmitteln als die dominierende Dimension betrachtete wird, aus der letztlich alle anderen Aspekte sozialer Ungleichheit abgeleitet sind. Die Arbeiterklasse produziert nach der Marxistischen Theorie durch Veredelung von Gütern und Leistungen einen so genannten Mehrwert, der jedoch durch den dank Kapital und technischer Produktionsmittel privilegierten Teil der Bevölkerung einbehalten wird (Grundwiderspruch). Dieser grundsätzliche Interessenwiderspruch beherrscht dann die gesamte gesellschaftliche Struktur und Entwicklung (Klassenantagonismus). Der Neomarxismus ersetzt dieses Schema durch eine differenzierte Klassenstruktur, ohne die grundlegende Idee des klassenspezifischen Grundkonflikts in einer Gesellschaft (die durch die bestehenden Besitzverhältnisse verursachte Ausbeutung) aufzugeben. Marx’ Überzeugung, dass das Proletariat im gleichen Maße wie das kapitalistische System voranschritt, und nicht nur stärker, sondern auch revolutionärer werden würde, erwies sich damals als missratener Glau-
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Interesse der Arbeiter), der Sympathie und Loyalität im linken Milieu, in Teilen der Gewerkschaften und Teilen der Sozialdemokratie verbürgte, den Antiautoritarismus (siehe Wulffs unter anderem aus den Erfahrungen im Vietnam veranlassten Kampf gegen die Ordinarienuniversität) beziehungsweise die antiinstitutionelle Autonomie (Stichwort »Klassenloses Krankenhaus«), die Sympathie von Teilen des protestantischen Bildungsbürgertums einbrachte, und schließlich die Formen des Existentialismus, den kulturkritische Feuilletonisten schätzten.478
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Auch wenn der Konsum illegaler Drogen schon lange zum Habitus kultureller Avantgarden gehörte, so kam es doch im letzten Drittel der sechziger Jahre zu einem Strukturbruch auf Grund seiner enormen Verbreitung unter Jugendlichen. Zwei Schübe müssen hierbei unterschieden werden: In den frühen sechziger Jahren waren zunächst klassische Drogen wie Amphetamine auch unter Jugendlichen verbreitet, ab 1967 schnellte dann die Zahl der Haschisch- und Marihuanakonsumenten hoch. Während die so genannte »Haschisch-Welle« in erster Linie von Gymnasiasten aus gehobenen Herkunftsmilieus getragen wurde, waren es vor allem Jugendliche aus Arbeiterfamilien und »Drop-Outs«, die »harte« Drogen konsumierten. Jene Cannabisprodukte wurden (im Unterschied zu Drogen wie Heroin) in der Gruppe konsumiert und waren »Teil einer gegenkulturellen Vergemeinschaftung, die oftmals – ebenso wie das Halluzinogen LSD – mit einer politischen Bedeutung aufgeladen wurden.«479 bensartikel, den die linken Studenten der Nachkriegzeit in ihrer Überschätzung der Nähe zur Arbeiterschaft hier prinzipiell zu wiederholen schienen. Vgl. Huinink/Schröder, S. 161 – 163; Brown, S. 42. – Entscheidend war für die Gesamtheit der Bewegung laut Thomas Hecken nicht, dass Ausführungen und klassische Abhandlungen von Marx, Freud, Kuks und anderen, auf denen sie teilweise beruhten, im Einzelnen gelesen oder verstanden wurden, sondern dass die wichtigsten Schlagworte und Begründungszusammenhänge den Teilnehmern geläufig waren beziehungsweise in hohem Maße einleuchteten. Peter Schneider geht sogar so weit, dass er schreibt: »Niemand gibt gern zu, daß er ›die neue Sprache‹ nur halb versteht; wenige haben das Selbstbewußtsein, sie schlicht für verblasen und altmodisch zu erklären.« Jene aus verschiedenen Idiomen zusammengesetzte, revolutionäre »neue Sprache« (»aus den verstaubten Lexika des Marxismus-Leninismus – modernisiert durch die Allerwelts-Weisheiten des großen Vorsitzenden aus China«) sei, als sie auf dem »Parkett der revolutionären Befreiungsbewegungen« salonfähig geworden war, für das selbstverschuldete Verenden der Studentenbewegung verantwortlich gewesen. Die Bewegung habe so ihren Charme und ihre Frechheit verloren. Vgl. Hecken, S. 10; Schneider, Rebellion, S. 275 – 277. 478 Vgl. Wolfrum, S. 36. 479 Siegfried, Konsumkultur, o.S.
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Insbesondere LSD480 hatte im Umfeld der Studentenrevolte eine besondere Rolle inne. Norbert Kozicki zitiert in seinen Untersuchungen über die Achtundsechziger-Bewegungen im Ruhrgebiet aus der Studentenzeitschrift »Der Ruhr Student«. Im Oktober 1967 hieß es darin: »Drei geheimnisvolle Buchstaben halten Amerika und jetzt auch Europa in Atem. LSD – den einen verheißt es zeitentrückte Seligkeit, das mystische Glück kosmischer Erlebnisse, den anderen öffnet es den Blick in einen Abgrund von Qual und Verbrechen, verkündet den physischen oder moralischen Untergang der Menschheit ins chemisch erzeugte künstliche Paradies. Die Presse schwelgt im Ausmalen von Gefahren, über die die Experten lächeln, nach denen aber ein geheimer Instinkt gebieterisch verlangt. Nur um den Preis des Schauderns ist dem zu asketischer Funktionslust erzogenen Okzidentalen unangefochtenen Gewissens der Blick in die Welt verstattet, mit der andere Kulturen seit vielen Jahrhunderten vertrauten und kultivierten Umgang pflegen.«481
Ändere sich die gesellschaftliche Haltung gegenüber den »bewusstseinsverändernden Drogen«, so käme es zu einer Revision der Kultur im großen Maßstab. Sie seien womöglich die letzte Chance, der Fron des gesellschaftlichen Funktionierens und ewigen Leistungsdrucks zu entrinnen und der wahren Bestimmung als Mensch wieder näher zu kommen. Kozicki konstatiert: »Die jungen Rebellen kifften, koksten, dröhnten: Die Elterngeneration erholte sich gerade vom ersten Schock der Studentenunruhen und sah sich nun der subkulturellen Protestwelle ausgesetzt.«482 Eine besondere und in gewisser Hinsicht den Achtundsechzigern entgegen gesetzte Rolle spielten in diesem Zusammenhang die Hippies. Diese glaubten, dass ihnen der Drogengebrauch dazu verhelfe, die ihnen eingeprägte innere Ordnung zu zerstören und sie aus der vermeintlichen geistigen Gesundheit in den (positiv aufgefassten) Wahnsinn zu entlassen, »aus der vorgestanzten Ordnung der Arbeitszeit in eine freier fließende hedonistische Existenz«.483 Thomas Hecken bemerkt sehr treffend:
480 Zwei Beispiele sollen die Wirkung dieser Droge auf die rebellierende Jugend verdeutlichen: Allen Ginsberg, eine der »drei Ikonen der Beat-Generation« machte 1959 erste Erfahrungen mit LSD als Versuchsperson an dem von Professor Gregory Bateson geleiteten Mental Research Institute in Palo Alta. Seinem Vater berichtete er : »Diese Droge scheint automatisch ein mystisches Erlebnis zu produzieren. Die Wissenschaft ist wirklich hip.« Der Schriftsteller Ken Kesey hatte ebenfalls 1959 begonnen, mittels Drogen so genannte psychedelische Experimente durchzuführen. Er suchte letztlich einen Akt der Freiheit, ein letztes individuelles Abenteuer. Für ihn hatte es etwas Heroisches, den Mut aufzubringen, sich auf die gewaltigen Veränderungen der Sinneswahrnehmungen, die mit dem Konsum der Droge einhergingen, einzulassen. Vgl. Kraushaar, Achtundsechzig, S. 15 f. 481 Zit. n. Kozicki, S. 199. 482 Ebd., S. 199 – 201. 483 Hecken, S. 107, 114 f.
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»Während die unpolitischen Hippies aber ihre Verweigerung gegenüber der herrschenden Ordnung und ihre Wendung gegen feste Hierarchien als Auszug aus dem gesellschaftlichen System, als Abschied von der Politik schlechthin begreifen sowie als Versuch, innerlich mit sich selbst ins Reine zu kommen […], sehen die Neuen Linken alle Änderungen, die an Personen ansetzen, stets in engem Zusammenhang mit einer politischen Umwälzung der bestehenden Institutionen. Grundlegend für diese Konzeption ist die Auffassung, dass autoritär eingerichtete gesellschaftliche Verhältnisse nicht allein auf Zwang und der Herstellung von Abhängigkeiten beruhen, sondern zu ihrer Aufrechterhaltung der massenhaften Stützung durch autoritäre Charaktere484 weit abseits der Kommandozentralen politischer oder ökonomischer Macht bedürfen.«485
Umgekehrt gilt laut Hecken der Versuch, beim Einzelnen darauf hinzuwirken, dass die Verhaltensanforderungen der unterdrückenden Institutionen auf Widerstand stoßen, als ein bedeutender politischer Akt und nicht bloß als individuelle Nebensache.486 So würdigte Rudi Dutschke zwar die Hippies, indem er ihnen bescheinigte: »Ein eigenes Milieu, ein eigenes Leben, gegenseitige Hilfe, eigenes Zirkulationsfeld. Die Bedürfnisse des Körpers, in welcher Form auch immer sie auftreten, werden nicht verdrängt […].« Jedoch bedauerte er, dass sie »darüber die Machtfrage vergessen« hätten.487 Aber gerade weil der Rauschmittelkonsum in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren im linken Milieu so verbreitet war, wurde der Umgang mit Drogen zu einem zentralen und kontrovers verhandelten Thema. Hier erstreckte sich die allgemeine Kritik an der zunehmenden Kommerzialisierung des »Underground« auch auf den Drogenkonsum. Detlef Siegfried zitiert in seinem Aufsatz »Sound und Revolte – Konsumkultur und alternativer Alltag« eine Hamburger Schülerorganisation, die dem SDS nahe stand: Diese charakterisierte etwa Haschisch dadurch, dass »es politische Gruppen zersetzt wie ein Ätzgift« und »die Exgenossen als ›fertige Typen‹ und ›Haschleichen‹ sich im beschaulichen Leben von Bohemiens üben und dabei vor die Hunde gehen«. Siegfried berichtet, dass etwa der Cannabis-Konsum seitdem kontrollierter und reflektierter vonstatten ging. In den expandierenden marxistisch-leninistischen Gruppierungen wurde er ohnehin vehement bekämpft. Angesichts der Folgen, die Kommerzialisierung, Entideologisierung und die Herausbildung der »harten« Drogenszene mit sich brachten, verlor die Vorstellung, Drogenkonsum und 484 Die unter anderem von Theodor Adorno verfassten »Studies in the Authoritarian Personality« aus dem Jahr 1950 wurden auch von Rudi Dutschke zitiert. Beiden galten etwa folgende Charakteristika der autoritären Persönlichkeit als bekämpfenswert: eine rigide moralische Einstellung, die Ablehnung des Weichen und Phantasievollen, Feindseligkeit gegenüber Fremden, Betonung männlicher Durchsetzungsfähigkeit. Vgl. Hecken, S. 115. 485 Hecken, S. 114 f. 486 Vgl. ebd., S. 107, 114 f. 487 Zit. n. Aly, S. 48.
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politische Revolution stünden in unmittelbaren und möglicherweise sogar notwendigen Zusammenhang, an Zustimmung.488 Über den Drogenkonsum speziell der Bonner Studenten gab eine im Universitäts-Nachrichtenblatt veröffentlichte Untersuchung Aufschluss, die den Rauschmittelgebrauch zu Beginn des Sommersemesters 1971 untersuchte. Ein Drittel der 16.000 immatrikulierten Studenten habe an der Fragebogenaktion teilgenommen. Insgesamt gaben 22,7 Prozent der Befragten an, bereits Erfahrungen mit Rauschmitteln gemacht zu haben, wobei die Mehrheit maximal fünfmal innerhalb eines Jahres konsumiert hätte. Lediglich 7,4 Prozent taten dies häufiger. Zwischen den einzelnen Fakultäten zeigten sich dabei deutliche Unterschiede: »[…] Studenten der Geisteswissenschaften [waren] besonders hoch beteiligt, während Studenten der Landwirtschaft und Theologie deutlich unterrepräsentiert waren.«489 »Med-INFO« berichtete ergänzend, dass sich die Mediziner in dieser Rangliste auf Platz zwei direkt hinter den führenden Philosophen befänden. Diese Platzierung wurde offenbar mit zum Anlass genommen, genauer – und in höchst kritischer Weise – auf das Thema Drogen einzugehen: »Groß ist die Entrüstung über die haschverseuchte Jugend. Illustrierte und Zeitung entdecken immer neue Sensationen, Politiker benutzen es als Stimmfänger und die Medizin mischt in Kongressen und Fachpublikationen kräftig mit«.490 So sei auf einer Tagung der Engeren Fakultät eine Rauschmittelkommission gegründet worden. »Einhelliges Urteil der Experten Gütgemann491 oder Röttgen492« sei gewesen: »hier nutzen nur juristische Maßnahmen, Razzias sonst nichts«. Zitiert wird auch der damalige Präsident der Psychiatrischen Gesellschaft, Helmut Ehrhardt493.494 Auf einer Fortbildungsveranstaltung der Niederrheinischen Gesellschaft495 in Bonn soll dieser folgende These geäußert haben: 488 Siegfried, Konsumkultur, o.S. 489 UAB, Sammlung Universitätsnachrichtenblatt, bonner universitäts-nachrichtenblatt Nr. 71, 28. 09. 1971, S. 6. 490 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr 12, Juli 1971, S. 5. 491 Gemeint ist höchstwahrscheinlich Alfred Gütgemann (1907 – 1985), der von 1954 bis zu seiner Emeritierung 1977 Ordinarius für Chirurgie und Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik in Bonn war. Einer breiten Öffentlichkeit wurde er bekannt, als er im Juni 1969 die erste Lebertransplantation in Deutschland vornahm. Vgl. Munzinger, Onlinearchiv, o.S. 492 Peter Röttgen (1910 – 1995) war zu dieser Zeit Direktor der Neurochirurgischen Klinik der Universität Bonn. Auf Grund seiner SS-Mitgliedschaft erlaubte die Militärregierung seine Weiterbeschäftigung nach dem Krieg zunächst nur im Range eines Assistenten für jeweils mehrmonatige Zeitabschnitte. In einem Entnazifizierungsverfahren wurde er jedoch entlastet. Dank der Unterstützung durch den Dekan Otto Ulrich und der Anerkennung seines medizinischen Könnens wurde Röttgen 1950 außerplanmäßiger Professor, 1965/66 war er Dekan der Medizinischen Fakultät. Vgl. Buchholz/Hirner, S. 43; Forsbach, S. 647. 493 Helmut Erhardt (»Med-INFO« nennt ihn fälschlicherweise »Erhard«.) (1914 – 1997)
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»Es ist ein Unterschied, ob jemand 2 Liter Alkohol trinkt oder eine Lungenentzündung hat. Die Konsequenz bei unserem defizitären Gesundheitswesen: Wir können es uns nicht leisten, soviel für die Sucht zu tun. Am besten eigene Ghettos für Suchtpatienten in den LKH’s. Eigeninitiativen, wie sie in den sog. Release-Gruppen versucht werden und am ehesten einen Therapieerfolg garantieren, sind nur dann zu fördern[,] wenn dort[]strenge Ordnung und Selbstkontrolle herrsche. Im Klartext: wenn sie in die bürgerliche Ordnung zurückführen.«496
Offenbar sah »med-INFO« in der Suchtmedizin erhebliche Missstände und Irrtümer insbesondere bei einflussreichen Medizinern und das sowohl im Bonner wie gesamtdeutschen Bereich. Einige Zahlen sollten die Dramatik des Problems verdeutlichen. So berief man sich einerseits auf die Untersuchungen an der Universität Bonn und andererseits auf eine schweizerische Studie, nach der rund 12 Prozent einer jugendlichen Gruppe Erfahrungen mit Rauschmitteln gesammelt hatte. 10 Prozent von ihnen konsumierten regelmäßig, 30 bis 40 Prozent aus dieser Gruppe wiederum, also ungefähr 4 Prozent einer jugendlichen Altersgruppe, würden den Drogengebrauch auch auf harte Drogen ausdehnen. Ein Kritikpunkt war nun schon allein die Definition von Drogen. So wies die Redaktion darauf hin, dass 2 Prozent der Bevölkerung chronische Alkoholiker seien und 45 Prozent der Patienten an den Rheinischen Landeskrankenhäusern ausmachten. Sie wurden aber in den zitierten Studien nicht zu den Rauschgiftabhängigen gezählt (»in New York starben 10[]mal mehr Menschen an Alkohol als an einer [anderen] Droge.«). Daneben wurde auf den deutlichen Zusammenhang zwischen Alkoholabhängigkeit und niedriger sozialer Klasse hingewiesen. Doch auch die Ausweitung auf die Patientengruppe der Alkoholiker schien das Problem noch nicht umfassend zu beschreiben: »Ganz im geheimen schwappt noch eine andere Drogenwelle über, von der Gesellschaft toleriert oder verdrängt, von der Medizin inszeniert«. So bekämen ein Drittel aller Patienten Tranquilizer »wie das Massenkonsummittel Valium« verordnet, Experten rechneten mittlerweile mit einer halben Milliarde D-Mark Umsatz auf dem Markt der psychisch wirksamen Medikamente. »Med-INFO« suchte nach Erklärungen für den verbreiteten Konsum klassischer Rauschmittel, erhielt 1950 die Venia legendi im Fach Psychiatrie und Neurologie, 1956 folgte die Ernennung zum außerplanmäßigen Professor. Zehn Jahre später wurde Ehrhardt Direktor des neu gegründeten Instituts für Gerichtliche und Sozialpsychiatrie an der Universität Marburg. Von 1969 – 1971 leitete er die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten als Präsident und war wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer sowie Mitglied des Bundesgesundheitsrates. Vgl. Schäfer, Rückblick, S. 221; Baader, Genozid, S. 194. 494 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr 12, Juli 1971, S. 5. 495 Es bleibt unklar, welche »Niederrheinische Gesellschaft« hier gemeint ist. Möglicherweise handelt es sich um die so genannte »Niederrheinische Gesellschaft für Natur- und Heilkunde«, die ihren Sitz in Bonn hatte. 496 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr 12, Juli 1971, S. 5.
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den Alkoholmissbrauch und den steigenden Bedarf an Psychopharmaka (ob nun tatsächlich so hoch oder bewusst künstlich erzeugt) und fand gemeinsame Ursachen für alle drei Aspekte.497 Die gesamte Problematik erschien einerseits als Projektion gesellschaftlicher Missstände: »Die Unmöglichkeit des Menschen die sozialen Widersprüche und gesellschaftlichen Konflikte unter den gegebenen Herrschaftsverhältnissen unserer ›freien Marktordnung‹ auszutragen, verlagert diese Konflikte notwendigerweise ins Individuum, wo sie sich als Krankheit auswirken (30 – 50 % aller Patienten leiden an funktionellen Störungen).«498
Der Arzt, der ohnehin längst zum »Arzneimittelverteiler« degradiert worden sei, könne mit diesen Problemen nichts anfangen und hätte auch gar kein Interesse an deren Lösung, da er eine wesentliche Stütze des herrschenden Systems sei. »Also tranquilliert er diese Konflikte mit Valium, wodurch die Symptome ihre gesellschaftliche Brisanz verlieren.« Im Krankenhaus herrschten im Prinzip dieselben Mechanismen, jedoch trete hier ein weiteres Motiv hinzu: Es gelte nämlich, »den Patienten möglichst schnell zu [ü]assivieren, zum Objekt werden zu lassen, damit er Objekt der Therapie werden kann.« Die Pharmazeutische Industrie trage Ihren Teil dazu bei, diese Situation aufrecht zu erhalten. Sie nutze bedenkenlos die Schwächen des Arztes aus und mache auf Kosten der Patienten gewaltige Umsätze und Profite. Sicher nicht zu Unrecht wurde darauf hingewiesen, dass ein Großteil der deutschen Ärzte keine ausreichenden Kenntnisse über Psychopharmaka und deren Nebenwirkungen habe, da sie in der Vorkriegszeit ausgebildet wurden, zu einer Zeit also, als fast alle Medikamente dieser Art noch gar nicht entwickelt waren. Durch das Abdrucken einiger nach heutigen Maßstäben tatsächlich unseriös wirkender Werbetexte für entsprechende Präparate (»Durch die rosarote Brille. Nicht Scheinlösung von Problemen, sondern Lösung von Scheinproblemen!«) wollte die Redaktion offenbar die wahren Absichten der Pharmaindustrie (beziehungsweise damit verbunden auch des »herrschenden Systems«) deutlich werden lassen.499 Auch wenn die Entstehungsdaten der beiden Quellen aus dem Jahr 1971 bereits nahe legen, dass der Leser keine Lobeshymnen (mehr) auf bewusstseinserweiternde Drogen zu erwarten hatte, weil sich auch innerhalb der Studentenbewegung zunehmend die Schattenseiten von Drogenkonsum offenbarten, so überrascht doch die Schärfe der Ablehnung gegenüber jedweder Form suchterzeugender Substanzen. »Med-INFO« beschränkte sich eben nicht nur auf die Auswirkungen von LSD und Haschisch, wie es wohl die meisten Studenten zu dieser Zeit taten, sondern betrachtete das Thema Sucht auf sehr umfassende 497 Ebd. 498 Ebd. 499 Ebd., S. 6.
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Weise, bis hinein in etablierte gesellschaftliche Kreise, deren Rauschmittel (Alkohol und Psychopharmaka) wesentlich akzeptierter waren. Sicher war diese Methodik auch Mittel zum Zweck. Schließlich wollte man ja die Gesellschaft, die Elterngeneration, die Manipulierenden und Mächtigen entlarven. Allerdings lässt sich nicht leugnen, dass die Mediziner Zusammenhänge erkannten, die heute zwar als Allgemeingut angesehen werden können, jedoch damals durchaus Potential für Konflikte boten. Dazu muss man sich lediglich die Aussagen von Röttgen, Gütgemann und Erhardt ins Gedächtnis rufen. Aus den Jahren zuvor, als die deutschen Studenten insgesamt Drogen wesentlich aufgeschlossener gegenüber standen, sind keine Dokumente auffindbar, die diese Euphorie bei den Bonner Medizinern belegen könnten. Die Studie, bei der sie den zweiten Platz hinter den Philosophiestudenten einnahmen, zeigt jedoch, dass sehr wohl Drogen in nicht unerheblichem Ausmaß konsumiert wurden. Wahrscheinlich war es unter den Medizinstudenten also eher unüblich, öffentlich und in Verbindung mit revolutionären Absichten exstatisch stimmende Substanzen einzunehmen. Der Konsum fand wohl eher heimlich statt, möglicherweise im Zusammenhang mit dem im Medizinstudium generell hohen Leistungsdruck. Im Rahmen der Versuche, Licht in das Dickicht aus Drogen, Macht und Manipulation zu bringen, wurden Zusammenhänge aber nicht nur erkannt, sondern teilweise auch konstruiert oder überbewertet. Hier wurde es dann plötzlich sehr schnell sehr politisch. So fällt das fast schon verkrampfte Pochen auf der These ins Auge, die gesamte Problematik sei gewollt, bewusst herbeigeführt oder in Kauf genommen und werde letztlich absichtlich aufrecht erhalten. »Kassandra hatte Hochkonjunktur« zu dieser Zeit und man ignorierte im Übrigen auch allzu gern entgegen gesetzte Meinungen und Tendenzen.500 Möglicherweise war dieses Gefühl, eine Insel der Einsicht in einem Meer aus Manipulation und Lüge zu sein, etwas, was sich die Studenten gern zu eigen machten: In ihrer Rolle als die immer auf der richtigen Seite stehenden Unheilspropheten – so mag man ihnen polemisch unterstellen – schienen sie sich heimlich recht gut zu gefallen.
500 Hildebrand, S. 417.
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5.3
Medizin, linke Ideologie und Protest
Kritik an einer »Gesellschaft der verkümmerten Talente«
Reinhard Mohr bemerkt im Rahmen seines Aufsatzes »Die Liebe zur Revolution« zum Lebensgefühl der rebellierenden Studenten: »Ein letztes Mal im zwanzigsten Jahrhundert glaubten Zehntausende, womöglich Hunderttausende Menschen in Deutschland (und Europa) an die Möglichkeit, die Welt von Grund auf, also revolutionär verändern zu können. Hier und jetzt. Keine Kompromisse mit der ›falschen‹ Wirklichkeit. Das war die Parole. Alles, was darunter lag, war feige Anpassung und sozialdemokratischer ›Reformismus‹, also durch und durch verachtenswert.«501
Vor diesem Hintergrund muss die breit angelegte Kritik an Universitätsstruktur und (damit zwangsläufig verbunden) Gesellschaft in zwei aufeinander folgenden Ausgaben von »med-INFO« gesehen werden. Sie hatte nicht die speziellen Zustände in Bonn im Fokus, sondern versuchte, die Problematik in einen größeren, fast globalen Zusammenhang zu integrieren. Ein Aspekt dieser Untersuchungen, die Wissenschaft- und Forschungspolitik in Deutschland, wird in Kapitel 8 abgehandelt. An dieser Stelle soll es um die gesellschaftlichen Ursachen gehen, die die Studenten für die von ihnen so empfundene Misere im Universitätssystem fanden, und die Interessengruppen, gegen die sie zu kämpfen glaubten. Anlass zu der von dem DDR-Historiker Siegfried Prokop502 (Ausnahmsweise werden diese Artikel nicht anonymisiert gedruckt!) verfassten Artikelserie war die Regierungserklärung Willy Brandts. In den Passagen, die die Hochschulpolitik betrafen, hieß es dort, die Bundesrepublik dürfe keine »Gesellschaft der verkümmerten Talente« werden. Brandt habe darum in einem Interview erklärt, der Schwerpunkt der Reformbemühungen der sozialliberalen Koalition liege im Bereich von Wissenschaft und Bildung. Dafür erntete Brandt zunächst Lob in »med-INFO«: In keiner westdeutschen Regierung zuvor sei die Wissenschaftspolitik im Rahmen des gesamtpolitischen Konzepts der Regierung so stark gewichtet worden.503 Doch auf der Suche nach den Gründen schien diese Neuausrichtung schnell eine zweischneidige Sache zu sein. Man gab zu bedenken, dass »es den bisherigen Regierungen der CDU/CSU und der ›Großen Koalition‹ nicht gelang, den 501 Mohr, S. 25. 502 Siegfried Prokop (*1940) ist ein deutscher Historiker aus der ehemaligen DDR. Er studierte Geschichte und Germanistik in Berlin und St. Petersburg und war von 1983 bis 1996 Professor für Zeitgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität. 1995 war er Mitbegründer des Marxistischen Forums, seit 1998 ist er zweiter Sprecher des Berliner Alternativen Geschichtsforums. Zur Zeit lebt er als Historiker und Publizist in Bernau bei Berlin. Vgl. Opelt, S. 199. 503 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Siegfried Prokop in med-INFO Nr. 4/ 1970, S. 14.
Kritik an einer »Gesellschaft der verkümmerten Talente«
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Forderungen des Monopolkapitals in bezug auf die wissenschaftlich-technische Revolution wissenschaftspolitisch zu entsprechen. Bestimmte Kreise der Großbourgeoisie unterstützten u. a. deshalb die Bildung dieser Regierung, weil sie sich von der SPD und FDP größere Möglichkeiten bei der staatsmonopolistischen Modernisierung des Hochschulwesens entsprechend den Anforderungen der wissenschaftlich-technischen Revolution erhofften als von der ultrakonservativen CDU/CSU Führung«. Andererseits hätten aber auch die »demokratischen Kräfte, insbesondere der studentischen Opposition« in den letzten Jahren die Zustände an den Hochschulen kritisiert und die Forderungen nach einer demokratischen Hochschulreform zu einem wichtigen Thema der »demokratischen Bewegung in Westdeutschland« gemacht. Somit schien die Regierung einem doppelten Druck ausgesetzt: dem der auf technokratische Modernisierung drängenden Monopole und jenem der demokratischen Opposition, »die in der Arbeiterklasse ihre Basis hat und die auf antiimperialistischdemokratische Veränderungen im Hochschulwesen wie in der Gesellschaft drängt«. Die überaus rasch wachsende Bedeutung der Wissenschaft in der damaligen Phase der so genannten wissenschaftlich-technischen Revolution habe die Wissenschafts- und Hochschulpolitik in Westdeutschland wie in den anderen imperialistischen Ländern zu einem wichtigen Feld der Klassenauseinandersetzung werden lassen.504 Bemerkenswert ist an diesen Thesen zunächst einmal die Sprache. Wörter wie beispielsweise »Monopolkapital« oder »Großbourgeoisie« werden dem Komplex der Ideologiesprache505, mit der die Revolte ihre internen Problemdiskussionen führte, aber auch nach außen um Zustimmung warb, zugeordnet.506 Herbert Marcuse gab dieser Sprachstrategie der Neuen Linken die Basis: »Politische Linguistik ist ein Schutzpanzer des Establishments. Wenn die radikale Opposition eine eigene Sprache entwickelt, protestiert sie spontan und unterbewußt gegen eine der wirksamsten ›Geheimwaffen‹ von Herrschaft und Verleumdung. Die herrschende Sprache von Gesetz und Ordnung, die von den Gerichtshöfen und der Polizei für gültig erklärt wird, ist nicht nur die Stimme, sondern auch die Tat der Unterdrückung.«507
504 Ebd. 505 Daneben zählt Franz Schneider den von Herbert Marcuse geprägten Begriff der »repressiven Toleranz« und seiner Interpretation der »strukturellen Gewalt«, die Provokationsund Kampfessprache, die der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem Gegner unter anderem auf Transparenten und in Sprechchören diente, sowie die Sprachkreativität bezüglich gezielter Neologismen, die »breite Schneisen auch in der bürgerlichen Sprache« zogen, zu den Sprachkomplexen der Achtundsechziger-Bewegung. Schneider, Sprache, S. 71. 506 Schneider, Sprache, S. 71. 507 Zit. n. ebd.
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Daneben wird deutlich, dass auch die im linken Spektrum Deutschlands durchaus ersehnte sozialliberale Koalition dem Einflussbereich des wie auch immer aussehenden Kapitals zugeordnet wurde. Selbst Maßnahmen wie jene, Hochschulpolitik zu einem Kernthema der Regierung zu machen, wurden umgehend ins Negative umgedeutet, obwohl sie ja durchaus im Sinne der Studenten sein mussten. Hier wurden Gräben vertieft, indem man sich als scheinbar einzige Verkörperung der Demokratie klar von dem herrschenden System abgrenzte, egal ob dieses den Studenten die Hand zum Dialog reichte oder nicht. Erneut wird deutlich, dass der Studentenprotest also auf das herrschende System und gegen die Gesellschaft als Ganzes zielte. In diesem Sinne, wie die Beschwörung von Revolution und Avantgarde auch in diesem Fall zeigt, agierten und dachten die europäischen Studentenbewegungen in modernen politischen Kategorien und manifestierten ein falsches kollektives Bewusstsein, das die Tatsache maskierte, dass ihre Politik nicht den alten Motiven des Klassenkampfes entsprang (also der Artikulation sozialer Interessen), obwohl man stets behauptete, im Bündnis mit der Arbeiterklasse zu stehen, sondern symbolischer Ausdruck der neuen subjektiven Gruppenidentitäten war.508 Doch wie war nun die Lage in Deutschland? Prokop erklärte, die außerordentlich reaktionäre Politik von CDU und CSU sowie die Grenzlage zur DDR, die mit »ihrer zukunftsweisenden sozialistischen Hochschulpolitik die kapitalistischen Klassengrundlagen der westdeutschen Hochschulen mit zunehmender Tendenz in Frage« stelle, hätten zu einer besonders scharfen Zuspitzung der materiellen Misere im Hochschulwesen geführt, selbst im Vergleich mit anderen imperialistischen Ländern wie Japan. Aus rückblickend eher unverständlichen Gründen berief man sich, um diese These zu belegen, auf den Computerspezialisten Karl Steinbuch509 beziehungsweise auf Thesen aus seinem Buch »Falsch 508 Vgl. Roberts, S. 74. 509 Karl Steinbuch (1917 – 2005) war seit 1958 Professor an der Universität Karlsruhe, wo er das Institut für Nachrichtenverarbeitung, das heutige Institut für Technik der Informationsverarbeitung ITIV, aufbaute und leitete. Er prägte den Begriff »Informatik«, der auf seine erste Publikation »Informatik: Automatische Informationsverarbeitung« von 1957 zurück geht. In seinen Werken, allen voran die Bestseller »Falsch programmiert« und »Programm 2000« kritisierte er den deutschen Konservatismus und stellte die These auf, die Gesellschaft der BRD sei nicht für die Zukunft gerüstet, vor allem auf Grund des Mangels an technologischem Wissen. Seine daraus abgeleitete Forderung nach Umprogrammierung lautete: Wenn alle Leute nur »rational« denken, dann wird auch keine »unintelligente« Politik mehr gemacht: »Der Schlüssel zur Lösung unserer gesellschaftlichen Probleme ist die Bildungsreform.« Diese sollte von der vorwiegend philologisch-historischen Orientierung der Bildungsinhalte hin zu einer naturwissenschaftlichen Dominanz. Jedoch wandte sich Steinbuch, als sich 1970 eine neomarxistische Strömung innerhalb der Futurologie bildete und forderte, die Zukunftsforschung dürfe kein »Krisenmanagement des Kapitalismus« sein, gegen die Auffassung, »es sei nur eine Frage der Veränderung des Bewußtseins oder der ökonomischen Verhältnisse, um aus dieser angeblich miserabelsten
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programmiert: über das Versagen unserer Gesellschaft in der Gegenwart und vor der Zukunft und was eigentlich geschehen müsste«. Darin geht es unter anderem um einen Vergleich von »erzreaktionärer Gesellschaftsverfassung in Westdeutschland und der ›Hinterwelt‹«. Jene »Hinterwelt« schade der Gesellschaft, indem sie die Menschen dazu verführe, ihre Kraft, Intelligenz und Hoffnung »jenseits dieser Wirklichkeit zu vertun«, anstatt sie zu nutzen, um in der so genannten »Vorderwelt« erfolgreich, friedlich und human zu leben. Sie mache die Menschen daneben zum willenlosen Objekt zufälliger, möglicherweise schädlicher oder krimineller Entwicklungen. Ihr Einfluss auf Erziehung, Publizistik und Personalpolitik verhindere, dass konkurrierende Denkweisen entstehen könnten. Sie suche so ihre dominierende Rolle zu erhalten und mache die Gesellschaft zu einer intellektuell gleichgeschalteten. Steinbuchs Fazit fiel entsprechend vernichtend aus: »Falsch programmiert.« Seiner Auffassung nach würde sich Westdeutschland, wenn es zu keiner tief greifenden gesellschaftlichen (!) Veränderung komme, »zu einem unterentwickelten Land etwa vom Range Spaniens« entwickeln.510 Dieser Gedanke wurde in der folgenden Ausgabe von »med-INFO« vertieft. Darin hieß es, formale Änderungen im Hochschulwesen wären kaum geeignet, eine demokratische Hochschulreform in Gang zu bringen. Die Geschichte der DDR habe nämlich gezeigt, dass ein solches Unterfangen »erst im Zusammenhang mit tiefgreifenden antiimperialistischen Umgestaltungen der Gesellschaft voll zum Tragen« komme. Zwar bescheinigte man dem anfangs erwähnten Regierungsprogramm von SPD und FDP einige positive Ansätze und Vorsätze, jedoch blieben die Parteien bezüglich der Hochschulpolitik insgesamt so vage, dass Veränderungen in diesem Sinne ohne massive Aktionen der Arbeiterklasse und aller demokratischen Kräfte undenkbar seien. Zudem seien Brandts Forderungen, wie etwa die Chancengleichheit in der Bildung für alle Bürger, die differenzierte Schulausbildung für alle bis zum 18. Lebensjahr, die Herabsetzung des Wahlalters auf 18 Jahre, der Abbau des Numerus clausus oder die Einführung des Hochschulfernstudiums, nur mit großen finanziellen Aufwendungen möglich: »Deshalb ist es völlig richtig, wenn die Gewerkschaften und die meisten studentischen Organisationen die Kürzung des Rüstungshaushalts um 50 Prozent fordern«, da der Etat des Verteidigungsministeriums (für »medINFO« beziehungsweise den Gastautor Prokop durchweg »Rüstungsausgaben«) mit 23,3 Prozent einen wesentlich höheren Anteil am Bundesetat 1969 gehabt aller Welten die beste aller Welten zu machen.« Dagegen sah er in der Kombination aus zukunftsorientiertem Denken und der Entwicklung fortschrittlicher technischer Verfahren die Voraussetzung für in »Versuch und Irrtum« zu suchende Lösungsansätze erfüllt. Anonymus, Steinbuch, o.S.; Häußermann, S. 196; Hünemörder, S. 207 f. 510 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Siegfried Prokop in Med-INFO Nr. 4/ 1970, S. 14.
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hätten als der für Bildung, Wissenschaft und Forschung mit 3,1 Prozent. Abgesehen davon komme ein erheblicher Teil des Wissenschaftsetats über die »sogenannte Verteidigungsforschung, die in offener bzw. versteckter Form etwa 40 Prozent aller Forschungsmittel bindet«, zusätzlich der Rüstung zu Gute. Eben deshalb würde die Verwirklichung der angestrebten Reformen auf dem Gebiet des Hochschulwesens auf Gedeih und Verderb von einer Veränderung des grundsätzlichen politischen Kurses des »Bonner Staates« abhängen. Und da schien der Haken zu sein: In den ersten Monaten der sozialliberalen Koalition habe sich gezeigt, dass diese weniger auf die in der Regierungserklärung postulierte »Erneuerung« hinarbeite als vielmehr auf die ebenfalls dort postulierte Kontinuität. Kritisiert wurde insbesondere, dass es sich Brandt diesbezüglich zum Ziel gemacht habe, dass Deutschland seinen Platz unter den führenden Industrienationen behaupten könne und dass Stabilität und Wachstum der deutschen Wirtschaft gesichert seien.511 Dass es bei all dem tatsächlich in erster Linie um Kontinuität ging, sollte schon allein an der Person des Wissenschaftsministers feststellbar sein. Gerhard Stoltenberg, der Vorgänger des damaligen Wissenschaftsministers Hans Leussink, sei vor seinem Amtsantritt Direktor der Stabsabteilung für Wirtschaftspolitik im Krupp-Konzern gewesen. Leussink war vor seiner Berufung zum Minister Aufsichtsratsmitglied bei Krupp. Stoltenberg sei inzwischen wieder zum Konzern zurück gekehrt, »nicht ohne die wärmsten Dankesworte des im Werbeklischee der bürgerlichen Pressemanipulation als ›kühler Pragmatiker‹ gekürten Leussink empfangen zu haben«. Ebenso wurde Leussink zitiert, der seinen Vorgänger dafür würdigte, er habe sich als Geisteswissenschaftler in kürzester Zeit in viele Fachdetails der Natur- und Ingenieurwissenschaften hinein gearbeitet.512 Obwohl die beiden Politiker also aus unterschiedlichen Lagern stammten, wurden sie hier als Mitglieder ein und desselben Machtkartells charakterisiert: »Wen wundert’s da noch, daß die CDU/CSU mit der hochschulpolitischen Konzeption von Leussink im wesentlichen übereinstimmt. Auf die Frage der ›Welt‹ vom 11.[]11.[] 1969, warum er den entscheidenden Zielvorstellungen des neuen Wissenschaftsministers zugestimmt habe, antwortete Paul Mikat, bildungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Opposition im Bundestag: ›Wenn die Zielvorstellungen der Regierung sich mit denen der Opposition decken, dann ist die Opposition um der Wahrheit willen verpflichtet, das auch klar zu sagen.«513
511 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Siegfried Prokop in Med-INFO, Nr. 5/ 1970, S. 14. 512 Ebd. 513 Ebd.
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Während die Machtverhältnisse für »med-INFO« sehr klar waren, übersah die Redaktion und mit ihr die dahinter stehenden Studenten die »linguistische Machtergreifung« in ihren eigenen Reihen: Der öffentlich Schreibende und Redende – so berichtet es Peter Schneider in seinen Erinnerungen an seine Zeit als studentischer Redner und Schriftsteller – sah sich unter einem hohen Druck, mit Hilfe sprachlicher Fertigteile (»bürgerliche Pressemanipulation«, »antiimperialistische Umgestaltung der Gesellschaft«) seine revolutionäre Gesinnung unter Beweis zu stellen. Man sprach nicht mehr von Arbeitern, sondern von der Arbeiterklasse, nicht mehr von Revolte oder Protest, sondern von Revolution, man kämpfte nicht mehr gegen politische Gegner, sondern gegen »Charaktermasken«, »Konterrevolutionäre«, »Arbeiterverräter«, oder man nutzte gleich die ultimative Denunziation »Faschist«.514 So darf es nicht verwundern, wenn auch in unserem Fall unter dem Vorwand, »die Ernsthaftigkeit der Politik der ›Erneuerung‹ zu prüfen«, die Biographien der beiden Persönlichkeiten auf der Suche nach dunklen Kapiteln beleuchtet werden sollten. So wurde die NSDAP-Mitgliedschaft Leussinks ebenso angeprangert wie seine Karriere als Bauingenieur beim Autobahnbau Berlin-München 1939. Während seiner Untersuchungen habe er in einem Vorwort beschrieben, dass man die Übertragbarkeit »amerikanische[r] Erfahrungen [beim Straßenbau] auf osteuropäische Verhältnisse (!)« geprüft habe. Die gewagte Folgerung lautete: »Leussink gehörte also offenbar zu dem engeren Kreis derer, die mit den unmittelbaren Aggressionsvorbereitungen des faschistischen Deutschlands gegen die Sowjetunion betraut waren.« Seine beachtliche (detailliert beschriebene) Karriere in Politik und Wissenschaft nach dem Krieg und den damit verbundenen wissenschaftspolitischen Einfluss habe Leussink genutzt, um auf teilweise dubiose Weise zu Reichtum und Macht zu kommen.515 Über Stoltenbergs Biographie verrät uns der Artikel nichts, womöglich deshalb, weil seine politische Karriere erst 1947 mit dem Eintritt in die CDU begann.516 Offenbar genügte es aber, anzumerken, dass sich Stoltenbergs hochschulpolitisches Programm »nicht wesentlich von dem seines Vorgängers« unterscheide. Besonders deutlich sei dies geworden – und dieser Gedankengang wirkt recht undurchsichtig – »als sich einer der entscheidenden wissenschaftspolitischen Sprecher der Konzerne, Siegfried Balke, in scharfer Form gegen die demokratische Mitbestimmung der Studenten in der Forschung aussprach«. Insbesondere hatte dieser gedroht, dass Forschungsförderungen an Hochschulen in Frage gestellt werden, »wenn in Zukunft unzuständige Gruppenvertreter an Ent514 Schneider, Rebellion, S. 208 f. 515 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Siegfried Prokop in Med-INFO, Nr. 5/ 1970, S. 15. 516 Vgl. Dschida, S. 2.
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scheidungen mitwirken und dabei kein sachkompetentes Urteil zugrunde legen könne, und wenn die Alleinverantwortlichkeit des einzelnen qualifizierten Forschers beseitigt oder auch nur geschmälert« werde. Es schien daher ins Bild zu passen, dass Leussink Drittel- oder Viertelparität der Studenten ablehnte, weil er die Begriffe als »ideologisch verformt« ansah. Auch erschien es als geradezu natürlich, dass er sich stärker noch als seine Parteikollegen für hochschulpolitische Experimente aussprach, »die u. a. dazu dienen sollen, die oppositionellen Studenten und Assistenten unter Verwendung bewährter bürgerlich-parlamentarischer Formen – bei der Vermeidung wirklicher Mitbestimmung – in die bürgerliche Universität zu integrieren«. Leussink plane eine Reihe von Sofortmaßnahmen zur Veränderung der Struktur des Lehrkörpers, der Studieninhalte, der Prüfungssysteme und des Laufbahnwesens. Er plädiere für eine Verdopplung der Bildungsausgaben in den nächsten zehn Jahren, ohne zu sagen, wie das finanziert werden solle. Interessant ist hierbei, dass in »med-INFO« Bedenken hinsichtlich der Bezahlbarkeit von Maßnahmen Platz finden. Womöglich wurde ihnen nur deshalb Raum zugestanden, weil man ohnehin alles ablehnte, was die Politik anbot. Immerhin: Im Fazit des Artikels gestand man ein, dass die »wissenschaftspolitische Aktivität« zugenommen habe und dass die Koalition insgesamt bemüht sei, »den wissenschaftlich-technischen Rückstand Westdeutschlands […] durch Modernisierung und Ausbau der wissenschaftlichen Einrichtungen zu verringern«. Es sei also tatsächlich möglich, den Zustand einer »Gesellschaft der verkümmerten Talente« hinter sich zu lassen, jedoch dafür »zu dem nicht geringen Preis, eine ›Gesellschaft politisch-moralisch verkrüppelter Talente und Fachidioten‹ für die Profitinteressen des Monopolkapitals zu werden.«517 Auch wenn der Verfasser der beiden Artikel als DDR-Historiker nicht als »Achtundsechziger« im eigentlichen Sinn betrachtet werden kann, so artikulierte er wichtige Thesen der Neuen Linken. Da »med-INFO« seine Gesellschaftskritik abdruckte, kann man davon ausgehen, dass die Redaktion seinen Thesen zustimmte, denn gegensätzlichen Meinungen Raum zu bieten war nicht gerade Hauptanliegen des Blattes. Der Artikel fällt nur insofern aus dem Rahmen, als er permanent die DDR als großes Vorbild darstellt und Westdeutschland empfiehlt, dankbar die Verbesserungsvorschläge von der anderen Seite der Mauer anzunehmen. Was charakterisiert aber nun das Verhältnis von rebellierender Studentenschaft zur »Gesellschaft der verkümmerten Talente«? Erneut findet Peter Schneider in seiner Autobiographie passende Worte:
517 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Siegfried Prokop in Med-INFO, Nr. 5/ 1970, S. 15.
