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German Pages 162 Year 2019
Maria Björkman (Hg.) Der Mann und die Prostata
Medical Humanities | Band 1
Maria Björkman (PhD), geb. 1974, forscht an der Universität Uppsala zur Geschichte der Medizin. Ihre Schwerpunkte liegen in den Bereichen Eugenik, Genetik und Urologie.
Maria Björkman (Hg.)
Der Mann und die Prostata Kulturelle, medizinische und gesellschaftliche Perspektiven
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Korrektorat: Mirjam Galley, Bielefeld; Michelle Buller, Bielefeld Übersetzung aus dem Schwedischen: Marie Ludwig Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4866-9 PDF-ISBN 978-3-8394-4866-3 https://doi.org/10.14361/9783839448663 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt Danksagung der Autorinnen und Autoren � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 7 Kapitel 1 Die Prostata – eine ewige Geißel? Eine Einführung Maria Björkman � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 11
Kapitel 2 Pinkeln wie ein alter Mann Ericka Johnson � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 17
Kapitel 3 Die Prostata – Fluch oder Segen? Carina Danemalm Jägervall � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 33
Kapitel 4 Die Prostatauntersuchung und der (un-)empfindliche Mann Jenny Gleisner � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 51
Kapitel 5 Ein gesunder Zustand der Ungewissheit Gedanken zu PSA-Test, Vorhersagbarkeit und Verwundbarkeit Oscar Javier Maldonado Castañeda � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 69
Kapitel 6 Ein Gefühl für Daten Screening- und Forschungspraktiken rund um Prostatakrebs mit (Für-)Sorge und Aufmerksamkeit Sonja Jerak-Zuiderent � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 85
Kapitel 7 Ein potenzielles Problem Zur Maskulinität und Behandlung bei Prostatakrebs Jelmer Brüggemann � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 103
Kapitel 8 Kastration als Behandlungsmethode bei Prostataproblemen Aufstieg, Fall und Rückkehr Elin Björk � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 121
Kapitel 9 Macht die Prostata den Mann zum Mann? Männer, Sexualität und die Prostata im frühen 20. Jahrhundert Maria Björkman & Alma Persson � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 141
Über die Autoren � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 157
Danksagung der Autorinnen und Autoren
Dieses Buch ist das Ergebnis der Forschungsbemühungen im Rahmen der beiden Forschungsprojekte »Die ständige Geißel. Diskursive Konturen der alternden Prostata« (Vorgangsnr. 2013-8048) und »Geschlecht und medizinische Simulatoren« (Vorgangsnr. 2012-5198), die beide vom schwedischen Wissenschaftsrat (Vetenskapsrådet) finanziert wurden. Ohne diese Finanzierung wären Forschung und Buch nicht zustande gekommen: Herzlichen Dank! Die Stiftung Riksbankens Jubileumsfond finanzierte eine Reise nach Budapest zum Sammeln wissenschaftlichen Materials für eines der historischen Kapitel dieses Buches: Vielen Dank dafür! Ohne all jene Männer, die uns über Interviews, Gespräche und Beobachtungen freundlicherweise an ihren Erfahrungen und Erzählungen teilhaben ließen, wären Forschung und Publikation ebenfalls nicht möglich gewesen. Ihnen allen gilt unser besonderer und herzlicher Dank! Ein großes Dankeschön möchten wir auch an alle im medizinischen Bereich tätigen Menschen richten: Ärzte, Medizinstudenten und andere, die uns mit ihrer Zeit und ihren Ressourcen dabei unterstützt haben, die Prostata und sämtliche Praktiken der Gesundheitsfürsorge im Zusammenhang mit dieser einzigartigen Drüse zu verstehen. Insbesondere danken wir Ralph Peeker für die fachlich-inhaltliche Prüfung des Buches sowie Björn Berglin und Matias Garzón von der Stockholmer Männerklinik für ihre beratende Unterstützung zu ausgewählten Inhalten des Manuskripts. Die in dieser Publikation dargestellten Meinungen sowie eventuell verbliebene Fehler sind ausschließlich die der Autoren. Ein herzliches Dankeschön an Birger
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Der Mann und die Prostata
Pålsson, dessen Kenntnisse in der Darmchirurgie von unschätzbarem Wert waren, sowie an andere im Bereich der Urologie klinisch tätige Personen des Gesundheitsdistrikts Region Kronoberg. Dank gebührt dem Verband RFSL Kronoberg für seine konstruktiven Ansichten. Vielen Dank an Henrik Kjölhede, der so freundlich war, unserer Forschungsgruppe die medizinische Ausrüstung für Prostataoperationen und -biopsien zu zeigen und geduldig all unsere Fragen zu beantworten. Professor Richard Wassersug – your enthusiasm for this subject is catching – thanks for your encouragement and information! Ein herzliches Dankeschön auch an unsere Kollegen in Linköping und Uppsala, die uns zuhörten, Textentwürfe lasen und kommentierten und uns an ihrer Meinung teilhaben ließen. Insbesondere danken wir Boel Berner und der Seminargruppe P6: Körper, Wissen und Subjektivität (Kropp, kunskap och subjektivitet) in Linköping für erheiternde und konstruktive Diskussionen sowie dem Institut für Ideengeschichte (Institutionen för idé- och lärdomshistoria) in Uppsala für wertvolle Anregungen zu Teilen des historischen Materials dieses Buches. Vielen Dank auch an Emilia Zotevka für die Übersetzung dreier Kapitel dieses Buches aus dem Englischen ins Schwedische sowie an Eva Johansson-Morén und Karin Torbratt für ihre Unterstützung in zahlreichen praktischen Belangen. Wir sind auch dankbar für all die Hilfe, die wir von Bibliothekaren und Archivaren in Linköping, Uppsala, Budapest (Semmelweis-Bibliothek für Geschichte der Medizin) und Zürich (Bibliothek für Medizingeschichte) erhalten haben. Wir danken dem transcript Verlag und allen, die daran beteiligt waren, dieses Buch einem deutschsprachigen Publikum zu erschließen. Unser besonderer Dank gilt Dr. Dagmar Buchwald, die daran glaubte, dass dieses Buch weitere Kreise als das schwedische Publikum ansprechen könnte, und die uns gewissenhaft, professionell und mit schier unendlicher Begeisterung und Freude durch diesen Prozess geleitete. Ebenso danken wir unserer Übersetzerin, Marie Ludwig vom Semantix Übersetzungsbüro, für ihre große Sorgfalt und Aufmerksamkeit bei allen Besonderheiten dieses Buches. Annika Olsson
Danksagung der Autorinnen und Autoren
von Nordic Academic Press glaubte von Anfang an von ganzem Herzen an die Buchidee – herzlichen Dank! Das enorme gemeinsame Interesse aller Teilnehmer dieser Forschungsgruppe für die Prostata war für die erfolgreiche Forschung und Veröffentlichung dieses Buches von entscheidender Bedeutung. Ericka Johnson ist es in ihrer Rolle als Projektleiterin gelungen, die Teilnehmer der Gruppe mit ihrer Begeisterung, ihrer Großzügigkeit und ihrem Vertrauen anzustecken. Ein großes Dankeschön an Ericka wie auch an alle anderen Forscher dieser Gruppe. Zu guter Letzt möchten wir uns ganz herzlich bei unseren Familien und Freunden bedanken, die unseren Ausführungen zur Prostata zu jeder Zeit und Unzeit geduldig gelauscht haben. Übrigens: Wenn im folgenden Buch gelegentlich nur die grammatikalisch männliche Form verwendet wird, so bezieht sich diese Ausdrucksweise dennoch auf Personen aller Geschlechter. Die Autorinnen und Autoren, im Herbst 2019
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Kapitel 1 Die Prostata – eine ewige Geißel? Eine Einführung Maria Björkman Prostata: anat. eine beim Mann vorkommende, im kleinen Becken unmittelbar unterhalb der Harnblase gelegene und den oberen Teil der Harnröhre umschließende Drüse.1 Geißel: urspr.: Rute, Stock; Peitsche; spez. eine Art Peitsche (zur Bestrafung oder Buße) mit zwei (kurzen) Lederriemen (mit eingeflochtenen Metallteilen), die an einem kurzen Schaft befestigt sind; desw. ähnliche Instrumente zur Bestrafung.2 Warum gibt eine Forschungsgruppe ihrem Forschungsprojekt und dem schwedischen Original dieses Buches über Prostataprobleme einen Titel, der das Wort »Geißel« enthält? Wieso assoziieren wir eine im männlichen Körper vorkommende Drüse mit einem altertümlichen Strafinstrument? An diesem Punkt müssen wir gestehen: Die Idee, dass die Prostata und die damit verbundenen Erkrankungen und Beschwerden eine Strafe oder ewiges Leiden für den Mann bedeuteten, stammt nicht von uns. Tatsächlich handelt es sich bei der »Prostata als Geißel des Mannes« um eine in vielen medizinischen Abhandlungen über die Prostata übliche Metapher.3 Ausgangspunkt der diesem Buch zugrunde liegenden Forschung war vielmehr die Frage, was eigentlich hinter dieser Metapher steckt. Die Autoren haben die Bedeutung der Prostata in verschiedenen Kontexten untersucht: für die Medizin, für die Gesellschaft sowie für die
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Identität und Sexualität des Mannes. Dieses Buch ist all jenen gewidmet, die sich Gedanken über ihre Prostata und deren Funktion machen, die unter einer Prostataerkrankung leiden und einen anderen Blickwinkel als die rein medizinisch-fachliche Perspektive wünschen, sowie jenen, die keine Prostata mehr haben. Wir hoffen überdies, dass auch Angehörige und Freunde von Betroffenen Nutzen aus dem Geschriebenen ziehen können. Darüber hinaus wünschen wir uns, dass das Buch im Rahmen der Gesundheits- und Krankenpf lege im Umgang mit und der Behandlung von Menschen mit Prostatabeschwerden Anwendung findet. Wir möchten jedoch ausdrücklich darauf hinweisen, dass es sich bei diesem Buch nicht um einen medizinischen Ratgeber handelt und dass bei prostatabedingten Beschwerden unbedingt ein Arzt konsultiert werden sollte. Im Laufe unserer Beschäftigung mit den verschiedenen Bedeutungen, die der Prostata in unserer Gesellschaft zukommen, konnten wir feststellen, dass die alternde Prostata keinesfalls nur als Bürde angesehen wurde. Ohne Zweifel galt sie häufig als problematisch, nicht zuletzt im medizinischen Kontext, in dem Untersuchungen und die Therapie von Prostatabeschwerden wie Prostatitis, Krebs und der gutartigen Prostatavergrößerung (Prostatahyperplasie) dominieren. Aber sie ist auch als Lustquelle betrachtet worden – ein Aspekt, der in der Medizin nur selten Beachtung findet. Das Kapitel »Prostata – Fluch oder Segen?« hebt bedeutende Perspektiven dieses Lustpotenzials hervor und weist auch auf einzelne Bereiche der medizinischen Pf lege und Behandlung hin, in denen der Umgang mit dem Thema verbessert werden kann. Die offensichtliche Verknüpfung der Prostata mit einer Reihe verschiedener Vorstellungen von Männlichkeit und Maskulinität – gesellschaftlichen und kulturellen Normen, wie ein Mann sein und sich verhalten »sollte« – zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Mitunter werden wir uns dieser Normen erst dann bewusst, wenn sich die körperlichen Funktionen im Alter oder infolge einer Erkrankung verändern. In mehreren Kapiteln finden sich Schilderungen der Reaktionen von Männern auf die Tatsache, dass sich ihre Körper verän-
Die Prostata – eine ewige Geißel?
dern und bestimmte, zuvor selbstverständliche, Funktionen dadurch beeinträchtigt werden. Im Kapitel »Pinkeln wie ein alter Mann« wird analysiert, wie die Auswirkungen des veränderten Urinierungsmusters individuell wahrgenommen werden. Das Wissen um die Prostataprobleme von Männern, so die Autorin, gehe auch mit einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung einher und sollte daher bei der Architektur- und Gemeindeplanung berücksichtigt werden. Das Kapitel »Ein potenzielles Problem: Zur Maskulinität und Behandlung bei Prostatakrebs« befasst sich mit der Veränderung der Sexualität und des sexuellen Vermögens, die infolge einer chirurgischen oder anderweitigen medizinischen Behandlung von Prostatakrebs auftreten kann. Es schildert die Verlustgefühle und zeigt auf, wie alternative Männlichkeitsnormen dabei helfen können, auch nach einer Krebsdiagnose und -therapie ein erfülltes Leben zu führen. Ein weiterer eng mit den Männlichkeitsnormen verknüpfter Aspekt – die vermeintliche Härte und Schmerzunempfindlichkeit von Männern – kann unmittelbare Konsequenzen für die ärztliche Behandlung haben. Im Kapitel »Die Prostatauntersuchung und der (un-)empfindliche Mann« wird dargestellt, wie derartige Ideale sich auf die Durchführung der Prostatauntersuchung (sowie darauf, wie diese Medizinstudenten vermittelt wird) auswirken. Der Vergleich der Prostatauntersuchung mit gynäkologischen Untersuchungen verdeutlicht nicht nur die herrschenden Männlichkeitsideale, sondern zeigt auch auf, wie diese sich auf den Einzelnen und die Motivation, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, auswirken können. Auch in den beiden Kapiteln, die sich mit der Krebsvorsorge mittels PSA-Test und Biopsie befassen, werden die Erwartungen an das Verhalten eines Mannes im Zusammenhang mit medizinischen Untersuchungen und Eingrif fen deutlich. Im Kapitel »Ein Gefühl für Daten: Screening- und Forschungspraktiken rund um Prostatakrebs mit (Für-)Sorge und Aufmerksamkeit« wird aufgezeigt, wie trotz detaillierter Protokolle zum korrekten Umgang mit Patienten in der Pf lege dennoch wichtige Aspekte übersehen werden können. Das Kapitel »Ein gesunder Zustand der Ungewissheit: Gedanken zu
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PSA-Test, Vorhersagbarkeit und Verwundbarkeit« betrachtet das Thema Krebsvorsorge aus einer Perspektive, die uns zuweilen entgeht, aber dennoch Beachtung verdient: die Frage, welche individuellen – positiven wie negativen – Auswirkungen Früherkennung und Krebsprophylaxe haben können. Die Tatsache, dass die Prostata mit Männlichkeitsidealen verbunden wird, ist nichts Neues – dies zeigt der historische Abschnitt dieses Buches. Das Kapitel »Kastration als Behandlungsmethode bei Prostataproblemen: Aufstieg, Fall und Rückkehr« erklärt, wie es dazu kam, dass man die verschiedensten Prostataprobleme mit einem derart radikalen Eingrif f wie der Kastration zu behandeln versuchte. Dass diese Methode verworfen wurde – um später wieder aufgegriffen zu werden – ist unter anderem auf die damaligen Männlichkeitsideale zurückzuführen, die übrigens auch in der heutigen Medizin noch eine Rolle spielen. In dem Kapitel »Macht die Prostata den Mann zum Mann? Männer, Sexualität und die Prostata im frühen 20. Jahrhundert« geht es um die Bedeutung der Prostata für das Männlichkeitsideal des frühen 20. Jahrhunderts, die sich von ihrer heutigen Rolle unterscheidet. Die Lektüre stimmt dennoch nachdenklich – welche Normen und Ideale prägen die heutige Medizin? Eine der vielen Schlussfolgerungen dieses Buches lautet: Wenn die Prostata als Geißel des Mannes betrachtet werden kann, so dürfte dasselbe wohl auch auf die sehr eng gefassten Maskulinitätsnormen und -ideale zutreffen, die unmittelbaren Einf luss auf den Körper, die Identität und die Gesundheit haben können. Durch die verschiedenen Kapitel ziehen sich daher der Wunsch und die Suche nach integrativeren und großzügigeren Normen dafür, was es bedeuten kann, ein Mann zu sein.
Die Prostata – eine ewige Geißel?
Anmerkungen 1 Wörterbuch der Schwedischen Akademie, saob.se, Stichwort »prostata«. 2 Wörterbuch der Schwedischen Akademie, saob.se, Stichwort »gissel«. 3 Vgl. z.B. Kinn, Ann-Charlotte, Borgström, Harald & Hallum, Ulf (1997): Prostata – mannens ständiga gissel. Södertälje: Astra läkemedel; Damber, Jan-Erik (2000): »Mannens gissel«, in: Forskning och framsteg, Nr. 3, Onlineversion: https://fof.se/tidning/2000/3/mannens-gissel.
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Kapitel 2 Pinkeln wie ein alter Mann Ericka Johnson Drei Minuten bis zur nächsten Bushaltestelle. Drei laaaaange Minuten. Endlich. Die Türen öffnen sich. Ein Café mit öffentlicher Toilette. Eine verschlossene Tür und ein kleines Kind mit seiner Mama, das darauf wartet, dass die Toilette frei wird. Ein Anflug von Panik: »Wie lange muss ich wohl warten? Sollte ich es lieber bei dem Geschäft ein wenig weiter die Straße herunter probieren oder bleibe ich hier und warte – sie können ja wohl nicht ewig brauchen, oder?« Warten. Warten. Die Türen öffnen sich. Kind und Mama gehen hinein und schließen ab … Warten, warten … endlich, auf der anderen Seite der Tür wird gespült. Der Wasserhahn wird aufgedreht. Der Händetrockner dröhnt. Die Spülung wird erneut betätigt … ein weiteres Händepaar wird gewaschen. Erneutes Dröhnen. »NUN MACHT SCHON …« Die Tür wird entriegelt. Das Kind rennt raus, die Mutter schnappt sich noch ihre Taschen. »Endlich, endlich.« Die Tür ist zu. Schnell den Penis raus, vor die Toilette stellen und herunterstarren und … warten. Nichts. Ein Tropfen. Ein Spritzer. Und schließlich ein schwacher Strahl. Aber nichts im Vergleich dazu, wie
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dringend das Bedürfnis schien. Weiter warten. Immer warten. Der Blick wandert die Wand entlang, zur Lampe hin … Ob draußen jemand ansteht? »Okay. Das war wohl alles.« Reißverschluss zu und wieder raus. Noch immer das Gefühl, dringend zu müssen. Doch nicht fertig gewesen. Seufz!1 Viele Männer beobachten im Alter, dass sich ihr Urinierungsmuster ändert. Meist äußert sich dies in einem vermehrten Harndrang, während sie zugleich Schwierigkeiten haben, ihre Blase komplett zu entleeren. »Pinkeln wie ein alter Mann«, wie ein Mann es so treffend bezeichnete. Dies kann physisch wie psychisch äußerst frustrierend sein. Ein wiederkehrendes Thema bei den Interviews, die ich im Rahmen der Forschungsstudie für dieses Kapitel geführt habe, lautete: Wenn sich die Prostata verändert, altert und möglicherweise krank wird, geht dies für die betroffenen Männer mit einer völlig neuen Wahrnehmung des öffentlichen Raums einher. Diese Männer, überwiegend gewöhnt an ein Leben in einem gesunden, jungen oder mittelalten Körper, entsprechen aufgrund einer problematischen Prostata auf einmal nicht mehr der gesellschaftlichen Norm. Sobald derartige Veränderungen auftreten, wird der Körper von der Kategorie »normal« in die Kategorie »anormal« verschoben. Zugleich ist man infolge der Verwandlung mit einer zuvor unbekannten Infrastruktur öffentlicher Toiletten konfrontiert. Das kann durchaus schockierend sein. Ständig – und dringend – urinieren zu müssen, aber nicht zu können, sobald man(n) die Toilette erreicht hat, ist eine extrem unangenehme, frustrierende und ebenso erschreckende Erfahrung, die sich auf den individuellen Alltag negativ auswirken kann. Häufig fühlen sich die betroffenen Männer gezwungen, ihre sozialen Gewohnheiten zu ändern, etwa indem sie nicht mehr an gewohnten und geliebten Aktivitäten teilnehmen oder auf das Reisen verzichten, aus Sorge, nicht rechtzeitig eine Toilette zu finden. Ich habe herzzerreißende Erzählungen darüber gehört, wie schwer es fiel, die Veränderung einer so wichtigen Körperfunktion zu bewältigen. Neben der Veränderung des
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eigenen Körpers sehen sich die Betroffenen gewissermaßen mit einer Art architektonischer Inkompetenz konfrontiert. Entsprechend können einige der negativen Konsequenzen, die infolge einer veränderten Prostata auftreten, durch eine Anpassung und Modernisierung des Angebots an öffentlichen Toiletten aufgewogen werden. Die veränderte Infrastruktur – die Anzahl der Toiletten, wo und wie sie zu finden sind und von wem sie genutzt werden können – würde auch anderen gesellschaftlichen Gruppen zugutekommen (Kindern, Frauen im Allgemeinen sowie Schwangeren und älteren Frauen im Besonderen, Menschen mit körperlichen Einschränkungen, nicht-binären Personen … im Prinzip allen, die kein junger, gesunder und kinderloser CIS-Mann sind). Dieses Kapitel verdeutlicht die Notwendigkeit einer verbesserten Infrastruktur an öffentlichen Toiletten, die sich durch den Widerspruch zwischen der veränderten Prostata und den engen, im derzeitigen Stadtbild verankerten Normen – Normen, die große Teile der Bevölkerung schlichtweg ausschließen, obwohl der öffentliche Raum für sie geschaffen wurde – offenbart.
Öffentliche Toiletten In den von mir geführten Interviews und Gesprächen mit Männern, die unter Prostataproblemen leiden, hat sich insbesondere eines gezeigt: Diese Männer wissen immer, wo sich vor Ort, unterwegs und dort, wo sie hin wollen, die nächste Toilette befindet. Sie haben die Cafés oder Restaurants mit akzeptablen und zugänglichen Toiletten ebenso in ihrem Gedächtnis abgespeichert wie die Tankstellen mit Toiletten auf ihrem Fahrtweg und die Buslinien, die zu lang sind, um sie zu nutzen. Aufgrund der Prostatabeschwerden haben sie ihr Verhältnis zur natürlichen Umwelt also verfeinert. All diese Kenntnisse und das Abspeichern der Standorte öffentlicher Toiletten sind individuelle Strategien, die zugleich einem Großteil der Männer gemein sind. Die öffentlichen Toiletten spiegeln exemplarisch die sozialen Normen wider, die vorgeben, wer sich an verschiedenen Orten im öffent-
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lichen Raum auf halten darf. So gab es beispielsweise schon deutlich früher öffentliche Toiletten für Männer als für Frauen. Diese Tatsache lässt die einstigen Auffassungen über den Platz von Frauen im öffentlichen Raum erkennen. Häufig wollte man mit der Errichtung entsprechender Örtlichkeiten verhindern, dass Männer in den Gassen an die Hauswände urinierten; man strebte gewissermaßen danach, das männliche Urinieren zu zähmen.2 Dem Urinieren in der Öffentlichkeit kann neben dem dringenden Bedürfnis der Blasenentleerung auch der Drang zugrunde liegen, seine Männlichkeit zu beweisen – etwa, wenn es darum geht, seinen Namen in den Schnee zu pinkeln oder im Stehen an eine Hauswand zu urinieren. Dabei handelt es sich um territoriale Handlungen, die einerseits dazu dienen, das Revier zu markieren und auf die eigene Anwesenheit aufmerksam zu machen, während sie andererseits dem Bedürfnis der Blasenentleerung Genüge tun.3 Auch der am Rande der Straße stehende Mann, der während des Pinkelns die Aussicht genießt, sei als Beispiel genannt. Er mag zwar mit dem Rücken zur Straße stehen, aber er hockt nicht im Straßengraben oder hinter einem Baum, wie es eine Frau tun würde. Wieso? Was signalisieren Sichtbarkeit und Körperhaltung in diesem Fall? Die Tatsache, dass es sich um einen in relativer Sicherheit im öffentlichen Raum stehenden Mann handelt, macht das Urinieren zu einer geschlechtsspezifischen Praxis, also einer bei Männern tolerierten Praxis, die Frauen allerdings nicht im gleichen Maße zugestanden wird. Auf diese Weise in der Öffentlichkeit urinieren zu können, bedeutet weit mehr, als nur dem grundlegenden Bedürfnis des Wasserlassens nachzukommen. Es ist eine physische Demonstration des Rechts, sich im öffentlichen Raum sicher, beschützt und heimisch zu fühlen. Unsere Reaktion – ob wir das Urinieren in der Öffentlichkeit als moralisch oder unmoralisch betrachten, tolerieren oder angeekelt sind – ist abhängig von der Person, die wir bei dieser Tat beobachten. Eine Mutter, die ihrem kleinen Sohn hinter einem Baum beim Pinkeln hilft, ist etwas völlig anderes als eine besoffene Person, die spätabends auf offener Straße uriniert. Das Urinieren in der Öffentlichkeit wirft
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verschiedene Fragen auf: Welche Körper dürfen in der Öffentlichkeit gezeigt werden und welche nicht, was signalisiert der individuelle Körper und auf welche Art teilen wir uns den öffentlichen Raum? Fragen zu unseren privaten und individuellen körperlichen Bedürfnissen oder zu dem Verhältnis zwischen einem privaten körperlichen Raum und den Strukturen, die einigen von uns diesem Raum zugestehen, anderen aber nicht, können ebenfalls auf kommen. Darüber hinaus mag die Forschungsstudie zum Urinieren in der Öffentlichkeit jeden Einzelnen von uns zum Nachdenken anregen, inwiefern unsere individuellen körperlichen Bedürfnisse mit der Gemeinschaft zusammenhängen. In Großbritannien und weiten Teilen Westeuropas errichtete man im Laufe des 19. Jahrhunderts öffentliche Toiletten, um die allgemeine Hygiene zu verbessern.4 Zugleich erhielten Fabriken und andere Arbeitsplätze die Auf lage, Toiletten für die Mitarbeiter zu installieren. Mit den in diesem Zusammenhang eingeführten Regeln und Vorschriften wollte man sicherstellen, dass auch an Arbeitsplätzen adäquate sanitäre Einrichtungen zur Verfügung standen. Verfasst wurden diese Regeln allerdings zum überwiegenden Teil von Männern der Oberklasse, geprägt von den zeitgenössischen Vorstellungen zur Rolle der Frau im öffentlichen Raum. Als schließlich im 20. Jahrhundert Frauen auf breiter Front ins Arbeitsleben eintraten, kritisierten Aktivistinnen und Aktivisten der Arbeiterklasse die Tatsache, dass an den Arbeitsplätzen für Frauen weniger Toiletten zur Verfügung standen als für Männer. Frauen, so argumentierten sie, hätten ein stärkeres Bedürfnis nach Abgeschiedenheit als Männer. Daher forderten sie ihre Arbeitgeber auf, separate Toiletten für Frauen einzuführen, mit diskreteren Eingängen und abgeschirmter Kabine; architektonische Details, die männliche Mitarbeiter ihrer Meinung nach nicht benötigten.5 Aus historischer Perspektive bot die Bereitstellung getrennter Toiletten – egal ob diese mit Geschlechtertrennung oder Rassentrennung begründet wurde – die Möglichkeit, soziale Kategorien in einem stark veränderlichen und zunehmend integrierten Arbeitsleben aufrechtzuerhalten. Die segregierten Toiletten reproduzierten auf
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diese Weise sowohl sexistische als auch rassistische Ideale. Im Zusammenhang mit der Bürgerbewegung der Nachkriegszeit wurde die Desegregation von öffentlichen Toiletten (und anderen Bereichen) zu einem symbolischen Akt, der auch in Büchern und Filmen wie Hidden Figures – Unerkannte Heldinnen und Gute Geister Erwähnung fand.6 Die Unterteilung in Herren- und Damentoiletten bestand allerdings fort und reproduzierte eine binäre Geschlechterordnung. Die Toiletten waren nicht nur unterschiedlich ausgestattet, sondern auch unausgewogen zwischen den Geschlechterkategorien verteilt – ein Missverhältnis, das bis zum heutigen Tag fortbesteht. Sowohl die Bewegung für eine allgemeine Verbesserung der Hygiene im Großbritannien des 19. Jahrhunderts als auch die Arbeiterbewegung in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts kämpften implizit für einen »normalen« Körper mit »normalen« Toilettengewohnheiten und Bedürfnissen. Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts war dieser »normale« Körper im Wesentlichen männlich – als Vorbild galten häufig junge, weiße Männer, die sich vom Militär hatten rekrutieren lassen, wie sie in Büchern wie The Measure of Man von Henry Dreyfuss beschrieben werden.7 Der auf diesen Standards beruhende Normkörper war geschlechtsspezifisch, altersabhängig und körperlich gesund, und die ihm zugeschriebenen physischen Eigenschaften und Fähigkeiten galten stellvertretend für die gesamte Gesellschaft. Eine solche Körpernorm schloss alle aus, die nicht mit einem »normalen Körper« gesegnet waren, oder erinnerte sie zumindest daran, dass sie nicht der Norm entsprachen. Paradoxerweise betraf dies eine Vielzahl gesellschaftlicher Gruppen: Kinder, Alte, Frauen und Personen mit körperlichen Funktionseinschränkungen. Auch Männer mit Prostatabeschwerden zählten dazu. Seit einiger Zeit engagiert sich die Forscherin und Aktivistin Clara Greed aus Großbritannien für eine Erhöhung der Anzahl an öffentlichen Toiletten für Frauen. Sie kritisiert unter anderem die Tatsache, dass unterschiedliche Urinierungsgewohnheiten in der öffentlichen Debatte als medizinische Angelegenheit betrachtet werden.8 Greed wirft die Frage auf, ob eine »angemessene Bereitstellung von Toi-
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letten« überhaupt mit besonderen Bedürfnissen begründet werden müsse. Ihrer Argumentation zufolge benötigen gesunde, »normale« Frauen mehr öffentliche Toiletten, und Menschen, die mehr Toiletten benötigten, seien deshalb nicht weniger »normal«. Männer mit Prostatabeschwerden können ebenso zu dieser Gruppe gezählt werden. Greed zeigt zudem, wie Teile der Infrastruktur – wie Treppen oder schmale Türöffnungen – dazu beigetragen haben, die Kategorie des »behinderten Körpers« zu schaffen. Auf die gleiche Weise haben Vorstellungen davon, wie oft eine normale Person auf die Toilette muss, als Grundlage für die Anzahl der öffentlichen Toiletten gedient. Greed kritisiert, dass medizinische Maßnahmen wie Medikation, Beckenbodentraining, Psychiatrie oder gar chirurgische Eingriffe zur Stimulation der Beckenbodenmuskulatur als individuelle Lösungen des Problems einer Erhöhung der Anzahl an öffentlichen Toiletten vorgezogen werden. Ebenso wie die allgemeine Verbesserung der Hygiene das politisch schlagkräftige Argument während der Errichtung einer Infrastruktur an öffentlichen Toiletten im 19. Jahrhundert war, beruht der heutige Mangel an öffentlichen Toiletten Greed zufolge auf irrigen Argumenten aus Sicht der öffentlichen Gesundheit. Das Problem bestehe nicht darin, dass die Körper der Individuen anormal seien und an die herrschenden Strukturen angepasst werden müssten. Vielmehr gelte es, die Strukturen an die in der Gesellschaft vorhandenen Körper anzupassen. Und zwar an alle, nicht nur an einen fiktiven »normalen« Körper. Eine Vielzahl der Initiativen zugunsten eines ausgeglichenen Angebots an öffentlichen Toiletten entsprang den Bedürfnissen von Frauen (einschließlich solcher mit Kleinkindern). Am erfolgreichsten waren allerdings – zumindest im angelsächsischen Raum – jene Kampagnen, die von und für Menschen mit körperlichen Funktionseinschränkungen betrieben wurden. Für diese Personen wurden bereits Ende der 1960er Jahre neue Zugangsstandards entwickelt. Eine der einf lussreichsten Stimmen im Bereich des barrierefreien Designs in Großbritannien war der Architekt Selwyn Goldsmith. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bemühte sich Goldsmith über
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Jahrzehnte hinweg intensiv darum, den gesellschaftlichen Fokus auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen zu richten – aber auch auf die aller anderen zuvor vernachlässigten Gruppen wie Kinder und Eltern mit Kleinkindern. Diese weiter gefasste Definition der Zielgruppe des öffentlichen Raums ist Teil eines Trends hin zu einem universellen Konzept mit dem Ziel, ein öffentliches Umfeld zu schaffen, das fair, f lexibel, einfach, tolerant und komfortabel sowie für jeden geeignet ist. Dadurch ist die Gestaltung des öffentlichen Raums inklusiver geworden; ein Prinzip, das sich in Schweden beispielsweise in den Vorschriften des Boverket (Zentralamt für Wohnungswesen, Bauwesen und Raumordnung) zur Barrierefreiheit und in der nationalen Gesetzgebung widerspiegelt.9 Allmählich zeichnet sich auch eine öffentliche Debatte darüber ab, wie viele Toiletten der Allgemeinheit tatsächlich zur Verfügung stehen. In jüngster Zeit wurden in den Medien »sozial innovative« Wege zur Bewältigung des Mangels an öffentlichen Toiletten aufgezeigt. In einigen Ländern, unter anderem in Deutschland, haben Gemeinden vereinzelt begonnen, Restaurants, Cafés und Geschäfte für die Bereitstellung und Verwaltung kostenloser öffentlicher Toiletten zu bezahlen.10 Dadurch verwischt die Grenze zwischen kommunalen sanitären Anlagen und Kundentoiletten. Darüber hinaus erstellen immer mehr Städte digitale Karten und Apps, mit deren Hilfe Touristen und Anwohner bei Bedarf die nächstgelegene öffentliche Toilette finden können. Derartige Initiativen können bewirken, dass es Menschen, die darauf angewiesen sind, schnell eine Toilette aufsuchen zu können (wie Männer mit Prostatabeschwerden), leichter fällt, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten.
Der alternde Körper mit einer veränderten Prostata Ein sonniger Tag auf Teneriffa: Vor dem Restaurant, ganz oben am Berg, hielt ein Touristenbus. Die Türen öffneten sich, und der Bus spuckte einen Strom von älteren, größtenteils übergewichtigen Tou-
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risten im Rentenalter aus. Die meisten Frauen begaben sich direkt ins Café, um einen Kaffee zu bestellen. Die Männer betraten die Herrentoiletten, um sich zu erleichtern. Statt vor der Damentoilette wuchs nun die Schlange vor dem Männerklo. Ich war mit meiner Familie ebenfalls dort, um eine Pinkelpause einzulegen. Zurück am Auto, schilderte mein Mann mir die Szenerie im Inneren der Herrentoilette: eine lange Reihe von Männern an den Pissoirs, die unter ihren gewölbten Bäuchen herumfummelten, zu zielen versuchten und … warteten und warteten, dass der Strahl endlich kam. Er beschrieb das Ganze als »tragisch«. Zugleich spürte ich aber auch eine unterschwellige Angst in seiner Erzählung: die Angst, selbst irgendwann einmal wie ein alter Mann pinkeln zu müssen. Dieses Gespräch, hoch oben unter dem blauen Himmel an einem beliebten Seniorenreiseziel, gab gewissermaßen den Anstoß zu meinen Ref lektionen über öffentliche Toiletten und den alternden männlichen Körper. Ich, in meinem Frauenkörper, war es seit jeher gewohnt, geduldig in der Schlange stehen zu müssen. Vor der Damentoilette im Theaterfoyer, darauf hoffend, noch vor Ende der Pause die Toilette betreten zu können, während meine männliche Begleitung entweder überhaupt nicht musste oder aber längst wieder draußen war, ehe der Gong das Publikum mit dreimaligem Läuten in den Saal zurückrief. Oder beim Baseball in den USA, wo ich mit meiner Mutter als Kind immer ewig Schlange stehen musste, wenn sie mich und meine Geschwister während der Pause im siebenten Inning zur Toilette begleitete. Mein Vater und meine Onkel standen derweil immer noch auf der Tribüne, aßen Hot Dogs und redeten über das Spiel. Das Aufsuchen öffentlicher Toiletten war für mich stets mit langen Schlangen verbunden – und dem Gefühl, alles Lustige zu verpassen. Aber auf einmal, eines sonnigen Tages hoch oben auf einem Berg auf Teneriffa, waren die Rollen vertauscht. Das Café war gefüllt mit Frauen, die bei einem Kaffee die Aussicht genossen, und die Warteschlange befand sich diesmal vor der Herrentoilette. Diese Schlange bestand nicht nur aus mehr
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Körpern, sondern diese Körper benötigten auch erheblich länger für den Toilettengang. Diese Erinnerung f loss in meine Forschung ein, und die Probleme im Zusammenhang mit öffentlichen Toiletten schienen nun plötzlich überall aufzutauchen. In den Interviews, die ich im Rahmen meiner Studie führte, wurde deutlich, dass viele der Männer sich nunmehr in Körpern wiederfanden, die nicht mehr den Standards entsprachen, an denen man sich beim Bau der öffentlichen Toiletten orientiert hatte. Für all diese Körper – meinen erwachsenen Frauenkörper, meinen kindlichen Körper, der mit Mama vor den wenigen Damentoiletten in der Schlange stand, und die älteren männlichen Körper, die mehr Toiletten benötigten als ihre jüngeren Pendants – stellt die Anzahl an Toiletten ein Problem dar, wie die Debatte über öffentliche Toiletten zeigt. Die Veränderung der Bevölkerungsstruktur, die in den nordeuropäischen Ländern bereits begonnen hat oder in Kürze beginnen wird, macht den Unterschied zwischen den geplanten und den tatsächlichen Toilettenbenutzern noch offensichtlicher: Der Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung nimmt stetig zu. Männer, die sich zuvor über die Verteilung der öffentlichen Toiletten keine Gedanken machen mussten, eilen nun zu den Herrentoiletten, wo sie in der Schlange stehen und verzweifelt darauf warten, einen der begehrten Plätze vor den Pissoirs einnehmen zu können, um dort unter noch größerer Verzweif lung ihre Blase zu entleeren. Unternehmen, die ein medizinisches und kommerzielles Interesse an Prostatabeschwerden hegen, haben diese Veränderung bereits wahrgenommen und machen sich den Mangel an öffentlichen Toiletten in ihren Kampagnen zunutze. In der Werbung für Arzneimittel wird häufig eine Bildsprache verwendet, die einen wiederkehrenden und starken Harndrang vermittelt. Eine der mir bekannten Reklamen thematisiert die Problematik mit einem gewissen Augenzwinkern: Sie zeigt zwei Männer, die mit dem Auto unterwegs sind und einander zuwinken, als sie sich auf einer Landstraße begegnen. Beide Autos ziehen einen Anhänger mit einer mobilen Toilette hinter sich her. Dank eines
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bestimmten Medikaments, so die Werbebotschaft, seien Männer nicht mehr gezwungen, ihre eigene Toilette überallhin mitzunehmen. Wenn wir über bestimmte kulturelle Praktiken wie das Mitnehmen einer mobilen Toilette bei längeren Autofahrten hinausschauen, sind Prostatabeschwerden und die damit verbundenen Auswirkungen auf das soziale Leben und die Mobilität etwas, was sich über mehrere Länder und Gesellschaften erstreckt. Viele der Männer, die ich in Schweden interviewt habe, berichteten über ihr Verhältnis zum öffentlichen Nahverkehr und gestanden, dass sie infolge ihrer Prostataprobleme ein spezielles Bewusstsein dafür entwickelt hätten, welche Buslinien sie nutzen können und welche aufgrund der Streckenlänge zu meiden seien, da die Gefahr bestand, im Zweifelsfall nicht rechtzeitig eine Toilette zu finden oder zu erreichen. Eine bessere Verteilung und Zugänglichkeit von öffentlichen Toiletten kann maßgeblich dazu beitragen, das Leiden und die potenzielle Isolation von Männern mit Prostataproblemen zu mindern. Damit allein ist es allerdings nicht getan. Wichtig wäre auch, dass wir als Kollektiv uns darum bemühen, die Infrastruktur deutlicher sichtbar zu machen. Sowohl in den USA als auch in Schweden gaben meine Interviewpartner an, dass sie in den ihnen vertrauten Bereichen des öffentlichen Raums stets wüssten, wo sie die nächste öffentliche Toilette finden könnten. Dieses Wissen haben sie sich nach und nach angeeignet und entsprechend im Hinterkopf abgespeichert und zuweilen auch mit anderen Betroffenen geteilt. Für Männer, die infolge einer chirurgischen Entfernung der Prostata an Inkontinenz leiden, kann es eine besondere Herausforderung sein, rechtzeitig und ohne größere Schwierigkeiten die nächste Toilette zu finden. Gemeinsam sollten wir nach Möglichkeiten suchen, die vorhandene Infrastruktur für weitere männliche Zielgruppen, Touristen und andere Besucher eingeschlossen, deutlicher sichtbar zu machen. Einige Beispiele für denkbare Strategien sind die für Stockholm und London entwickelten Handy-Apps oder die deutlichen Schilder, die in einigen Cafés in Deutschland darauf aufmerksam machen, dass nicht nur Kunden, sondern alle Personen die Toiletten nutzen dürfen.11
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Wenn der Körper sich verändert (infolge eines Unfalls, einer Erkrankung oder des Alterns), nehmen wir die Welt anders wahr. Unsere Körper sind nicht alle gleich, und sie funktionieren auch nicht das gesamte Leben auf dieselbe Weise. Veränderungen in Bezug auf das Urinieren sind beispielsweise nicht ungewöhnlich. Selbstverständlich könnten wir die Bewältigung dieser Veränderungen – ob wir uns für eine medikamentöse Behandlung, einen chirurgischen Eingriff oder die Verwendung von Inkontinenzeinlagen entscheiden – als individuelle Verantwortung betrachten. Wir können diese Veränderungen aber auch im Zusammenhang mit dem jeweiligen Kontext, in dem sie auftreten und in dem das Individuum handelt, sehen: dem öffentlichen Raum. Die Verteilung öffentlicher Toiletten ist ein Beispiel dafür, welchen Einf luss die Infrastruktur darauf hat, ob sich ein Körper im öffentlichen Raum integriert oder ausgeschlossen fühlt. Da Autofahrten, Busreisen, Spaziergänge oder die Teilnahme an Sportveranstaltungen sowie Kino- und Theaterbesuche ständig von einem immer wiederkehrenden und starken Harndrang geprägt sind (und der Notwendigkeit, sich beeilen zu müssen, um die Toilette rechtzeitig zu erreichen, dann in der Schlange zu stehen und schließlich mühsam den Harn herauszupressen), könnte das Problem gelöst werden, indem wir gemeinsam für eine angemessene Anzahl an öffentlich zugänglichen und gut sichtbaren Toiletten sorgen. Die Bedürfnisse im Zusammenhang mit dem Urinieren sind nicht nur am eigenen Körper spürbar, sie machen auch die architektonische Umgebung und die ihr zugrunde liegenden Normen sowie ihren Einf luss auf das Verhalten des Benutzers sichtbar. Anstatt die Betroffenen mit ihren Urinierungsproblemen alleinzulassen, können wir diese als kollektive Verantwortung betrachten: Gemeinsam können wir eine Infrastruktur auf bauen und unterhalten, die für jeden sichtbar ist und alle mit einschließt, so wie einst die Errichtung öffentlicher Damentoiletten dazu beigetragen hat, Frauen in den öffentlichen Raum zu integrieren. Den überwiegenden Teil unseres Lebens ist das Wasserlassen eine private Angelegenheit, der wir im Allgemeinen in Abgeschiedenheit
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nachkommen (für Eltern von Kleinkindern und weibliche Teenager, die das Aufsuchen der Toilette mitunter als eine kollektive Aktivität zu betrachten scheinen, mag dies nicht immer zutreffen). Es mag daher schwierig erscheinen, das Wasserlassen und die Orte, an denen dies geschieht, als eine kollektive Verantwortung zu betrachten. Ob wir uns gern im öffentlichen Raum auf halten, hängt in erheblichem Maße von dessen Architektur ab. Anstatt Veränderungen im Urinierungsmuster als ein pathologisches und individuell zu behandelndes Problem des männlichen Körpers zu betrachten, schlagen Designer, Ingenieure und Architekten vor, die Möglichkeiten zum Urinieren im öffentlichen Raum zu verbessern. Wir können die von Prostataproblemen betroffenen Männer weiterhin medizinisch und medikamentös behandeln, um ihre Körper an die Anzahl öffentlicher Toiletten anzupassen. Wir können aber auch eine Infrastruktur schaffen, die nicht voraussetzt, dass sämtliche Benutzer öffentlicher Toiletten einer völlig unrealistischen, von jungen und gesunden Männern ausgehenden Kategorie entsprechen. Diese Einsicht ist weder neu noch sonderlich revolutionär, insbesondere für jene Berufsgruppen, die sich mit Prostataproblemen auseinandersetzen. Ein Urologe erklärte mir in einem Interview: Ich versuche meinen Patienten stets klarzumachen, dass es unrealistisch ist, im Alter von siebzig Jahren noch wie ein Siebzehnjähriger seinen Namen in den Schnee pinkeln zu können. Genauso unrealistisch ist es meiner Meinung nach, davon auszugehen, dass eine Infrastruktur für öffentliche Toiletten, die an die Bedürfnisse siebzehnjähriger männlicher Körper angepasst ist, den Anforderungen aller Menschen entspricht. Ich hoffe, dass wir stattdessen ein öffentliches Umfeld erschaffen können, dass auf die Bedürfnisse von sich verändernden Körpern eingeht, also auf die unserer aller Körper, unabhängig davon, ob wir jung oder alt, männlich oder weiblich, nicht-binär, mobil, nicht-mobil, krank oder gesund sind.
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Literaturempfehlungen Cavanagh, Sheila L. (2010): Queering Bathrooms. Gender, Sexuality and the Hygienic Imagination. Toronto: University of Toronto Press. Gershenson, Olga & Penner, Barbara (2009): Ladies and Gents. Public Toilets and Gender. Philadelphia: Temple University Press. Goldsmith, Selwyn (1997): Designing for the Disabled. The New Paradigm. London & New York: Routledge. Greed, Clara (2004): Inclusive Urban Design. Public Toilets. Oxford: Architectural Press. Penner, Barbara (2014): Bathroom. London: Reaktion Books, Objekt Series.
Anmerkungen 1 Diese Schilderung basiert auf den Erzählungen verschiedener Männer in den USA und in Schweden, die ich zu ihren Prostatabeschwerden interviewt habe. Die Interviews, auf die in diesem Kapitel Bezug genommen wird, stammen allesamt aus der besagten Studie. 2 Brown-May, Andrew & Fraser, Peg (2009): »Gender, Respectability, and Public Convenience in Melbourne, Australia, 1859-1902«, in: Gershenson, Olga & Penner, Barbara (Hg.): Ladies and Gents. Public Toilets and Gender. Philadelphia: Temple University Press, S. 75-89. 3 Johnson, Ericka (Veröffentlichung für 2019 geplant): Refracting through technologies. Seeing and untangling bodies, medical technologies and discourses. London: Routledge. 4 Greed, Clara (2004): Inclusive Urban Design: Public Toilets. Oxford: Architectural Press. 5 Cooper, Patricia & Oldenziel, Ruth (1999): »Cherished classifications: bathrooms and the construction of gender/race on the Pennsylvania Railroad during World War II«, in: Feminist Studies, 25(1), S. 7-41. 6 Lee Shetterly, Margot (2017): Dolda tillgångar. Stockholm: Harper Collins Nordic; Stockett, Kathryn (2010): Niceville. Stockholm: Forum. Sowohl Dolda tillgångar als auch Niceville wurden verfilmt: Niceville unter gleichnamigem Titel (englischer Titel: The Help, deutscher Titel: Gute Geister), und Dolda tillgångar unter dem englischen Titel Hidden Figures und dem deutschen Titel Hidden Figures – Unerkannte Heldinnen. 7 Dreyfuss, Henry (1967): The measure of man: human factors in design. Zweite erweiterte und überarbeitete Auflage. New York: Whitney.
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8 Greed, Clara (2009): »The Role of the Public Toilet in Civic Life«, in: Gershenson, Olga & Penner, Barbara (Hg.): Ladies and Gents. Public Toilets and Gender. Philadelphia: Temple University Press. 9 Für Informationen zu den Standards für barrierefreie Toiletten siehe die Internetpräsenz des Boverket: https://www.boverket.se/sv/sok/?query=toaletter, sowie Svensk Författningssamling (SFS): Förordning (2011:339) om handikappanpassning av vissa byggnader (Vorschrift zur behindertengerechten Anpassung bestimmter Gebäude). 10 Siehe www.die-nette-toilette.de. 11 Für London: https://www.cityoflondon.gov.uk/services/transport-and-streets/cle an-streets/Pages/Public-Toilets.aspx. Für Schweden: https://play.google.com/store /apps/details?id=se.paradigm.toalettst-h&hl=sv.
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Kapitel 3 Die Prostata – Fluch oder Segen? Carina Danemalm Jägervall
Die mit der Prostata verknüpften Kenntnisse und Assoziationen können je nachdem, wer zu dem Thema befragt wird, erheblich voneinander abweichen. Befragt man das medizinische Personal einer urologischen Abteilung nach seinen Gedanken zur Prostata, so erwartet einen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine fachliche Abhandlung über die Funktion der Prostata und die möglichen Beschwerden im Zusammenhang mit ihr. Ein älterer Mann, der unter Problemen mit dem Wasserlassen leidet, wird die Prostata vermutlich ebenfalls als eine lästige Drüse empfinden. Ein junger Mann hingegen, der die anale Stimulation als gängige Praxis in sein Sexualleben integriert hat, wird ein völlig anderes Bild von der Prostata zeichnen, in dem Genuss und Sexualität dominieren. Aus welchem Grund variieren die Assoziationen und Vorstellungen im Zusammenhang mit der Prostata so stark, und wie wird die »Prostataregion« in verschiedenen Kontexten beschrieben? Dies sind Fragen, die mich schon längere Zeit beschäftigt haben.1 Häufig wird die Prostata – so wie auch in den meisten Beiträgen dieses Buches – mit negativen Assoziationen verbunden. Sie kann allerdings durchaus auch als Bereicherung betrachtet werden. Dieses Kapitel wird sich einigen der positiveren Aspekte dieser Drüse widmen. Zuvor möchte ich allerdings kurz darauf eingehen, wo im männlichen Körper die Prostata sich überhaupt befindet, und einige der häufigsten Probleme vorstellen, die im Zusammenhang mit der Prostata auftreten können. Auf die bereichernde Perspektive der Prostata kommen wir später zurück.
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Durch den Analkanal zur Prostata Die Prostata befindet sich im Unterleib des Mannes.2 Sie liegt unmittelbar unter der Harnblase und umschließt die Harnröhre. Die Prostata ist von zahlreichen Blutgefäßen und Nerven umgeben. Diese Nerven und Blutgefäße tragen zur Erektion des Mannes bei, indem sie den Blutf luss zu den Schwellkörpern des Penis erhöhen. Die Samenblasen liegen mit der unteren Seite an der Drüse an, und die Samenleiter münden direkt in die Prostata. Eigentlich besteht die Prostata aus mehreren Drüsen, deren Aufgabe in der Produktion eines Sekrets besteht, das bei einer Ejakulation mit den Spermien vermischt wird. Die Hauptaufgabe der Prostata ist also die Sekretproduktion, aber hat sie möglicherweise auch noch eine andere Funktion? Darauf gehe ich später noch ein. Die Prostata lässt sich am besten über die Enddarmöffnung erreichen. Sie kann etwa drei bis fünf Zentimeter von der Enddarmöffnung nach innen, dort, wo der Analkanal in den Enddarm übergeht, ertastet werden. Ein Urologe, der Männer mit Prostatabeschwerden behandelt, tastet pro Jahr mehrere hundert Prostatadrüsen mit seinem Zeigefinger ab. Die gesunde Prostata hat die Konsistenz einer unreifen Pf laume und ist etwa so groß wie eine Walnuss. Bei einer Krebserkrankung ist die Prostata häufig verhärtet und weist eine ungleichmäßige Form auf.3 Im Alter kommt es nicht selten zu einer natürlichen Vergrößerung der Prostata, ohne dass eine Krebserkrankung vorliegt; die Größe der Prostata kann dann zwischen drei und sechs Zentimeter betragen. Viele Männer berichten, dass sie beim Abtasten der Prostata einen plötzlichen Harndrang verspüren. Die meisten Männer – aber längst nicht alle – erleben das Abtasten der Prostata zum ersten Mal bei der ärztlichen Prostatauntersuchung. Daher möchte ich dieses Kapitel mit einer Einführung in die mit der Prostata zusammenhängenden medizinischen Probleme und deren Folgen für das Sexualleben beginnen. Anschließend werde ich mich mit den Assoziationen zur Prostata als lustbringende Drüse auseinandersetzen.
Die Prostata – Fluch oder Segen?
Auswirkungen von Prostataproblemen auf das Sexualleben Kann der Sex bei Prostatabeschwerden schmerzhaft sein? Kann die Prostata die Fähigkeit zur Ejakulation und zum Orgasmus beeinträchtigen? Die Antwort auf beide Fragen lautet: ja. Zahlreiche Prostatabeschwerden wirken sich negativ auf das Sexualleben aus. Häufig liegt dies allerdings weniger an der Erkrankung selbst als vielmehr an der jeweiligen Behandlung. Neben einer Beeinträchtigung der Sexualfunktion kann sich die Behandlung von Prostataproblemen auch negativ auf das sexuelle Verlangen auswirken, und zwar sowohl direkt als auch indirekt. Stress und Sorgen im Zusammenhang mit der Erkrankung können die Lust auf Sex ebenso beeinträchtigen wie eine medikamentöse oder anderweitige ärztliche Behandlung.
Gutartige Prostatavergrößerung Prostatabeschwerden können auf verschiedenen Ursachen beruhen. Im Alter kommt es zu einer natürlichen Vergrößerung der Prostata. Die vergrößerte Prostata kann Druck auf die Harnröhre ausüben und damit den Harnstrahl schwächen, der Urin f ließt schlechter ab.4 Dies wird als gutartige Prostatavergrößerung (benigne Prostatahyperplasie) bezeichnet und kann auf unterschiedliche Art behandelt werden. Einige der Arzneimittel, die zur Behandlung der gutartigen Prostatavergrößerung verwendet werden, können allerdings Nebenwirkungen wie Impotenz, vermindertes sexuelles Verlangen und Veränderungen bei der Ejakulation hervorrufen.5 In erster Linie versucht man die vergrößerte Prostata mittels medikamentöser Therapie zu behandeln. Schlägt diese nicht an, kann eine Operation in Erwägung gezogen werden. Die chirurgische Behandlung, bei der Teile der vergrößerten Prostata entfernt werden, führt häufig zu Veränderungen im Zusammenhang mit der Ejakulation des Mannes. Während des Orgasmus passiert das Ejakulat nicht mehr wie sonst die Harnröhre, sondern wird direkt in die Harnblase geleitet.6 Es wird dann beim Wasserlassen zusammen mit dem Urin
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ausgeschieden. Die chirurgische Behandlung bei gutartiger Prostatavergrößerung führt selten zur Impotenz. Anders verhält es sich bei operativen Eingriffen aufgrund eines Prostatakarzinoms.
Prostatitis Bei jüngeren Männern (unter 50 Jahren) zählt die Prostatitis zu den häufigsten Prostatabeschwerden. Als Prostatitis wird eine Entzündung der Prostata bezeichnet. Eine Prostataentzündung kann sowohl akut auftreten als auch chronisch sein, letzteres ist deutlich häufiger der Fall. Mitunter ist auch von chronischen Beckenbodenschmerzen die Rede, da zuweilen nicht die Prostata, sondern die Beckenbodenmuskulatur von der Entzündung beeinträchtigt ist und schmerzt.7 Die betroffenen Männer leiden häufig unter Rücken- und Leistenschmerzen. Die Schmerzen können bis in die Hoden und den Penis ausstrahlen, auch das Urinieren kann schmerzhaft sein. Schmerzen bei oder nach der Ejakulation sind ebenfalls nicht ungewöhnlich. Dies kann wiederum dazu führen, dass das sexuelle Verlangen nachlässt und die sexuelle Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird. Es heißt, häufige Ejakulationen würden die Beschwerden lindern, dies konnte allerdings bislang wissenschaftlich nicht bewiesen werden. Die chronische Prostatitis heilt häufig von allein aus, die Schmerzen können medikamentös behandelt werden.
Prostatakrebs Das Prostatakarzinom zählt zu den häufigsten Krebsarten in Schweden. Jährlich erhalten rund 10.000 Männer die Diagnose Prostatakrebs, das Krankheitsrisiko nimmt mit dem Alter zu. Dass sämtliche Therapievarianten bei Prostatakrebs sich auf die eine oder andere Art und Weise auf das Sexualleben auswirken, ist allgemein bekannt. Krebserkrankungen werden häufig chirurgisch oder mittels Strahlentherapie behandelt. Beide Behandlungsvarianten können zu leichten bis schweren Potenzstörungen führen. In einigen Fällen besteht die
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Impotenz nur über einen begrenzten Zeitraum, in anderen Fällen halten die Beschwerden lebenslang an. Die Hormontherapie soll die Stimulation des Tumorwachstums durch das Sexualhormon Testosteron unterbinden. Überdies kann die Ejakulation vorübergehend als schmerzhaft empfunden werden. Nach einer operativen Entfernung der gesamten Prostata (Prostatektomie) bleibt die Ejakulation gänzlich aus, da der Großteil des Sekrets normalerweise von der Prostata gebildet wird. Im Rahmen der Operation werden auch die Samenblasen entfernt, weshalb infolge bei einem Orgasmus weder Sekret noch Spermien abgesondert werden. Die Prostata und die sie umgebenden Organe
Quelle: Cancer Research, UK (Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0); hier übersetzt für die deutsche Ausgabe
Die Orgasmusfähigkeit an sich wird durch den Eingriff allerdings nicht beeinträchtigt. Einige Männer empfinden den Orgasmus nach einer Prostatektomie wie zuvor, während andere ihn als schwächer wahrnehmen.9 Auch der Orgasmus kann vorübergehend als schmerzhaft empfunden werden.
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Das Prostatakarzinom kann auch hormonell behandelt werden. Die Hormontherapie soll bewirken, dass das Tumorwachstum nicht länger durch das Sexualhormon Testosteron stimuliert wird. Zu diesem Zweck wird entweder die Testosteronproduktion verringert oder die Wirkung des Hormons gehemmt. Ein geringerer Testosteronspiegel hat häufig Impotenz und ein vermindertes sexuelles Verlangen zur Folge.
Die Prostata und die Gesundheit Abmelken der Prostata – hilfreich oder nicht? Im Internet findet man zahlreiche Webseiten, die sich thematisch der Gesundheit des Mannes verschrieben haben. Der oftmals pseudomedizinische Charakter dieser Seiten verleitet den Leser zu der Annahme, die vermittelten Ratschläge würden auf medizinischen und wissenschaftlich belegten Fakten beruhen. Auf Seiten, die sich an Männer mit Prostatitis richten, findet man beispielsweise ausführliche Anleitungen dazu, wie man die Prostata massieren, »abmelken« sollte, um die Beschwerden zu lindern – aber auch einfach so, selbst wenn keine Probleme vorliegen, um dafür zu sorgen, dass es der Prostata »gut gehe«. Nicht selten heißt es, die Prostatamassage wirke sich positiv auf die sexuelle Gesundheit aus. Dabei soll die Prostata über den Enddarm mit dem Zeigefinger mit einem gewissen Druck und leichten Bewegungen massiert werden. Die fraglichen Seiten sprechen in diesem Zusammenhang häufig von der »medizinischen Prostatamassage«, ergänzen aber, dass diese Massage auch zum Lustgewinn durchgeführt werden kann.
Die Prostatamassage in der medizinischen Pflege Wie aber sieht es in der Gesundheits- und Krankenpf lege aus? Ist die Prostatamassage tatsächlich eine gängige medizinische Praxis? Ja, das ist sie – die Massage zählte zu einer von vielen Therapievarianten bei bestimmten Formen der Prostatitis. Sie wurde in Schweden zu Beginn
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des 20. Jahrhunderts als Behandlungsmethode eingeführt und bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts angewendet. Man glaubte schlichtweg, es läge eine Sekretansammlung in der Prostata vor und die Symptome würden nachlassen, sobald diese von dem »eingeschlossenen Sekret« befreit worden sei. Ältere Urologen bestätigen, dass die Prostatamassage einst zu den gängigen Behandlungsmethoden zählte. Der Patient sei ein- bis zweimal im Monat zu ihnen gekommen und hätte im Anschluss an die Massage ein Nachlassen der »Spannungen im Unterleib« verspürt. Die Methode war allerdings nicht wissenschaftlich verankert und wird heute infrage gestellt und kontrovers diskutiert.
Die Prostata als lustbringende Drüse Die meisten Beschreibungen zur Prostatastimulation als sexuelle Praxis sind in der populärwissenschaftlichen Literatur sowie im Internet zu finden. Die Forschung geht nur begrenzt darauf ein. Bei der Lektüre zur Prostatastimulation im Internet und in Artikeln drängt sich oftmals der Eindruck auf, dass verschiedene Begriffe miteinander vermischt werden. Häufig wird als Thema die Prostatastimulation angegeben, während der Text im eigentlichen Sinne von analer Stimulation handelt. Die Autoren gehen nicht darauf ein, was genau die Lust auslöst, wodurch dem Leser möglicherweise ein irreführendes Bild vermittelt wird. In den populärwissenschaftlichen Artikeln heißt es, die Prostatamassage diene dem Lustgewinn. Das Angebot an Sex-Hilfsmitteln, die den Werbebotschaften zufolge ein derartiges Vergnügen garantieren, ist entsprechend umfangreich. Die Frage, der ich in diesem Zusammenhang nachgehen wollte, lautete: Was genau in der Prostata könnte zum Auslösen des Lustgefühls beitragen? Um dies aus medizinischer Sicht verstehen zu können, stellte ich diese Frage verschiedenen Fachärzten im Bereich der Urologie und Darmchirurgie. Sie meinten, dass es vermutlich eher andere Regionen »auf dem Weg« hin zur Prostata seien, die bei Berührung Lustgefühle auslösten. Die Prostata lässt sich am leichtesten über den Enddarm er-
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tasten, und auf dem Weg dorthin befinden sich also andere, deutlich sensiblere Bereiche.
Der Anus – genauso sensibel wie eine Fingerkuppe Im Bereich der Enddarmöffnung befinden sich zahlreiche sensible Nerven. Dank dieser Nerven können wir unter anderem eindeutig unterscheiden, ob wir die Toilette aufsuchen müssen oder ob es nur Gase sind, die sich den Weg durch den Enddarm nach draußen bahnen. Diese Nerven sind auch der Grund, weshalb die Enddarmöffnung so schmerzempfindlich ist. Ein winziger Riss in dieser Region kann unglaublich schmerzhaft sein. Der Enddarm selbst hingegen, der etwa 15 Zentimeter misst, enthält vergleichsweise wenige sensible Nerven. So kann ein Darmchirurg beispielsweise eine Gewebeprobe der Darmschleimhaut entnehmen, ohne dass der Patient etwas spürt. Die sensiblen Nerven im Bereich der Enddarmöffnung können allerdings nicht nur Schmerzen, sondern auch ein Gefühl des Wohlbehagens hervorrufen. Aus diesem Grund wird die Darmentleerung mitunter als angenehm empfunden. Auch andere Bereiche in dieser Region verfügen über entsprechende sensible Nerven. Direkt unterhalb des Schließmuskels befindet sich der Übergang zwischen Schleimhaut und Haut. Dieser misst einige Zentimeter und weist zahlreiche sensible Nerven auf, über die wir sowohl Lust als auch Schmerzen empfinden können.
Die Prostata – eine erogene Zone? Sollten wir uns also von der Vorstellung der Prostata als Lustquelle gänzlich verabschieden und stattdessen davon ausgehen, dass das Lustempfinden durch die anale Stimulation hervorgerufen wird? Ich gehe dem weiter nach und frage einen Neurologen, ob die Prostata als erogene Zone verstanden werden kann. Zuerst gilt es allerdings zu definieren, was eine erogene Zone überhaupt ist: Es handelt sich um eine Körperregion, die besonders empfindlich auf Stimulation reagiert, und zwar auf eine angenehme und erotische Weise. Es gibt zahlreiche
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Körperregionen, die als erogene Zonen empfunden werden können, so etwa die Geschlechtsorgane, die Brüste, der Mund, der Nacken, die Füße, die Oberschenkel und der Steiß. Die Liste ließe sich noch weiter fortsetzen. Aber was genau unterscheidet denn nun die erogenen Zonen von anderen Körperregionen? Sie sind deutlich stärker innerviert, verfügen also über weitaus mehr sensible Nerven als andere Bereiche des Körpers. Deshalb kann eine Berührung dieser Regionen ein starkes Lustgefühl auslösen. Wie diese Berührung empfunden wird, ist individuell verschieden und in hohem Maße vom jeweiligen Kontext abhängig, in dem sie geschieht. Unser Nervensystem ist so entwickelt, dass ein und derselbe Sinneseindruck als schwach oder stark, angenehm oder unangenehm, schmerzhaft oder lustvoll empfunden werden kann. Wie verhält es sich nun mit der Sensibilität der Prostata im Vergleich zu anderen inneren Organen? Die meisten unserer inneren Organe, eigentlich alle außer dem Gehirn, werden über das sogenannte autonome Nervensystem (also die Nerven, die wir nicht willentlich beeinf lussen können) innerviert. Es kann allerdings schwierig sein, dieses Gefühl im Inneren des Körpers zu lokalisieren. Wir wissen, dass Männer im Rahmen einer Biopsie, bei der eine Gewebeprobe der Prostata genommen und auf Krebszellen untersucht wird, Schmerzen in der Prostataregion empfinden können. Die Kenntnisse über die Sensibilität der Prostata im Übrigen scheinen allerdings äußerst begrenzt. Ein Anatomieprofessor meinte mir gegenüber, dass wir eigentlich überhaupt nichts darüber wissen, da die Observation der Prostata während einer Stimulation bislang nicht möglich war, ohne zugleich auch die Dammregion oder den Anus und den Analkanal zu stimulieren. Es fehlt daher an jeglicher Evidenz, um die Theorien zur Sensibilität der Prostata zu bestätigen oder zu widerlegen.
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Punkt-Sex Wenn das System des sensiblen Nervengef lechts nun aber derart komplex ist und das Wissen über die Empfindlichkeit der Prostata doch so begrenzt, kann man sich zu Recht über die Marketingstrategien der Hersteller von Sexspielzeugen wundern, die voller Überzeugung damit werben, wie wichtig es sei, den besonderen »Sexpunkt« des Mannes zu stimulieren. Dieser wird als »innere erogene Zone« beschrieben, die bei richtig ausgeführter Stimulation sowohl besseren Sex als auch einen intensiveren Orgasmus verspricht. Besagte Hersteller behaupten, dieser Punkt sei nur schwer zu finden, aber mit dem »richtigen Hilfsmittel« könne man »unglaubliche Höhepunkte« erleben. Im Zusammenhang mit dem Verkauf der Sexspielzeuge wird der Kunde darüber aufgeklärt, dass der männliche G-Punkt als P-Punkt – P wie Prostata – bezeichnet werde. Überdies wird er darüber informiert, wie diese Spielzeuge zu verwenden seien. Männern, denen die Stimulation über den Anus nicht zusagt, wird empfohlen, die Prostata stattdessen von außen zu stimulieren. Indem die Dammregion – der Bereich zwischen Enddarmöffnung und Hoden, auch Perineum genannt – massiert wird, so heißt es, ließe sich auch die Prostata stimulieren. Aber ist es tatsächlich so einfach, dass ein einziger, anatomisch genau bestimmter »Punkt« erklären kann, wo Lust und Orgasmus entstehen? Sex wird auf diese Weise zu etwas degradiert, das strikt nach Anleitung geschieht, sozusagen eine Art »Punkt-Sex«, angepriesen in Boulevardzeitungen und garniert mit diversen Ratschlägen, wie die Stimulation zu erfolgen habe, um den größtmöglichen Lustgewinn zu erzielen (einige »Punkte« sind geeigneter, während andere ungeeignet sind). Lässt sich beim sexuellen Erleben die anatomische und physiologische Dimension von der psychologischen überhaupt trennen? Beim Individuum sind die verschiedenen Dimensionen aller Wahrscheinlichkeit miteinander verwoben. Die anatomischen und physiologischen Voraussetzungen der Sexualität sind äußerst komplex, wobei verschiedene physiologische und psychologische Faktoren miteinander interagieren und ein Ganzes bilden.
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Spielzeuge für Männer »Prostatavibrator«, »Perineumstimulator« und »Prostatarotator« – dies sind nur einige der zahlreichen Sexspielzeuge, die mit dem Versprechen, über die Massage der Prostata einen »Prostataorgasmus« zu erzielen, im Sex- und Erotikhandel erhältlich sind. Ein Verkäufer wirbt auf seiner Webseite sogar mit einer »Zufriedenheitsgarantie«: Sowohl im Geschäft als auch online ist der Absatz den Unternehmen zufolge gut. Es gibt aber auch Verkäufer, die Sexspielzeuge zur Prostatastimulation bewusst nicht im Sortiment haben. Sie möchten nicht mit Spielzeug zur analen Stimulation in Verbindung gebracht werden, weil sie meinen, es sei schlecht für das Renommee ihres Unternehmens. Während einige Unternehmen ohne Umschweife von analem Vergnügen sprechen, verleihen andere ihren Beschreibungen einen »medizinischen Touch« und suggerieren somit, die Prostatamassage sei medizinisch indiziert. Die Sexspielzeuge werden als medizinische Hilfsmittel angeboten. Nun mag man sich zu Recht fragen, ob es für Käufer tatsächlich eine Rolle spielt, dass die Massage als »Behandlung« betrachtet wird und sie nicht einfach nur ein »Sexspielzeug« kaufen. Ist es weniger anzüglich und tabu, im Zusammenhang mit dieser Art der sexuellen Stimulation von »Prostatamassage« anstelle von »analer Stimulation« zu reden? Es bedarf einer größeren Offenheit gegenüber den unterschiedlichen sexuellen Vorlieben verschiedener Menschen, um solchen Tabus zu begegnen.
Prostage und »Clittage« – Versuch der Enttabuisierung Möglicherweise können Wortneuschöpfungen und eine neue Sprache dazu beitragen, unser Denken und Verhalten zu verändern? Unsere Kultur, so die beiden Sozialwissenschaftlerinnen Lisa und Marcia Douglass, verfüge nur über wenige Begriffe, um Praktiken zur sexuellen Befriedigung jenseits des vaginalen Geschlechtsverkehrs zu bezeichnen. Sie schlugen die Einführung des Begriffs »Clittage« vor, um es Frauen zu erleichtern, jene sexuelle Praxis zu benennen, die sie eher
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zum Orgasmus bringe als der klassische »Geschlechtsverkehr«. »Clittage« steht für klitorale Stimulation.10 In ähnlicher Weise möchte der Forscher Jonathan Branfman den Begriff »Prostage« einführen, um die anale Stimulation (oder das, was als Prostatastimulation bezeichnet wird) zu beschreiben. Für jene Männer, die ungeachtet der sexuellen Orientierung die anale Stimulation erforschen möchten, können neue Wörter hilfreich sein. Das Wort Prostage kann die Diskussion über die anale Stimulation von Männern demnach erleichtern. Branfman glaubt, dass »Prostage« sich in diesem Zusammenhang eher eignet, weil es weder »gay« noch »straight« ist, sondern nur eine Art des sexuellen Lustgewinns beschreibt.11 Der Begriff der Prostage könnte somit helfen, das Tabu rund um die anale Stimulation zu reduzieren. Aber wie verhält es sich nun eigentlich mit der analen Stimulation: Kann auf diese Weise ein sogenannter »Prostataorgasmus« ausgelöst werden?
Prostataorgasmus – Mythos oder Möglichkeit? Der mittels analer Stimulation ausgelöste Orgasmus wird mitunter auch als Prostataorgasmus bezeichnet. Im medizinischen Kontext wird dieser Begriff eher selten verwendet, und gibt man den Suchbegriff »prostate orgasm« in einer Datenbank mit medizinischen Artikeln ein, so lässt sich kein einziger Treffer erzielen.12 Google hingegen wartet mit annähernd 28 Millionen Treffern für »prostate orgasm« auf. Dies ist ein äußerst interessanter Unterschied. Obwohl sich offensichtlich eine Vielzahl von Menschen für dieses Thema interessiert, scheint eine medizinische Perspektive gänzlich zu fehlen. Dass die Medizin so wenig über den Variationsreichtum menschlicher sexueller Praktiken weiß, ist ein Problem. Dies kann dazu führen, dass Männer bei gesundheitlichen Fragen zur Prostata und zum Sexualleben keine angemessene Hilfe erhalten.
Die Prostata – Fluch oder Segen?
Männer erzählen von ihren Erfahrungen Im Kontakt mit Fachärzten für Urologie, Darmchirurgie und Neurologie ging es mir um die sexualmedizinische Perspektive. Meine Fragen gingen von einer medizinischen Denkweise aus. Was aber haben Männer, die selbst über Erfahrungen mit unterschiedlichen Sexualpraktiken verfügen, in denen die Prostata eine Rolle spielt, zu erzählen? Was denken sie über die Prostata und ihr Lustpotenzial? Sie schildern sexuelle Erfahrungen, bei denen die Prostata miteinbezogen wurde, und kommen allesamt zu dem Schluss, dass die Stimulation sehr verschieden aussehen kann. Sie kann auf diverse, ganz unterschiedliche Arten erfolgen und beschrieben werden: Also ich weiß nicht. Mir geht es nicht nur um die Penetration an sich, sondern irgendwie insgesamt um den Körperkontakt, das gehört zusammen. Natürlich wissen wir Männer während der Stimulation alle, dass die Prostata sich dort befindet, aber daran denkt man in dem Moment nicht. Ich empfinde den gesamten Akt der Penetration als erregend, ich kann nicht sagen, dass es für mich einen bestimmten Punkt gibt. Es ist mehr so ein Gefühl, dass ich mit der Person Lust verspüre, mit der ich zusammen bin. Ich habe nie daran gedacht, dass es die Prostata sein könnte oder nicht. Es ist eher ein psychisches als ein physisches Gefühl. Ich habe Männer getroffen, die sich nicht trauten, bei Beschwerden im Bereich des Enddarms oder des Analkanals einen Arzt aufzusuchen, aus Angst, über ihre sexuellen Vorlieben hinsichtlich der analen Stimulation sprechen zu müssen. Sie erklärten mir, dass sie nur ungern einen Arzt aufsuchten, weil es ihnen so peinlich sei, über ihre Probleme zu reden. Viele meinten, dass sie im Allgemeinen nicht wirklich offen über diese sexuelle Praxis reden würden, da sie dabei Scham empfänden.
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Ich hatte einen Arzttermin vereinbart, weil ich Darmbeschwerden hatte, aber als ich dann da war, traute ich mich nicht, mit dem Arzt darüber zu reden. Es wäre einfach so peinlich gewesen. Dies ist ein Bereich, in dem die medizinische Pf lege insgesamt ihre Kenntnisse vertiefen muss (wobei es durchaus Bereiche gibt, in denen bereits fundierte Kenntnisse existieren – in einer Männerklinik, die sich der sexuellen Gesundheit verschrieben hat, ist man vermutlich mit der Thematik deutlich vertrauter als beispielsweise in einer allgemeinmedizinischen Praxis oder einer chirurgischen Klinik). Ein besseres Verständnis und mehr Offenheit gegenüber der breiten Variabilität sexueller Praktiken kann dazu beitragen, deren Stigmatisierung aufzuheben und jegliche Hemmungen bei Betroffenen, im Zweifelsfall medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, abzubauen – und zwar unabhängig davon, welche Krankheit vorliegt und an welche Klinik sie sich wenden. Wie aber verhält es sich mit der analen Stimulation, wenn die Prostata chirurgisch entfernt oder bestrahlt werden muss?
Prostataorgasmus ohne Prostata Als Sexualberaterin einer chirurgischen Klinik treffe ich auf viele Männer, die im Rahmen der Behandlung eines Prostatakarzinoms sexuelle Probleme erleben. Vor Beginn der Krebstherapie wird der Patient darüber aufgeklärt, welche Veränderungen in sexueller Hinsicht auf ihn zukommen können. Allzu häufig liegt das Hauptaugenmerk allerdings auf Problemen mit Impotenz und Penetrationen (implizit bei der vaginalen Penetration), während andere potenzielle Auswirkungen auf die Sexualität des Mannes stillschweigend übergangen werden. Mit welchen Veränderungen im Sexualleben muss ein Mann rechnen, der die anale Stimulation (oder »Prostatastimulation«) praktiziert, wenn die Prostata aufgrund einer Krebserkrankung entfernt werden muss? Ist aktiver oder passiver penetrierender Geschlechtsverkehr auch ohne Prostata möglich? Was geschieht, wenn man sich einer Strahlentherapie unterziehen muss und der Anus oder der Anal-
Die Prostata – Fluch oder Segen?
kanal dadurch gereizt und sehr schmerzempfindlich wird? Dies sind Fragestellungen, die in der Behandlung von Krebspatienten bislang kaum Beachtung finden. Der Forschungsbedarf in diesem Bereich, um auf diese Frage antworten zu können, ist enorm. In einer neuen Forschungsstudie, der ersten in Schweden, habe ich eine Gruppe offen homosexueller Männer interviewt, die aufgrund eines Prostatakarzinoms behandelt worden sind. Ich befragte sie zur analen Stimulation und erfuhr, dass viele beunruhigt waren, inwieweit ihre Fähigkeit zur aktiven und/oder passiven analen Stimulation durch die Krebstherapie beeinträchtigt werden könnte. Überdies stellte sich heraus, dass die anale Stimulation nach der Entfernung der Prostata als ebenso erregend empfunden wurde wie vor der Operation.13
Sexologische Beratung bei Prostatabeschwerden Die sexuelle Gesundheit der Menschen kann durch verschiedene Krankheiten und Behandlungen beeinträchtigt werden, dennoch sind die Möglichkeiten zur sexuellen Beratung und Behandlung derzeit begrenzt und variieren innerhalb des Landes. Die Arbeitsweise von Sexualberatern und Sexologen hängt in hohem Maße von ihrem beruf lichen Hintergrund, ihrer medizinischen und therapeutischen Kompetenz, ab. Wie also gestaltet sich das derzeitige Angebot zur sexologischen Beratung von Männern mit Prostatabeschwerden, die sich auf das Sexualleben auswirken? Welche Hilfsmöglichkeiten gibt es? Dies lässt sich natürlich kaum verallgemeinern, da die Thematik der sexuellen Gesundheit sehr weit gefasst ist und das sexologische Beratungsangebot im Gesundheitsbereich sehr unterschiedlich aussieht. Die sexuellen Veränderungen im Zusammenhang mit der Behandlung von Prostatakrebs sind aktuell ein zentrales Thema. Derzeit wird aktiv an einem System zur Rehabilitation bei Krebserkrankungen gearbeitet, das auch Momente zur sogenannten sexuellen Rehabilitation umfasst. Für sexuelle Probleme aufgrund von Prostatabeschwerden, die nicht mit einer Krebserkrankung in Zusammenhang stehen, existiert
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bislang kein derartiges Rehabilitationssystem. Für das Gesundheitswesen ist es eine gewisse Herausforderung, auch jenen Menschen, die infolge anderer Krankheiten sexuelle Probleme erleben, eine sexologische Beratung anbieten zu können.