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»Nach den Vorgaben einer ›wissenschaftlichen‹, nicht genau hinterfragten ›Klassenanalyse‹ brachten wir/ich den jeweiligen Gegner um seinen Namen und ordneten ihn einer feindlichen Gruppe oder Klasse zu. Indem wir/ich unseren Kontrahenten die Individualität absprachen, begannen auch wir/ich uns unserer Individualität zu entledigen.«518
Interessanterweise ging der Artikel nur dann auf individuelle Merkmale einer Person wie Leussink ein, wenn es darum ging, sie als reaktionär oder gar faschistisch zu entlarven, was wiederum einer Pauschalisierung gleich kam. Auch reihte sich die Gesellschaftsanalyse in die von Gerd Koenen beschriebenen, beinahe schon standardisierten, »drastischen, aber immer in hohem Unschuldston vorgetragenen Erörterungen« dieser Zeit ein, die den so genannten »Herrschenden« vorwarfen, jegliche radikale Opposition mundtot zu machen. Und wenn sie es nicht taten, dann zeigte das laut Koenen entweder nur, dass sie es schon nicht mehr wagten, oder es handelte sich nur um einen neuen Versuch der Verschleierung der Gewaltförmigkeit der bürgerlichen Ordnung überhaupt. Umso mehr schien es dann notwendig, durch systematische und provozierende Konfrontation die angebliche Schein-Demokratie zu zwingen, ihren Klassencharakter zu offenbaren beziehungsweise sich als »Diktatur der Gewalt« beziehungsweise »autoritären Staat519«zu entlarven. Der Vorteil dieser kreisenden Rhetorik und zirkulären Argumentation sei gewesen, dass sie gegen alle nüchternen Beurteilungen der tatsächlichen politischen und gesellschaftlichen Lage fugenlos abgedichtet war.520 Üblicherweise hatten solche Gedankengänge den Nachteil, dass es den meisten zu wissen genügte, wogegen sie waren, nicht aber wofür. Das überließen Götz Alys Auffassung zu Folge viele lieber den »großen Strategen«.521 In unserem Fall füllt diese Lücke das Vorbild der DDR, auch wenn es nicht minder diffus bleibt. Glaubt man dem Artikel, so waren dort alle Forderungen der westdeutschen Studenten erfüllt, weil das dortige Hochschulsystem eben »antiimperialistisch« war. Das schien zu genügen. Darüber, dass die aggressiv eingeforderten Mitbestimmungsrechte dort ebenso wenig vorhanden waren, sah man offenbar gnädig hinweg. 518 Schneider, Rebellion, S. 209. 519 Die Theorie des autoritären Staates hatte Max Horkheimer 1940 unter dem Eindruck des Hitler-Stalin-Paktes formuliert. Seine Definition lautete: Autoritär ist ein Staat, der dirigistisch in den Produktionsprozess eingreift, die kapitalistischen Konkurrenzmechanismen eliminiert und so monopolistisch gleichsam als ideeller Gesamtkapitalist fungiert. Die Forderung nach einem autoritären Staat hatte sich die faschistische Bewegung schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten zu Eigen gemacht. Max Horkheimer gebrauchte erstmals 1942 in dem zusammen mit Walter Benjamin veröffentlichten Essay »Über den Begriff der Geschichte« das Wort »antiautoritär« im Sinne von »antitotalitär«. Vgl. Sievers, S. 11. 520 Vgl. Koenen, Jahrzehnt, S. 55. 521 Aly, S. 218.
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Da den Achtundsechzigern nach Wolfgang Schmidbauer eine innere, von glaubwürdigen Eltern übernommene seelische Stärke fehlte und sie die Anpassung an bürgerliches Erfolgsdenken ablehnten, mussten sie nach dieser Auffassung des Autors ihre eigenen Werte überschätzen und nach Anhaltspunkten suchen, wie sie beispielsweise in Theodor W. Adornos Studien zur autoritären Persönlichkeit zu finden waren. Diese Studien schienen ihre Theorie vom Zusammenhang zwischen Faschismus und bürgerlicher Moral zu bestätigen.522 Eine solche radikale Gegnerschaft und das Gefühl, die »moderne Universität sei ein raffinierter Aufruf an den Studenten und späteren Akademiker, sich als Rädchen im Getriebe zu fühlen«523 mündete in dem Vorwurf, demokratische Öffentlichkeit und liberale Verfassung existierten nur zum Schein. Man verwies in diesem Zusammenhang auf die »ökonomisch bedingte, äußert ungleich verteilte Macht, Meinungen im großen Ausmaß propagieren zu können und kommerziell auszuwerten«524. In unserem Fall konzentrierte man sich zwar auf die Hochschulpolitik, wurde jedoch nicht müde zu zeigen, wie symptomatisch dieser Teilbereich für die gesamte (verkümmerte) Gesellschaft beziehungsweise Politik war. Dieses Argument ist verständlich und sicher nicht vollkommen abwegig. Jedoch wurden in »med-INFO« die Menschen indirekt für unmündig erklärt, wenn davon die Rede war, dass sie als willenlose Objekte dazu verführt würden, »ihre Kraft, Intelligenz und Hoffnung jenseits dieser Wirklichkeit zu vertun«525. Der Schritt zu einem damals durchaus verbreiteten, hoch riskanten These ist dann nicht mehr weit: »Demokratie und selbstständiges Denken ist allseits dann gegeben, wenn die große Mehrheit aus freien Stücken einsieht, was ihr ein Vordenker der Neuen Linken bereits jetzt, da sie noch verblendet ist, diktieren möchte. Bei Anerkennung der demokratischen Mehrheitsentscheidung in einer zwar fernen, aber jetzt doch bereits ganz bestimmten Zukunft ist die aktuelle demokratische Wahl dadurch vollkommen entwertet.«526
Die neue angestrebte Ordnung (ob nun das vom Autor angestrebte Vorbild der DDR oder die von der westdeutschen Neuen Linken favorisierte Revolution durch die studentisch-demokratische Opposition) sollte antifaschistisch statt antikommunistisch sein, darauf lief die politische Tendenzformel hinaus, die allerdings die historisch-politische Wirklichkeit jener Nachkriegsjahre verkannte und George Orwells alte Warnung von 1944 vergaß: Dieser erklärte, dass, 522 523 524 525
Vgl. Schmidbauer, S. 178. Hecken, S. 88. Ebd., S. 36. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Siegfried Prokop in Med-INFO, Nr. 4/ 1970, S. 14. 526 Hecken, S. 37.
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wer antifaschistisch sein wolle, auch antitotalitär sein müsse.527 Vielmehr wurde die logisch als zwingend unterstellte Verknüpfung von Antifaschismus mit dem Antikapitalismus zum Problem. Wolfgang Kraushaar bemerkt hierzu: »Das Diktum ›Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus nicht schweigen‹ stand wie ein unfreiwillig tragischer Portalspruch über der Achtundsechzigerbewegung.« Der auch in unserem Fall auftretende Hintergedanke jedoch, dass der Kapitalismus den Faschismus generiert habe, war nach Kraushaars Auffassung in dieser Allgemeinheit sicherlich verkehrt.528 Die Behauptung, das westdeutsche Universitätssystem sei reformunwillig und lasse letztlich nur den Ausweg in einer Revolte offen, war rückblickend unzutreffend. Universitätsreformen und Hochschulneugründungen waren im Gange, als die in Wahrheit auf ganz andere Ziele gerichtete Revolutionsbewegung der Neuen Linken im Zeichen der marxistischen Renaissance529 an den Hochschulen zu wirken begann. Die staatlich garantierte und wissenschaftlich notwenige Liberalität der Universitäten wurde vielmehr als Einbruchstelle von denjenigen genutzt, die vordergründig die Beseitigung offenkundiger (und auch im Artikel beschriebener) Missstände forderten und doch eigentlich nur damit begannen, das »System« in einem seiner ganz zentralen Bereiche zu treffen.530 Das erklärt auch, warum man Kompromisse nicht akzeptieren wollte und sich ausschließlich in der Rolle einer Fundamentalopposition zu gefallen schien. Gleichzeitig war die fast gierige Aufnahme neomarxistischer Gesellschafts- und Demokratielehren, die häufig mit der hektischen Aufwärmung revolutionstheoretischer Schriften und Diskussionen aus den Zwanziger und frühen Dreißiger Jahren einher ging, auffällig. Sie fanden nicht zuletzt in der raschen Aus527 Vgl. Bracher, S. 292. 528 Kraushaar, Achtundsechzig, S. 75. 529 Klaus Hildebrand erläutert die Umstände dieses Phänomens im Rahmen seiner Untersuchungen zum Zeitgeist während der Großen Koalition: »Bald klaffte jäh ein Abgrund zwischen einer Ideologie, die die Wirklichkeit rigoros, ja total kritisierte, und jener Wirklichkeit, deren lebensweltlicher Zusammenhang mit dem ideologischen Entwurf so wenig gemein hatte. Die Frage war nur, wie lange die Wirklichkeit das neue Bewußtsein der revolutionären Vorstellungen aushalten würde. Die mächtig auflebende marxistische Lehre, deren Anhänger nicht mehr im wissenschaftlichen Sinn nach Wahrheit suchten, sondern im klassischen Verfahren der trahison des clercs eine Wahrheit verkündeten, trug nicht durchgehend orthodoxe Züge. Sie huldigte vielmehr unter wechselnder Berufung auf Wilhelm Reich und Herbert Marcuse Befreiungsmythen von psychologischen und sexuellen Zwängen, deren Existenz freilich stets mit der des »kapitalistischen Systems« verbunden wurde. […] Freilich für den, der die Erfahrungen von Weimar nicht verdrängte und den Verlauf der – jetzt zunehmend antiquiert ins Abseits gedrängten – Geschichte rekapitulierte, war klar, daß wieder einmal ›auf Fragen der Gegenwart mit Parolen des 19. Jahrhunderts‹ geantwortet wurde – fürwahr, ›ein seltsamer Fortschritt‹, wie der kopfschüttelnde Kommentar des Freiherrn zu Guttenberg schon damals lautete.« Hildebrand, S. 421. 530 Vgl. Hildebrand, S. 379.
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dehnung, in den überstürzten Reformen und Veränderungen des Erziehungsund Universitätswesens ein weites Feld der Verbreitung und Erprobung, im positiven wie im negativen Sinne.531 All diese teilweise besorgniserregenden Entwicklungen gehörten aber im Übrigen mit zur schwierigen Normalität der westdeutschen Demokratie und konnten im Grunde über deren sichtbare Erfolge und unbestreitbare Leistungen keinen Zweifel aufkommen lassen.532 Götz Alys vernichtendes Urteil über die studentischen Proteste enthält darum einen wahren Kern. Er insistiert: »Weit überwiegend können die Proteste als Luxusveranstaltungen des in der Ruhe des Kalten Kriegs befriedeten, wohlhabend-steril gewordenen Westens gedeutet werden. Die für den Adrenalinhaushalt anregenden Revolutionär-und-Gendarm-Spiele tobten in den Puddingbergen des Schlaraffenlands.«533
531 Vgl. Bracher, S. 292. 532 Vgl. Hildebrand, S. 450. 533 Aly, S. 169.
6.
Die Basisgruppe Medizin
Am 21. März 1970 verkündete der SDS seine Auflösung534 und es entstand ein »verwirrendes Sammelsurium von Richtungen, Tendenzen, Gruppen und Fraktionen«, die bis weit in die Siebziger Jahre für Unruhe an den Universitäten sorgten, alle in dem Bemühen, die Gesellschaft in ihren bestehenden Formen doch noch zu eliminieren535. Die unterschiedlichen Gruppierungen der APO, die nur in der konkreten Massenaktion ihre Einheit gefunden hatten, wurden von der nachlassenden Resonanz der Massen auf sich selbst verwiesen.536 Allein die Zahl der organisierten Mitglieder der verschiedenen linksrevolutionären und kommunistischen Gruppen und Parteien lag die ganzen Siebziger Jahre hindurch bei circa 80.000 bis 100.000. Dieses »brodelnde Sektenwesen«537 war nur die sichtbare Spitze eines viel weitläufigeren politisch-kulturellen Phänomens, das bis tief in die Mitte von Staat und Gesellschaft hinein reichte.538 Zwar wuchs insgesamt das Potential links von der SPD quantitativ stark an, es stellte jedoch wegen seiner Diffusität keine einheitliche Kraft mehr dar.539 Die unter dem Begriff »Basisgruppen« zusammengefassten Hochschulgruppen sind in diesem Zusammenhang zu sehen. Da sie auch an den Hochschulen unter verschiedenen Namen antraten540, wurde als Sammelbegriff die Bezeichnung der entsprechenden Fraktion in den Vereinigten Deutschen Studenten534 535 536 537
Vgl. Aly, S. 128. Etzemüller, S. 108. Jäger, S. 77. Das Bundesinnenministerium zählte 1971 einschließlich der orthodox-kommunistischen Gruppierungen 392 linksextreme Organisationen mit 67.000 Mitgliedern. Das Spektrum reichte laut Wolfgang Jäger vom orthodoxen Kommunismus/Marxismus/Leninismus über Trotzkismus und Maoismus, die so genannten K-Gruppen, bis zu unterschiedlichen Formen des Anarchismus und des Terrorismus. Während die APO noch antiautoritär und organisationsfeindlich war, verordneten sich die meisten ihrer linksextremen Nachfolgegruppierungen eine straffe Organisation. Vgl. Jäger, S. 77 f. 538 Koenen, Jahrzehnt, S. 18. 539 Kraushaar, Achtundsechzig, S. 185. 540 Zu nennen sind unter anderem die Liste Unabhängiger Studenten LUST, Grün/Alternative Liste GAL, Feministische Liste und Projektliste. Vgl. Darmstadt/Haupts, S. 96.
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schaften (VDS) übernommen. Eine Abgrenzung ist nur durch eine Kombination inhaltlicher und formaler Kriterien541 möglich. Mit ihrer antikapitalistischen, antiautoritären und antihierarchischen Stoßrichtung gelten die Basisgruppen als eigentliche Erben der Achtundsechziger-Studentenbewegung. Ihr Ziel war ein selbstbestimmtes Leben, in dem jedes Individuum frei von materiellen Existenzsorgen selbst darüber entscheiden sollte, wann und wie es was tun oder lassen wollte. Das diesen Vorstellungen entsprechende politische System ist geprägt von der Idee der Basisdemokratie, also der jederzeitigen Rückkopplung von Mandatsträgern an die bindende Entscheidung der von ihnen vertretenen Gruppen bei jederzeitiger Abwählbarkeit.542 Nach den zunehmenden politischen Misserfolgen der außerparlamentarischen Aktionen wollten die Basisgruppen zum Medium einer politischen Transformation werden. Sie wurden an den Universitäten gegründet, griffen jedoch schon bald auf Stadtteile und Betriebe über. Der Schwerpunkt der politischen Aktivitäten sollte damit laut Wolfgang Kraushaar in jene gesellschaftlichen Bereiche verlagert werden, von denen man glaubte, dass dort der Klassenantagonismus noch lebendig sei.543 An vielen Universitäten und Fachschaften errangen 1969/70 die so genannten Roten Zellen mit Stimmenanteilen von 30 bis 40 Prozent klare Mehrheiten in den Studentenparlamenten. Im Verhältnis zum alten SDS war das eine deutliche Hinwendung zum Marxismus-Leninismus in seinen gegensätzlichen Variationen.544 Von diesen Entwicklungen war die Universität Bonn natürlich nicht ausgenommen. So entstanden auch hier Basisgruppen, unter anderem auch die »Basisgruppe Medizin«, mit der sich das folgende Kapitel beschäftigen soll.
541 Auf alle Basisgruppen treffen drei gemeinsame Merkmale zu: – Fehlen formaler Organisations- und Führungsstrukturen in der Gruppe selbst und fehlende Einbindung in einen überregionalen Verband – Imperatives Mandat, jederzeitige Abwählbarkeit und ständige Rechenschaftspflicht gewählter Vertreter in Hochschul- und Studentenschaftsgremien gegenüber der Basis, meist auf Vollversammlungen – Selbstbestimmtes Leben, Lernen und Arbeiten als Zielvorstellungen politischen Handelns. Vgl. Darmstadt/Haupts, S. 96. 542 Vgl. Darmstadt/Haupts, S. 96 – 102. 543 Vgl. Kraushaar, Achtundsechzig, S. 184. 544 Vgl. Koenen, Jahrzehnt, S. 200.
Allgemeines
6.1
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Allgemeines
Die Basisgruppe Medizin gründete sich zu Beginn des Wintersemesters 1969/70, angeblich auf Grund des Unbehagens über die Form des Medizinstudiums und der ärztlichen Praxis in der Bundesrepublik.545 Sie verstand sich als Plattform für sozialistische und demokratische Studenten, Assistenten, MTAs, Schwestern, Pfleger und Institutsangestellte, von der aus der organisierte Kampf um Mitbestimmung in Wissenschaft und Ausbildung, für Demokratie und sozialen Fortschritt an Kliniken und Instituten geführt werden sollte.546 Anfang 1970 startete »med-INFO« erstmals in diesem Zusammenhang einen »Aufruf an alle medizinisch Arbeitenden«. Darin hieß es, dass die Krankenversorgung und auch das Betriebsklima dort am besten seien, wo die Zusammenarbeit zwischen Schwestern, Pflegern und medizinisch-technischen Assistenten gut funktioniere und irrationale Standesunterschiede zwischen den einzelnen Berufen weitestgehend abgebaut seien. Darum forderte »med-INFO« alle an diesen und ähnlichen Fragen Interessierten »Arbeiter in der Medizin« auf, gemeinsame Arbeitsgruppen zu bilden: »Es wird Zeit, daß auch in Bonn endlich Wege beschritten werden, die zu diesem Ziel führen, im Dienst des Patienten und auch des medizinischen Personals, das, abgesehen von Ärzten, unter diskriminierenden Zuständen arbeitet.«547 Ein erstes Treffen sollte am 18. Februar 1970 im Dietrich-Bonhoeffer-Haus in der Königstraße 88 stattfinden, ab dann jeden weiteren Mittwoch zur gleichen Zeit am selben Ort.548 Als Adressat dieses Aufrufes galten »fortschrittliche[n] und demokratische[n] Organisationen (SHB, Spartakus, ÖTV etc.) […] [und] Unabhängige[n]«549. Wenig später erfuhr der »med-INFO«-Leser, dass sich die Basisgruppe keineswegs auf die Kritik an den Arbeitsbedingungen der im medizinischen Bereich Tätigen beschränken wollte: Die (erstmals so genannte) Basisgruppe Medizin stellte sich als eine Vereinigung der auf dem Gebiet der Medizin Arbeitenden (Hier werden nun auch Ärzte dazu gezählt!) vor, die die Unmenschlichkeit des kapitalistischen Systems erkannt hätten und es aktiv bekämpften. Dazu gehöre die unbedingte Solidarität mit den Freiheitsbewegungen der Dritten Welt, die Unterstützung aller Kräfte, die gegen den Imperialismus arbeiteten, und allgemeinpolitisches Engagement für alle Unterdrückten, Ausgebeuteten und Leidtragenden des jeweiligen Systems, vor allem des kapitalistischen Systems. Auch dem hochschulpolitischen Engagement sollte eine 545 546 547 548 549
UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 5/1970, S. 4. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 9/1971, S. 6. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr, 3/1970, S. 1. Vgl. ebd. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 9/1971, S. 6.
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wichtige Rolle zu Teil werden, wobei neben einer umfassenden theoretischen Weiterbildung »die Mobilisierung und das Erwecken eines radikalen, kompromißlosen Demokratieverständnisses bei den Kommilitonen und der Öffentlichkeit im Vordergrund« stehen sollte.550 In der Hochschule ging es den Basisgruppen deshalb ausdrücklich nicht in erster Linie um materielle Verbesserungen der studentischen Situation, auch nicht um bloße Anpassung des Hochschulausbaus an die gewachsenen Studentenzahlen. Vielmehr wollten sie eine grundlegend andere Hochschule, weil sie eine völlige Deformierung der westdeutschen Hochschulbildung sahen und nicht an die Bedeutung oder Wirkung nur partieller Reformen glaubten.551 Konkret bedeutete das die Forderung nach mehr Mitbestimmung in allen Sektoren des medizinischen Ausbildungs-, Versorgungs- und Forschungsbereichs: »In der BG [= Basisgruppe] Medizin werden []die Tagesaufgaben in diesem Kampf bestimmt (Oder die als Tagesaufgaben von den einzelnen Organisationen Angehörenden552 und Unabhängigen erkannten Aufgaben zur Diskussion gestellt) und man wird versuchen, alle Probleme des demokratischen Kampfes an den Instituten und Kliniken organisiert zu lösen.«553
Um den Rückhalt bei den potentiellen Sympathisanten und Mitgliedern der Basisgruppe zu sichern, sollten hochschulpolitische Veranstaltungen und Schulungen im so genannten wissenschaftlichen Sozialismus organisiert werden. Für die, die beispielsweise aus zeitlichen Gründen nicht in der Basisgruppe mitarbeiten konnten, die aber trotzdem ihren Kampf unterstützen wollten, weil sie »in der Organisation des Medizinstudiums und der Versorgung ein Unterdrückungsinstrument []in den Händen der herrschenden Klasse« erkannten, sollte die Teilnahme an den Diskussionen und Aktionen ermöglicht werden, indem »med-INFO« regelmäßig Artikel zu den besprochenen Themen veröffentliche.554 550 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 7/1970, S. 5. 551 Vgl. Darmstadt/Haupts, S. 105. 552 Deutlich wird die enge Anbindung an SHB und MSB Spartakus. Um zu erklären, warum die Basisgruppe eine solche Strategie verfolgt, zitierte »med-INFO« aus der von den beiden Hochschulgruppen erarbeiteten »AStA-Plattform«. Darin hieß es: »Forschung und Ausbildung erlangen immer größere gesellschaftlich[e] Bedeutung: Sie tragen zunehmend zur Mehrung des gesellschaftlichen Reichtums bei (s. die Rolle der Grundlagenforschung in Biochemie und Physiologe für die pharmazeutische Industrie). Gleichzeitig muß ein immer größerer Anteil des gesellschaftlichen Reichtums im Bildungssektor investiert werden. Deshalb müssen diejenigen entscheidenden Einfluß auf Forschung und Ausbildung erlangen, die den gesellschaftlichen Reichtum schaffen, also die Arbeiterklasse und alle werktätigen Schichten […]« UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 9/1971, S. 6. 553 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 9/1971, S. 6. 554 Ebd., S. 7.
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Schon zu Beginn erfüllte der rebellische Kreis von Studenten also wesentliche, basisgruppenspezifische Kriterien: So stand die Solidarisierung mit den (medizinischen) Arbeitern im Vordergrund, die offenbar in den revolutionären Kampf mit einbezogen werden sollten: »Die Mehrheit der Intelligenz wird später in abhängiger Stelle arbeiten […]. Sie hat deshalb gemeinsame Interessen mit der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung.«555 Der Ursprungsgedanke dieses Phänomens war, mit den Arbeitern Protestaktionen abseits der Gewerkschaften durchzuführen, da man ausdrücklich autonom agieren wollte und sich keiner Partei zugehörig fühlte.556 Nicht minder entscheidende Kriterien, etwa der Verweis auf radikale Demokratie in Gestalt basisdemokratischer Strukturen in Universität und Gesellschaft sowie die Ablehnung von Hierarchie, Bevormundung und Ausbeutung in Gestalt des globalen Kapitalismus, standen sicherlich mit den damaligen Bestrebungen radikaler linker Splittergruppen in Zusammenhang, die die Grundlagen für gesellschaftliche und politische Umwälzungsprozesse durch ihre Arbeit zu legen versuchten. Über die Einzelheiten der Motive und Ideale der Basisgruppe gab ein ausführlicher Artikel in »med-INFO« Aufschluss, der wie ein Gründungsmanifest wirkt. Dort berichteten ihre Mitglieder, dass sie spätestens während ihrer praktischen Ausbildung in den Famulaturen erfahren hätten, wie wenig das Studium sie tatsächlich auf die Praxis vorbereite: »Der praxisferne Vorlesungsbetrieb, bei dem es zu keinem persönlichen Kontakt Student – Patient kommt, der einseitig somatisch begrenzte Krankheitsbegriff, der Massenbetrieb in Praktika und Kursen usw. ließen uns zweifeln, ob wir für unseren späteren Beruf wirklich ausreichend und sinnvoll ausgebildet würden.«557
Die Realität im Klinikalltag steigerte die Unzufriedenheit der Studenten sogar noch. Sie kritisierten in diesem Zusammenhang die hierarchische Ordnung in Bezug auf Einkommen und Befehlsgewalt, die vor allem den an der Spitze der Hierarchie stehenden Großverdienern558 nützten statt der optimalen Versorgung der Patienten. Auch die Finanzierung des Gesundheitssystems wurde scharf kritisiert: Nicht nur die Tatsache, dass in einer wohlhabenden Industrienation wie Deutschland aus Geld- und Personalmangel Krankenhausstationen geschlossen, die Präventivmedizin vernachlässigt würde und Patienten künstliche Nieren vorenthalten werden müssten, sorgte für Empörung, auch entscheide der Status als Kassen- beziehungsweise Privatpatient, also die Höhe des Einkom555 556 557 558
Ebd., S. 6. Vgl. Hecken, S. 93. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 5/1970, S. 4. Nach Auffassung der Basisgruppe gab es keine plausiblen Gründe dafür, warum ein Chefarzt 50 bis 100 mal so viel verdiente wie ein Pfleger oder sein Mitarbeiter. Vgl. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 5/1970, S. 4.
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mens, über die Behandlung. Ohnehin seien die gegenwärtig angewandten Therapien als katastrophal anzusehen, weil die Hälfte aller Krankheiten zumindest anteilig psychische Ursachen559 habe und gleichzeitig nur die somatischen Krankheitsursachen berücksichtigt würden. Demnach kam die Medizin nicht über ein bloßes Kurieren an Symptomen hinaus.560 Festhalten lässt sich bereits hier, was Gerd Koenen schon recht früh in der Entwicklung der Basisgruppen beobachtete: Initiiert von aus der Universität heraus drängenden Studenten im Umfeld des (sich auflösenden) SDS, entwickelten sie sich schon bald zu einem Sammelbecken der Unzufriedenen und so ihrerseits zu Sammelorganisationen561, hier also zu Bezugsgruppen für jene Studenten, die Gesundheitssystem, Krankheitsbegriff und Medizinstudium in der bestehenden Form ablehnten. »Med-INFO« formulierte es so: »Die Basisgruppe sollte uns – wir waren am Anfang ca. zehn Studenten – als Plattform für den Austausch unserer individuellen Erfahrungen dienen und nach Möglichkeiten suchen, gegen die bestehenden Mißstände anzugehen.«562 Dazu erschien es notwenig, nach den Ursachen dieser Missstände zu forschen: Was den Krankheitsbegriff anging, so wurde der angeblich vorherrschende grundsätzliche Fehler der Gleichsetzung von Krankheit und Arbeitsunfähigkeit als Mittel entlarvt, den Menschen zum Arbeitstier zu machen. Völlig unberücksichtigt bliebe, dass auch derjenige krank sei, der unglücklich ist, seine Neigungen und Fähigkeiten nicht erkennen und seine Bedürfnisse nicht befriedigen kann. Profitieren konnten davon demnach nur die Arbeitgeber, die an der Arbeitskraft anderer Menschen verdienten und diese zur Arbeit zwangen, soweit sie dazu physisch auch nur einigermaßen in der Lage waren. Nach Auffassung der Basisgruppe war das der Punkt, an dem sie sich gezwungen sah, »den engeren Rahmen des Gesundheitswesens zu verlassen und gesamtgesellschaftlich zu denken, indem wir allgemein das Verhältnis zwischen den sogen. Arbeitgebern und -nehmern analysierten«.563 Da sich die marxistische Wirtschaftstheorie auf dem grundlegenden Interessengegensatz zwischen Kapitalisten in Gestalt der Arbeitgeber und den mit Arbeitnehmern gleichgesetzten Proletariern gründe, lag es für die Mitglieder der Basisgruppe nahe, sich in Arbeitskreisen mit der Lehre von Karl Marx564 zu 559 560 561 562 563 564
Mit dieser Thematik befasst sich ausführlich Kapitel 2. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 5/1970, S. 4. Vgl. Koenen, Jahrzehnt, S. 136. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 5/1970, S. 4. Ebd., S. 4 f. Laut eigener Aussage las und diskutierte man in der Basisgruppe Medizin unter anderem »Das Kommunistische Manifest« von Karl Marx und Friedrich Engels, »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft« von Friedrich Engels und »Einführung in die marxistische Wirtschaftslehre« von Ernest Mandel. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 5/1970, S. 4.
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beschäftigen: »Wir mußten erkennen, daß der Marxismus keine veraltete Lehre des 19. Jahrhunderts ist, sondern daß die von Marx aufgestellten Kriterien auch die heutige westdeutsche Gesellschaft grundsätzlich erfassen.« Da sich in kapitalistischen Systemen565 wie jenem in der Bundesrepublik die politische Macht letztlich auf den Besitz an Produktionsmitteln gründe, bestimme auch im Gesundheitswesen das Profitstreben der Unternehmer, wo Geld investiert werde und wo nicht. Investitionen im Gesundheitssektor waren nach Meinung der Basisgruppe lästige Nebenkosten für die Kapitalisten, weil dort keine Profite erzielt werden könnten, jedoch erschienen sie in gewissem Umfang zur Wiederherstellung der Arbeitskraft als notweniges Übel. Diese Theorie diente hierbei als Begründung dafür, dass »es in kapitalistischen Systemen nur darum gehen kann, die rein körperliche Arbeitskraft wiederherzustellen, und zwar möglichst billig«. Durch die fehlenden Investitionen sei letztlich zu erklären, warum Personalmangel herrsche, die große Mehrheit der im Gesundheitswesen Beschäftigten (Pfleger, Schwestern, Medizinalassistenten, Famuli) so schlecht ausgebildet und bezahlt würde und auch, warum beispielsweise zu wenig künstliche Nieren existierten.566 Passend zu der hier erkennbaren Tendenz, Missstände im medizinischen Sektor mit linken Gesellschaftsideologien zu erklären, bemerkt Wolfgang Kraushaar, dass, als die Studentenbewegung im Herbst 1969 erste Auflösungserscheinungen zeigte, der harte Kern der Antiautoritären versuchte, sich eines »Tricks« zu bedienen und seine machtpolitische Ohnmacht durch die Adaption kommunistischer Modelle und Strategien zu kompensieren. Doch das, was revolutionär zu sein schien, so fügt er hinzu, seien in Wirklichkeit Ausformungen totalitären Größenwahns gewesen.567 In diesem Sinne wiederholten die Studenten die so bekannte Phrase, nach der eine wirkliche Änderung im Gesundheitswesen nur im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung erzielt werden könne. Andernfalls müssten (!) alle kleinen punktuellen Verbesserungen im Gesundheitssektor weit hinter den tatsächlichen Erfordernissen zurückbleiben. Die Basisgruppe Medizin wollte 565 Die Basisgruppe beschrieb die Grundprinzipien der marxistischen Wirtschaftsanalysen folgendermaßen: »Die Arbeiter besitzen keine Produktionsmittel, z. B. Maschinen; sie sind deshalb die besitzlose Klasse, das einzige, was sie besitzen, ist ihre Arbeitskraft. Um Geld zu verdienen, um zu überleben, müssen sie sie an die Besitzer der Produktionsmittel verkaufen. Diese Klasse kauft die Arbeitskraft der anderen und verkauft Produkte. Für den Kauf der Arbeitskraft bezahlt der Besitzer der Produktionsmittel weniger als er für den Verkauf der Produkte erhält. Das heißt, daß der einzelne Lohnabhängige mehr Wert produziert als er selbst (in Form von Lohn) bekommt (Mehrwert). Dies ist der Prozeß kapitalistischer Ausbeutung.« UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 5/1970, S. 5. 566 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 5/1970, S. 4 f. 567 Kraushaar, Achtundsechzig, S. 55.
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einen Systemwechsel: »Erst dann wird eine optimale medizinische Versorgung der arbeitenden Menschen gewährleistet sein, wenn sie die ökonomische und damit die politische Macht errungen haben und so der unversöhnliche Interessengegensatz zwischen Lohnarbeitern und Kapitalisten aufgehoben ist.«568 Ausdrücklich wurde betont, dass sich die Arbeit569 der Basisgruppe Medizin an dieser zugleich medizinischen und gesamtgesellschaftlichen Frage zu orientieren habe.570 Erreichen wollte man also letztlich eine an den Interessen der Arbeitenden orientierten Medizin in einer sozialistischen Gesellschaft.571 Wie das konkret mit dem eigenen Anspruch an die »Disziplin572 einer arbeitenden, nach demokratischen Prinzipien organisierten Gruppe«573 vereinbart werden sollte, blieb allerdings offen. Auch in Bonn fühlten sich offenbar Mediziner in Basisgruppen als »selbsternannte Avantgarden«574 dazu berufen, den revolutionären Umsturz offensiv und bedingungslos voranzutreiben. Wahrscheinlich blieb es deshalb nicht nur bei Gesellschaftskritik und marxistischer Wirtschaftsanalyse in vergleichsweise unbedeutenden Studentenzeitschriften wie »med-INFO«. Um offene Fragen bezüglich der eigenen Analysen und Arbeitsergebnisse zu klären, verwies man auf die Arbeitskreise und die Sitzungen der Basisgruppe, die jedem Interessierten offen stehen sollten. Der »Arbeitskreis zur Einführung in die marxistische Wirtschaftstheorie«, welcher am 13. Mai 1970 starten sollte, und der alle zwei Wochen stattfindende »Arbeitskreis Berufsperspektiven« wurden diesbezüglich empfohlen.575 Die Achtundsechziger-Bewegung war keine homogene Strömung, sondern eine mehrschichtige und teilweise widersprüchliche Bewegung.576 Pascal Eitler 568 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 5/1970, S. 5. 569 Für die folgende Ausgabe (Nr. 6/1970) kündigte »med-INFO« an, welche konkreten Folgerungen die Basisgruppe aus der Analyse in Bezug auf die praktische Arbeit ableitete. Leider fehlt diese Ausgabe in den Akten des Bonner Universitätsarchivs. Verraten werden lediglich die Themen: Aktion Dritte Welt, Zusammenarbeit mit Pflegern und Schwestern, allgemeinpolitisches Engagement (Vietnam, Kambodscha, Griechenland), Studien- und Hochschulpolitik-bezogene Arbeit und theoretische Weiterbildung. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 5/1970, S. 5. 570 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 5/1970, S. 5. 571 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 9/1971, S. 7. 572 Der Begriff »Disziplin« wurde von den linken Studenten zu jener Zeit eher als Schimpfwort verwendet, um die Einengung der Menschen durch eine vom Staat beziehungsweise den so genannten Herrschenden diktierte Ordnung zu entlarven. Deutlich wird hier ein Phänomen, das Norbert Kozicki sehr treffend beschreibt, wenn er erklärt, dass dieselben Studenten, die gegen jede Autorität radikal und provokativ zu Felde gezogen waren, sich den autoritärsten politischen Strukturen der Kaderparteien unterwarfen. Vgl. Kozicki, S. 72. 573 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 9/1971, S. 7. 574 Hecken, S. 93. 575 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 5/1970, S. 5. 576 Vgl. Kraushaar, Achtundsechzig, S. 291.
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spricht gar von einem überaus heterogenen »Patchwork« unterschiedlichster Akteure und Akteursgruppen.577 Neben den Gradualisten, die eine Veränderung im Rahmen der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung anstrebten, existierten eben auch Maximalisten wie die Mitglieder der Basisgruppe Medizin, die jede Reform als ein Zugeständnis an Kapitalismus und Klassengesellschaft ansahen und auf einen Bruch mit dem politischen System und seinen Institutionen setzten.578 »Punktuellen Reformen« geradezu verachtend gegenüber stehend, setzte die Basisgruppe – und insofern war sie innerhalb der Achtundsechziger-Bewegung in guter Gesellschaft – geradezu die Lust am Verrat dagegen, Verrat an der eigenen Klasse und auch am Staat. Verfassung und Staat einer Gesellschaft innerlich zu bejahen und womöglich in Krisenzeiten zu ihr zu stehen, galt vielen damals als absurde Zumutung.579 Zwar gestanden auch die Bonner Mediziner ganz im Sinne Marx‹ den Arbeitern eine zentrale Rolle in den gegenwärtigen und zukünftigen (erhofften) Verhältnissen zu. Sie versuchten diese auch in ihre Arbeit einzubeziehen, indem die Appelle zur Mitarbeit stets an alle »medizinisch Arbeitenden« gerichtet waren, zu denen sich die Studenten im Übrigen auch zählten. Jedoch lässt sich hier in Wahrheit erkennen, dass – wie von Charles Wright Mills beschrieben – die überwiegend aus intellektuellen, studentischen und jungen Mitgliedern zusammengesetzte Studentenbewegung dazu überging, die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt zu verabschieden und an deren Stelle nach neuen Protagonisten einer tief greifenden Änderung beziehungsweise eines jähen Umsturzes zu suchen.580 Ohnehin fanden die aus einer Vielfalt von ideologischen Wurzeln (meist aus der marxistischen Gedankenwelt) entwickelten Vorstellungen der Studentenrevolte im Allgemeinen keine Zustimmung in den Arbeitnehmerschichten, die den teilweise spektakulären Aktionen der bundesdeutschen Achtundsechziger Bewegung mit Ablehnung und Unverständnis begegneten.581 Es gibt im Übrigen Hinweise darauf, dass die Resonanz für Forderungen wie die der Basisgruppe nicht immer so groß war, wie die kämpferischen Parolen in »med-INFO« glauben machen wollten: Am 20. November 1970 wurde im Bonner Contra-Kreis-Theater das Stück »Warum Haustiere?« von Armand Gatti582 577 578 579 580 581 582
Vgl. Eitler, Gott, S. 190. Vgl. Kraushaar, Achtundsechzig, S. 291. Vgl. Holl/Glunz, S. 14. Vgl. Hecken, S. 70. Vgl. Müller, S. 378. Armand Gatti (*1924) war während des Zweiten Weltkrieges in der französischen »Resistance« engagiert. 1943 wurde er verhaftet und zu Zwangsarbeit verurteilt. Ab 1945 arbeitete er für die Tageszeitung »Le Parisien Lib¦r¦« als Journalist und Reporter. 14 Jahre später begann Gatti seine zunehmend erfolgreiche Karriere als Theaterregisseur und
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Die Basisgruppe Medizin
aufgeführt. Eine nicht näher vorgestellte Krankenschwester (»Luise«) identifizierte sich offenbar mit der Hauptrolle des Stücks und zog Parallelen zu ihrem eigenen Leben, das von dem durch Monotonie, Frustration, Autorität und Oberflächlichkeit geprägten beruflichen und familiären Alltag bestimmt zu sein schien. Um eben jenes von der Basisgruppe so oft kritisierte »System« zu überwinden, erschien ihr nur die Arbeit an der so genannten Basis, die überdies den Job kosten könne, als Ausweg. Jedoch gestand »med-INFO« fast schon kleinlaut ein: »Das Stück ist auf eine Diskussion danach zugeschnitten.[]Diese würde sich auch wirklich lohnen,[]wenn mehr medizinisch Arbeitende dahinkommen würden […]!«583 Das Bewusstsein, nach dem die Studenten nun zum eigentlichen Motor der Revolution werden, kann nach Analyse der vorliegenden Quellen den Mitgliedern der Basisgruppe Medizin durchaus unterstellt werden, auch wenn es anscheinend entgegen der eigentlichen Planungen bei Diskussionsrunden und Arbeitskreisen blieb. Die Zersplitterung der Achtundsechziger-Revolte ab 1969 fand an der Medizinischen Fakultät in Bonn also mit der Basisgruppe ihr Äquivalent, das zwar letztlich keine Revolution in Gang setzte, sich jedoch in einer entsprechenden Rolle wähnte und dahin gehende Ideen verwirklichen wollte. Das Ausmaß der Selbstüberschätzung wie die nach Auffassung von Hubert Kleinert fast ins Possenhafte abgleitende »revolutionäre Selbststilisierung« lässt hierbei auch auf das Fehlen einer angemessenen Fähigkeit zur selbstkritischen Distanz der Studenten schließen, die realistische Selbstdeutungen verhinderte. Demnach kann man in diesem Zusammenhang auch einen auf der Bühne der Gesellschaft ausgetragenen Kampf ums eigene Ich sehen.584
6.2
Die Basisgruppe Medizin und Graf von Ballestrem
Aufgekratzt erklärte die Basisgruppe zwar, wie wichtig neben Diskussionen auch konkrete Aktionen im Kampf um Veränderungen seien, tatsächlich sind die Hinweise auf entsprechende Unternehmungen aber sehr dürftig. Die Basisgruppe betreffend berichtete die Studentenpresse lediglich von einem einzigen Vorfall, der hier deshalb zur Sprache kommen soll.
Schriftsteller, 1960 entstand sein erster Film (»L’Enclos«). Seit 1987 leitet Gatti seine eigene Theatergruppe »La Parole errante« in Montreuil bei Paris. Vgl. Gatti/Long, S. 9 ff. 583 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 8/1970, S. 11. 584 Kleinert, S. 15.
Die Basisgruppe Medizin und Graf von Ballestrem
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Anfang 1970 hielt Hubert Graf von Ballestrem585 im Chirurgie-Hörsaal im Auftrag des Deutschen Aussätzigen Hilfswerks einen Dia-Vortrag über seine Arbeit in Paraguay.586 Verächtlich bemerkte »med-INFO«: »Wir durften dem menschenfreundlichen Grafen bei der Behandlung einer [H]a[h] ndvoll Leprakranker zusehen. Ein stimmungsvolles Landschaftsbild rundete den Vortrag ab. Professor [Alfred] Gütgemann587 und die Mediziner spendeten Beifall. Man hatte konsumiert, was einem vorgesetzt worden war, man war[’s] zufrieden.«588
Fragen von studentischer Seite blieben laut »med-INFO« aus Zeitgründen unberücksichtigt, wohingegen sich Gütgemann mit von Ballestrem jedoch ausführlich über die Herkunft von dessen Namen unterhielt. Angeblich zum deutlichen Missfallen einiger Kommilitonen fragte ein nicht näher genanntes Mitglied der Basisgruppe, ob von Ballestrem glaube, das Problem Lepra auf der Basis individueller Caritas lösen zu können. Angesichts von 14 Millionen Leprakranken erscheine die Krankheit in erster Linie als ein soziales und damit politisches Problem. Als von Ballestrem antwortete, er halte einen Vortrag für Medizinstudenten und nicht für Politiker (Reaktion: »Mehrere standesbewußte Mediziner klopften tüchtig, was hat denn auch Medizin mit Politik zu tun!«),589 hakte das Mitglied der Basisgruppe nach und erhielt folgende Antwort: »Sie haben vorhin das entscheidende Problem angesprochen. Ich kann aber in der Öffentlichkeit keine Kritik an den Gesellschaftsverhältnissen des Landes üben, in dem ich bald wieder tätig sein werde […]. Selbstverständlich bin ich mit Ihnen der selben Auffassung, daß die sozialen Verhältnisse das eigentliche Problem sind.«590
Auf den Vorstoß der Basisgruppe, die gleichen Konsequenzen wie »Dr. med. Che Guevara591« zu ziehen, reagierte von Ballestrem mit einer Absage an Gewalt, da 585 Hubert Graf von Ballestrem (1910 – 1995) (»Med-INFO« nannte ihn fälschlicherweise »Balerstrem«) war Präsident des Deutschen Aussätzigen Hilfswerks e.V. und Vertreter der schlesischen Assoziation im Internationalen Lepra-Exekutiv-Komitee. Vgl. Langbrandtner, S. 138. 586 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr, 3/1970, o.S. 587 Siehe auch Fußnote 491 auf S. 140. 588 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr, 3/1970, o.S. 589 Ebd. 590 Ebd. 591 Ernesto Che Guevara (1928 – 1967) galt spätestens nach seinem Tod als die vielleicht wichtigste Kultfigur der internationalen linken Protestbewegungen und wurde zur »Ikone einer metropolitanen Pop-Kultur«. Alle – so schreibt Gerd Koenen – hätten seine »Aufzeichnungen aus dem kubanischen Bürgerkrieg« gelesen und es nicht etwa für komisch befunden, dort Macho-Elogen auf »die abgehärteten und edelmütigen Krieger« zu lesen, die weinten, »weil sie nicht die Ehre hatten, bei Kampf und Tod an erster Stelle« zu stehen: »Weder das blutige Laientum seines Wirkens in Kuba (wo er als Direktor der Nationalbank kurzerhand das Geld hatte abschaffen wollen) noch der offenkundige Autismus seiner Guerillaunternehmungen im Kongo oder in Bolivien brachten irgendeine Brise der Ernüchterung«. Für Guevara genügte es nicht, Vietnam aus der Ferne Beistand zu leisten.