Medizinische Perspektiven erklären nicht alles Die zentrale Frage, die diesem Kapitel zugrunde liegt, lautete: Kann die Prostata zugleich Segen und Fluch sein? Um dies beantworten zu können, wurden verschiedene Perspektiven vorgestellt. In Anbetracht der verschiedenen krankhaften Veränderungen, von denen die Prostata betroffen sein kann, liegt es nahe, sie in erster Linie als Bürde zu empfinden. In einigen Fällen ist es die Erkrankung selbst, die Probleme hervorruft, in anderen wiederum ist es die Behandlung. Über die Auseinandersetzung mit der Praxis der »Prostatamassage« wurde allerdings deutlich, dass die Prostata ebenso als Bereicherung betrachtet werden kann, und zwar sowohl im medizinischen als auch im erotischen Kontext. Während die Massage bis vor wenigen Jahren in der Medizin noch eine übliche Behandlungsalternative darstellte, sind es nunmehr andere Akteure, die diese Methode am Leben erhalten. Im Zusammenhang mit dem sogenannten »Prostataorgasmus« wurde deutlich, dass dieser Begriff offensichtlich eher unref lektiert verwendet wird. Die Schilderungen der befragten Männer bezeugen, dass der anatomische Aspekt, also was genau stimuliert wird, als weniger relevant angesehen wird. Die anale Stimulation scheint weiterhin als Tabu empfunden zu werden, weshalb viele Männer sich schämen, offen darüber zu sprechen. Solange sich dies nicht ändert, wird in diesem Zusammenhang wohl auch weiter vom Prostataorgasmus die Rede sein, auch wenn der Begriff missverständlich sein mag. Um mir ein eindeutigeres Bild von der bereichernden Funktion der Prostata machen zu können, habe ich mich eingehender mit der analen Stimulation beschäftigt und konnte feststellen, dass in diesem Zusammenhang noch einige Unklarheiten bestehen. Es bleibt zu hoffen, dass weitere Forschungsbemühungen mehr Licht in die Sache bringen
Die Prostata – Fluch oder Segen?
können. Eines ist jedenfalls sicher: Körper und Sexualität aus einer rein medizinischen Perspektive verstehen zu wollen, ist eindeutig zu kurz gegriffen.
Anmerkungen 1 Dieses Kapitel stützt sich auf Forschungsergebnisse und eigene klinische Erfahrungen sowie auf Interviews mit Fachärzten der Urologie, Darmchirurgie, Anatomie und Neurologie, auf Befragungen via RFSL Kronoberg und auf Interviews mit den Angestellten in Sexshops. 2 Das Wort Prostata wird normalerweise mit dem männlichen Körper assoziiert; einige Forscher vertreten allerdings die Auffassung, dass auch Frauen über eine Prostata verfügen. Diese Annahme basiert auf der Tatsache, dass sich entlang der weiblichen Harnröhre Drüsen und Gänge befinden, die mit der männlichen Prostata verglichen werden können, siehe Zaviacic, Milan & Whipple, Beverly (1993): »Update on the female prostate and the phenomenon of female ejaculation«, in: The Journal of Sex Research, 30, S. 148-151. 3 Damber, Jan-Erik & Peeker, Ralph (2012): Urologi. Lund: Studentlitteratur. 4 Ebd. 5 Der Begriff »Impotenz« wurde früher verwendet, um die Kombination aus physischen und psychischen Veränderungen zu bezeichnen, die Männer im Zusammenhang mit einer Veränderung ihres Erektionsvermögens erleben können. Mit der Einführung des Medikaments Viagra wurde die Diskussion medikalisiert, und heutzutage spricht man eher von einer »erektilen Dysfunktion«. Meiner Meinung nach umfasst der Begriff Impotenz weit mehr Aspekte als die »erektile Dysfunktion«, weshalb ich ersteren bevorzuge. Zur Medikalisierung, siehe z.B. Johnson, Ericka (2008): »Chemistries of Love. Impotence, erectile dysfunction and Viagra in Läkartidningen«, in: Nordic Journal for Masculinity Studies, 3, S. 31-34. 6 Pavone, Carlo (2015): »Sexual dysfunctions after transurethral resection of the prostate (TURP): evidence from a retrospective study on 264 patients«, in: Archivio Italiano Di Urologia, Andrologia, 87, S. 8-13. 7 Hedelin, Hans (2010): »Kronisk abakteriell prostatit/kroniskt bäckensmärtsyndrom«, in: Läkartidningen, 12, S. 837-839. 8 Nationellt vårdprogram Prostatacancer 2017 (Nationales Behandlungsprogramm für Prostatakrebs 2017), siehe www.cancercentrum.se. 9 Danemalm Jägervall, Carina, Gunnarsson, Birgitta & Brüggemann, Jelmer (2016): »Orgasmen förändras negativt men uteblivet ejakulat ingen stor förlust«, in: Läkartidningen, 113, S. 1470-1472.
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10 Der RFSU (schwedischer Reichsverband für sexuelle Aufklärung) hat im Jahr 2015 mit »klittra« einen ähnlichen Begriff eingeführt. Siehe www.rfsu.se/sv/Om-RFSU/ Press/Pressmeddelan- den/2015/Klittra-ar-det-nya-ordet-for-kvinnors-onani/. 11 Branfman, Jonathan (2012). »Teaching men’s anal pleasure: Challenging gender norms with ›Prostage‹ education«, in: American Journal of Sexuality Education, 7, S. 404-428; Douglass, Marcia & Douglass, Lisa (2002): The Sex You Want: A Lovers’ Guide to Women’s Sexual Pleasure. New York: Marlowe & Co. 12 Meta-Datenbank mit medizinischen Artikeln: www.pubmed.com. 13 Brüggemann, Jelmer, Danemalm Jägervall, Carina & Johnson, Ericka (2018): »Gay men’s experiences of sexual changes after prostate cancer treatment – A Swedish qualitative study«, unveröffentlichte Studie, 30.04.2018. 14 Nationellt vårdprogram Prostatacancer 2017 (Nationales Behandlungsprogramm für Prostatakrebs 2017), siehe www.cancercentrum.se.
Kapitel 4 Die Prostatauntersuchung und der (un-)empfindliche Mann Jenny Gleisner
Einige Untersuchungssituationen können sowohl vom Arzt als auch vom Patienten als intim und sensibel empfunden werden. Die Prostatauntersuchung zählt dazu. Aus medizinischer Sicht wird der sensible Charakter dieser Untersuchung allerdings zuweilen übergangen; sie wird vielmehr als eine ganz normale Routinekontrolle betrachtet. Diese Einstellung beeinf lusst die Art und Weise, wie Medizinstudenten die Prostatauntersuchung wahrnehmen und später selbst durchführen. In diesem Kapitel möchte ich über den Vergleich mit der gynäkologischen Untersuchung – einer anderen körperlich intimen Untersuchung, die der Prostatauntersuchung sehr ähnlich ist, aber ganz anders vermittelt wird – potenzielle Veränderungen und Verbesserungen aufzeigen. Das Kapitel richtet sich in erster Linie an all jene, die sich fragen, wie eine Prostatauntersuchung abläuft und wie sich Normen auf den Umgang mit dem Patienten auswirken können. So wie die Debatte um die Einführung der Pappographie (allgemeines Screening auf Prostatakrebs) als gleichberechtigtes Pendant zur Mammographie die verschiedenen Bedingungen bei der männlichen und weiblichen Krebsvorsorge thematisiert hat, wäre es interessant, auch die Unterschiede beim Umgang mit männlichen und weiblichen Patienten zu beleuchten.1 Die gewonnenen Erkenntnisse kämen nicht nur den zukünftigen
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Ärzten, sondern auch Dozenten und anderen Ausbildern im Rahmen des Medizinstudiums zugute. In dem Forschungsprojekt, das diesem Kapitel zugrunde liegt, wurde untersucht, wie Medizinstudenten die Durchführung von körperlichen Untersuchungen erlernen, wobei insbesondere der Frage nachgegangen wurde, wie sich Normen in der medizinischen Praxis widerspiegeln.2
Normen in medizinischen Kontexten – zu Verhaltenskonzepten gegenüber dem Körper Normen sind allgegenwärtig und beeinf lussen sowohl unser Verhalten bei individuellen Begegnungen im Rahmen der Gesundheitsfürsorge als auch die Gesellschaft im Allgemeinen. Es handelt sich gewissermaßen um Verhaltenskonzepte, die bestimmen, wie wir uns ausdrücken, verhalten und miteinander umgehen, aber ebenso Einf luss darauf haben, was wir von Anderen in bestimmten Situationen erwarten. Normen spiegeln sich auch in unserer Interpretation des Physischen – beispielsweise des Körpers oder verschiedener Körperteile – wider. Manchmal drücken Normen ein Ideal für das statistisch Übliche aus – oder für das, was als das Übliche, »das Normale« angesehen wird.3 Aber dass etwas als normal – also als »üblicherweise vorkommend« – betrachtet wird, bedeutet nicht automatisch, dass es auch ideal oder überhaupt akzeptabel ist. Der Unterschied wird am Beispiel der Prostata deutlich. Die Prostata verändert sich im Laufe des Lebens. Eine per definitionem vergrößerte Prostata und ein erhöhter PSA-Wert können im Verhältnis zum Alter des Betroffenen und der Größe der Prostata normal sein. Bei einigen Männern verursacht die alternde Prostata nicht einmal spürbare Probleme, während andere möglicherweise prostatabedingte Beschwerden entwickeln, die sie vorher nicht hatten. Inkontinenzprobleme sind bei älteren Menschen zum Teil normal, dennoch können sie als stigmatisierend und peinlich empfunden werden – und zwar sowohl die Probleme an sich als auch das Aufsuchen eines Arz-
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tes und die Behandlung.4 Mit anderen Worten können auch körperliche Veränderungen, die als normal angesehen werden, zuweilen den Normen widersprechen, beispielsweise wenn es um das erwartungsgemäße Funktionieren des Körpers und um Hygienestandards geht (z.B. dass man nicht nach Urin riechen sollte) oder darum, worüber wir reden und was als Tabu gilt (z.B. Urinierungsgewohnheiten oder das Sexualleben). Normen sind zudem kontextabhängig. Sie werden durch das Erleben bestimmter Zusammenhänge erlernt und können in anderen Gesellschaften oder Gruppen ganz anders aussehen. Das Medizinstudium kann als sozialer Kontext betrachtet werden, in dessen Rahmen es unter anderem darum geht, ein gemeinsames Verhaltenskonzept gegenüber dem Patienten und dem Patientenkörper zu erlernen und die Arbeit aus ärztlicher Perspektive zu betrachten.5 Von den Studenten wird erwartet, dass sie die ärztlichen Normen erlernen und sich nach ihnen richten. Längst verinnerlichte Normen müssen im Rahmen des Studiums neu erlernt werden, so etwa das Überschreiten von Grenzen in Bezug auf körperliche Nähe. Während des Studiums sollen die Studenten lernen, wie sie die Körper anderer Menschen untersuchen und berühren und über Dinge reden, die ansonsten tabu sind. Den Normen in der Gesundheitsfürsorge über die Befragung und Beobachtung von Studenten auf den Grund zu gehen, ist deshalb von Vorteil, weil die Normen für die Studenten eben noch nicht selbstverständlich sind und daher deutlicher zu Tage treten. Welche Normen spiegeln sich nun im ärztlichen Verständnis des männlichen Prostatapatienten wider, und wie beeinf lussen sie die Untersuchungssituation? Ehe wir uns diesen Fragen widmen, werde ich kurz erläutern, wie eine Prostatauntersuchung aussehen kann.
Ablauf einer Prostatauntersuchung Die Urologin hat sich Handschuhe übergestreift und etwas Gleitmittel auf ihren rechten Zeigefinger gegeben. »Ich beginne jetzt mit der Untersuchung«, teilt sie dem Patienten mit, der in Seitenlage und mit
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dem Rücken zur Ärztin, mit zur Brust angezogenen Knien und bis zu den Knöcheln heruntergezogenen Hosen, auf der Patientenliege liegt. Die eine Hand auf der Hüfte des Patienten, führt die Urologin den Zeigefinger der anderen Hand in seine Enddarmöffnung ein, um die Prostata abzutasten. (Auszug aus den Feldnotizen der Autorin) Eine Prostatauntersuchung kann aus verschiedenen Gründen durchgeführt werden, etwa wenn der Patient unter Bauchschmerzen oder Problemen beim Wasserlassen leidet, sich aufgrund einer erblichen Vorbelastung auf Prostatakrebs untersuchen lassen möchte oder das Ergebnis des PSA-Tests auffällig war. Die überwiegende Mehrheit der Prostatauntersuchungen wird in urologischen Fachkliniken von Urologen durchgeführt, aber auch in der Notaufnahme und in Polikliniken kommen sie vor. In dieser Studie geht es in erster Linie um die Prostatauntersuchungen in urologischen Fachkliniken. Bei der Prostatauntersuchung tastet der Arzt oder die Ärztin die Prostata über den Enddarm des Patienten ab. Die Untersuchung kann wahlweise in Seitenlage mit angezogenen Knien, im Stehen mit vornübergebeugtem Oberkörper und den Händen auf der Patientenliege oder im Vierfüßlerstand auf der Patientenliege erfolgen.6 Bei der Untersuchung werden Größe, Form und Textur der Prostata ertastet; wie der Arzt dabei seinen Finger genau bewegt, kann man allerdings nicht sehen. Die Prostata sollte eine ebene Oberf läche und eine feste Konsistenz aufweisen. Auch die sogenannte Naht zwischen den beiden Hälften (Lappen) der Prostata sollte fühlbar sein.7 Weitere Möglichkeiten, um Aufschluss über den Zustand der Prostata zu erhalten, sind der PSA-Test, die Ultraschalluntersuchung und die Entnahme einer Gewebeprobe (Biopsie). Die Ultraschalluntersuchung und die Biopsie werden in einer Fachklinik für Urologie durchgeführt. Bei der Ultraschalluntersuchung wird ein Ultraschallstab in den Enddarm eingeführt, sodass die Größe der Prostata besser beurteilt und potenzielle Veränderungen erkannt werden können, die sich bei der manuellen Untersuchung nicht ertasten lassen. Auch die Biopsie erfolgt mithilfe eines Ultraschallgeräts, damit der Urologe be-
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urteilen kann, an welcher Stelle der Prostata die Gewebeprobe entnommen werden soll. Wenn ein Medizinstudent der Untersuchung beiwohnt, untersuchen sowohl der Arzt als auch der Student den Patienten, sofern dieser damit einverstanden ist. Neben dem Urologen und eventuell dem Medizinstudenten trifft der Patient in der urologischen Klinik auch auf einen Krankenpf leger. Der Krankenpf leger holt den Patienten im Wartezimmer ab und begleitet ihn zum Untersuchungsraum. Er hilft bei eventuell erforderlichen Tests wie einer Harnf lussmessung und übergibt die Testergebnisse anschließend dem Urologen, ehe dieser den Patienten empfängt. Der Krankenpf leger assistiert auch bei der Entnahme der Gewebeprobe. Er betritt den Untersuchungsraum, wenn die Biopsie erfolgen soll, und verlässt ihn anschließend wieder. Neben den Untersuchungen sind insbesondere die individuellen Erfahrungen des Patienten von Bedeutung, damit der Arzt die Prostata selbst und die durch sie hervorgerufenen Beschwerden beurteilen kann. Derart sachlich beschrieben, mag die Prostatauntersuchung sowohl für den Arzt als auch für den Patienten relativ unproblematisch wirken. Tatsächlich bleiben durch diese nüchterne Darstellung allerdings zahlreiche Aspekte verborgen, die bei weitem nicht so selbstverständlich sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, wie etwa die Position des Patienten, was untersucht wird und warum dies geschieht sowie Fragen zu Sexualität, Intimität und Tabus. Wir schauen uns zunächst genauer an, wie die Prostatauntersuchung von Urologen und Medizinstudenten beschrieben wird, und stellen sie der gynäkologischen Untersuchung gegenüber, um die Unterschiede in der Wissensvermittlung und die deutlich werdenden Normen aufzuzeigen.
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Illustration: Jenny Gleisner.
Die Durchführung von körperlich intimen Untersuchungen auf Grundlage verschiedener Ausgangspunkte Die Prostatauntersuchung und die gynäkologische Untersuchung sind sich in vielerlei Hinsicht ähnlich. Es existieren jedoch Unterschiede bezüglich der Normen und Erwartungen an diese Patientenbegegnung, die sich in der Art und Weise, wie darüber von verschiedenen Ausgangspunkten aus gesprochen wird und wie sie vermittelt werden, widerspiegeln. Dass die gynäkologische Untersuchung eine körperlich intime Situation darstellt, die Einfühlungsvermögen und Rücksichtnahme auf die Gefühle und Erlebnisse der Patientin erfordert, ist in der medizinischen Literatur wie auch im Medizinstudium längst selbstverständlich.8 Die von mir befragten Studenten nannten als Begründung, weshalb diese Untersuchung so einzigartig sei, dass man sich im gynäkologischen Stuhl in einer ausgelieferten Position befände und die Patientin sich unten herum entkleiden müsse. Des Weiteren seien die Körperregionen, die vom Gynäkologen untersucht würden, Bereiche,
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die in anderen Zusammenhängen der sexuellen Erregung dienten und die man außer in sehr privaten Situationen nicht entblöße. Was die gynäkologische Untersuchung im Vergleich zu anderen Untersuchungspraktiken in diesem Bereich noch einzigartiger mache, so erklärte der ausbildende Gynäkologe den Medizinstudenten, die in meinem Beisein die gynäkologische Untersuchungssituation trainierten, sei die Tatsache, dass der Arzt hierbei die Finger in den Körper der Patientin einführe, während man beispielsweise beim Legen eines Katheters weiterhin nur an der Außenseite des Körpers hantiere. All diese Gründe, die die gynäkologische Untersuchung so besonders machen, lassen sich ebenso auf die Prostatauntersuchung anwenden. Der Patient muss sich unten herum freimachen und private Körperregionen entblößen. Diese Körperregionen können in anderen Situationen mit Sex und Lustgefühlen verbunden sein. Die Prostata selbst kann der sexuellen Stimulation dienen und eine problematische Prostata oder die Behandlung von Prostatabeschwerden kann überdies die Potenz und das Sexualleben des Patienten beeinträchtigen.9 Auch die verschiedenen Untersuchungspositionen können mit sexuellen oder ausgelieferten Körperstellungen assoziiert werden, was die Untersuchungssituation so sensibel macht. Darüber hinaus gibt es noch weitere Gründe, die dazu beitragen können, dass die Prostatauntersuchung vom Patienten als schwierig empfunden wird. Die Gründe, weshalb der Patient überhaupt untersucht wird, und das Risiko, es könnte eine Krebserkrankung diagnostiziert werden, können beim Patienten Unruhe und Ängste auslösen, denen der Arzt auf angemessene Weise begegnen muss. Trotz der offensichtlichen Ähnlichkeiten zwischen der gynäkologischen Untersuchung und der Untersuchung der Prostata sprachen viele Studenten und Urologen von unterschiedlichen Ausgangspunkten darüber – die eine Untersuchung wurde als sensibel empfunden, die andere nicht. Ein Medizinstudent äußerte sich über die Begegnung mit Prostatapatienten folgendermaßen:
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Wenn sich die Patienten an mich wenden und einen Termin vereinbaren, so gehen sie davon aus, dass ich ihnen sehr nahe bin und alles auf so intime Weise untersuche, wie es nur geht. Das sind ja Erwartungen, die der Patient an mich stellt. Selbst wenn der Prostatapatient die Situation als schwierig und unangenehm empfinde, sei er ja dennoch auf die Untersuchung eingestellt, und die Untersuchungssituation gestalte sich für den Arzt somit als unproblematisch – so erklärte es der Student, und viele scheinen dies ähnlich zu sehen. Für mich, die zuvor eine Forschungsstudie unter Hebammenschülerinnen und Feldarbeit in einer Entbindungsstation durchgeführt hatte sowie Medizinstudenten bei der Durchführung gynäkologischer Untersuchungen beobachten durfte, warf diese Erklärung vielmehr Fragen auf. Nie hatte ich jemanden über die Patientinnen oder die gynäkologische Untersuchung auf eine entsprechende Art und Weise reden hören. Und das, obwohl es doch ebenso selbstverständlich sein dürfte, dass eine Patientin, die einen Termin beim Gynäkologen oder der Hebamme wahrnimmt, auf die Untersuchung eingestellt ist. Stattdessen wurde die gynäkologische Untersuchungssituation als potenziell sensibel beschrieben und ein besonderes Verhaltenskonzept vorausgesetzt. Diese verschiedenen Patientenbegegnungen spiegeln Normen und Erwartungen in Bezug auf die Untersuchung und die Wahrnehmung derselben durch den Patienten bzw. die Patientin wider. Dies hat wiederum Einf luss darauf, wie der Arzt die Untersuchungssituation betrachtet und über sie spricht. Die Unterschiede in der Interpretation der beiden Untersuchungen im medizinischen Kontext werden auch deutlich, wenn man sich näher anschaut, welche Bedeutung ihnen im Rahmen der Ausbildung und in den Lehrbüchern zugemessen wird. Die Durchführung von Prostatauntersuchungen ist Teil der klinisch-praktischen Ausbildung von Medizinstudenten. Die theoretische Vorbereitung auf die Untersuchungssituation und die Wahrnehmung derselben durch den Patienten ist äußerst dürftig. Lehrbücher zu diesem Thema erklären nur kurz, dass die Prostatauntersuchung über den Enddarm erfolge
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und der Beurteilung von Größe, Form und Textur der Prostata diene. Immerhin wird erwähnt, dass die Prostatauntersuchung zu einer der »etwas mehr in die Intimsphäre eingreifenden Untersuchungen« zähle und sie von Männern »als unangenehm empfunden wird«.10 Darauf wird allerdings nicht näher eingegangen und den Studenten werden auch keine Hilfsmittel an die Hand gegeben, wie sie mit der Situation umgehen könnten. Während der klinischen Ausbildung geht der ausbildende Urologe normalerweise den Ablauf einer Prostatauntersuchung durch, ehe die Studenten auf den Patienten treffen. Eine Urologin beschrieb, wie sie an der Hand der Studenten zeige, auf welche Weise sie die Prostata abtaste und wie viel Druck sie dabei ausübe. Viele der von mir befragten Studenten gaben allerdings an, überhaupt keine Einführung erhalten zu haben, sondern nur die Aufforderung, dass sie nun mit dem Untersuchen dran seien. Das Trainieren der gynäkologischen Untersuchung erfolgt auf ganz andere Weise und in anderen Zusammenhängen.11 Auch wenn die Studenten die Möglichkeiten haben, gynäkologische Untersuchungen zu trainieren, wenn sie z.B. in einer Poliklinik sind, werden diese überwiegend während der klinischen Praxis in der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe durchgeführt, die das letzte Ausbildungsmoment des Medizinstudiums darstellt. Allerdings treffen die Medizinstudenten bereits während der theoretischen Ausbildung an der Universität erstmals auf gynäkologische Patientinnen, und zwar im Rahmen gesonderter simulierter Übungssituationen mit Lehrpatienten. Die theoretische Vorbereitung besteht aus einer Vorlesung, dem Studium von Fachliteratur und einem Film. Die sogenannten Lehrpatienten sind Frauen, die von Hebammen und Gynäkologen rekrutiert wurden, um gemeinsam mit einem Gynäkologen die Studenten zu unterrichten. Die Medizinstudenten an der Universität, an der ich meine Forschungsstudie durchgeführt habe, trafen bei zwei Gelegenheiten auf gynäkologische Lehrpatienten. Die erste simulierte Untersuchungssituation fand bereits im zweiten Jahr des Medizinstudiums statt und zählte zu den ersten Untersuchungen überhaupt, die die Studenten
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üben durften. Die zweite Gelegenheit ergab sich zum Ende des Studiums hin, vor der klinischen Praxis im Fachbereich der Gynäkologie und Geburtshilfe. Die Lehrpatienten fungieren gleichzeitig als Ausbilder und als Patienten. Sie weisen die Studenten an, wie sie ihre Hände und Finger verwenden sollen, um die inneren Geschlechtsorgane abzutasten. Dabei wird insbesondere darauf geachtet, dass bei der gesamten Arzt-Patienten-Begegnung die vorgegebenen Routinen befolgt werden. Die Studenten lernen, wie wichtig es ist, die Patientin persönlich im Wartezimmer abzuholen, um schon dort Kontakt aufzubauen; im Gegensatz zur Prostatauntersuchung, wo der Patient zuerst auf eine Krankenschwester trifft. Beim Training mit den Lehrpatienten lernen die Studenten, dass sie den Blick abwenden sollten, wenn die Patientin sich entkleidet, wie sie ihre Worte am günstigsten wählen und die Patientin auf die bevorstehende Untersuchung vorbereiten und wie wichtig es ist, eventuelle frühere Erfahrungen der Patientin zu berücksichtigen, die Einf luss darauf haben können, wie sie die Untersuchungssituation wahrnimmt. Zu solchen Erfahrungen zählen beispielsweise sexueller Missbrauch oder Gewalt. Während der Ausbildung der Studenten im Fachbereich der Gynäkologie wird demnach großer Wert darauf gelegt, dass sie die Untersuchungstechnik sowie den Umgang mit der Situation und den Erlebnissen der Patientin erlernen. Obwohl das Sexualleben bei der Begegnung zwischen Arzt und Prostatapatient ebenfalls zur Sprache kommen kann, geht es hier in erster Linie darum, wie dieses durch die Prostata oder die Behandlung derselben beeinf lusst wird oder werden kann, und nicht um vorherige Erfahrungen. Dass auch der Prostatapatient traumatische Erinnerungen haben kann, beispielsweise aufgrund von Missbrauch, scheint keineswegs in der gleichen selbstverständlichen Weise vorausgesetzt zu werden. Und das, obwohl die Prostatauntersuchung genau wie die gynäkologische Untersuchung eine körperlich intime Untersuchungssituation darstellt.
Die Prostatauntersuchung und der (un-)empfindliche Mann
Schwierige Untersuchungspositionen Auch wenn eventuelle Erfahrungen des Prostatapatienten, die sich auf die Wahrnehmung der Untersuchungssituation auswirken können, keine Berücksichtigung finden, gibt es andere Normen, die zeigen, dass die Begegnung mit dem Prostatapatienten ebenso wie die mit der gynäkologischen Patientin auf eine umsichtige und rücksichtsvolle Art geschieht. Dies wird ersichtlich, wenn man sich die Untersuchungspositionen eingehender betrachtet. Bei der gynäkologischen Untersuchung wird die Position der Patientin über den gynäkologischen Stuhl gesteuert. Dieser bringt die Patientin in eine unbequeme halbsitzende Position mit den Beinen in Beinstützen. Der gynäkologische Stuhl ist so konstruiert, dass der behandelnde Arzt möglichst optimale Untersuchungsbedingungen hat. Aber auch ergonomische Aspekte wurden berücksichtigt: Der Stuhl ist höhenverstellbar und kann somit an die Körpergröße des Gynäkologen angepasst werden. Die Möglichkeiten, den gynäkologischen Stuhl an die körperlichen Voraussetzungen der Patientin anzupassen, sind allerdings begrenzt.12 Während des Trainings der gynäkologischen Untersuchungssituation mussten die Studenten sich auch aktiv mit der unbequemen und ausgelieferten Position der Patientin auf dem gynäkologischen Stuhl auseinandersetzen. Um der Patientin ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, wurde beispielsweise empfohlen, beim Hochfahren oder Absenken des gynäkologischen Stuhls eine Hand auf das Knie der Patientin zu legen. Die Position des Patienten während der Prostatauntersuchung ist nicht ganz so selbstverständlich, weshalb diese Entscheidung von jedem Arzt individuell getroffen wird. Als ich die Urologen und Medizinstudenten um eine Begründung bat, wieso sie den Patienten in der jeweils gewählten Position untersuchten, veränderte sich die Art, wie sie über die Patientenbegegnung sprachen. Während sie die Situation anfangs als überwiegend unproblematisch beschrieben hatten, spiegelte ihre Antwort nun ein Bewusstsein dafür wider, wie der Patient unterschiedliche Positionen empfinden könnte. Die meisten erklärten,
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sie würden den Patienten bitten, sich in Seitenlage mit heruntergezogener Hose auf die Patientenliege zu legen und die Knie zum Kinn hin anzuziehen. Dies sei die für den Patienten am wenigsten schwierige, ausgelieferte oder unangenehme Position. Einer der Studenten meinte: Ich sah einen jungen Mann mit Prostatitis, der so untersucht wurde, also vornübergebeugt im Stehen, und das schien ihm so unangenehm zu sein, dass ich dachte: Nein, so will ich es nicht machen. Dass Männer die Untersuchungssituation oftmals als unangenehm empfinden, ist ihrer Reaktion, aber auch der Art und Weise, wie Urologen und Studenten über die Untersuchungspositionen sprechen, also anzumerken. Diejenigen, die es vorzogen, den Patienten vornübergebeugt im Stehen zu untersuchen, beschrieben ausführlich, wie sie ihre Entscheidung gegenüber dem Patienten damit begründeten, dass sie möglichst optimale Voraussetzungen zum Abtasten der Prostata schaffen wollten. Dahingegen gab keiner von ihnen an, die Position des Patienten aus Gründen der eigenen ergonomischen Arbeitsposition zu wählen, so wie es beim gynäkologischen Stuhl der Fall ist. Die dritte Untersuchungsposition, bei der der Patient gebeten wird, im Vierfüßlerstand auf der Patientenliege Platz zu nehmen, nannte niemand als Alternative. Es handelt sich um eine Position, von der auch die Lehrbücher abraten, da »viele Patienten die Position als sehr unangenehm und ausgeliefert empfinden«, auch wenn sie für die Untersuchung der Prostata von eindeutigem Vorteil ist.13 Dank der Tatsache, dass es bei der Prostatauntersuchung kein Äquivalent zum gynäkologischen Stuhl gibt, kann die Untersuchungsposition an die Möglichkeiten des Urologen zur Untersuchung und die eventuellen Bedürfnisse des Patienten angepasst werden. Dass die aus medizinischer Perspektive »günstigste« Position nicht einmal in Erwägung gezogen und sogar von ihr abgeraten wird, zeigt, wie sensibel diese Untersuchung ist. Es bleibt jedoch jedem Arzt und Medizinstudenten selbst überlassen, sich Gedanken über die von ihm bevorzugte Untersuchungsposition
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zu machen und zu überlegen, wie diese für den Patienten so angenehm wie möglich gestaltet werden kann.
Routinen für den Umgangmit körperlich intimen und sensiblen Untersuchungen Mithilfe von Routinen für Untersuchungssituationen kann eine vertrauensvolle Atmosphäre geschaffen werden. Im Medizinstudium lernen Studenten, wie sie die Körper anderer Menschen visuell und manuell auf eine Art und Weise untersuchen, die sich von der alltäglichen Interaktion stark unterscheidet. Sie lernen auch, mit ihren Patienten über intime Details im Leben eines Menschen zu reden und entsprechende Fragen zu stellen. Von Ärzten wird erwartet, dass sie dazu in der Lage sind und dies auf eine professionelle Art tun, ohne Scham zu verspüren oder zu verurteilen. Das Erlernen intimer Untersuchungssituationen ist für die Medizinstudenten eine Herausforderung. Mehrere Studenten erzählten, dass die erste selbst durchgeführte gynäkologische Untersuchung eine ganz besondere Erfahrung war und sie es als seltsam empfanden, auf den nackten Unterleib einer Frau zu schauen und ihre Finger in die Vagina einer Frau einzuführen. Die Erfahrungen bei der ersten Prostatauntersuchung waren für viele Studenten sehr ähnlich: Es sei ein merkwürdiges Gefühl gewesen, den Finger in der Enddarmöffnung eines Mannes zu haben. Aber die Studenten erzählten auch, wie sich ihre Wahrnehmung veränderte, je mehr sie sich auf die Untersuchung an sich konzentrierten, und dass sie sich recht bald an die Situation gewöhnt hätten. Insbesondere Studenten, die sich im fortgeschrittenen Medizinstudium befanden, meinten, es falle mit zunehmender Erfahrung leichter, mit intimen Untersuchungen umzugehen. Sie erklärten, sie hätten sich daran gewöhnt oder seien mit der Zeit »abgestumpft«. Während des Studiums üben die angehenden Mediziner, Verhaltensnormen in Bezug auf die Körper anderer Menschen zu überschreiten und lernen, wie einem dies als Arzt gelingt. Dabei hilft es, so viele entkleidete Körper zu sehen, dass die Situation an sich nicht
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mehr als ungewohnt empfunden wird, den Körper des Patienten aus einer rein medizinischen Perspektive zu betrachten. Darüber hinaus gilt es, Routinen zu entwickeln, wie man sich dem Patienten gegenüber artikuliert, um eine möglichst angenehme und vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen. Derartige verinnerlichte Routinen helfen den Studenten auch, die eigenen Gefühle zu bewältigen und in jeder Situation eine professionelle Verhaltensweise zu bewahren. Dieses Verständnis der Bedeutung von Routinen basiert auf der Forschung der Emotionssoziologin Arlie Russel Hochschild zur Emotionsarbeit in verschiedenen Berufen.14 Sie betonte, dass die Emotionsarbeit ebenso wie die spezifischen Kenntnisse zur Ausübung einer gewissen Tätigkeit ein fester Bestandteil der beruf lichen Praxis sei. Erlernte und verinnerlichte Routinen würden beispielsweise Ärzten helfen, in der Untersuchungssituation sowohl mit den eigenen Gefühlen als auch mit denen des Patienten umzugehen. Darüber hinaus können sie dazu beitragen, dass der an intime Untersuchungen gewöhnte Arzt bei der Patientenbegegnung auch weiterhin umsichtig handelt, indem sie ihn daran erinnern, dass die Situation für den Patienten äußerst sensibel sein kann. Weshalb existieren bislang dennoch keine expliziten Routinen in Hinblick auf die Prostatauntersuchung? Sollte sie nicht genauso behandelt werden wie die gynäkologische Untersuchung? Und wieso wird die gynäkologische Untersuchung als deutlich sensibler empfunden? Auch hier hilft ein Blick auf die Normen in Bezug auf den weiblichen und den männlichen Patienten und ihre jeweiligen Körper, um das unterschiedliche Verständnis nachvollziehen zu können. Die gynäkologische Untersuchung ist mit der Erwartung verknüpft, potenziell negative Emotionen wie Scham, Verlegenheit und Verletzlichkeit wecken zu können.15 Die Prostata und die Prostatauntersuchung reproduzieren ein Bild des Mannes und seiner Geschlechtsorgane, das seine Erfahrungen unsichtbar macht und entemotionalisiert. Diese Normen spiegeln sich in der Tatsache wider, dass der Untersuchung selbst im Rahmen der universitären Ausbildung, in den Lehrbüchern
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und während der klinisch-praktischen Ausbildung nur wenig Raum zugestanden wird. Dass auch Männer Erfahrungen gemacht haben können, die die Prostatauntersuchung für sie zu einer Herausforderung werden lassen, wird stillschweigend übergangen – im Gegensatz zur gynäkologischen Untersuchung, bei der Erlebnisse und Erfahrungen von Frauen mit Missbrauch oder Gewalt stets mit bedacht werden. Folglich sind Medizinstudenten nicht darauf vorbereitet, die Prostatauntersuchung als eine äußerst sensible Untersuchungssituation zu behandeln.
Illustration: Jenny Gleisner
Die Prostatauntersuchung und der (un-)empfindliche Mann – abschließende Zusammenfassung Die Prostatauntersuchung und die gynäkologische Untersuchung haben viel gemein: In beiden Fällen handelt es sich um körperlich intime Untersuchungen, die mit Fragen der Sexualität und anderen Dingen, über die aus Schamgefühl normalerweise nicht gesprochen wird, verbunden sind. Trotz allem werden sie auf verschiedene Weise vermittelt, was sich auf die Arzt-Patienten-Beziehung und die Art, wie die
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Untersuchungssituation vom Arzt gehandhabt wird, auswirkt. Was ließe sich also anders machen? Als ich in einer urologischen Klinik die Möglichkeit hatte, Prostatauntersuchungen beizuwohnen, erkannte ich viele der Routinen wieder, die während des Trainings mit gynäkologischen Lehrpatienten an die Studenten vermittelt wurden. So legte die Urologin beispielsweise eine Hand auf die Hüfte des Patienten, ehe sie mit der Untersuchung begann, um auf andere Art Körperkontakt herzustellen, ehe sie ihren Finger in seinen Enddarm einführte. Diese Routinen wurden aber nicht auf die gleiche Weise verbal an die Studenten vermittelt, wie es im Falle der gynäkologischen Untersuchungen üblich ist. In Ermangelung expliziter Routinen, die den werdenden Arzt daran erinnern könnten, dass der Patient die Prostatauntersuchung möglicherweise als unangenehm empfindet und sich ausgeliefert fühlt, besteht die Gefahr, dass die Erlebnisse männlicher Patienten übergangen werden. Neben der allgemeinen Sorge um eine Krebsdiagnose sollten bei der Arzt-Patienten-Begegnung insbesondere auch eventuelle frühere Erfahrungen des Patienten berücksichtigt und überdies bedacht werden, dass auch Männer sexuell missbraucht werden. Ich empfinde es als wichtig, dass Medizinstudenten Strategien für die Patientenbegegnung an die Hand gegeben werden, die auch die Annäherung an derart sensible Fragen im Rahmen der Prostatauntersuchung umfassen. Ein stärkeres Bewusstsein für diese Thematik ist auch für die Patienten von erheblicher Bedeutung, da es dazu beiträgt, die vorherrschenden Normen im Umgang mit männlichen Patienten sichtbar zu machen und zu verändern.