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diese wiederum nur Gewalt erzeuge. Die Basisgruppe relativierte dieses Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit, indem sie erklärte, die Gewalt gehe in Lateinamerika primär von den wenigen Herrschenden aus, die der Masse der Bevölkerung das Lebensnotwendige verweigerten. Die Folge davon seien jährlich 100 Millionen Hungertote und Krankheiten, die hauptsächlich Unterernährte befielen, wie beispielsweise Lepra. Insofern erschien der Basisgruppe die revolutionäre Gewalt, mit der sich etwa das chinesische oder kubanische Volk von einheimischen und fremden Ausbeutern befreit hätten, als eine legitime und vielleicht die einzig mögliche Antwort auf die primäre Gewalt der Herrschenden. Der mit ausweichenden Worten reagierende von Ballestrem wurde sogleich mit der Frage konfrontiert, ob sich nicht die Ärzte in Lateinamerika in Anbetracht ihrer sozialen Verantwortung am Klassenkampf beteiligen sollten. Revolutionäre Priester dienten hier als Vorbild. Die Frage, ob die Ärzte überhaupt auf Seiten der Unterdrückten stünden, verneint von Ballestrem, da diese sehr gut bezahlt würden und von diversen Privilegien profitierten. Mit der knappen Feststellung »Das ist bei uns auch so.« beendete die Basisgruppe das Gespräch.592 Die Basisgruppe Medizin zeigte hier, dass es ihr in der Tat um Klassenkampf und Revolution ging. Gewalt schien als Mittel zum Zweck legitim, sogar notwendig. Zugestehen muss man ihr aber, dass sie womöglich zu Recht darauf hinwies, dass Hilfe für Menschen in der Dritten Welt auch an der Wurzel der Probleme ansetzen muss. Graf von Ballestrem gestand das erst ein, als er sich gegenüber den Studenten in der Defensive sah. Rückblickend war es also sicher richtig, die formulierte Kritik zu äußern. Das Problem erkannt zu haben, konnte die Basisgruppe jedoch nicht davor bewahren, ihrerseits engstirnig die Probleme mit Gewalt lösen zu wollen. In diesem Punkt bewies von Ballestrem wohl Stattdessen wollte er die kämpfenden Vietnamesen »bis zum Tode oder bis zum Siege begleiten«. Diese bedingungslose Parteinahme für nationale Befreiungsbewegungen der Dritten Welt steigerte er bis zur apokalyptischen Vision eines dritten, endgültigen und gerechten Weltkrieges. So habe man im fernen Europa laut Koenen der eigenen Existenz endlich Gewicht und Gestalt geben können: »In diesem Sinne war der Partisanenstatus der 68er-Revolutionäre ein Stück phantastisch nachgeholter Weltkriegserfahrung – nicht nur in Deutschland.« – Guevara selbst erläuterte in seinem Aufsatz »Soziale Therapie«, wie er als Student (und später als Arzt) auf seinen Reisen Armut, Hunger und Krankheit »aus erster Hand« kennen lernte. Unter anderem aus solchen Erfahrungen schloss er : »Der revolutionäre Eifer eines einzelnen ist trotz allem Idealismus sinnlos, und der Wunsch, ein ganzes Leben hohen Idealen zu opfern, hat keinen Zweck, wenn man allein arbeitet, abseits in irgendeinem Winkel Amerikas, befehdet von feindlichen Regierungen, im Kampf gegen soziale Bedingungen, die jeden Fortschritt verhindern.« Der Arzt werde dabei in den »neuen Armeen, die gebildet werden, um das Land zu verteidigen,« eine große Rolle spielen. In einem Vortrag (»Blockade oder Freisetzung des Fortschritts«) aus dem Jahre 1964 beschuldigte er die führenden imperialistischen Länder, die sozialistischen Länder durch wirtschaftliche Diskriminierung in ihrer Entwicklung hemmen zu wollen. Koenen, Jahrzehnt, S. 85 – 88; Guevara, S. 9 f., 120. 592 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr, 3/1970, o.S.
Die Basisgruppe Medizin und Graf von Ballestrem
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die größere Weitsicht. Für einen richtungweisenden, aber ambivalenten Ereigniszusammenhang steht hier nicht nur die Basisgruppe, sondern mit ihr die gesamte Bewegung, die unter dem Kürzel »68« zusammengefasst wird: Einerseits Aufbruch zu neuen gesellschaftlichen Ufern, andererseits Regression in die Innerlichkeit, den hartnäckigen Bezug zu einem kommunistischen Totalitarismus und nicht ganz ungefähre politische Allmachtsphantasien.593
593 Vgl. Kraushaar, Achtundsechzig, S. 42.
7.
Berufsverbote
Am 28. Januar 1972 beschlossen die Ministerpräsidenten der Bundesländer die »Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst«.594 Kernpunkt ihres Beschlusses war : »Ein Bewerber, der verfassungsfeindliche Aktivitäten entwickelt, wird nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt. Gehört ein Bewerber einer Organisation595 an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, so begründet diese Mitgliedschaft Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eintreten wird. Diese Zweifel rechtfertigen in der Regel eine Ablehnung des Anstellungsantrages.«596
Das wesentlichste Ziel dieser Berufsverbote597-Politik war laut Norbert Kozicki, die von der Studentenbewegung politisierten Lehrerinnen und Lehrer aus dem »heiligen Raum« der Schule fernzuhalten sowie fortschrittliche Wissenschaftler und ihre fachlichen und weltanschaulichen Positionen zu diskreditieren.598 Als 594 Kozicki, S. 190. 595 Unter den im Beschluss genannten 13 »Organisationen, deren Unterstützung mit den Dienstpflichten unvereinbar sind«, befanden sich die KPD, die FDJ, die Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion, der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands sowie die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Kritik kam speziell im Bezug auf jene Gruppen auch aus der DDR, die in den Berufsverboten den Versuch erkannte, einen Schlussstrich unter alle antifaschistisch-demokratischen und antiimperialistischen Ansätze und Bestrebungen der unmittelbaren Nachkriegszeit zu ziehen, die Positionen der Kommunisten als der konsequentesten antifaschistischen Kämpfer anzugreifen und abzubauen sowie schließlich, den Auf- und Ausbau der imperialistischen Staatsmacht ideologisch, politisch und personell auf dem Boden eines bedingungslosen Antikommunismus zu vollziehen. Vgl. Elm, S. 2 f. 596 Kozicki, S. 190 f. 597 Der recht allgemein gehaltene Begriff umfasste in Wahrheit sehr unterschiedliche Arten von Sanktionen. Horst Bethge und Erich Roßmann nannten in diesem Zusammenhang »vorzeitige Kündigung, Streichung von Berufungslisten und Nichterteilung von Lehraufträgen, Nichtverbeamtung, Nichtverlängerung befristeter Verträge und schließlich auch die Verweigerung einer der Qualifikation entsprechenden Stelle, Behinderungen durch Verzögerung der Berufungsverhandlungen und Hinausschieben der vertraglichen Fixierung bereits erfolgter Zusagen«. Bethge/Roßmann, S. 12 598 Kozicki, S. 190 f.
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Berufsverbote
gemeinsame Basis dieses sichtbaren politischen »Zeichens« schien sich der Antikommunismus zu erweisen.599 Die von dem Beschluss in erster Linie Betroffenen »schrien auf«, tauften die Beschlüsse der Ministerpräsidenten in »Radikalen-Erlaß« um, prangerten ihn als »Berufsverbot« an und zogen vor das Bundesverfassungsgericht.600 Dieses hingegen entschied: »Der Staat […] muß sich darauf verlassen können, daß der Beamte sich in dem Staat, dem er dienen soll, zu Hause fühlt: jetzt und jederzeit. Die politische Treuepflicht erfordert mehr als nur eine formal korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung.«601
Es bestand auf »innerer Treue«, weil es bei den Achtundsechzigern – und dazu gehörten neben den zukünftigen Lehrern auch Ärzte und Wissenschaftler – den inneren Bruch mit diesem Staat vermutete.602 Man wollte mit dem »ExtremistenBeschluß« einerseits den Willen zur Abwehr von Unterwanderungsbestrebungen bekräftigen, andererseits schlichtweg ein einheitliches Verfahren gewährleisten.603 Die Koalition aus SPD und FDP legte also einerseits mit dem Amnestiegesetz für Demonstrationsstraftäter ein Integrationsangebot vor, andererseits setzte sie mit dem Radikalenerlass ein Zeichen der Abschreckung.604 Jedoch wurden während des Zeitraums vom 1. Januar 1973 bis zum 30. Juni 1975 von insgesamt 454.000 Bewerbern in Bund und Ländern nur 235 (in der Regel linke) Bewerber abgewiesen.605 In Bonn beschäftigten sich die Medizinstudenten mit den Berufsverboten, indem sie sich mit betroffenen Medizinern solidarisch zeigten und ihre Empörung gegenüber jenen zum Ausdruck brachten, die Verständnis für die Sanktionen artikulierten.
7.1
Der Fall Thiée
Im Jahr 1976 war eine ehemalige Bonner Medizinstudentin von den Berufsverboten betroffen. Irmtraud Thi¦e wurde als Mitglied des MSB Spartakus606 in den 599 600 601 602 603 604 605 606
Vgl. Bethge/Roßmann, S. 16 f. Jäger, S. 84. Zit. n. Holl/Glunz, S. 13. Ebd. Jäger, S. 83. Vgl. Kraushaar, Denkmodelle, S. 25. Vgl. Jäger, S. 86. Der »Marxistische Studentenbund Spartakus« kam mit seinem eher gemäßigten politischen Auftreten zu einigen hochschulpolitischen Erfolgen und war 1974 mit 5.000 Mitgliedern der größte Studentenverband der Bundesrepublik. Erst mit dem Auftreten der linksalternativen Spontis ging sein Einfluss zurück. Vgl. Kleinert, S. 11.
Der Fall Thiée
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Jahren 1970 und 1971 ins Studentenparlament gewählt. Außerdem engagierte sie sich in der Fachschaft Medizin als Vertreterin der Bonner Medizinstudenten im Satzungskonvent der Universität607 und war von 1969 bis 1972 Mitglied der Basisgruppe Medizin.608 Um seine Solidarität zu zeigen, verfasste der MSB Spartakus ein Flugblatt, das zeigen sollte, warum Frau Thi¦e ihre Facharztausbildung nicht beenden durfte. Aktuell würde nämlich die Bundesrepublik »gründlich desinfiziert. Von Linken aller Art. […] Dem Südweststaat Hans Filbingers [damals Ministerpräsident von Baden-Württemberg] blieb es vorbehalten, uns nunmehr auch vor der Gefahr zu bewahren, nach unserem Tode möglicherweise von einem Arzt sozialistischer Gesinnung mit Hammer und Sichel obduziert zu werden.«609 Den Hintergrund hierzu erläuterte Frau Thi¦e in einem auf dem Flugblatt abgedruckten Interview: Demnach bewarb sie sich im März 1975 am Heidelberger Institut für Rechtsmedizin um eine Stelle als wissenschaftliche Angestellte, wo sie schwerpunktmäßig Leichen auf ihre Todesursache hin hätte untersuchen sollen. Obwohl ihr nach einem Vorstellungsgespräch der Institutsleiter die Stelle mündlich zusagte, erhielt sie wenig später die Mitteilung, dass vom zuständigen Ministerium Bedenken gegen ihre Einstellung erhoben worden waren. Im August wurde ihr dann mitgeteilt, dass eine andere Bewerberin die Stelle in Heidelberg erhalten habe. Sie selbst sah die Ursache für dieses Verfahren lediglich in ihren Aktivitäten für den MSB Spartakus, die DKP, die Basisgruppe Medizin und das Unterzeichnen von Aufrufen und Flugblättern begründet. Im November 1975 erhob sie Einspruch gegen das Verfahren und führte in diesem Zusammenhang Passagen aus dem Grundgesetz, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Internationalen Konvention über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Mai 1975 an. Trotzdem erhielt sie am 16. Februar des folgenden Jahres die Antwort des Kultusministeriums mittels eines Briefes vom Kanzler der Universität Heidelberg.610 Darin hieß es: »Die von Frau Thi¦e gewünschte Feststellung, daß die Zweifel an ihrer Verfassungstreue als ausgeräumt gelten, kann solange nicht getroffen werden, als sie sich nicht glaubhaft von den verfassungsfeindlichen Zielsetzungen der Organisationen, für die sie sich betätigte und die Anlaß zu diesen Zweifeln gaben, distanziert hat.«611
607 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt des MSB Spartakus anlässlich des Berufsverbotsverfahrens gegen Irmtraud Thi¦e, 29. 05. 1976. 608 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 35, Juli 1976, S. 3. 609 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt des MSB Spartakus anlässlich des Berufsverbotsverfahrens gegen Irmtraud Thi¦e, 29. 05. 1976. 610 Ebd. 611 Ebd.
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Berufsverbote
Dadurch fühlte sie sich als Mensch dritter Klasse behandelt, wollte jedoch gegen das Berufsverbot kämpfen und nach eigener Aussage so den Kampf für Demokratie in der Bundesrepublik mittragen. Dabei glaubte sie, dass sie sich in ihrer zwischenzeitlichen Resignation gerade in dem Sinne habe manipulieren lassen, wie es die Anwender der Berufsverbote wünschten. In dem Glauben, jene Resignation nun überwunden zu haben, half sie bei der Organisation einer Veranstaltung am 28. Mai 1976 in Heidelberg, zu der sie Presse, Rundfunk und Fernsehen einlud. Auch Gäste aus dem Ausland sollten berichten, wie in ihren Ländern über die Berufsverbote in Deutschland gedacht wurde. Schließlich verwies sie auf ein in Karlsruhe stattfindendes großes internationales Symposium gegen die Berufsverbote.612 Um ihre Solidarität zu zeigen, organisierte die »Gruppe Medizin/Zahnmedizin« des MSB Spartakus an der Universität Bonn Solidaritätsaktionen. Sie kritisierte, dass die berufliche Existenz konsequenter, von den Studenten demokratisch gewählter Interessenvertreter wegen ihres Engagements systematisch ruiniert würde und das trotz deren unbestrittenen fachlichen Qualifikationen. Ein Skandal in ihren Augen war weiterhin, dass der vom RCDS getragene AStA wie auch die Mitglieder der Studentengruppe Medizin offen die Berufsverbote verteidigten. Schließlich seien davon nicht nur Kommunisten, sondern alle Demokraten, insbesondere die gewählten Vertreter in Fachschaft und Studentenparlament bedroht. Die Parole lautete: »Schluss mit den antidemokratischen und verfassungswidrigen Bespitzelungen.« Stattdessen beharrte der MSB Spartakus auf freier politischer und gewerkschaftlicher Betätigung in Ausbildung und Beruf.613 Auch »med-INFO« meldete sich in diesem Konflikt zu Wort und unterstützte den Protest. Entrüstet stellte man fest: »Eine Kommunistin darf keine Leichen sezieren in einem Land, wo allgemeine Meinungsfreiheit herrschen soll!«614 Anlässlich der zentralen Demonstration des VDS am 18. Juni 1976 in Bonn wurden speziell die Mediziner in einem Flugblatt aufgerufen »gegen die Berufsverbote und soziale Demontage« und »für die Verteidigung der demokratischen Grundrechte der Verfaßten Studentenschaft« auf die Straße zu gehen. Daneben wollte man Forderungen nach materieller und personeller Absicherung während des Praktischen Jahrs mit dem Recht auf freie politische und gewerkschaftliche Betätigung auch auf einem »Hearing« in der Mensa Nasse-
612 Vgl. ebd. 613 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt des MSB Spartakus anlässlich des Berufsverbotsverfahrens gegen Irmtraud Thi¦e mit Hinweis auf die Veranstaltung »Hexenhammer Revue«, 02. 06. 1976. 614 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 34, Juni 1976, S. 4.
Der Fall Thiée
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straße äußern.615 »Med-INFO« berichtete kurz darauf, dass sich »die über 500 Teilnehmer des Bundeszentralen Mediziner-Hearings« mit Irmtraud Thi¦e solidarisiert hätten: »Weg mit dem Ausbildungs- und Berufsverbot für die approbierte Ärztin Irmtraut Thiee! Sofortige Anstellung von Irmtraut Thiee! Schluß mit allen Berufsverboten! Einstellung aller Betroffenen!« Man gab sich empört über die »nachträgliche[n] Kriminalisierung aktiver Kommilitonen« und kritisierte, dass trotz wachsenden nationalen und internationalen Protestes die Berufsverbotepraxis nicht nur aufrecht erhalten, sondern auch noch auf den (anscheinend heiligen) Bereich der Gesundheitsversorgung und medizinischen Ausbildung ausgedehnt werde.616 Der MSB Spartakus warb aus demselben Anlass für die von der »Bonner Bürgerinitiative gegen die Berufsverbote« organisierte »Hexenhammer Revue« am 4. Juni 1976 in der Aula des Beethovengymnasiums in der Adenauerallee. Gezeigt werden sollten dort »Acht garstige Scenen von Hexen, Radikalen und Inquisitoren«, die offenbar Parallelen ziehen sollten zwischen dem Radikalenerlass und der Hexenverfolgung beziehungsweise Inquisition.617 Diese einzige dokumentierte Fall eines Berufsverbotes, in dem eine ehemalige Medizinstudentin aus Bonn verwickelt war, kann als recht exemplarisch für die damalige Handhabung des Radikalenerlasses angesehen werden. Die Reaktion des MSB Spartakus zeigt, dass dieser sich in seiner Haltung zum deutschen Staat beziehungsweise zur Gesellschaft bestätigt sah. Frei nach dem von Peter Mosler formulierten Motto »Sie haben den Täter, die Tat wird sich schon finden.« kritisierte man, dass – obwohl Vorsatz im Allgemeinen nicht strafwürdig ist – eben solche »Gedankenverbrechen« als Straftat angesehen wurden, die gegen den politischen Konsens, den ideologischen Konformismus verstießen. Das Bekenntnis zum Kommunismus allein schien bereits eine Straftat zu sein.618 Hinter dem Beschluss der Ministerpräsidenten sah man den Versuch reaktionärer Kräfte, mit Hilfe des antikommunistischen Instrumentariums alle Demokraten zu treffen, die sich für den demokratischen Ausbau der Gesellschaft einsetzten. So sehr man diesen Beschluss in die Tradition seiner geschichtlichen Vorbilder in der Unterdrückung linker Bewegungen einordnete, so schien er sich doch in seinen Motiven erheblich von diesen zu unterscheiden. Waren diese demnach früher zumeist eng mit einer offen aggressiven Politik nach außen verknüpft, so wirkte der aktuelle Beschluss aus der Ohnmacht einer historischen Defensive 615 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt »FSV-MED. INFO – Extra[.] Mediziner! Auf zur VDS – DEMO am 22.6«, 18. 06. 1976, S. 1. 616 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 35, Juli 1976, S. 3. 617 UAB, Flugblattsammlung Med. Fak., Ordner »Fachschaftsinfos«, Flugblatt des MSB Spartakus anlässlich des Berufsverbotsverfahrens gegen Irmtraud Thi¦e mit Hinweis auf die Veranstaltung »Hexenhammer Revue«, 02. 06. 1976. 618 Mosler, S. 125.
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Berufsverbote
gezeugt.619 Durch die Behauptung, das Bekenntnis zu den Theorien von Marx, Engels und Lenin sei mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht zu vereinbaren, schien damals die Traditionslinie dieser unheilvollen deutschen Geschichte fortgesetzt.620 Auch die Bonner Achtundsechziger fühlten sich als die »Vollstrecker des Weltgeistes«, als Freiheitskämpfer, die im Auftrag der historischen Notwenigkeit für die nachfolgende Geschichte der Bundesrepublik eine heilsame Mission zu erfüllen hatten: Sie wollten den Staat, in dem sie lebten, zu einer brauchbaren Demokratie und zu einer wirklich modernen Gesellschaft entwickeln.621 Zu dieser Haltung passte auch der recht überspitzte Vergleich mit der Hexenjagd622. Als ein Jahrhunderte altes, längst überholtes Phänomen symbolisierte er die aggressive Repression des Staates, der sich mit fadenscheinigen Begründungen seiner unangenehmen Gegner entledigen will. Flugblätter als Artikulationsform von Erschrecken und Empörung spielten eine wichtige Rolle bei den Protestaktionen, um die Öffentlichkeit über die eigenen Ziele zu informieren und sie schließlich auch zu mobilisieren.623 So bilden die beiden Flugblätter Irmtraud Thi¦e betreffend die einzige ergiebige Quelle zu diesem Thema. Darüber, ob der Protest erfolgreich war, berichtet die Studentenpresse nicht. Wahrscheinlich ist, dass Frau Thi¦e die Anstellung in Heidelberg nicht mehr erhielt, zumal diese ja bereits an eine andere Bewerberin vergeben worden war. Wäre der MSB Spartakus beziehungsweise der Rechtsweg ihres ehemaligen Mitglieds erfolgreich gewesen, hätte eine Zeitschrift wie »med-INFO« sicher triumphierend darüber berichtet. Was bleibt, ist das Bild einer gespaltenen Gesellschaft, die unter dem Eindruck der Studentenrevolte unter anderem über eine Politik der Berufsverbote versuchte, den großen Einfluss der linken Bewegung auf die Veränderungsprozesse der Gesellschaft einzudämmen. Ob das mit jenem Mittel erreichbar war, darf rückblickend bezweifelt werden.
Vgl. Bethge/Roßmann, S. 20 f. Vgl. ebd., S. 19. Wolfrum, S. 33. Denselben Begriff verwendete auch Erich Frister, Vorsitzender der GEW. Er kommentierte die Berufsverbote folgendermaßen: »Wenn an Schulen und Hochschulen und in ihrem gesellschaftlichen Umkreis eine Atmosphäre der Hexenjagd geschaffen und ein Zustand der sich duckenden, ängstlichen Anpassung herbeigeführt wird, dann ist dies auch eine Gefahr für Verfassung und Gesellschaft. Die Verfassung kann nicht durch Verletzung der Rechtsstaatlichkeit geschützt werden, und für die Demokratie notwenige Zivilcourage erreicht man nicht durch Einschüchterung.« Zit. n. Bethge/Roßmann, S. 21. 623 Vgl. Liehr, S. 23. 619 620 621 622
Der Fall Mausbach
7.2
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Der Fall Mausbach
War ein Mediziner vom Berufsverbot betroffen, so befand er sich in einer nicht ganz so dramatischen Lage wie beispielsweise Lehrer, denn die verschiedenen Gesundheitseinrichtungen ließen eine gewisse Arbeitsplatzflexibilität der jungen Ärzte zu. Selbst bei sich zuspitzenden Konflikten blieb schließlich der Ausweg in die private oder Kassenarztpraxis. Andererseits hatte in den Augen der Achtundsechziger vor allem im Krankenhaus die strenge Hierarchie eine soziale Disziplinierung der abhängig arbeitenden Ärzte zur Folge, die mit der vorwiegend konservativen Grundhaltung, Erziehung und Herkunft der Ärzte korrelierte. Die ärztliche Standeshierarchie mit ihrer wissenschaftsfremden finanziellen Grundlage, die Zwangsorganisation aller Ärzte in den Ärztekammern und die sozialpolitische Reaktion der meisten Ärztefunktionäre erschwerten demokratische Bestrebungen und gewerkschaftliche Organisierung der jungen Ärzte.624 Neben Irmtraud Thi¦es Kampf gegen die so genannten Berufsverbote thematisierte die studentische Presse noch einen weiteren Arzt, der vom Radikalenerlass betroffen war. Das Schicksal von Dr. Hans Mausbach wurde von »medINFO« aufgegriffen, um exemplarisch zu zeigen, wie die herrschenden Kreise des westdeutschen Gesundheitswesens eine breit angelegte Disziplinierungskampagne gegen fortschrittliche Kritiker des Gesundheitswesens durchführten. Das Nord-West-Krankenhaus in Frankfurt am Main hatte Mausbach auf Grund seiner Thesen, in denen er Reformen in der Medizin verlangte, mit sofortiger Wirkung (zum 1. April 1970) entlassen625 und als nachgeordneten Assistent auf eine andere Station versetzt. Am 13. Oktober wurde er dann gänzlich vom Dienst suspendiert.626 Auch aus der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie wurde er ausgeschlossen. Seiner Auffassung nach sollte die Medizin als soziale Wissenschaft begriffen und praktiziert werden. Neben einer Neubestimmung des ArztPatienten-Verhältnisses insistierte er weiterhin auf Mitbestimmung am Arbeitsplatz Krankenhaus und einer Demokratisierung aller Institutionen des Gesundheitswesens.627 In dem am 20. September 1970 in der ARD ausgestrahlten Film »Halbgott in Weiß«, der sich unter anderem628 mit der Kritik an der hierarchischen Struktur in den Krankenhäusern befasste629, erklärte Mausbach: 624 625 626 627 628
Vgl. Bethge/Roßmann, S. 308. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 11, 24. 06. 1971, S. 9. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 7/1970, S. 16. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 11, 24. 06. 1971, S. 9. Daneben kritisierte Mausbach in dem Film weitere Missstände im Gesundheitswesen. Die Frankfurter Rundschau zitierte ihn in einem Artikel vom 7. Oktober 1970, den »medINFO« abdruckte: »Der Kampf um Laufbahn, Macht, Prestige und Geld wird auch auf dem Rücken der Patienten ausgetragen. Einige Beispiele von vielen: 1. Experimente am Men-
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Berufsverbote
»Klassengegensätze sind auch in den Institutionen des Gesundheitswesens oberflächlich verschleiert durch Ideologie und Praxis so genannter sozialer Gerechtigkeit. Klasseninteresse ist verantwortlich für die Beibehaltung mittelalterlicher, antidemokratischer Rangordnung in den Krankenhäusern […]. Die versteinerten Rangordnungen sind Leitschienen der Formierung von oben nach unten.«630
Der Direktor der Chirurgischen Klinik in Frankfurt, Professor Ungeheuer, begründete die Versetzung beziehungsweise Entlassung, indem er feststellte, dass Mausbach das Vertrauen der Assistenz- und Oberärzte verloren habe und speziell die Verhältnisse an seinem Krankenhaus kritisiert habe. »Med-INFO« druckte daraufhin eine Solidaritätsadresse an Mausbach, die am 8. Oktober 1970 verschickt wurde. Unterzeichnet wurde sie von der Basisgruppe Medizin, den Fachschaften Medizin und dem nicht näher vorgestellten »Kritischen Arbeitskreis Krankenpflege«. Die Reaktionen des Direktors und der ihm unterstehenden Oberärzte und Assistenten wertete das Blatt darin als »Beispiel für die Identifizierung der Unterdrückten mit ihren Unterdrückern«, das noch einmal bewiesen hätte, wie wichtig und notwendig der Fernsehbeitrag gewesen sei.631 Verächtlich verkündete man: »Die Ordinarien-Chef-Ärzte, Fossilien aus der Feudalzeit, willige Handlanger des Systems, solange ihre Pfründe unangetastet bleiben […], sind selbst für das Kapital heute unökonomisch geworden. Die kapitalistisch-technokratische Hochschulreform hat ihnen den Kampf angesagt. In ihrer Agonie empfinden sie daher selbst demokratische Gepflogenheiten als einen Angriff auf ihre Freiheit, der Freiheit, im kranken Menschen ein Objekt ihrer Macht- und Profitinteressen zu sehen.«632
Zwar sicherte man Mausbach die volle Unterstützung zu, beharrte aber darauf (was der Adressat offenbar nicht behauptet hatte), dass ein wirklich menschenwürdiges Gesundheitswesen nur in der sozialistischen Gesellschaft verwirklicht werden könne, »wo es primäres Ziel der Medizin sein wird, Gesundheit und Glück des Menschen zu sichern und nicht, wie in [der] kapitalistischen
629 630 631 632
schen dürften nach dem Sinngehalt unserer Verfassung nur nach Aufklärung und Einwilligung der Betreffenden durchgeführt werden. 2. Kommerzielle Interessen fließen gelegentlich sogar unmittelbar in die Operationsentscheidung ein, ohne daß die Betroffenen etwas davon ahnen. 3. Mit der Gefälligkeitspublizistik für die pharmazeutische Industrie, für die die Kranken als Versuchsobjekt dienen, könnte man eine ganze pseudowissenschaftliche Bibliothek füllen. Dieses System produziert Unselbständigkeit, Karrieristentum um jeden Preis, gebrochenes Rückgrat am Fließband. Der Assistenzarzt, der unter solchen Bedingungen sich zum Oberarzt hochgekrochen hat, wird als Chefarzt im Kreiskrankenhaus die Last der erlebten Demütigung auf seinen neuen, ihm wiederum hilflos ausgelieferten Untergebenen abwälzen. Ein Teufelskreis, den wir endlich durchbrechen müssen.« UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 7/1970, S. 16. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 9/1971, S. 11. Ebd. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 7/1970, S. 16. Ebd.
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Medizin lediglich die Wiederherstellung der menschlichen Arbeitskraft«.633 Diese doch recht gewagte Prognose lässt einen wichtigen, von Norbert Klein treffend beschriebenen Charakterzug der Neuen Linken erkennen: »An die Stelle gesellschaftlicher Aufklärung über die Vergangenheit zum Zwecke einer pragmatischen Veränderung der Gegenwart trat die Zurichtung von Geschichte mit dem Ziel ihrer Aufhebung – im wahren Sozialismus.«634 Die Tatsache, dass sich Mausbach vergeblich auf das Grundrecht der freien Meinungsäußerung berief, wertete »med-INFO« noch im folgenden Jahr als Beweis dafür, dass demokratische Reformen in allen gesellschaftlichen Bereichen immer auf den entschlossenen Widerstand der herrschenden Kreise stoßen würden und dass diese nur gegen diese Kräfte und deren Verbündete durchgesetzt werden könnten.635 Horst Bethge und Erich Roßmann erklären in ihrer Dokumentation der Fälle des Widerstands gegen das Berufsverbot, der Fall »Dr. Mausbach« sei ein Beispiel dafür gewesen, dass eine Kritik an den »Halbgöttern in Weiß« mit dem Entzug der Anstellung beantwortet werde. Wer das Nest reinigen wolle, werde als Nestbeschmutzer diffamiert. Dass der ÖTV-Arzt Mausbach zwar Recht vor dem Arbeitsgericht bekam und die Kündigung für unwirksam erklärt wurde, er aber faktisch trotzdem »außen vor« geblieben sei, bewerteten sie darin so, dass die systembedingte Macht »Fortschrittsfeindlichkeit« nicht allein arbeitsrechtlich habe durchbrochen werden können.636 Offenbar noch vor diesem Richterspruch stellte sich Dr. Mausbach am 6. Mai 1971 dem Bonner AStA unentgeltlich für eine Veranstaltung zu Verfügung, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits arbeitslos war. Der AStA schlug daraufhin dem Studentenparlament vor, 200 DM an den »Solidaritätsausschuss Dr. Hans Mausbach« zu überweisen, um »den Kampf um die Realisierung des Grundrechtes auf freie Meinungsäußerung zu unterstützen«. Gegen die Stimmen von RCDS und LHB wurde der Antrag angenommen.637 In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau, das »med-INFO« abdruckte, hatte Mausbach zuvor zu den Solidaritätsadressen des hessischen Ministerpräsidenten und des Münchner Oberbürgermeisters Stellung genommen. Er zeigte sich in »med-INFO« erfreut darüber und erklärte, er sehe in diesem Bekenntnis zum Artikel 5 des Grundgesetzes das Recht der Ärzte »in abhängigen Stellungen«, die Verhältnisse in ihrem Berufsbereich zu kritisieren und Reformen anzustoßen, gestärkt. Ganz im Sinne der empörten Medizinstudenten erklärte er, die Erkenntnis, dass die Medizin eine soziale Wissenschaft sei, setze sich zunehmend durch. Dazu gehöre es, das Arzt-Patienten-Verhältnis zu er633 634 635 636 637
Ebd. Klein, S. 86. Vgl. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 11, 24. 06. 1971, S. 9. Bethge/Roßmann, S. 308. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 11, 24. 06. 1971, S. 9.
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neuern, Mitbestimmung am Arbeitsplatz Krankenhaus und Demokratisierung der Institutionen des Gesundheitswesens einzufordern.638 Die Achtundsechziger bewiesen hier aufs Neue, dass es sich bei ihrer Revolte um eine spontaneistische, antiautoritäre und antiinstitutionelle Bewegung handelte, die insbesondere von bildungsnahen Gruppen getragen wurde. Die entscheidende Verhältnisbestimmung zwischen der Gesellschaft und den Aktivisten lässt sich hier exemplarisch mit der Kategorie der so genannten Entfremdung639 fassen, die eine grundsätzliche Distanz der Aktivisten (hier vertreten durch den Arzt Dr. Mausbach) gegenüber der Gesellschaft anzeigte.640 Klaus Scherpe zufolge wurde die Gesellschaft gleichzeitig in jeder Protestaktion stets aufs Neue als ganz und gar autoritär vorgestellt sowie entlarvt und funktionierte eben deshalb wie ein Jungbrunnen für die antiautoritäre Haltung.641 Auch die Möglichkeit, im RCDS beziehungsweise in der Studentengruppe Medizin einen Gegner beziehungsweise Stellvertreter des verhassten »Systems« zu identifizieren, musste die Unterstützer Dr. Mausbachs in ihrer Haltung bestärken und in ihrem Bewusstsein einer extremen Polarisierung verharren lassen. Bemerkenswert ist dabei, dass die Studenten die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung zwar durchweg mit Repression assoziierten, sich jedoch stets auf die ihnen laut Grundgesetz zustehenden Rechte beriefen, wenn sie sich in der Defensive sahen. Die grundsätzlich bejahten Rechte wurden offenbar in ihren Augen von den Repräsentanten dieser Ordnung nicht glaubhaft vertreten. Auch wenn die Bedenken gegen die Berufsverbote nicht unberechtigt sein mochten und Dr. Mausbachs Forderungen womöglich richtige Ansätze enthielten, muss hier angesichts der unangemessenen Radikalität im Sinne eines gesellschaftlichen Umsturzes doch von einer widersprüchlichen Haltung gesprochen werden, die mehr an Identitätssuche denn an entschlossene Demokratisierung der Gesellschaft denken lässt. Wolfgang Schmidbauer, der sich einen »heute geschärften Blick« bescheinigt, erkennt neben unbestreitbarer Aufbruchstimmung und dem Gestus einer Veränderung der Gesellschaft zu wirklicher Freiheit, Emanzipation und Gerechtigkeit bei den Jugendlichen von 1968 zahlreiche 638 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 10, Mai 1971, S. 20. 639 Der Begriff »Entfremdung« wurde von den rebellierenden Studenten beziehungsweise ihren Vordenkern häufig verwendet. Er beschreibt Diskrepanzen zwischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und individuellen Wünschen, Werten, Bedürfnissen, oder Erwartungen, sowie auf hiermit zusammen hängende subjektive Befindlichkeitsfolgen. Diese subjektiven Erlebnis- und Erfahrungssachverhalte sind dabei negativer Natur und in gesellschaftlichen Verhältnissen begründet. Vgl. Klages, S. 21. Dr. Mausbach wird in diesem Fall zum Musterbeispiel für einen entfremdeten Menschen stilisiert, der die Widersprüche des Systems Krankenhaus beziehungsweise Gesellschaft nicht mehr stillschweigend ertragen kann. 640 Vgl. Fietze, S. 4. 641 Vgl. Scherpe, S. 103.
Der Fall Mausbach
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Hinweise auf narzisstische Mechanismen: fanatische Neigungen, Schwarzweißmalerei, eine kaum entwickelte Diskussionskultur, wenig Selbstdistanz und Humor.642 Hinter all den Emotionen, die sich im Zusammenhang mit den Diskussionen um die Berufsverbote entluden, stand jedoch immerzu die gesellschaftliche Herausforderung, sich mit den oft radikal staatsfeindlichen Auswüchsen der Achtundsechziger-Bewegung auseinanderzusetzen und ihr mit rechtsstaatlichen Mitteln Paroli zu bieten. Der Aufschrei der Betroffenen legt nahe, dass die Maßnahmen – ob zu Recht verhängt oder nicht – einen wunden Punkt trafen: die berufliche Zukunft der Studenten. Hier bekamen die Revolutionäre wahrscheinlich erstmalig die Konsequenzen ihres Handelns zu spüren und reagierten fassungslos.
642 Schmidbauer, S. 175.
8.
Forschung und Wissenschaft
Ein Grundzug der Achtundsechziger war, sich nicht nur über Lehre und Erziehung, sondern auch über den Wissenschaftsprozess Mitbestimmungsrechte zu sichern. Zum ersten Mal, so schreibt Oskar Negt, habe es in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft eine diskutierte Öffentlichkeit in den Universitäten und Schulen gegeben, in der die Mitbestimmungsforderungen eine ganz neue Dimension angenommen hätten, nämlich ihre Erweiterung auf Demokratie als Lebensform.643 Wie in diesem Kapitel gezeigt werden soll, entwickelte sich auch in Bonn das Gebiet der Wissenschafts- und Forschungskritik zu einem wichtigen Thema. Während die studentischen Presseorgane einerseits allgemein den Zustand der westdeutschen Wissenschaft aufgriffen und kritisch bewerteten, wurde im »Bund Freiheit der Wissenschaft« ein neuer Gegner im Kampf um Veränderungen auf diesem Gebiet gefunden. Schließlich sorgte auch angebliche Bonner »Vernichtungsforschung« für das Pentagon für Aufsehen.
8.1
Allgemeine Kritik: Politische Medizin
Bevor »med-INFO« das Thema Forschung im Jahr 1970 thematisierte, setzte sich die Zeitschrift »akut« bereits 1968 für studentische Mitbestimmung im Rahmen der universitären Forschung ein. Unter dem Titel »Gefährden die Studenten die Forschung an der Uni?« nahm das Blatt Stellung zu einer Erklärung, die von den Präsidenten der Westdeutschen Rektorenkonferenz (Professor Hans Rumpf644), der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Professor Julius Speer645) und der 643 Vgl. Negt, S. 6. 644 Hans Rumpf (1911 – 1976) war ein deutscher Ingenieur, der 1957 zum Ordinarius und Direktor des Instituts für Verfahrenstechnik der TH Karlsruhe ernannte wurde. Das Amt des Präsidenten der Westdeutschen Rektorenkonferenz hatte er von 1968 bis 1971 inne. Vgl. Vierhaus, S. 629 645 Julius Speer (1905 – 1984) war ein deutscher Forstwissenschaftler. Nach seiner Präsidentschaft der Westdeutschen Rektorenkonferenz von 1962 bis 1964 war er für drei
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Max-Planck-Gesellschaft (Professor Adolf Butenandt646) veröffentlicht worden war. Darin forderten sie die Parlamente und Parteien auf, die Hochschulgesetze647 so auszurichten, dass die Forschung lebensfähig bleibe und im internationalen Wettbewerb bestehen könne. Laut »akut« enthielt die Erklärung zwar eine korrekte Analyse der Stellung der Forschung in der Universität, zeichne sich aber sonst vor allem durch »mehr oder weniger offene Polemik studentische[r] Mitbestimmung« aus. Ihre Forderungen nach einem »Klima des Vertrauens und der Gelassenheit« wertete die Studentenzeitschrift so, als seien aufmüpfige Studenten einem solchen Klima nicht förderlich und daher unerwünscht. Die Befürchtung der Professoren, dass Vertreter von Gruppen, die nicht aktiv an der Forschung beteiligt seien (wie etwa Studenten) und trotzdem mit Mehrheitsentscheidungen Aufgabenstellungen der Forschung beschließen könnten, entbehre jeder Grundlage, »denn wo gibt es schon einen Hochschulgesetzentwurf, der in grobfahrlässiger Weise den Professoralen Sachverstand in den wichtigen Entscheidungsgremien in die Minderheit bringt?« Über die Einstellung und Entlassung wissenschaftlichen Personals sollten nach Meinung der Verfasser des Dokuments nur Personen bestimmen, die mindestens die gleiche wissenschaftliche Qualifikation besäßen. »Akut« hielt dagegen: »Bisher haben mittelAmtszeiten Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Unentwegt kämpfte er gegen den Etatismus in der Hochschulverwaltung: Der »magische Begriff der Gleichheit« gelte nicht für die Wissenschaft. Vgl. Scheifele, S. 434; Rubner, S. 247, 249. 646 Adolf Butenandt (1903 – 1995) wurde zu Beginn des Dritten Reiches mit erst 30 Jahren ordentlicher Professor für Organische Chemie an der TH Danzig. 1936 nach Berlin berufen als Direktor des Kaiser-Wilhelm-Institutes für Biochemie, erhielt er 1939 für seine Forschungen über die Sexualhormone den Nobelpreis für Chemie, den er im Dritten Reich jedoch nicht annehmen durfte. 1960 bis 1972 war Butenandt Präsident der Max-PlanckGesellschaft. Vgl. Schieder/Trunk, S. 7 f. 647 Insbesondere die Schwierigkeit, im Rahmen der althergebrachten Ordinarienuniversität Schritte zu einer in den Augen vieler Studenten längst überfälligen Reform des Hochschulwesens durchzusetzen, schärfte laut Wolfgang Kraushaar unter den Studierenden das Bewusstsein vom Zusammenhang zwischen Hochschulreform und Demokratisierung. Mit diesem entscheidenden Stichwort »Demokratisierung« war zwar etwa auf Vollversammlungen durchaus etwas anzufangen, nicht aber beispielsweise im Rahmen der sachlichen Arbeit am Problem überfüllter Vorlesungen oder Seminare. Als die Aktivisten dann erkennen mussten, dass Universität und Kulturbürokratie damit begannen, mittels Reformen Missstände insbesondere in den stark überlaufenen Fächern zu beheben, wandten sie sich mit unterschiedlichen Aktionen gegen die so genannte »technokratische Hochschulreform«. Schon zu diesem Zeitpunkt war das hochschulpolitische Engagement zu einem Vehikel der Neuen Linken geworden, um eine Massenbasis für ihre allgemeinpolitischen Aktivitäten zu gewinnen und zu halten. Womöglich ist das der Grund dafür, warum die politischen Studentenorganisationen zwar schon früh in den Debatten um Bildungs- und Hochschulreformen eine wichtige Rolle spielten, andererseits aber alle Deutungen nicht überzeugen konnten, die in der Achtundsechziger Revolte eine Interessenbewegung für die Bedürfnisse der Studenten sehen wollten. Letztlich blieben im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Hochschulreform die »hochfliegenden revolutionären Erwartungen« auf ganzer Linie unerfüllt. Kraushaar, Denkmodelle, S. 16, 25; Kleinert, S. 10; Busche, S. 52.
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mäßige Ordinarien es auch nicht gescheut, bei Berufungen von Spitzenkräften mitzuwirken, haben sie dies ohne den notwendigen Sachverstand getan oder sollten sie sich gar angemaßt haben, ebenso genial zu sein wie der zu Berufende?« Die Behauptung, die Studenten gefährdeten durch ihre Mitsprache die Forschung, wurde daher als absurd verworfen. Forderungen der Studierenden, nach denen Beratungen zur Forschung öffentlich stattfinden sollten, wies man gleichzeitig zurück, da man »die Unmittelbarkeit sachorientierter Diskussion und die Möglichkeit, in voller Offenheit Argumente anzuerkennen«, gefährdet sah – selbstverständlich entgegen der Auffassung von »akut«.648 Insgesamt verfehle die Erklärung den Kern der Gefahren, die die Hochschulgesetze mit sich brächten und lasse klare Forderungen nach ausreichenden rechtlichen Regelungen und haushaltsmäßiger Absicherung der Hochschulfinanzierung vermissen. Auch fragte sich »akut«, ob eine Zusammenarbeit mit Professoren, die in den Denkmustern der Erklärung dachten, überhaupt möglich sei. Denn die »Ordinarienvertreter« seien mit ihrer Haltung für die Forschung eine viel größere Gefahr als eine vermeintlich übermäßige studentische Beteiligung an Entscheidungen.649 Dieser Artikel zeigte bereits an, in welche Richtung die Forderungen in den folgenden Jahren auch unter den Medizinstudenten gehen sollten: Forschung sollte »demokratisiert« und transparent werden. Die etablierten Strukturen und Entscheidungsprozesse wurden hinterfragt oder gleich ganz abgelehnt. Die Bonner Studenten reihten sich also in die universitären Reformbestrebungen der sechziger Jahre ein, welche die überkommenen Strukturen der klassischen Ordinarienuniversität auflockern und kollektive Bezüge – beispielsweise in Form von Teamarbeit – stärken wollten. Diese Reformbestrebungen gingen zu der damaligen Zeit mitunter so weit, dass jede institutionelle Struktur und Hierarchie als einengende, zu Gunsten kollektiver Bezüge aufzuhebende Grenze galt.650 Zur Annahme solcher radikaler Auswüchse liefert der Artikel allerdings keine hinreichenden Beweise. An der Medizinischen Fakultät brauchte man etwas länger, um Entsprechendes zu thematisieren. »Med-INFO« startete zwei Jahre später mit einer Analyse, die die Forschung grundsätzlich in zwei gesellschaftliche Bereiche einteilte, den privatwirtschaftlichen und den öffentlichen (Universität, staatliche und halbstaatliche Forschungsinstitute). Letzterer wurde sowohl hinsichtlich Finanzierungsfragen als auch Forschungsinhalten untersucht: Unter Berufung auf den Bundesforschungsbericht 1969, der die Forschungsausgaben des Gesundheitsministeriums mit 43 Milliarden DM (Vertei648 UAB, Sammlung »akut«, Ursula Schaaber in akut Nr. 52, 21. 05. 1968, o.S. 649 UAB, Sammlung »akut«, Ursula Schaaber in akut Nr. 52, 21. 05. 1968, o.S. 650 Vgl. Kießling, S. 83.
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digungsministerium: 1,07 Milliarden DM Forschungsausgaben!) bezifferte, lautet das Urteil dort von vornherein: »Die finanzielle Situation der medizinischen Forschung in der BRD ist, abgesehen von einigen Prestigeobjekten, bekanntermaßen desolat.« Der Grund hierfür war rasch gefunden. Es handele sich bei dieser (außerhalb der Industrie lokalisierten) Forschung um eine soziale und kulturelle Aufgabe, die weder den direkten ökonomischen Interessen noch der unmittelbaren Machtabsicherung der Herrschenden diene. Damit müsse sie auch in den öffentlichen Haushalten unterrepräsentiert sein. Die Strukturen innerhalb der einzelnen Institutionen seien dabei ebenso unzureichend wie die Koordination zwischen den einzelnen Disziplinen und jene zwischen den einzelnen Instituten, so untragbar, dass sogar innerhalb des Systems Kritik beispielsweise durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und den Wissenschaftsrat geäußert werde. Unklar bleibt allerdings, woraus diese Kritik bestanden haben soll. Zudem lähme eine »veraltete und rational nicht begründbare Hierarchie mit dem Großordinarius oder Direktor an der Spitze« die Forschung. Die allgegenwärtige und absolute Entscheidungsgewalt eines fachlich weniger qualifizierten Direktors, der in erster Linie an seinem Image interessiert ist, wurde dabei mit dem wissenschaftlichen Mittelbau beziehungsweise Nachwuchs kontrastiert, der, permanent frustriert, die eigentliche Forschungsarbeit leiste, während seine Kreativität unterdrückt werde. Die von DFG und Wissenschaftsrat geforderte Strukturreform, die unter anderem Teamwork, Spezialistentum und Departmentsystem fordert, ließ »med-INFO« jedoch nicht als Schritt in die richtige Richtung gelten, da sie lediglich ein quantitatives Plus an Forschungsergebnissen als Ziel verfolge. Vermisst wurde hingegen die Frage nach Inhalt und gesellschaftlicher Relevanz von Forschung. Systemkonforme Kritik sei jedoch nicht dazu in der Lage, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen, weil sie am Tabu »Freiheit der Forschung« rütteln würde.651 Die Haltung, die sich hier zeigte, wurde maßgeblich durch die so genannte Kritische Universität652 geprägt. Sie ließ nicht mehr das kapitalistische Gewinninteresse, sondern menschliche Lebensbedürfnisse das wissenschaftliche Forschen bestimmen. Wissenschaft sollte keinem dem Lebensprozess äußerli651 UAB, Sammlung »akut«, Med-INFO Nr. 3/1970, S. 3. 652 Ulrich K. Preuß definierte die Kritische Universität als »öffentliche[n] Prozess einer Klärung der gesellschaftlichen Bedürfnisse, für deren Befriedigung die Studenten lernen«. Ihren Anfang nahm die »studentische Selbstbelehrung« mit Beginn des Wintersemesters 1967/68 an der FU Berlin. Das konkrete Veranstaltungsprogramm hatte amerikanische Vorbilder und räumte – wie eine Hochschuldenkschrift des SDS bereits gefordert hatte – »permanente Hochschulkritik und praktische Studienreform« die höchste Priorität ein. Daneben wollte man die politische Praxis verbreitern und intensivieren mit dem Ziel, die Studenten auf die Wissenschafts- und Gesellschaftspolitik in ihren künftigen Berufen vorzubereiten. Vgl. Kießling, S. 80; Klein, S. 125.
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chen (triebfremden, dinglich-materiellen) Interessen mehr dienen, sondern unmittelbar und ausschließlich im Dienst der Triebsteigerung, des (gegen-) gesellschaftlichen Lebensprozesses stehen.653 Die Freiheit der Forschung, die von den Gegnern solcher Forderungen offenbar häufig angemahnt wurde, gab es nach dieser Theorie zum Teil gar nicht: »Med-INFO« nutzte die Aufteilung der Bundesärztekammer, die zwischen Auftrags- und Grundlagenforschung unterschied, um darauf hinzuweisen, dass Auftragsforschung, die entweder im Dienst des Staates oder der Industrie durchgeführt werde, höchstens in der Wahl ihrer Methoden, aber niemals inhaltlich frei sein könne. Die Grundlagenforschung vor allem der theoretischen Institute sei dagegen in hohem Maße von Zuwendungen der Industrie unterschiedlichster Art (Finanzierung beispielsweise von Forschungsvorhaben, Kongressen, Zeitschriften und Apparaturen) abhängig, sodass auch hier nicht von Freiheit gesprochen werden könne. Ohnehin sei der Begriff Forschungsfreiheit falsch definiert, da er nach bürgerlichem Verständnis lediglich eine unkontrollierte Selbsttätigkeit des Forschers bezeichne, der durch nichts gezwungen werde, die Relevanz seiner Forschung gegenüber der Gesellschaft zu belegen.654 Allein eine Demokratisierung und Politisierung der Wissenschaft schien also im Stande, wissenschaftliche Produktion an den Lebensinteressen der Menschen auszurichten.655 Für die Medizin hieß das: »Objekt jedweden ärztlichen Handelns, somit auch der medizinischen Forschung, ist nicht der kranke Organismus, sondern der kranke Mensch in all seinen gesellschaftlichen Bezügen.« Zwar räumt »medINFO« ein, diese Haltung werde auch von der so genannten traditionellen Medizin vertreten, jedoch nicht verwirklicht, was man daran erkennen könne, dass Disziplinen wie Geriatrie, Sozial-, Präventiv- und Arbeitermedizin, Psychosomatik und Medizinsoziologie vernachlässigt würden, obwohl sie im Interesse der gesamten Bevölkerung lägen. Der Staat, der als einzige Institution in der Lage schien, dieses fundamentale Bedürfnis zu verwirklichen, sei jedoch vom Interesse der Herrschenden bestimmt. Medizinische Forschung entwickelte demnach Methoden, die defekte Arbeitskraft so rationell und effektiv wie möglich zu reparieren, und kümmerte sich nicht um den eigentlichen Krankheitsfaktor, die Gesellschaft.656 Die (antiautoritäre) Ablehnung der politischen Verhältnisse ging hier also mit einer tiefen Aversion gegen den Staat überhaupt einher, der, wie Rudi Dutschke meinte, nur der Herrschaft diene, »als eine Boa
653 654 655 656
Vgl. Kießling, S. 81. UAB, Sammlung »akut«, med-INFO Nr. 3/1970, S. 3. Vgl. Kießling, S. 103. UAB, Sammlung »akut«, med-INFO Nr. 3/1970, S. 3 f.
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constrictor die ganze Gesellschaft umfasst, um die Möglichkeit der Befreiung […] immer wieder zu verhindern«.657 Eine konsequent betriebene arbeitsmedizinische Forschung sollte stattdessen den ausbeuterischen Charakter der Gesellschaft enthüllen, die den Arbeiter zwang, ohne Rücksicht auf die Gesundheit seine Arbeitskraft im Produktionsprozess an den Kapitalisten und zu dessen Bedingungen zu verkaufen. Der vernachlässigten Psychosomatik würde die Aufgabe zufallen, den unbewältigten Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft als ätiologischen Faktor aufzudecken und damit letztlich die Inhumanität der Gesellschaft.658 Geht man von solchen Voraussetzungen aus, so wird klar, warum die Studenten einen radikalen Wandel forderten. Nach ihrer Theorie konnte den Herrschenden an solchen Forschungsergebnissen nicht gelegen sein, zumal sie die Staatsgelder zu ihren Gunsten verteilten. Folglich konnte das gezeichnete Idealbild einer medizinischen Wissenschaft aus politischen Gründen keine Förderung erwarten. Fehlendes Engagement medizinischer Forscher erklärte sich »med-INFO« übrigens allein mit der Hierarchie, die es dem »professoralen Großunternehmer« erlaubte zu bestimmen, worüber geforscht wird, und ihren nicht weiter beschriebenen Privilegien, die ihre Klassenlage und damit ihr Bewusstsein bestimmten. Ganz im Sinne Lenins – so heißt es da – werden sie damit zu so genannten Unteroffizieren des Kapitals. Um dem Abhilfe zu schaffen, sollte deshalb einerseits der Typ des Großordinarius verschwinden, dem Forschung lediglich zum persönlichen Erfolg zu verhelfen schien, aber auch der des »›redlichen Handwerkers‹, der fleißig, aber mit Scheuklappen vor sich hinforscht«. Beide stünden so – ob gewollt oder ungewollt – im Dienst des Kapitals. Darum dürfe Wissenschaft nicht länger fremdbestimmt sein durch das politische und soziale System, sondern solle sich als eigenständige gesellschaftserneuernde Kraft etablieren.659 Eine so genannte politische Medizin könne hierbei den Medizinern helfen, die Bedingungen zu schaffen für ein kausales Krankheitsverständnis und die entsprechende Therapie.660 Die Industrie und mit ihr der kapitalistische Verwertungsprozess spielten in der empfundenen Forschungsmisere eine entscheidende Rolle. Kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges661 begann nach Auffassung der »med-INFO«-Redaktion eine verhängnisvolle Entwicklung, die es durch die Errichtung industrieller 657 658 659 660 661
Zit. n. Kießling, S. 109. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 3/1970, S. 4. Ebd. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/1970, S. 13. Zuvor, also etwa zur Zeit der Jahrhundertwende, seien in Deutschland Forschungsergebnisse noch relativ spontan und individuell erzielt worden. Nur sporadisch hätten diese in den kapitalistischen Verwertungsprozess eingeführt werden können. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/1970, S. 5.
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Forschungsstätten möglich gemacht habe, planvoll Gewinnmöglichkeiten durch »naturwissenschaftliche technische Neuerungsarbeit« herbeizuführen. Danach habe sich eine Arbeitsteilung zwischen den traditionellen, öffentlich finanzierten Forschungsstätten, also den Universitäten, Technischen Hochschulen und Max-Planck-Instituten, die sich (nach wie vor) auf die wissenschaftliche Grundlagenforschung konzentrierten, und der auf die direkte industrielle Verwertung angelegten Industrieforschung herausgebildet. Spätestens 1955 sei jedoch klar geworden, »daß eine exportintensive westdeutsche Industrie auf lange Sicht nur dann im internationalen Konkurrenzkampf bestehen könne, wenn der Staat zusammen mit der Industrie langfristige wissenschaftliche Forschungsvorhaben in Form von Schwerpunktprogrammen (Kernenergie, Weltraumforschung) zu finanzieren und koordinieren bereit ist«. Während die so genannte »Industrieforschung« selbst finanziert sei und die Ergebnisse sofort in den Kapitalverwertungsprozess eingeführt würden, sprengten die mit der so genannten »Großforschung« anvisierten Projekte die personellen, organisatorischen und finanziellen Möglichkeiten privater Monopole. Diese »Großforschung« schien für die Bonner Studenten der interessante Aspekt zu sein. Sie fassten darunter Grundlagenforschung, angewandte Forschung und technische Entwicklung in einer langfristig arbeitenden Projekteinheit unter einem planenden Forschungsmanagement zusammen. Obwohl die Projekte meist staatlich finanziert seien, erfolge die Planung durch »ein kombiniertes Management aus Vertretern der Staats- und Industriebürokratie«, das die Ergebnisse schließlich der Industrie zur »privaten ökonomischen Nutzung« überlasse.662 All das schien nur mit bewusster Unterstützung staatlicherseits möglich: »Mit der Etablierung des Bundesministeriums für wissenschaftliche Forschung (BMwF) und seinem allmählichen Kompetenzausbau konnte die hinter den Großforschungsprojekten stehende Großindustrie ihre Position festigen: Die zentrale Zusammenfassung der Schwerpunktprogramme und die allmähliche Ausrichtung der ›freien‹ und Hochschulforschung auf diese Programme […] garantierten ihr eine enge Koordination der Einzelprojekte und eine institutionell abgesicherte Einflussnahme.«663
Das Kapital allein schien also gar nicht in der Lage, eine unbeschränkte und systematische Entwicklung der Produktivkraft Wissenschaft zu leisten. Es vermochte aber – in den Augen der Studenten – den Staat für seine Profitinteressen zu mobilisieren. Die Tatsache, dass 1945 noch kaum Gelder in industrielle Forschungs- und Entwicklungsprojekte investiert wurden, sein Anteil jedoch bis 1969 auf 50 Prozent gestiegen sei, wurde als bedrohliche Entwicklung aufge662 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/1970, S. 5. 663 Ebd.
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fasst.664 Jedoch muss hier wohl auch die politische und wirtschaftliche Lage im Nachkriegsdeutschland berücksichtigt werden, die es der von den Alliierten besetzten Bundesrepublik wohl schlichtweg nicht möglich machte, derartige Investitionen zu tätigen. Die rasante wirtschaftliche Entwicklung der folgenden 24 Jahre ermöglichte dies sehr wohl und war sicher auch Voraussetzung, um das Erreichte zu sichern beziehungsweise auszubauen. In »med-INFO« kam man zu dem Ergebnis, dass das Jahr 1966 in diesem Sinne den Beginn einer neuen Wissenschaftspolitik darstellte, weil sich die Lage der deutschen Wissenschaft grundlegend geändert habe. So hätten sich in den forschungsintensiven so genannten »Wachstumsbranchen« scharfe, in der deutschen Geschichte einmalige Konzentrationsprozesse665 abgespielt, die es den Konzernen ermöglicht habe, im Rahmen der staatlich subventionierten Forschungsvorhaben die Grundlagenforschung selbst durchzuführen. Die Funktion der Hochschulen hätten deshalb nach dem Willen dieser Konzerne neu bestimmt werden müssen. Außerdem sei die Grundlagenforschung zwischen 1955 und 1966 – von Ausnahmen abgesehen – in den Händen der Hochschulen gewesen, die schlecht ausgerüstet und unzureichend finanziert gewesen und auf Grund ihrer »anachronistischen Struktur« unfähig gewesen seien, überhaupt effektive Grundlagenforschung zu betreiben. Die immer schneller werdende Umsetzung der Ergebnisse der gleichzeitig bis 1966 vernachlässigten Grundlagenforschung im industriellen Produktionsprozess hätte so zu einem technologischen Rückstand der westdeutschen Wirtschaft im internationalen Vergleich geführt. Technologischer Rückstand und die damit verbundenen wirtschaftliche Konsequenzen seien der Industrie aber dank »staatlicher Großforschungsprogramme« erspart geblieben, weshalb auch andere Industriezweige die staatlichen Hilfen in Anspruch nehmen wollten. Darum seien 1967 die bestehenden Programme intensiviert und neue Programme666 eingeführt worden und – was zwangsläufig hätte erfolgen müssen – die traditionelle Auftragsforschung in die koordinierten Großforschungsprogramme integriert worden. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft spielte in diesem Prozess die Verteilerrolle und ordnete zentral den Hochschulen die entsprechenden Projekte zu. Folge: »Die Abhängigkeit der Wissenschaftlichen Hochschulinstitute von derartigen Forschungsaufträgen garantiert die reibungslose Integration der Hochschulen 664 Vgl. ebd. 665 Das versuchte »med-INFO« mit Zahlen zu belegen: 1967 hätten die zehn größten Konzerne der Bundesrepublik etwa 17 Prozent des gesamten Industrieumsatzes erzielt. Sieben Jahre zuvor seien die 25, 1954 sogar die 50 größten Unternehmen nötig gewesen, um diesen Anteil zu erreichen. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/1970, S. 5. 666 Genannt werden die elektronische Datenverarbeitung (EDV), die Meeresforschung und »neue Technologien«. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/ 1970, S. 6.
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in die ausschließlich von Profitinteresse bestimmte Wissenschaftsverwertung.«667 Am 11. Juni 1969 schloss der Bund mit den Ländern ein Abkommen, nach dem er selbst unter bestimmten Voraussetzungen »Sonderforschungsbereiche« fördern konnte, die er »unter Berücksichtigung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung für besonders förderungswürdig hält«. Jedoch stellten diese Sonderforschungsbereiche in den Augen der Redaktion keine Alternative zu der »von der Wirtschaft allein beherrschten DFG« dar, da die Verknüpfungen zwischen BMwF und Wirtschaft sowie zwischen DFG und BMwF offensichtlich seien. Woran das erkennbar sein sollte, erfuhr der Leser allerdings nicht. Stattdessen urteilte »med-INFO«, auch die Hochschulgesetze müssten eingeordnet werden in die gemeinsamen Anstrengungen des Staates und der Wirtschaft, die wissenschaftlichen Hochschulen in ihrer Forschungstätigkeit zu »effektivieren«. Obwohl noch gar nicht beschlossen, schien es ausgemacht, dass sie eben nicht der Demokratisierung des Arbeitsplatzes Universität dienen würden, sondern darauf gerichtet waren, »die reibungslose Realisierung der Interessen des Monopolkapitals auch an den Hochschulen zu gewährleisten.«668 Ähnliche Vorwürfe wurden bereits ein Jahr zuvor laut, jedoch beschränkte man sich damals auf die Pharmaindustrie. Dieser wurde vorgeworfen, ständig neue Präparate mit bereits bekannten Wirkstoffen zu vertreiben und sie intensiv als vermeintliche Neuerungen zu bewerben. Lediglich 6 Prozent des Gesamtetats der pharmazeutischen Betriebe würden für Forschung und Entwicklung ausgegeben, 25 Prozent hingegen für Werbung. Bereits daraus schlossen die Bonner Mediziner : »Berücksichtigt man […][, dass] weniger die Qualität des Präparates als sein quantitativer Umsatz von Bedeutung ist, muß sich für den Arzt die FRage nach der Rationalität und Effektivität sowie der Humanität des Systems stellen.« Ärzte und Apotheker ließen sich dabei vom »Schein der Wissenschaftlichkeit« blenden. Eine langfristige Grundlagenforschung, die nicht unmittelbar Gewinne verspreche und deren Ziele im Dunkeln lägen, laufe den Profitinteressen zuwider und würde daher an die öffentlich finanzierten Hochschulen delegiert. Ihre Verwertung liege jedoch wieder im privaten Bereich: »Dieser Zweispalt ist schizophren und durch keine ideologische Rechtfertigung zu verschleiern.«669 Unterstützt würde insbesondere die offensive Vermarktung pharmazeutischer Produkte von vielen Professoren (exemplarisch dargelegt an den Worten Professor Otto Walter Haseloffs670), jenen »zweizüngigen Säulenheiligen der 667 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/1970, S. 5 f. 668 Ebd., S. 6. 669 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Willy Buchbender in med-INFO, 08. 01. 1970, S. 10 f. 670 Otto Walter Haseloff (*1918) war Professor für Psychologie an der pädagogischen Hochschule Berlin und Direktor des Sigma Instituts für angewandte Psychologie und
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angeblich so wertfreien Wissenschaft [, die] […] immer dann, wenn es ihnen nützt, ihren Elfenbeinturm verlassen«. Es sei daher an der Zeit, der »Interessengemeinschaft von Aktienhaltern und kollaborierenden Professoren« den Kampf anzusagen. Man müsse Zusammenhänge zwischen universitärer Forschung und privater Verwertung aufdecken, Einblick in Forschungsarbeiten der Bonner Institute erkämpfen und somit den Studenten ein Mitentscheidungsrecht auch in Forschungsfragen sichern: »Wir müssen diese Verwertungszusammenhänge propagieren, müssen unsere Kommilitonen – die angehenden Ärzte – informieren über Sinn und Zweck der Pharmawerbung und deren inhumanen Charakter innerhalb eines inhumanen Gesellschaftssystems.«671 Hier wurde also nicht nur die Frage gestellt, ob die damalige Forschung tatsächlich den Menschen nütze oder nicht doch eher der Industrie. Man erkennt daneben Züge der für die Achtundsechziger-Bewegung typischen Konsumkritik, bei der es sich nicht um eine rückwärtsgewandte Abwehr, sondern um die radikale Steigerung und Überbietung der Konsumgesellschaft handelte. Diese Marktforschung. Er beschäftigte sich unter anderem mit den Methoden des Konsumanreizes und beriet entsprechend mehrer Textilkonzerne. Er definierte Werbung als die »öffentliche, gezielte und geplante Kommunikation der Informationen, der Motivation, der Überzeugung und der Manipulation eines definierten Kreises von Umworbenen zugunsten der Marktchancen eines Produktes oder des Images eines Unternehmens«. In seinem »Handbuch der Werbung« ging er speziell auf den Begriff der hier interessanten Wirtschaftswerbung ein, die er als »geplante öffentliche Kommunikation zum Zweck einer ökonomisch wirksamen Information, Persuasion und Entscheidungssteuerung« beschrieb. Nach dieser Definition ist Werbung eine Sozialtechnik zur Beeinflussung menschlichen Verhaltens, das durch zwei Merkmale charakterisiert werden kann: der Übermittlung von Botschaften und Informationen und der daraus resultierenden Steuerung von Erwartungen und Informationen sowie dem Verhalten hinsichtlich bestimmter ökonomischer Zielsetzungen. – Der »weitgehend von den Bayer-Werken Leverkusen« finanzierte Haseloff soll anlässlich der Kölner Klinikertage folgende Sätze von sich gegeben haben: »Eine Verwissenschaftlichung der pharmazeutischen Fachwerbung sollte auf zwei Wegen angestrebt werden: Zum einen ist der Stil der werblichen Ansprache – also die Verbalisierung und Visualisierung der Werbebotschaft – in einem stärkeren Maße, als es bisher geschieht, nach den Regeln einer ›wissenschaftlichen Didaktik‹ zu gestalten. Die Verwissenschaftlichung der Werbeaussagen kann nicht – wie dies vielfach zu beobachten ist – in der bloßen Verwendung einer möglichst modernen und auch fachbezogenen, jedoch semantisch mehr []deutigen und daher oft unverständlichen Terminologie bestehen. Die Verwendung einer reinen Werbesprache muß gerade bei dem intellektuell gebildeten Arzt Abwehrmechanismen auslösen, die negativ auch seine Einschätzung der Pharmawerbung insgesamt, wie seine Beurteilung des infragestehenden Medikaments beeinflussen können. […] So hat sich beispielsweise gezeigt, daß nach Briefaussendungen für therapeutisch wichtige und neuartige Medikamente bis zu 40[]% der angeschriebenen Ärzte von der pharmazeutischen Herstellerfirma Musteranforderungen oder spezielle Literatur über die Medikamente erbaten. Ähnliche Erfolgsquoten lassen sich in keinem anderen Bereich der Werbung vorweisen.« Zit. n. Anonymus, Schule, o.S.; Oswald, Werbung, o.S.; Kleist, S. 44; UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«,Willy Buchbender in med-INFO, 08. 01. 1970, S. 11. 671 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, Willy Buchbender in Med-INFO, 08. 01. 1970, S. 11.
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war schon für sich genommen mit einer tendenziellen Entwertung der Dinglichkeit assoziiert. Simon Kießling hält es daher nicht für verwunderlich, dass die Revolte die entstehende Konsumgesellschaft mit einer ähnlichen Konsequenz zuspitze (zur weitest möglichen Auflösung stabiler, sich den Verfallsprozessen des Lebendigen entziehender Dinglichkeit steigerte) wie Marx die aufsteigende Arbeitsgesellschaft des 19. Jahrhunderts auf die Spitze getrieben hatte.672 Die Wissenschaft, die damals wie heute anstrebt, sachbezogen und wertneutral zu arbeiten, sah sich in Bonn mit noch weiteren Angriffen auf ihren Objektivitätsanspruch konfrontiert: »[…] der Ruf nach der neutralen Wissenschaft übersieht, daß sich der unpolitische Wissenschaftsprozeß politisch auswirkt, der Ruf nach Sachlichkeit übersieht, daß es Menschen sind, mit denen sich Wissenschaft beschäftigt.«673 Einerseits werde wissenschaftliches Denken selbst schon von herrschenden Ideologien beeinflusst. Andererseits drängten diejenigen, die Objektivität fordern, den Forschenden in einen von der Gesellschaft isolierten Bereich und leugneten überdies die Geschichtlichkeit der Gegenstände, mit denen es die Wissenschaft zu tun hat: »Einen Gegenstand der Wissenschaft zur Sache machen, ganz gleich ob Mensch oder Gedicht, heißt, ihn seiner Problematik zu berauben, ihn zum Objekt zu machen, das lediglich bearbeitet werden muß.« »Med-INFO« machte außerdem darauf aufmerksam, dass die Forderung nach Sachlichkeit von denen erhoben werde, die ihre eigene Sache zu retten beabsichtigten, das heißt denjenigen, die ihre Macht sichern wollten. Sie nutzten demnach aus, dass viele Menschen in den Gesellschaften, in denen politische Abläufe sich in ihrem Automatismus und ihren eigenen Gesetzen nicht mehr so leicht vom Einzelnen erfassen lassen, den Rückzug in die Individualität antreten und damit in den unpolitischen (weil sichersten) Bereich. Politisch zu sein markiere jedoch den Punkt, an dem sich das Individuum in einem Zusammenhang zu jenem Ablauf sehe, dessen Automatismus nur oberflächlich sei: »Dem Bewußsein der eigenen Lage in der Gesellschaft geht einher ein ganz bestimmtes Wissenschaftsverständnis, welches die ›Freiheit‹ von Forschung und Lehre erst aus dem Bereich des bloßen Scheins auf den Begriff bringt, indem sie diese Freiheit relativ zur Umgebung sieht.« Nach dieser Argumentation gewinnt die Wissenschaft damit eine neue Kategorie, nämlich die der emanzipatorischen Auswirkung auf die Gesellschaft und die der politischen Praxis. Die Gegenwehr der so genannten Herrschenden erschien damit natürlich nur allzu verständlich. Herbert Marcuse zitierend kam »med-INFO« zu dem Schluss: »Die Verweigerung des Rechts auf politische Tätigkeit in der Universität verewigt die Trennung 672 Vgl. Kießling, S. 54 f. 673 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/1970, S. 12.
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zwischen theoretischer und praktischer Vernunft.« In dem Schlagwort »Politische Wissenschaft« spiegelte sich also die immanente Aufgabe der Wissenschaft nach praktischer Vermittlung wider : Die eigene Einsicht soll auf die Umgebung angewandt werden.674 Oder anders ausgedrückt: Eine emanzipatorische Wissenschaft sollte offensichtlich auch nach Willen der Bonner Studenten herrschende Objektivitätsansprüche aufgeben und sich in den Dienst der Lebensbedürfnisse des Individuums und der Gesellschaft stellen.675 Die Auswirkungen auf den Arztberuf einer als inhuman empfundenen Forschung und einer Wissenschaft, die den Menschen zum Objekt macht, fand in der Studentenpresse ebenfalls Erwähnung. Zunächst stellte man fest, dass für das Gesundheitswesen insgesamt zu wenig Geld ausgegeben werde. Statt zur Lösung dringender sozialer Fragen werde es für neue Investitionen und die Produktion von Konsumgütern verwendet. Die Krankenkassen leisteten einen Beitrag zu einer als nicht ausreichend erachteten Versorgung, indem sie pro Patient nur einen Kostensatz veranschlagten und so den Arzt in seinen therapeutischen Möglichkeiten beeinträchtigten. Das Ziel der Pharmaindustrie, die Profitmaximierung, stand gleichzeitig in empfundenem Kontrast zu der ärztlichen Intention des »Helfens und Heilens«. Die Möglichkeit einer Überprüfung auf Wirksamkeit und eventuelle Nebenwirkungen im Alltag schien so nicht gegeben, schlimmer noch, der Arzt werde sogar mit Werbebroschüren überhäuft, die ihm die Verwendung bestimmter Medikamente mit psychologisch raffinierten Methoden suggerieren sollten. Schließlich leiste auch die Ärztekammer ihren Beitrag dazu, die gegenwärtigen Zustände zu zementieren: Den Numerus clausus676 hielt »med-INFO« für ein Mittel, die Zahl der Ärzte klein zu halten und ihnen so ein hohes Einkommen zu garantieren. Damit verbunden sei aber auch eine starke Belastung der Ärzte, die eine optimale Versorgung der Menschen verhindere.677 Möglicherweise wurde das hohe Gehalt der Mediziner hier als ein Instrument der »Ruhigstellung« betrachtet. Sehr deutlich wurde hier die Auffassung der Studenten, an der Hochschule werde eine Trennung zwischen wissenschaftlicher Theorie und technischhandwerklicher Praxis durchgeführt: Die Fertigkeiten hingegen, die zur Aufrechterhaltung der arbeitsteiligen Reproduktion der Gesellschaft erforderlich schienen, sollten nach dem Willen der Herrschenden deshalb außerhalb des Bereichs theoretischer Reflexion vermittelt werden.678
674 Ebd., S. 12 f. 675 Vgl. Kießling, S. 80. 676 Mit der Kritik am Numerus clausus beziehungsweise allgemeinen Zulassungsfragen beschäftigt sich Kapitel 3.1. 677 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/1970, S. 13. 678 Vgl. ebd.
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Doch auch für die permanent zum Gegner degradierten so genannten Herrschenden schien in Sachen Forschungsergebnisse nicht alles nach Plan zu laufen. Ein Artikel in »med-INFO« aus dem Jahr 1970, der sich in erster Linie mit der westdeutschen Hochschulpolitik befasste, zog Schlussfolgerungen aus dem seit 1950 bestehenden und seitdem ständig zunehmenden Passivsaldo der Bundesrepublik. Dieses Lizenzdefizit von damals 750 Millionen DM jährlich bedeutete laut »med-INFO«, dass »das westdeutsche Monopolkapital […] gezwungen [sei], diese Summe für den Einkauf wissenschaftlicher Forschungsergebnisse bei den kapitalistischen Konkurrenten auszugeben, um den derzeitigen industriellen Standard halten zu können.« Da überlegene Konzerne (vor allem aus Japan und den USA) gewöhnlich nur die Patente und Lizenzen verkauften, die sie selbst schon durch modernere Technologien ersetzt hätten, sei neben einer Aussage über die gegenwärtige ebenso eine über die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit der westdeutschen Konzerne auf dem Weltmarkt möglich und damit auch über die wissenschaftlich-technologische Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik. Unter Berufung auf den (nicht näher vorgestellten) Wirtschaftsjournalisten Stolze berichtete »med-INFO«, dass abgesehen von chemischer Industrie und Reaktorbau in nahezu allen Bereichen der Grundlagenforschung ein Rückstand im Vergleich zu USA, Sowjetunion und auch anderen europäischen Ländern bestünde. Insbesondere die Tatsache, dass Japan die Bundesrepublik auf Platz drei der »Rangliste der industriellen Produktion der imperialistischen Länder« verdrängen konnte, wurde als Alarmsignal gewertet. Der chronische Mangel an Akademikern (Lehrer, Ingenieure und 10.000 Ärzte) verstärke das Problem zusätzlich.679 Wie so häufig hatten die Studenten schnell einen Grund für herrschende oder nur empfundene Missstände ausgemacht. Die Problematik des Forschungsrückstandes sahen sie in der antiquierten Lehrkörperstruktur, mit der sie höchstwahrscheinlich die bereits beschriebene Hierarchie innerhalb der Bildungseinrichtungen680 meinten, und der geringen Bezahlung der Nachwuchswissenschaftler begründet. Allein der »Aderlaß der Gehirne‹ in die USA« habe mittlerweile fast die Zahl von 6.000 Wissenschaftlern erreicht. Dieser Gruppe stellte die Studentenpresse diejenige von 2.000 Wissenschaftlern gegenüber, die in den 12 Jahren der nationalsozialistischen Diktatur ins Exil getrieben wurde.681 Rückblickend muss dieser Vergleich als völlig unverhältnismäßig und zynisch bewertet werden. Die politisch und rassistisch motivierte Unterdrückung insbesondere jüdischer Wissenschaftler während des Nationalsozialismus war mit Sicherheit schwerwiegender als der wirtschaftliche Anreiz für deutsche Wis679 Ebd., S. 14. 680 Siehe auch Kapitel 3. 681 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/1970, S. 14 f.
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senschaftler im Nachkriegsdeutschland, die keinesfalls zur Emigration gezwungen wurden. Diese Haltung ist auch insofern gefährlich, als sie den Eindruck erweckt, die Opfer von damals würden zur Verfolgung linker studentischer Ziele missbraucht. Wissenschaftlern – so glaubte »med-INFO« weiterhin – würde nicht nur das Leben und Arbeiten in Deutschland schwer gemacht, auch die Potentiale insbesondere aus der Arbeiterklasse würden durch das reaktionäre Bildungsmonopol682 unterdrückt. Mit einem Anteil von 6 Prozent Arbeiterkindern an den Studentenzahlen wurde Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern (Frankreich 7 Prozent, Schweden 20 Prozent, England 25 Prozent, USA > 30 Prozent) auch in dieser Hinsicht als rückständig dargestellt. Das gleiche gelte für die Unterrepräsentation von Frauen, die an westdeutschen Hochschulen nur einen Anteil von 22 Prozent hätten und auch insofern gegenüber Frauen in anderen Ländern benachteiligt seien, als die meisten von ihnen das Studium vorzeitig abbrechen würden, etwa um zu heiraten und anschließend den Haushalt ihres Mannes zu führen.683 Sogar im Vergleich mit anderen so genannten imperialistischen Ländern erschien die Bundesrepublik als durch und durch rückständiger Staat. Interessant ist, dass dies sehr stark an den bildungspolitischen Verhältnissen festgemacht wurde. Erneut zeigt sich hier, dass auch die Bonner Mediziner der Bildung eine Schlüsselfunktion auf dem Weg zur demokratischen Umstrukturierung der Gesellschaft zuschrieben. Der Einfluss von Kapital und Militär auf die Forschung war ein Aspekt, der auf besonders scharfe Kritik stieß. »Med-INFO« berichtete, 80 Prozent aller Forschungsaufträge an Hochschulen würden von Großkonzernen vergeben. Das hätte zur Folge, dass ein großer Teil der Hochschulforschung den Patent-Depots der Konzerne zu Gute käme und sich so für deren Aktionäre in unmittelbarem Profit und für die Bundeswehr in aggressives Potential ummünze. Dagegen sei kein einziger Fall bekannt, wo ein Konzern einen Teil des aus Hochschulforschung gewonnenen Profits an die Gesellschaft, welche Material, Ausstattung 682 Die ungleiche Verteilung der schulischen und universitären Abschlüsse zu beenden gilt neben dem antiautoritären als traditionelles sozialdemokratisches Ziel der Pläne für die Ausbildungsinstitutionen, die im Rahmen der Achtundsechziger-Revolte artikuliert wurden. Aus Sicht der Kritiker des Ausbildungssystems erfolgten die Selektionen nicht auf Grund gleicher Chancen und Voraussetzungen. Die scheinbar neutrale, angemessene Sprache der Lehrer und Wissenschaftler war demnach durch die Sprache der Oberschicht beziehungsweise durch eine bürgerliche Kultur und einen bürgerlichen Habitus geprägt, die allesamt in der familiären Sozialisation erworben würden (oder eben nicht). Die Idee und selbstgewisse oder resignierte Haltung, Examensprädikate und damit verbunden Berufswahlmöglichkeiten beruhten auf individueller Leistung beziehungsweise prämierten persönlichen Verdienst, sei deshalb gegenstandslos. Vgl. Hecken, S. 83. 683 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/1970, S. 14 f.
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und Personalkosten über den Staat finanziere, zurück gebe. Die so genannten Werktätigen, die die Forschung über Steuergelder zum größten Teil finanzierten, würden sogar in doppelter Hinsicht betrogen, da drei Viertel aller Patente von den Konzernen eingefroren würden, um sie der Konkurrenz zu entziehen. Unter Berufung auf den (nicht näher vorgestellten) amerikanischen Ökonomen Leontief wurde die These aufgestellt, die Privatwirtschaft könnte nicht einmal annäherungsweise die gleichen Vorteile aus den neuen wissenschaftlichen und technischen Ideen ziehen wie es die gesamte Volkswirtschaft bei deren voller Ausnutzung könnte.684 Das Vorgehen des Bonner Wissenschaftsministeriums, das im Zusammenhang mit der Schaffung einer Bundesdatenbank die Einrichtung eines Dokumentations- und Informationszentrums der Politik- und Sozialwissenschaften förderte, wurde jedoch als Versuch gewertet, »die Förderung der Sozialwissenschaften und der EDV für die Herrschaftsentwicklung des Kapitalismus und zum Kampf gegen die demokratische Bewegung« einzusetzen, und abgelehnt. Die antihumane und antidemokratische Ausrichtung der monopolkapitalistischen Wissenschaftspolitik entlarvte sich demnach dadurch, dass die Bereiche vernachlässigt würden, deren Erforschung Gebot simpler menschlicher Nächstenliebe wären. Explizit genannt wurden in diesem Zusammenhang unter Berufung auf Hartmut Häußermann685 Ernährungsfragen, Sozialhygiene, die Lebensbedingungen in der Umwelt, die vorschulische und außerschulische Erziehung.686 Dieser bemerkte weiterhin: »Die psychischen und sozialen Probleme des menschlichen Daseins werden systematisch verdrängt in einer formierten Leistungsgesellschaft, in der Kosten und Nutzen mehr gelten als moralische Kriterien. Wir haben es bei der Forschungsfinanzierung in der BRD nicht mit dem Ergebnis eines wildwüchsigen Prozesses zu tun, der nur ein bißchen korrigiert werden müßte. Die Forschung ist geplant und bewußt auf die industriellen und militärischen Verwertungsinteressen zugeschnitten.«687
Eine in solchem Ausmaß auf Kapital und Militär zugeschnittene Wissenschaft und Forschung war in den Augen der Studenten also so fehlerhaft und unmenschlich, dass radikale Schritte erforderlich schienen. Den in Bonn vorhandenen kämpferischen Geist fand man auch an anderen deutschen Universitäten. Ein Flugblatt der Fachschaft Soziologie in München drückte ähnliches Drängen nach radikaler Veränderung aus. Unter Bezugnahme auf das als einengend empfundene Prüfungssystem hieß es dort: 684 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 5/1970, S. 14. 685 Hartmut Häußermann war zu dieser Zeit Delegierter des SHB im Bildungspolitischen Ausschuss der SPD. »Med-INFO« übernimmt und zitiert seine Thesen. 686 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 5/1970, S. 14. 687 Ebd.
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»Sie [die Prüfungen] sind eine Form der Gehirnwäsche, um akademische ›Fachidioten‹ heranzubilden, die zu wissenschaftlicher Forschung im eigenen Interesse und im Interesse der Gesamtgesellschaft nicht mehr befähigt sind, sondern nur noch fachliche Auftragsarbeit im Dienste der Herrschenden leisten können. […] Die Universität muß von einem Instrument der Herrschenden […] in ein Zentrum der gesamtgesellschaftlich notwenigen Revolution verwandelt werden.«688
Ein Jahr später, im Juni 1971, klang das schon ganz anders. Die Diskussion um eine Universitäts-Verfassung bot Anlass, erneut über das Thema Auftragsforschung nachzudenken. Der »med-INFO«-Leser erfuhr, dass in den studentischen Forderungen Auftragsforschung im Rahmen der Aufgabenbestimmung grundsätzlich bejaht wurde. Es komme eben auf eine umfassende demokratische Kontrolle an: Eine allgemeine Meldepflicht sollte fremdfinanzierte Projekte der Öffentlichkeit bekannt machen. Hochschullehrer sollten weiterhin nicht während ihrer Arbeitszeit forschen und damit ihre Lehrtätigkeit einschränken. Großen Wert legten die Studenten darauf (und insofern waren sie sich treu geblieben), Projekte mit »gesellschaftsfeindliche[n] Tendenzen« wie Rüstungsforschung und Entwicklung bakteriologischer und chemischer Kampfstoffe zu verhindern. In diesem Zusammenhang müsse das Vetorecht der Professoren in einem entsprechenden Gremium für Forschungs-, Berufungs- und Finanzierungsfragen auf alle in Gremien vertretenen Gruppen ausgeweitet werden.689 Es zeigte sich in diesem Fall also, dass die Bonner Studenten ihre anfängliche Kompromisslosigkeit aufgaben und das primäre Interesse an der Revolution verloren. Wenn Forderungen für eine Universitäts-Verfassung formuliert wurden, so weist das darauf hin, dass sie sich schließlich doch für den Weg der Reformen entschieden, auch wenn diese Reformen der Universitätsleitung vielleicht radikal erscheinen mochten. Doch ging es sehr wohl auch radikaler und vor allem ideologischer. Das legt den Schluss nahe, dass sich innerhalb der Bonner Studentenschaft durchaus unterschiedliche Positionen über Ausmaß und Artikulation des Protestes gegenüber standen: Unter der Überschrift »Wie frei sind die westdeutschen Universitäten?« bot »med-INFO« Kritik eine Plattform, die stark durch die marxistische Ideologie geprägt war. Beklagt wurde in dem Artikel – das hebt ihn allerdings noch nicht hervor – die immer stärkere Unterwerfung der Hochschulen unter die unmittelbaren militärischen, ökonomischen und ideologischen Ziele des so genannten Monopolkapitals, was zwangläufig zu einer politisch-moralischen Verkrüppelung derjenigen intellektuellen Kader führe, die sich widerstandslos zu Knechten der Monopole degradieren ließen. Der Grundwiderspruch des Kapitalismus verschärfe sich durch den Ausbau des 688 Zit. n. Schneider, Sprache, S. 131. 689 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 11, Juni 1971, S. 6.