Literaturempfehlungen Androstolen (The Androchair), Börjesson Emma, Ehrnberger Karin, Hertz Anne-Christine, Sundbom Cristine. http://androstolen.se/. (Abgerufen: 02.05.2018). Becker, Howard S., Geer, Blanche, Hughes, Everett C. Strauss, Anselm L. [1961] (2004): Boys in white. Chicago: University of Chicago Press.
Die Prostatauntersuchung und der (un-)empfindliche Mann
Ehrnberger, Karin, Räsänen, Minna, Börjesson, Emma, Hertz, Anne-Christine & Sundbom, Cristine (2017): »The Androchair: Performing Gynaecology through the Practice of Gender Critical Design«, in: The Design Journal 20 (2), S. 181-198. Hochschild, Arlie Russell [1983] (2012): The Managed Heart: Commercialization of Human Feeling. Berkeley & Los Angeles, California: University of California Press. Johannisson, Karin (2004): Tecknen: Läkaren och konsten att läsa kroppar. Stockholm: Norstedts.
Anmerkungen 1 Im Februar 2018 beschloss die schwedische nationale Gesundheitsbehörde Socialstyrelsen, von der Einführung eines allgemeinen Screenings auf Prostatakrebs abzuraten, da das Risiko für Überdiagnose und Überbehandlung als zu hoch betrachtet wird. www.socialstyrelsen.se/riktlinjer/nationellascreeningprogram/pro statacancer-screeningmedpsa1 (Abgerufen: 02.05.2018). 2 Dies ist ein Teilprojekt des vom schwedischen Wissenschaftsrat (Vetenskapsrådet) finanzierten Forschungsprogramms »Die ständige Geißel – diskursive Konturen der alternden Prostata«. 3 Siegetsleitner, Anne (2006): »Norms«, in: Birx, H. James (Hg.), Encyclopedia of anthropology. Thousand Oaks: Sage Publications Inc. 4 (5), S. 1750-1753. 4 Mitteness, Linda S. & Barker, Judith C. (1995): »Stigmatizing a ›Normal‹ Condition: Urinary Incontinence in Late Life«, Medical Anthropology Quarterly 9 (2), S. 188-210. 5 Dies wird als situiertes Lernen bezeichnet. Siehe Lave, Jean & Wenger, Etienne (1991): Situated learning: Legitimate peripheral participation. Cambridge: Cambridge University Press. 6 In einigen Lehrbüchern wird eine vierte Position genannt, bei der der Patient in Rückenlage mit angezogenen Beinen untersucht wird; diese wurde allerdings von keiner der befragten Personen erwähnt. Siehe z.B. Damber, Jan-Erik & Peeker, Ralph (2012, Hg.): Urologi. 2. Auflage, Lund: Studentlitteratur, S. 62. 7 Einer der von mir interviewten Urologen erklärte, dass es auf eine Vergrößerung der Prostata hindeute, wenn die Naht ausgeglättet sei. Dies kann der Arzt mit seinem Finger ertasten, wenn er die Prostata untersucht. 8 Siehe z.B. Janson, Per Olof & Landgren, Britt-Marie (2015, Hg.): Gynekologi. 2. Auflage, Lund: Studentlitteratur.
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9 Für weitere Informationen zur Prostata als erogene Zone siehe Carina Danemalm Jägervalls Kapitel in diesem Buch. 10 Järhult, Johannes & Offenbartl, Karsten (2013): Kirurgiboken. Vård av patienter med kirurgiska, urologiska och ortopediska sjukdomar. 5. Auflage, Liber: Stockholm; Damber, Jan-Erik & Peeker, Ralph (2012, Hg.): Urologi. 2. Auflage, Lund: Studentlitteratur. 11 Wie die Studenten diese Untersuchungen trainieren, variiert sowohl in den verschiedenen Ausbildungsinstitutionen innerhalb Schwedens als auch international. 12 Eine Forschergruppe in Halmstad hat den sogenannten Androstuhl als Prototypen eines Untersuchungsstuhls für Prostatauntersuchungen entwickelt. Dieser ist das Ergebnis einer kritischen Designstudie, um die negativen Erfahrungen von Frauen mit dem gynäkologischen Stuhl zu verdeutlichen und aufzuzeigen, wie dessen Design das Erleben der Untersuchungssituation beeinflusst. Ebenso wie der gynäkologische Stuhl ist auch der Androstuhl an die Bedürfnisse des Untersuchenden angepasst, während der Patient in eine Position gebracht wird, die den Beschreibungen zufolge als ausgeliefert empfunden wird. Zudem wurde der Androstuhl für einen »Durchschnittspatienten« konstruiert, weshalb viele Betroffenen ihren Körper als nicht kompatibel empfinden würden. Der Stuhl kann überdies beim Patienten das Gefühl erwecken, er fiele beinahe hinunter, was vielen Frauen auf dem gynäkologischen Stuhl ebenso erginge. Siehe Ehrnberger, Karin, Räsänen, Minna, Börjesson, Emma, Hertz, Anne-Christine & Sundbom, Cristine (2017): »The Androchair: Performing Gynaecology through the Practice of Gender Critical Design«, in: The Design Journal, 20 (2), S. 181-198. 13 Damber, Jan-Erik & Peeker, Ralph (2012, Hg.): Urologi. 2. Auflage, Lund: Studentlitteratur, S. 320. 14 Hochschild, Arlie Russell [1983] (2012): The managed heart: commercialization of human feeling. University of California Press: Berkeley and Los Angeles, California. 15 Siehe z.B. Royal College of Obstetricians and Gynaecologists (2002): Gynaecological Examination: Guidelines for Specialist Practice. London: RCOG Press; oder Hilden, Malene et al. (2003): »Women’s experiences of the gynecologic examination: factors associated with discomfort«, in: Acta Obstetricia et Gynecologica Scandinavica, 82 (11), S. 1030-1036.
Kapitel 5 Ein gesunder Zustand der Ungewissheit Gedanken zu PSA-Test, Vorhersagbarkeit und Verwundbarkeit Oscar Javier Maldonado Castañeda
Wenn der eigene Vater älter wird Vor einem Monat hatte mein Vater einen Termin zur Blutentnahme, um seinen PSA-Wert bestimmen zu lassen. Er ist jetzt 65 Jahre alt, und der Test wurde vom Arzt als Präventivmaßnahme empfohlen. Zuvor wurde bereits sein Cholesterinwert getestet, sodass dieser neue Test nur ein Teil seiner Routine als Rentner war. Nach über 40 Jahren in einer Möbelfabrik genießt er nun seinen Ruhestand auf dem Land, kommt aber für ärztliche Untersuchungen in die Stadt (Bogotá). Für ihn ist der PSA-Test eine Art und Weise, Verantwortung für seine Gesundheit zu übernehmen. Im Gegensatz zu anderen Vorsorgeuntersuchungen ist der PSA-Test allerdings mit einer beängstigenden Assoziation verbunden: Es handelt sich um einen Test zur Beurteilung des Risikos für Prostatakrebs. Ein paar Wochen später hielt mein Vater das Ergebnis in den Händen: Sein PSA-Wert betrug 6 ng/ml. Der Arzt erklärte ihm, dass der Wert etwas höher war als erwartet, dies allerdings kein Grund zur Sorge sei. Er wollte den Test wiederholen, um das Ergebnis zu überprüfen. Einige Zeit später lag das zweite Ergebnis vor: Der PSA-Wert war auf 4 ng/ml gesunken. Also kein Grund zur Sorge. Jetzt konnte er endlich
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seinen ältesten Sohn (mich) anrufen, der im Ausland wohnt, und ihm mitteilen, dass er einen Test gemacht habe und alles in Ordnung war. Einige Leser mögen mit dem PSA-Test und seiner Bedeutung bereits vertraut sein, andere vielleicht nicht. Das prostataspezifische Antigen (PSA) ist ein Protein, das in den Drüsenzellen der Prostata gebildet wird. Beim PSA-Test wird der PSA-Spiegel im Blut bestimmt; das Ergebnis wird normalerweise in Nanogramm pro Milliliter (ng/ml) angegeben. Liegt ein Prostatakarzinom vor, ist der PSA-Wert oftmals erhöht, weshalb er zu einem wichtigen Marker zur Bestimmung des Krebsrisikos geworden ist. Allerdings ist der Grenzwert, der besagt, ab wann ein erhöhtes Risiko besteht, in der Forschung umstritten. Bis vor wenigen Jahren ging man davon aus – und einige Ärzte tun dies noch immer –, dass der »normale« PSA-Wert unter 6 ng/ml liege. Diese Zahl variiert je nach Alter der Männer. In vielen Patienteninformationen wird noch immer dieser Grenzwert wiedergegeben, allerdings wird nachdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich dabei nur um einen Richtwert handelt. Teilweise wird ein PSA-Wert von unter 7 ng/ml für Männer im Alter von 70 bis 75 Jahren als »normal« angesehen. Ein erhöhter PSA-Wert gilt als Indikator für Prostatakrebs. Allerdings können auch andere Probleme wie eine gutartige Prostatavergrößerung oder eine Prostatitis (Entzündung der Prostata), die rein gar nichts mit Krebs zu tun haben, zu einem erhöhten Wert führen. Ein stark erhöhter PSA-Wert (im drei- bis vierstelligen Bereich) deutet fast immer auf ein Prostatakarzinom hin. Ein erhöhter PSA-Wert kann zahlreiche weitere Tests nach sich ziehen und den Patienten vor wichtige Entscheidungen stellen. Dem nationalen Krebsinstitut der Vereinigten Staaten (NCI) zufolge leidet nur einer von vier Männern mit erhöhten PSA-Werten tatsächlich an Prostatakrebs. Weitere Tests umfassen normalerweise die Entnahme einer Gewebeprobe (Biopsie) der Prostata. Die Prostatabiopsie ist nicht nur mit Schmerzen, sondern auch mit einem erhöhten Risiko für Infektionen sowie Blut in Urin und Sperma verbunden. In rund sechs Prozent der Fälle kommt es nach der Entnahme einer
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Gewebeprobe zu einer schwerwiegenden Infektion, und zwei bis vier Prozent der Biopsien führen zu Infektionen, die stationär behandelt werden müssen. Zudem kann der PSA-Test ein Prostatakarzinom auch übersehen. Bei etwa zwei Prozent der Männer mit aggressivem Prostatakrebs ist der PSA-Wert unauffällig. Die Diagnose Prostatakrebs ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit einer verkürzten Lebenserwartung. Es kann sich um einen langsam wachsenden Tumor handeln, der möglicherweise gar keine Probleme für den Betroffenen verursachen würde. Dennoch hat die Diagnose für den Betroffenen und die ihm nahestehenden Personen eine beunruhigende und beängstigende Wirkung. Einige Männer entscheiden sich für eine Therapie, obwohl diese nicht zwingend notwendig ist. Die Behandlung von Prostatakrebs kann mit gravierenden Nebenwirkungen, wie beispielsweise Urinierungs- oder Verdauungsproblemen, körperlichen Veränderungen und sexueller Dysfunktion, einhergehen, die die Lebensqualität des Patienten mitunter erheblich beeinträchtigen. Aus dem Grund sind der PSA-Test und die darauffolgenden Untersuchungen zu einem umstrittenen Thema geworden. Diverse Gesundheitsbehörden sprechen sich gegen den PSA-Tests zur Beurteilung des Krebsrisikos bei gesunden und asymptomatischen Männern aus. Sie meinen, das allgemeine Screening habe dazu geführt, dass allzu viele Männer mit einem Prostatakarzinom mit niedrigem Risikoprofil diagnostiziert und übertherapiert worden seien. Dies ist in Schweden nicht anders, weshalb man auch hier die Ansicht vertritt, die negativen Effekte eines allgemeinen Screenings würden die Vorteile noch immer überwiegen. Viele Männer haben also ein extrem niedriges Risiko, an Prostatakrebs zu sterben, während die Gefahr, dass die Krebstherapie mit Nebenwirkungen einhergeht, relativ hoch ist.1 Einige medizinische Vereinigungen, hauptsächlich im Bereich der Urologie, kritisieren derartige Empfehlungen mit der Begründung, das allgemeine Screening rette immerhin Leben. Ihre Argumente beruhen zu überwiegendem Teil auf den Ergebnissen der umfangreichen Screening-Programme zur Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs. Die Debatte lebt fort.
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Nachdem mein Vater mir von seinen Erfahrungen mit dem PSATest erzählt hatte, konnte ich nicht auf hören, an die Unsicherheit zu denken, die mit derartigen Tests einhergeht. Daran, wie wenig er darüber wusste und wie viel ich ihm verschwiegen hatte. Ich bin Doktor der Soziologie, nicht der Medizin, und mein Vater erwartet von mir in der Hinsicht natürlich keinen fachlichen Rat. Paradoxerweise ist aber genau dies mein Fachgebiet. Nicht der PSA-Wert oder die Prostata an sich, sondern die Unsicherheit, die Besorgnis und die Vorhersagbarkeit im Zusammenhang mit Zahlen und Testergebnissen im medizinischen Kontext. Der PSA-Test ist nur einer von vielen Tests, die mein Vater in den nächsten Jahren durchlaufen wird. Dieses Mal ging es um die Prostata, das nächste Mal betrifft es vielleicht den Cholesterinspiegel, den Blutdruck, die Knochendichte, das Gedächtnis … vielleicht auch wieder die Prostata. Das Altern wird mittlerweile stark »medikalisiert«. Nach und nach wird die Zahl der Arzttermine und Probenahmen immer weiter zunehmen, und damit auch Unsicherheit, Besorgnis und Prognosen. Und eines Tages werde ich selbst mich an seiner Stelle befinden. Man muss allerdings gar nicht erst älter werden, um die Unsicherheit und all die Ängste zu verspüren, die mit der medizinischen Vorsorge einhergehen. Unsere Gesellschaft scheint von der Zukunft besessen – ein Zustand, den einige Soziologen als »Regime der Vorhersage« bezeichnen und in dem medizinische Tests und Präventivmaßnahmen maßgeblich darüber bestimmen, wie wir unser Leben organisieren und für unsere Körper sorgen. In diesem Kapitel möchte ich über einige wichtige Erkenntnisse der soziologischen und sozialwissenschaftlichen Forschung in Bezug auf Tests und allgemeine Vorsorgeuntersuchungen in unserer derart von der Zukunft besessenen Gesellschaft informieren. Neben dem PSA-Test und dem Risiko für Prostatakrebs gibt es zahlreiche weitere Szenarien, in denen wir als Patienten gezwungen sind, die Risiken einer Therapie gegen die Versprechen der Prävention abzuwägen. Zukunftssorgen und die Verantwortung für unsere Gesundheit bestimmen, wie wir mit der Gesundheitsvorsorge umgehen.
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Ärzte, Versicherungsgesellschaften und klinische Informationen hingegen präsentieren den Patienten als rational kalkulierenden Akteur. Sie setzen voraus, dass der Patient fundierte Entscheidungen auf der Grundlage »objektiver« Fakten trifft. Dieser ideale Patient ist kosteneffizient und verfügt über die rationalen und emotionalen Fähigkeiten, die Risiken, Kosten und Konsequenzen gegeneinander abzuwägen. In der Praxis wissen wir allerdings, dass derartige Entscheidungen äußerst komplex sind. Der »rational kalkulierende Mensch« existiert nur als Modell und in Richtlinien. Die Einwilligung nach erfolgter Auf klärung, die der Patient mit seiner Unterschrift bestätigt, ehe er sich einer spezifischen Behandlung unterzieht, veranschaulicht diesen Punkt sehr gut. Eine solche Einwilligung soll auf der Grundlage genauer und »objektiver« Informationen über die Wirksamkeit medizinischer Technologien und Verfahren und die Risiken, Gefahren und Auswirkungen der Behandlung erfolgen. Der Behandlungseffekt und die Risiken werden oftmals in Statistiken angegeben. Diese Zahlen geben Aufschluss über die Wahrscheinlichkeit bestimmter Behandlungsergebnisse und stellen die Grundlage für die Entscheidungsfindung des Patienten dar. Die Einwilligung nach Auf klärung geht also davon aus, dass die zur Verfügung gestellten Informationen dem Patienten eine rationale Abwägung des Nutzens gegenüber den Risiken einer medizinischen Behandlung ermöglichen. In der Praxis handelt es sich allerdings um eine zutiefst affektive Wahl – »Fakten« und Emotionen sind eng miteinander verwoben, sie beeinf lussen und gestalten einander. Das allgemeine Screening erschafft somit eine Struktur, die auf Emotionen basiert, aber individuelle Verantwortung und präventives Handeln als Norm betrachtet. Darüber hinaus können medizinische Informationen in konkreten Situationen sehr verwirrend sein. Wieder und wieder interpretieren Ärzte, Patienten und Angehörige die Krankheitssymptome (die körperlich spürbaren Schmerzen und Beschwerden) und die von medizinischen Technologien ermittelten Symbole (Zahlen, Statistiken und Ergebnisse) neu. Zuweilen stimmen diese miteinander überein, sie
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können einander aber auch widersprechen. Wir können Symptome verspüren, die sich anhand der Testergebnisse nicht erklären lassen, oder schlechte Ergebnisse erhalten, obwohl es uns gut geht. Auf diese Weise stellen wir eine affektive Beziehung zu den Zahlen her; diese werden zu Werkzeugen, mit deren Hilfe wir durch die Ungewissheit, Unvorhersehbarkeit und die Sorgen navigieren, die mit einer Erkrankung typischerweise einhergehen. Ich kann keine klare und einfache Empfehlung aussprechen, ob man einen PSA-Test machen sollte oder nicht, und auch nicht beurteilen, wie glaubwürdig die Ergebnisse sind. Als Soziologe ist mein Ziel eher bescheidener Natur. Dieser Text lädt zum Nachdenken über allgemeine Vorsorgeuntersuchungen, das Älterwerden und unsere eigene Verwundbarkeit ein. Gewissermaßen ist er auch eine Aufforderung, sich der Verwirrung, Komplexität und Ungewissheit im Zusammenhang mit Screening, Prävention und Gesundheitsfürsorge zu stellen. Ich möchte zeigen, dass die erlebte Angst keineswegs eine isolierte und individuelle Erfahrung ist, sondern mit der Art und Weise zusammenhängt, wie medizinische Technologien und die Gesundheitsfürsorge zur Gestaltung unserer Gesellschaft beitragen.
Allgemeines Screening – Messbarkeit der Vulnerabilität Das allgemeine Gesundheitsscreening scheint ein Vorgang zu sein, der sich auf das Labor beschränkt. Alles wirkt aseptisch und unkompliziert: Die Proben werden von Geräten analysiert und die Ergebnisse in Form von objektiven Zahlen übermittelt. In der Praxis gestaltet sich dieser Prozess deutlich komplizierter. Es kann zur Kontamination der Proben kommen, die Geräte funktionieren nicht immer zuverlässig, und Zahlen und Ergebnisse können auf verschiedene Art und Weise interpretiert werden. Vor allem aber ist der Mensch ein Körper. Alle an unserem Körper ausgeführten Handlungen wirken sich emotional auf uns aus. Das Vermessen und Bewerten des Körpers mithilfe von Zahlen erzeugt bei uns also starke emotionale Reaktionen.
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Dass die Konfrontation mit medizinischen Diagnosetechnologien und die Interaktion mit der Gesundheitsfürsorge beim Patienten mit Angstreaktionen verknüpft sind, zeigen die Ergebnisse relevanter Forschungsarbeiten im Bereich der Soziologie und Anthropologie. Die feministische Forschung hat sich eingehend damit auseinandergesetzt, wie sich Reproduktionstechnik und Schwangerschaftsvorsorge, z.B. Ultraschalluntersuchungen und Amniozentese, auf unsere Hoffnungen und Gefühle auswirken können.2 Die Interaktion zwischen den Eltern, ihrer Familie und dem Fötus erfolgt über medizinische Technologien, die dem Ungeborenen ein Aussehen und ein Geschlecht, also den Status einer »Person« verleihen. Der medizinischen Soziologie zufolge entwickeln wir durch das allgemeine Screening eine neue und gänzlich andere Beziehung zu Krankheit, Risiken und Emotionen als bei einer Diagnose. Dies ist ein wichtiger Punkt. Im Rahmen der Diagnose wird ein Symptom (nach Bestätigung durch Labortests) einem medizinischen System zugeordnet, das mit einem bestimmten Zustand oder einer Erkrankung verbunden ist. So stellen beispielsweise bei der Diagnose von Typ-1-Diabetes die Symptome den Ausgangspunkt dar: starker Durst, häufiger Harndrang (insbesondere nachts), Müdigkeit und möglicherweise eine verzögerte Wundheilung. Nur wenn diese Symptome und die daraus resultierenden Beschwerden und Schmerzen erlebt wurden, kann die Erkrankung mittels medizinischer Technologie bestätigt werden. Um die Diagnose zu bestätigen oder zu widerlegen, wird der Glukosespiegel im Urin gemessen und anhand einer Blutprobe der Blutzuckerlangzeitwert (HbA1c) bestimmt. Beim allgemeinen Screening ist es anders. Die Vorsorgeuntersuchungen dienen der Vorhersage des Erkrankungsrisikos, damit der Entstehung der Krankheit rechtzeitig, idealerweise vor Auftreten der ersten Symptome, entgegengewirkt werden kann. Durch das Screening ändert sich aber auch die Art, wie wir das Leben mit einer potenziellen Krankheit wahrnehmen. In einer klassischen Studie schilderte der amerikanische Soziologe Talcott Parsons (1964), wie sich das Verhalten und das soziale Leben von Patienten mit dem Erhalt einer Diagnose verändern. Nach einer
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Diagnose wird von einem erwartet, dass man sich auch wie ein »kranker Mensch« verhält, also ärztliche Hilfe in Anspruch nimmt und die Anweisungen der Ärzte befolgt. Das Screening hat zur Folge, dass diese Erwartungshaltung der Diagnose vorweggenommen wird und ein Zustand eintritt, den einige Soziologen als »Protokrankheit« bezeichnen.3 Das Ergebnis ist quasi ein Risikozustand: Man ist nicht krank und wird möglicherweise auch nie irgendwelche Symptome entwickeln, könnte aber in einer potenziellen Zukunft krank werden. Dies wirkt sich wie eine tatsächliche Diagnose auf das Leben der Betroffenen aus, die folglich sowohl ihren Lebensstil als auch ihr Verhalten entsprechend anpassen. Das Risiko, krank zu werden, versetzt sie gewissermaßen in einen dauerhaften Präventionsmodus: Sie bewegen sich mehr, stellen ihre Ernährung um und greifen zu vorbeugenden Behandlungsmaßnahmen in Form von Medikamenten oder gar einer Operation. Und hier wird es kompliziert: Um einer asymptomatischen und potenziellen Erkrankung vorzubeugen, nehmen die Betroffenen die Nebenwirkungen, Beschwerden und Schmerzen, die mit den Präventivmaßnahmen einhergehen können, in Kauf. In Bezug auf das Risiko einer Prostatakrebserkrankung kann der PSA-Test der Beginn eines langwierigen und lebensverändernden Behandlungsprozesses sein, der möglicherweise schmerzhafte Biopsien oder eine Hormontherapie umfasst. Das Krankheitsrisiko wird oftmals in Form von Zahlen und Statistiken angegeben. Diese Zahlen bestimmen maßgeblich, wie die Protokrankheit von den Betroffenen wahrgenommen wird. Sie dienen häufig als Ziele oder Orientierungspunkte, wenn es darum geht, zukünftige und potenzielle Szenarien vorherzusagen. Infolge des Screenings rücken diese Zahlen über unseren Körper in den Mittelpunkt unseres Lebens. Wir achten möglicherweise darauf, wie viele Schritte wir täglich zurücklegen oder wie viele Kilometer wir laufen und ob wir im Allgemeinen einen aktiven Lebensstil führen. Wir haben die Anzahl der zu uns genommenen Kalorien und eventuell auch noch die Entwicklung von Blutdruck und Puls im Blick. Soziologen und Anthropologen bezeichnen diesen Trend zur Selbstvermessung, der durch die
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Verwendung von Smartphones und anderen tragbaren Technologien noch verstärkt wird, als »das quantifizierte Selbst«. Es handelt sich um eine neue Art und Weise, den eigenen Körper kennen und verstehen zu lernen, durch die sich auch unser Verständnis von Gesundheit und Krankheitsrisiko verändert. Durch das in Zahlen ausgedrückte Testergebnis eines Screenings wird das Krankheitsrisiko realer und greif barer. Mit den Zahlen folgt zugleich eine gewisse Verantwortung. Das Wissen um einen erhöhten PSA-Wert geht mit der Verpf lichtung einher, den Wert regelmäßig zu überprüfen und seine Entwicklung zu beobachten. Zahlen bestimmen maßgeblich, wie wir mit den Testergebnissen, Krankheitsrisiken und Therapiemaßnahmen im Zusammenhang mit der allgemeinen Vorsorge umgehen. Der Soziologe Chris Gillespie bezeichnet diese Beziehung, die wir zu den durch Screening-Technologien erzeugten Zahlen entwickeln, als »gemessene Vulnerabilität«.4 Das Risiko, eine potenziell lebensbedrohliche Krankheit zu entwickeln, ruft in uns Angstzustände und Sorgen um eine ungewisse Zukunft hervor. Während das Risiko an sich unsichtbar ist, ermöglichen die Zahlen es uns, auf visuelle Art einen direkten Bezug zu der potenziellen Erkrankung herzustellen. Zahlen und das, was sie über unseren Gesundheitszustand aussagen, beeinf lussen somit unser alltägliches Leben. Die Versprechen der Prävention und Gesundheitsförderung sind enorm. Der Gedanke, noch vor Krankheitsausbruch aktiv zu werden und Schmerzen und Verfall dadurch vermeiden zu können, ist äußerst attraktiv. Die Idee der allgemeinen Gesundheitsvorsorge wurde in den vergangenen Jahren auf weitere Bereiche ausgedehnt und Screenings für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, weitere Krebserkrankungen und Krankheiten wie Alzheimer vorgeschlagen. Die Möglichkeiten des Gentests haben eine völlig neue Dimension der Gesundheitsvorsorge eröffnet. Die Suche nach genetischen Biomarkern zur Identifikation von Krankheitsrisiken hat eine neue Branche hervorgebracht, die mit dem Versprechen lockt, bestimmte Erkrankungen schon Jahre oder gar Jahrzehnte vor ihrem Ausbruch vorhersehen zu können. Im Jahr
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2013 erregte die Meldung, die amerikanische Schauspielerin Angelina Jolie habe sich für eine präventive Doppelmastektomie (die chirurgische Entfernung beider Brüste) entschieden, nachdem sie positiv auf das BRCA1-Gen (einen typischen Biomarker für die Entstehung von Brustkrebs) getestet worden war, internationales Aufsehen. Die Nachricht sorgte dafür, dass Brustkrebs erneut in den Fokus der medialen Debatte rückte, zeigte aber auch, welche extremen Ausmaße die Prävention annehmen kann. Überlebensgeschichten können ein kraftvolles und emotionales Argument für das allgemeine Screening sein. Statistiken zeigen allerdings, dass Überbehandlung und Fehldiagnosen häufiger vorkommen als Fälle, in denen eine frühzeitige Prävention Leben rettet. Diese Geschichten bleiben jedoch oft unsichtbar. Selbst diejenigen, die überbehandelt wurden, verstehen sich manchmal selbst als Überlebende. Im Jahr 2016 drang das Schicksal eines weiteren prominenten Schauspielers an die Öffentlichkeit. Der amerikanische Komiker und Schauspieler Ben Stiller veröffentlichte einen Beitrag auf der Webseite von Cancer Moonshot, einer amerikanischen Initiative zur Krebsbekämpfung, in dem er über seine Erfahrungen mit PSA und Prostatakrebs berichtete. Darin schildert er, wie der PSA-Test sein Leben rettete. Er erwähnt auch, dass er sich durchaus der Kontroverse zum allgemeinen Screening von Männern unter 60 Jahren bewusst sei, die Krebserkrankung in seinem Fall aber nur auf diese Weise hatte entdeckt werden können: Er sei damals 46 Jahre alt gewesen, Fälle von Prostatakrebs habe es in seiner Familienanamnese nicht gegeben und er zähle auch nicht zu einer der Risikogruppen – aber vor allem habe er keinerlei Symptome verspürt. Mit dem PSA-Test begann für ihn ein Prozess der Entscheidungsfindung, bei dem er allein auf Grundlage der ermittelten Werte das Für und Wider weiterer Präventivmaßnahmen gegeneinander abwägen musste. Nach dem PSA-Test wurde eine Biopsie durchgeführt, und im Juni 2014 erhielt Ben Stiller die Diagnose Prostatakrebs. Den Moment, als er von seiner Krebsdiagnose erfährt, schildert er folgendermaßen:
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Während mein neuer, weltverändernder Arzt über Zellkerne und Gleason Scores, Überlebenswahrscheinlichkeiten, Inkontinenz und Impotenz sprach sowie darüber, warum eine Operation gut wäre und welche am sinnvollsten sei, schien seine Stimme immer leiser zu werden, wie in all diesen Filmen oder Serien über einen Typen, der erfährt, dass er Krebs hat … ein klassischer Walter-White-Moment, nur dass ich es diesmal war und niemand eine Kamera auf mich gerichtet hatte.5 Ben Stiller unterzog sich darauf hin einer radikalen Prostatektomie (chirurgische Entfernung der gesamten Prostata). Am 17. September desselben Jahres wurde er nach weiteren Tests offiziell für geheilt erklärt. In den kommenden Jahren wird er sich immer wieder testen lassen und sein Leben an die Konsequenzen der Prostatektomie anpassen müssen. Nach einer Prostatektomie kann es zu Erektionsstörungen, Unfruchtbarkeit und Problemen beim Einhalten des Urins (Harninkontinenz) kommen. Ben Stillers Bericht zählt zu den Erfolgsgeschichten des allgemeinen Screenings und der Gesundheitsvorsorge. Berichte von Patienten, die ihre Entscheidung bereuen, von Überbehandlungen und über die lebensverändernden Konsequenzen von falsch positiven Befunden, kurz: über Fälle, in denen die Tests versagt haben und gesunde Personen unnötigen Risiken ausgesetzt und überf lüssigen Behandlungen unterzogen wurden, sind deutlich seltener zu finden. Forschungen im Bereich der medizinischen Soziologie konnten nachweisen, dass die Erfahrung, dem Risiko einer Erkrankung ausgesetzt zu sein, das Leben der Betroffenen gravierend verändert. Sie suchen häufiger medizinischen Rat, strukturieren ihren Alltag um und ändern ihre sozialen Beziehungen. Das Risiko, krank zu werden, verändert unsere Identität und unsere Selbstdefinition. Zahlen spielen in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. In Zahlen ausgedrückte Ergebnisse bestimmen maßgeblich, wie wir eine chronische Erkrankung wahrnehmen, aber auch, wie wir das Risiko einer potenziellen Erkrankung erleben. Für eine zunehmende Anzahl von Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson, Herz-Kreis-
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lauf-Erkrankungen und Krebs wird mittlerweile die Möglichkeit einer Prävention durch Einführung eines allgemeinen Screenings diskutiert. Neue Tests liefern zahlreiche neue Zahlen und Informationen über unsere Körper. Diese Zahlen führen uns körperliche Zusammenhänge vor Augen, die zuvor unsichtbar oder annähernd inexistent waren. Dadurch eröffnen sich uns neue Realitäten und neue Risiken.
In der Zukunft leben Die verschiedenen Diagnosetechnologien führen uns unsere eigene Zukunft vor Augen und lassen sie zu einer allgegenwärtigen Sorge in unserem Alltag werden. Im Jahr 2009 schlugen die feministischen Forscherinnen Vincanne Adams, Michele Murphy und Adele Clarke das Konzept des »Regimes der Vorhersage« vor, um zu beschreiben, wie unsere Besessenheit von der Zukunft sich auf die Wahrnehmung unserer Gegenwart auswirkt. Versicherungen sind ein klassisches Beispiel dafür, wie potenzielle Zukunftsszenarien den Wert von Personen und Dingen in der Gegenwart bestimmen. In den letzten Jahren wurde diese Logik auch auf andere Bereiche wie das Gesundheitswesen angewendet, wo sie dazu dient, das Krankheitsrisiko zu bestimmen. Adams, Murphy und Clarke zufolge bringt das Regime der Vorhersage auch technologische und politische Veränderungen mit sich. Für die Menschen in derartigen Gesellschaftssystemen spielen die Vorhersagbarkeit und Berechenbarkeit der Dinge eine entscheidendere Rolle als Tatsachen. Affektive Konsequenzen bleiben infolgedessen nicht aus. Die Ausrichtung auf Zukunftsszenarien, die in der Gegenwart bereits als »real« angesehen werden, ruft bei den Menschen Ängste, Hoffnungen, Heilserwartungen und Unsicherheit hervor. Wir fühlen uns verpf lichtet, Verantwortung für unser zukünftiges Ich zu übernehmen. Viele dieser Sorgen sind wirtschaftlicher Natur: Wir müssen Geld zurücklegen und unser Leben nach Eintritt der Rente planen. Wir müssen uns auch über den Wert unserer Hypotheken, die Rentabilität unserer Investitionen und die damit verbundenen
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Risiken Gedanken machen. Auch finanzielle Rücklagen garantieren längst keine sichere Zukunft mehr – wir müssen damit rechnen, dass sich der Wert der Dinge ändert und dies bei unseren aktuellen und gegenwärtigen Entscheidungen stets berücksichtigen. Die Gesundheitsfürsorge wurde nach ähnlichen Prämissen definiert. Wir müssen den Verfall von Körper und Geist vorhersehen, und vor allem müssen wir rechtzeitig Maßnahmen ergreifen, um Krankheiten zu verhindern und den Alterungsprozess zu verlangsamen. Das Regime der Vorhersage begegnet diesen Sorgen mit modernen Technologien zur Vermessung und Beobachtung des menschlichen Körpers sowie mit dem Versprechen, neue Biomarker – Gene und Proteine, mit deren Hilfe sich das Krankheitsrisiko beurteilen lässt – zu identifizieren, um Krankheiten schon vor ihrem tatsächlichen Ausbrechen zu bekämpfen. Die Vorhersage von Erkrankungen hat einen wirtschaftlichen, erkenntnistheoretischen und ethischen Wert. Wenn wir bis zum Ende unseres Lebens produktiv sein wollen, müssen wir auch Verantwortung für unser zukünftiges Ich übernehmen. Das Renteneintrittsalter rückt in immer weitere Ferne, und in einer zunehmend von Kurzzeitverträgen geprägten Arbeitswelt sind finanzielle Rücklagen und eine angemessene Rente mittlerweile ein echtes Privileg. Aber auch die Altenpf lege bringt erhebliche Kosten mit sich. Medikamente, Therapien, Pf legepersonal und Altersheime sind nur einige der Ausgaben, die wir bei unserer Planung bedenken müssen. Je mehr wir über unseren gegenwärtigen Gesundheitszustand und unsere finanzielle Situation wissen, desto besser können wir für die Zukunft planen. Einer der wichtigsten Aspekte des Regimes der Vorhersage allerdings ist die Moral. Von den Menschen wird erwartet, dass sie für sich selbst sorgen, Risiken berechnen und ihre persönliche Zukunft gestalten. Wer krank wird oder unter Altersarmut leidet, wird misstrauisch beäugt und für seine mangelhafte Gesundheit, seine Armut und sein Leiden verantwortlich gemacht. Gesundheit und Krankheit sind moralisch definierte Zustände. Sie galten lange Zeit als Konsequenz des individuellen moralischen Verhaltens, wobei Krankheit als Fluch, als
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göttliche Bestrafung angesehen wurde. Auch heute noch tragen sie eine moralische Konnotation, wenn auch auf andere Art und Weise. Gesundheit gilt nicht mehr wie einst als Belohnung eines Lebens frei von Sünde und im Einklang mit den Gesetzen Gottes, sondern vielmehr als das Ergebnis individueller rationaler Planung, Disziplin und Selbstfürsorge. Diese Auffassung ist problematisch. Unser heutiges Regime der Vorhersage predigt Selbstfürsorge und Verantwortung als die einzig wahre Möglichkeit, mit der Ungewissheit unserer Zukunft, der Angst vor dem Älterwerden und der drohenden Abhängigkeit von anderen umzugehen. Unsere besondere, inhärente Vulnerabilität wird dadurch allerdings in den Hintergrund gedrängt. Die uns innewohnende Verwundbarkeit steht in Relation zu unseren individuellen Lebensumständen. In diesem Kontext spielt sowohl unsere körperliche Verletzlichkeit eine Rolle als auch unsere Beziehungen zu und die Abhängigkeit von anderen Menschen – Familie, Freunde, Kollegen, Mitbürger, der Staat und die Welt im Allgemeinen. Krankheiten und Funktionseinschränkungen gehören zum Leben dazu. Sie verändern nicht nur uns selbst, sondern wirken sich auch auf unsere sozialen Beziehungen im Zusammenhang mit Fürsorge und Abhängigkeit aus. Diese Gedanken kommen mir in den Sinn, wenn ich an meinen Vater, meine Mutter, an die Gesundheit und das Wohlbefinden von Familie und Freunden denke. Natürlich sind wir alle für unsere eigene Gesundheit verantwortlich, aber das muss nicht unbedingt bedeuten, dass die Pf lege eine isolierte und individuelle Frage ist. Wir müssen für andere sorgen, aber wir müssen auch zulassen, dass andere dies für uns tun. Dies mag uns schwerfallen, da es bedeutet, die eigene Verletzlichkeit anzuerkennen. In den folgenden Jahren werden wir uns mit einer zunehmenden Anzahl an Ziffern und Daten über unsere Körper, Routinen und Gewohnheiten konfrontiert sehen. Mit diesen Zahlen werden auch Versprechen zur Prävention und Vorhersehbarkeit von Krankheiten einhergehen. Zahlreiche Tests und Präventivmaßnahmen werden sicherlich effektiv sein und die Lebensqualität vieler Menschen vermutlich verbessern. Andere wiederum mögen ausschließlich dazu
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beitragen, unsere Ängste und Sorgen zu verstärken und unser Risikobewusstsein weiter zu erhöhen. Wie auch immer unsere individuelle Zukunft aussehen mag, so müssen wir lernen, uns in diesem Regime der Vorhersage, in dem wir nunmehr leben, zurechtzufinden. Nicht zuletzt sollten wir uns dessen bewusst werden, dass die Anerkennung unserer eigenen Verletzlichkeit unser Leben durch authentischere Beziehungen zu anderen bereichern kann.
Literaturempfehlungen Aronowitz, Robert (2014): »From Skid Row to Main Street: The Bowery Series and the Transformation of Prostate Cancer, 1951-1966«, in: Bulletin of the History of Medicine, 88, S. 287-318. Gawande, Atul (2014): Being Mortal: Medicine and What Matters in the End. New York: Picador. Tolstoj, Leo N. (1913): Der Tod des Iwan Iljitsch. Dt. Bearb. v. Rudolf Kassner. Insel Verlag: Leipzig (Neuausgabe 2002). Wassersug, Richard (2016): »Getting your PSA checked is good for overall health«, in: Trends in Urology & Men’s Health, 7 (2), S. 15-16.