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imperialistischen Wissenschafts- und Hochschullenkungssystems, der sich durch die ständigen Kompetenzerweiterungen des Bonner Wissenschaftsministeriums und der mehr im Verborgenen tätigen Gremien »Gesprächskreis Wissenschaft und Wirtschaft« und Wissenschaftsrat zeige.690 Enthüllungen dieser Zusammenhänge, wie man sie sich von einer Dissertation im Fach Soziologie versprach, die von der Universität Göttingen abgelehnt (und gleichzeitig von Professor Hans Paul Bahrdt691 als ausgezeichnet beurteilt) wurde, seien unerwünscht und würden »von imperialistischen Ideologen« systematisch boykottiert, weil die Wissenschaft gegenwärtig privatem Profit und der Konservierung der Verhältnisse diene: »Dabei übersehen sie [die imperialistischen Ideologen], daß es nur eine wissenschaftliche Philosophie, nämlich den Marxismus-Leninismus, geben kann und jede von ihnen konstruierte ›Gegenphilosophie‹ notwendigerweise antiwissenschaftlich sein muß.« Die durch die spätkapitalistischen Herrschaftsverhältnisse bedingte Zerreißung der Einheit der Wissenschaft an den westdeutschen Hochschulen diene nicht nur der Rechtfertigung der historisch überlebten Gesellschaft, sondern sei unmittelbare Voraussetzung für die Aufrechterhaltung des ungerechten Profitprinzips des Kapitalismus. Opfer dieses Systems waren nach Meinung von »med-INFO« jene Wissenschaftler und Studenten, »die einem System teilweise verlogener Rationalität zur Verschleierung der Machtverhältnisse und der von der technischen Entwicklung erzwungenen Erkenntnisse unterworfen sind.« Diese Situation sei für die Betroffenen nicht ohne seelische und geistige Qualen zu ertragen.692 Die Studenten sahen sich also bereits in ihrer damaligen Position als Opfer des Systems. Obwohl sie selbst noch nicht forschten, fühlten sie sich unterdrückt und mit unzumutbaren Lebensbedingungen konfrontiert. Ihre Situation schien dabei (durch den Bezug auf den Marxismus-Leninismus) in einer Reihe ähnlicher geschichtlicher Vorgänge zu stehen: Johannes Agnoli bemerkt in diesem Sinne, die deutsche Geschichte kenne eine solide Tradition in dem Versuch, Emanzipation zu verhindern. Diese reiche von Metternichs Demagogenverfolgung über Bismarcks Sozialistengesetze bis zur bundesstaatsanwaltlich verkündeten Abwehr gegen anarchistische Umtriebe.693 Eine solche Auffassung 690 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/1970, S. 16. 691 Hans Paul Bahrdt (1918 – 1994) war seit 1962 Ordinarius für Soziologie an der Universität Göttingen. Bernhard Schäfers berichtet, Bahrdt habe mit seiner Reihe »Rowohlts deutsche Enzyklopädie« ein wegweisendes Werk für das intellektuelle und politische Leben verfasst und mit seiner Schrift »Die moderne Großstadt. Soziologische Überlegungen zum Städtebau« eine Art Standortbestimmung der Stadtsoziologie und Leitlinien für den urbanen und humanen Städtebau in einer Zeit expandierender Städtesysteme verfasst. Im Rahmen der Studentenrevolte und allgemeinen Gesellschaftskritik erschien 1968 sein Buch »Humaner Städtebau«. Vgl. Schäfers, S. 126. 692 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/1970, S. 16. 693 Vgl. Agnoli, S. 67.
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kann auch den Bonner Studenten unterstellt werden, wobei sie gleichzeitig eine dramatische Zuspitzung ihrer Lage (»die immer stärkere Unterwerfung der Hochschulen«) wahrnahmen. Sie wirkt angesichts des materiellen Wohlstands (und auch der beträchtlichen Ausweitung demokratischer und Menschenrechte) im Nachkriegdeutschland paradox. Die zunehmend unbedeutender werdenden ökonomischen Zwänge bildeten nach den damaligen Auffassungen der Studenten jedoch gerade die Chance zur gesellschaftlichen Revolution: Jürgen Habermas drückte dies 1967 in einer Rede vor den »Vereinigten Deutschen Studentenschaften« (VDS) aus, als er erklärte, der gesellschaftliche Reichtum habe dazu geführt, dass das Leistungsprinzip seine Funktion für die Einordnung des Individuums in die Hierarchie der Gesellschaft verloren habe. So sei die Studentenbewegung dabei, die historisch überholte Leistungsideologie abzuschaffen.694 Damit schien der Weg frei für weitergehende revolutionäre Schritte beziehungsweise Gestaltungen in der Gesellschaft. Auch bürgerliche Gelehrte unterstützen also die Studentenrevolte. So berief sich auch »med-INFO« auf einen solchen, hier den nicht genau zu identifizierenden Professor Dr. Wittke: »Die immer größer werdende Spannung zwischen Denken und Sein bringt den Menschen heute auch in seelische Krisen, in eine immer tiefer werdende Spaltung seines Bewußtseins (Schizophrenie695), von der man nicht weiß, wie lange und bis zu welchem Punkt der Mensch diesen Zustand noch zu tragen vermag.«696
Er geht sogar so weit, seine Thesen mit den Suiziden von sechs Göttinger Studenten in Verbindung zu bringen.697 Ganz im Bewusstsein ihrer historisch einmaligen Lage, was ironischerweise jedoch eher ihren materiellen Wohlstand statt ihre Prädestiniertheit zur Revolution betraf, beobachtete »med-INFO« einen immer entschiedeneren Protest gegen die Unterjochung der Wissenschaft durch das Monopolkapital. Die Aktionen der Studenten hätten Akten an die Öffentlichkeit gelangen lassen, die konkreter als alles andere die »unheilige Allianz reaktionärer Ordinarien mit dem Konzernkapital« belegt hätten. Zum Beweis hierfür wurden aber lediglich einige Fälle von anderen Universitäten aufgeführt, beispielsweise die angebliche Aufdeckung eines Bestechungsfalls, in den ein Wissenschaftler der Universität
694 Vgl. Busche, S. 32. 695 Der Begriff »Schizophrenie« wurde zur damaligen Zeit zum Innbegriff für Unstimmiges und Unbewältigtes in der Gesellschaft und bezieht sich hier nicht auf eine psychiatrische Erkrankung, deren Existenz beziehungsweise Definition ja teilweise in Frage gestellt wurde. Siehe in diesem Zusammenhang auch Kapitel 2. 696 Zit. n. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 4/1970, S. 16. 697 Vgl. ebd.
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Heidelberg und die BASF verwickelt sein sollen.698 Diese »Belege« wirken angesichts der Schwere und Tragweite der Vorwürfe eher dürftig. Nach dem idealistischen Wissenschaftsverständnis auch der Bonner Mediziner sollte die Wahrheitsfindung der offenen und öffentlichen Debatte aller am Wissenschaftsprozess Beteiligten unterliegen. Auch scheinbar feststehende oder etablierte Ergebnisse mussten immer wieder der kritischen Prüfung unterzogen werden, um sie zu bestätigen oder gegebenenfalls zu verwerfen. Da sich weite Kreise der Studenten dieser Zeit jedoch nicht nur als passive Zuschauer sahen, sondern als Beteiligte dieses Prozesses, forderten sie konsequenterweise mehr Mitspracherechte. Diese sollten sich aber nicht bloß auf Seminargespräche beschränken. Man wollte auch bei Fragen der inhaltlichen und organisatorischen Ausrichtung der Fakultäten bis hin zur Vergabe von Forschungsaufträgen den Professoren in Stimm- und Entscheidungsbefugnis gleichberechtigt gegenüber stehen.699 Kritik an Wissenschaft und Forschung wurde von den Bonner Mediziner dabei auf ganz unterschiedliche Art und Weise und sehr verschiedene Aspekte betreffend artikuliert: Von allgemein-ideologisch formuliert bis hin zur Konzentration auf spezifische Ansprüche und Eigenschaften der aktuellen Wissenschaft. Die zuletzt beschriebene, recht aggressive und ideologiegeprägte Form ist besonders interessant, weil sie als sehr charakteristisch für die damalige Zeit anzusehen ist. Dies wurde nicht nur an der Orientierung am Marxismus-Leninismus deutlich, sondern auch zu einem nicht unwesentlichen Teil an der verwendeten Sprache: Diese war durch den häufigen Gebrauch von Fremdwörtern geprägt, welcher wiederum dem wissenschaftlichen Anspruch der Aktivisten bei der Beschreibung und Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse geschuldet war. Entsprechend stammten die verwendeten Wörter700 meist aus den Bereichen des Marxismus beziehungsweise Neomarxismus und der Sozialwissenschaften, insbesondere der Kritischen Theorie, aber auch der Psychologie.701 Man kann also davon ausgehen, dass die damalige Wissenschaft und Forschung in den Blickpunkt teils lebhafter, teils radikaler, aber eben nicht rationaler Kritik geriet. Diese Kritik ist innerhalb der Medizinischen Fakultät insofern bemerkenswert, als sie im Gegensatz zu anderen Themen teilweise stark 698 Ebd. 699 Vgl. Hecken, S. 32. 700 Zu den 20 wichtigsten Schlagwörtern der oft polemisch als »Soziologenchinesisch« oder »adorniertes Marcusisch« bezeichneten Sprache der Studenten (in Gestalt der APO) kürte Siegfried Jäger schon 1970 die folgenden: »Aktion«, »Anarchie/Anarchismus«, »autoritär/ Autorität«, »Establishment/etabliert«, »Faschismus/faschistisch/faschistoid«, »Go-in/ Love-in/Sit-in/Teach-in«, »Hearing«, »Kapitalismus/Spätkapitalismus«, »Manipulation/ manipulativ«, »Produktions-/Produktiv-« und »Repression/repressive Toleranz/repressive Sprache«. Scharloth, Revolte, S. 224. 701 Vgl. Scharloth, Revolte, S. 224.
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ideologiegeladene Auswüchse hervorbrachte, denen in der Studentenpresse Raum geboten wurde. Somit war sie einer nicht unerheblichen Anzahl an Studenten zugänglich, die sich mit dem formulierten Protest identifizieren beziehungsweise solidarisieren konnten, ihn zumindest aber zur Kenntnis nehmen mussten. Auch in Bonn versuchte die Studentenbewegung also, Theorie und Praxis zu einen, lehnte eine theorie- und begriffslose Praxis ebenso ab wie eine praxislose, reine Wissenschaft.702 Götz Aly widerspricht einigen dieser studentischen Forderungen in seinen äußerst kritischen Analysen der Achtundsechziger Revolte: »Wissenschaft dreht sich um die Begriffe Freiheit, Idee und Leistung. Dafür bedarf es flacher, fachlich begründeter, leicht veränderbarer Hierarchien, des Wettbewerbs und der Transparenz, aber keiner Gleichheits- und Gerechtigkeitsmaschinen.«703 Er kritisiert und relativiert also die offensive studentische Forderung nach bedingungsloser Mitbestimmung und nähert sich so inhaltlich einer Organisation, die eben jene Ansprüche der Studierenden mit Sorge betrachtete und ihnen entgegen trat: den BFW.
8.2
Der »Bund Freiheit der Wissenschaft« (BFW704)
Der »Bund Freiheit der Wissenschaft« wird in der Literatur zuweilen als »trotziges, schwer gezaustes Fähnlein der Ungebeugten«705 beschrieben. Gegründet am 21./22. Juni 1970 in Bonn, waren sich seine Mitglieder zunächst nur in dem gemeinsamen Anliegen einig, die Freiheit der Wissenschaft gegen gewaltsame Eingriffe seitens der studentischen Revolutionäre sowie gegen verhängnisvolle Universitätsgesetze zu verteidigen. In allgemeinpolitischen Fragen (beispielsweise Wirtschafts-, Sozial oder Außenpolitik) gab es daher unter den Mitgliedern ebenso wenig eine einheitliche Meinung wie in wissenschaftstheoretischer Hinsicht. Im Gründungsaufruf zum Gründungskongress machten die Unterzeichner deutlich, dass der Prozess der Demokratisierung notwenig und unaufhaltsam sei, also auch von ihnen nicht abgelehnt werde. Gleichzeitig wies der BFW die Kritik der linken Studenten und ihrer akademischen Ziehväter an der »bürgerlichen« Wissenschaft ebenso zurück wie die an der angeblich bloß »formalen« Demokratie in der Bundesrepublik. Gegen die »unbegrenzte Mitbestimmung der Studenten« richtete sich der Bund, weil er darin das Brecheisen sah, mit dem die deutsche Universität als die schwächste Institution der bun702 Vgl. Kießling, S. 120. 703 Aly, S. 47. 704 Neben dieser offiziellen Abkürzung wurde in der Studentenpresse häufig das Kürzel »BFdW« verwendet. Gemeint ist jeweils derselbe Verband. 705 Koenen, Jahrzehnt, S. 201.
Der »Bund Freiheit der Wissenschaft« (BFW)
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desdeutschen Gesellschaft aus den Angeln gehoben werden könne, wobei er keine unpolitische Wissenschaft forderte. In seiner Gegnerschaft zur Studentenrevolte demonstrierte er laut Till Kinzel jene Erosion der Abgrenzung vom Extremismus, die die politische Kultur der Folgejahre prägen sollte – mit bis heute nachwirkenden Tendenzen zur Verharmlosung des Kommunismus in weiten (linken) Teilen der Gesellschaft. Dabei habe es niemals so etwas wie eine eigene Ideologie gegeben, die uneingeschränkt die Interessen des Gesamtkapitals in Reformbemühungen zur Geltung kommen ließ.706 Die Bonner Mediziner schien die Neugründung des Verbands zu beschäftigen. Bereits Ende 1970, also im Gründungsjahr des BFW, sparte man in »medINFO« nicht mit Kritik und Ablehnung gegenüber dem vermeintlichen »Rechtskartell«. Unter Berufung auf einen Artikel der Zeitung »Die Welt« warnte man, dass der BFW »ein ernst zu nehmender Faktor bei der Zerschlagung der Reformbewegungen an den Universitäten« sein könne. Die Mitglieder des Gründungskomitees, zu denen auch die Bonner Ordinarien Konrad Repgen707 und Schmitt708 von der Philosophischen Fakultät gehörten, hätten im »Tagesspiegel« zwar behauptet, es gehe ihnen darum, »die Zerstörung der deutschen Hochschulen durch politische[n] Extremismus abzuwehren[,] und[,] durch das Aufzeigen falscher Reformen für eine wirkliche Hochschulreform einzutreten«, jedoch seien in ihren Augen etwa die Hochschulgesetze in Berlin, Hamburg, Hessen, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen Beispiele für »falsche Reformen«. Offenbar hielt »med-INFO« – im Gegensatz zu den beiden Professoren – eben jene Hochschulgesetze für fortschrittlich und richtig. In einer nicht näher beschriebenen »RCDS-Veranstaltung« vom 17. November 1970 soll Professor Erwin Scheuch709, ein Mitglied des BFW, die Universitäten als Freiräume 706 Kinzel, S. 112 – 136. 707 Konrad Repgen (*1923) ist emeritierter Ordinarius für Mittlere und Neuere Deutsche Geschichte an der Universität Bonn. Er war Mitbegründer des BFW und wandte sich gegen die Forderung des »Marxistischen Sprecherrates«, der gefordert hatte, nur Dissertationen mit »gesellschaftspolitischer Relevanz« anzunehmen. 1971 wurden seine Bonner Vorlesungen daher von linken Studenten gesprengt. Sein Handeln entsprang einer genuin konservativ-katholischen Perspektive. Er gilt als »Nestor der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung«. Facius, Repgen, o.S.; Hummel/Kißener, S. 10. 708 Mit dem Ordinarius »Schmitt« meinte »med-INFO« wahrscheinlich den Philologen Wolfgang Schmid (1913 – 1980), der 1950 auf den latinistische orientierten Lehrstuhl für Klassische Philologie in Bonn berufen wurde, den er bis zu seiner Emeritierung im Herbst 1978 inne hatte. Vgl. Schetter, S. 810. 709 Erwin Scheuch (1928 – 2003) war ein deutscher Soziologe, der zu den Gründern der empirischen Sozialforschung der westdeutschen Soziologie gezählt wird. 1964 wurde er auf einen Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Köln berufen. Neben seiner akademischen Tätigkeit wurde Scheuch als Publizist, der sich mit ideologiekritischen, politischen und landeskundlichen Themen befasste, bekannt. Diese politisch-journalistischen Publikationen, sein Engagement im BFW und seine kritische Auseinandersetzung mit der Neuen Linken verhalfen ihm zum Ruf als Konservativer. Vgl. Kaesler, S. 710 f.
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bezeichnet haben, »in denen der politische Meinungskampf ohne persönliche Aggressionen ausgetragen werden muß, in denen auch verfassungsfeindliche Meinungen gelten dürfen.« Für die linken Studenten war das gleichbedeutend damit, den Marxismus »in nettem philosophischem Geplänkel« zu zerreden. Der geforderte Freiraum ermögliche im Übrigen bloß ungehinderte Auftragsforschung für die Rüstungs- und Pharmaindustrie. Sie wollten also weniger individuell-philosophischen Freiraum, dafür sollten Universität und Forschung wohl nach marxistischen Prinzipen ausgerichtet sein. Die in dem BFW-Gründungsaufruf geforderte Entpolitisierung entlarvte »med-INFO« als Rückschritt zur »absolute[n] Narrenfreiheit« der Ordinarien. Das wurde auch dort deutlich, wo das Zitat eines Gründungsmitgliedes des BFW aus der »Frankfurter Allgemeinen« »analysiert« wurde. Dieses forderte, dass »der abgedunkelte Informationsraum Hochschule« wieder dem Blick der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden solle:710 »Terror und Freiheitsbeschränkungen durch radikale Gruppen dürfen nicht länger verschleiert und verharmlost werden. Es gilt den Widerstand gegen offene Rechtsbrüche zu organisieren; im Gegensatz zu der Scheinreform der gegenwärtigen Hochschulgesetzgebung soll der Kern wirklicher Reformen wieder freigelegt werden, nämlich die Organisation der Hochschulen von ihren wissenschaftlichen Aufgaben her und die Priorität der Leistung.«711
Die Studentenzeitschrift legte diese Sätze dann streng nach ihrer ideologischen Ausrichtung aus: Wenn durch diese Maßnahmen der »Informationsraum« verbessert werden solle, um Protektion, Ordinarienwillkür und kapitalistische Auftragsforschung aufzudecken, und wenn »Rechtsbrüche wie der Numerus clausus, die Auftragsforschung und die Klassenteilung durch materielle Pressionen unterprivilegierter Studenten« so verhindert werden sollten, sei nichts gegen die Bestrebungen einzuwenden. Jedoch zeige der letzte Punkt der Ausführungen, die Orientierung der Universität an wissenschaftlichen Aufgaben, dass es dem BFW in Wahrheit darum gehe, die Hochschule frei von jeder politischen Kritik zu halten, »die Wissenschaft großindustriellen Profit- und reaktionären Herrschaftsinteressen unterzuordnen, die Masse der Studenten zu fachidiotischen akademischen Handlangern zu degradieren und einer Minderheit das Privileg wissenschaftlicher Eliteausbildung zu bewahren«. Unter dem Deckmantel eines vermeintlich unverfänglichen Namens, so schien es in den Augen der Studenten, sollte Forschung für »Rüstung und Monopole« betrieben werden, die Studenten gleichgeschaltet, entpolitisiert und auf ihre »In-
710 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 8/1970, S. 6. 711 Ebd.
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tegrierung in das System vorbereitet« werden: »Der ›Bund Freiheit der Wissenschaft‹ ist ein Kampfbund gegen die Freiheit und gegen die Wissenschaft!«712 Für die »med-INFO«-Redaktion war der BFW also ein Sammelbecken der reaktionären Kräfte, die den »demokratischen« Bestrebungen der Studenten713 an der Universität zuwider liefen. Man sah sich als Opfer der Ordinarien (»Ordinarienherrschaft«, »Ordinarienwillkür«), der Gesellschaft (»Klassenteilung«) und der Wirtschaft (»großindustrielle Profitinteressen«). Diese Selbsteinschätzung wirkt befremdlich, einseitig und lässt Raum für Zweifel an deren Richtigkeit, da keiner der Thesen auf irgendeine Weise belegt werden konnte. Der Vorwurf der Restauration traf – sowohl auf dem Gebiet der Wissenschaft im Speziellen als auch auf jenem der Gesellschaft und Politik im Allgemeinen – nur eingeschränkt die Realitäten der Bundesrepublik. Gerd Koenen gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass der hohle Autoritarismus der regierenden Politikergarde, der »Industriekapitäne alten Stils«, aber auch der Chefärzte als »Halbgötter in Weiß« vielfach schon eine Reaktion darauf gewesen sei, dass ein untergründiger Wandel längst im Gange war.714 Einigkeit zwischen BFW und Studenten herrschte – wie wahrscheinlich an den meisten deutschen Hochschulen zu dieser Zeit – darüber, dass Reformen grundsätzlich notwendig schienen. Sie blieb aber auch die einzige Gemeinsamkeit, ansonsten waren die Berichterstatter auf beiden Seiten über Situation, Aufgabe und Ziel der Hochschulreform uneinig, daneben waren auch die beteiligten Gruppen innerhalb der Universitäten über alles und jeden zerstritten.715 Jede sachliche, pragmatische oder wissenschaftliche Auseinandersetzung konnte dabei in eine moralische umgewandelt werden. Und aus jeder moralischen Debatte – so schreibt Jürgen Busche – konnte die Linke als Gewinner hervorgehen. Gleichsam konnte jeder moralisierende Hinweis von konservativer Seite als instrumentell denunziert werden.716 712 Ebd. 713 Bereits 1969 begann ein Prozess, in dessen Verlauf die hierarchisch aufgebauten Ordinarien-Universitäten in so genannte »Gruppen-Universitäten« umgebildet werden sollten. In den Hochschulgesetzen der Bundesländer wurden Studenten und Assistenten Mitbestimmungsrechte in Universitätsparlament, Studentenkommissionen und den Fachbereichen eingeräumt. Doch bereits zuvor gab es einzelne Versuche, Studenten und Assistenten zu beteiligen, wie etwa die neue Ordnung am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Diese Entwicklung beziehungsweise der Druck der Studentenbewegung ermöglichten letztlich das 1976 verabschiedete Hochschulrahmengesetz, das die Grundsätze für die Demokratisierung aller Hochschulen aufstellte. Die Reform beruhte laut Winfried Schlaffke auf einem Prinzip, das aus den Bemühungen der Gewerkschaften der Sechziger Jahre erwuchs, eine stärkere Beteiligung der Arbeiter an den Management-Entscheidungen im Industriebereich zu entwickeln. Vgl. Schlaffke, S. 131 f. 714 Koenen, Muff, S. 145. 715 Vgl. Schlaffke, S. 123. 716 Vgl. Busche, S. 142.
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Wie im Sinne der linken Ideologie der »richtige« Forscher keinesfalls aussehen sollte, wurde bereits damals deutlich. Denn Wissenschaftler, die ihre Forschungen voran trieben, ohne deren moralische oder politische Konsequenzen mit zu bedenken, sahen sich auch im Fall der Bonner Mediziner einer scharfen Kritik ausgesetzt.717 Allerdings sucht man einen entsprechenden Gegenentwurf mit konkreten Charakteristika eines solchen »idealen Forschers« in den einschlägigen Publikationen derer, die ihn forderten, vergeblich. In derselben »med-INFO«-Ausgabe berichtete die Redaktion ausführlich über den Bundeskongress des BFW, der am 18. November 1970 in der »hermetisch von Polizei und Saalschutz abgeriegelten« Bad Godesberger Stadthalle stattfand. Sogleich empörte man sich, dass »von der Delegation der demokratischen Kräfte« lediglich drei Vertretern Zutritt gewährt wurde. Michael Maercks718 sei sogar von dem angeblich rechtsradikalen »Chef der Staatsordnertruppe« Busso von der Dollen719 des Saales verwiesen worden mit der Begründung, er habe schon »damals die Kiesinger-Veranstaltung gestört«.720 »ADM721Boß Stürmer« hätte sich dabei – ohnehin im Bündnis mit RCDS und der »ultrarechten Gruppe Busso [van] [von] der Dollens« besonders hervorgetan, 717 Vgl. Hecken, S. 88. 718 Michael Maerck wurde in einem Artikel des »Spiegel« vom 28. Juni 1971, also durchaus zeitnah zu dem Bericht in »med-INFO« als stellvertretender Vorsitzender des »Spartakus« vorgestellt. Der politische Studentenverband präsentierte sich darin als Nachfolgeorganisation des zerfallenen SDS und »akademisches Anhängsel der DKP«. Der DKP blieb er offenbar treu. Noch am 9. und 10. Oktober 2010 berichtete die Partei auf ihrer Homepage, Maerck habe (als Chefredakteur der Parteizeitung UZ (»Unsere Zeit«)) einen Blog zum Verlauf des Parteitages in Frankfurt am Main geschrieben. Anonymus, Typ, S. 52; Anonymus, Kommunisten live, o.S. Wahrscheinlich war es seine Position im Spartakusbund, die seine Anwesenheit an der Veranstaltung begründete und seine Bekanntheit als »Störenfried« erklären könnte. 719 Nähere biographische Informationen zu Busso von der Dollen sind nicht verfügbar. Er findet sich jedoch als Unterzeichner des »Manifest[s] gegen den Linkstrend«, wo er als CDU-Mitglied aufgeführt wird Auch der von 1500 Personen unterzeichnete »Appell für die Pressefreiheit – gegen die von der Leipziger Buchmesse ausgesprochene politisch motivierte Ausladung der Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT« aus dem Jahre 2006 wurde von ihm unterschriebenen, dort wird er als nicht näher beschriebener »Institutsleiter« und Hauptmann der Reserve vorgestellt. Vgl. Siebeke (Initiator des Manifests), »Manifest gegen den Linkstrend«, o.S.; Anonymus, Danke!, o.S. Man darf also annehmen, dass er sich auch in den siebziger Jahren nicht mit den Zielen der Studentenrevolte identifiziert hat. 720 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 8/1970 (nicht datiert), S. 7. 721 Die Abkürzung steht für »Aktion Demokratische Mitte« und beschreibt fachschaftsspezifische, dem RCDS nahe stehende Gruppierungen, die für eine unideologische Hochschulund Fachschaftspolitik einzutreten vorgaben, jedoch von linker Seite heftig attackiert wurden, da man sie beschuldigte, die reaktionäre Politik des RCDS unter einem scheinbar harmlosen Namen zu vertreten. Mit der Auseinandersetzung um die ADMs beschäftigt sich ausführlich Kapitel 10. Der Student Michael Stürmer wurde auch in diesem Zusammenhang auf das Attribut »ADM-Boß« reduziert.
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indem er »ihm als Demokraten bekannte Personen« auch dann noch am Zutritt gehindert habe, als diese ihm gültige Eintrittskarten vorweisen konnten.722 Weitere Mitglieder der »Bonner studentische[n] Rechte[n]«, die so genannte »Ordnertruppe«, wurden namentlich genannt. Sie hätten sich sichtlich in ihrer »Schläger- und Ordnerrolle« gefallen und seien an den (von den linken Studenten schon von vornherein verworfenen) inhaltlichen Ausführungen der Referenten sehr interessiert gewesen. Offenbar verfolgte man das Ziel, die genannten Studenten723, aber auch die ebenfalls namentlich aufgeführten Professoren724 öffentlich zu diffamieren – ein fragwürdiges hochschulpolitisches Mittel!725 Dass man offenbar die eigene Meinung als die einzig richtige ansah, legt die Empörung darüber nahe, dass man »unbehindert« LHB726- und NHB727-Flugblätter, das »CSU/Npd-studentenblatt« »Student« und das Mitteilungsblatt des RCDS hätte verteilen dürfen. Der in der Halle aufgebaute Büchertisch und die Materialien hätten »den gut funktionierenden Apparat« offenbart, der hinter dem BFW stehe. Nach Analyse des Ablaufs der Veranstaltung kam das Redaktionskollektiv von »med-INFO« zu dem Schluss, dass zunächst – nach »Grußtelegrammen von CDU usw.« – die Emotionen dadurch hätten »hochgepeitscht« 722 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 8/1970, S. 9. 723 Neben Busso von der Dollen, erwähnte »med-INFO« die Namen Lindstedt (BSU (Bürgerliche Soziale Union)), Daniel, Langguth, G. Klein, Rosorius, Wolff (RCDS), Kickartz (ADM), Stürmer (BHF (unklare Bedeutung), ADM), Aretz und »zweimal Küsgens« (BSU). Daneben wurden die Namen Wegener, Sturm, Kesberg, Gauger, van Rey, Lepple und von der Mühlen ohne etwaige Parteizugehörigkeit genannt. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 8/1971, S. 7. 724 Einige der aufgeführten Namen tauchen auch in anderem Zusammenhang im Rahmen der von »med-INFO« geübten Kritik auf, so die Professoren Röttgen, Fleischhauer, Pichotka, Gütgemann, Repgen und Hatto Schmitt. Darüber hinaus tauchten in dem Artikel die Namen Kersting, Habs (Medizinische Fakultät), Thalweit, Schoss, Ritzel, Ditsche, Münch, [?]eive, Greff, Schwarte, Dröge, Schmied, [?]eling, Rothe (Philosophische Fakultät), Jacobs, Krümmel, Flume, Weidner (Rechtswissenschaftliche Fakultät), Kloft, Hirzebruch, Groth, Gassner und Appel (Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät) auf. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 8/1971, S. 7. 725 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 8/1970, S. 7. 726 Es bleibt unklar, welche politische Gruppierung sich hinter dieser Abkürzung verbirgt. Denkbar wäre ein Zirkel in Zusammenhang mit dem Liberalen Studentenbund Deutschlands (LSD), der bis 1969 offizieller Hochschulverband der FDP war, sich dann aber wegen inhaltlicher Differenzen mit der Mutterpartei von dieser lossagte. Nach der Selbstauflösung 1971 gründete sich ein Jahr später die Nachfolgeorganisation »Liberaler Hochschulverband«, in Abgrenzung dazu 1973 der eher FDP-nah orientierte »Sozialliberale Hochschulverband« (SLH). Vgl. Kubicki/Lönnendonker, S. 173 f. Denkbar ist in diesem Fall eine eher liberal bis konservativ orientierte, mit dem SLH in Verbindung stehende Gruppierung, die womöglich den Namen »Liberaler Hochschulbund« trug. 727 Die Abkürzung steht für »Nationaldemokratischer Hochschul-Bund«. Es handelt sich um die Studentenorganisation der NPD.
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werden sollen, dass über angeblichen Terror, Gewalt, kommunistische und ideologische Unterwanderung, SED-Ideologie in Habilitationsschriften und die Besetzung von Lehrstühlen nur noch mit Linken berichtet worden sei. Auf Grund des immer wiederkehrenden Beifalls schloss man in dem Artikel, das Publikum habe sich wohl stark und bestätigt gefühlt. Im zweiten Teil der Veranstaltung seien dann die Repräsentanten der SPD zu Wort gekommen. Zwar hätten Richard Löwenthal728, Wilhelm Hennis729 und Heinrich Lübbe730 wie ihre Vorredner die demokratischen und sozialistischen Studenten – und die DKP im Besonderen – diffamiert, darüber hinaus aber auch die Schuld an der »staatsmonopolistische[n] Hochschulformierung« den linken Studenten zugeschoben. Dazu führte »med-INFO« einige Zitate der Redner an, in denen diese unter anderem eine Unterwanderung des VDS durch die DKP unterstellten, den Staat der Nachlässigkeit angesichts der Krise in den Universitäten beschuldigten und den Mitbestimmungsbestrebungen von studentischer Seite das Prinzip der »Sachautorität« entgegen hielten. Insbesondere Löwenthal habe daraus mehrere Konsequenzen gezogen: So ließ es sich seiner Auffassung nach nicht vermeiden, den Numerus clausus beizubehalten (»ohne Leistungstests keine sozial gerechte Zulassung«) und die Entscheidungshoheit in Forschungsfragen ausschließlich Wissenschaftlern zu überlassen. Prüfungs- und Studienordnungen seien zudem eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und müssten daher von den entspre728 Richard Löwenthal (1908 – 1991) war Politikwissenschaftler und SPD-Mitglied. Sein 1948 geschriebenes Werk »Jenseits des Kapitalismus«, eine theoretische Schrift über den demokratischen Sozialismus, beeinflusste die sozialistische Linke, vor allem die studentische Jugend der Sechziger Jahre, in starkem Maße. Jedoch wandte sich Löwenthal im Juli 1967 gegen die Pläne des SDS, Formen der plebiszitären Demokratie in Gesellschaft und Hochschule einzuführen, und distanzierte sich von der Bewegung im Jahre 1968. Von 1970 bis 1973 war er Vorstandsmitglied im BFW. In seinem Engagement gegen linksradikale Tendenzen in der Sozialdemokratie unterstützte er beispielsweise den so genannten »Abgrenzungsbeschluß« der SPD gegenüber der DDR: »Die Sozialdemokratie bekennt sich erneut zu der Aufgabe, diese [freiheitliche] Ordnung gegen alle kommunistischen Irrlehren zu verteidigen.« Vgl. Hartstein, Karriere, o.S.; Winkler, S. 302 f. 729 Wilhelm Hennis (*1923) ist ein deutscher Politikwissenschaftler. Zur der Zeit, als der Artikel in »med-INFO« gedruckt wurde, war Hennis Ordinarius für Politik und Soziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Stephan Schlak erklärt in seiner Biographie Hennis’, dieser habe während der Siebziger Jahre, die »politische Barbarengrenze zur Neuen Linken« neu gezogen. Anonymus, Hennis, o.S.; Schlak, S. 9. 730 Heinrich Lübbe (*1926) ist ein deutscher Sozialphilosoph, der als entschiedenster und hartnäckigster Gegner der Achtundsechziger in Deutschland gilt. Er sah seit Rousseau und dem Jakobinismus die Linke auf dem direkten Weg von der Authentizität zum Terrorismus. Seiner Auffassung nach führte der Kurzschluss von »individuellem Glücksverlangen und gesellschaftlichem Gemeinwohl […] zu einer für authentisch gehaltenen ›identitären‹ Demokratie, welche das demokratisch organisierte Gemeinwesen zerstöre«. Dagegen forderte er eine Handlungsnorm, »die uns sagt, was wir machen müssen, um zu können, was wir wollen«. Zit. n. Scherpe, S. 106. »Med-INFO« nennt nur die Nachnamen der Redner. Es handelt sich jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach um die erwähnten Personen.
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chenden Organen und nicht innerhalb der Hochschule entschieden werden. Studentische Mitsprache sei bei didaktischen und sozialen Fragen und ihre Mitarbeit bei Detailfragen zu den Lehrplänen sinnvoll. Den »vielbeschworenen Interessenkonflikt« gebe es an der Hochschule schlichtweg nicht. Löwenthal protestierte »gegen die Entartung der letzten Jahre« und appellierte an seine Zuhörer, die »Leistungsstärke« beizubehalten.731 Wilhelm Hennis erhob ähnliche Vorwürfe gegen die Bestrebungen der linken Studenten und deren »überzogene[n] Autonomievorstellungen« und regte an, eine »Kuratorialverwaltung« einzurichten beziehungsweise einen permanenten Staatskommissar in der Hochschule zu beschäftigen. Hermann Lübbe wünschte sich darüber hinaus mehr Öffentlichkeitsarbeit (»Med-INFO« zitierte: »örtliche Organisationseinheiten müssen wirksame Pressepolitik machen, Rednerdienst organisieren«) im Sinne des BFW und gab zu bedenken, dass auch die Hochschulreform den »Extremistenmarsch durch die Institutionen« nicht stoppen könne, da die Universität nicht mehr die einzige Institution sei, die in Frage gestellt werde. Der Weg, die »Grenzen der Toleranz gegenüber dem Unzumutbaren« enger zu ziehen, hieß für Lübbe »Meta-Kritik«: »Wir werden nicht streiken, wir werden in gezielten Aktionen unsere Arbeit partiell einstellen, damit die Verantwortlichen die Bedingungen wieder herstellen können.« Im eigenen Interesse könne sich letztlich keine Partei der Aufgabe entziehen, »organisiert und konsequent« wieder für Ordnung zu sorgen.732 Bereits 1971 formierte sich also entschiedener Widerstand gegen die Forderung nach uneingeschränkter Mitbestimmung in universitären Forschungsfragen, sowohl was Gegenstand der Forschung als auch deren Methodik anging. Offenbar erkannte man das Potential der Revolte und ahmte deren Erfolgsrezepte nach. So forderten auch die Redner auf dem BFW-Kongress mehr Öffentlichkeitsarbeit und versuchten, ihre Ziele unter anderem durch »Aktionen« – ein von der Achtundsechziger-Bewegung geprägter Begriff – zu erreichen. Wie ihre Kommilitonen an anderen westdeutschen Universitäten kann man auch den Bonner Studenten unterstellen, dass sie den Wissenschaftsbetrieb in seiner damaligen Gestalt abschaffen oder zumindest umfunktionieren wollten. Klaus Scherpe bemerkt hierzu, dass die Selbstverständlichkeit von Abläufen, die Konstanz von Erwartungen und darüber hinaus die Geltung des professionellen Habitus und die Gültigkeit der Sprach- und Kommunikationsregeln spontan außer Kraft gesetzt wurden. Die Störung des normalen Betriebs habe so zu einer Verstörung im Denken und Handeln auch bei denjenigen liberalen Fachvertretern geführt, die mit dem kulturrevolutionären Projekt sympathisierten.733 731 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 8/1970, S. 7. 732 Ebd., S. 7 f. 733 Vgl. Scherpe, S. 100.
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Jedoch waren keinerlei Ansätze von Einsicht in derartige Erklärungen für das Verhalten der so scharf kritisierten Professoren beziehungsweise Ordinarien in der Studentenpresse vorhanden. Zu der Annahme, dass sich aber zumindest einzelne Mediziner mit dem BFW solidarisierten, gibt allein die Präsenz der namentlich genannten, in »med-INFO« an den Pranger gestellten Studenten Anlass. Die Ergebnisse der Wahlen zum Satzungskonvent im Juli 1971 sorgten für Unzufriedenheit bei den linken Medizinstudenten. Professoren, Assistenten und Studenten waren hierbei wahlberechtigt, wobei der BFW bei der ersten Gruppe die Mehrheit der Stimmen erlangen konnte. Die Studenten sahen nun nicht nur in den Wahlergebnissen den Beweis für eine generelle Rechts-Entwicklung. »Med-INFO« erklärte: »Ab nächstem Semester ist H. H. Schmitt Rektor an dieser Universität. Dieser Mann ist Mitbegründer des ultrarechten ›Bundes Freiheit der Wissenschaft‹.«734 Auch im Zusammenhang mit den so genannten Berufsverboten wurde Schmitt in der entsprechenden Literatur als reaktionär charakterisiert. Seine Mitgliedschaft im BFW war dabei offenbar eine wichtiges Attribut735, weil sie eine Art Bestätigung seines vermeintlich reaktionären Wesens zu sein schien. Glaubt man der Studentenpresse, so hatte der Bund neben der Philosophischen auch in der Medizinischen Fakultät großen Zulauf, was offenbar Anlass zur Sorge gab. Denn nach der Meinung von »med-INFO« trat niemand im Hochschulbereich so kompromisslos gegen jeden geringsten Ansatz von Mitbestimmung und Demokratisierung auf wie der BFW, in dessen wichtigsten Positionen Vertreter namhafter Industriekonzerne säßen. Polarisierende Äußerungen von BDI-Vertretern (»Vereinigung der Wirtschaftsbosse«), nach denen Mitbestimmung in Betrieben, Universitäten und Schulen ebenso unsinnig sei wie Mitbestimmung im Zuchthaus, wurden direkt mit dem BFW in Verbindung gebracht, allerdings ohne den etwaigen Zusammenhang zu erläutern. Wahrscheinlich reichte hier schon das Schimpfwort »Industriekonzern«, um eine Verbindung zu rechtfertigen und die Frontlinien zu definieren. Die Studenten leiteten aus den von ihnen dargestellten und zumindest teilweise auch konstruierten Verhältnissen einerseits ab, Kämpfer für Mitbestimmung an der Universität zu sein, andererseits aber auch das Wissen, wie dieser Kampf zu führen sei. Eine Methodik nannten sie dabei nicht, wahrscheinlich sollte aber gleichzeitig durch die dargelegten Übertreibungen und Polemisierung suggeriert werden, dass auch radikalere Wege als gerechtfertigt beziehungsweise – in
734 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 12, Juli 1971, S. 9. 735 Vgl. Bethge/Roßmann, S. 294 f.
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Anbetracht der vermeintlich dramatischen Lage – als notwendig angesehen wurden.736 Wie zur Selbstbestätigung wiederholte »med-INFO« die so typischen Achtundsechziger-Thesen: Forschung und Lehre habe im Dienst der arbeitenden Bevölkerung zu stehen, die verfasste Studentenschaft sei zu schützen, die Mitbestimmung müsse gegen die rechten und reaktionären Kräfte an der Universität und in der Gesellschaft im Bündnis mit der Arbeiterklasse und deren politischen Organisationen erkämpft werden. Schließlich habe auch die Wissenschaft im Dienst der Völkerverständigung zu stehen.737 Die Fronten waren – glaubt man dieser Darstellung – also sehr deutlich: Auf der einen Seite linke Studenten738, die sich als Opfer von Repression und Reaktion, Kämpfer für mehr Demokratie und Vertreter der Arbeiterrechte in einem betrachten, auf der anderen der BFW unter anderem in Gestalt von RCDS und LHB als Inbegriff einer autoritären und rückständigen Wissenschaft beziehungsweise Lehre. So einfach konnten die Dinge freilich nicht sein. Abgesehen davon, dass nicht erwähnt wurde, wie die Arbeiter von studentischen Aktionen für mehr Mitbestimmung an der Universität profitieren sollten und ob sie sich überhaupt von diesen vertreten sahen, entbehrten die ernsten Vorwürfe gegenüber dem BFW und Hatto Schmitt jeder Grundlage. Die Schwarz-Weiß-Malerei ist sicher vielmehr im Kontext des in den Augen der linken Studenten unbefriedigenden Wahlergebnisses zu sehen und sollte die Kräfte der so genannten »fortschrittlichen« Parteien und Zirkel bündeln. Die ausführliche Erläuterung angeblicher Manipulation der Wahlberechtigten und repressiver Aktionen seitens der Konkurrenzlisten unterstützt diese Vermutung: So habe der Wahlleiter einen Rundbrief versandt, in dem die Kandidaten der gegnerischen Liste nochmals genannt wurden unter dem angeblichen Vorwand, einige Kandidaten des RCDS seien in einem vorherigen Brief nicht vollständig aufgeführt worden. Verbunden gewesen sein soll diese zweite Nennung mit dem Hinweis, »man könne auf Grund dieses ›Versehens‹ nochmals vom wahlrecht Gebrauch machen und – nun wen wohl – noch[]einmal wählen«. Weiterhin wurde das so genannte universitäre Rechtskartell, welches angeblich von Hatto Schmitt gelenkt wurde, in »medINFO« für wüste Diffamierungskampagnen und Plakatabreißaktionen verantwortlich gemacht.739 Ein weiterer Vorwurf: 736 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 12, Juli 1971, S. 9 f. 737 Vgl. ebd., S. 10. 738 Zu den linken Studenten zählte »med-INFO« hier Mitglieder des SHB, MSB-Spartakus, Basisgruppen, Fachschaftsvertreter und so genannte nicht organisierte fortschrittliche Studenten. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 12, Juli 1971, S. 10. 739 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 12, Juli 1971, S. 10.
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»Sie nutzten die entpolitisierende Brieflistenwahl, und versuchten durch einen Frontalangriff gegen [d]die linke Liste, die sie als reine DKP/MSB-Liste hinzustellen versuchten, verbunden mit massivster antikommunistischer Hetze die Studentenschaft[,] zu verwirren und eine Orientierung auf die Kräfte, die studentische mit den Interessen der arbeitenden Bevölkerung verbinden und im Kampf vertreten können, zu verhindern.«740
Bei allen Klagen und Erklärungsversuchen übersah diese Haltung allerdings die Tatsache, dass der BFW womöglich einfach deswegen Zulauf erhielt, weil sich Professoren durch das aggressive Auftreten vieler linker Studenten bedroht oder herausgefordert sahen. Neben solcher offener verbaler Gewalt wirkte laut Till Kinzel zudem vielfach eine nicht unerhebliche psychostrategisch gezielt erzeugte Einschüchterung negativ auf das Universitätsklima.741 Nicht zuletzt reagierten Professoren mitunter sehr sensibel auf eine drohende Gefährdung der »Freiheit der Wissenschaft« und vor allem auf die Verletzung akademischer Anstandsregeln.742 Auch wenn studentische Mitbestimmung auch aus heutiger Sicht sicher grundsätzlich zu bejahen ist, muss der von den linken Medizinern in Bonn beschriebene Weg dorthin kritisch beurteilt werden. Offenbar nahm ein nicht unerheblicher Teil der Bonner Mediziner die Diffamierung zum Teil selbst konstruierter Feindbilder bewusst in Kauf, um zu polarisieren und die eigene Position im Machtkampf zu verbessern. Ausdruck einer gefestigten demokratischen Haltung war das nicht unbedingt, so dass die Studenten in dieser Hinsicht an ihrem eigenen Anspruch scheiterten. Mit sich selbst waren eben jene Studenten im Übrigen trotz der empfundenen Niederlage zufrieden: Obwohl man es als eigenen Fehler ansah, in großen Lehrveranstaltungen nicht offensiv und zahlreich genug aufgetreten zu sein, daneben einsah, zu viele Forderungen und Parolen nebeneinander formuliert zu haben, stimmten die trotz angeblich ungünstiger Umstände über 3000 erreichten Stimmen optimistisch für zukünftige Auseinandersetzungen und weckten das Gefühl, viele Erfahrungen im Kampf um Mitbestimmung und gegen reaktionäre Lehrinhalte und deren Träger gesammelt zu haben.743
740 741 742 743
Ebd. Vgl. Kinzel, S. 125. Vgl. Scherpe, S. 100. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 12, Juli 1971, S. 10.