Anmerkungen 1 Wassersug, Richard (2016): »Getting your PSA checked is good for overall health«, in: Trends in Urology & Men’s Health, 7:2, S. 15-16. 2 Thompson, Charis (2005): Making parents. The ontological choreography of reproductive technologies. Cambridge: MIT Press; Lupton, Deborah (1999): Risk. London & New York: Routledge. 3 Timmermans, Stefan & Buchbinder, Mara (2011): »Newborn screening and maternal diagnosis: Rethinking family benefit«, in: Social Science & Medicine, 73:7, S. 1014-1018. 4 Gillespie, Chris (2012): »The experience of risk as ›measured vulnerability‹: health screening and lay uses of numerical risk«, in: Sociology of Health & Illness, 34, S. 194207. 5 Walter White, auf den Stiller hier Bezug nimmt, ist eine der Hauptfiguren in der Fernsehserie »Breaking Bad«. Zu Stillers Text in Cancer Moonshot, siehe https:// medium.com/cancer-moonshot/the-prostate-cancer-test-that-saved-my-life613feb3f7c00.
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Kapitel 6 Ein Gefühl für Daten Screening- und Forschungspraktiken rund um Prostatakrebs mit (Für-)Sorge und Aufmerksamkeit 1,2
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Wurde bei Ihnen oder jemandem, der Ihnen nahesteht, ein erhöhtes Risiko für Prostatakrebs diagnostiziert? Haben Sie sich bereits einer Biopsie unterzogen? Oder stehen Sie kurz davor? Hadern Sie damit, was in dieser unsicheren Situation am sinnvollsten ist und was Sie und die Ihnen Lieben nun tun sollen? Screenen oder nicht screenen? Möchten Sie einmal schauen, was »auf der anderen Seite« passiert, d.h. während und nach Ihrem direkten Kontakt mit den verschiedenen medizinischen Fachkräften, die im Bereich des Prostatakrebs-Screenings tätig sind? In diesem Kapitel möchte ich mit Ihnen Eindrücke und Einsichten teilen, die ich während einer Forschungsstudie in den Niederlanden und Schweden über Praktiken der Gesundheitsfürsorge im Bereich des Prostatascreenings gewonnen habe.3 Dabei habe ich buchstäblich einen Blick hinter »den Bildschirm« geworfen und mich auf Momente konzentriert, die normalerweise weniger Beachtung finden. Als Mensch, der dem Feminismus verbunden ist, kultiviere ich eine Aufmerksamkeit dafür, was vernachlässigt und nicht beachtet wird. Diese Aufmerksamkeit für das/die Vernachlässigte/n ermöglicht es mir, eine Offenheit zu bewahren, eine bestimmte Situation in einen anderen Zusammenhang zu bringen und dementsprechend auch an-
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ders zu handeln. In diesem Sinne hoffe ich, dass Sie dieses Kapitel als Einladung lesen, offen zu bleiben für Momente der (Für-)Sorge in Situationen, wo Sie es am wenigsten erwarten; und dass es eine Einladung ist, den Mut zu haben, sich gemeinsam mit jenen, die sie in diesem Prozess begleiten und betreuen, mit dem in Beziehung setzen, was für sie in dieser Situation am wichtigsten ist – ohne genau zu wissen, was das alles mit sich bringen wird. Diese Aufgeschlossenheit, so hoffe ich, wird letztendlich zu dem Verständnis führen, dass eine Herausforderung wie z.B. ein erhöhtes Risiko für Prostatakrebs nie eine einsame, individuelle Angelegenheit ist, sondern von Anfang an – ob sie es nun wollen oder nicht – auch andere Menschen, Technologien und Dinge involviert sind, sichtbar oder unsichtbar, und dass es wichtig ist und eine gewisse Verantwortung darin liegt, in welchen Zusammenhang wir sie bringen und in welche Beziehung wir uns dazu setzen.
Warum ich das tue, weiß ich nicht … Ich begann meine ethnographischen Reisen zur Erforschung von Prostatakrebs-Screening-Praktiken mit zwei Weggefährten im Gepäck – zwei Begriffen, die meiner Meinung nach auch für Sie bei Unternehmungen jeglicher Art wertvoll sein können: »unsichtbare Arbeit« und »beunruhigende Verwunderung«.4 Lassen Sie mich zunächst erläutern, was ich mit unsichtbarer Arbeit meine. Unsichtbare Arbeit ist nicht wirklich unsichtbar; vielmehr geht es bei diesem Begriff darum, den Tätigkeiten und Sachen Aufmerksamkeit zu schenken, die (absichtlich) vernachlässigt oder übersehen werden. Sobald wir unsere Aufmerksamkeit auf Tätigkeiten und Sachen richten, die unserem Blick normalerweise entgehen, eröffnet sich uns eine völlig neue Welt – neu, weil es uns erlaubt, Dinge in einen anderen Zusammenhang zu bringen, und dies wiederum ermöglicht es uns, mit einer Situation anders umzugehen und anders zu handeln. Diese Art der ›Bezugsverschiebung‹ ist nicht neu, wir haben sie – das mag Ihnen längst bekannt oder aber vollkommen neu sein – u.a. dem Feminismus zu verdan-
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ken. Es waren und sind Feministinnen und Feministen, die sich unermüdlich für die Anerkennung von, d.h. für einen anderen Bezug zu Hausarbeit, Kochen, Putzen, Kinderbetreuung, Erziehung, Pf lege von kranken oder älteren Familienmitgliedern eingesetzt haben und noch immer dafür einsetzen – Tätigkeiten, die in vielen Teilen der Welt weiterhin unterschätzt und nicht gebührend gewürdigt und immer noch überwiegend von Frauen übernommen werden. Ausgehend von diesen unterschätzten, sehr praktischen Versor-gungs-, aber auch Instandhaltungs- und Wiederherstellungstätigkeiten in Familie und Gesellschaft im weitesten Sinne, von denen wir alle abhängig sind, hat María Puig de la Bellacasa die Bedeutung des Begriffs der »(Für-)Sorge« (care)5 erweitert. Sie stellt »Sachen der (Für-)Sorge« (matters of care)6 als Begriff vor, um die Möglichkeiten, Wechselwirkungen und Verantwortlichkeiten von und für Dinge, Technologien, Situationen, Menschen usw. zu beschreiben, die »(für-) sorgendere Beziehungen hervorbringen«.7 Der Begriff »beunruhigende Verwunderung«8 liefert in diesem Zusammenhang meines Erachtens mögliche Anhaltspunkte, an denen wir ansetzen können, um (für-)sorgendere Beziehungen hervorzubringen. Beunruhigende Verwunderung beschreibt f lüchtige, subtile Unterbrechungen in unseren stetigen Bemühungen, eine erlebte Situation zu erfassen und zu analysieren; Unterbrechungen, die wir normalerweise nicht beachten. Es handelt sich um Momente, die unmittelbares, häufig körperlich spürbares Unbehagen hervorrufen und die ich auch im Rahmen der Feldarbeit und des Forschens erfahre. Sie sind Teil eines Wissens, das nicht analytisch und schlussfolgernd ist, sondern eher irgendwo zwischen »beschreiben, analysieren, sich vorstellen« liegt. Ein solches Wissen zeigt sich, wenn man (noch) nicht recht eingeordnet hat, warum etwas verwunderlich ist und einem Unbehagen bereitet. Aber inwiefern mag das alles nun auch für Sie interessant sein? Um dies zu erklären, möchte ich ein paar Situationen schildern, denen ich während meiner ethnographischen Beobachtungen im Rahmen einer Forschungsstudie zum Prostatakrebs-Screening beiwohnen durfte.
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Wir befinden uns in Patrizias Büro. Patrizia ist die Projektleiterin einer großen Studie zum Prostatakrebs-Screening. Carola, eines der beiden Projektmitglieder, die für die Eingabe der Daten dieser Studie verantwortlich sind, durchsucht die Ordner in den Büroschränken aus Stahl. Carola hat von Patrizia eine Liste mit den Codes von Männern erhalten, deren Behandlungsverlauf sie verfolgen soll. Dies tut sie je nachdem, wo die Männer registriert sind und behandelt werden, entweder im Informationssystem des Krankenhauses, an dem sie selbst angestellt ist, oder in den Systemen der jeweils anderen zuständigen Krankenhäuser. Dazu muss Carola gegebenenfalls die entsprechenden Krankenhäuser aufsuchen und deren Archive durchkämmen. Manchmal bekommt sie Hilfe vor Ort – einige Krankenhäuser haben noch Krankenakten aus Papier, andere haben längst alles digitalisiert. Carola hat stets auch noch eine eigene Liste mit den Namen und Codes der Männer dabei – zusätzlich zu der Liste, die sie von Patrizia erhält. Auf ihrer eigenen Liste fügt sie handschriftlich vor Ort die für ihre Screening-Studie relevanten Daten ein. Sobald sie zurück im Büro ist, gibt sie die Daten in ihre Datenbank ein. Carola zeigt mir ein Beispiel: ein Mann, bei dem 2008 Prostatakrebs diagnostiziert wurde. Das Forschungsteam der Screeningstudie verfolgte seine regelmäßigen Nachuntersuchungen bis zu seinem Tod; gewissermaßen sogar noch darüber hinaus, da man auch die Todesursache untersuchte, um abzuklären, ob er an den Folgen seines Prostatakarzinoms gestorben war oder an etwas anderem. Um den Krankheitsverlauf der Teilnehmer an der Studie zu verfolgen, schaut Carola alle sechs Monate nach dem PSA-Wert (dieser wird mittels Bluttest bestimmt) sowie nach Informationen zum Urinierungsmuster der Männer (Leiden sie unter Inkontinenz? Nimmt das Wasserlassen viel Zeit in Anspruch? Sonstige Anmerkungen hinsichtlich des Urinierens?). All diese Werte und Befunde hält sie handschriftlich auf ihrer Notizliste fest, während sie von einem Krankenhausarchiv zum nächsten reist –
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ausgestattet mit einem blauen Rollkoffer voll mit Datenakten ihrer Studie, die sie zu den Krankenhäusern mit- und wieder zurücknimmt. Wir gehen zurück zu Carolas Büro, wo wir vom Klick-Klack-Klick-Klack zweier ihrer Kolleginnen, die eifrig die Tastatur ihrer Computer bearbeiten, willkommen geheißen werden. Carola erklärt mir: »Es ist so komplex … Und so viel Schreibarbeit … Und so viel Papier … So viele verschiedene Formulare, Listen … Wir haben äußerst viele Ordner und Ablagen zum [Organisieren der Kodierungsarbeit] … Es geht von einem Ordner zum nächsten Ordner … Von einer Ablage in die nächste. Häufig fehlt es mir an Zeit und Konzentration, das alles vor Ort im Krankenhaus zu erledigen, daher die Notizliste … Aber naja – eigentlich ist es auch ganz schön … ab und zu unterwegs zu sein.« Carola weist auf den Bildschirm vor sich: »Ja, also das ist die Datenbank. Und das sind alles Codes … Und all diese Codes haben eine Bedeutung. 2 bedeutet zum Beispiel, dass der Mann einer Strahlentherapie unterzogen wurde; 1 bedeutet, dass er operiert wurde; 3 entspricht einer abwartenden Behandlung; und 4 bedeutet ebenfalls, dass er irgendeiner Operation unterzogen wurde […] Das mache ich nie allzu lange, weil es ziemlich langweilig ist … Was für ein Durcheinander hier – all diese Papierstapel … Sieh mal, dieser Mann, den [seine Daten] werde ich nun überprüfen. Das ist Nummer 17645 … Es ist Herr Schmidt … Ja, das stimmt … Er war zuletzt 2014 hier [im Krankenhaus, wo die Studie durchgeführt wird], und ich habe seine Behandlung bis 2014 nachverfolgt, glaube ich. So, dann weiß ich jetzt, dass er fertig [bearbeitet] ist. Und dann kommt er in diese Ablage. Ich schreibe einfach alles auf [die handschriftliche Notizliste] … Zuweilen muss ich mit dem Hausarzt der Männer Rücksprache halten und überprüfen, ob es dort irgendeine Nachuntersuchung gegeben hat. Wir versuchen, so viel wie möglich über diese Männer in Erfahrung zu bringen, bis sie sterben. Und wenn sie sterben, müssen wir alle Aufzeichnungen zusammentragen
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und ergänzen. Und dann beurteilen die Ärzte in einem Komitee, dem Komitee für Todesursachen [Cause of Death Committee, CDC], woran der Mann gestorben ist – ob er an den Folgen des Prostatakarzinoms gestorben ist oder an etwas völlig anderem; und das ist natürlich enorm wichtig für die großen Statistiken, und es wird ihnen helfen zu sehen, ob dieses Screening überhaupt sinnvoll ist oder nicht … Da wird dann auch alles anonymisiert, all diese Namen verschwinden; sie sind dann irrelevant. Dann ist die Privatsphäre wieder ein wenig hergestellt … Denn wir selbst arbeiten mit Namen, das ist nun einmal einfacher. Sie haben natürlich alle auch eine Nummer, aber einen Namen zu haben, macht das Ganze einfacher.« Nach einigen Eingaben in die Datenbank fährt Carola mit ihren Erläuterungen fort und weist auf den Bildschirm: »[…] C steht für die Männer der Kontrollgruppe [um sie von den Männern der Screeninggruppe zu unterscheiden]. 9 Das hier sind also alle Männer aus der Kontrollgruppe, die an Prostatakrebs erkrankt sind. Und hier habe ich jetzt all die Männer auf dieser Liste, die ich mitnehmen will [ins Krankenhaus zum Nachverfolgen]. Ich hab sie alle hier draufstehen. Anschließend gehe ich sie trotzdem noch mal für mich selbst alle am Computer durch. […] Ich gehe sie alle durch. Um zu schauen, ob sie noch leben. Das heißt, falls wir [unser System] das wissen. Warum ich das tue, weiß ich nicht. Aber ich finde es immer wichtig, dies zu tun. Vielleicht ist es nur meine Neugier. Schau mal, hier zum Beispiel«, sagt sie und zeigt auf ein kleines Foto, das in der oberen linken Ecke ihres Computerbildschirms neben anderen Notizen angezeigt wird, »da ist auch ein Foto. Wir haben nur von den Männern ein Foto, die in diesem Krankenhaus behandelt werden; das bedeutet also, dass man ihn hier kennt. Sieh mal, er ist noch im Oktober letzten Jahres hier auf der Kardiologiestation gewesen. Wenn es kein Foto gibt, dann kommen sie nicht [zur ärztlichen Behandlung oder zu Nachuntersuchungen] hierher.« Carola fährt fort: »[…] Dass ich alle Männer am Computer noch einmal durchgehe, [ehe ich ihre Akten mit zu dem jeweiligen Krankenhaus
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nehme, um nach den aktuellen Aufzeichnungen zu sehen], warum ich das mache, weiß ich wirklich nicht.« Petra, die zusammen mit Carola für die Datenbank zuständig ist, schaut von ihrem Arbeitsplatz gegenüber von Carola auf: »Was machst du?« Carola erklärt: »Ich gehe alle meine Teilnehmer [an der Screening-Studie] im System [dem digitalen, vom Krankenhaus entwickelten Informationssystem] durch. Um zu schauen, ob sie noch leben. Meist wissen sie es auch hier im Krankenhaus nicht … ob sie tot sind. Ja, und dieser Mann hier«, sagt sie und zeigt auf ihrem Bildschirm auf einen Datensatz mit Foto, »er ist von hier. Ich bin neugierig … Und jetzt kann ich sehen… Erst letztes Jahr wurde er beim Onkologen bestrahlt. Er hat eine wirklich schlimme Metastase. Das ist also, was wir jetzt schon einmal wissen. Dann hoffe ich einfach, dass es ihm gut geht.« »Wie alt ist er denn?« frage ich. Carola: »Er ist 74. Hier«, sie zeigt auf einen Link auf dem Bildschirm, »kann ich die eingescannten Briefe einsehen. Das sind die Briefe aus den anderen Krankenhäusern, die ich aufsuche. Was ich mich dann natürlich frage, ist: Muss er sich einer weiteren Strahlentherapie unterziehen, hat sie [die Metastase des Tumors] sich ausgebreitet? … Er muss unglaubliche Schmerzen in seinem Rücken haben«, sagt sie, während sie in dem digitalen Datensatz von einer Ansicht zur nächsten klickt und die eingescannten Briefe liest. »Ja. Der PSA-Wert steigt, das kann ich jetzt schon sehen [beim Überfliegen der Aufzeichnungen auf dem Bildschirm]. Und dann werde ich hier [im Krankenhaus, wo seine Nachuntersuchung erfolgt] natürlich genauer nachsehen.« Mittlerweile geht sie bereits die Aufzeichnungen des nächsten Mannes durch.
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»Und was ist mit ihm?«, frage ich. Carola erklärt: »Das ist auch eine lange Geschichte. Er hat schrecklich viel durchgemacht … Er ist Diabetes-Patient … Er hatte eine Gehirnblutung und ist bereits 81, am Magen operiert und hat eine anomische Nebenniere … [Carola seufzt.] … und seine Aortenklappe funktioniert nicht mehr. Gott! Oh Gott! Was für Schmerzen das sein müssen! Es ist schon großartig, dass man heutzutage so alt wird, aber wenn man sieht, wie die Menschen verfallen … Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob es von Vorteil ist, dass man heutzutage 100 Jahre alt werden kann. [Sie lächelt gequält.] Was meinst du? Meine Güte, und wenn man die Unmengen an Medikamenten sieht, die diese Menschen schlucken.« Lassen Sie uns hier nun etwas innehalten. Was geschieht hier? Was macht Carola da, wenn sie die Männer im Informationssystem des Krankenhauses durchgeht und nach jedem noch so kleinen Puzzleteil ihrer Krankengeschichte sucht, das sie finden kann? Für die Arbeit, die sie im Rahmen der Screeningstudie machen muss, ist das nicht notwendig. Hat es – abgesehen davon, ihrer eigenen Neugier nachzukommen – überhaupt einen Sinn, was sie da tut? Carola scheint das, was sie dazu bewegt, dies zu tun, selbst etwas verwunderlich zu finden. Sie weiß nicht recht, warum sie das tut – »vielleicht aus Neugier?«, fragt sie sich. Zugleich will sie es aber nicht nur auf reine Neugier beschränken und fügt hinzu, dass es ihr auch »immer sehr wichtig« sei, dies zu tun. In Carolas handschriftlichen Notizlisten, dem blauen Rollkoffer, den Papierstapeln, Akten und Ordnern, erkenne ich unmittelbar unsichtbare Arbeit: Arbeit, die nicht direkt berücksichtigt wird bei der Datenerhebung und -verarbeitung der Screening-Studie; Arbeit, die z.B. die selbstverständliche Eindeutigkeit von Daten unmittelbar herausfordern würde, sobald man sie mit berücksichtigte. Carolas Interesse und das Durchgehen der Männer am Computer geht allerdings darüber hinaus. Was mich an ihrem Nachforschen bewegt und verwundert, ist, dass auch ich – ähnlich wie Carola – das nicht als bloße
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Neugier einordnen will. Und dass ich dieses Zögern und Innehalten bei dieser Beobachtung wichtig finde. Warum, weiß ich (noch) nicht … Vielleicht wird alles etwas deutlicher, wenn Sie mich zu einer weiteren meiner Beobachtungen begleiten. Vielleicht unterscheidet sich die Art der (Für-)Sorge, die Carola hegt, einfach zu sehr von der, die ich bei den Prostatabiopsien, denen ich beiwohnen durfte, erlebt habe? Im Folgenden nehme ich Sie zu einer dieser Biopsien mit, die mithilfe einer Kombination von transrektalem Ultraschall (TRUS) und Magnetresonanztomographie (MRT) durchgeführt wurde. »Und hier … siehst du?« Peter, der Urologe, zeigt auf einen dunkleren Fleck auf dem Bildschirm. Der Bildschirm zeigt verschiedene Grautöne. Es sieht ein bisschen aus wie eine meteorologische Karte, auf der die Hoch- und Tieflagen des Wetters angezeigt werden. »Und hier … siehst du? … hat der Radiologe die Läsion markiert.« Mit Peters Hilfe kann ich tatsächlich einen dunkleren Bereich in dieser grauen Landschaft ausmachen. »Und hier … siehst du?« Peter fährt fort und lenkt meine Aufmerksamkeit auf den anderen Bildschirm. »Und hier … markiere ich es«, Peter erläutert, was er gerade tut, »… grenze es ab … siehst du?« Voll und ganz in seine Arbeit vertieft, betrachtet Peter den zweiten Bildschirm direkt neben dem Bildschirm mit dem Echo. »Zuerst frieren wir es ein … siehst du?« Peter tritt auf ein blaues Pedal und deutet auf den Bildschirm, der – einem Stillleben gleich – die Konturen der vergrößerten Prostata zeigt. Während Peter, der Urologe, mir in einfachen und klaren Worten erklärt, was er tut, verwickelt Martha, die assistierende Krankenschwester, den älteren Mann auf der Untersuchungsliege und seinen ihn begleitenden Sohn in ein Gespräch.
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Klick, klick, klick – macht es. »Erinnern Sie sich an dieses Geräusch?«, fragt Martha den älteren Mann. »Ja«, sagt er. Er liegt mit dem Rücken zu uns auf seiner linken Seite auf der Untersuchungsliege – ohne Hose und Unterhose, die Knie an die Brust gezogen, die grauen Socken noch an den Füßen. Der ältere Mann ist der einzige, der die Bildschirme nicht sehen kann, die wir anderen – Peter, Martha, ich und sein Sohn, der so vor ihm sitzt, dass Vater und Sohn einander anschauen können – alle sehen. »Das nur zur Vorbereitung … Damit Sie nicht erschrecken … wenn der Arzt beginnt …«, fügt Martha hinzu. Während Peter weiterhin konzentriert auf den Bildschirm schaut, führt er eine von Martha vorbereitete Nadelvorrichtung in das bereits im Enddarm des Mannes platzierte Instrument ein. »Siehst du … Ziel getroffen …«, sagt Peter, während seine Anspannung nachlässt, und zeigt auf dem Bildschirm auf eine Ansammlung gelber Bläschen in einem Areal der grüngerasterten Prostata, die von grünen, Mikado-ähnlichen Stäbchen penetriert sind. »Wir nennen ihn den Wilhelm Tell der Urologie«, meint Martha zum Sohn gewandt. »Es war nicht so schlimm wie beim letzten Mal …«, hören wir den Vater sagen, dessen Gesicht wir nicht sehen können. Wir sehen ihn von hinten, liegend, vor dem riesigen Fenster, dem grauen, nebligen Himmel, einer Skyline mit unfertigen Gebäuden, Kränen, dem Lärm der Bauarbeiten. »Sehen Sie?«, sagt Peter, der Urologe, und lächelt. Mich beeindrucken die Freundlichkeit und die Sorgfalt, mit der Peter seine Arbeit erledigt, ebenso wie sein freundliches Auftreten mir gegenüber. Auch gegenüber der Putzfrau, die wir kurz zuvor auf dem Weg zum Behandlungsraum getroffen haben, der assistierenden Krankenschwester und ihrer Praktikantin, ja, eigentlich allen gegenüber ist er sehr freundlich – zumindest während meiner Anwesenheit. Selbst einem ziemlich unfreundlichen, beinahe aggressiv wirkenden Mann gegenüber, der mit seiner Partnerin zur Biopsie erscheint, bleibt er aufrichtig freundlich.
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Während Peter den Ablauf der Biopsie erklärt, unterbricht dieser Mann ihn mit dem Ausruf »sinnloser Quatsch!« – »Wie meinen Sie das denn? Lassen Sie mich erklären, wie das alles funktioniert.« Peter steht auf und geht um die Untersuchungsliege herum auf die andere Seite, wo der Mann und seine Partnerin auf zwei schwarzen Lederstühlen sitzen. Peter zwängt sich die Fensterwand entlang an dem Paar vorbei bis hin zur linken Wand des kleinen, engen Behandlungsraums, an der eines der verschiedenen anatomischen Plakate hängt: eine farbige Zeichnung des männlichen Unterleibs, auf der Harnwege, Darm, Prostata usw. dargestellt sind. Peter zeigt auf das Plakat, erklärt die Physiologie der vergrößerten Prostata und was bei der aktuellen Untersuchung im Rahmen der Nachuntersuchung gemacht wird. »Sinnloser Quatsch, diese Biopsien«, wiederholt der Mann und wendet sich von Peter ab, ohne dessen immer noch freundliche Erklärungen zu beachten. Ich beschließe, den Behandlungsraum unter einem Vorwand zu verlassen. Es ist deutlich, dass sich der Mann unwohl und wortwörtlich in die Ecke gedrängt fühlt – in diesem kleinen, engen Raum befinden sich noch fünf weitere Personen, einschließlich seiner Partnerin. Indem ich den Raum verlasse, hoffe ich, der Situation zumindest etwas von ihrer Befangenheit zu nehmen. Ich betrete den Raum wieder, nachdem ich gesehen habe, wie der Mann und seine Partnerin den Raum verlassen haben. »Dieser Patient war … sagen wir mal, nicht gerade freundlich«, meint Peter und setzt sich an den Computer, über den er auf die medizinischen Befunde seiner Patienten und die MRT-Dateien des Krankenhauses zugreifen kann. Peter tippt weiter, während er spricht. »Obwohl die Biopsie im Vergleich zu den vorherigen [heute] deutlich weniger kompliziert war; das verdächtige Areal war günstiger gelegen, sodass ich es mithilfe der überlappenden MRT leichter mittels Ultraschall anvisieren konnte.« Martha, die assistierende Krankenschwester, fügt hinzu: »Er war sehr unfreundlich. Er hat die Wichtigkeit und Bedeutung dieser Untersuchung nicht verstanden. Natürlich ist es eine sehr peinliche und un-
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angenehme Untersuchung, für jeden und alle Beteiligten. Aber wir tun unser Bestes, um der Situation das Peinliche und Unbehagliche zu nehmen. Er versteht nicht, dass diese peinliche und unangenehme Untersuchung nur zu seinem Besten ist; er hat sich so verhalten, als ob wir gegen ihn wären.« Sowohl Martha als auch Peter scheinen etwas verwirrt. Peter fährt mit seinen Aufzeichnungen am Computer fort. Später erfahre ich, dass dieser ungehaltene Mann vor der heutigen Biopsie bereits drei gehabt hatte, allerdings bislang kein Tumor gefunden worden war; und das, obwohl sein PSA-Wert weiterhin relativ hoch und seine Prostata deutlich vergrößert ist. All dies sind Kriterien, die Ärzte so wie Peter dazu veranlassen, die Prostata und das umgebende Gewebe mittels Biopsie gründlicher zu untersuchen. Lassen Sie uns auch hier bei dieser Situation etwas innehalten. Peter und Martha scheinen – im Gegensatz zu Carola – genau zu wissen, warum sie das tun, was sie tun. Ich bin beeindruckt, wie viel sorgfältige Aufmerksamkeit die Bildschirme von Peter bekommen. Peter leistet delikate Präzisionsarbeit: Die Nadel bei der Biopsie korrekt zu positionieren und das betreffende Areal anzuvisieren, erfordert viel Fingerspitzengefühl. Daher ist es zweifellos wichtig, dass Peter diesem heiklen Manöver auf den Bildschirmen seine volle Aufmerksamkeit schenkt. Und da ist auch diese aufrichtige Freundlichkeit, die Peter selbst gegenüber Menschen bewahrt, die widersprechen und ihre Teilnahme verweigern – wie z.B. dem ungehaltenen Mann aus der oben beschriebenen Situation gegenüber. Peter nimmt sich die Zeit, um ihnen geduldig und freundlich zu erklären, dass der Eingriff nur zu ihrem Besten ist. Was ist es nur, was mich hier an dieser Situation beunruhigt und verwundert? Wie kommt es, dass ich ob so viel offensichtlicher Sorgfalt und Freundlichkeit eher stark beunruhigende Verwunderung erfahre?
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Warum es sinnvoll sein kann, bei (beunruhigender) Verwunderung innezuhalten Carola weicht bewusst von dem ab, was sie eigentlich tun soll. Sie hält inne in ihrem normalen Tun und lässt sich bewegen, aus spontaner Neugier für den Menschen hinter diesen ganzen Daten, die sie sammelt und in die Datenbank einspeist. Die Zeit, um das zu tun, geht auf Kosten dessen, was sie eigentlich tun sollte, und erfordert eine aktive ›Bezugsverschiebung‹. Sie nimmt sich die Zeit, Empathie für die Männer und ihre individuelle Leidensgeschichte zu fühlen, zumindest soweit sie diese über die gesammelten Daten nachvollziehen kann. Warum sie das alles tut, weiß sie nicht. Es bringt ihr auch nichts weiter als ein Gefühl für einige, überwiegend schmerzhafte Momente im Leben dieser Männer. Aber sie findet es immer wichtig, diesem Bewegt-Sein zu folgen. Ihre (Für-)Sorge und Aufmerksamkeit ist einerseits eng mit den bloßen Daten der medizinischen Befunde verwoben, ermöglicht es ihr andererseits aber auch, einen anderen Bezug zu den Männern herzustellen. Interessanterweise sind es just diese digitalen Informationsinfrastrukturen der Krankenhäuser, die es erst möglich machen, sich bewegen zu lassen und etwas zu tun, von dem sie nicht weiß, warum sie es tut. Diese Infrastrukturen umfassen dabei nicht nur das Durchgehen der Codes am Computer, sondern auch das Herumreisen mit einem blauen Koffer voller Ordner. Durch dieses umfangreiche Arrangement materieller, digitaler Kleinigkeiten und ihrer losen Verbindungen untereinander ist sie also überhaupt erst in der Lage, etwas zu tun, was gar nicht von ihr verlangt wird: die Männer auf andere Art und Weise zu suchen und anders für sie zu sorgen. Inwiefern unterscheiden sich die (Für-)Sorgepraktiken Carolas von Peters und Marthas und der aufrichtigen Freundlichkeit, die Peter allen entgegenbringt? Und wie kommt es, dass Peters und Marthas (Für-) Sorgepraktiken mich mit dieser beunruhigenden Verwunderung zurücklassen? Und warum, um Himmels willen, soll das alles auch für Sie interessant sein?
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Peter und Martha machen im Grunde das, was von ihnen erwartet wird, und wenn sie in der Begegnung mit den Männern (und/oder deren Partnern bzw. Familien) auf Widerstand in Form von offen ausgedrückter Frustration, Fragen oder Zweifeln stoßen, begegnen sie ihnen mit der nahezu stoischen und ruhigen Freundlichkeit derer, die wissen, was zu tun ist – selbst wenn es schmerzlich und unangenehm sein mag. Die unerschütterliche Freundlichkeit macht es diesen Männern schwerer, mit der Situation und den damit verbundenen Emotionen umzugehen. Zugleich erschwert sie es aber auch Peter und Martha, den Männern eine andere Art der (Für-)Sorge und Aufmerksamkeit entgegenzubringen: Das, was als gute Standardversorgung gilt, scheint durch nichts zu erschüttern, und die Möglichkeit »sinnloser Biopsien« ist darin schlichtweg nicht vorgesehen. Diese Art und Weise der (Für-)Sorge und Aufmerksamkeit lässt also keinen Raum, um die Unsicherheit und Wut des verärgerten Mannes in der oben geschilderten Situation als etwas anderes als eine individuelle Reaktion einzuordnen – und dazu anders Bezug zu nehmen und die (Für-)Sorge entsprechend zu verändern. Die beunruhigende Verwunderung ob solcher Situationen anzuerkennen und nicht abzutun, erlaubt es mir, diese Momente in einen anderen Zusammenhang zu bringen. Dies erlaubt es mir auch, zu versuchen, auf Möglichkeiten zu deuten, die sich zwischen den scheinbar festen und nicht zu erschütternden Standards in solchen Situationen zeigen, auch wenn ich noch nicht weiß, wie genau. Nicht zuletzt hilft es mir auch zu verstehen, dass (Für-)Sorge und Aufmerksamkeit z.B. weniger oder nicht nur mit offensichtlicher, individueller Freundlichkeit gleichzusetzen sind, dafür aber sehr wohl auch in etwas zum Ausdruck kommen können, das auf den ersten Blick vielleicht gar nicht fürsorglich, sondern reine Neugier zu sein scheint. Die Anerkennung von beunruhigender Verwunderung erlaubt es mir dann auch zu verstehen, dass Situationen wie jene mit Peter und Martha unserer herkömmlichen Auffassung von (Für-)Sorge im Kontext der Gesundheitsfürsorge zwar sehr nahe sind, aber diese üblichen Praktiken keinen Raum für Dinge lassen, die nicht in das vorgegebene Konzept passen.
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Ebenso kann ich, wenn ich bei der Verwunderung innehalte, zu dem Tun Carolas, das im ersten Moment unnütz und unangenehm voyeuristisch wirken mag, einen anderen Bezug herstellen; einen Bezug, der einen Spielraum eröffnet für konkrete, wenngleich zunächst möglicherweise sinnlos erscheinende Anknüpfungs- und Handlungsmöglichkeiten für eine andere Art der (Für-)Sorge. Halten wir in solchen Momenten der beunruhigenden Verwunderung inne, so können wir das physisch wahrgenommene Unbehagen, das bewegt, als Chance nutzen, »uns den Fragen im Hier und Jetzt zu widmen«, wie Helen Verran sagen würde (siehe Anm. 4). Problemen und Situationen kann man nicht einfach so entkommen. Eine ›Bezugsverschiebung‹ – d.h. den Fokus unserer Aufmerksamkeit zu verändern – eröffnet uns allerdings die Möglichkeit, diese Probleme und Situationen anders in Beziehung zu setzen und letztendlich in (vor-)gegebenen Situationen und (vor-)gegebenen Umständen anders zu handeln (als vorgegeben und erwartet). Susan Leigh Star zufolge trotzt diese Wertschätzung all dessen, was normalerweise vernachlässigt wird, einer Loslösung von unseren alltäglichen Erfahrungen, Gefühlen und Verpf lichtungen, sodass wir das empfindliche Abwägen zwischen dem, was vorgegeben und üblich erscheint, und dem, was wir im Hier und Jetzt unmittelbar erfahren, immer wieder aufs Neue ausloten können. Das Berücksichtigen solcher (Bezugs-)Zwischenräume in schwierigen Momenten, aber auch in alltäglichen, profanen Situationen erinnert mich an eine Praxis, die Hannah Arendt als Selbstdenken bezeichnet. Ein Denken also, das sich nicht als Wissen manifestiert, sondern als eine Fähigkeit mitzuteilen, was als ›recht oder unrecht‹ erfahren wird. Selbstdenken macht laut Arendt unkritische Selbstunterwerfung unter vorgegebene Regeln unmöglich, indem es eine Achtsamkeit hegt, ›sich‹ in einer bestimmten Situation immer ›in Beziehung zu setzen‹. Mich erinnert Selbstdenken auch daran, dass eine solche Praxis primär auf Beziehungen, auf diesen (Bezugs-)Zwischenräumen fußt und nicht etwa auf losgelösten Individuen: Es bedarf sowohl der Informationssysteme von Krankenhäusern als auch der Materialität des lebendigen eigenen Körpers und anderer, um etwas mitteilen zu kön-
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nen, was als wichtig empfunden wird; d.h. Selbstdenken steht immer in Beziehung zu einer bestimmten, konkret erfahrenen Umgebung; sie bedingen sich gegenseitig und sind voneinander abhängig. Eine Veränderung oder ein Problem liegt also nie nur in meinen eigenen oder den Händen eines anderen, beginnt aber bei meinem und des anderen ›Sich-in-Beziehung-Setzen‹. In diesem Sinne wird dieses Kapitel Sie hoffentlich ermutigen, die (medizinischen) Ratschläge, die Sie im Verlauf Ihrer Behandlung erhalten, auch weiterhin ernsthaft zu berücksichtigen, allerdings auch stets in Bezug darauf zu sehen, wie Sie eine spezifische Situation erfahren; und diesen Bezug stellen wir letztendlich niemals alleine her. Diese Art des ›Sich-in-Beziehung-Setzens‹ – Selbstdenken – geschieht immer bereits in Bezug zu und zusammen mit etwas und/oder jemandem (Menschen, Dingen etc.). Dieses Kapitel ist daher eine Einladung an alle Beteiligten in einer Situation gleichermaßen, Erfahrungen von Wut und Frustration – wie im Falle des verärgerten Mannes in der oben geschilderten Situation – nicht nur Raum zu geben, indem man sie individualisiert à la »Ach, der oder die versteht einfach nicht, dass dies oder jenes das Beste für ihn/sie ist … Wir müssen es ihm/ihr besser erklären … Bzw. er/sie muss sich ändern.« Es ist vielmehr eine Einladung, die eigenen Erfahrungen in einer Situation »in Beziehung zu setzen« zu den Erfahrungen anderer – ganz gleich, ob es nun Unruhe, Befremden, Ärger, Wut, Zorn, Frustration oder auch Glück, Freude sein mögen. In dieser erweiterten Aufmerksamkeit, erweitert auf die Dynamik all dieser miteinander in Beziehung stehenden Sachen – auch der vernachlässigten –, eröffnet sich die Möglichkeit, (vor-)gegebene Umstände in einen anderen Zusammenhang zu bringen; und damit immer wieder aufs Neue auszuloten, was (für-)sorgend wirkt.
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Literaturempfehlungen Zur unsichtbaren Arbeit Star, Susan Leigh (1991): »The Sociology of the Invisible: The Primacy of Work in the Writings of Anselm Strauss«, in: Maines, David R. (Hg.): Social Organization and Social Process: Essays in Honor of Anselm Strauss. Hawthorne: Aldine de Gruyter. Star, Susan Leigh & Strauss, Anselm (1999): »Layers of Silence, Arenas of Voice: The Ecology of Visible and Invisible Work«, in: Computer Supported Cooperative Work, 8, S. 9-30.
Zur beunruhigenden Verwunderung Verran, Helen (1999): »Staying True to the Laughter in Nigerian Classrooms«, in: Law, John & Hassard, John (Hg.): Actor Network Theory and Af ter. Oxford & Malden: Blackwell Publishers, S. 136-155.
Zur (Für-)Sorge und dem/den Vernachlässigten Puig de la Bellacasa, María (2011): »Matters of Care in Technoscience: Assembling Neglected Things«, in: Social Studies of Science, 41(1), S. 85-106. Puig de la Bellacasa, María (2017): Matters of Care: Speculative Ethics in More Than Human Worlds. Minneapolis & London: University of Minnesota Press.
Anmerkungen 1 Die Inspiration zum Titel dieses Kapitels entstammt dem 2013 veröffentlichten Buch von Evelyn Fox Keller (Jahr): A Feeling for the Organism: The Life and Work of Barbara McClintock. New York: Henry Holt and Company. 2 In diesem Zusammenhang schlage ich »mit (Für-)Sorge und Aufmerksamkeit« für die Übersetzung von »with care« aus dem englischen Original vor. In einem 2017 herausgegebenen Band – »Ökologien der Sorge« – wird »care« schlicht mit Sorge übersetzt [https://transversal.at/media/pdf/oekologiendersorge.pdf]. Obwohl eine klare Entscheidung für den Begriff Sorge Deutlichkeit schafft, scheint mir »Sorge« als Begriff dazu zu neigen, die Bedeutungsfelder von »care« anders zu betonen, als ich es aus der »care« Literatur kenne. »Care« steht in diesen Arbeiten für eine Reihe
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von Begriffen, deren Bedeutungen alle mitoszillieren: Fürsorge, Versorgen, Instandhalten, Wiederherstellen, Aufmerksamkeit, Sorgfalt, Betreuung, Pflege, Obhut, Sorge, Zuwendung, Achtsamkeit, Umsicht. Diese Liste von Begriffen ist bei weitem nicht erschöpfend. 3 Aus Gründen der Vertraulichkeit sind sowohl die Mitarbeiter als auch die Teilnehmer an der Studie anonym und es wurden andere Daten und Personennamen als die tatsächlichen Daten und Namen verwendet. 4 Siehe z.B. Star, Susan Leigh (1991): »The Sociology of the Invisible: The Primacy of Work in the Writings of Anselm Strauss«, in: Maines, David R. (Hg.): Social Organization and Social Process: Essays in Honor of Anselm Strauss. Hawthorne: Aldine de Gruyter, S. 265-283; Verran, Helen (1999): »Staying True to the Laughter in Nigerian Classrooms«, in: Law, John & Hassard, John (Hg.): Actor Network Theory and After. Oxford & Malden: Blackwell Publishers, S. 136-155. 5 Siehe Anmerkung 2 für die Bandbreite an Bedeutungen, die der Begriff »care« umfasst. 6 In diesem Zusammenhang schlage ich »Sachen der (Für-)Sorge« als Übersetzung für »matters of care« vor. »Matter« steht ähnlich wie »care« für eine Reihe von Begriffen, deren Bedeutungen bei einer Übersetzung alle mitoszillieren: Angelegenheit, Sache, Gegenstand, Thema, Material, Belang, Masse, Körper. Diese Liste von Begriffen ist bei weitem nicht erschöpfend. Der Begriff »matters of care« betont vor allem die materielle Dimension von »care«. 7 Siehe z.B. Puig de la Bellacasa, María (2017): Matters of Care: Speculative Ethics in More Than Human Worlds. Minneapolis & London: University of Minnesota Press. 8 »Disconcertment« steht ähnlich wie »care« und »matter« für eine Reihe von Begriffen, deren Bedeutungen bei einer Übersetzung alle mitoszillieren: Aufregung, Beunruhigung, Unruhe, Verwirrung, Befremden. Ich schlage die Kombination »beunruhigende Verwunderung« für die Übersetzung von »disconcertment« vor; eine Verwunderung also, die durch Beunruhigung bewegt. 9 Carola und Petra bezeichnen die Männer, die an einer randomisierten Studie zum Screening von Prostatakrebs teilnehmen, als »screener men« und unterscheiden sie so von den »control men«, der Kontrollgruppe dieser Studie.
Kapitel 7 Ein potenzielles Problem Zur Maskulinität und Behandlung bei Prostatakrebs Jelmer Brüggemann The Mojo – im Blues heißt es immer, im Mojo liege die Kraft; Männlichkeit, das ist Orgasmus und Erektion. […] Aber da hängt so viel Identität mit dran, das zu verlieren. (Aus einem Forschungsinterview mit einem Mann, der wegen Prostatakrebs behandelt wurde.) Krebs wird häufig mit Tod, Leiden und schmerzhaften Behandlungen assoziiert. Bei Prostatakrebs ist es nicht anders. Viele der Schilderungen betroffener Männer sind geprägt von schockierenden Bescheiden, schmerzhaften Biopsien, therapeutischen Nebenwirkungen und Gedanken an den Tod. In den Medien wird Prostatakrebs allerdings überwiegend als Krankheit präsentiert, die mit Einschränkungen im Sexualleben oder Inkontinenz einhergehen kann und somit die Männlichkeit, die Maskulinität bedroht. Dieses Kapitel widmet sich den Zusammenhängen von Prostatakrebs und Maskulinität. Unter anderem möchte ich aufzeigen, dass diese Zusammenhänge gesellschaftlichen Ursprungs und bei weitem nicht selbstverständlich sind, auch wenn sie zunächst unausweichlich erscheinen mögen.
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Medizinische Perspektive In diesem Text soll es nicht um das medizinische Verständnis von Prostatakrebs gehen, denn als Sozialwissenschaftler kann ich dazu nicht viel beitragen. Um Prostatakrebs als gesellschaftliches Phänomen mit starken Verbindungen zur Maskulinität verstehen zu können, soll ein kurzer Einblick in die medizinischen Aspekte dieser Krebserkrankung und die Behandlungsmöglichkeiten im schwedischen Kontext gegeben werden. Rund 10 000 Männer in Schweden werden jährlich mit einem Prostatakarzinom diagnostiziert. Damit ist Prostatakrebs die häufigste Krebserkrankung bei Männern.1 Viele Männer erhalten die Diagnose im Zusammenhang mit einer Routineuntersuchung, nicht selten sogar, ohne vorher körperliche Symptome wahrgenommen zu haben. Ist der Wert des sogenannten PSA-Tests, einer Routineuntersuchung zur Bestimmung des PSA-Spiegels im Blut (PSA = prostataspezifisches Antigen) erhöht, so kann dies auf einen Tumor in der Prostata hinweisen. Der PSA-Test ist als Biomarker für Krebs umstritten, was vor allem darauf beruht, dass ein erhöhter Wert nicht unbedingt in ursächlichem Zusammenhang mit einer Krebserkrankung stehen muss (siehe z.B. das Kapitel von Oscar Javier Maldonado Castañedas in diesem Buch), und es wird nach anderen, besseren Biomarkern geforscht. Das Ergebnis des PSA-Tests kann damit nur als Indiz, nicht aber als Nachweis dienen; zur Bestätigung der Diagnose müssen im Anschluss eine Ultraschalluntersuchung und eine Biopsie (Entnahme einer Gewebeprobe) erfolgen. Allein anhand der Gewebeprobe kann ermittelt werden, ob ein Prostatakarzinom vorliegt und wie weit die Erkrankung fortgeschritten ist. Zur Therapie bei Prostatakrebs existieren mehrere Behandlungsalternativen. Welche im individuellen Fall geeignet ist, hängt unter anderem von der Lage des Tumors, seiner Aggressivität sowie von Alter, Konstitution und individuellen Behandlungswünschen des Patienten ab.2 Bei einem Prostatakrebs mit niedrigem Risiko kann sich der Patient in Rücksprache mit dem Arzt für eine abwartende Behand-
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lung mit regelmäßigen Kontrolluntersuchungen entscheiden. Bei aggressiven Tumoren erfolgt normalerweise eine chirurgische Entfernung der Prostata oder eine Strahlentherapie. Auch wenn Operation und Bestrahlung grundlegend verschiedene Therapievarianten sind, rufen sie überwiegend ähnliche Nebenwirkungen hervor. Dies liegt unter anderem daran, dass die Prostata die Harnröhre umschließt und rund um die Drüse diverse an der Erektion beteiligte Nerven verlaufen. Übliche Nebenwirkungen der Behandlung von Prostatakrebs sind daher Erektionsprobleme, kürzere oder schmerzhafte Orgasmen, eine Verkürzung des Penis (infolge einer Operation), Harnträufeln, Harninkontinenz und eine Beeinträchtigung der Libido. Fortschritte im medizinischen Bereich wie verfeinerte Operationsmethoden, neue Arzneimittel zur Potenzsteigerung und verschiedene Maßnahmen zur Behandlung von Harninkontinenz haben dazu geführt, dass zahlreiche Nebenwirkungen mittlerweile besser handhabbar sind.
Perspektive des Mannes Was bedeutet es, männlich zu sein? Oder dass ein bestimmtes Verhalten als männlich betrachtet wird? Die Soziologie definiert den Begriff der Männlichkeit oder Maskulinität als ein Konstrukt aus verschiedenen Normen und Idealen in einer bestimmten Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt. Derartige Normen können sich auf Körperbau und äußerliche Erscheinung, den Umgang mit Emotionen, spezielle Fähigkeiten, Entscheidungen oder das Verhalten gegenüber anderen beziehen. Die Definition von Männlichkeit ist demnach einem historischen und kulturellen Wandel unterworfen. Sie variiert aber nicht nur zwischen verschiedenen Kulturkreisen weltweit, sondern auch zwischen den verschiedenen Subkulturen einer Gesellschaft. So können etwa an verschiedenen Arbeitsplätzen innerhalb Schwedens unterschiedliche Maskulinitätsnormen herrschen. Das bedeutet nicht, dass alle diesen Normen auch entsprechen oder diese überhaupt akzeptieren, sondern dass häufig dominante Maskulinitätsnormen existieren,
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die eine so starke Position einnehmen, dass jeder in dieser Kultur gezwungen ist, sich auf selbige zu beziehen. In der heutigen westlichen Gesellschaft ist die dominante Maskulinität gleichbedeutend mit der Kontrolle über den eigenen Körper und das eigene Leben, aber auch über die Körper und Leben anderer.3 Die Gesellschaftsstruktur spiegelt (unter anderem anhand der Verteilung von Ressourcen und Positionen) beispielhaft wider, welche Macht die dominante Maskulinität hat und wie sie die Beziehungen zwischen Menschen – zwischen Frauen und Männern, aber auch zwischen Männern untereinander – bestimmt. Die heutigen dominanten Männlichkeitsideale sind zudem eng mit der Sexualität, der Fähigkeit zu Geschlechtsverkehr, Orgasmus, Ejakulation und Kontinenz verknüpft (für weitere Beispiele heutiger Ideale siehe Ericka Johnsons Kapitel, für eine historische Perspektive siehe das Kapitel von Maria Björkman und Alma Persson). Oftmals ist es schwierig zu erkennen, wie wir uns bei unseren Entscheidungen von Normen beeinf lussen lassen und wie wir selbst zur Aufrechterhaltung dieser Normen beitragen bzw. ein bestehendes Normensystem verändern. Im Folgenden möchte ich versuchen, einzelne Normen in Bezug auf Prostatakrebs und Männlichkeit zu identifizieren und näher zu beleuchten, und zwar sowohl für den Zeitraum vor als auch nach der Krebsdiagnose.
Potenzieller Patient? Die Vorstellungen, was ein Mann normalerweise tut oder nicht tut, spielen bereits vor der Diagnose, ja sogar vor dem ersten Kontakt mit der Gesundheitsfürsorge eine Rolle. Dass Männer in Bezug auf die routinemäßige Prostatauntersuchung Bedenken hegen oder einen Arztbesuch trotz vorhandener Symptome oftmals hinauszögern, steht häufig im Zusammenhang mit Stereotypen der Maskulinität: Auf Hilfe angewiesen zu sein ist ebenso unmännlich wie Angst zu haben oder Schwäche zu zeigen.4 Viele, die im Bereich der Gesundheitsfürsorge für Männer arbeiten, müssen sich tagtäglich damit auseinanderset-
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zen, wie Männlichkeitsnormen auf verschiedene Art und Weise die Fähigkeit von Männern, für sich selbst und ihre Körper adäquat zu sorgen, beeinträchtigen. Auch der schwedische Prostatakrebsverband (Prostatacancerförbundet) hat diese Problematik kürzlich in seiner Kampagne zugunsten des PSA-Tests aufgegriffen. In einer Informationsbroschüre fordert er Männer auf, sich »wie Männer« zu verhalten und ihren PSA-Wert ermitteln zu lassen: »Be a man – 45+, dann mach morgen einen PSA-Test« oder »Are you man enough?« Diese Aussagen dieser Kampagnen können als Aufforderungen zum Umdenken über die Definition von Maskulinität verstanden werden: Männlich sein bedeutet nicht, frei von Angst und Unsicherheit zu sein, sondern Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen und rechtzeitig ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Diese Kampagne schlägt quasi eine Strategie vor, die es Männern ermöglicht, sich testen zu lassen und zugleich Angst oder Unsicherheit einzugestehen, ohne sich notwendigerweise unmännlich zu fühlen. Die Kampagne »Mustaschkampen« (dt. Schnurrbartkampf) ist ein vom Prostatakrebsverband ins Leben gerufenes Spendenprojekt, mit dem auf die Forschung und Meinungsbildung in Bezug auf Prostatakrebs aufmerksam gemacht werden soll. So wie »Movember«, eine internationale Bewegung für Männergesundheit, verwendet auch der Prostatakrebsverband als Symbol einen Schnurrbart. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass Prostatakrebs auch hier mit einem bestimmten männlichen Symbol verbunden wird.5 Auch andere vergleichbare Kampagnen greifen maskuline Themen und Werte auf. Frühere Kampagnen in Kanada warben etwa mit dem Tragen einer militärischen Erkennungsmarke (umgangssprachlich auch »Hundemarke« genannt) und betonten in Formulierungen wie Krieg und Kampf gegen den Prostatakrebs vermeintlich männliche Werte wie Stärke und Mut. Der Schnurrbart wirkt immerhin etwas friedlicher, individueller und lässt mehr Variation zu.6 Das Risiko, dieses Symbol könnte all jene ausschließen, denen kein Schnurrbart wächst, entschärft Mustaschkampen zumindest teilweise durch das Angebot von Klebe- und digitalen Schnurrbärten, mit deren Hilfe praktisch jeder Mensch zu jeder Zeit
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sein Engagement zeigen kann. Jüngst erregte eine große Kampagne des Mustaschkampen mit bekannten schwedischen Frauen und LGBT-Aktivistinnen mit Klebeschnurrbärten Aufmerksamkeit; derartige Kampagnen vermitteln, dass Prostatakrebs ein Thema ist, das nicht nur die Männer, sondern uns alle angeht. Nun aber zurück zu den Normen. Die Kampagne »Be a man« spiegelt auf mehrfache Art und Weise die Vorstellung wider, es ginge bei Prostatakrebs und seiner Behandlung um Männlichkeit. Wenn die Norm besagt, es sei unmännlich, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen oder sich testen zu lassen, kann es konstruktiv sein, mit dieser Norm zu brechen, etwa indem andere Männlichkeitsideale betont werden. Interessant ist, dass allerdings auch diese Strategie die Idee, bei Prostatakrebs ginge es um Maskulinität, wiederum verstärkt (was dieser Text natürlich auch in vielerlei Hinsicht tut). Die Maskulinität steht auf dem Spiel, sie ist ein Hindernis, zugleich aber dient sie auch als Werkzeug und als Lösung. Potenzielle Patienten werden umrissen und in ihrer Eigenschaft als Männer angesprochen, wodurch die Erkrankung und die Maskulinität noch enger miteinander verbunden werden. Die Assoziation von Prostatakrebs und Maskulinität ist so stark in unserer Vorstellung von dieser Krankheit verankert, dass sämtliche massenmedial kommunizierten Assoziationen als völlig natürlich und selbstverständlich empfunden werden. Aber das sind sie nicht. Dies wird deutlich, wenn wir beispielsweise vergleichen, wie das Thema Brustkrebs durch den schwedischen Brustkrebsverband (Bröstcancerföreningarnas riksorganisation, BRO) kommuniziert wird. Natürlich ist im Informationsmaterial des Brustkrebsverbands auch von Frauen und Frauenkörpern die Rede, nicht aber – oder zumindest nicht explizit – von Weiblichkeit. Überdies finden sich in den Broschüren so gut wie keine Bilder von Frauen, während der Internetshop des Prostatakrebsverbands eine wahre Collage verschiedener Männerportraits ist. Durch diese Darstellungen wird Prostatakrebs also einmal mehr mit verschiedenen geschlechtsspezifischen Stereotypen verknüpft, wohingegen die Broschüren zum Thema Brustkrebs schlichtweg dar-
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über informieren, dass ein Körperteil von einer häufigen und lebensbedrohlichen Krebserkrankung betroffen sein kann. Wir haben hier also zwei Krebsarten mit einem völlig unterschiedlichen sozialen Leben, obwohl sie häufig als geschlechtsspezifische Pendants dargestellt werden, etwa wenn es um die Gleichberechtigung bei Vorsorge und Behandlungsabläufen geht. Zudem beschränkt sich die Wirkung der Männerportraits nicht ausschließlich darauf, Krebs und Männlichkeit miteinander zu assoziieren. Bilder spielen bei der Erschaffung und Reproduktion von Normen eine entscheidende Rolle, und zwar unabhängig von der ursprünglichen Intention des Gestalters. Sie repräsentieren und vermitteln, was als »normal« und »erstrebenswert« beziehungsweise als »anormal« und »ungeeignet« gilt. Das Bildmaterial des Prostatakrebsverbands stellt – wie übrigens auch ein Großteil des Reklame- und Informationsmaterials medizinischer Unternehmen in Schweden, die sich der Urologie verschrieben haben – ausnahmslos weiße Männer dar, häufig zusammen mit einem weiblichen Partner oder Kindern und Kindeskindern. Nicht selten vermitteln zudem klassenspezifische Symbole wie Kleidung, Milieu oder die dargestellten Interessen des Mannes ein typisches Bild der schwedischen Mittelklasse. Ein weißer Strand, ein weißer Mann. Der Bart gepf legt, das Hemd ebenso. Das Bild des schwedischen Prostatapatienten ist äußerst homogen: Der potenzielle Prostatapatient ist nicht irgendein Mann; er ist weiß, heterosexuell, gehört der Mittelschicht an und kümmert sich als verantwortungsvoller Vater oder Großvater sowohl um seine eigene Gesundheit als auch um seine Lieben. Wie aber ist es mit Männern, die sich in dieser Darstellung nicht wiedererkennen? Wie beeinf lussen die Prostatakrebserkrankung und deren Konsequenzen ihre körperliche Wahrnehmung, ihr Leben und ihre Männlichkeit? Welche Möglichkeiten haben sie, und was können sie zur Debatte beitragen? Eine größere Variation bei der Repräsentation des Prostatapatienten könnte dazu beitragen, dass ein breiterer Personenkreis sich von der Problematik angesprochen fühlt, und überdies unsere Vorstellungen von Prostata-
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krebs – und was wir mit der Erkrankung assoziieren – um interessante Perspektiven bereichern.
Der Schock: krank? Krebs. Ein Schock. Die Welt scheint stillzustehen. Wie ein Mann auf die Diagnose Prostatakrebs reagiert, ist selbstverständlich individuell verschieden und abhängig von den persönlichen Lebensumständen und Erfahrungen. Einige sehen sich durch die Diagnose unvermittelt mit einer potenziell tödlichen Erkrankung konfrontiert, während andere in erster Linie Einschränkungen und Veränderungen in Hinsicht auf ihren Lebensstil und bestimmte Aktivitäten befürchten. Dies hängt natürlich auch davon ab, wie weit die Erkrankung zum Zeitpunkt der Diagnose fortgeschritten und wie aggressiv der Tumor ist. Aber nicht nur. Die individuelle Bedeutung der Krebsdiagnose ist auch abhängig vom Selbstbild des Betroffenen, etwa in Bezug auf seinen Körper, der sich infolge der Krebserkrankung und der Therapie zwangsläufig verändert. Dies sind Aspekte, mit denen sich Menschen, die in der Gesundheitsfürsorge – zum Beispiel im Bereich der sexuellen Rehabilitation – beschäftigt sind, tagtäglich auseinandersetzen müssen. Ein Mann erklärte in einem Forschungsinterview mir gegenüber, wie sehr Sexualität für ihn mit seiner persönlichen Identität verknüpft sei. Die Krebsdiagnose war für ihn ein Schock, der ihn in eine existenzielle Krise stürzte – nicht etwa aufgrund des potenziell tödlichen Ausgangs, sondern weil sein gesamtes Selbstbild als »sexuelles Wesen« nun zusammenzustürzen drohte. Der Zeitraum zwischen Diagnose und Therapie ist für betroffene Männer mit ähnlichem Selbstbild häufig geprägt von Gedanken um den drohenden Verlust der Sexualität und folglich auch der Männlichkeit. Bedroht ist in dem Sinne vor allem eine spezielle Spielart der Sexualität: der penetrierende Geschlechtsverkehr. Sex kann viele verschiedene Formen annehmen, aber diese Art von Sex dominiert in unserer Gesellschaft oftmals.
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Und so orientieren sich Männer, die um ihr Erektionsvermögen fürchten, beim Abwägen der verschiedenen Therapievarianten gegeneinander weniger an den Behandlungsaussichten und der Chance auf vollständige Heilung als vielmehr an den drohenden Nebenwirkungen der jeweiligen Therapie. Für einen der von mir interviewten Männer bedeutete dies, dass er das Risiko einging, die Behandlung aufzuschieben, um Zeit zu gewinnen, damit er die richtige Entscheidung treffen konnte. Ein anderer wurde von seinem Urologen gefragt, wie viel er bereit war zu riskieren, um die Möglichkeiten, sein Erektionsvermögen nach der Operation wiederzuerlangen, zu erhöhen. Mit dem Bewusstsein im Hinterkopf, dass er sich schlimmstenfalls später noch einer Strahlentherapie unterziehen könne, entschied er sich letztendlich, es darauf ankommen zu lassen und das Risiko einzugehen. Das Glücksspiel mit der eigenen Gesundheit, also den Körper gewissen Risiken auszusetzen, ist ebenfalls etwas, das stereotypisch mit dominanten Männlichkeitsidealen verknüpft wird. Manch einer behauptet gar, dass dies ein entscheidender Grund für die kürzere Lebenserwartung von Männern im Vergleich zu Frauen sei. Die eigene Therapieentscheidung als Glücksspiel zu betrachten, scheint in diesem Zusammenhang durchaus passend. Selbst wenn man »das Spiel verlieren« sollte, hat man noch immer die Möglichkeit, sich selbst und anderen gegenüber zu behaupten, man habe zumindest den Mut gehabt – sei also im symbolischen Sinne »Manns genug gewesen« –, es zu wagen. Dies kann später gewisse Identitätsprobleme lösen. Zugleich muss eine solche Entscheidung aber nicht zwangsläufig so verstanden werden, als setze man etwas aufs Spiel und ginge bewusst ein Risiko ein. In gewisser Hinsicht sind schließlich viele unserer Handlungen mit einem gewissen Risiko behaftet. Dass meine Finger gerade ein paar Minuten zu lang auf die Tastatur einhacken, kann mir Nackenschmerzen bescheren, das kürzlich verzehrte Obst kann meine Zähne zersetzen, das Sitzen mit übereinandergeschlagenen Beinen kann zu Krampfadern führen, und meine überwiegend sitzende Tätigkeit wird aufgrund der gesundheitlichen Risiken infolge eines chronischen Bewegungsmangels mitunter als »das neue Rauchen« bezeichnet. Ad
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absurdum geführt bedeutet dies, dass letztendlich alles, was wir tun, als riskant bezeichnet werden könnte. Anstatt als gegebene Wahrheit ziehe ich es vor, dies als menschliche Sichtweise zu betrachten, die sich daraus ergibt, dass unser Handeln zunehmend quantifiziert und beispielsweise aus einer medizinischen Perspektive heraus hinsichtlich der potenziellen Gesundheitsrisiken erforscht wird. So wie unser Verständnis von Prostatakrebs gesellschaftlich geprägt ist, können wir auch diese Sicht auf den Menschen als konstruiert, kontextabhängig und zeitlich begrenzt betrachten. Kann dieses »Glücksspiel«, das sich im Aufschieben der Behandlung äußert, also möglicherweise auch auf andere Art betrachtet werden? In der feministischen Literatur wurde auf verschiedene Weise beschrieben, wie Frauen dem Körper einen symbolischen Wert beimessen, was im Kontrast zur medizinischen Perspektive steht, die den Körper oft auf Grundlage seiner biologischen Funktionen beschreibt und behandelt. Studien haben überdies aufgezeigt, was es für Frauen bedeuten kann, Gebärmutter, Eierstöcke oder Brüste zu verlieren.7 Die medizinische Forschung konzentriert sich auf die Risiken und Nutzen dieser Operationen, vernachlässigt dabei aber die symbolische Bedeutung, die Gebärmutter, Eierstöcke und Brüste für das Selbstbild als Frau, als Mutter, als Individuum haben können. Diese Wahrnehmung des eigenen Körpers kann auf verschiedene Weise ausgedrückt werden. So nehmen Frauen in Erzählungen, Poesie oder über andere künstlerische Ausdrucksformen in diversen Internetforen symbolisch Abschied von ihrer Gebärmutter.8 Auch Beschreibungen zu den unterschiedlichsten Aktivitäten und Feiern mit diversem Zubehör zum Abschiednehmen von beispielsweise der Gebärmutter erfreuen sich großer Beliebtheit. Diese Art, den Körper zu betrachten, wird normalerweise der stereotypisch nüchternen Art von Männern, Zahlen zu vergleichen, verschiedene Risiken gegeneinander abzuwägen und mit Hilfe von Berechnungen rationale Entscheidungen zu treffen, gegenübergestellt. Aber diese Gegenüberstellung ist schlichtweg zu einseitig, zu simpel und zu klischeehaft. Zum einen riskieren wir, dass sich dadurch unse-
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re stereotypischen Vorstellungen von geschlechtsspezifischen Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen verfestigen, zum anderen, dass uns alternative, durchaus relevante Interpretationen möglicherweise entgehen. Aus feministischer Perspektive ließen sich die männliche Grübelei, das Einholen von Informationen und die Vorsicht vor bestimmten Therapievarianten beispielsweise als sorgsames und umsichtiges Verhalten interpretieren, mit dem der Prostata implizit eine spezielle Bedeutung und ein symbolischer Wert zugestanden wird, sowie als Entscheidung, den Körper auf eine ganzheitliche Weise zu betrachten. Wir können also anders darüber reden. Das ist durchaus relevant. Wenn wir lernen, die Art und Weise, wie Männer mit Krankheit und potenziellen Bedrohungen für ihre Männlichkeit umgehen, mit mehr Offenheit und aus einer anderen Perspektive zu betrachten, bekommen wir möglicherweise ganz andere Geschichten zu hören. Vielleicht gewinnen wir dadurch ein anderes Verständnis dafür, wie es ist, die Diagnose Prostatakrebs zu erhalten, anhand welcher Kriterien Männer sich für eine Behandlung entscheiden und was sie bis zum Beginn der Therapie tun. Auch wenn der Zeitraum zwischen Diagnose und Therapie in der Forschung bislang kaum Beachtung fand, existieren vereinzelte Beispiele, in denen sich die symbolische Arbeit von Männern andeutet. In einer schwedischen Studie schilderten mehrere Männer, wie sie gemeinsam mit ihrer Partnerin oder ihrem Partner am Tag vor der Behandlung Abschiedssex hatten.9 Sie nahmen Abschied von einem bestimmten Körper, einer bestimmten Aktivität, einer bestimmten Beziehung. Was tun Männer darüber hinaus noch? Und wie kann das Wissen darüber anderen Männern helfen? Diese Fragen schwirren in meinem Kopf herum, während im Hintergrund der Song Goodbye to my prostate läuft.10
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Identitätskrise? Sie ist zerstört. Kaputtgestrahlt. Wegoperiert. Vielleicht nun endlich vom Krebs befreit, der im Inneren wucherte. Die Nerven rund um die Prostata – die, die noch übrig sind – haben auch etwas abbekommen, das Einhalten ist nun schwieriger, Erektionen und Orgasmen ebenso. Viele Männer fühlen sich durch derartige körperliche Veränderungen in ihrer Identität bedroht – bestimmte Ideale scheinen mit den veränderten körperlichen Voraussetzungen nunmehr unerreichbar. Wer integriert ist, für den sind Normen häufig unsichtbar. Jemand, der sein ganzes Leben lang auf zwei Beinen gehen konnte, hat sich vermutlich eher selten Gedanken über die Zugänglichkeit öffentlicher Gebäude wie Krankenhäuser oder Arztpraxen machen müssen. Ein Mann, der Hand in Hand mit einer Frau durch die Stadt f laniert, verschwendet keinen Gedanken daran, wie andere wohl den Anblick der ineinander verf lochtenen Hände empfinden. Erst wenn wir gegen die Norm verstoßen, wenn wir ihr nicht (mehr) entsprechen, werden wir uns ihrer wirklich bewusst. Dann fällt sie uns auf, wir verspüren sie am eigenen Körper, sie begrenzt uns und zwingt uns, aktiv zu werden. Aktiv in dem Sinne, dass wir lernen müssen, mit dieser Norm und den Gefühlen, die das Nicht-der-Norm-entsprechen in uns hervorruft, umzugehen, uns an die Norm anzupassen, aber auch, ihr zu widerstehen. Plötzlich sind wir außen vor. Innerhalb kürzester Zeit, nach einer Operation noch etwas schneller als nach einer Strahlen- oder Hormontherapie, hat sich unser Körper verwandelt. Das (potenzielle) Erektionsvermögen, das Orgasmusgefühl, die sexuelle Lust und die Kontinenz, die noch vor der Behandlung vorhanden waren, sind nun möglicherweise geschwächt oder völlig verloren gegangen. Der Körper fühlt sich anders an, er sieht vielleicht nicht mehr so aus wie früher und funktioniert auch nicht mehr genauso zuverlässig. Für viele Männer bedeutet dies, sich aktiv mit der eigenen (veränderten) Identität auseinandersetzen zu müssen, sich Strategien und Verhaltensweisen anzueignen, um eine bestimmte Identität – eine bestimmte Masku-
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linität – aufrechtzuerhalten oder anzupassen. Dies kann sich auf die verschiedensten Arten auswirken, von der Berufswahl über das Rasieren der Haare, die Wortwahl bis hin zu den Geschichten, die wir uns selbst und anderen erzählen. Einige der Strategien, von denen ich im Rahmen der Interviews für meine Forschung gehört und gelesen habe und die auch in anderen Forschungszusammenhängen Erwähnung finden, möchte ich nun vorstellen. Identitätsarbeit ist, wie so viele Aspekte des sozialen Lebens, komplex und dynamisch. Nachfolgend soll in drei verschiedenen Erzählungen dargestellt werden, wie diese Komplexität thematisiert werden kann.11 In der ersten Erzählung, möglicherweise der offensichtlichsten von allen, geht es um die Wiederherstellung der körperlichen Form und Funktion. Die Vorstellung, was wichtig und männlich ist, ändert sich nicht, allein der Körper muss wiederhergestellt werden. Hierhin f ließen oftmals die Ressourcen der Gesundheitsfürsorge, etwa in Form von medikamentösen Therapien, sexueller Rehabilitation oder Beckenbodentraining zur Behandlung von Harninkontinenz. In dieser Erzählung geht es also in erster Linie um die Wiederherstellung, damit »es« wieder »funktioniert«. »Es« steht dabei für die Erektion und »funktioniert« für die Fähigkeit, penetrierenden Geschlechtsverkehr zu vollziehen. Mächtige Pharmakonzerne haben einen enormen Markt rund um das männliche Erektionsvermögen geschaffen und werben mit einem Quick-fix für bestimmte Patienten nach abgeschlossener Krebstherapie. Injektionen oder Tabletten machen somit nicht nur eine bestimmte Art von Geschlechtsverkehr wieder möglich, sie ermöglichen es den Männern auch, sich wieder integriert zu fühlen. Auch wenn nicht alle Betroffenen auf diese Lösung zurückgreifen, so stellen Potenzmittel zumindest für einen Teil der Männer eine Möglichkeit dar, die Kontrolle über ihre Erektion zurückzuerhalten. Das Erektionsvermögen wiederzuerlangen, scheint insbesondere für Single-Männer wichtig zu sein, die dahingehend argumentieren, dass sie darauf angewiesen seien, um potenzielle neue Partnerinnen oder Partner zu treffen – hier zeigt sich deutlich die Dominanz der Sexua-
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litätsnormen und das Bedürfnis, den »Erwartungen« an einen Mann gerecht zu werden. Eine andere Erzählung handelt davon, all das, was einen Mann ausmacht und wozu ein Mann fähig ist, umzuformulieren – dies ist vermutlich die am wenigsten dominante Erzählung. Sie gleicht der Strategie des Prostatakrebsverbands: Wenn bestimmte dominante Ideale nicht (mehr) erreicht werden können oder uns behindern, so können alternative männliche Ideale geschaffen werden. Dies kann beispielsweise geschehen, indem man sich darüber definiert, dass man den Krebs besiegt hat und den Mut besitzt, offen über die eigene Erkrankung, die Nebenwirkungen und eventuell sogar den Tod zu sprechen – etwa indem man sich als Mentor und Vertrauensperson in einer Patientenvereinigung engagiert und seine eigenen Erfahrungen und Sorgen rund um die körperlichen Probleme mit frisch diagnostizierten Männern teilt. Patientenvereinigungen können, nebenbei bemerkt, das kollektive Außenseitertum über Aktivitäten wie Selbsthilfegruppen oder Seminare auch in eine neue lokale Integriertheit verwandeln, indem sie die Zusammenhänge zwischen Sexualität, Maskulinität und Prostatakrebs neu definieren. Sie können als Ort dienen, an dem ungehemmt über Erektionsprobleme und sexuelle Herausforderungen diskutiert wird, während andere sich über das gestrige Fußballspiel unterhalten. Jemand, der in einer solchen regionalen Vereinigung sehr aktiv ist, erwähnte mir gegenüber, dass es bei solchen Treffen zuweilen sehr machohaft zugehe. Dies verdeutlicht auf anschauliche Weise, wie bestimmte maskuline Werte als Kompensation verwendet werden können, wenn andere Werte bedroht sind. Die dritte Erzählung handelt davon, den herrschenden Maskulinitätsidealen zu widerstehen und stattdessen andere Werte im Leben stärker zu betonen. Die von mir interviewten Betroffenen, die mit einer Partnerin oder einem Partner zusammenlebten, neigten alle dazu, ihre Aufmerksamkeit darauf zu konzentrieren, was sie gemeinsam als Paar machen konnten, anstatt an dem Gedanken daran, was nun nicht mehr möglich war, festzuhalten. Der potenzielle Verlust der Männlichkeit wurde mit anderen Werten kompensiert: Anstelle
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der Penetration rückten nun Intimität und Nähe in den Vordergrund. Mitunter entschieden sich die betroffenen Paare auch dafür, die Paarbeziehung über gänzlich andere Aspekte als Sexualität und Intimität zu definieren, z.B. über gemeinsame Freizeitinteressen oder Unternehmungen mit den Enkelkindern. Vor allem in dieser dritten Erzählung hat das Alter eine wichtige Funktion. Die beiden anderen Erzählungen können in ihrer Gesamtheit nur dann vollständig verstanden werden, wenn man sich zugleich damit befasst, inwieweit Maskulinitätsnormen auch mit dem Alter zusammenhängen, während in der dritten Strategie das Alter als Werkzeug dient, bestimmten dominanten Idealen zu widerstehen. Statt als sich von einer Krankheit erholender Körper oder als weniger männliche Variante des früheren Körpers, wird in dieser Erzählung der Körper als völlig normaler älterer Körper betrachtet. Ein solcher Perspektivwechsel wirkt sich auch positiv auf das Verständnis von Körper und Sexualität aus: Was zuvor möglicherweise als unzureichend empfunden wurde, wird nun zu etwas dem Alter entsprechend völlig Normalem. Sich als älterer Mann zu identifizieren, kann per se bereits als Widerstand gegen herrschende männliche Normen interpretiert werden, da in westlichen Kulturkreisen zum Teil die Auffassung herrscht, es gebe keine dominierenden Männlichkeitsideale für ältere Männer, und man sich stattdessen an den dominierenden Maskulinitätsnormen für Männer mittleren Alters orientiert.12 Die Erzählungen aus meinen eigenen Interviews sowie Studien anderer Forscher und Forscherinnen zeigen auf, wie die Betroffenen verschiedene Strategien in einer dynamischen Identitätsarbeit miteinander vermischen. Es handelt sich um ein ständiges Streben nach einer Reihe stets präsenter Normen in Bezug auf Körper, Sexualität, Maskulinität und Alter. Dieser kurze Überblick über die verschiedenen Strategien zeigt, dass Männlichkeit verschiedene Dinge bedeuten und auf unterschiedliche Art und Weise gestaltet werden kann. Ich habe allerdings nur einige dieser Erzählungen gehört und gelesen. Wahrscheinlich gibt es noch zahlreiche weitere Strategien – oder Dinge, die Männer tun –, die zur Lockerung der existierenden Sexualitäts- und
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Männlichkeitsnormen beitragen; Normen, die es einigen Männern so schwer machen, nach der Behandlung von Prostatakrebs ein erfülltes Leben zu führen.
Ein potenzielles Problem Der Name dieses Kapitels birgt mehrere Botschaften in sich. Die eine – vermutlich die offensichtlichste – ist, dass Potenzminderungen nach der Behandlung von Prostatakrebs zu Problemen führen können. Sie können sich auf die Sexualität, die Identität und die intimen Beziehungen der Betroffenen auswirken. Eine weitere Botschaft lautet, dass Prostatakrebs und seine Behandlung mit potenziellen Problemen einhergehen können (aber nicht zwingend müssen), durch die der Patient sich in seiner Männlichkeit bedroht sieht. Die Schilderungen der Männer offenbaren verschiedene Strategien, die Bedeutung von Männlichkeit – ebenso wie die Bedeutung des Lebens im allgemeinen – neu zu definieren; es handelt sich also nicht nur um ein potenzielles Problem, sondern zugleich um eins, das auch ein gewisses Potenzial in sich birgt. Die dritte und letzte Botschaft besteht darin, die scheinbar selbstverständliche Verbindung zwischen Prostatakrebs und Männlichkeit als ein präsumtives Problem aufzuzeigen. Ich teile die Ansicht, dass die Geschichten der Menschen über ihre Erkrankung wichtig sind, um Krankheiten zu verstehen, darauf zu reagieren und gegebenenfalls Pf lege- und Behandlungsmaßnahmen einzuleiten.13 Ich möchte jedoch die Frage stellen: Ist unsere Sprache angemessen reichhaltig, damit an Prostatakrebs erkrankte Männer in Worte fassen können, wie sie ihre Erkrankung und die damit verbundenen körperlichen Veränderungen empfinden? Oder sind Männlichkeitsnormen in Bezug auf Prostatakrebs so präsent, dass sie die Art der Erfahrungen und der Geschichten, die wir zu hören bekommen, begrenzen?
Ein potenzielles Problem
Literaturempfehlungen Broom, Alex &, Tovey, Philip (Hg.) (2009): Men’s health: Body, identity and social context. Chichester: Wiley-Blackwell, insbesondere Kapitel 2: Oliffe, John: »Positioning prostate cancer as the problematic third testicle«, S. 33-62. Connell, Raewyn (2015): Der gemachte Mann, 4. Auf lage. Hg. Michael Meuser & Ursula Müller. Wiesbaden: Springer.