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Im Kampf für eine demokratische Hochschule und speziell um die neue Universitätsverfassung sahen sich nicht nur die Bonner Studenten dazu berufen, zu verhindern, dass Wissenschaft gegen die Interessen der Mehrheit betrieben wurde.744 Wie von Simon Kießling beschrieben, fanden viele von ihnen zu dieser Zeit eine reine, nicht unmittelbar gesellschaftsrelevante Wissenschaft antiquiert.745 Als am 19. November (höchstwahrscheinlich im Jahr 1970) der VDS746Projektbereich Kriegsforschung eine Liste von in Westdeutschland bis 1964 für die US Air Force durchgeführten Forschungsaufträge veröffentlichte, witterte der AStA einen Skandal und warnte vor in Bonn betriebener »Vernichtungsforschung«.747 Kriegsforschung – so erklärte eine sich mit dem Thema befassende Sonderausgabe des »ASTA-INFO«, sei nur die offenste und aggressivste Art des Missbrauchs der Wissenschaft. Ein immer größerer Teil der Forschung an westdeutschen Hochschulen werde dabei nicht mehr aus dem Universitätshaushalt finanziert, sondern in externen Gremien geplant und gelenkt, beispielsweise in Stiftungen oder der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG), wo Vertreter der so genannten Monopole die Mehrheit hätten und die Forschung an Profitinteressen ausrichteten. Dies müsse im Kampf um einen neue Universitätsverfassung berücksichtigt werden, um wissenschaftsfeindlichen Inhalt von Forschung und Lehre zu verhindern.748 In den sogleich aufgeführten Ausschnitten der Liste von Projekten war auch das zur Medizinischen Fakultät gehörige Institut für Physiologische Chemie vertreten, das sich offenbar bis April 1960 unter Leitung von Professor Dr. Groth mit dem Thema »Photochemische Reaktionen in der Atmosphäre« befasst hatte. In der recht chaotischen Gedankenabfolge, in der von offenbar verschiedenen »Listen« die Rede ist, ist hierbei allerdings nicht einmal mit Sicherheit zu sagen, welche Liste eigentlich gemeint war, obwohl es sich wahrscheinlich um das vom VDS veröffentlichte Dokument handelte.749 Auf Anfrage der Verfassungskommission der Universität wurden die verschiedenen Fakultäten bereits im Sommer 1970750 um Mitteilung bezüglich 744 UAB, Sammlung AStA-Info Band 5 (1971), Sondernummer des ASTA-INFO (nicht datiert, wahrscheinlich Januar 1971), S. 1. 745 Vgl. Kießling, S. 79. 746 Zur Erläuterung siehe auch Fußnote 460 auf S. 132. 747 UAB, Sammlung AStA-Info Band 5 (1971), Sondernummer des ASTA-INFO (nicht datiert, wahrscheinlich Januar 1971), S. 1. 748 Vgl. ebd. 749 Ebd. 750 Eine Jahreszahl ist nicht angegeben, ASTA-INFO spricht lediglich von »Sommer«. Im Zu-
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Fremdfinanzierung gebeten. Während zu den Fachbereichen Chemie, Pharmazie und Biologie keine Antworten vorlagen, erregte das Verhältnis von 1 Million DM aus Universitätsmittel und 7 Millionen DM Drittmitteln bei den Physikern in den Augen des AStA den Verdacht, dass Forschung nicht so betrieben wurde, wie man es sich vorstellte. Auf Beschluss des Studentenparlamentes sandte der AStA allen Professoren einen detaillierten Fragebogen zu mit der Bitte um Antwort bis zum 5. Januar 1971, angeblich, um Kriegsforschung aufzudecken und das genaue Ausmaß der Fremdfinanzierung festzustellen.751 Der detaillierte Fragebogen wünschte dabei Auskunft über – den Institutsetat 1969, – den Anteil nicht projektgebundener und projektgebundener Landesmittel, – Gelder von Stifterverbänden, – Mittel des Bundes, – Gelder des Bundesverteidigungsministeriums, – Gelder der DFG beziehungsweise der Fraunhofer-Gesellschaft, – Bearbeitung von Industrieaufträgen, – Forschungsaufträge beziehungsweise finanzielle Unterstützung von ausländischen militärischen Auftraggebern, – alle bearbeiteten Forschungsaufträge im letzten Jahr, – nicht veröffentlichte Forschungsergebnisse, – frühere militärische Auftraggeber, – Anzahl der am Institut beschäftigten Personen inklusive Anteil derer, die aus Haushaltsmitteln der Universität beziehungsweise aus anderen Mitteln bezahlt wurden sowie – Sachspenden und Leihgeräte.752 Das Ergebnis dieser Umfrage wurde jedoch in keiner der im Universitätsarchiv Bonn verfügbaren Zeitschriften veröffentlicht. Es ist auch unwahrscheinlich, dass die angeschriebenen Fakultäten die gewünschten Auskünfte erteilten, da sie sicherlich nicht dazu verpflichtet waren und daneben befürchten mussten, in der Studentenpresse wegen ihrer Geldgeber kritisiert oder gar diffamiert zu werden. Obwohl der AStA den Beweis schuldig blieb, inwiefern das Pentagon beziehungsweise die US Air Force in diese Projekte verwickelt sein sollten, sah er sich in der Pflicht, die Studenten über deren vorgebliche Machenschaften aufzuklären: Wer bei den Air-Force-Aufträgen an wertfreie Forschung dachte oder unverdächtige Grundlagenforschung dahinter vermutete, sollte durch Zitate aus sammenhang mit den anderen Datumsangaben ist jedoch das Jahr 1970 sehr wahrscheinlich. 751 UAB, Sammlung AStA-Info Band 5 (1971), Sondernummer des ASTA-INFO (nicht datiert, wahrscheinlich Januar 1971), S. 2. 752 Vgl. ebd, S. 2 f.
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dem »AIR-FORCE-Objecives 1969«-Bericht des Office of Aerospace Research (OAR)753 eines Besseren belehrt werden. Darin hieße es, das OAR sei zuständig für die Durchführung eines effektiven Forschungsprogramms mit dem Ziel, neue wissenschaftliche Erkenntnisse hervorzubringen, um die Air Force mit den modernsten Waffentechnologien zu versorgen und so zur Sicherheit der Vereinigten Staaten beizutragen. Von größter Relevanz für die Vergabe eines Forschungsauftrags oder die Unterstützung eines Forschungsvorhabens seien hierbei die Originalität und die Relevanz der Forschungsvorhaben für die Bedürfnisse der Air Force. Ziel sei letztendlich ein Wissenszuwachs, der für die Entwicklung zukünftiger Waffensysteme notwenig sei.754 Glaubt man dem AStA, so stürzte diese Ausrichtung der Wissenschaft die Forscher in völlige Abhängigkeit, da alle drei Monate ein »Arbeitsbeleg« vorgelegt werden musste, von dessen Akzeptierung die Zahlung der vereinbarten Unterstützung abhing. Jederzeit konnte sich laut Air-Force-Paper eine Untersuchungskommission im Labor des Vertragspartners über dessen Arbeit informieren. Bei Meinungsverschiedenheiten habe der »contracting officer« das letzte Wort, könne das Forschungsprojekt sogar unterbrechen, verzögern oder ganz absetzen. Endgültige Entscheidungen fällte nach den Aussagen des Berichts das Oberkommando der US Air Force. »ASTA-INFO« erklärte, diese Steuerung der Forschung über die Finanzierung der Forscher sei ein wesentliches Merkmal der gesamten staatsmonopolistischen Forschungspolitik.755 In diesem Zusammenhang zitierte das Blatt aus einer Denkschrift über die Forschungssituation der Universitäten in Nordrhein-Westfalen der Kommission für Forschung des Planungsbeirates für die Entwicklung des Hochschulwesens in NRW, der den Standpunkt des AStA und seine Verdächtigungen bestätigen sollte. Erneut kam hier die knappe finanzielle Ausstattung der Universitäten zur Sprache, die dafür verantwortlich sei, dass für Forschung viel zu wenig Geld756 übrig bleibe. Hinweise auf die Verletzung der Freiheitsgarantie für Forschung und Lehre durch den Staat hätten nichts bewirkt. Die Tatsache, dass sich die 753 Laut ASTA-INFO handelte es sich hierbei um eine Unterorganisation der Air Force, die den größten Teil der Forschungsaufträge des Pentagons an die westdeutschen Universitäten vergab. Vgl. UAB, Sammlung AStA-Info Band 5 (1971), Sondernummer des ASTA-INFO (nicht datiert, wahrscheinlich Januar 1971), S. 3. 754 UAB, Sammlung AStA-Info Band 5 (1971), Sondernummer des ASTA-INFO (nicht datiert, wahrscheinlich Januar 1971), S. 3. 755 Ebd., S. 3 f. 756 Insgesamt habe den naturwissenschaftlichen Hochschulinstituten aller Fachrichtungen im Jahr 1969 ein Betrag von 34,4 Millionen DM zur Verfügung gestanden, davon 14 Millionen DM aus dem Universitätshaushalt. Die Forschung sei mit 20,4 Millionen DM also weitgehend durch die großen Forschungsförderungsorganisationen oder durch Beiträge Dritter finanziert worden. UAB, Sammlung AStA-Info Band 5 (1971), Sondernummer des ASTAINFO (nicht datiert, wahrscheinlich Januar 1971), S. 4.
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einzelnen Hochschullehrer den Grundstock für ihre Arbeit bei verschiedenen Geldgebern selbst sichern müssten, sei ungesund und koste unnötig Arbeitskraft. Forschung sei jedoch eine Grundaufgabe der Hochschulen, deren Finanzierung sicherzustellen sei. Die Einrichtung spezieller staatlicher Forschungsinstitute oder die Vermehrung von Max-Planck-Instituten sei keine Alternative, da sich gezeigt habe, dass außeruniversitäre Einrichtungen auf dem Gebiet der Grundlagenforschung um so effektiver seien, je mehr sie mit den Hochschulen und dem akademischen Nachwuchs in Verbindung stünden.757 Die geringe Finanzierung durch den Universitätshaushalt wurde in der Sonderausgabe als bewusste Planung zur Ausnutzung der Forschungskapazitäten der Hochschulen für ein Verbundsystem aus Hochschulen, Großkonzernen und staatlichen Einrichtungen gedeutet. Überlegungen zu knappen Haushaltsmitteln spielten anscheinend keine Rolle! Speziell der ständige Ausbau der DFG zur zentralen Forschungsförderungsstelle, die immer mehr auch die Förderung der Grundlagenforschung übernehmen sollte, um diese dann auf die staatlichen und industriellen Großforschungszentren mit angeblich überwiegend militärischer Zielsetzung hinzulenken, sollte auf dieses Verbundsystem aktiv hin arbeiten. Zu verwirklichen schien das nur bei Ausschaltung echter Mitbestimmung, weshalb die DFG nur jene Projekte fördere, die keiner Mitbestimmung unterlägen. Abhängigkeiten würden gleichzeitig bewusst geschaffen beziehungsweise erhalten.758 In der Schlussparole des Blattes wird deutlich, dass der AStA offenbar darum bemüht war, Unterstützung für seine Forderungen bezüglich der Universitätsverfassung zu finden. Darin sollte im Sinne der formulierten Thesen festgelegt sein, dass Forschungsplanung offen gelegt und Forschungsinhalte kontrolliert werden.759 Die in den sechziger Jahren aufkommende Wissens- und Informationsgesellschaft definierte Wissenschaft als Produktionsfaktor und erwartete von den Universitäten eine größt- und schnellstmögliche Zufuhr wissenschaftlich ausgebildeten Fachpersonals in die Wirtschaft. Im Zeichen verstärkten internationalen Wettbewerbs schienen dabei grundlegende, die Leistungsfähigkeit erhöhende Reformen des deutschen Universitätswesens unausweichlich. Unter anderem beherrschten Forderungen nach privatwirtschaftlich orientierter Bildungsökonomie die Diskussion.760 In diesem Zusammenhang sind sicherlich auch die von den linken Studenten so scharf kritisierten Maßnahmen wie die Kompetenzerweiterungen der DFG und der vermehrte Einfluss der Industrie auf 757 UAB, Sammlung AStA-Info Band 5 (1971), Sondernummer des ASTA-INFO (nicht datiert, wahrscheinlich Januar 1971), S. 4. 758 Vgl. ebd., S.5. 759 Vgl. ebd. 760 Vgl. Kießling, S. 76 f.
Vernichtungsforschung für das Pentagon?
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die universitäre Forschung inklusive deren regelmäßige Kontrolle (dargelegt am Beispiel des »contracting officer«) zu sehen. Bedenken hinsichtlich der Gemeinnützigkeit von Wissenschaft unter diesen neuen Bedingungen waren sicher nicht unberechtigt. Die Schwachstellen dieser neuen, auf größtmögliche Effizienz und Wirtschaftlichkeit ausgerichteten Forschungsprinzipien wurden von den Studenten grundsätzlich erkannt. Jedoch übertrieben sie, wenn sie dahinter gleich das Pentagon vermuteten. Die beschriebenen Fälle lagen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Sonderausgabe ohnehin schon mehrere Jahre zurück und können die erhobenen Vorwürfe, es handele sich dabei um Vernichtungsforschung, nicht belegen. Trotzdem suchte der AStA hier wohl nach jedem noch so kleinem Anlass, um seine Forderungen in der Universitätsverfassung verwirklicht zu sehen. Wie schon in anderem Zusammenhang beschrieben, war zum Erreichen der meist ideologisch geprägten Ziele fast jedes Mittel recht. Die Überschrift »Vernichtungsforschung fürs Pentagon« wirkt im Anbetracht des Inhalts völlig unpassend und hatte damit offensichtlich lediglich die Funktion, Aufmerksamkeit zu erregen und zu polarisieren. Gerade aus dieser Polarisierung schienen linke Gruppierungen – wie im Prinzip alle radikalen Strömungen – Kraft zu schöpfen. Von sachlicher Kritik an aktueller Forschungspolitik, die auch für die Medizinische Fakultät in Bonn relevant war (nicht nur weil diese mit in Verdacht geriet, sondern auch auf ganz grundsätzlicher Ebene, weil in der Medizin eben viel geforscht wird), kann also ebenso wenig gesprochen werden wie von Vernichtungsforschung fürs Pentagon.
9.
»Pille« und Abtreibung
Während die Bundesrepublik in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts einen massiven ökonomischen Entwicklungsschub erlebte, der breite soziale Milieus erfasste, verharrten die Leitwerte und Weltanschauungen der Deutschen bis Ende der sechziger Jahre in den von Kriegs- und Nachkriegszeit geprägten Kategorien.761 Die Entdeckung der »Sexualität als Revolutionsmittel« entsprang Norbert Kozicki zu Folge dann nicht zuletzt der wachsenden Kluft zwischen öffentlich geheuchelter Moral und der tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklung: Während der sechziger Jahre entstand die so genannte Sexwelle in der Gesellschaft.762 Vor diesem Hintergrund schickte die Schering AG ihre ursprünglich als Medikament gegen Regelbeschwerden verabreichte Version der »Pille« im Februar 1961 mit einem für den Arzt bestimmten Beipackzettel, wo die »harmlose« Nebenwirkung der Empfängnisverhütung aufgeführt wurde, auf den Markt. Obwohl die Akzeptanz der »Pille« in Deutschland anfangs eher gering war (wahrscheinlich weil das Medikament in deutschen Zeitungen und Zeitschriften zunehmend mit dem abstoßenden Terminus »Anti-Baby-Pille« versehen wurde), gab das neue Mittel zur Empfängnisverhütung laut eines Artikels des »Ladies’ Home Journals« anlässlich des 30. Geburtstags der »Pille« doch den Zündfunken für den Feminismus und eine neue Frauenbewegung: Nachdem die Frauen sich für ihren Körper selbst verantwortlich gefühlt hätten, hätten sie begonnen, die Autorität von Ehemännern, Vätern, Chefs, Ärzten und Kirchen in Frage zu stellen.763 Betty Friedan erklärte: »Auf den verschlungenen Wegen der Geschichte gab es diese Konvergenz von Forschung und Technologie gerade zu dem Zeitpunkt, als die Frauen bereit waren, ein neues Bewußtsein als Mensch zu entwickeln.«764 Nicht zuletzt sorgte die Pille nach dem so genannten »Golden Age of Marriage« der Fünfziger und 761 762 763 764
Vgl. Fahlenbrach, S. 11. Vgl. Kozicki, S. 142. Asbell, S. 216 – 227. Zit. n. ebd.
218
»Pille« und Abtreibung
Sechziger Jahre (»Baby-Boom«) für eine anschließend rapide sinkende und bis heute auf niedrigem Niveau verharrende Geburtenrate (»Pillenknick«).765 Die völlig neuartigen Diskussionen über die Sexualität der Frau, in denen es anfangs um »das verlorene Wissen der Frau über ihre eigene Lust und die Unkenntnis, die Ignoranz und die Unfähigkeit der Männer, Frauen sexuell befriedigen zu können«, ging, bedeuteten laut Viola Roggenkamp die Entmachtung des Penis und die Entmystifizierung seiner Potenz im Selbstbild des Mannes und ebenfalls in den Köpfen der Frauen.766 Die medizinisch-technische Erfindung der »Pille«, zu deren wichtigsten Auswirkungen auch der dramatische Rückgang des illegalen Aborts gehörte, war letzten Endes einer der Faktoren767, die ausschlaggebend für die Liberalisierung768 der bundesdeutschen Sexualkultur waren.769 Empfängnisverhütung, aber auch die etwas später stattfindenden Diskussionen um die Abschaffung des Paragraphen 218, waren Themen, die den Alltag von Ärzten und Medizinstudenten nicht unbeeinflusst lassen konnten. Entsprechend beschäftigte sich die studentische Presse mit ihnen. Das vorliegende Kapitel will daher das Echo dieser sehr Medizin-nahen Aspekte der Achtundsechziger-Bewegung in Bonn beleuchten.
9.1
Die »Pille«
Die vom Papst770 verdammte so genannte Anti-Baby-Pille ermöglichte laut Norbert Kozicki erstmalig die Trennung von Lusterleben und Heirat, von 765 Huinink/Schröder, S. 70 f. 766 Roggenkamp, S. 212 f. 767 Die anderen drei Faktoren bildeten laut Dagmar Herzog die sich immer weiter verbreitende Verwendung von sexuell stimulierenden Bildern und Texten, die direkte politische Mobilisierung gegen die offizielle Kultur des Sexkonservatismus und vor allem (!) die Rückkehr der öffentlichen Diskussion über den Holocaust im Gefolge der großen NS-Prozesse (zum Beispiel der Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main 1963 – 1965), da diese vielerlei Anlass boten, die Erinnerung an den Nationalsozialismus und die Lehren aus dem Dritten Reich für linksliberale Zwecke umzuschreiben. Vgl. Herzog, Sexualität, o.S. 768 Die sehr bald schon nahezu alle überlieferten Tabus hinwegspülende »Sex-Welle« mit den Revolutionsforderungen der Politik zu verbinden, das nur wenigen Willkommene mit dem für viele Angenehmen zu versüßen, stellte laut Klaus Hildebrand eines der Hauptanliegen der Neuen Linken dar. Große Verbreitung fand etwa die Annahme, dass »Sex und Politik, Vietnamprotest und Antibabypille, Liebe und politischer Kampf […] sich keineswegs ausschließen, sondern sehr gut zusammenpassen (›Liebe ist besser als Krieg‹)«. Hildebrand, S. 377. 769 Vgl. Herzog, Sexualität, o.S. 770 In der vielfach hitzig geführten Debatte um die Einführung und Etablierung der »Pille« in den sechziger und siebziger Jahren wurde die so bezeichnete »Pillen-Enzyklika« von Papst Paul VI. vom 25. Juli 1968 kontrovers diskutiert. In ihr sprach sich der Papst nach über
Die »Pille«
219
Fortpflanzung und Vergnügen.771 Sie kam den Jungrevolutionären gerade recht zur Unterstützung ihres Kampfes gegen sexuelle Unterdrückung und den Mief der bürgerlichen Familie.772 Rudi Dutschke forderte gar in der Zeitschrift »Konkret«, dass »die Antibabypille zum eigentlichen Konsumgut werde«773. Wahrscheinlich waren es aber häufig eher pragmatische Gründe, die den so genannten »Pillenknick« entstehen ließen: Enttabuisierung und Wandel der Geschlechtsmoral zusammen mit den Anforderungen und Angeboten der modernen Arbeits- und Konsumwelt legten es weiten Kreisen schlichtweg nahe, von der revolutionär wirkenden Erfindung bequem anwendbarer und leicht zugänglicher Empfängnisverhütung Gebrauch zu machen.774 Wie bereits von Horst-Pierre Bothien in seinem Buch über Bonner Studenten 1967/68 geschildert, initiierte der Bonner AStA ganz in diesem Sinne im Oktober 1967 einen Aufruf, um Ärzte zu finden, die auch unverheirateten Frauen die »Pille« verschreiben würden. Die Aktion brachte bundesweite Aufmerksamkeit, die Zeitschriften »Quick«, »Stern« und »Constanze«775 berichteten darüber.776 Damit waren die Bonner Studenten nicht allein: Die Studentenverbände in ganz Deutschland überboten sich geradezu darin, entsprechende Listen zu veröffentlichen.777 In Bonn legte man gleichzeitig Wert darauf, der Aktion keinen heimlichen oder diskreten Charakter zu geben: Die Liste sollte »keine schwarze Liste unter dem Ladentisch sein, sondern im AStA öffentlich ausliegen«.778 Bereits einen
771 772 773 774 775
776 777 778
dreijähriger Beratung und gegen die überragend große Mehrheit seiner Berater gegen die »Pille« als empfängnisverhütendes Mittel aus: Nicht nur die »Pille«, sondern jeglicher Eingriff in die Möglichkeit der Fortpflanzung außer der Auswahl des Zeitpunktes des »ehelichen Aktes« wurde durch dieses päpstliche Rundschreiben als »verwerflich« deklariert und sanktioniert. Kaum jemand innerhalb der massenmedialen Rezeption verurteilte die »Pillen-Enzyklika« zwischen Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre nicht ebenso ausdrücklich wie grundsätzlich. Eitler, Gott, S. 184, 312 – 314. Vgl. Kozicki, S. 10. Vgl. Schlaffke, S. 159. Zit. n. ebd. Vgl. Hildebrand, S. 437. Die Frauenzeitschrift »Constanze« hatte den Untersuchungen Daniel Cohn-Bendits zu Folge bereits vorher die Frage nach dem »Recht auf ein glückliches Sexualleben« gestellt, doch noch 1964 polemisierten 140 Ärzte und 45 Professoren in der »Ulmer Denkschrift« gegen die »Entwicklung, die durch die öffentliche Propaganda für Geburtenverhütung […] und durch die zunehmende Sexualisierung unseres öffentlichen Lebens die biologische und die charakterliche Substanz unseres Volkes bedroht. […] Das Wesen der Geschlechtlichkeit ist beim Menschen die völlige Einswerdung von zwei Menschen in einer körperlich-seelischen-geistigen Lebensgemeinschaft. […] Der einseitige und selbstsüchtige Missbrauch entwürdigt und zerstört die menschliche Persönlichkeit und Gemeinschaft.« Zit. n. Gillen, S. 124 f. Vgl. Bothien, S. 13. Vgl. Cohn-Bendit, S. 125. UAB, Sammlung AStA-Info Band 1 – 3 (1967 – 69), ASTA-INFO Nr. 12, 11. 10. 1967, S. 1.
220
»Pille« und Abtreibung
Monat später, im November 1967, erklärte »ASTA-INFO« die Aktion für abgeschlossen. Interessenten für entsprechende Auskünfte wurden an das Sozialreferat des AStA verwiesen.779 Auch das Studentenparlament beschäftigte sich während seiner Sitzung am 15. November 1967 mit dem Thema.780 Doch schien hierbei nicht alles reibungslos zu laufen: Ein Jahr später berichtete der Bonner AStA, dass verschiedene Ärzte »die bestehenden Vorurteile gegen die Pille bei Unverheirateten in klingende Münze umzuwandeln« versuchten. Um dagegen anzugehen, wurden Studentinnen, denen bei einer Untersuchung oder beim Ausstellen eines Rezeptes etwas widerfahren sei, »was zu einer Beschwerde Anlaß gibt« (etwa unfreundliche Behandlung oder hoher Preis), aufgefordert, dem Sozialreferat Meldung zu erstatten.781 Leider wird in den späteren »ASTAINFO«-Ausgaben nicht darüber berichtet, ob derartige Probleme auftraten, so dass man vermuten darf, dass dies weniger der Fall war. Ansonsten hätte der AStA höchstwahrscheinlich mit einem öffentlichkeitswirksamen Aufschrei der Empörung reagiert. Tatsächlich gibt es eher Hinweise darauf, dass die Aktion weitgehend reibungslos ablief: Im Mai 1969 berichtete »akut« über den Alltag des AStA-Sozialreferenten Alfred Mahler. Neben Geldnöten und Mietfragen einiger Studenten wurde auch der Fall der exemplarisch genannten Kunststudentin Anita P. geschildert, die auf Drängen ihres Freundes die Pille zur Empfängnisverhütung nutzen wollte und deshalb um Einsicht in die Ärzteliste bat. Sie erklärte: »[…] Wir wollen uns lieben, ohne darüber nachzudenken, ob wir heute dürfen oder nicht.«782 Über die vorgestellten Berichte hinaus enthalten die Akten des Universitätsarchivs, die die Medizinische Fakultät betreffen, keine weiteren Hinweise auf Diskussionen rund um das Thema »Pille«. Dies mag erstaunlich wirken, da man es sicher zu einem für Medizinstudenten wichtigen Thema deklarieren darf. Zwei Schlüsse wären nun möglich: Entweder beschäftigten sich die Medizinstudenten kaum mit dem Thema, was durchaus möglich wäre, weil lediglich Zeitschriften, die an alle Studenten gerichtet sind (»ASTA-INFO« und »akut«) darüber berichteten und nicht etwa »med-INFO«, oder aber die Ärzteliste des AStA wurde zwar genutzt, jedoch eher diskret behandelt. Letzteres wiederum würde bedeuten, dass die Bonner Mediziner trotz ihres Fachwissens, das sie von anderen Studenten abhob, durchaus zu Beginn Berührungsängste mit dem neuen Verhütungsmittel hatten.
779 780 781 782
UAB, Sammlung AStA-Info Band 1 – 3 (1967 – 69), ASTA-INFO Nr. 16, 08. 11. 1967, S. 1. UAB, Sammlung AStA-Info Band 1 – 3 (1967 – 69), ASTA-INFO Nr. 17, 15. 11. 1967, S. 1. UAB, Sammlung AStA-Info Band 1 – 3 (1967 – 69), ASTA-INFO Nr. 28, 03. 12. 1968, S. 1. UAB, Sammlung »akut«, akut Nr. 51, 07. 05. 1969, S. 4.
Abtreibung und Paragraph 218
221
Auch wenn im Zuge der sexuellen Revolution (und dazu leistete die Einführung der »Pille« einen wesentlichen Beitrag) der Körper783 quasi zum Politikum, die befreite Sexualität zum Symbol des Widerstandes gegen Kapitalismus, Imperialismus und Faschismus wurde784, so blieben die Medizinstudenten an der Universität Bonn von solchen Äußerungen mit fast schon eruptivem Charakter weit entfernt. Sie nutzten die neuen Möglichkeiten entweder kaum oder heimlich, bedienten sich ihrer aber definitiv nicht, um Kritik an gesellschaftlichen Normen oder Forderungen nach sexueller Liberalisierung zu artikulieren. Ironischerweise machten sie sich so als Studenten mit der meisten Sachkenntnis zu Nachzüglern auf einem Gebiet, das zweifellos viel Potential für Diskussionen und Provokationen bot. Von der »Sexualität als Revolutionsmittel«785 konnte hier also keine Rede sein. Unabhängig davon war Sexualität nicht ein Symptom für den Zustand der Gesellschaft, vielmehr indizierte die Diskussion darum gewandelte Normen und war eine Form, diesen Wandel zu verarbeiten. Enthaltsamkeit war also nicht mehr das Ideal, Sex wurde von der Reproduktion entkoppelt und durch die Pille risikoloser. Nicht zuletzt machte das neue Verhütungsmittel die Frauen aber auch verfügbarer786, was beispielsweise durch die von ihrem Partner geäußerten Forderungen an Anita P. (»Mein Freund sagt, ich soll [!] endlich die Pille nehmen.«787) deutlich wird. Diese Kehrseite jener Entwicklung schien damals in Bonn allerdings noch keiner zu bemerken.
9.2
Abtreibung und Paragraph 218
Der erste Abschnitt des aus dem Jahr 1871 stammenden Paragraphen 218 StGB besagt: »Eine Frau, die ihre Leibesfrucht abtötet, oder die Abtötung durch einen anderen zuläßt, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft.« Im Gegensatz zu den Diskussionen um die »Pille« griff »med-INFO« dieses Thema auf, wenn auch nicht in besonders großem Umfang: Im Juli 1971 berichtete das Blatt, dass die Bonner »Aktion 218« in den vergangenen zwei Wochen 2.000 Unterschriften für die Abschaffung des Paragraphen sammeln konnte. Kritik traf gleich mehrere Aspekte des Gesetzestextes und wurde recht ausführlich 783 Pascal Eitler zitiert in diesem Zusammenhang Dagmar Herzog, die die Imagination eines »antifaschistischen Körpers« beschreibt. Der Nationalsozialismus bildete demnach auch auf dem Gebiet der Körperpolitik einen negativen Bezugspunkt. Körperpolitik um 1968 war demnach auch Vergangenheitspolitik. Zit. n. Eitler, Körperpolitik, S. 237. 784 Vgl. Eitler, Körperpolitik, S. 237. 785 Kozicki, S. 142. 786 Vgl. Etzemüller, S. 107. 787 UAB, Sammlung »akut«, akut Nr. 51, 07. 05. 1969, S. 4.
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»Pille« und Abtreibung
erläutert: So wurde damals die Abtreibung zwar nicht bestraft, wenn so genannte medizinische Indikationen vorlagen (also bei einem zur Rettung von Leben oder Gesundheit der Schwangeren notwendigen Eingriff), jedoch kritisierte »med-INFO«, dass man hier nicht vom Gesundheitsbegriff der WHO ausgehe, die neben körperlichen auch das seelische und soziale Wohlbefinden berücksichtige: »Keine Rechtfertigungsgründe sind bei der eugenischen, ethischen und der sozialen Indikation gegeben.« Gleichzeitig werde gegen kaum ein Gesetz, das zudem die soziale Wirklichkeit vollkommen ignoriere, so oft verstoßen. Begründet wurde dies mit der von Professor Döring (Universität München) genannten Zahl von jährlich 400.000 bis 800.000 illegalen Abtreibungen in der Bundesrepublik Deutschland, von denen 250 mit dem Tod der Schwangeren endeten. 25.000 bis 50.000 Frauen litten zudem unter schweren gesundheitlichen Folgeschäden.788 »Med-INFO« resümierte: »Der §218 treibt sie schließlich zum Kurpfuscher, allenfalls in eine heruntergekommene Arztpraxis, wo der Eingriff ohne ausreichende Sicherheitsbedingungen ausgeführt wird. […] Wer arm ist oder sich nicht auskennt, muß zur Engelmacherin, besser gestellte Frauen aber – wenn sie nicht ohnehin Beziehungen zu Ärztekreisen haben – reisen ins Ausland, um ›legal‹ abzutreiben.«789
Ein weiteres Problem sahen die Studenten in der ungenügenden Sexualaufklärung, die der Grund dafür sei, dass immer noch viele Mädchen und Frauen ungewollt schwanger würden. Verantwortlich schien das von Vertretern der Kirchen790 stark unterstützte so genannte patriarchalische System, das eine Sexualfeindlichkeit insbesondere für Frauen aufrecht erhalte. Diese Einstellung zeige sich beispielsweise – und hier nahm »med-INFO« ausnahmsweise Bezug auf die Diskussionen um die Pille in »ASTA-INFO« – in dem Verhalten von Ärzten, »die Frauen, deren sexuelle Beziehung[en] nicht durch Staat bzw. Kirche als Einehe legalisiert sind, nicht die Pille verschreiben«. Gleichzeitig fordere eben jene Gesellschaft von der ungewollt Schwangeren, das Kind auszutragen, und übertrage ihr die Verantwortung für die Versorgung und Erziehung. Besonders Frauen aus sozial schwachen Schichten, die ohne Unterstützung aus öffentlichen Mitteln kaum ein menschenwürdiges Aufwachsen ihrer Kinder garantieren könnten, seien hiervon betroffen. Es fehlten nämlich öffentliche 788 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 12, Juli 1971, S. 3. 789 Ebd. 790 Vor allem die Katholische Kirche übte sich angesichts der säkularen Emanzipationsbestrebungen der Achtundsechziger-Bewegung in deutlicher Grenzziehung und scheute nicht den Konflikt in sozialen Brennpunktbereichen wie Familie, Sexualität und Rolle der Frau. In den Auseinandersetzungen über Abtreibung, Verhütung, Scheidung, aber auch über Reformen im kirchlichen Ritus zeigte sie sich konservativ beharrend, weshalb sie auch Mitglieder verlor, die den Konflikt zwischen religiöser Orthodoxie und »moderner« Lebensweise durch Austritt lösten. Vgl. Neumann, S. 30.
Abtreibung und Paragraph 218
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Einrichtungen wie Kindergärten und kindergerechte Wohnungen. Das Fazit lautete daher : »Diese fehlenden Voraussetzungen und das kinderfeindliche Verhalten der Gesellschaft machen das im Grundgesetz garantierte Recht auf Persönlichkeitsentfaltung sowohl der Mutter als auch des Kindes unmöglich.« Solange diese Missstände existierten, sei eine Abkehr vom Paragraph 218 unvermeidlich.791 Festhalten lässt sich also, dass sich die Kritik an der damaligen Abtreibungsgesetzgebung stark an der gesellschaftlichen und sozialen Ausgrenzung der Schwangeren orientierte. Angestrebt wurde eine konkrete Verbesserung ihrer Lage auch in finanzieller Hinsicht. Die Argumentation wurde hier verhältnismäßig unideologisch geführt und hob sich vom herrschenden Zeitgeist zum Teil deutlich ab: Vielfach wurde zur damaligen Zeit nämlich die Auffassung geäußert, die Ärzte und ihre Verbände (als eine Art »akademischer Metzgerinnungen«) seien lediglich brutale Handlanger der kapitalistischen Ausbeutung und patriarchalischen Okkupation des weiblichen Körpers, der zum Sexobjekt und zur Gebärmaschine gemacht werde. Dabei schienen Kinder im Kapitalismus nichts weiter als ein toter Kostenfaktor. Die Gesellschaft bürde sämtliche Kosten – insofern würde »med-INFO« allerdings zustimmen – den Eltern auf, für die deshalb Kinder »eine Katastrophe« waren. Der »staatliche Gebärzwang« in Gestalt des Paragraphen 218 wurde in diesem Zusammenhang als ein gesetzliches Mittel angesehen, welches dafür sorgen sollte, dass überhaupt noch Kinder geboren werden.792 Um das Ausmaß des Problems zu verdeutlichen, bediente sich »med-INFO« des Vergleichs mit anderen Ländern, in denen der Schwangerschaftsabbruch mehr oder weniger eindeutig erlaubt war. Genannt wurden Großbritannien, die USA (Hawaii, Alaska, New York), Schweden, Finnland, die Sowjetunion, die DDR (»und alle[n] sozialistischen Staaten«), Israel, Japan und China. Die medizinische Indikation werde überall anerkannt, die eugenische sei in Skandinavien und in den USA von Bedeutung und ethisch-humanitären Erwägungen würden in den meisten der genannten Staaten Raum geboten. Als eine Art Musterbeispiel wurde die Verfahrensweise im britischen Rechtskreis793 erläutert.794 791 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 12, Juli 1971, S. 3 f. 792 Koenen, Jahrzehnt, S. 241. 793 Demnach mussten die Kliniken zunächst eine Genehmigung vom Gesundheitsministerium erhalten, die unter Berücksichtigung einiger Auflagen in Absprache mit den örtlichen Gesundheitsbehören erteilt wurde. Legal war die Schwangerschaftsunterbrechung, wenn zwei Ärzte sie aus den folgenden Gründen für notwendig hielten: – Der Fortbestand der Schwangerschaft stellt ein Risiko für das Leben der Frau dar. – Ihre geistige und körperliche Gesundheit ist in Gefahr. – Das Neugeborene stellt eine unerträgliche Belastung für bereits vorhandene Kinder dar (so genannte Sozialklausel). – Es ist zu erwarten, dass das Neugeborene geistig oder körperlich behindert sein wird.
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»Pille« und Abtreibung
»Med-INFO« gab weiterhin zu bedenken, dass die Zahl der illegalen Eingriffe und damit das Risiko der Schwangeren immer dort auf ein geringeres Maß gesunken sei, wo »die Liberalisierung der Abtreibung weit genug vorangetrieben wurde«. Insofern erschien es den Studenten notwenig, auch in Westdeutschland die Initiativen für die Abschaffung des Paragraphen 218 zu stärken. Verwiesen wurde in diesem Zusammenhang auf den wöchentlich tagenden »Arbeitskreis Emanzipation«.795 Der Vergleich mit anderen Ländern sollte die Rückständigkeit des eigenen Landes entlarven und vermittelte wahrscheinlich das Gefühl, mit den eigenen Ansichten nicht allein zu sein. Indem die Regelungen in den entsprechenden Ländern als etwas ganz Selbstverständliches dargestellt wurden, verstärkten sie noch einmal den Eindruck, in einer vermeintlich besonders patriarchalischen Gesellschaft zu leben. Erst 1975 griff »med-INFO« das Thema erneut auf, indem das Blatt über den Antrag an die Bezirksabteilungskonferenz des Bundes Gewerkschaftlicher Ärzte in der ÖTV am 24. April 1975 in Bonn berichtete. In dem Dokument, das die Reform des Paragraphen 218 thematisierte, hieß es: »Die Bezirksabteilungskonferenz fordert die von ihr gewählten Vertreter auf, sich auf allen gewerkschaftlichen Ebenen und in Richtung auf die im Bundestag vertretenen Parteien dafür einzusetzen, daß die Reform des § 218 im Sinne der Fristenregelung erfolgt.« Zur Begründung hieß es, die Fristenregelung werde auch nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von namhaften Strafrechtkommentatoren für realisierbar gehalten. Außerdem lasse das Urteil unberücksichtigt, dass es sich bei der Fristenregelung nicht um eine moralische Entscheidung gegen das Leben ungeborener Kinder handele, sondern um den Versuch, den aus der bisherigen Regelung erwachsenen sozialen Problemen und Ungerechtigkeiten ein Ende zu bereiten. Insbesondere aus medizinischen Kreisen müsse entsprechender Widerstand erfolgen, weil ja statistisch belegt sei, dass die Zahl der Todesfälle und Komplikationen mit der Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs verringert werden könne. Neben dem bereits vier Jahre zuvor in »medINFO« artikulierten Appell zur Berücksichtigung der psychischen Situation sowohl der unfreiwillig Schwangeren als auch der »ungewollt geborenen Kinder« (!) und zu sozialpolitischen Maßnahmen (Arbeitsschutz für Schwangere, Schwangerschaftsurlaub bei Lohnfortzahlung, Kindergartenplätze, Kindergeld) wurde die Forderung laut, im angestrebten Gesetz Familienberatung, umfassende Sexualaufklärung und kostenlose Verbreitung von medizinisch unbeDie Ärzte konnten jedoch auch die tatsächlichen oder voraussichtlichen Lebensbedingungen berücksichtigen, unter denen ein »unerwünschtes Kind« aufwachsen müsste. UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 12, Juli 1971, S. 4. 794 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 12, Juli 1971, S. 4. 795 Ebd.
Abtreibung und Paragraph 218
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denklichen Empfängnisverhütungsmitteln zu verankern und so die Zahl ungewollter Schwangerschaften zu verringern. Der Antrag und damit die in ihm enthaltenen Forderungen wurden mit großer Mehrheit (zwei Neinstimmen, eine Enthaltung) angenommen.796 Offenbar nahm die Zustimmung für eine Liberalisierung der damaligen Vorstellungen von Moral und Sexualität mit der Zeit auch in den Kreisen der Bonner Mediziner zu. Während »ASTA-INFO« jedoch bereits eifrig Listen von Ärzten erstellten, die bereitwillig die »Pille« verschrieben, hielt sich die Presse der Medizinischen Fakultät noch bedeckt, was solche Themen anging. Im Mai 1975 aber titelte »med-INFO« sogar mit einem beleibten und grimmig dreinschauenden Priester, auf dessen Hut ein Fragezeichen abgebildet war, und der Unterschrift »Wenn Männer schwanger werden könnten, wäre Abtreibung ein Sakrament«797. Das trauten sich die Mediziner anscheinend erst, als solche Äußerungen nichts Revolutionäres mehr an sich hatten, sondern fast schon Allgemeingut waren: Mittlerweile wurde mit geradezu unaufgeregter Selbstverständlichkeit die Kompetenz der Kirchen zurückgewiesen, über das Sexualverhalten der Menschen zu befinden.798 Diese Tatsache und die eher dürftige Berichterstattung über die potentiell explosiven Themen »Pille« und Abtreibung legen den Schluss nahe, dass die Studenten zumindest vorläufig eine passive, abwartende, womöglich sogar desinteressierte Haltung einnahmen und Jahre später mit vermeintlich provokanten Titelseiten überdeckten, dass sie selbst nichts zur Änderung der Verhältnisse auf diesem ihnen doch so nahe stehenden Gebiet geleistet hatten. Bemerkenswert im positiven Sinne ist andererseits, dass sie (wenn auch verspätet) die sozialen Probleme der betroffenen Frauen erkannten und relativ unideologisch und pragmatisch für die Verbesserung ihrer gesellschaftlichen, sozialen und finanziellen Lage eintraten. Das APO-Motto »Lust ohne Last, Abtreibung ohne Knast«799 kann ihnen als alleiniger Beweggrund jedenfalls nicht unterstellt werden. Götz Aly bemerkt, dass das revolutionäre Miteinander und die sexuelle Revolution die westdeutschen Hochschulen zum selben Zeitpunkt erreichten und einander beflügelten. Damit sei sofort ein Spannungsverhältnis klar geworden, das bisher nicht berücksichtigt wurde, die Dynamik aber »gewissermaßen naturwüchsig steigerte«: Auf drei Studenten entfiel in jenen Jahren allenfalls eine Studentin.800
796 797 798 799 800
UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 26, Mai 1975, S. 6. Ebd., S. 1. Vgl. Busche, S. 81. Zit. n. Schlaffke, S. 119. Aly, S. 49.
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»Pille« und Abtreibung
Da auch die Medizin im Gegensatz zur heutigen Zeit ein von Männern dominiertes Fach war, fanden sich wahrscheinlich weniger Studierende, die das Thema aufgriffen, weil sie naturgemäß nicht in demselben Maße wie Frauen von Empfängnisverhütung und Abtreibung betroffen waren. Die eher konservative Grundhaltung der Mediziner tat sicher ihr Übriges. Weiterhin muss man beachten, dass es die Frauenbewegung war, die letztlich für die Rechte der Frauen eintraten. Sie wird zwar gern als Produkt der Achtundsechziger-Bewegung gesehen, tatsächlich jedoch stand der größte Teil der Linken feministischem Politikverständnis extrem feindlich gegenüber. Christina Perincioli bemerkt hierzu: »In diesen auf Weltpolitik und Weltrevolution ausgerichteten Gruppen hatte die Frauenfrage keinen Platz. Hier, wo die ›Revolution auf der Tagesordnung‹ stand – das ist ein Zitat! –, waren Disziplin und Unterwerfung gefragt.«801 Die große Sensibilität für autoritäre Verletzungen demokratischer, partizipatorischer Anforderungen reichte im Allgemeinen in der von Männern bestimmten Bewegung noch nicht aus, um Ansätze zu einem weiblich bestimmten Widerstand802 zu erkennen oder zu fördern, und das, obwohl es an historischen Vorläufern des Feminismus, bekannten Abhandlungen, einer amerikanischen liberalen Frauenrechtsorganisation (NOW) und vor 1968 selbst an einschlägigen Aufsätzen von Autorinnen wie Juliet Mitchell und Jane Adams in Zeitschriften der Neuen Linken und des SDS nicht fehlte. Nicht einmal in den theoretischen, politischen Grundsatztexten der linken Antiautoritären oder anarchistischen Provos fand sich die Emanzipation der Frauen als wichtiges Ziel aufgenommen.803 Womöglich neigten also auch Mediziner, die eine progressive Linie verfolgten, dazu, alle möglichen Missstände in Universität und Gesellschaft zu thematisieren, nur nicht die frauenspezifischen Probleme. Auch in dieser Hinsicht konnte die hohe Relevanz von »Pille« und Abtreibungsregelungen für den späteren Alltag der Studenten kein besonderes Interesse wecken, die Bonner Mediziner wirken im Rückblick wesentlich gleichgültiger als ihre Kommilitonen aus anderen Fakultäten und Universitäten, denen in der Geschichtsschreibung allgemein zugeschrieben wird, die gesellschaftlichen Impulse für politische, 801 Perincioli, S. 99. 802 So enterten autonome Frauen vor der großen §218-Demonstration in Bonn im September 1975 mit weiß bemalten Gesichtern, wildem Indianergeheul und obszönen Gesängen (»Die Herrschaft der Schwänze hat ihre Grenze« oder »Wir fahren schwarz bis an den Harz und singen Nulltarif«) den in Frankfurt organisierten Sonderzug. Dieser erste richtige Zusammenstoß (über den die Studentenpresse der Bonner Mediziner erstaunlicherweise nicht berichtete!) verursachte einen regelrechten Schock: »Der Feminismus als eine Version des bürgerlichen Individualismus will den proletarischen Frauen einreden, statt am Kampf der Klasse teilzunehmen, ihn zu spalten und zunächst mal die Männer als ›Chauvinisten‹ usw. zu bekämpfen […].« Zit. n. Koenen, Jahrzehnt, S. 239. 803 Hecken, S. 77 – 79.