Anmerkungen 1 Regionala cancercentrum i samverkan (Regionale Krebszentren in Zusammenarbeit) (2015): Prostatacancer: Nationellt Vårdprogram. Uppsala. Siehe: www.cancer centrum.se. 2 Im nationalen Behandlungsplan (Nationellt Vårdprogram, siehe Anm. 1) wird auf die verschiedenen Behandlungsalternativen detaillierter eingegangen. 3 In den Genderwissenschaften wird der Begriff hegemonische Maskulinität verwendet, um diese Art dominanter Normen zu beschreiben. Etabliert wurde der Begriff durch Raewyn Connells einflussreiches Buch Der gemachte Mann (siehe Literaturempfehlungen weiter unten). 4 Eine kurze Übersicht und kritische Analyse zu dieser stereotypischen Verbindung findet sich in: Galdas, Paul (2009): »Men, masculinity and help-seeking behaviour«, in: Broom, Alex & Tovey, Philip (Hg.): Men’s health: Body, identity and social context. Chichester: Wiley-Blackwell. 5 Körperbehaarung sowie Haarwachstum und -entfernung sind stark geschlechtskodiert. Einige dieser Geschlechtsnormen dienen auch als Grundlage für medizinische Diagnosen wie z.B. Hirsutismus (männlicher Haarwuchs bei Frauen), wenn Patienten eine als anormal oder atypisch definierte Körperbehaarung aufweisen (siehe die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, ICD). 6 Wassersug, Richard et al. (2015): »On manhood and Movember… or why the moustache works«, in: Global Health Promotion, 22(2), S. 65-70. 7 Siehe z.B. Elson, Jean (2003): »Hormonal hierarchy: Hysterectomy and stratified stigma«, in: Gender & Society, 17(5), S. 750-770; Slatman, Jenny, Halsema, Annemie & Meershoek, Agnes (2016): »Responding to scars after breast surgery«, in: Qualitative Health Research, 26(12), S. 1614-1626. 8 Z. B. auf www.hystersisters.com.
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Jelmer Brüggemann
9 Danemalm Jägervall, Carina, Gunnarsson, Birgitta & Brüggemann, Jelmer (2016): »Orgasmen förändras negativt men uteblivet ejakulat ingen stor förlust – tio män om orgasmupplevelse och ejakulationsbortfall efter radikal prostatektomi«, in: Läkartidningen, 113, S. 1470-1472. 10 Brian Regli: »Goodbye to my prostate«, auf https://www.youtube.com/watch ?v=SWBnR_8yTBo. 11 Die Erzählungen folgen drei Strategien, vorgestellt in: Gerschick, Thomas & Miller, Adam Stephen (1994): »Gender identities at the crossroads of masculinity and physical disability«, in: Masculinities, 2(1), S. 34-55. 12 Spector-Mersel, Gabriela (2006): »Never-aging stories: Western hegemonic masculinity scripts«, in: Journal of Gender Studies, 15(1), S. 67-82. 13 Für eine Übersicht über die Forschung zum Thema »Krankheit als soziale Konstruktion« und welche politischen Auswirkungen eine derartige Perspektive haben kann, siehe: Conrad, Peter & Barker, Kristin (2010): »The social construction of illness: Key insights and policy implications«, in: Journal of Health and Social Behavior, 51(S), S. 67-79.
Kapitel 8 Kastration als Behandlungsmethode bei Prostataproblemen Aufstieg, Fall und Rückkehr Elin Björk
Unter den Leiden, die ein langes Leben für ihre Besitzer zu einer Last werden lassen, sind keine schlimmer als jene, die von einer vergrößerten Prostata herrühren. Der ständige Schmerz, die Sorge, der ständige Drang, Wasser zu lassen und die Unfähigkeit, selbiges zu tun, sowie die häufige Notwendigkeit einer Katheterisierung verursachen ein solches Übermaß an Elend, dass selbst starke, kluge und vernünftige Männer sich mitunter nach dem Tode sehnen können.1 So beschrieb einst ein Arzt im Juli 1896 bei seinem Vortrag im Rahmen der Jahrestagung der British Medical Association in Carlisle, England, die gutartige Prostatavergrößerung. Probleme im Zusammenhang mit den Harnwegen finden sich bereits in den auf Papyrus festgehaltenen medizinischen Texten des alten Ägyptens. Seit Jahrtausenden versucht man, derartige Beschwerden auf verschiedene Weise zu heilen.2 Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Kastration von Männern als besonders radikale Behandlungsmethode zur Heilung einer gutartigen Prostatavergrößerung eingeführt (gutartig bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Vergrößerung nicht auf einen Krebstumor zurückzuführen ist). In diesem Kapitel möchte ich einige der Ursachen für diese Behandlungsmethode vorstellen sowie ihre weitere Entwicklung im historischen Kontext schildern.
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Die Kastration fand früher bei der medizinischen Behandlung von Problemen im Zusammenhang mit den Hoden Anwendung, beispielsweise bei Krebserkrankungen, Tuberkulose oder Nebenhodenentzündungen. Allerdings war zuvor nie jemand auf den Gedanken gekommen, Männer zu kastrieren, um sie von ihrer gutartigen Prostatavergrößerung zu heilen. Ende des 19. Jahrhunderts fand die medizinische Wissenschaft heraus, dass die Funktion der Hoden nicht nur in der Produktion von Spermien bestand, sondern dass sie auch eine Substanz ausschieden, die Einf luss auf den gesamten männlichen Körper hatte. Infolge dieser Erkenntnis begann man sich zu fragen, was insbesondere mit nahegelegenen Organen wie der Prostata geschehen würde, wenn man die Hoden entfernte. Der Zusammenhang zwischen Hoden und Prostata, dem man nun auf den Grunde zu gehen begann, sollte für das Verständnis der Funktionen von Hoden und Prostata im männlichen Körper, aber auch für eine der am häufigsten verwendeten Therapien für Prostatakrebs unserer Zeit von entscheidender Bedeutung sein. Ehe wir uns eingehender damit beschäftigen, soll jedoch der Unterschied zwischen Kastration und Sterilisation deutlich gemacht werden. Redet man heutzutage über Kastration, so ist damit häufig die Sterilisation (Vasektomie) gemeint. Bei einer Vasektomie verbleiben die Hoden im Körper, es werden lediglich die Samenleiter durchtrennt oder mithilfe von Implantaten blockiert. Dies wirkt sich einzig auf die Fähigkeit des Mannes zur Ejakulation von Spermien aus. Eine Kastration im eigentlichen Sinne hat allerdings weitreichende Folgen für den gesamten Organismus, da dabei die hormonproduzierenden Drüsen entfernt werden. Ende des 19. Jahrhunderts wurde bei einer Kastration normalerweise der Hodensack mit einem Schnitt eröffnet, die Samenleiter durchtrennt und die Hoden vollständig entfernt. Dabei stellte man fest, dass bei Männern mit einer gesunden Prostata selbige nach der Kastration schrumpfte. Die Männer konnten keine Spermien mehr produzieren, und das sexuelle Verlangen ließ nach. Ende des 19. Jahrhunderts beobachtete man überdies, dass es bei einigen Patienten infolge der Kastration zu psychischen Problemen sowie zur
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Gewichtszunahme kam.3 Mittlerweile ist bekannt, dass die Kastration auch weitere Folgen wie Osteoporose, männliches Brustwachstum, verminderten Haarwuchs, Anämie, einen Rückgang der Muskelmasse sowie kognitive Beeinträchtigungen und Depressionen nach sich ziehen kann.4 Heute, wo die Kastration ein Comeback als Behandlungsmethode bei Prostatakrebs erlebt, geht es weniger um die physische Entfernung der Hoden als vielmehr um eine Hormontherapie, die vergleichbare Auswirkungen auf den männlichen Körper hat. Um die Anpassung dieser Behandlungsmethode nachvollziehen zu können, müssen wir etwas in der Zeit zurückgehen und uns mit den Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Nordeuropa und Amerika dominierenden Vorstellungen vom Körper und der männlichen Prostata auseinandersetzen.
Verständnis der Prostata Wer mit historischem Material arbeitet, muss sich zuallererst in den zeitlichen Kontext der jeweiligen Quelle hineinversetzen. Wörter, Begriffe und Ausdrücke sind einem historischen Wandel unterworfen, und medizinische Fachtermini sind davon nicht ausgenommen. Dasselbe gilt für das Verständnis verschiedener Körperteile zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Vielen Organen, die nach unserem heutigen Verständnis bestimmte Aufgaben ausführen, wurden früher andere Funktionen und Eigenschaften zugeschrieben. So herrschte etwa seit der Antike bis zum Jahr 1628, als der Arzt und Anatom William Harvey sein berühmtes Buch über das Herz und den Blutkreislauf veröffentlichte, die Auffassung, das Blut werde in der Leber produziert.5 Die Prostata wurde erstmals im Jahr 1536 in einem medizinischen Text erwähnt und zwei Jahre darauf schließlich beschrieben und zum ersten Mal in Form einer Illustration dargestellt. Dennoch herrschte selbst Ende des 19. Jahrhunderts noch Unklarheit darüber, was die Prostata eigentlich war und welche Funktion ihr zukam. Einige mein-
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ten, es handele sich um einen Muskel, während andere glaubten, sie produziere Spermien, und wieder andere waren der Auffassung, dass die Prostata die Qualität der Spermien verfeinerte. Eine weitere Theorie besagte, die Prostata würde eine Flüssigkeit aus dem Blut extrahieren, die den Geschlechtsakt lustvoller gestaltete, und manche Wissenschaftler vermuteten, sie würde eine Substanz zur Befeuchtung und zum Schutz der Harnröhre produzieren.6 Zudem war man sich uneinig, ob es sich bei der Prostatadrüse – so es denn nun eine Drüse war – um ein einteiliges oder zweiteiliges Organ handelte. Aus dem Grunde wurde lange Zeit die Pluralform prostatae verwendet, bis neue chirurgische Methoden rund um die Wende zum 19. Jahrhundert nachweisen konnten, dass es sich bei der Prostata um eine zusammenhängende Drüse handelte.7 In medizinischen Texten der 1890er Jahre wird die Größe der Prostata auffällig oft mit der von Nüssen und Früchten verglichen. Die vergrößerte Prostata, so hieß es damals, gleiche in ihrer Größe der einer kleinen oder normalen Apfelsine (oder einer kleinen Melone), während die infolge einer Kastration geschrumpfte Prostata mit der Größe einer Haselnuss verglichen wurde. Diese Vergleiche zeichnen sich zwar durch einen Mangel an eindeutiger Präzision aus, bieten zugleich aber Anhaltspunkte, mit denen die meisten etwas anfangen können. Von der Form her wurde die Prostata mit einem Pfirsich verglichen, weil man etwas wie eine Falte von der Ober- hin zur Unterseite zu erkennen meinte. Aus diesem Grund glaubte man auch, es handele sich bei der Prostata um zwei zusammengewachsene Drüsen.8
Verständnis der gutartigen Prostatavergrößerung Aus welchen Gründen zog man einen derart radikalen Eingriff wie die Kastration zur Behandlung der gutartigen Prostatavergrößerung in Erwägung? Ehe wir uns der Beantwortung dieser Frage widmen, bedarf es einer Erklärung des Problems an sich. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Ursache der gutartigen Prostatavergröße-
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rung in medizinischen Texten beschrieben: Mit dem Alter nimmt die Größe der Prostata zu. Bei einigen Männern setzt dieses Wachstum bereits im Alter zwischen 30 und 40 Jahren ein, in der überwiegenden Zahl der Fälle geschieht dies allerdings erst nach dem 50. Lebensjahr. Das Wachstum kann gleichmäßig über die gesamte Prostata erfolgen, es kann aber auch passieren, dass einige Areale stärker wachsen als andere. Zur damaligen Zeit wurde die Prostata häufig in drei Lappen unterteilt: zwei laterale, also einen linken und einen rechten Lappen, sowie einen medianen, einen an der Hinterwand der Drüse befindlichen Mittellappen. Wenn einer dieser Lappen wuchs, die anderen aber nicht, bestand ein höheres Risiko, dass das Wachstum Probleme hervorrufen würde; insbesondere dann, wenn es sich dabei um den Mittellappen handelte. Was genau aber verursachte diese Probleme? Die Prostata umschließt auf Höhe des Blasenhalses die gesamte Harnröhre. Mit zunehmender Größe kann es daher passieren, dass sie auf die Harnröhre drückt. Ein gleichmäßiger Druck führt nicht zwangsläufig zu Problemen, sondern lediglich zu einer Verlängerung der Harnröhre, die durch den chronischen Druck quasi »gedehnt« wird. Kommt es allerdings zu einem unregelmäßigen Wachstum – wobei man, wie bereits erwähnt, Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere ein alleiniges Wachstum des Mittellappens als problematisch betrachtete –, kann dies dazu führen, dass die Harnröhre entweder gebogen und das Wasserlassen dadurch erschwert wird oder polypenähnliche Wucherungen auftreten, die auf der Harnröhre zu liegen kommen und die Harnpassage vollständig verhindern. Die betroffenen Männer verspürten oftmals, auch des Nachts, einen häufigeren Harndrang oder hatten erhebliche Schwierigkeiten beim Wasserlassen, weil die Harnröhre zusammengedrückt oder komplett blockiert wurde. Viele litten zudem unter Schmerzen. Waren sie dann auch noch gezwungen, einen Katheter zu verwenden, also ein Röhrchen, das über die Harnröhre ein- und bis zur Harnblase hochgeführt wird, um diese vollständig zu entleeren oder das Wasserlassen überhaupt zu ermöglichen, so waren Harnwegsinfekte quasi vorpro-
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grammiert und verschlimmerten die Beschwerden zusätzlich. Obwohl viele der Betroffenen bereits um die 70 oder gar 80 Jahre alt waren, waren sie weiterhin berufstätig, weshalb die Prostata sie in ihrem Alltag erheblich einschränkte. Überdies konnte es recht mühsam und kostspielig sein, zur Behandlung ins nächstgelegene Krankenhaus zu fahren, wenn man nicht in einer größeren Stadt wohnte. Die gutartige Prostatavergrößerung wurde von Ärzten als übliches Phänomen bei überwiegend älteren Männern betrachtet.
Behandlung der gutartigen Prostatavergrößerung Wie ging man die Lösung dieses Problems an? Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts griff man häufig auf die Verwendung verschiedener Katheterisierungsmethoden zurück. Wenn der Patient die Blase entleeren wollte, musste er stets einen Katheter in die Harnröhre einführen. Anfangs bestanden diese aus sehr harten Materialien, mit der Zeit entwickelte man jedoch »angenehmere« Alternativen wie Gummikatheter. Die Katheterisierung war allerdings mit zwei größeren Problemen verbunden. Zum einen war es nicht besonders angenehm, einen Katheter in die Harnröhre einzuführen und durch die vergrößerte Prostata hinauf bis in die Harnblase zu drücken, um den Urin abzuleiten. Viele Patientenbeschreibungen enthalten Berichte, wie die Ärzte oder die Patienten selbst den Katheter regelrecht durch die Prostata hindurchdrücken mussten, um bis zur Harnblase zu gelangen und diese entleeren zu können. Dies ging nur mit einem starren Katheter, der sowohl mit Schmerzen als auch mit Blutungen und einem wesentlich höheren Infektionsrisiko verbunden war.
Kastration als Behandlungsmethode bei Prostataproblemen
Silberkatheter, Ausstellungsstück der Wellcome Collection London.
Die Patienten verfügten oftmals nicht über die Möglichkeiten, den Katheter vor der Anwendung zu sterilisieren, und auch wenn die Katheterisierung von einem Arzt durchgeführt wurde, gab es keine Garantie, dass es nicht dennoch zu einer Infektion kam. Außerdem konnte es mitunter schwierig sein, die Blase vollständig zu entleeren, und der Restharn stellte einen idealen Nährboden für Bakterien dar. Bei einer chronischen Blasenentleerungsstörung konnte es zu einer Überdehnung der Blase kommen, die eine Atonie – ein Erschlaffen der Blasenmuskulatur – zur Folge hatte und die vollständige Blasenentleerung noch schwieriger gestaltete. Aufgrund des Risikos wiederholter Infektionen, die oftmals mit einem gewöhnlichen Harnwegsinfekt begannen, wurde die Entwicklung einer wirksamen Behandlungsmethode immer dringender. Zu jener Zeit waren Harnwegsinfekte nämlich mit einem deutlich höheren Risiko für Komplikationen verbunden. Antibiotika gab es noch nicht, und so blieb einzig die Möglichkeit, in besonders schweren Fällen die Harnblase mit verschiedenen Lösungen zu spülen und zu hoffen, dass die Infektion von allein abheilte. Solange der Patient ansonsten gesund war, gelang es dem Körper normalerweise, die Infektion zu besiegen. Langfristig und aufgrund der noch immer fehlenden Behandlungsmethode zur Behebung des ursächlichen Problems – der vergrößerten Prostata – führten wiederholte Infekte und eine Verschlechterung des Allgemeinzustands allerdings dazu, dass die Widerstandskraft der Patienten immer weiter abnahm.
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Ein unbehandelter Harnwegsinfekt kann in eine Nierenbeckenentzündung übergehen, die äußerst gefährlich ist, und genau dies passierte bei vielen Patienten. Durch wiederholte Harnwegsinfekte kann es zudem zur Schleimhautschädigung der Blasenwand kommen. In einigen Fällen führte dies dazu, dass Harnstoffe in den Blutkreislauf der Patienten gelangten und eine lebensbedrohliche Harnvergiftung (Urämie) auslösten. Wiederkehrende Nierenbeckenentzündungen führten nicht selten zu Nierenversagen (Niereninsuffizienz); auch hier bestand die einzige bis dahin bekannte Behandlungsmethode in der Blasenspülung. Als Palliativtherapie gab es die Option, über einen Schnitt oberhalb des Schambeins einen f lexiblen Katheter in die Harnblase einzuführen. Der sogenannte suprapubische Fistelkatheter diente der langfristigen Katheterisierung des Patienten und verblieb im Körper. Dieses Verfahren hatte den Vorteil, dass der gesamte Harntrakt von der Harnblase abwärts entlastet wurde; zudem erleichterte der Dauerkatheter die Blasenspülung und die vollständige Entleerung der Harnblase. So war man nicht mehr gezwungen, jedes Mal einen neuen Katheter einzuführen und zu riskieren, dass dadurch erneut Bakterien in die Harnblase gelangten. Allerdings war diese Lösung nicht besonders praktisch, und viele Patienten wollten nicht einmal während des Krankenhausaufenthalts einen Fistelkatheter haben. Der potenziell lebensbedrohliche Verlauf, aber auch die Leiden, die mit der Erkrankung einhergingen – Schlafmangel (manch ein Patient musste alle Viertelstunde zur Toilette) sowie Schmerzen im Zusammenhang mit Infektionen und Katheterisierung – führten dazu, dass man verschiedene chirurgische Lösungen zu testen begann. Diese bestanden oftmals darin, dass unterschiedliche Instrumente über die Harnröhre eingeführt wurden und der Arzt versuchte, das störende Prostatagewebe abzutragen oder wegzubrennen. Es handelte sich allerdings eher um kurzfristige Lösungen, da die Prostata weiter wuchs und neue Probleme hervorrief. Medizinische Errungenschaften wie die Anästhesie (lokale Narkose oder Vollnarkose) und die Antiseptik (Methoden zum Abtöten von Bakterien sowie zur Vorbeugung bakte-
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rieller Infektionen) ermöglichten es, Patienten zu narkotisieren und Instrumente zu sterilisieren, und so begann man alsbald, auch operative Eingriffe über die Dammregion oder die Bauchdecke zu testen. Diese Eingriffe waren allerdings nicht ganz unproblematisch. Zum einen erwies es sich als schwierig, die Prostata überhaupt zu erreichen, ohne andere innere Organe zu beschädigen. In vielen der zeitgenössischen Schilderungen von Prostataoperationen erwähnen Ärzte, es sei, als würde man blind operieren. Zum anderen war das Infektionsrisiko insbesondere bei Eingriffen über die Bauchwand hoch. Zudem war die Wirkung dieser Eingriffe ausschließlich palliativer Natur, sie zielten auf eine Erhöhung der Lebenserwartung und -qualität des Patienten ab, anstatt die eigentliche Ursache zu beheben. Da die Prostata nicht komplett entfernt wurde, kehrten viele Patienten mit demselben Problem zurück, weil sie weiter wuchs. Der Bedarf an permanent wirksamen Behandlungsmethoden war demnach groß.
Wieso Kastration? Es waren zwei Ärzte, der Norweger Fredrik Ramm und der Amerikaner William White, die 1893 auf die Idee kamen, die gutartige Prostatavergrößerung mittels Kastration zu behandeln.9 Genauer gesagt führten beide unabhängig voneinander entsprechende Experimente durch und veröffentlichten ihre Forschungsergebnisse. Die Idee war allerdings nicht so einzigartig, wie man annehmen könnte. Ramm und White begründeten ihre Hypothesen mehr oder weniger auf denselben Argumenten. Zum einen hatten sie sich von der Therapie bei Uterusmyomen (gutartigen Wucherungen in der Gebärmutter) inspirieren lassen, die erfolgreich mittels Kastration – in diesem Fall der chirurgischen Entfernung der weiblichen Eierstöcke – behandelt wurden. Möglicherweise hatten die Prostata und die Gebärmutter einen vergleichbaren embryologischen Ursprung und entwickelten sich aus derselben embryonalen Anlage? In dem Fall konnte die Kastration möglicherweise auch bei Männern mit gutartiger Prostata-
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vergrößerung helfen. Obwohl die embryologische Forschung schon damals festgestellt hatte, dass dem nicht so war, beschlossen beide Ärzte, diesen Ansatz weiter zu verfolgen. Man glaubte zudem, Ähnlichkeiten zwischen den Wucherungen der Prostata und jenen in der Gebärmutter zu erkennen. Annandales Drainagesystem. Zur permanenten Drainage der Harnblase über einen suprapubischen Fistelkatheter.
Quelle: Illustration aus einer medizinischen Zeitschrif t, 1911.
Das zweite, schwerwiegendere Argument zugunsten der Kastration basierte auf Observationen bei Patienten, die entweder aus anderen Gründen kastriert oder mit bestimmten Anomalien geboren worden waren. Man stellte fest, dass Männer, die aufgrund einer Nebenhodenentzündung, Tuberkulose oder Unfallverletzung kastriert worden waren, eine verkleinerte Prostata aufwiesen. Bei Patienten, die man noch vor der Pubertät kastrierte, entwickelte sich die Prostata überhaupt nicht weiter, sie verblieb in einem rudimentären Zustand wie bei einem Kind. Allerdings wiesen die Betroffenen andere Abweichungen auf, sie entwickelten beispielsweise auch keine als typisch männlich betrachtete Physiognomie. Bedeutete dies, dass es bei erwachsenen Männern infolge der Kastration ebenfalls zu einer Feminisierung kommen würde? Würde das Bartwachstum nachlassen, das Becken breiter werden und die Stimme heller?
Kastration als Behandlungsmethode bei Prostataproblemen
Man verglich die Beobachtungen bei Männern, die aus anderen Gründen kastriert worden waren, und konnte keine derartige Feminisierung feststellen. Zusätzlich wurden weitere Vergleiche angestellt, etwa mit Männern, die kleine oder anomale Hoden oder einen Hodenhochstand aufwiesen. Man stellte fest, dass Personen mit normal großen Hoden eine als normal betrachtete männliche Entwicklung aufwiesen, während die körperliche Entwicklung bei kleinen, beschädigten oder nicht vorhandenen Hoden hinter den Erwartungen zurückblieb. Daraus schlussfolgerten die meisten Ärzte, dass die Hoden aus irgendwelchen Gründen für die Entwicklung männlicher Züge von Bedeutung sein mussten, ebenso wie die Eierstöcke für die Entwicklung weiblicher Züge wichtig waren. In diesem Zusammenhang sollte man bedenken, dass Hormone und ihre jeweilige Wirkung damals in der medizinischen Forschung noch keine Rolle spielten. Erst im Jahr 1905 galt es als bewiesen, dass derartige Substanzen existierten, auch wenn man sich über ihre genaue Funktion noch nicht ganz im Klaren war – geschweige denn über die Tatsache, dass es sich um Moleküle handelte, die von endokrinen Drüsen freigesetzt wurden, und nicht etwa um eine Substanz oder eine Flüssigkeit.10 Aber auch ohne dieses Wissen schienen die Ärzte verstanden zu haben, dass ein Zusammenhang zwischen den Hoden und der Prostata bestand. Ob dieser auf einer »inneren Sekretion«, einer Nervenwirkung oder völlig anderen Ursachen beruhte, konnte man damals nicht sagen. Wichtig war, dass die Hoden für die pubertäre Entwicklung, für die Entwicklung der Prostata von ihrer ursprünglichen rudimentären Form im Kindesalter hin zur ausgewachsenen Drüse bei Erwachsenen und für die Spermienbildung von entscheidender Bedeutung waren. Was genau sie im Körper bewirkten, war allerdings unklar. Benötigten ältere Männer, die das Alter der Fortpf lanzung überschritten hatten, ihre Hoden tatsächlich noch? War der Wunsch, sie zu behalten, nicht einfach nur sentimentaler Natur? Konnte es sein, dass die Hoden im Alter nicht mehr wie vorgesehen funktionierten und somit das Wachstum der Prostata bedingten? Mehrere Ärzte waren der Ansicht, dass die Hoden ihrer doppelten Funktion (pubertäre Entwicklung und
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Spermienproduktion), im Alter möglicherweise nicht mehr nachkamen und ihre Entfernung sich demnach positiv auf den Gesundheitszustand von Männern mit Prostatavergrößerung auswirken dürfte.11 Injektionsspritze nach Guyon mit olivenförmiger Spitze. Sie diente dazu, Spüllösungen in die Harnblase einzubringen, die anschließend eine Zeit lang darin verblieben.
Quelle: Illustration aus einer medizinischen Zeitschrif t, 1911.
Um ihre Argumentation zu stärken, führten einige Ärzte Tierversuche an diversen Tieren durch, bei denen die Männchen nachweislich eine Prostata besaßen. Insbesondere Hunde zählten recht bald zu den bevorzugten Versuchstieren, da man meinte, auch sie könnten an einer vergrößerten Prostata leiden. Aus diesem Grunde kastrierte man sie gezielt und schläferte sie nach unterschiedlich langer Zeit ein, um die Prostata unter anderem mikroskopisch untersuchen zu können. Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass die Prostata infolge der Kastration schrumpfte. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das Argument, Hunde könnten eine vergrößerte Prostata entwickeln, zu reichen schien, um sie als ultimative Versuchstiere zu betrachten. Die Untersuchungsberichte geben keinerlei Aufschluss darüber, ob die kastrierten Hunde tatsächlich eine vergrößerte Prostata aufwiesen. Standen einem keine Hunde zur Verfügung, so konnte man – gleich dem schwedischen Chirurgen Jacques Borelius – jederzeit auf Igel zurückgreifen. Borelius war überzeugt, dass Igel für derartige Experi-
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mente am besten geeignet waren, da sie besonders große Sexualdrüsen hätten und zudem über vier Prostatadrüsen verfügten.12 Die Schlussfolgerungen, die man in Bezug auf den männlichen Körper zog, waren zeitgemäß: Die Hoden beeinf lussten die Geschlechtsentwicklung und insbesondere die Weiterentwicklung der Vorsteherdrüse zur ausgewachsenen Prostata. Frederik Ramm und William White waren mit ihren Erkenntnissen zum Thema demnach nicht allein. Als die ersten Artikel zur Kastration veröffentlicht wurden, hatten mehrere Chirurgen die Methode bereits an ihren Patienten getestet. Die ersten Berichte fielen sehr positiv aus: Die Kastration wurde als ungefährlicher Eingriff betrachtet, die Prostata schrumpfte und die Beschwerden beim Wasserlassen sowie die Häufigkeit von Harnwegsinfekten gingen deutlich zurück.13 Es schien, als habe man eine hervorragende Lösung für ein ernstes Problem gefunden. Die Sterblichkeit hingegen war immer noch hoch, wurde allerdings mit dem Argument verteidigt, dass die Betroffenen nicht an den Folgen der Kastration, sondern aufgrund ihres oftmals schlechten Allgemeinzustands und hohen Alters zum Zeitpunkt der Operation starben. Viele waren daher der Ansicht, man sollte die Kastration deutlich früher vornehmen, wenn die Patienten noch überwiegend gesund und die Probleme nicht so gravierend waren. Überdies bestanden Zweifel, ob die Kastration überhaupt die Probleme im Zusammenhang mit der Harnblase, die infolge der Überdehnung und rezidivierender Infektionen auftraten, lösen konnte. Es waren nämlich in erster Linie eben diese Probleme, die den Patienten das Leben erschwerten. Einige Ärzte behaupteten, dass sie auch da Abhilfe schaffen könnten, wenn das Grundproblem mithilfe der Kastration erst einmal behoben sei.
Empfanden alle die Kastration als eine gute Idee? Trotz allem betraf die Kastration in erster Linie die Hoden, den Sitz der Männlichkeit, und nicht alle waren mit deren Entfernung einverstanden. Einige Patienten lehnten die Behandlung daher ab; und viele
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von denen, die ihr zustimmten, taten dies nur aus purer Verzweif lung. Auch die Ärzteschaft war diesbezüglich geteilter Meinung. Während einige der Ansicht waren, dass die Hoden bei einem Mann im hohen Alter – was ja auf einen Großteil der Patienten zutraf – keinerlei Funktion mehr erfüllten und das Festhalten an ihnen schlichtweg ein Zeichen falscher Sentimentalität sei, vertraten andere die Meinung, die Hoden seien auch weiterhin von Bedeutung und eine Entfernung daher durchaus mit schädlichen Konsequenzen verbunden. Mit der Zeit tauchten nämlich verschiedene Berichte auf, dass Patienten infolge der Kastration psychische Beschwerden entwickelt hätten und manche gar nach dem Eingriff an akuter Manie gestorben seien. Die meisten Ärzte meinten allerdings, dass dies keine ungewöhnliche Reaktion auf chirurgische Eingriffe bei älteren Patienten sei – es handele sich vielmehr um eine Nebenwirkung der Vollnarkose im Rahmen der Operation. Aufgrund dieser Auswirkungen auf die Psyche der Betroffenen sprachen viele schwedische Ärzte sich gegen die Kastration aus und bezeichneten die Entfernung der Hoden eines Mannes, so sie nicht aus medizinischer Sicht zwingend nötig war, als Verstümmelung.14 Die kritischen Stimmen wurden immer lauter, und William White, der der Kastration anfangs positiv gegenüberstand, begann nun davor zu warnen, Männer allzu freigiebig und für jedes beliebige Problem mit den Harnwegen zu kastrieren. Ungefähr Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Kastration von Frauen zur Behandlung aller möglichen Leiden innerhalb medizinischer Kreise für starke Kritik an den Gynäkologen gesorgt. White sowie weitere Ärzte wiesen nun darauf hin, wie wichtig es sei, dass die Urologen mit ihren männlichen Patienten nicht auf die gleiche Weise verfuhren.15 Trotz der Bedenken hatte sich die Kastration Ende des 19. Jahrhunderts als eine von mehreren Methoden zur Behandlung der gutartigen Prostatavergrößerung etabliert. Die Ärzte begannen auch zu verstehen, dass die als gutartige Prostatavergrößerung bezeichneten Zustände sich zuweilen durchaus voneinander unterschieden. Aus dem Grunde unterteilte man die Patienten nunmehr in drei verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Behandlungsempfehlungen. Wenn
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sich die Prostata groß und weich anfühlte, wurde eine Kastration empfohlen, die häufig zu einer Verbesserung – wenn auch nicht zu völliger Symptomfreiheit – führte. War die Prostata hart und »fibrös«, empfahl man stattdessen irgendeine Variante der Prostatektomie, bei der die Prostata über einen Schnitt in die Bauchwand oder das Perineum teilweise oder komplett entfernt wurde. Vergleichbar verfuhr man auch mit adenomähnlichen Prostatapolypen, also gutartigen Tumoren; diese wurden ebenfalls mittels Prostatektomie entfernt.
Wieso hörte man mit der Kastration zur Behandlung der gutartigen Prostatavergrößerung auf? Rund um die Wende zum 20. Jahrhundert geschahen einige Dinge, die gemeinsam dazu führten, dass die Ärzte die Kastration als Behandlungsmethode verwarfen. Zum einen hatte man mittlerweile mehrere Patienten über einen längeren Zeitraum (die ersten von ihnen waren bereits 1893 kastriert worden) beobachten können und festgestellt, dass die Langzeitprognose nach einer Kastration nicht sonderlich positiv war. Viele Patienten zeigten unmittelbar nach der Operation eine deutliche Zustandsverbesserung, die Wirkung hielt allerdings nicht immer an, und in einigen Fällen verschlechterte sich der Zustand der Patienten sogar. Ein Vorteil der Kastration war, dass die Katheterisierung anschließend wieder leichterfiel und zugleich weniger häufig durchgeführt werden musste. Eine andere Veränderung, die in jener Zeit vor sich ging, war die Entwicklung von Sterilisierungsmethoden für Katheter, die von den Patienten zuhause angewendet werden konnten. Auch neue Katheter aus angenehmerem, weicherem und pf legeleichtem Material wurden entwickelt. Man begann, die Patienten über die Bedeutung einer guten Hygiene aufzuklären; dazu gehörte neben dem Reinigen und Sterilisieren des Katheters auch das Waschen der Harnröhrenöffnung und der Eichel mit Wasser und Seife, ehe der Katheter eingeführt wurde. Durch diese Maßnahmen wurde die Katheterisierung deutlich siche-
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rer. Die Häufigkeit von Harnwegsinfekten und das Risiko für Folgekomplikationen gingen zurück. Viele Männer konnten nun ein gutes und angenehmes Leben führen, ohne dass es weiterer Eingriffe als der Katheterisierung bedurfte. Im Bereich der Antiseptik – dem Reinigen und Sterilisieren von Instrumenten – wurden in jener Zeit enorme Fortschritte verzeichnet. Um die Wende zum 20. Jahrhundert war die Sterblichkeit bei Bauchoperationen drastisch gesunken, sodass auch Prostatektomien, die einst mit einem erheblichen Risiko verbunden waren, nun deutlich sicherer wurden.16 Zudem stellte sich heraus, dass die Langzeitwirkung dieser Operationen besser war als beispielsweise jene von Kastrationen. Mit der zunehmenden Sicherheit von chirurgischen Eingriffen wie der Prostatektomie folgte auch die Verfeinerung von Operationstechniken. Seit Einführung der Vollnarkose Mitte des 19. Jahrhunderts konnten die Ärzte in aller Ruhe am liegenden und schlafenden Patienten operieren. Die Operationsmethoden wurden genauer und konnten auch bei komplizierteren Fällen angewendet werden. Der beste Chirurg war nun nicht mehr jener, der am schnellsten operieren konnte. Die Entwicklung antiseptischer Methoden machte das Operieren – insbesondere Eingriffe im Bauchraum, die mit einem hohen Infektionsrisiko verbunden waren – deutlich sicherer. Die rund um die Jahrhundertwende erzielten Fortschritte in diesen beiden Bereichen trugen also dazu bei, dass das Risiko für Operationen am offenen Körper maßgeblich zurückging. Und so wurde die Kastration langsam, aber sicher von Behandlungsmethoden verdrängt, die sicherer und auch wirksamer waren. Bei einigen Patienten war das Behandlungsergebnis nach einer Kastration durchaus zufriedenstellend und führte sogar dazu, dass die gesamte Prostata schrumpfte. Soweit man es damals nachvollziehen konnte, traten auch später in ihrem Leben keine weiteren Komplikationen auf. Bei vielen anderen blieb das Behandlungsergebnis allerdings weit oder zumindest teilweise hinter den Erwartungen zurück. In einigen Fällen schrumpfte die Prostata nur geringfügig, in anderen
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überhaupt nicht; die komplette Rückbildung der Prostata, die allen Patienten in Aussicht gestellt worden war, blieb also meist aus. Entsprechend wurde die Kastration nicht zu der erhofften universellen Behandlungsmethode bei gutartiger Prostatavergrößerung. Zum Ende der hier untersuchten Periode, rund um die Wende zum 20. Jahrhundert also, waren die Mediziner der westlichen Welt sich einig, dass es sich bei der Prostata um eine Drüse handelte, die mit der Sexualität des Mannes im Zusammenhang stand. Vielerorts hatte sich die Urologie als Fachrichtung etabliert; aber was genau nun die gutartige Prostatavergrößerung verursachte, war noch immer unklar. Aufgrund der verbesserten Behandlungsmethoden galt sie allerdings nicht mehr als lebensbedrohlicher Zustand. Viele der Betroffenen hatten nun trotz ihrer vergrößerten Prostata eine deutlich längere Lebenserwartung, auch wenn einige dennoch so starke Beschwerden entwickelten, dass eine Operation unumgänglich schien.
Die Rückkehr der Kastration Einige Jahrzehnte später sollte die Kastration als Behandlungsmethode für Prostataprobleme ein Comeback erleben. Diesmal ging es allerdings darum, Krebs zu bekämpfen. Im Jahr 1941 wurden die ersten Krebspatienten mittels Operation oder über die Gabe von Östrogenen, die ein Schrumpfen der Prostata bewirken sollten, behandelt. Das Ziel war also dasselbe wie während der 1890er Jahre: Eine aus welchen Gründen auch immer vergrößerte Prostata sollte infolge einer Kastration schrumpfen – nur dass es diesmal weniger um eine chirurgische als vielmehr um eine chemische Behandlung ging. Einer der Männer, die feststellten, dass Hormone das Wachstum bestimmter Krebsarten kontrollieren konnten, war Charles Brenton Huggins, der 1966 für seine Entdeckung den Nobelpreis für Medizin erhielt. Diese Behandlungsvariante, bei der mithilfe von Hormonen ein vergleichbarer Effekt wie durch die chirurgische Kastration erzielt werden soll, wird
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auch heute noch erfolgreich bei der Behandlung von Prostatakrebs verwendet und als Hormontherapie bezeichnet.17
Literaturempfehlungen Valier, Helen (2016): A History of Prostate Cancer. Cancer, Men and Medicine. Basingstoke: Palgrave Macmillan.
Anmerkungen 1 Maclaren, Roderick (1896): »Address In Surgery. On Preventive Surgery«, in: The British Medical Journal, 2 (1857), S. 261. 2 Valier, Helen (2016): A History of Prostate Cancer. Cancer, Men and Medicine. Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 47. 3 Borelius, Jacques (1897): »Bidrag till den s.k. prostatahypertrofiens patologi och terapi. II«, in: Hygiea, Juni, S. 642. 4 Bratt, Ola & Åkesson, Kristina (2011): »Osteoporos vid kastrationsbehandling – ett försummat område«, in: Läkartidningen, 108 (39), S. 1902-1905. 5 French, Roger (2004): »William Harvey«, in: Oxford Dictionary of National Biography, https://doi.org/10.1093/ref:odnb/12531. 6 Marx, Franz Josef & Karenberg, Axel (2009): »History of the Term Prostate«, in: The Prostate, 69, S. 208-213. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 White, William (1893): »The Present Position of the Surgery of the Hypertrophied Prostate«, in: Annals of Surgery, 18 (2), S. 152-188; Ramm, Fredrik (1896): »Kastration ved Prostatahypertrofi«, Beilage des Norsk Magazin for Lægevidenskaben, Mai. Die Veröffentlichung von Ramms Artikel verzögerte sich bis 1896, da Ramm einen neuen Dienst antrat und Angaben zufolge keine Zeit hatte, den Artikel fertigzustellen. Die Quellen der anderen Autoren und die erwähnte Argumentation datieren allerdings auf das Jahr 1894. 10 Sengoopta, Chandak (2006): The Most Secret Quintessence Of Life: Sex, Glands, And Hormones, 1850-1950. Chicago: University of Chicago Press, S. 1. 11 White, William (1893): »The Present Position of the Surgery of the Hypertrophied Prostate«; White, William (1895): »The results of double castration in hypertrofy of the prostate«, in: Annals of Surgery, 22 (1), S. 2-3; Mansell Moullin, C.W. (1894): »The Pathology of enlargement of the prostate«, The Lancet, 144:3712, S. 909; Ramm, Fredrik (1896): »Kastration ved Prostatahypertrofi«, S. 31.