Abtreibung und Paragraph 218
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gesellschaftliche und moralische Umwälzungen bei den Themen »Pille« und Abtreibung gegeben und so »eine bleibende Neukonfiguration der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit« ermöglicht zu haben.804 Und trotzdem trifft zu, was Wolfgang Kraushaar im Zusammenhang mit den Diskussionen um die »Pille« feststellte: »Über die Politisierung des Sexuellen wurde die Intimsphäre mehr und mehr zum Terrain öffentlicher Selbstdeutungen. Dieser Vorstoß, der ohne eine Öffnung der Massenmedien undenkbar gewesen wäre, hat wie kaum ein anderer die Veränderung von Werten, Normen und Mentalitäten eingeleitet.«805
Dass es auch ganz anders ging, belegt ein Blick auf ein SDS-Programm für sozialistische Mediziner. Zu deren spezifischen Aufgaben gehörten demnach konkret unter anderem: »Projektgruppe Sex: Aufklärung von Lehrlingen über Konzeptionsverhütung, Pillenvertrieb, psychologische Beratung bei Störungen der ›Liebesfähigkeit‹, Diskussion der freiwilligen Sterilisation, Kampagne zur Legalisierung der Abtreibung.«806 Solche Formen des Protests und der Provokation müssen selbst auf linke Mediziner in Bonn geradezu schockierend gewirkt haben, wenn man ihr eigenes Zögern berücksichtigt. Sie selbst erscheinen im Nachhinein blass und teilnahmslos.
804 Von Hodenberg, S. 139. 805 Kraushaar, Achtundsechzig, S. 295. 806 Zit. n. Schlaffke, S. 119.
10. Konservative Kräfte an der Medizinischen Fakultät Bonn
Der Generationszusammenhalt der Achtundsechziger, der sich zunächst auch in gemeinsamen Vergnügungen wie Sport und Wirtshausbesuchen geäußert hatte, zerfiel in den folgenden Jahren in der Praxis. Von der Theorieseite und von den Gewohnheiten in Konfrontationen und Diskussionen her, so bemerkt Jürgen Busche, erwies sich der Zusammenhalt jedoch als schwer auflösbar. Dass die Ziele allen gemeinsam gewesen waren, formte die meisten nicht nur weiterhin durch die Erinnerung. Es wurde auch denen als Charakteristikum angehängt, die nur auf Grund ihres Geburtsjahres lebensweltlich zu dieser Generation gehörten, den plakatierten Zielen aber eher skeptisch oder gar ablehnend gegenüber gestanden hatten.807 Es ist Ziel dieses Kapitels, eben jene Kräfte unter den Bonner Medizinern vorzustellen, die der großen Gruppe von links orientierten Studenten trotz großer Assimilationsfähigkeit der Achtundsechziger nicht angehörten. Sie vertraten eher konservative beziehungsweise gemäßigte Ansichten und wurden so zwangsläufig zu Gegnern der dominierenden Linken. Im Gegensatz zu den auf Überwindung des Bestehenden ausgerichteten Bestrebungen der Achtundsechziger-Revolte und deren Nachfolgern hatten ihre Konkurrenten nach Auffassung Thomas Heckens den scheinbaren Vorteil, auf bereits existierende Institutionen und Regeln bauen zu können: Sie mussten weder einen Gesamtentwurf einer kommenden Gesellschaft noch genauere Pläne für deren Teilbereiche vorlegen und sahen ihre Idealvorstellung bereits gut in den bestehenden Einrichtungen aufgehoben.808 Hecken geht sogar so weit, dass er behauptet, auch die konservative oder liberale Kritik an den Positionen der außerparlamentarischen Opposition habe in höchstem Maße von der Aufbruchstimmung und der bemerkenswerten Lage des Jahres 1968 profitiert, indem theoretisch hergeleitete, politisch anspruchsvolle Programme auf große öffentliche Aufmerksamkeit stießen. Das sei schon allein daran erkennbar, wie schnell und in wie vielen 807 Vgl. Busche, S. 101 f. 808 Vgl. Hecken, S. 139.
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Artikeln und Büchern die pointierte Kritik an den Schriften und Plänen der Neuen Linken vorgetragen wurde.809 Trotzdem konnten sich bei den Bonner Medizinern konservative Kreise nur langsam und verzögert etablieren. Allerdings waren ihr Auftreten, ihre Ziele und Methoden von den Ereignissen der Studentenrevolte geprägt und geben Einblick in das politische Empfinden der gebeutelten »studentische[n] Rechten«810. Mit Blick auf die Entwicklung der politischen Hochschulgruppen in Bonn stellt Horst-Pierre Bothien fest, dass 1966 nicht nur das Jahr war, in dem sich Studenten spürbar von der Universitätsführung distanzierten, sondern auch jenes, in dem die Studentenschaft sich polarisierte. Insbesondere die Protagonisten RCDS811 und SHB/SDS812 befehdeten sich durch Flugblätter und warfen sich gegenseitig politische Indoktrination sowie politisches Taktieren vor. Beliebte Plattform dieser Auseinandersetzungen wurden die Parlamentssitzungen, beliebtes Kampfmittel war das Verlassen der Sitzungen, um Beschlussunfähigkeit herbeizuführen.813 Während »med-INFO« zumindest bald nach dem Höhepunkt der Studentenrevolte (im Jahr 1969) damit begann, sich als Presseorgan linker Medizinstudenten zu formieren, findet sich in den Akten des Bonner Universitätsarchivs nichts Vergleichbares zu RCDS-nahen Kreisen. Für Widerstand gegen diese »linke Dominanz« gibt es in den Studentenzeitungen der sechziger Jahre keine und im Jahr 1970 lediglich einige Anhaltspunkte: »Med-INFO« berichtete in einem eher undurchsichtigen Kurzartikel empört über »cand. med. Michael Stürmer«814, der zu dieser Zeit anscheinend Mitglied des Studentenparlamentes und der Engeren Fakultät war. Auf einer Fachschaftsvollversammlung am 5. Mai offenbarte dieser »intime Beziehungen zum 14.K. (Politische Polizei)« und zi-
809 Vgl. ebd., S. 11. 810 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 8/1970, S. 8. 811 Im Gegensatz etwa zum SDS gelang den verschiedenen christlich-demokratischen Hochschulgruppen erst spät ein überregionaler Zusammenschluss. Obwohl erste Bestrebungen hierzu bereits 1947 einsetzten, gründete sich erst 1951 der Bund christlich-demokratischer Studenten, der sich noch im selben Jahr in Ring christlich-demokratischer Studenten (RCDS) umbenannte. In den nächsten Jahren ließen sich die verschiedenen politischen Hochschulgruppen trotz Differenzen nicht davon abhalten, gemeinsame Veranstaltungen durchzuführen. Spätestens im Rahmen der Studentenrevolte der Sechziger Jahre kam es – wie unter anderem im Verlauf dieses Kapitels dargestellt wird – zu ausgeprägter Rivalität zwischen den politischen Lagern. Vgl. George, S. 308 f. 812 Für Informationen sowohl den SDS als auch den SHB betreffend siehe auch Fußnote 301 auf S. 89. 813 Vgl. Bothien, S. 67. 814 Der leider nicht näher vorgestellte Michael Stürmer wurde offenbar zu einem Lieblingsgegner von »med-INFO«. Hinsichtlich weiterer Kritik an seinem vermeintlich reaktionären Verhalten siehe auch S. 204 f.
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tierte aus einem Protokoll der Basisgruppe815, in dem die »Emanzipation des Individuums in der Kommunistischen Gesellschaft« als Zielvorstellung erklärt wurde. Das Dokument habe er bereits an das nicht näher beschriebene »14.K.«816 weitergeleitet. »Med-INFO« beschwerte sich nicht nur darüber, dass das Zitat aus dem Zusammenhang gerissen sei, sondern sah sich insofern in seiner Haltung bestätigt, als der Vorfall ein »hervorragendes Beispiel der Zusammenarbeit aller staatserhaltenden Kräfte, von RCDS, BSU817 und 14.K. über Krypto-CIAMitglieder in der Studentenschaft« sei.818 Leider ist der Beitrag – vor allem wegen seines geringen Informationsgehalts und der fehlenden Einordnung in den Kontext – dermaßen polemisch und emotional, dass er keinen halbwegs objektiven Blick auf den Vorfall zulässt. Er belegt jedoch, mit welcher Aggressivität die studentische Linke gegenüber Gegnern auftrat, und entlarvt »med-INFO« gleichzeitig als hochschulpolitisches Instrument. Dass die Zeitschrift mit einer Vorgehensweise wie der hier erkennbaren durchaus den Nerv einiger Studenten traf, legt ein Leserbrief nahe, der sich mit dem Plagiatvorwurf einer Dokumentation der Fachschaft Vorklinik über Professor Pichotka819 befasste. Darin wurde Gerd Langguth, Pressereferent des RCDS, als unfähig, dummdreist und einfältig diffamiert sowie als Vertreter eines Bonner Rechtskartells charakterisiert, das die so genannten fortschrittlichen Kräfte auf primitive Art anschwärze.820 Wulf Schönbohm hat in diesem Zusammenhang Arroganz, Intoleranz und aggressive Feindlichkeit gegenüber Andersdenkenden als Wesenszüge der Achtundsechziger-Bewegung erkannt, obwohl diese selbst doch die Intoleranz und Repression des »Systems« kritisiert habe.821 Konkreter und für das Verständnis konservativer Kreise an der Universität Bonn ergiebiger ist ein ebenfalls 1970 erschienener Artikel, der sich mit der »neuen Strategie der studentischen REAKTION« befasste. Einzigartig macht ihn die Tatsache, dass er erstmals die »Reaktion« als Ganzes thematisierte und auch auf die Medizinische Fakultät einging. Er ist vor allem deshalb eine Analyse wert, weil auch allgemeiner gehaltene Berichte über konservative Kräfte zu dieser Zeit äußerst rar sind. Für »med-INFO« waren diese hochschulpolitisch dem RCDS 815 Siehe auch Kapitel 6. 816 Womöglich war hier die Polizei gemeint, die auf etwaige verfassungsfeindliche Tendenzen in der Basisgruppe aufmerksam wurde und von Michael Stürmer entsprechende Unterlagen und Protokolle erhielt. 817 Die Abkürzung steht für »Bonner Studenten-Union«. Aus dem Kontext ergibt sich, dass es sich um eine konservative, RCDS-nahe Partei gehandelt haben muss, auch wenn in der Studentenpresse keine detaillierteren Angaben diese Gruppierung näher charakterisieren. 818 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 5/1970, S. 9. 819 Mit dem »Konflikt um Professor Pichotka« beschäftigt sich Kapitel 4.1. 820 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO, 08. 01. 1970, S. 6. 821 Vgl. Schönbohm, S. 17.
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nahe stehenden Kreise wohl offiziell (aber sicher nicht in Wirklichkeit) kein allzu großes Thema, da es in der Zeitschrift hieß, man habe selbst dort eingesehen, »daß mit dem abgewrackten Image der Mutterpartei CDU keine Mehrheit mehr zu erlangen« sei. Nur so konnte man sich erklären, dass die sogleich »studentische Rechte« getauften Studenten um den RCDS den SP-Wahlkampf »mit linken Parolen und SPD-orangen[en] Wahlplakaten den Kampf um studentische Wählerstimmen« führten.822 Sogleich sah man in diesem Verhalten eine von höherer Ebene gesteuerte Strategie. Man verwies auf die »CDU-Wochenzeitschrift ›Rheinischer Merkur‹«, die in ihrer Ausgabe vom 13. Februar 1970 den RCDS davor gewarnt habe, »sich artistisch in die Nähe linker Parolen zu turnen«. Die angesprochenen Studenten hätten diesen Ratschlag beherzigt. Als Beweis führte das linke Redaktionskollektiv das vier Monate später im »Deutschen Monatsblatt« vorgelegte (wahrscheinlich CDU-interne) Konzept an, in dem ein für den RCDS verbindliches Prinzip der Parteinähe formuliert worden sei. Daneben wurde zitiert: »An der Universität Bonn hat der RCDS begonnen, die Gründung gemäßigter Gruppen auf Fachbereichsebene zu initiieren«. Als Beispiele seien die »ADMs« (Aktion Demokratische Mitte) in den Fakultäten Politologie und Jura genannt worden. Mittlerweile – rechtzeitig zu den Fakultätswahlen – seien in fast allen Fakultäten ADMs gegründet worden. Auch bei den Medizinern versuche eine solche Vereinigung, »die Studenten mit fortschrittlichem Geschwätz und linkem Image zu desorientieren«.823 Das Konzept dahinter glaubte man im Übrigen längst erkannt zu haben: »Er selbst [der RCDS] stellt die der CDU verpflichtete rechtskonservative Alternative gegen den kommunistischen Buhmann auf gesamtuniversitärer Ebene dar, während die ADMs vorgeben, fortschrittliche Interessenvertretungen auf Fachbereichsebene zu sein und mit diesem Anspruch unter die Studenten hausieren gehen.«824
Allerdings könne diese Strategie nur erfolgreich sein, wenn die gemeinsamen Interessen und Absichten hinter einer strengen personellen und organisierten Trennung verborgen würden. Ansonsten würden die ADMs »von vornherein durch die offen reaktionäre Politik der CDU kompromitiert«. Diese Trennung war laut »med-INFO« aber nur vordergründig: An der Spitze der Aktion stünden »zwei altbekannte Studentenfunktionäre«, die zwar formal keine RCDSMitglieder seien, sich aber in der Vergangenheit durch »offene Kollaboration mit dem RCDS wiederholt hervorgetan« hätten: So hätten »Frl. Schaaber« und »Herr Stürmer« unter den »CDU-Asten Breyer und Rosorius« die Ämter des stellver822 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 8/1970, S. 8. 823 Ebd., S. 8 f. 824 Ebd.
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tretenden AStA-Vorsitzenden beziehungsweise des Hochschulreferenten inne gehabt.825 »Med-INFO« erkannte nach Analyse der Erstsemesterinformation und verschiedener Flugblätter der ADM (allesamt nicht verfügbar) zwei Kernpunkte in der Agitation dieser Gruppe: So propagierten mehr als 90 Prozent ihrer Veröffentlichungen einen emotionalen und »hemmungslosen Antikommunismus« ohne erkennbares Bemühen um argumentatives Vorgehen. Seinen »praktischen Niederschlag« fände derartige Stimmungsmache in RCDS-Flugblättern, in denen offen eine physische Ausrottung des »sogenannten DKP-Asta« gefordert werde. Man zitierte dazu ein entsprechendes Dokument vom 5. November 1970: »Dieser DKP-Asta ist die Eiterbeule der Studentenschaft. Wo man die Eiterbeule ansticht, stinkt es erbärmlich.« Die daraus abgeleitete Folgerung, man wolle den AStA töten, muss allerdings als übertrieben bewertet werden. Zumindest hält sich die These auf dem Flugblatt in Sachen Aggressivität und Emotionalität mit den linken Parolen die Waage. Trotzdem löste der Satz offenbar eine Diskussion im Studentenparlament aus, während der »V. Küsgens (BSU)« entgegnet haben soll: »Herr Albrecht, Sie als Mediziner müßten doch wissen, daß man Geschwüre herausoperieren kann, ohne daß das gleich Euthanasie ist!!!« Zudem hätte »Rosorius« öffentlich gefordert, dass diese »›Eiterbeule[‹] mit allen Mitteln herauszuoperieren sei«. Der RCDS habe nach dieser Auseinandersetzung »mit seinen Verbündeten« den Saal verlassen, darunter auch »die beiden Köpfe der ADM Medizin, Stürmer und Schaaber«.826 Ein weiteres Beispiel für die »antikommunistische und antidemokratische Interessengemeinsamkeit zwischen RCDS und ADM« (Das Attribut »antidemokratisch« wird ganz selbstverständlich dem Vorwurf des Antikommunismus zugeordnet!) sei auf der Versammlung des »Bund Freiheit der Wissenschaft« (BFW) zu beobachten gewesen, als »ADM-Boß Stürmer […] ihm als Demokraten bekannte Personen« trotz Eintrittskarte am Zutritt gehindert habe.827 Als zweiten Kernpunkt der Agitation des ADM beschrieb die »med-INFO«Redaktion die »allerhöchstens als Zugeständnis an studentische Interessen« zu wertenden, wenigen »Alternativen«, in denen jedoch nie inhaltlich auf Missstände oder Wege zu deren Beseitigung eingegangen werde. Stattdessen arbeite man mit Schlagworten, die man sachlich und inhaltlich nicht fülle. Das 825 Ebd., S. 9. 826 Ebd. 827 Ebd. Mit dem BFW befasst sich Kapitel 8.2. Darin wird auch der angeschnittene Bundeskongress in der Bad Godesberger Stadthalle am 18. November 1970 und die dadurch ausgelösten Auseinandersetzungen zwischen linken Studenten und (eher konservativen) Unterstützern des BFW besprochen. Es handelte sich dabei jedoch nicht um den Gründungskongress des BFW, wie in diesem Artikel behauptet. Dieser fand bereits wenige Monate zuvor, am 21./22. Juni 1970, statt.
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»meistgebrauchte Schlagwort der studentischen Rechten« sei die demagogische Forderung nach kurzfristigen Reformen828. Auch wenn die Kritik an dieser »Kurzfristigkeit« berechtigt sein mag, so wirkt es rückblickend irritierend, wenn die so genannte »studentische Reaktion« auf Grund derartiger Aussagen beschuldigt wurde, eine »Aktion zur politischen Verwirrung und Desorganisation der Studenten« durchzuführen.829 Für die Studenten ergaben sich nach der in »med-INFO« verbreiteten Auffassung also drei Alternativen für die bevorstehenden Wahlen des Studentenparlamentes und der Engeren Fakultät: »Erstens kann die Studentenschaft den reaktionären RCDS direkt wählen, zweitens können sie ihn über die Aktion demokratische Mitte und das BHF indirekt unterstützen und drittens bleibt allen Studenten die Alternative, fortschrittliche und demokratische Studenten aus den Fachschaften Basisgruppen und demokratischen Hochschulgruppen durch ihre Stimme zu stärken.«830
Auch wenn die angesprochenen Flugblätter von konservativer Seite fehlen und trotz nicht vorhandener Berichte, die einen relativierenden Blick auf die Rivalität beider Gruppen womöglich zulassen würden, lässt sich die erbitterte Gegnerschaft zwischen linken, sich als einzige demokratische Option verstehenden Studenten, und RCDS-nahen Kommilitonen erahnen. Die so heftig und emotional kritisierten Konservativen wehrten sich offenbar zumindest punktuell durchaus selbstbewusst und wussten ihre Konkurrenten durch Attacken wie den »Eiterbeulen-Vergleich« zu provozieren. Speziell auf die Medizinische Fakultät bezogen lässt sich dagegen lediglich festhalten, dass die entsprechende ADM existierte und dass sie sich im Rahmen der allgemeinen Attacken von linker Seite auf alles, was irgendwie konservativ anmutete, heftiger Kritik ausgesetzt sah. Die Angreifer fühlten sich sichtlich stark und geradezu selbstverständlich im Recht. Womöglich trug das dadurch erzeugte Meinungsmonopol seinen Teil dazu bei, dass von RCDS-nahen Kreisen unter den Medizinern äußerst wenig bekannt ist. Auch in den folgenden Jahren tat sich offenbar wenig. Die Akten des Universitätsarchivs Bonn liefern keine Informationen über von konservativ ge828 Aggressiv und um Entlarvung bemüht erklärte »med-INFO« hierzu: »Wie sollte ein Numerus clausus ›kurzfristig‹ abgebaut werden, wenn man nicht dessen gesamtgesellschaftliche Verflechtung und die machtvolle Position der ärztlichen Standesvertretungen berücksichtigt. Wie will man die völlig unzureichenden Investitionen auf dem Gesundheitssektor ›kurzfristig‹ überwinden, ohne die Interessen des Monopole an kurzfristigen Profiten und daher ›aktiven‹ Investitionen zu bekämpfen. Wie will man schließlich eine kurzfristige Reform des Krankheits[]– bzw. Gesundheitsbegriffes durchsetzen, ohne die Funktion des Gesundheitswesens als Wiederherstellungsbetrieb der Arbeitskraft für die kapitalistische Warenproduktion zu erkennen.« UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 8/1970, S. 9. 829 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 8/1970, S. 9. 830 Ebd.
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prägten Medizinstudenten verfasste Zeitschriften oder Flugblätter. Erst die im Sommersemester 1975 erschienenen »Klinikinformationen« der Studentengruppe Medizin geben Aufschluss darüber, wie sich diese Studenten beziehungsweise die sie vertretenden politischen Hochschulgruppen organisierten und welche Ansichten sie vertraten. Überhaupt erschien das Presseorgan, die »Studentenpresse Medizin«831, erstmalig im Dezember 1974, also nur wenig früher. Seine Ausgaben sind im Weiteren die ergiebigste Quelle, um dem Wesen dieser Konservativen näher zu kommen. Bezüglich der Gründung einer Hochschulgruppe als Anlaufstelle für Mediziner, die links orientierten Anschauungen, wie sie beispielsweise in »medINFO« geäußert wurden, kritisch gegenüber standen, sind die Angaben widersprüchlich. Wie die 1975 erschienene Erstsemesterinformation der Studentengruppe Medizin berichtete, wurde im Wintersemester 1973/74 die Fachschaftsgruppe Medizin gegründet, die sich im Wintersemester 1974/75 in Studentengruppe Medizin umbenannt habe.832 Die »Klinikinformationen« der Gruppierung sprechen jedoch lediglich davon, dass im Sommersemester 1974 die Studentengruppe Medizin als selbstständige Hochschulgruppe gegründet wurde.833 Nach eigener Auffassung bildete die Studentengruppe Medizin die »demokratische Mitte«: Ihre Mitglieder stammten aus RCDS, LIBERALER AKTION (LA), SLH834 sowie hochschulpolitisch Unabhängigen und deckten angeblich ein »ungewöhnlich breites Spektrum, praktisch von CDU bis SPD« ab.835 Verschiedene politische Anschauungen könne sie vor allem deshalb integrieren, weil sie sich nicht einer bestimmten Ideologie zuordne. Hier reagierte die Studentengruppe auch auf Forderungen der SHB-Zeitschrift im Wintersemester 1975/76, in der ihr nahe gelegt worden sei, sich als politische Studentengruppe und Vertreter einer bestimmten Ideologie und Strategie erkennen zu geben.836 Möglich sei diese relative Überparteilichkeit dadurch, dass man sich auf Fach831 Die Ausgaben der »Studentenpresse Medizin« erschienen lediglich zwei Mal pro Semester, also wesentlich seltener als beispielsweise die fast monatlich verteilte »med-INFO«. UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Studentengruppe Medizin (Hrsg.): Studentenpresse Medizin Nr. 1 (wahrscheinlich Ende Wintersemester 1974/75), S. 3. 832 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Studentengruppe Medizin, Erstsemesterinfo Sommersemester 1975, S. 4. 833 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Studentengruppe Medizin, Klinikinformationen, Sommersemester 1975, Eike Winter : »Wir über uns«, S. 2. 834 Die Abkürzung steht für »Sozialliberaler Hochschulbund«. Siehe auch Fußnote 726 auf S. 205. 835 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Studentengruppe Medizin, Klinikinformationen, Sommersemester 1975, Eike Winter : »Wir über uns«, S. 2. 836 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Heiner Brickenstein in Studentenpresse Medizin Nr. 7, 08. 12. 1975, S. 15.
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schaftsarbeit beschränke und als Zusammenschluss gegen den jetzigen Fachschaftsvorstand des MSHB837 fungiere. Eilig wies man darauf hin, dass die Mitglieder der Studentengruppe Medizin jedoch keinesfalls als »Facharbeit[s]-Maulwürfe« zu verstehen seien, die keine Aussagen über gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge machen könnten: In einer Gesellschaft, die durch materiellen Wohlstand und durch steigenden Bildungs- und Informationsgrad gekennzeichnet sei, stelle die demokratische Staatsform seit Jahren ein vorrangiges politisches Ziel dar. In einer offenen, lebendigen Gesellschaft würden aus Einseitigkeiten der Machtstreuung in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht durch ungenügende Kontrolle dieser Macht aber Gefährdungen erwachsen. Auch unzulängliche Planung, steigende Umweltbelastungen, soziale Diskriminierung und Leistungsstress für individuelles und gesamtgesellschaftliches Lernen seien ernst zu nehmen.838 Es fällt auf, dass offenbar auch eher konservativ orientierte Hochschulgruppen typische Ideen der Achtundsechziger übernahmen. Überlegungen zu Umwelt, Diskriminierung und gesellschaftlichen Lernprozessen stammen aus linken Kreisen und entstanden dort Jahre zuvor. Der eher moderate, sachliche und kompromissorientierte Ton, den die Studentengruppe verwendet, steht hingegen nach wie vor in starkem Kontrast zur linken Studentenpresse. So hieß es in einem Flugblatt anlässlich der Wahlen zum Fachschaftsvorstand im Wintersemester 1975/76: »Unser Antrieb ist die Kritik, denn unser Ausbildungs- und Gesundheitswesen ist nicht das beste, sondern in mancher Hinsicht verbesserungsfähig und auch verbesserungswürdig. Freilich ist die Vorstellung einfältig und vielfach durch Tatsachen widerlegt, dass sich alles zum besten wende, wenn man nur die Grundstruktur ändere, wenn man etwa aus dem privatwirtschaftlichen oder dem gemischten System ein staatswirtschaftliches mache. Für uns bedeutet Veränderung permanente Bereitschaft zur Fortentwicklung und nicht totale Überwindung unseres Systems.«839
Auch was Lösungsansätze für die genannten Probleme oder auch das Gesellschaftsbild anging, existierten offenbar unterschiedliche Vorstellungen. Statt Revolution und radikalen Kampf um gesellschaftliche Transformation favorisierte die Studentengruppe Medizin die Fortentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft zu einer Gesellschaftsform, die zwischen den Extremen Sozialismus 837 Die Abkürzung umfasst die Hochschulgruppen MSB (»Marxistischer Studentenbund Spartakus«) und SHB (»Sozialistischer Hochschulbund«) und drückt ein Bündnis der beiden Gruppierungen aus. 838 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Studentengruppe Medizin, Klinikinformationen, Sommersemester 1975, Eike Winter : »Wir über uns«, S. 2. 839 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Flugblatt der Studentengruppe Medizin: »Wahlinfo zur FSV-Wahl WS 75/76«, S. 1.
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und Manchesterliberalismus stand.840 Da die Anerkennung des Grundgesetzes mit seiner bestehenden pluralistischen Gesellschaftsordnung als Voraussetzung für die eigene Arbeit angesehen wurde, sah man sich schon allein deshalb in krassem Gegensatz zu MSB und SHB, weil diese auf einen Umsturz dieser Ordnung hinzuarbeiten schienen. So erklärte man sich übrigens auch, dass der (linke) Fachschaftsvorstand nicht bereit war, eine Zeitung herauszugeben, die die unterschiedlichen Positionen im Fachbereich Medizin widerspiegelte.841 Dabei sollten doch Ideologie-, System- und Religionsstreitigkeiten »in dem engen Rahmen der FS [Fachschafts] – Arbeit den Ihnen angemessenen – bescheidenen Raum einnehmen«! Stattdessen wollte man sich um eine möglichst sinnvolle Erfüllung derjenigen Aufgaben widmen, die die Fachschaftsrahmenordnung vorschrieb: Die Studentengruppe Medizin machte es sich zur Aufgabe, organisatorische und sachliche Missstände im Studienbetrieb zu beheben, fachbezogene Kommunikation innerhalb der Studentenschaft zu fördern und das Fachstudium durch fachbezogene Veranstaltungen zu ergänzen.842 Zur Begründung hieß es in der siebten Ausgabe der Studentenpresse: »der einzelne Student wird bei seiner Immatrikulation automatisch Mitglied der Studentenschaft (Zwangskörperschaft). Bei Inanspruchnahme des allgemeinpolitischen Mandates[]durch den AStA kann der einzelne Student nicht verhindern, daß in seinem Namen politische Erklärungen abgegeben werden, die gegen seine politische Interessen gerichtet sind. Hier gilt ein Minderheitenschutz politisch Andersdenkender, den auch ein demokratisch gewähltes Organ […] zu respektieren hat.«843
Diese Kritik richtete sich auch gegen die Studentenzeitschrift »med-INFO«, die »Zeitung aller medizinisch Tätigen« zu sein beanspruchte. Nicht ganz zu Unrecht wies ihr konservatives Gegenstück darauf hin, dass keiner der veröffentlichten Artikel Krankenschwestern, Pfleger und Ärzte direkt etwas anging.844 Lediglich politische Hochschulgruppen seien legitime Sprecher zu allgemeinpolitischen Fragen, Gruppen also, in die der Studierende ein- und austreten könne.845 Die Informationsbroschüre für Erstsemester kündigte in diesem Sinne an, »unseren Teil zu einer konsequenten Reformpolitik im gesam[m]tgesell840 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Studentengruppe Medizin, Klinikinformationen, Sommersemester 1975, Eike Winter : »Wir über uns«, S. 2. 841 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Heiner Brickenstein in Studentenpresse Medizin Nr. 7, 08. 12. 1975, S. 15. 842 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Studentengruppe Medizin, Klinikinformationen, Sommersemester 1975, Eike Winter : »Wir über uns«, S. 2. 843 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Heiner Brickenstein in Studentenpresse Medizin Nr. 7, 08. 12. 1975, S. 15. 844 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Eike Winter in Studentenpresse Medizin Nr. 7, 08. 12. 1975, S. 11. 845 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Heiner Brickenstein in Studentenpresse Medizin Nr. 7, 08. 12. 1975, S. 16.
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schaftlichen Bereich beizutragen«, was im Rahmen des freiheitlich-demokratischen Staates zu erreichen sei und zwar mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln.846 Für die konkrete Arbeit der Studentengruppe Medizin bedeutete das die praktische Unterstützung für die Studenten, erst in zweiter Linie war man an theoretischen Gesellschaftsanalysen interessiert. Stolz verkündete man beispielsweise, dass der linke Fachschaftsvorstand beispielsweise dem herausgegebenen Famulaturkatalog nicht Gleichwertiges entgegen zu halten habe.847 Bereits im Sommersemester 1974, bevor die Studentengruppe Medizin an Wahlen teilnahm, engagierte sie sich in der Erstsemesterberatung, die im Verlauf der Semesters zu einer Information aller Semester erweitert wurde, indem Ausgaben der »Studentenpresse Medizin« über Neuigkeiten berichteten. Der Verkauf von Skripten und die Organisation eines mit angeblich 1.000 Teilnehmern gut besuchten Mediziner-Sommerfestes schien den sich selbst zugeschriebenen Charakter einer eher unideologisch geprägten Gruppierung zu bestätigen. Um zu zeigen, dass man trotzdem auch Konflikte mit Professoren nicht scheute, wurde auf einen nicht näher beschriebenen Streik eine Praktikumsklausur betreffend hingewiesen, an dem die Studentengruppe im Wintersemester 1974/75 mitgearbeitet hatte.848 Interessant ist, dass sich die Studentengruppe mit der Teilnahme an dem Streik rühmt, obwohl sie ihn eigentlich abgelehnt hatte und ihn nur unter dem Eindruck der enormen Zustimmung unter den Studenten von 95 Prozent mitgetragen hatte.849 Im Wintersemester 1974/75 nahm die Studentengruppe Medizin dann erstmals in den Fachbereichen Klinik und Vorklinik850 an den Wahlen zum Fachschaftsvorstand teil. Zwar verlor sie mit knapp 40 Prozent der abgegebenen Stimmen gegen die »›gewerkschaftlich‹ orientierte[n]« Fachschaftsvorstände des MSHB, war mit dem Ergebnis jedoch zufrieden. Sie wies in diesem Zusammenhang auf ihren damals geringen Bekanntheitsgrad hin.851 In ihrer Rolle als Opposition nutzte die Studentengruppe ihr eigene Zeitschrift »Studenten846 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Studentengruppe Medizin, Erstsemesterinfo Sommersemester 1975, S. 4. 847 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Heiner Brickenstein in Studentenpresse Medizin Nr. 7, 08. 12. 1975, S. 16. 848 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Studentengruppe Medizin, Erstsemesterinfo Sommersemester 1975, S. 5. 849 UAB, Sammlung »akut«, Eike Winter in akut Nr. 116, 06. 02. 1975, S. 4. 850 Die erste Ausgabe der »Studentenpresse Medizin« datierte die Wahlen zum Fachschaftsvorstand der Medizinischen Fakultät auf den 5. November 1974 im Bereich Klinik beziehungsweise auf den 12. November 1974 im Bereich Vorklinik. UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Studentengruppe Medizin (Hrsg.): Studentenpresse Medizin Nr. 1 (wahrscheinlich Mitte Dezember 1974), S. 4. 851 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Studentengruppe Medizin (Hrsg.): Studentenpresse Medizin Nr. 1 (wahrscheinlich Mitte Dezember 1974), S. 4.
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presse Medizin«, des Öfteren kurz »sg-med-press« genannt, um ihre Ansichten zu publizieren, und arbeitete punktuell mit dem Fachschaftsvorstand, der vom politischen Konkurrenten gestellt wurde, und weiteren Studenten in den Arbeitskreisen »Klinische Biochemie« und »Klinischer Untersuchungskurs« zusammen, um Verbesserungen in diesen Kursen zu bewirken.852 Die Forderungen nach besseren Kolloquien und ersatzloser Streichung des Abfragepunktsystems bestimmten die Arbeit des so genannten AK Biochemie. Der Unmut unter den Studenten war dabei offenbar so groß, dass nach ergebnislosen Verhandlungen mit der Kursleitung ein »Warnstreik« am 5. Dezember 1974 veranstaltet wurde. Dieser Streik bewirkte, dass die kommende Assistentenvollversammlung, die die strittigen Fragen überdenken sollte, auf den 20. Dezember vorverlegt wurde.853 Eine Erstsemester-Vollversammlung, der laut »akut« etwa 40 Prozent der am Praktikum teilnehmenden Studenten beiwohnten, setzte den Streik gegen die Stimmen der Studentengruppe Medizin durch. Letztlich beteiligte sich diese aber trotzdem daran, »um unnütze Spaltungen zu vermeiden«.854 Für das laufende (und kein weiteres) Semester wurde von der Kursleitung weiterhin eine Neuregelung beschlossen, die nach wie vor ein Punktesystem855 vorsah. Die Studentengruppe Medizin lehnte es umgehend mit der Begründung ab, es handele sich um eine »juristische Un-Konstruktion«.856 Die Tatsache, dass die Betreuung durch die Assistenten freundlicher ausfiel, vermochte demnach nicht »didaktische Experimente« wie Zusatzkolloquien zu kompensieren, sodass man trotzdem eine eher kritische Bilanz zog. Insbesondere verurteilte die Studentengruppe in »akut«, dass drei Kommilitonen wegen zweimaligen Fehlens im Kurs sowie der Teilnahme am Streik, der als NichtTeilnahme am Praktikum gewertet wurde, nicht zur Abschlussklausur zugelassen wurden.857
852 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Studentengruppe Medizin, Klinikinformationen, Sommersemester 1975, Eike Winter : »Wir über uns«, S. 2. 853 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Studentengruppe Medizin (Hrsg.): Studentenpresse Medizin Nr. 1 (wahrscheinlich Mitte Dezember 1974), S. 5. 854 UAB, Sammlung »akut«, Eike Winter in akut Nr. 116, 06. 02. 1975, S. 4. 855 Dieses (neue) Punktesystem vergab pro Kurstag einen einzigen Punkt, den die Teilnehmer des Praktikums durch Anwesenheit, theoretische Kenntnisse und die Ausführung der vorgesehenen Versuche erhielten. Das »alte« System wurde wahrscheinlich als bekannt vorausgesetzt und daher nicht näher erläutert. UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Studentengruppe Medizin (Hrsg.): Studentenpresse Medizin Nr. 1 (wahrscheinlich Mitte Dezember 1974), S. 5. 856 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Studentengruppe Medizin (Hrsg.): Studentenpresse Medizin Nr. 1 (wahrscheinlich Mitte Dezember 1974), S. 5. 857 UAB, Sammlung »akut«, Eike Winter in akut Nr. 116, 06. 02. 1975, S. 4.
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Im Arbeitskreis, der sich mit dem Integrierten Untersuchungskurs befasste, wurde hingegen das Missverhältnis zwischen einer anspruchsvollen Prüfung, die neu eingeführt werden sollte, und einer unzureichenden Vorbereitung darauf, welche zeitlich zu kurz, chaotisch und zu theoretisch sei, beklagt. Um dies zu ändern, benannte der Arbeitskreis Verantwortliche, die auf einem so genannten Hearing mit dem Dekan Professor Fleischhauer858 und den Kursleitern auf der nächsten Fachschaftsvollversammlung am 15. Januar 1975 ihr Forderungen vortragen sollten. In diesem Zusammenhang wurden alle Studenten eingeladen, an der Versammlung teilzunehmen und mit zu diskutieren.859 Statt ihre Meinung darzulegen, bemängelten der Dekan und der stellvertretend für die Kursleiter erschienene Professor Schaede die Einladungsform und erklärten, »sie seien gekommen, um wieder zu gehen«. Zu Gesprächen seien sie zwar bereit, jedoch nur in kleinerem Rahmen (zum Beispiel Studienkommission der Engeren Fakultät) in den Semesterferien. Die Kursverantwortlichen – gemeint waren damit wohl die das Praktikum leitenden Professoren und Assistenten – akzeptierten dies und beschwichtigten die Studenten überdies mit der Feststellung, dass sich Detailfragen ohnehin nicht auf Vollversammlungen beschließen ließen. Trotz dieses Entgegenkommens blieb die Studentengruppe Medizin bei ihrem grundsätzlichen Protest gegen einen »Approbations-Prüfungsabklatsch« in Form der Neueinführung der Abschlussklausur : »Die Annahme, zu jedem Kurs gehöre ein Klausürchen, ist unsinnig und auch nicht durch böswillige Ao-Auslegung zu bestätigen. Die SG-med [Studentengruppe Medizin] plädiert für ein der Unverbindlichkeit des Lehrstoffes angemessenes ›korrigierendes Abschlußgespräch.‹«860 Offenbar folgten die Verantwortlichen dieser Forderung jedoch nicht, denn die Juliausgabe der »Studentenpresse Medizin« des Jahres 1975 berichtete von einem Boykott der Abschlussklausur im Teilbereich Gynäkologie durch Studenten des 1. klinischen Semesters. Von den 140 Kommilitonen, die das Praktikum absolviert hatten, nahmen lediglich 13 Studenten861 an der Klausur teil. Nach Auffassung der Studentengruppe hatte mit diesem Boykott der Unmut der Studenten gegen die Form des Kurses und gegen die Abschlussklausur ihren Höhepunkt erreicht. Um den Schein doch noch zu erhalten, wurde in dem Artikel auf die Möglichkeit hingewiesen, verwaltungsge858 Mit Professor Fleischhauer und seinem Verhältnis zur Studentenschaft beschäftigt sich Kapitel 4.1. 859 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Studentengruppe Medizin (Hrsg.): Studentenpresse Medizin Nr. 1 (wahrscheinlich Mitte Dezember 1974), S. 5 f. 860 UAB, Sammlung »akut«, Eike Winter in akut Nr. 116, 06. 02. 1975, S. 4. 861 Laut »Studentenpresse Medizin« sei die Teilnahme mehrerer dieser Studenten dadurch zu erklären, dass sie ohnehin beabsichtigten, die Universität zu wechseln. UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Erhard Blersch in Studentenpresse Medizin Nr. 5, 08. 07. 1975, S. 3.
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richtlich gegen den Leiter des Kurses, also gegen Professor Schaede, vorzugehen, um ihn zur Herausgabe des Zentralscheins ohne den Gynäkologieschein zu zwingen. Die Chancen hierzu wurden als günstig eingeschätzt, da der Gynäkologiekurs in der Aufzählung des Prüfungsstoffs für den Ersten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung nicht erwähnt sei. Auf alle Fälle wollte man hartnäckig bleiben und notfalls »das […] geschilderte Verfahren […] mit all seinen Folgen« durchführen. Allerdings bedauerte der Verfasser Erhard Blersch gleichzeitig, dass man sich bei einem solchen Verfahren aus rechtlichen Gründen an Professor Schaede halten müsse (wahrscheinlich weil er den Untersuchungskurs leitete) und nicht an Professor Lang (offenbar der Verantwortliche für den Bereich Gynäkologie), da dieser bisher viel Verständnis für studentische Anliegen gehabt habe.862 Trotz aller Entschlossenheit und offensichtlichem Willen zum Widerstand gegen eine als ungerecht und einengend empfundene Kursstruktur schien die Studentengruppe Medizin hier um ein differenziertes Bild bemüht. Ob dies ihrer tatsächlichen Haltung entsprach oder ob sie lediglich den Eindruck kompromissbereiter, praktisch denkender, irgendwie »erwachsener« Studenten wecken wollte, kann im Nachhinein nicht mehr geklärt werden. Auf der anderen Seite bleibt offen, ob man sich Maßnahmen wie Streiks und Boykotts vor allem deshalb bediente, um der linken Konkurrenz die Stirn bieten zu können und letztlich Mut unter Beweis stellen wollte. Wahrscheinlich ist, dass die Studentengruppe versuchte, einen Kompromiss zwischen (populärer) Opposition und (dem eigenen Anspruch gerecht werdendem) Pragmatismus beziehungsweise Sachlichkeit zu finden. Im folgenden Semester, dem Sommersemester 1975, stellte die Fachschaft Medizin sieben Mandatsträger im 13. Bonner Studentenparlament. Die Studentengruppe Medizin unterstütze den von RCDS, LA und SLH getragenen AStA mit vier Mandatsträgern863 und beschrieb das neue Kräfteverhältnis in der Studentenpresse Medizin als eines zwischen Demokraten (womit sie sich selbst meinte) und Marxisten/Sozialisten864. Offenbar kopierte sie damit auch die Tendenz zur Polarisierung von ihren linken Konkurrenten. Konkrete Auseinandersetzungen mit linken Kräften sind leider eher selten von Seiten der Studentengruppe Medizin dokumentiert. Sie sollen hier erwähnt werden, weil sie wertvolle Hinweise auf die Streitkultur der Bonner Mediziner liefern und Aspekte ans Licht bringen, die Blätter wie »med-INFO« oder »akut« 862 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Erhard Blersch in Studentenpresse Medizin Nr. 5, 08. 07. 1975, S. 3 f. 863 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Studentengruppe Medizin, Erstsemesterinfo Sommersemester 1975, S. 3. 864 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Studentengruppe Medizin (Hrsg.): Studentenpresse Medizin Nr. 1 (wahrscheinlich Mitte Dezember 1974), S. 9.
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lieber verschwiegen. Einen interessanter Unterschied in der Streitkultur beider Seiten erwähnte Heiner Brickenstein – unabhängig von einer konkreten Auseinandersetzung – in einer Ausgabe der »Studentenpresse Medizin«: »Trotz gravierender Differenzen zu MSB/SHB sind wir stets zur Zusammenarbeit mit ihnen bereit, soweit eine sachliche Grundlage gegeben ist.«865 Allgemein kritisierte die Studentengruppe Medizin »med-INFO«, das Presseorgan ihrer Konkurrenten. Abgesehen von dem bereits geschilderten Vorwurf, den Anspruch nicht zu erfüllen, »Zeitung aller medizinisch Tätigen« zu sein, lehnte man den »für linke FS-Arbeit typischen Hang zum ›Größeren, umfassend Politischen‹« ab. Die dahinter stehenden Studenten gäben sich zwar als Vertreter einer gesamtgesellschaftlichen Gruppe, also der Studenten, sähen jedoch gleichzeitig ihre Hauptaufgabe darin, »in Mißachtung der gruppenspezifischen Studentenarbeit (z. B.: Nicht-Teilnahme der Vereinigten Studentenschaften am Bundestag-Bafög-Hearing) auf mögliche und offensichtliche Krisenherde weltˇ SSRweit hinzuweisen – natürlich hübsch brav einseitig, wie es sich gehört: C Einmarsch und Angola-Sowjet-Imperialismus muß man ja im größeren Rahmen sehen!« Die vorgeblich fachspezifische Berichterstattung entpuppe sich als Versuch, sozialistische Politik in das Organ der verfassten Studentenschaft, den (FSV), einfließen zu lassen, und lasse eine gefährliche »›Das-Individuum-istnichts‹, ›Schuld-hat-die-Gesellschaft‹ ›der-Einzelne-muß-vor-der-Gesellschaftgeschützt-werden‹[]–[]Haltung« einfließen. Gleichzeitig werde die Studentengruppe Medizin durch »falsche Zitate plus linke Logik« verunglimpft. Eike Winter forderte wohl auch aus solchen Gründen im Rahmen des Protestes gegen einen von »med-INFO« veröffentlichten, gegen die Studentengruppe gerichteten Artikel: »Die Kollektivschuld des FSV-Redaktionskollektivs an seinem MedINFO reicht mir nicht aus – zeichnet doch Eure Artikel persönlich, dann weiß jeder, mit wem er es zu tun hat!«866 Zu sonstigen Auseinandersetzungen gaben eher konkrete Ereignisse Anlass: Als am 13. Dezember 1974 die Übergabe des AStA an offensichtlich konservativliberale Kräfte stattfand, erschienen von den alten AStA-Referenten nur sehr wenige, insbesondere fehlten die ehemaligen Sozialreferenten Küsters, Hartung, Schöler und Scheller, welche allesamt SHB-Mitglieder waren. Die »Studentenpresse Medizin« bemerkte, sie hätten auch allen Grund dazu, denn dem neuen Sozialreferenten fehlten alle Akten und Berichte der letzten zwei bis drei Jahre, sodass all jenen Studenten, die etwa Darlehen beantragt hätten, in Mietstreitigkeiten steckten oder sonst in irgendeiner Form mit dem AStA bereits Kontakt 865 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Heiner Brickenstein in Studentenpresse Medizin Nr. 7, 08. 12. 1975, S. 16. 866 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Eike Winter in Studentenpresse Medizin Nr. 7, 08. 12. 1975, S. 11 – 13.
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aufgenommen hätten, Schaden zugefügt worden sei, da alle Vorgänge nun neu registriert und bearbeitet werden müssten, was zwangläufig zu Verzögerungen führe.867 Es blieb jedoch nicht bei einer Aufforderung an die ehemaligen Amtsträger, die Akten zurückzugeben. Vielmehr stellte die Studentengruppe die Frage, wie deren Verhalten zu ihrem Anspruch passe, nur sie allein könnten die Interessen der Studenten vertreten, und kündigte an, auf der nächsten Fachschaftsvollversammlung die Beschuldigten aufzufordern, zu dem Vorfall Stellung zu nehmen und durch Rückgabe der Akten eine sachgemäße Sozialarbeit schnell zu ermöglichen. Außerdem sollte speziell Ulrike Hartung befragt werden, »ob sie das Verhalten von MSB und SHB in dieser Affäre« verurteilt, sollte sie leugnen, am Verschwinden der Akten beteiligt zu sein.868 Abgesehen von dieser direkten Konfrontation übte sich die Studentengruppe sonst auf eher theoretische Art darin, eine Art Opposition zur (linken Fundamental-) Opposition zu etablieren. So beklagte sie, dass der Fachschaftsvorstand die Informationsbroschüre für Erstsemester dazu missbrauche, aus deren Unerfahrenheit politischen Profit zu ziehen. Florian Thomas berichtete in der »Studentenpresse Medizin«, dass in einem Artikel, der die studentischen Vertretungsorgane erläuterte, gegen die Studentengruppe polemisiert werde: »Er [der Artikel] verleumdet sie mit der Behauptung, ›Ihre Werbung sichere bestehende Privilegien und fiele der Demokratisierung des Gesundheitswesens und der medizinischen Ausbildung in den Rücken‹.« Ein anderer Beitrag, der nicht (näher erläuterte) Sparbeschlüsse der Regierung diskutierte, sei »mit Demagogien gespickt und brüht kalten Kaffee zum zehnten Mal auf«. Kompromissorientierte Kritik an Rüstungsindustrie und Kapitalismus werde als unqualifiziert beziehungsweise primitiv ironisch abgetan. Statt politisch-ideologischer Stellungnahmen erwartete die Studentengruppe Medizin Beiträge, die den Neulingen bei der Bewältigung ihres Studiums helfen könnten, beispielsweise Bücherempfehlungen und -besprechungen. Genau das schien hier jedoch nur halbherzig getan worden zu sein und auch die (offenbar vorhandenen) Ansätze hierzu wertete die »Studentenpresse Medizin« als verwirrend und zu subjektiv.869 Auf ähnliche Weise wurden die Fachschaftsversammlungen am 28. Oktober und am 4. November 1975 kritisiert, die sich mit den Wahlen zum Fachschaftsvorstand befassten: Hier konkurrierten die Studentengruppe und der als 867 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Studentengruppe Medizin (Hrsg.): Studentenpresse Medizin Nr. 1(wahrscheinlich Ende des Wintersemesters 1974/75), S. 7. 868 Ebd. 869 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Florian Thomas in Studentenpresse Medizin Nr. 6, 11. 11. 1975, S. 8 f.
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»GO-Team«870 bezeichnete alte Vorstand um die Stimmen der anwesenden Studenten. Neben der geringen Wahlbeteiligung871 provozierten die Organisation und Ablauf der Versammlung Unmut bei der Studentengruppe. Der Diskussionsleiter sei unfähig gewesen, sowohl die hitzigen Diskussionsbeiträge als auch die permanenten Geschäftsordnungsanträge in eine Reihenfolge oder Ordnung zu bringen. Folge davon sei gewesen, dass zu Beginn lange Debatten über die Geschäftsordnung geführt worden seien, die doch bereits im Voraus festgelegt sein sollte. Zwar sei korrekt abgestimmt worden, zu oft jedoch hätten die Studenten »ihr positives Votum nur[ gegeben], um weitere sinnlose Detaildiskussionen endlich zu unterbinden«.872 »Med-INFO« widersprach dem umgehend, ohne jedoch auf die Vorwürfe genauer einzugehen. Stattdessen betonte man die »qualifizierte und faire Versammlungsleitung des Kommilitonen Walger«873. Bezüglich der Rednerliste sah sich die Studentengruppe insofern benachteiligt, als äußerst lange Rednerlisten aufgestellt wurden, auf denen bevorzugt Redner der konkurrierenden Gruppe an die Spitze gesetzt wurden, deren Beiträge zudem sehr polemisch und unsachlich gewesen seien. Die eige-
870 »GO« steht für »Gewerkschaftliche Orientierung«. Das so genannte »GO-Team« war ein Bündnis von MSB und MHB. Die Grundsatzerklärungen der beiden Parteien erläuterten, was sie unter dem Begriff »gewerkschaftlich« verstanden. Der MSB schrieb hierzu: »Wir sehen im gewerkschaftlich orientierten Kampf […] einen Beitrag zur Überwindung des bürgerlichen bornierten Akademismus […] zur Heranführung der Studenten an den praktischen demokratischen und revolutionären Kampf in Fabrik, Schule, Labor und Büro, zur Stärkung der breitesten Massenorganisation der Arbeiter und Angestellten gegenüber dem Monopolkapital.« Nach Auffassung der Studentengruppe Medizin wurden die Gewerkschaften so zu einer Revolution gedrängt, die sie selbst zu einem Instrument zur Durchsetzung der Regierungsdekrete in den Betrieben – wie in sozialistischen Republiken – degradiere. Nach Auffassung des SHB bedeutete gewerkschaftlich orientierter Kampf »aber auch, daß davon ausgegangen wird, daß in der Hochschule Auseinandersetzungen mit jenen Teilen der Hochschulangehörigen und den auf die Hochschule Einfluß Ausübenden geführt werden, die objektiv und subjektiv die Interessen des Monopolkapitals und der politischen Reaktion vertreten, denn gewerkschaftlich orientierter Kampf ist Klassenkampf.« In diesem Zusammenhang wurde dem SHB von konservativer Seite vorgeworfen, sich das Etikett »gewerkschaftlich« zuzulegen, um damit Stimmen für eine politische Richtung zu gewinnen, die letztlich den Zielen der Gewerkschaften zuwider laufe. Zit. n. UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Georg Fronius in Studentenpresse Medizin Nr. 7, 08. 12. 1975, S. 19 f. 871 Von den 750 immatrikulierten Studenten der Vorklinik wohnten nur etwa ein Drittel (etwa 200) der im Hörsaal der Anatomie stattfindenden Versammlung bei. UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Barbara Kersting in Studentenpresse Medizin Nr. 6, 11. 11. 1975, S. 3. 872 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Barbara Kersting in Studentenpresse Medizin Nr. 6, 11. 11. 1975, S. 3. 873 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 30, Dezember 1975, S. 3.
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nen Mitglieder hätten das Nachsehen gehabt, als die Rednerliste nach der Hälfte abgebrochen wurde.874 Weiterhin kritisierte die »Studentenpresse Medizin«: »Anstelle einer problem-spezifischen Diskussion, die die Aktivität eines Fachschaftsvorstandes und seine Hilfen für die Studenten untersucht, mußte man sich hier die lautstarken und leider nicht zu bremsenden Vorwürfe einer Kommilitonin anhören, [d] eren einziges Problem die politische Lage in Somalia und die russisch-japanischen Schwierigkeiten […] zu sein scheinen.«
Ein Diskussionsforum wie diese Versammlung solle sich mit universitären Fragen beschäftigen und nicht mit Außenpolitik. Hauptdifferenz zwischen den beiden Parteien war also auch hier die Grundsatzfrage, ob man Fachschaftsarbeit rein pragmatisch auffassen oder ob man damit auch ideologische Ziele verfolgen solle. Letzteres definierte die Studentengruppe Medizin als »zahllose und ziellose (?) Beteiligungen an Demonstrationen und Sternmärschen875«. Die Diskussion der Programme war laut ihres Presseorgans »wie üblich eher chaotisch, von links manipuliert, (linke Kliniker waren extra zur Vorklinikerwahl organisiert worden), und kaum nutzbringend«. Letztendlich verlor876 die Studentengruppe Medizin sowohl in Vorklinik als auch Klinik die Wahlen. Das Ergebnis war nach ihrer Auffassung Folge der geringen Wahlbeteiligung und zeigte, wie wichtig eine größere Teilnahme an den Wahlen sei: »Es ist demokratisch nicht vertretbar, daß die große ›schweigende Mehrheit[]‹ t[]atenlos zusieht, wie linke Gruppen mit ihren organisierten Anhängern auf diese Weise das Wahlergebnis, das ja schließlich die Meinung aller Studenten widerspiegeln soll, manipuliert.«877 Die linke Konkurrenz sah dies übrigens mit dem Eindruck der angeblich übervollen Hörsäle während der Versammlung widerlegt (auch wenn das natürlich keinen objektiven Maßstab darstellt), und charakterisierte die Studentengruppe als ein »von Selbstmitleid geprägtes Grüppchen schlechter Verlierer«. 874 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Barbara Kersting in Studentenpresse Medizin Nr. 6, 11. 11. 1975, S. 3 f. 875 Der Sternmarsch auf Bonn am 11. Mai 1968 war einer der Höhepunkte der APO-Aktivitäten. Dass der Aufmarsch der bis zu 80.000 Demonstranten friedlich blieb, erklärt Florian Reifenrath damit, dass er nicht vom SDS, sondern vom gemäßigteren, neben Studenten auch aus Wissenschaftlern, Schriftstellern, Juristen oder Gewerkschaftsführern bestehenden Kuratorium »Notstand der Demokratie« organisiert worden sei. Ziel des Sternmarsches war es, die Einführung der stark umstrittenen Notstandsgesetze zu verhindern. Trotzdem wurden diese am 30. Mai 1968 vom Bundestag verabschiedet. Vgl. Reifenrath, S. 14. 876 In der Vorklinik verlor die Studentengruppe Medizin gegen das so genannte »GO-Team« mit 73 zu 108 Stimmen, in der Klinik mit 108 zu 172 Stimmen. UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Barbara Kersting in Studentenpresse Medizin Nr. 6, 11. 11. 1975, S. 4. 877 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Barbara Kersting in Studentenpresse Medizin Nr. 6, 11. 11. 1975, S. 3 f.
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Ein Vergleich mit der Wahl im Bereich Geologie, wo 13 der 19 anwesenden Studenten ein RCDS-Mitglied wählten, sollte belegen, dass man an der Medizinischen Fakultät, wo 500 Studenten abstimmten, gut dastehe.878 Jedoch muss man hier andererseits berücksichtigen, dass die Zahl der immatrikulierten Studenten in den beiden Fächern sicher erheblich voneinander abwich. Trotzdem entgegnete die Studentengruppe Medizin in dem offenbar hoch politischen Zahlenspiel, lediglich 20 Prozent der Medizinstudenten hätten von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht.879 Insgesamt reagierte »med-INFO« recht aggressiv auf die von konservativer Seite geübte Kritik: Den Appell an die schweigende Mehrheit kommentiert sie so: »Uninformierten [= den nicht Anwesenden] lassen sich Unwahrheiten immer noch besser verkaufen, als den Studenten, die selbst an der Diskussion teilgenommen haben.«880 Triumphierend darüber, trotzdem die meisten Stimmen erlangt zu haben, lautet das Urteil über die Konkurrenz: »Es ist klar, daß es schwer fällt, Euer blamables Abschneiden bei den Wahlen in Klinik und Vorklinik zu erklären. Aber die bösen Linken als einzige Begründung sind ein wenig billig. Linke beschimpfen und laut ›Recht und Freiheit‹ rufen, reicht als Qualifikation für den FSV nicht aus. GOTT SEI DANK !!«881
Auch auf anderen Vollversammlungen bemängelte die Studentengruppe Medizin, die Veranstaltungen seien nicht repräsentativ für alle Studierenden. Deshalb ging es ihr natürlich darum, möglichst viele Kommilitonen zu mobilisieren, um Mehrheiten zu erlangen. Doch offenbar verhielt sich die Mehrheit der Mediziner eher passiv und bildete eben jene selbst postulierte »schweigende Mehrheit«, um die man letztlich recht erfolglos warb. Folglich blieben Bereiche wie die Fachschaftsarbeit meist in den Händen linker Kreise, für die politisches Engagement der Schlüssel zur Durchsetzung ihrer Interessen war. Ihre Konkurrenten machten es sich daher zur Aufgabe, auf mangelnde Kenntnis der Geschäftsordnung und auf fehlende Zeitpläne, welche, »abgesehen von ausufernden Monologen einzelner«, keine befriedigenden Diskussionen ermöglichten, hinzuweisen. Hinzu kam der Vorwurf, die Versammlungsleitung sei so parteiisch, dass sie Redezeit und Rednerliste beeinflusse, und erfülle somit nicht ihre Aufgabe, nämlich »eine faire, sachliche und zeitlich ausgewogene Aussprache« zu ermöglichen.882 Jedoch scheiterte auch die Studentengruppe Medizin gele878 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 30, Dezember 1975, S. 28. 879 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Eike Winter in Studentenpresse Medizin Nr. 7, 08. 12. 1975, S. 13. 880 UAB, Ordner »MEDIZIN Med-INFO 1969 – 1983«, med-INFO Nr. 30, Dezember 1975, S. 28 f. 881 Ebd. 882 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Elisabeth Alfter in Studentenpresse Medizin Nr. 10, 21. 06. 1976, S. 4.
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gentlich an ihrem immer wieder neu formulierten Objektivitätsanspruch. So kommentierte sie sehr polarisierend eine Podiumsdiskussion vom 3. Dezember 1975 mit den Worten: »Wenn schon die konkrete Politik unserer Weltverbesserer hinsichtlich der Ziele diffus und verschwommen bleibt, müssen wenigstens die grundsätzlichen Positionen stimmen […] Der [linke] FSV sah seine Aufgabe darin, in dem Streit der Theorien die allgemeinen politischen Grundsätze der DKP erbittert zu verteidigen. (Ich [Wolfhard Lünser] mache ungern durch Erwähnung die DKP populär, aber Positionen, wie sie der FSV vertritt, finden sich bei den Parteien nur im Programm dieses SED-Ablegers!)«883
Mit dieser Kritik wollten die konservativen Mediziner zeigen, dass eine der größten Gefahren für die Verfasste Studentenschaft die Studenten selbst waren, weil ihre Organe (beispielsweise die Vollversammlungen) unter den aktuellen Voraussetzungen zur »politischen Spielwiese einzelner Gruppen« würden. Ihnen ging es nach eigener Auffassung darum, durch eine ordnungsgemäße, vernünftige Handhabung der gegebenen Möglichkeiten möglichst viele Kommilitonen für die Wahrnehmung ihrer Rechte zu interessieren. Denn: »Nur ein Student, der etwas mit der Verfaßten Studentenschaft anzufangen weiß, wird bereit sein, aktiv für ihren Erhalt einzutreten.«884 Das zeigt nicht nur, dass Ideen der Achtundsechziger-Bewegung – wie beispielsweise mehr studentische Mitbestimmung – übernommen wurden, sondern auch, dass man mittlerweile von sich selbst glaubte, besser als der politische Konkurrent die neuen Mitbestimmungsmöglichkeiten bewahren und nutzen zu können. Dass sich die studentische Linke solche (in ihren Augen) Anmaßungen nicht bieten lassen wollte, ist verständlich. Es erklärt den scharfen Ton beider Parteien, vor allem aber den der Achtundsechziger und ihrer Nachfolger (Die Studentengruppe Medizin gründete sich erst 1974!), die sich – wahrscheinlich ganz ungewohnt – herausgefordert sahen. Deutlich wurde diese Konstellation im nächsten Jahr : Die »Studentenpresse Medizin« berichtete in ihrer zehnten Ausgabe von einer am 22. Juni 1976 stattfindenden VDS885-Demonstration unter anderem gegen Numerus Clausus, Jugendarbeitslosigkeit, politische Disziplinierung und soziale Demontage. Zwar betonte die Studentengruppe Medizin darin ausdrücklich, dass sie einige Forderungen davon für berechtigt hielt, lehnte aber ganz im Sinne des (konservativen) AStA ideologische Randforderungen ab886, da sie den VDS schon zuvor 883 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Wolfhard Lünser in Studentenpresse Nr. 7, 08. 12. 1975, S. 17. 884 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Elisabeth Alfter in Studentenpresse Medizin Nr. 10, 21. 06. 1976, S. 3 f. 885 Siehe auch Fußnote 460 auf S. 132. 886 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Sabine Leuwer in Studentenpresse Medizin Nr. 10, 21. 06. 1976, S. 13.
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beschuldigt hatte, eben jene berechtigten Forderungen in einen Kampf gegen das politische System der Bundesrepublik Deutschland umzulenken887. Man wollte daher im Voraus mit dem VDS, welcher mehrheitlich von linken Gruppen geführt wurde, verhandeln. Das lehnte dieser jedoch ab, sodass der Bonner AStA daraufhin seine Teilnahme an der Demonstration absagte.888 Als Grund für diese konsequente Ablehnung durch linke Kräfte kann zumindest teilweise die von Wulf Schönbohm aufgestellte These aufgeführt werden, nach der die immer schärfere Abwehrreaktion auf kritische Einwände der so genannten alternativen Achtundsechziger darauf zurückzuführen waren, dass die Linke den Verweis auf Realitäten, auf Vernunft und Augenmaß deshalb so hasste, weil er ihre utopische und rücksichtslose Radikalität offen legte.889 Auch wenn der Begriff der Achtundsechziger-Bewegung eine politisch-soziale Jugend- und Studentenbewegung beschreibt, deren Beteiligte weder über ein einheitliches Konzept noch über eine feste organisierte Struktur verfügten890, sie also eine Gruppe durchaus unterschiedlicher Individuen darstellten, so fühlten sich jene Studenten zumindest grundsätzlich in ihrer Gegnerschaft zu jenen geeint, die sich ihrem Gesellschaftsbild zu Folge der »Revolution« widersetzen und folglich als repressiv einzustufen waren891. Die Studentengruppe Medizin kann gleichermaßen als eine Art Sammelbecken aufgefasst werden, wo sich all jene Studenten zusammen fanden, die die Dominanz der linken Kräfte an der Medizinischen Fakultät ablehnten oder ihr kritisch gegenüberstanden. Offenbar dauerte selbst dieser Zusammenschluss schon eine ganze Weile, so lange, dass erst dann mit der Studentenpresse Medizin ein Presseorgan erschien, als die eigentliche Achtundsechziger-Bewegung schon längst ihren Zenit überschritten hatte. Das mag zunächst erstaunlich wirken, da die Studentengruppe in den Medizinern offenbar durchaus ein Stimmenpotential für sich sah, wenn sie von der »schweigenden Mehrheit« sprach. Dass sie trotzdem nicht besonders erfolgreich war, wohl aber erfolgreicher als in manch anderer Fakultät, lässt vermuten, dass viele Bonner Medizinstudenten ihren Ideen durchaus etwas abgewinnen konnten, jedoch eher unpolitisch eingestellt waren und nicht an Veranstaltungen wie den viel diskutierten Vollversammlungen teilnahmen. Hinzu kam ein weiteres Dilemma: Da die Universität natürlich nicht nur aus der Medizinischen Fakultät bestand, konnte man sich dem Einfluss anderer Fakultäten, an denen es sicher noch wesentlich politischer zuging, nicht ent887 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Wolfhard Lünser in Studentenpresse Medizin Nr. 7, 08. 12. 1975, S. 18. 888 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Sabine Leuwer in Studentenpresse Medizin Nr. 10, 21. 06. 1976, S. 13. 889 Vgl. Schönbohm, S. 17 f. 890 Vgl. Allmendinger, S. 1 – 23. 891 Vgl. Etzemüller, S. 107.
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ziehen. So spielte aller Wahrscheinlichkeit nach eine Rolle, dass Mitglieder des RCDS als einem wichtigen Bestandteil der Studentengruppe Medizin – in der einen Fakultät mehr, in der anderen weniger – als »Faschisten« beschimpft892 oder anderwärtig diffamiert wurden. Auch wurden generell die wenigen Studenten, die die systemüberwindenden Ziele der diversen Revolutionsversuche bekämpften und auf deren Folgen hinwiesen, von den Medien souverän ignoriert.893 Sicher war das demonstrative Bemühen der Studentengruppe Medizin, möglichst sachlich und kompromissbereit zu wirken, eine Reaktion auf ihre schwierige hochschulpolitische Lage. Da sie aber auch auf die teilweise sehr aggressiven Angriffe linker Studenten und der sie vertretenden Presseorgane reagieren musste, kam sie um eine Konfrontation nicht umhin, musste diese sogar in Kauf nehmen, um nicht lächerlich oder willensschwach zu wirken. Insofern befand sie sich in einem zusätzlichen Dilemma, da jeder Angriff auf den Konkurrenten umgehend als Angriff auf die studentischen Interessen uminterpretiert werden konnte. Dabei vermochte es die Studentengruppe offenbar nicht, die linke Dominanz an der Medizinischen Fakultät zu brechen, obwohl es ihr durchaus gelang, Vertreter ins Studentenparlament zu schicken und Teilerfolge in Wahlen zu erzielen. Nicht vergessen werden darf auch eine emotionale Komponente, die HorstPierre Bothien während seiner Untersuchungen über Bonner Studenten der Achtundsechziger-Bewegung herausgearbeitet hat: »Rechte fanden die konkrete Verhandlung, die konkrete Verbesserung der Studiensituation für wesentlich. Linke übten sich im ›Sit-in‹894 und ›Go-in‹895 und führten unangemeldete ›Spaziergänge‹ durch. Schon allein die Begriffe zogen an. Da war was los, es machte Spaß zu sticheln.«896 Was mitriss, war vor allem das einzigartige Artikulationsund Identitätsangebot, die ehrlich empfundenen großen Worte, die tiefen Gefühle, die aufrichtige Empörung und die plötzlich schier unbegrenzt erscheinenden Möglichkeiten, sich als eine neue Generation im Eintreten für eine bessere Welt selbst zu beweisen.897 892 Vgl. Schönbohm, S. 16. 893 Vgl. ebd., S. 18. 894 Im Rahmen der Achtundsechziger-Revolte führte man in Deutschland Kampfmethoden der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ein, deren Namen (beispielsweise »go-in«, »sit-in« oder »teach-in«) man einfach übernahm. »Sit-in« bedeutete dabei ein mehr oder weniger friedliches Besetzen von Räumen zum Zweck der Verhinderung oder Durchführung fremder oder eigener Veranstaltungen. Vgl. Busche, S. 22. 895 Unter »Go-in« verstand man gleichsam (siehe vorangehende Fußnote) ein mehr oder weniger friedliches Eindringen in einen durch die Eindringlinge zweckentfremdeten Raum. Vgl. Busche, S. 22. 896 Bothien, S. 14. 897 Vgl. Klein, S. 216.
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Da die Achtundsechziger-Bewegung eine Jugendbewegung war, bestehend aus Menschen also, die ihr Leben noch in weiten Teilen zu gestalten haben, stellt Bothien weiterhin die Frage, wovon eher konservativ eingestellte Studenten eigentlich träumten, und beschreibt damit ganz richtig ein weiteres Dilemma, von dem auch die Studentengruppe Medizin nicht verschont bleiben konnte: »Vom demokratischen Rechtsstaat [träumten sie]? Den hatte man ja! Vom Grundgesetz? Hatte man auch. War doch alles in Ordnung. Was geht mich Ho-Chi-Minh an? Man wollte in aller erster Linie studieren, seine Studienzeit genießen, Karriere machen. Ja, natürlich, bei den Studienbedingungen, in der Hochschulorganisation war so einiges nicht in Ordnung, aber das konnte man bei gutem Willen doch reformieren. Ein bisschen mehr Mitbestimmung, ein bisschen mehr Demokratie, eine bessere Studienorganisation, mehr bedurfte es nicht. Ihr rotes Tuch war die rote Fahne. Und die Frage der Gewaltanwendung. Da konnte man wütend werden. Man teilte die Welt auf in die Freiheit des Westens und die Diktatur des Ostens, in Gut und Böse. Umso tiefer man sich im guten Teil der Welt wähnte, um so weniger Kritik und Selbstkritik ließ man zu.«898
Revolutionäre Ideen der linken Studenten, die – ganz utopisch und idealistisch – Befreiung von Bevormundung und Erfüllung möglichst vieler Bedürfnisse thematisierten, waren dagegen für eine Jugend, die sich von ihrer Elterngeneration und der von ihr geschriebenen Geschichte lösen wollte, folgerichtig wesentlich attraktiver und verhalfen ihren Vertretern zu Unterstützung nicht nur auf allgemeine Art, etwa ein Gesellschaftsbild betreffend, sondern bis hin zu Fragen der Fachschaftspolitik. Auch wenn diese allein die erhoffte Revolution natürlich nicht verwirklichen konnte, so wähnte man sich anscheinend durch Einflussnahme im Kleinen doch auf dem richtigen Weg dorthin. So mussten Kräfte, die sich gegen diese Euphorie zu wenden schienen und die – statt an den identitätsstiftenden Protesten teilzunehmen – vielmehr befürchteten, »bei der verschreckten Öffentlichkeit in (ungute[r]) Erinnerung«899 zu bleiben, zwangsläufig antiquiert und blass, vielleicht auch feige wirken: Karikatur einer überwunden geglaubten Geisteshaltung und willkommenes Feindbild in einem.
898 Bothien, S. 16. 899 UAB, Ordner »MEDIZIN Flugblätter 1970-, Studentenpresse 1974-«, Wolfhard Lünder in Studentenpresse Medizin Nr. 7, 08. 12. 1975, S. 18.
11. Schluss
Den Grundgedanken von »68«, der Befreiung von Autoritäten, Abhängigkeiten, Konventionen, Traditionen, lästigen Pflichten und überkommenen Moralvorstellungen versprach900, teilten die Studenten der Medizinischen Fakultät Bonn mit ihren Kommilitonen in der gesamten Bundesrepublik. Sie waren jedoch nicht die – wenn es sie denn gab – klassischen Rebellen dieser Jahre, weil sie den wirklichen Aufruhr schlichtweg verpassten. Vielmehr legt ihre fast ausschließlich theoretische »Revolution« den Eindruck nahe, dass sie jene Jahre des Aufruhrs auf alle Fälle nachholen wollten. Tatsächlich zeigt sich die Studentenbewegung rückblickend als »Baum mit vielen Wurzeln und noch mehr Ästen und Zweigen«901, an dem die Bonner Studenten jedoch unbestreitbar teilhatten. Die von ihnen veröffentlichten Artikel und Flugblätter präsentierten eine scheinbar hoch motivierte, politisch interessierte und engagierte junge Generation, die mit scharfem Verstand all jene Aspekte des autoritären »Systems« kritisierte, die die Menschen letztendlich daran hinderten, ein glückliches und selbstbestimmtes Leben zu führen. Mitunter konnte man andererseits – blätterte man nur eine Seite weiter – pragmatische, um Sachlichkeit bemühte Mediziner erkennen, die im eigenen Interesse, aber auch jenem der Patienten und Professoren, für bessere Lehr- und Lernbedingungen eintraten. Interessant ist, dass man sich bei allen unterschiedlichen Arten der Artikulation durchgehend für sachlich, selbstkritisch und kompromissbereit hielt. Hochempfindlich reagierte man auf Zweifel an der eigenen Unbeflecktheit. Es ist dies einer der wesentlichen Umstände, der den faden Beigeschmack angesichts der teils unbestreitbar vernünftigen und zukunftsweisenden Gedanken der Studenten verursacht. Die »als umfassend wahrgenommene Wirklichkeit der autoritären Mächte«902 legitimierte Einseitigkeit, Realitätsverneinung bis hin zur offenen Verleumdung einzelner Gegner. 900 Vgl. Frei, S. 134. 901 Kraushaar, Denkmodelle, S. 14. 902 Hecken, S. 81.
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Die Fülle an Zeitschriften, Informationsbroschüren und Flugblättern stellte eine Öffentlichkeit her, die es ermöglichte, provokante oder abweichende Meinungen einem breiten Publikum zugänglich zu machen, und gleichzeitig die Verfasser beziehungsweise die hinter ihnen stehenden Gruppierungen antiautoritär erscheinen zu lassen.903 Diese antiautoritäre Haltung schloss selbstredend auch die Organisation des Studiums ein, weshalb man durchweg auf demokratische Mitbestimmung etwa in Verwaltung und Forschung pochte.904 Nur zu oft aber strapazierte man den eigenen Horizont über alle Maßen und bot schrillen, im Rückblick teils naiven, teils schlichtweg abwegigen Verschwörungstheorien eine Bühne, die wiederum als Rechtfertigungsgrundlage für weitere (überzogene) Forderungen herhalten mussten. Solche Entgleisungen eines »zeitspezifischen Wahnsinns« führten zu der bis heute geläufigen und von Wolfgang Kraushaar treffend formulierten Auffassung, dass derjenige, der sich heute noch auf »68« berufe, »wohl Masochist« sein müsse. Er fragt sich: »Hätte es Modernität, Reform und Fortschritt nicht auch ohne linksradikale Auswüchse einer gut situierten Studentengeneration gegeben?« Immerhin gesteht Kraushaar der Bewegung zu, bis heute als großes Fragezeichen gegenüber den ökonomischen, technologischen und kulturellen Imperativen einer eindimensionalen Welt zu wirken, auch wenn »68« in seinem politischen Kern längst hohl sei.905 Ein abschließendes Urteil über die Studenten dieser Jahre ist weder auf Bundesebene noch durch eine Konzentrierung auf die Medizinische Fakultät Bonn möglich. Bei Sichtung der Quellen wird jedoch deutlich, dass man den Medizinern am Rhein in einigen Fällen eine relativ sachorientierte Streitkultur attestieren darf. Oftmals hält dieser selbst formulierte Anspruch allerdings kritischen Untersuchungen nicht stand. Natürlich könnte man auch argumentieren, dass ihnen dieses Attribut der relativen Sachlichkeit nicht zustehe, da sie die eigentlichen »wilden Jahre« in ebenso relativer Trägheit verbrachten und daher gar kein Rahmen für spektakulärere Aktionen mehr gegeben war. Mit einer ausreichenden Quellenbasis belegen lässt sich, dass die für die sechziger und siebziger Jahre typische Psychiatriekritik die Bonner Mediziner beschäftigte und prägte. Die in der Psychiatrie-Enquete aufgeworfenen Diskussionen und Reformen wurden – wenn auch um einige Jahre verzögert – in beachtlicher Breite diskutiert. Insbesondere der Sprecherrat Nervenklinik setzte sich an die Spitze der kritischen Studenten und zeigte sich auch gegenüber radikalen antipsychiatrischen Gedanken offen. Die Kritik an tatsächlichen und empfundenen Missständen in der Psychiatrie schloss auch die Zustände in Bonn
903 Vgl. ebd., S. 115. 904 Vgl. ebd., S. 76. 905 Kraushaar, Achtundsechzig, S. 296 f.
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ein: Man forderte eine Modernisierung von Lehre und Behandlungsmethoden, die einer menschlicheren Psychiatrie den Weg ebnen sollten. Insbesondere die Kritik an der praktizierten Lehre beschränkte sich dabei nicht auf das Fach Psychiatrie: So prangerte die linke studentische Presse die Zulassungsverfahren für das Medizinstudium ebenso an wie Mängel und Sparzwänge in den Kliniken und die Stellung des Studenten in Universität und Gesellschaft, wo man sich inakzeptabler Repression und sinnloser Autorität ausgeliefert sah. Zur Begründung für derartige Zustände dienten linke politische und gesellschaftliche Theorien als Werkzeug, um die egoistischen Bestrebungen des »Systems« zu entlarven. Sie stifteten darüber hinaus eine hoffnungsvolle und Differenzen überbrückende Identität. Diese Selbsteinschätzungen mussten Auseinandersetzungen mit jenen Vertretern der Universität provozieren, die sich konservativ-beharrend präsentierten und die Bestrebungen der Studenten als illegitimen Angriff auf ihre Rechte und Fachkompetenz interpretierten. Auch wenn die Konflikte mit den Professoren Fleischhauer und Pichotka die einzigen waren, die sich zufrieden stellend dokumentieren lassen, blieben derartige Auseinandersetzungen vermutlich nicht auf diese beiden Personen beschränkt. Die dort erkennbare Kompromisslosigkeit und das Unverständnis auf beiden Seiten dürften jedoch als recht symptomatisch für die damalige Streitkultur angesehen werden. Punktuell blickten die Bonner Mediziner auch über den eigenen Tellerrand hinaus. In erster Linie bot die Kriegsführung der USA in Vietnam einen Anlass, um sich mit dem kommunistischen Norden des Landes zu solidarisieren und die vermeintlichen Leistungen des dort lebenden Volkes zu würdigen, insbesondere was die Gesundheitsversorgung anging. Dieses wurde als höchst menschlich und auf hohem Niveau stehend charakterisiert. All das gegen den Widerstand der größten Militärmacht der Welt durchhalten zu können, löste zumindest beim Redaktionskollektiv von »med-INFO« wahre Stürme der Begeisterung und Bewunderung aus. Dass alle Mediziner so dachten, ist jedoch unwahrscheinlich, da dieses Thema – im Gegensatz zu anderen – nur gestreift wurde. Diese Beobachtung trifft auch auf die Auseinandersetzung mit der Drogenproblematik zu. Das vermeintliche Betäubungsmittel der neurotischen Gesellschaft konnte trotz seines großen Potentials für Medizinstudenten nur wenig Interesse wecken. Allgemeiner gehaltene Diskussionen – etwa die Angst vor der »Gesellschaft der verkümmerten Talente« – wurden zwar ausführlicher behandelt, wecken aber den Eindruck, man wollte sich bloß nicht zu weit von den eigenen Geschäften entfernen. Daran änderte auch die Basisgruppe Medizin nichts, die zwar durchaus mit revolutionären Ideen sympathisierte und um deren Verbreitung bemüht war, sich dann aber doch in der Theorie verlor. Ging es lediglich darum, Empörung zu zeigen, verteilten die Mediziner eifrig Flugblätter und druckten kritische Artikel. Die Solidaritätsadressen mit der
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ehemaligen Bonner Studentin Irmtraud Thi¦e und dem Frankfurter Arzt Hans Mausbach stehen exemplarisch für diese Haltung. Man beklagte, dass in der damaligen Gesellschaft nicht einmal die elementarsten Grundrechte (beispielsweise das Recht auf freie Berufsausübung) eingehalten würden. Diese Grundskepsis gegenüber Universität und Gesellschaft zeigte sich auch an der Kritik an Forschung und Wissenschaft. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen Forschung erlaubt sein sollte und wie die Kriterien für den einzig anzustrebenden »Nutzen für die Gesellschaft« auszusehen hatten, beschäftigte die Studentenpresse über viele Jahre. Einigkeit bestand darin, der damals praktizierten Forschung als vermeintlich öffentlich finanziertes Geschenk an die Großindustrie ein Ende zu bereiten, gegebenenfalls auch gegen Widerstand, der in Gestalt des BFW immer aggressiver und reaktionärer Gestalt anzunehmen schien. Die sexuelle Revolution, die die »Pille« als Mittel der Emanzipation und die heftigen Diskussionen um den Paragraphen 218 hervorbrachte, konnte die Studenten erstaunlicherweise wenig beeinflussen. Immerhin bemühten sie sich in der spärlichen Berichterstattung um die praktischen Bedürfnisse der betroffenen Frauen: Wie erhalte ich möglichst unbürokratisch ein Rezept für die »Pille«? Inwiefern lässt sich die Notlage ungewollt schwangerer Frauen lindern? Die konservativen Kräfte unter den Medizinern, vor allem in Gestalt der Studentengruppe Medizin, wurden von ihren linken Kommilitonen frühzeitig zum Feindbild erklärt und heftig attackiert. Obwohl sie sich als Sammelbecken der Pragmatiker präsentierten und ausdrücklich eine unideologische Hochschulpolitik favorisierten, konnten sie sich nur mühsam gegen ihre Konkurrenten behaupten. Der Zeitgeist drängte sie in ein Dilemma, aus dem sie kaum hätten entkommen können. Die linken, sich fortschrittlich gebenden Kräfte leisteten eine wesentlich spektakulärere Öffentlichkeitsarbeit, die konservativ Gesinnte – oder auch schlicht neutrale Beobachter – nicht zu Wort kommen ließ und somit wohl auch den Eingang der meisten ihrer Gedanken in die Archive verhinderte. Die Medizinische Fakultät in Bonn hinterlässt, was ihre Berührpunkte mit der Achtundsechziger-Bewegung angeht, das sehr heterogene Bild einer teils zögerlichen, teils schrillen Gruppe von Studenten in Mitten der dramatischen Umwälzungen dieser Zeit. Ihre oft wortmächtigen und doch in ihrer gebetsmühlenartigen Wiederholung nicht selten einfallslosen Parolen, so könnte man rückblickend urteilen, sollte womöglich ihre in vielen Punkten ungewollt spießige Haltung, die sie des Öfteren zu zögerlichem und Risiko meidendem Agieren trieb, kompensieren.
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Jürgen Busche stellt fest, der Erfolg der Achtundsechziger habe zuerst bildungspolitische Konsequenzen gehabt.906 Und in der Tat konnten die Mediziner auf diesem Gebiet – beispielsweise im Streit mit Professoren oder während der Diskussionen um Verbesserungen in der psychiatrischen Versorgung – Erfolge verbuchen. Teilweise wecken ihre Aufstände im Kleinen auch nach vielen Jahren noch Sympathien beim Leser. Kam man aber mit den nahe liegenden Mitteln nicht weiter, wurde der Ton schnell rauer, die Zusammenhänge absurder und die Universität beziehungsweise gleich der ganze Staat um einige Dimensionen autoritärer. Dramatisch wurde es vor allem dann, wenn die eigenen Interessen betroffen waren. Der Problematik um die Pille, um Abtreibung, um den Vietnamkrieg und um Drogen wurde eine erstaunlich niedrige Priorität eingeräumt, obwohl man doch stets die Verflechtung studentischer Probleme mit der globalen Wirklichkeit betonte. Ging es aber etwa um die Forschung an der Universität Bonn, schienen gleich die CIA und die vereinte deutsche Reaktion mit im Spiel zu sein. Die Zustände in den psychiatrischen Institutionen ließen vermeintlich nur den Weg in den Sozialismus offen und Studenten, die konservative Positionen vertraten und widersprachen, wurden zu Handlangern reaktionärer Kräfte: Waren die Bonner Mediziner in irgendeiner Weise selbst betroffen, überbot man sich mit den abenteuerlichsten Theorien, war dies nicht der Fall, wurden die Themen pro forma abgehandelt, aber nicht in ihrer Komplexität entfaltet und ausgenutzt. Das alles passte eigentlich nicht zu den eigenen ehrgeizigen Ansprüchen! Auch auf diese sehr kleine Gruppe von linken Bonner Studenten trifft zu, was Theodor W. Adorno an seinem Todestag Herbert Marcuse schrieb: »Die Meriten der Studentenbewegung bin ich der letzte zu unterschätzen: sie hat den glatten Übergang zur total verwalteten Welt unterbrochen. Aber es ist ihr ein Quentchen Wahn beigemischt, dem das Totalitäre teleologisch innewohnt«.907 Die Gründe, warum der Protest in Bonn trotz aller Hysterie und zur Schau gestellter revolutionärer Absichten alles in allem eher intellektuell blieb, waren sicher vielfältig. Neben der bereits eingangs beschriebenen Tatsache, dass Studenten naturwissenschaftlicher Fakultäten auf Grund des Wesens ihrer Fächer Gesellschaftskritik und linken Ideologien eher weniger abgewinnen konnten, mag auch die katholische Prägung des Rheinlandes eine Rolle gespielt haben. Den Menschen solcher Regionen blieben der Widerstand und die Revolte der Achtundsechziger bis zu einem gewissen Grade fremd.908 Auch das Traditionelle und Konservative, was der Medizin in aller Regel anhaftet, ist zu berücksichtigen. 906 Vgl. Busche, S. 9. 907 Zit. n. Kraushaar, Achtundsechzig, S. 297. 908 Vgl. Agnoli, S. 251.
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Der in erster Linie von »med-INFO« permanent vermittelte Eindruck, die Bonner Mediziner teilten weitgehend die in der Zeitschrift propagierten linken Parolen, muss auch deshalb in Frage gestellt werden. Die von ihren Konkurrenten, der Studentengruppe Medizin, vielfach postulierte »schweigende Mehrheit« dürfte sich vielen Diskussionen und Konflikten schlichtweg entzogen haben, sei es, weil man zufrieden war, solange man im Studium Erfolg hatte, sei es, weil man die linken Positionen resigniert ablehnte oder – was der häufigste Fall gewesen sein dürfte – weil man das turbulente Geschehen lieber aus der Distanz, möglicherweise mit einem gewissen Grad an Überforderung, verfolgte. Diese »Gelassenheit« konnten linke Kräfte wegen ihres Selbstverständnisses und ihrer politischen Ansichten nur verurteilen und bekämpfen. Angesichts vieler Zustände, die in der Tat kritikwürdig waren (beispielsweise die Sanktionen gegen Dr. Mausbach oder die Kriegsführung der USA in Vietnam) und die von den Medizinern öffentlichkeitswirksam kritisiert wurden, mag man ihren Kampf ein Stück weit gutheißen. Jedoch schoss man auch hier fast routinemäßig über das ursprüngliche, vielleicht gut gemeinte Ziel hinaus. Was daraus resultierte, nämlich ein auch für die Bonner Studenten symptomatisches Dilemma des Konstruktes »68«, beschreibt Peter Schneider in seinen Erinnerungen an die eigene revolutionäre Jugend in Westberlin: »immer wieder fällt mir die ratlosigkeit auf, die uns alle befällt, wenn wir in der verlegenheit sind, etwas schön zu finden.«909
909 Schneider, Rebellion, S. 296.
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