Kastration als Behandlungsmethode bei Prostataproblemen
12 Borelius, Jacques (1897): »Bidrag till den s.k. prostatahypertrofiens patologi och terapi. I«, in: Hygiea, Februar, S. 280-281. 13 Fremont-Smith, F. (1894): »A Case of Obstructive Hypertrophy of the Prostate Treated by Castration«, in: Annals of Surgery, 20 (1), S. 52-55; Jennings, Charles E. (1895): »Castration for Prostatic Hypertrophy«, in: The British Medical Journal, 19. Januar, 1 (1771), S. 171; Mansell Moullin, C.W. (1894): »On the Treatment of Enlargement of the Prostate by Removal of the Testes«, in: The British Medical Journal, 3. November 2:1766, S. 976; Swain, James (1895): »Castration for Prostatic Hypertrophy«, in: The British Medical Journal, 5. Januar, 1 (1775), S. 13; Fenwick, Hurry E. (1895): »Observations on the Effects of Double Castration (White’s Operation) Upon the Enlarged Prostate«, in: The British Medical Journal, 16. März, 1 (1785), S. 579. 14 Hansson, Anders (1897): »Nordiska kirurgiska föreningens tredje möte i Helsingfors den 12-14 augusti 1897«, in: Hygiea, Oktober, S. 394. 15 White, William (1897): »Castration and Vasectomy in Hypertrophy of the Prostate«, in: University Medical Magazine, April, S. 471. 16 »The Annus Medicus 1903«, in: The Lancet (1903), 26. Dezember, S. 1792. 17 Bratt, Ola & Åkesson, Kristina (2011): »Osteoporos vid kastrationsbehandling – ett försummat område«.
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Kapitel 9 Macht die Prostata den Mann zum Mann? Männer, Sexualität und die Prostata im frühen 20. Jahrhundert Maria Björkman & Alma Persson
Eine problematische Prostata und ihre schwerwiegenden Konsequenzen In einer amerikanischen medizinischen Zeitschrift für Urologie konnte man 1924 Folgendes über den Mann und seine alternde Prostata lesen: [S]obald die Prostata zu entgleisen begonnen hat, kann ein farbenfrohes Verhalten sowohl hinsichtlich der Kleidung als auch der Sprache erwartet werden, und das Opfer [der Mann] erlebt eine zweite Blüte, die sich in einem anhaltenden Begehren manifestiert, in die früheren Tage zurückzukehren, als die Prostata noch keine »psychischen Symptome« hervorrief. Um ehrlich zu sein, so ist dieser neue Verlauf im mittleren Alter der Prostatavergrößerung ziemlich überraschend, denn auch wenn wir schon immer wussten, dass eine vergrößerte Prostata körperliche Beschwerden von nicht zu vernachlässigender Natur hervorruft, so war uns bislang nicht klar, welchen Einfluss dieser Zustand auf den Geist hat – wie er das düstere Kleid zugunsten fröhlicher und lebhafter Farben und eines in ein Spektakel übergehenden Liebeslebens, das Jugendlichen nachgesehen werden kann, in hohem Alter allerdings lächerlich wirkt, verdrängt.1
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Dass die alternde (und folglich wachsende) Prostata körperliche Beschwerden hervorrufen konnte, war allgemein bekannt (siehe beispielsweise das vorhergehende Kapitel). Das obige Zitat zeigt allerdings, dass man auch der Auffassung war, sie könne noch ganz andere Symptome beim Mann hervorrufen, nämlich psychische Probleme, die zu einem als unziemlich geltenden Benehmen führen konnten. Man nahm an, dass die Prostata den Mann dazu bringen konnte, ein reifes und angemessenes Verhalten aufzugeben, sich stattdessen in extravagante Kleidung zu hüllen und sich, sein tatsächliches Alter vergessend, in verschiedene sowohl für ihn selbst als auch für seine Umgebung peinliche Situationen zu bringen. Wie kam es dazu, dass man die vergrößerte Prostata für so viele Probleme verantwortlich machte, die über das rein Körperliche hinausgingen und mitunter gar moralischen Charakters sein konnten? Wie sah das damalige Verständnis der Prostata aus? Welchen Zusammenhang zwischen der Prostata und dem Benehmen eines Mannes meinte man damals zu erkennen? Und welche Maßnahmen schlugen die medizinischen Experten jener Zeit vor, um der körperlichen oder psychischen Probleme Herr zu werden? Das einleitende Zitat entstammt dem Text eines Arztes für eine wissenschaftliche Zeitschrift. Trotz des ironisch anmutenden Tons basierten die Aussagen des Autors auf den damaligen medizinischen Fachkenntnissen. Damals wie heute strebte die medizinische Wissenschaft ein hohes Maß an Objektivität an. Wissenschaftliche, im Rahmen der Laborarbeit oder der ärztlichen Untersuchungspraxis gewonnene Fakten sollten auf eine sachliche und unparteiische Art analysiert werden. Ihre korrekte Auswertung konnte zu neuen Erkenntnissen und verbesserten Behandlungsmethoden führen und das Leiden für die Patienten verringern. Zugleich war die medizinische Wissenschaft ebenso wie heute geprägt von den Menschen, die sie praktizierten, und ihren jeweiligen Normen, Werten und Moralauffassungen. Um den Zusammenhang zwischen der alternden Prostata und dem als unangemessen betrachteten Benehmen verstehen zu können, bedarf es eines näheren Blickes auf die damalige Medizin und die zeitgenös-
Macht die Prostata den Mann zum Mann?
sischen Moralauffassungen im Zusammenhang mit dieser umstrittenen Drüse.
Prostatabedingte Probleme Die im einleitenden Zitat beschriebenen prostatabedingten Beschwerden basierten auf grundlegenden, auch heute noch geltenden Erkenntnissen zur Entwicklung der Prostata. Die Prostata, so stellte man fest, begann mit der Pubertät zu wachsen, bis sie im Erwachsenenalter die Größe einer Walnuss erreicht hatte. Ab dem mittleren Lebensalter erfolgte ein erneutes Wachstum, das schließlich im fortgeschrittenen Alter zu prostatabedingten Problemen führen konnte. Da die Prostata einen Teil der Harnröhre komplett umschließt, konnte ihr Wachstum dazu führen, dass die Harnröhre an der Stelle eingeengt und das Wasserlassen dadurch erschwert wurde. Zuweilen konnte der Druck auf die Harnröhre so stark sein, dass sie vollständig blockiert war und der Harn nicht abf ließen konnte. Aber selbst ohne eine solche komplette Blockade konnte die vergrößerte Prostata zu diversen Problemen wie einer unvollständigen Blasenentleerung und häufigerem Harndrang führen. Natürlich konnten einer Prostatavergrößerung neben dem altersbedingten Wachstum auch andere Ursachen wie Prostatasteine oder ein Adenom (gutartiger Tumor) zugrunde liegen. Krebs kam Mitte der 1920er Jahre den Schätzungen des amerikanischen Chirurgen James Polkey zufolge in zehn bis zwanzig Prozent der Fälle als Ursache für eine vergrößerte Prostata infrage. Altersbedingte Prostatabeschwerden wurden in den 1920er Jahren als übliches, einige Experten behaupteten gar: besonders häufiges Phänomen betrachtet. John Trible, ein amerikanischer Experte im Bereich der Urologie, behauptete, dass bis zu 80 Prozent aller Erkrankungen, die bei Männern über 50 auftraten, mit der Prostata in Zusammenhang gebracht werden konnten. Ebenso konnten 80 Prozent aller Todesfälle bei Männern über 50 wahrscheinlich direkt oder indirekt der Prostata zugeschrieben werden. Die vergrößerte Prostata,
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so der amerikanische Arzt George Phillips, führte oftmals zu einem vorzeitigen Tod, der die Männer wertvoller Jahre beraubte, in denen sie von den Früchten der harten Arbeit, die sie in jüngeren Jahren geleistet hatten, hätten zehren können.2 Unklar war jedoch, wieso einige Männer überhaupt keine Probleme mit ihrer wachsenden Prostata entwickelten, während zahlreiche andere unter Beschwerden litten, obwohl die Prostata nicht besonders vergrößert war. Einige Ärzte waren der Auffassung, dass eine sitzende Tätigkeit das Wachstum der Prostata stimulieren würde, während andere meinten, körperlich aktive Männer entwickelten eher Beschwerden. Während die einen zu dem Schluss kamen, dass übergewichtige Männer häufiger an Problemen aufgrund einer vergrößerten Prostata litten, behaupteten die anderen, es seien vielmehr die schmalen und »nervösen« Männer, bei denen die Beschwerden am stärksten ausgeprägt seien. In diesen Fragen herrschte zu jener Zeit demnach kein Konsens.3 Allerdings war es nicht nur das Wachstum der Prostata, das Probleme verursachen konnte. Sowohl ältere als auch junge Männer konnten von einer Prostatitis, einer akuten oder chronischen Entzündung der Prostata, betroffen sein. Als häufigste Ursachen für die Entstehung einer Prostatitis betrachtete man die Gonorrhö und andere bakterielle Infektionen. Aber auch häufig unterbrochener oder außerehelicher Geschlechtsverkehr, Onanie oder das Alter an sich konnten nach damaliger Auffassung zu einer Entzündung der Prostata führen. Die chronische Prostatitis konnte Nervenschädigungen, ein vermindertes sexuelles Vermögen, Rückenschmerzen oder »geistige Trägheit« hervorrufen. Ende des 19. Jahrhunderts, als das Fahrrad in den Vereinigten Staaten zunehmend zum alltäglichen Transportmittel wurde, meinte ein Arzt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem Radfahren und der Prostatitis zu erkennen, insbesondere wenn der Fahrradsattel sehr hart und die Wege holperig und uneben waren. Dies führte sogar so weit, dass der besagte Arzt sich weigerte, die Betroffenen zu behandeln, wenn sie nicht versprachen, das Radfahren einige Wochen lang zu unterlassen.
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Die unmittelbare Nähe der Prostata zu anderen Organen wie der Harnblase und der Harnröhre wurde als problematisch betrachtet, da die Gefahr bestand, dass Infektionen leicht auf die benachbarten Organe übergreifen konnten. Ein Arzt bezeichnete die Prostata gar als »Mülltonne des Körpers«.4 Allerdings schienen nicht nur die nahe liegenden Organe von den Auswirkungen einer problematischen Prostata bedroht. Wie eingangs angedeutet, nahmen die medizinischen Experten jener Zeit an, dass es durchaus auch zu psychischen Problemen kommen konnte. Eine Theorie diesbezüglich besagte, dass die Prostata eine Substanz absonderte, die sich direkt auf das Gehirn auswirkte. Dieser von der Prostata ausgeschüttete Wirkstoff, so glaubte man, konnte demnach auch die Psyche sowie die kognitiven Fähigkeiten der Betroffenen beeinträchtigen. Dem Chirurgen Polkey zufolge waren es die vergrößerte Prostata und die Prostatitis, die sich am stärksten auf den Geisteszustand des Mannes auswirkten. Wenn die von der Prostata ausgeschiedenen chemischen Substanzen das Gehirn erreichten, so Polkey, konnte dies zu Phänomenen wie Schlafstörungen, Gedächtnis- und Konzentrationsproblemen, Hypochondrie, Halluzinationen und sogar suizidalen Tendenzen führen. Die vergrößerte Prostata, hieß es, würde sich sogar auf das Sexualleben auswirken, und es genügte eine Phase harter intellektueller Arbeit oder der Trauer, um Prostata, Gehirn und Sexualleben aus dem natürlichen Gleichgewicht zu bringen. War die Prostata allerdings gesund, so konnte der Mann sich bis ins hohe Alter seiner Virilität erfreuen.5 Mit anderen Worten: Die Prostata musste gesund sein, damit der Mann optimal funktionierte. Die Inspiration zu der Hypothese, dass die Prostata bestimmte Substanzen ausschüttete, entstammte mit hoher Wahrscheinlichkeit der damals auf kommenden Hormonforschung. Seit den 1890er Jahren hatten die Forschungsbemühungen in diesem Bereich stetig zugenommen, und rund um die Wende zum 20. Jahrhundert konnten bereits mehrere chemische Substanzen verschiedener Drüsen des Körpers isoliert werden. In einigen Fällen konnte nachgewiesen werden, dass diese als Hormone bezeichneten Substanzen sich auf andere
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Organe auswirkten. Dies ließ es durchaus wahrscheinlich erscheinen, dass die von der Prostata abgesonderten chemischen Substanzen ebenfalls andere Organe, nicht zuletzt auch das Gehirn, beeinf lussen konnten – auch wenn noch unklar war, wie dies genau geschah.6
Die Prostata und die Männlichkeit Wie die Prostata und ihre Funktion im Körper beschrieben wurden, hing oftmals mit den Vorstellungen der jeweiligen Zeit zu Maskulinität und Sexualität zusammen. Das einleitende Zitat dieses Kapitels stellt dies beispielhaft dar. In diesem Fall war es die alternde, vergrößerte Prostata, die gestandene Männer dazu brachte, sich unangemessen zu kleiden und auf sexuellen Abwegen zu wandeln. Derart moralisierende Kommentare zum Einf luss der Prostata auf den männlichen Körper sind allerdings selten die Hauptbotschaft in diesen historischen medizinischen Texten. Sie sind eher als beiläufige Nebenprodukte wissenschaftlicher Abhandlungen über die Diagnostik und Therapie der Prostata zu verstehen. Zuweilen konnte man auch zwischen den Zeilen lesen, was in den Augen der Ärzte (und der Gesellschaft im Allgemeinen) den ideal funktionierenden Mann ausmachte. Solche Erwartungen werden beispielsweise in den Beschreibungen von Patientenfällen und in den Zusammenfassungen von erfolgreichen oder misslungenen Behandlungen deutlich. Sie helfen uns zu verstehen, welche Normen und Werte sowohl die Urologen als auch ihre Patienten damals prägten. Historiker, die sich mit den Anfang des 20. Jahrhunderts herrschenden Männlichkeitsidealen auseinandergesetzt haben, betonen häufig, wie zunehmend medizinische Sichtweisen das Selbstbild von Männern prägten, seit die medizinischen Wissenschaften einen höheren gesellschaftlichen Status genossen. Die Sexologie zählte zu jenen Bereichen, die einen erheblichen Einf luss darauf hatten, wie Männer sich selbst sahen. Anfang des 20. Jahrhunderts galt es als erstrebenswert, sexuell aktiv sein zu können – und zwar möglichst bis ins hohe
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Alter. Allerdings galt es ebenso zu beachten, dass man auf die richtige Art und Weise, nämlich heterosexuell und innerehelich, sexuell aktiv war. Ein weiteres Ideal des frühen 20. Jahrhunderts bestand in der persönlichen Selbstoptimierung mit dem Ziel, zu einem nützlicheren Mitglied der Gesellschaft zu werden. Um leistungsstark, effizient und potent zu sein, bedurfte es einer guten Gesundheit.7 Eine klare Erwartung seitens der Gesellschaft an den Mann, die sich auch in den Aussagen der Ärzte widerspiegelt, war, dass er in der Familie die Rolle des Ernährers einnahm. Um zum Auf bau und Erhalt der Gesellschaft beitragen zu können, musste ein Mann bis ins hohe Alter arbeitsfähig sein. Zudem hatte er als Stützpfeiler seiner Familie zu fungieren. Eine entzündete oder vergrößerte Prostata konnte allerdings das Arbeitsvermögen stark beeinträchtigen und ihn seiner Funktion als nützliches Mitglied der Gesellschaft berauben. Die vergrößerte Prostata, so behauptete ein Arzt, konnte nämlich zu Gedächtnis- und Konzentrationsschwierigkeiten führen und schlimmstenfalls den vollständigen Verlust der intellektuellen Kapazität bewirken. Ein anderer meinte, dass ein Mann in seiner Arbeit keinerlei Fortschritte erzielen könne, solange er unter dem Einf luss der giftigen Substanzen stand, die von der entzündeten Prostata ausgeschieden wurden. Die Erkrankungen der Prostata, meinten die Ärzte, trügen somit zu Armut und sozialen Problemen bei.8 Eine weitere recht offensichtliche Erwartung betraf die sexuelle Kapazität des Mannes und seine Zeugungsfähigkeit. Der Chirurg Phillips stellte im Jahr 1903 fest, es bestünde eine breite Einigkeit dahingehend, dass die Prostata in erster Linie ein sexuelles Organ sei. So war man unter anderem der Auffassung, sie spiele eine ausschlaggebende Rolle für den männlichen Orgasmus. Es sei diese Drüse – und das mit ihr verbundene sensible Nervensystem –, die für das Wonnegefühl des Orgasmus verantwortlich sei. Der Arzt G.W. Overall bezeichnete die Prostata gar als »Ort des sexuellen Gehirns«. In seinen Beschreibungen zur sexuellen Funktion der Prostata verknüpfte er selbige nicht nur mit dem Orgasmus des Mannes, sondern auch mit dem der Part-
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nerin. Die Muskulatur der Prostata, so meinte er, gebe der Ejakulation die erforderliche Kraft, damit diese beim Auftreffen auf den Gebärmutterhals den Orgasmus der Frau auslösen konnte.9 Der Prostata wurde demnach eine zentrale Bedeutung für die sexuelle Befriedigung des Mannes und der Frau zugeschrieben. So zentral sie der damaligen Auffassung zufolge für die gesunde und erstrebenswerte Sexualität war, so eng war sie auch mit sexuellen Krankheiten und moralisch fragwürdigen sexuellen Gewohnheiten verbunden. Die Annahme, Sex könne eine Belastung für die Prostata darstellen, hing mit den Muskelkontraktionen während der Ejakulation zusammen. Allzu häufige Ejakulationen, so vermutete man, konnten die Prostata reizen und langfristig zu einer Entzündung führen. Paradoxerweise wurde zu wenig Sex als ebenso riskant betrachtet. Konnte der Mann sein sexuelles Verlangen nicht ausleben oder hatte zu selten Geschlechtsverkehr, so schien das Risiko einer Entzündung der Prostata ebenfalls erhöht. Die sexuelle Lust, ob zu selten befriedigt oder zu stark strapaziert, galt also als gesundheitliches Risiko. Bestimmte sexuelle Gewohnheiten – Onanie, unterbrochener Geschlechtsverkehr oder Hypersexualität – wurden als besonders belastend für die Prostata betrachtet. Diese »libidinösen Impulse« schienen bei Männern stärker ausgeprägt als bei Frauen, weshalb der männliche Körper als verletzlicher galt. Zu häufiger Geschlechtsverkehr, so hieß es, konnte zu einer Entzündung der Prostata (Prostatitis), aber auch zur Harnröhrenentzündung (Urethritis) oder -verengung (Harnröhrenstriktur) führen. Overall behauptete, es bestehe ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Onanie, der Prostata und einer ganzen Reihe nervöser Beschwerden. Durch das Onanieren würden die Nerven in den Genitalien kontinuierlich stimuliert, was wiederum zu einer ständigen Reizung der Prostata führe. Zugleich habe diese Reizung ein vermehrtes sexuelles Verlangen zur Folge, dessen Befriedigung eine zusätzliche Reizung der Prostata bewirke. Auf diese Weise entstehe ein Teufelskreis aus Begehren und Irritation, der sich auf die Psyche des Mannes niederschlage.10
Macht die Prostata den Mann zum Mann?
Für die Betroffenen stellten die Folgen einer erkrankten Prostata ein nicht unbedeutendes Problem dar. Eine entzündete Prostata, etwa infolge von zu häufigem Geschlechtsverkehr oder Onanie, konnte dazu führen, dass die Männer »die Geistesschärfe, die sie einst besaßen, verloren«. Dies konnte psychische Beschwerden, geistige Trägheit oder Depressionen nach sich ziehen. In gravierenden Fällen, so hieß es, konnte es einen Mann in den Irrsinn oder gar in den Selbstmord treiben.
Behandlungen von Prostatabeschwerden – Katheter, Operation und Elektrotherapie Bis Ende des 19. Jahrhunderts stellten Operationen ein äußerst riskantes Unterfangen dar. Die wenigsten Menschen überlebten einen chirurgischen Eingriff, weshalb man nur im äußersten Notfall operierte. Das größte Risiko bestand bei offenen Operationen am Bauch, die im Rahmen der Prostatachirurgie üblich waren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbesserten sich die Überlebenschancen der Patienten. Ein Grund dafür war der in Laborstudien erbrachte Nachweis, dass verschiedene Mikroorganismen, beispielsweise Bakterien, Infektionen hervorrufen konnten. Dank umfassender Forschungsbemühungen konnte ermittelt werden, welche Bakterien für welche Infektionen verantwortlich waren und wie eine Übertragung auf den Patienten vermieden werden konnte. Infolge der neuen Erkenntnisse wurde die praktische Krankenhaushygiene im Zusammenhang mit Operationen verbessert und die Überlebenswahrscheinlichkeit nach einem chirurgischen Eingriff nahm zu.11 Trotz allem waren die hygienischen Bedingungen noch lange nicht optimal und die Sterblichkeit im Zusammenhang mit Operationen auch Anfang des 20. Jahrhunderts weiterhin hoch. Daher beschränkte man sich bei der Behandlung von Prostatabeschwerden häufig auf die Linderung von Symptomen. Welche lindernden Behandlungsmaßnahmen hatte die Medizin damals zu bieten? Bei Patienten, deren vergrößerte Prostata den
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Harnabf luss verhinderte oder erschwerte, konzentrierte man sich logischerweise darauf, dieses Hindernis zu beheben. Dies geschah oftmals mithilfe eines Katheters, eines schmalen Röhrchens, das über die Harnröhre bis hinauf in die Harnblase vorgeschoben wurde. Die Katheterisierung war allerdings schmerzhaft und führte nicht selten zu Entzündungen (siehe auch das vorhergehende Kapitel). Zur Linderung von Beschwerden und Schmerzen wurden verschiedene Medikamente wie Opium und Tollkirschenextrakt verabreicht. Um Entzündungen zu behandeln, wurden mitunter auch Bakterien tötende Lösungen über die Harnröhre oder das Rektum eingeführt. Zuweilen empfahl man den Patienten, warme Bäder zu nehmen oder mehrere Wochen das Bett zu hüten. Einige Ärzte rieten überdies, Momente längerer sexueller Erregung zu vermeiden, damit sich die Prostata erholen konnte.12 Die kontinuierliche Verbesserung der Operationsmethoden ermöglichte mit der Zeit zunehmend radikalere Eingriffe. Viele Ärzte standen dem positiv gegenüber und waren neugierig, was die neue und moderne Chirurgie zu bieten hatte. Da weder die Katheterisierung, noch Arzneimittel oder Bettruhe die Probleme des Patienten heilen konnten, schien es ihnen verlockend, mit neuen Operationstechniken, von denen sie gehört oder gelesen hatten, zu experimentieren.
Macht die Prostata den Mann zum Mann?
Illustration einer Prostataoperation aus einem 1922 veröf fentlichten Handbuch.
Die komplette Entfernung der Prostata zählte zu diesen neuartigen und radikalen Behandlungsmethoden. Bisherige chirurgische Methoden hatten sich darauf beschränkt, lediglich Teile der Prostata zu punktieren, abzutragen oder wegzuschneiden, mit dem Ergebnis, dass sie immer wieder nachwuchs und weiterhin Beschwerden hervorrief. Die radikale Chirurgie weckte bei den Ärzten die Hoffnung, ihren Patienten dauerhafte und schnelle Lösungen für ihre Probleme anbieten zu können. Sie signalisierte Fortschritt, Optimismus und Möglichkeiten und erfreute sich schon bald großer Beliebtheit.13
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Der eifrigste Befürworter der radikalen Prostatektomie war der amerikanische Urologe Hugh Young, der in Baltimore, USA, tätig wer. Er fühlte sich inspiriert von William Halstead, einem älteren Kollegen, der eine radikale Methode zur Behandlung von Brustkrebs entwickelt hatte: die Entfernung der gesamten betroffenen Brust. Young hoffte seinerseits, über die radikale Entfernung der Prostata die Lebenserwartung von Patienten mit nicht-metastasierendem Prostatakarzinom verlängern und Männer mit gutartiger Prostatavergrößerung komplett heilen zu können. Im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war die Bilanz der von ihm durchgeführten Operationen ungewöhnlich gut, von 400 mittels radikaler Prostatektomie behandelten Patienten waren nur drei Prozent den Folgen des Eingriffs erlegen.14 Illustration einer Prostataoperation aus einem 1922 veröf fentlichten Handbuch.
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Dass den Patienten das Urinieren nach der partiellen Entfernung der Prostata leichterfiel, wurde bereits in den 1830er Jahren zufällig entdeckt: Damals operierte der Chirurg Sir William Fergusson einen Patienten, um einen in der Harnblase gebildeten Stein zu entfernen. Während der Operation schnitt er versehentlich auch einen Teil der Prostata weg. Als der Patient genesen war, stellte er fest, dass ihm das Urinieren deutlich leichterfiel. Fergusson kam zu dem Schluss, dass dies der versehentlichen Entfernung eines Teils der Prostata zu verdanken war. Darauf hin begann er, bei Patienten mit vergleichbaren Beschwerden ebenfalls einen Teil der Prostata zu entfernen.15 Die radikale Prostatektomie mag in diesem Zusammenhang wie eine Erfolgsgeschichte klingen, weil sie die Probleme der Patienten scheinbar auf schnelle und reibungslose Art behob und einen permanenten Behandlungserfolg garantierte. Wie so oft war es allerdings nicht ganz so einfach. Nicht alle Chirurgen konnten so gute Behandlungsergebnisse erzielen wie Hugh Young, und zeitweilig herrschte enorme Uneinigkeit darüber, welche Operationsmethoden am sichersten und Erfolg versprechendsten seien. Einige Ärzte resignierten ob der Herausforderungen und kehrten zur Katheterisierung zurück, während andere mit der radikalen Chirurgie mehr Erfolg hatten. Allerdings gab es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch weitere Behandlungsalternativen, auf die Ärzte und andere medizinische Professionen zur Linderung von Prostatabeschwerden zurückgreifen konnten. Eine dieser Alternativen, die damals gewissermaßen ihre Blütezeit erlebte, war die sogenannte Elektrotherapie. Sie war ein Modekonzept ihrer Zeit, und ihr Erfolg beruhte unter anderem auf dem Vorteil, dass man tief liegende Organe behandeln konnte, ohne den Patienten aufschneiden zu müssen. Die Elektrizität versprühte einen Hauch von Modernität, und eine Zeit lang verkauften mehr oder weniger seriöse Hersteller und Händler in den Vereinigten Staaten Unmengen an elektrischen Apparaten für den medizinischen Heimgebrauch. Aber auch Ärzte hatten für die Elektrotherapie Verwendung. Auch wenn eine vergrößerte Prostata sich durch die Anwendung elektrischen Stroms nicht schrumpfen ließe, so konnte dieser, sofern kor-
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rekt angewendet, immerhin über Jahre hinweg die Geschmeidigkeit der Prostata bewahren und Männern das Risiko, an einer Prostataoperation zu sterben, folglich ersparen – so zumindest argumentierte einer der Befürworter der Elektrotherapie. Wenn sie von einem versierten Arzt korrekt ausgeführt wurde, sei sie überdies schmerzfrei und ermögliche es dem Patienten, nach der Behandlung zeitiger ins Berufsleben zurückzukehren.16
Die Prostata macht den Mann – abschließende Überlegungen Dieses Kapitel hat anhand einiger Beispiele aufgezeigt, wie Ärzte und Urologen Anfang des 20. Jahrhunderts über die Prostata und die mit ihr verbundenen Beschwerden dachten. Die Spezialisten beschrieben eine Reihe von Beschwerden – von akuten Entzündungen mit nur leichten Beschwerden bis hin zu chronischen und potenziell tödlichen Erkrankungen – und diskutierten die verschiedenen Behandlungsmethoden. Während sich die damaligen Vorstellungen in zahlreichen Punkten von unserer heutigen Auffassung der Prostata und prostatabedingter Leiden unterschieden, gab es auch einige Gemeinsamkeiten. Zwei Beobachtungen scheinen dabei besonders interessant: zum einen die Bedeutung, die der Prostata hinsichtlich des Arbeitsvermögens und des gesellschaftlichen Nutzens eines Mannes zugeschrieben wurde, zum anderen die Tatsache, dass moralische Fragen mit der Prostata – und im weitesten Sinne auch mit dem Fortbestand der gesamten Gesellschaft – verbunden waren. Betrachtet man die Erkenntnisse der verschiedenen medizinischen Texte aus einer ganzheitlichen Perspektive, so kristallisieren sich nicht nur die damaligen Auffassungen über die kranke und gesunde Prostata heraus, sondern auch die Konturen des seinerzeit als ideal geltenden Mannes. Der ideale Mann sollte energisch und unternehmerisch sein, hart arbeiten und gleichermaßen als Stützpfeiler der Gesellschaft und der eigenen Familie dienen. Er sollte heterosexuell, verheiratet und treu sein, Onanie aber tunlichst vermeiden. Zudem sollte er maßvollen
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Geschlechtsverkehr mit seiner Frau pf legen, vorzugsweise mit Ejakulation, um die Prostata zu schützen und seiner Frau ebenfalls einen Orgasmus zu ermöglichen. Er sollte idealerweise bis ins hohe Alter arbeiten und möglichst lange sexuell aktiv sein. Mit unserem heutigen Wissen und Erfahrungshorizont mag man ob der mangelnden Kenntnisse und Möglichkeiten der damaligen Medizin sowie der befremdlich anmutenden Argumentationen – etwa der Verknüpfung zwischen Arbeitsmoral, Sexualmoral und einer Drüse von der Größe einer Walnuss – nur ungläubig den Kopf schütteln. Zugleich sollten wir uns aber vielleicht auch die Frage stellen, welche Normen und Werte die medizinischen Texte unserer Zeit vermitteln? Dass sie nicht mit jenen des beginnenden 20. Jahrhunderts identisch sind, ist offensichtlich, aber bei genauerem Hinsehen werden wir erkennen, dass diese auch heute noch irgendwo zwischen den Zeilen zu finden sind.
Literaturempfehlungen Parks, Tim (2010): Teach us to sit still: a sceptic’s search for health and healing. London: Harvill Secker.
Anmerkungen 1 O.V. (1924): »Hypertrophy of the prostate and gay attire«, in: The Urologic and Cutaneous Review, 28, S. 252. 2 Polkey, James Hugh (1926): »Incomplete Late Results of Supra-Pubic Prostatectomy«, in: The Urologic and Cutaneous Review, 30, S. 68; Trible, John M. (1924): »Prostatitis: A Urological Problem«, in: The Urologic and Cutaneous Review, 28, S. 148; Phillips, George M. & Forty Distinguished Authorities (1903): Prostatic Hypertrophy from Every Surgical Standpoint (Martin, S.C. Jr., Hg.). St. Louis: The Ajod Company Medical Publishers, S. 11. 3 Phillips, S. 106. 4 Trible, S. 126, 147-148; Overall G.W. (undatiertes Schriftdokument, ca. 1900): A Synopsis of Reprints on the treatment of Stricture, Urethritis, Prostatitis, Cystitis, Impotency and Spermatorrhea with Electricity, Cataphoresis and allied remedies, as taken from the Mississippi Valley Medical Journal of --, 1883, and August, 1887; Medical Mirror of April, 1896, and
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the Journal of the American Medical Association of January 21st, 1899 etc., S. 7; o. A.: »The Prophylactic Value of Prostate Massage in Acute Anterior Gonorrhea«, in: The Urologic and Cutaneous Review (1926), 30, S. 117; Arwine, James T. (1897): »The Bicycle as a cause of prostatitis«, in: American Journal of Dermatology and Genito-Urinary Diseases, 1 (1), S. 34-35. 5 Polkey, S. 72-73; Overall, S. 24. 6 Nordlund, Christer (2007): »Endocrinology and Expectations in 1930s America: Louis Berman’s Ideas on New Creations in Human Beings«, in: The British Journal for the History of Science, 40 (1), S. 83-104, insbesondere S. 86. 7 Davidow Hirschbein, Laura (2000): »The Glandular Solution: Sex, Masculinity, and Aging in the 1920s«, in: Journal of the History of Sexuality, 12 (3), S. 277-304, insbesondere S. 286-287. 8 Polkey, S. 73, Trible, S. 147-149. 9 Phillips, S. 18; Overall, S. 19. 10 Overall, S. 23. 11 Schlich, Thomas (2012): »Asepsis and Bacteriology: A Realignment of Surgery and Laboratory Science«, in: Medical History, 56 (3), S. 311-318. 12 Phillips 1903, passim. 13 Wilde, Sally (2009): »Truth, Trust, and Confidence in Surgery, 1890-1910: Patient Autonomy, Communication, and Consent«, in: Bulletin of the History of Medicine, 83 (2), S. 323-328. 14 Valier, Helen (2016): A History of Prostate Cancer: Cancer, Men and Medicine. Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 55-56. 15 Shelley, Harry S. (1969): »The Enlarged Prostate: A Brief History of Its Treatment«, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences, 24, S. 458. 16 Overall, Vorwort und S. 25.
Über die Autoren
Elin Björk ist Doktorandin am TEMA T-Institut (Tema Teknik och social förändring – Technologie und soziale Veränderung) der Universität von Linköping. Sie schreibt eine Abhandlung zum Thema Kastration als Behandlungsmethode bei gutartiger Prostatavergrößerung Ende des 19. Jahrhunderts und interessiert sich für die Schnittpunkte zwischen medizinischer Wissensproduktion, Gender und Technik. Maria Björkman ist Forscherin im Bereich der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte am Seminar für Ideengeschichte (Institutionen för idé- och lärdomshistoria) der Universität von Uppsala. Sie interessiert sich in erster Linie für die kulturellen und politischen Aspekte der Medizin, mit besonderem Fokus auf soziale Netzwerke, Biopolitik und Identität. In ihrem aktuellen Forschungsprojekt befasst sie sich mit ethischen Konf likten im Zusammenhang mit dem schwedischen Contergan-Skandal (Neurosedynskandalen). Jelmer Brüggemann ist medizinischer Soziologe und Lehrbeauftragter am TEMA T-Institut (Tema Teknik och social förändring – Thema Technik und soziale Veränderung) der Universität von Linköping. Er untersucht Diskriminierung in der Gesundheitsfürsorge, die Agency-Beziehung zwischen Arzt und Patienten und die Geschlechterkonstruktion durch die medizinische Praxis. Sein Forschungsinteresse gilt der Entstehung sozialer Normen in Bezug auf Identität, gute medizinische Praxis und Patiententum in einem medizinischen Kontext.
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Der Mann und die Prostata
Carina Danemalm Jägervall ist Sexualberaterin und Urotherapeutin und spezialisiert auf sexuelle Rehabilitation im Zusammenhang mit der Behandlung von Prostatakrebs. Sie ist an der chirurgischen Klinik in Växjo, Region Kronoberg, tätig und befasst sich in ihrer Forschung mit den sexuellen Veränderungen im Zusammenhang mit der Behandlung von Prostatakrebs. 2019 wurde ihr Buch zum Thema Prostatakrebs und Sexualität vom schwedischen Prostatakrebsverband (Prostatacancerförbundet) veröffentlicht. Jenny Gleisner ist Lehrbeauftragte am TEMA T-Institut (Tema Teknik och social förändring – Thema Technik und soziale Veränderung) der Universität von Linköping. Im Rahmen ihrer Forschung befasst sie sich mit Normen, Gefühlen, Lehr- und Wissenspraktiken in Gesundheitsberufen und Gesundheitsausbildungen. Ausgehend von der Sozialanthropologie und den Technologie- und Wissenschaftsstudien erforscht sie, was professionelles Verhalten in der Praxis bedeutet und wie es in der Lehre thematisiert wird sowie auf welche Art medizinisches Wissen an Patienten vermittelt wird. Sonja Jerak-Zuiderent ist Lehrbeauftragte der Abteilung für medizinische Ethik am AMC (Akademisch-Medizinisches Zentrum) der Universität von Amsterdam. Ausgehend von den feministischen Technologie- und Wissenschaftsstudien, der Anthropologie und der Philosophie untersucht sie vernachlässigte alltägliche Praktiken der Gesundheitsfürsorge. Sie hat über Qualitätssicherung und Patientensicherheit in der Gesundheitsfürsorge geschrieben und interessiert sich für die ethnographische Wissensproduktion. In ihrer aktuellen Forschung beschäftigt sie sich damit, wie sich »gute wissenschaftliche Praxis« innerhalb einer Disziplin sowie interdisziplinär durchsetzen lässt. Ericka Johnson ist Professorin am TEMA G-Institut (Tema Genus – Thema Gender) der Universität von Linköping und Projektleiterin der beiden Projekte, auf denen dieses Buch basiert. Ihr Forschungs-
Über die Autoren
schwerpunkt liegt auf Genderaspekten im Zusammenhang mit Arzneimitteln, und ihre aktuellsten Bücher in diesem Bereich sind Gendering Drugs (2017) und Glocal Pharma (2016). Oscar Javier Maldonado Castañeda ist Lehrbeauftragter am Seminar für Soziologie der humanwissenschaftlichen Fakultät an der Rosarios-Universität in Bogotá, Kolumbien. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Analyse des Schnittpunkts zwischen Kontrolle und Quantifizierung von operativen Zielen im Gesundheitswesen. Dabei bedient er sich ausgewählter Methoden der materiellen Semiotik, feministischen Technowissenschaften, Marktanthropologie und politischen Wissenschaftssoziologie. Alma Persson ist Dozentin am TEMA G-Institut (Tema Genus – Thema Gender) der Universität von Linköping und hat sich auf Gender und Organisationen spezialisiert. In ihrer Forschung hat sie sich mit Gewalt in nahen Beziehungen auseinandergesetzt sowie das schwedische Militär (Försvarsmakten) von verschiedenen Gesichtspunkten aus untersucht. In einer ihrer aktuellen Studien analysiert sie die Infrastruktur der geschlechtsneutralen Wehrpf licht.
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Soziologie Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)
movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018
Februar 2019, 246 S., kart. 24,99 €(DE), 978-3-8376-4474-6
Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)
Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten 2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7
Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf
Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Soziologie Gianna Behrendt, Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Fakten 2018, 166 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4362-6 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4362-0
Heike Delitz
Kollektive Identitäten 2018, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3724-3 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3724-7
Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Materialität 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 €(DE), ISBN 978-3-8394-4073-5
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