Menschen mit Demenz erreichen und unterstützen – die Marte-Meo-Methode [1 ed.] 9783666406263, 9783525406267


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Menschen mit Demenz erreichen und unterstützen – die Marte-Meo-Methode [1 ed.]
 9783666406263, 9783525406267

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Leben.Lieben.Arbeiten

SYSTEMISCH BERATEN

Christian Hawellek / Ursula Becker

Menschen mit Demenz erreichen und unterstützen – die Marte-Meo-Methode

Leben.Lieben.Arbeiten

SYSTEMISCH BERATEN Herausgegeben von Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe

Christian Hawellek/Ursula Becker

Menschen mit Demenz erreichen und unterstützen – die Marte-Meo-Methode Mit 4 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Matyas Rehak/shutterstock.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40626-3

Inhalt

Zu dieser Buchreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Vorwort von Arist von Schlippe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

I Der Kontext 1  Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2  Was ist Demenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Ein Begriff rückt ins allgemeine Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . 18 Erfahrungen von Betroffenen und Mitbetroffenen . . . . . . . . . 19 Die medizinische Sicht auf Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 II Die systemische Beratung 3  Was ist zu tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Die Pflege von Menschen mit Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Marte Meo in der Arbeit mit Demenzbetroffenen . . . . . . . . . . 44 Systemisches Denken und Marte Meo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Salutogenese – eine Orientierung für unterstützende Hilfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Erfahrungen mit Marte Meo in der Betreuung und Pflege von Menschen mit Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Den Menschen mit Demenz in den Blick nehmen . . . . . . . . . . 51 Marte Meo – Selbstvertrauen und Handlungssicherheit ermöglichen: Erster Fallbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Eine Zwischenbilanz: Die Erfahrungen mit Marte Meo in der Wohngemeinschaft einer Pflegeeinrichtung für Menschen mit Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

Marte Meo – verschüttete Fertigkeiten aktivieren: Zweiter Fallbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Marte Meo und herausforderndes Verhalten: Dritter Fallbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Marte Meo und traumatische Erfahrungen: Vierter Fallbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 4  Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 5  Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

III Am Ende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Der Autor und die Autorin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

Zu dieser Buchreihe

Die Reihe »Leben. Lieben. Arbeiten: systemisch beraten« befasst sich mit Herausforderungen menschlicher Existenz und deren Bewältigung. In ihr geht es um Themen, an denen Menschen wachsen oder zerbrechen, zueinanderfinden oder sich entzweien und bei denen Menschen sich gegenseitig unterstützen oder einander das Leben schwer machen können. Manche dieser Herausforderungen (Leben.) haben mit unserer biologischen Existenz, unserem gelebten Leben zu tun, mit Geburt und Tod, Krankheit und Gesundheit, Schicksal und Lebensführung. Andere (Lieben.) betreffen unsere intimen Beziehungen, deren Anfang und deren Ende, Liebe und Hass, Fürsorge und Vernachlässigung, Bindung und Freiheit. Wiederum andere Herausforderungen (Arbeiten.) behandeln planvolle Tätigkeiten, zumeist in Organisationen, wo es um Erwerbsarbeit und ehrenamtliche Arbeit geht, um Struktur und Chaos, um Aufstieg und Abstieg, um Freud und Leid menschlicher Zusammenarbeit in ihren vielen Facetten. Die Bände dieser Reihe beleuchten anschaulich und kompakt derartige ausgewählte Kontexte, in denen systemische Praxis hilfreich ist. Sie richten sich an Personen, die in ihrer Beratungstätigkeit mit jeweils spezifischen Herausforderungen konfrontiert sind, können aber auch für Betroffene hilfreich sein. Sie bieten Mittel zum Verständnis von Kontexten und geben Werkzeuge zu deren Bearbeitung an die Hand. Sie sind knapp, klar und gut verständlich

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geschrieben, allgemeine Überlegungen werden mit konkreten Fallbeispielen veranschaulicht und mögliche Wege »vom Problem zu Lösungen« werden skizziert. Auf unter 100 Buchseiten, mit etwas Glück an einem langen Abend oder einem kurzen Wochenende zu lesen, bieten sie zu dem jeweiligen lebensweltlichen Thema einen schnellen Überblick. Die Buchreihe schließt an unsere Lehrbücher der ­systemischen Therapie und Beratung an. Unsere Bücher zum systemischen Grund­ 8

lagenwissen (1996/2012) und zum störungsspezifischen Wissen (2006) fanden und finden weiterhin einen großen Leserkreis. Die aktuelle Reihe erkundet nun das kontextspezifische Wissen der systemischen Beratung. Es passt zu der unendlichen Vielfalt möglicher Kontexte, in denen sich »Leben. Lieben. Arbeiten« vollzieht, dass hier praxisbezogene kritische Analysen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ebenso willkommen sind wie Anregungen für individuelle und für kollektive Lösungswege. Um klinisch relevante Störungen, um systemische Theoriekonzepte und um spezifische beraterische Techniken geht es in diesen Bänden (nur) insoweit, als sie zum Verständnis und zur Bearbeitung der jeweiligen Herausforderungen bedeutsam sind. Wir laden Sie als Leserin und Leser ein, uns bei diesen Exkursionen zu begleiten. Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe

Vorwort

Marte Meo begegnete mir vor etwa zwanzig Jahren zum ersten Mal. Ich war begeistert, mit dem Ansatz verzweifelten Eltern zu helfen, die nicht wussten, wie sie mit ihren als schwierig erlebten Kindern umgehen sollten. Die Möglichkeit mit Hilfe der »unbestechlichen« neuen Video-Technologie nicht nur über das Geschehen zu sprechen, sondern das beklagte Verhalten und die elterlichen Reaktionen darauf unmittelbar rekonstruieren zu können, ermöglichte eine völlig andere Art von Gesprächen. Sie wurden eher zu einem Coaching für Eltern und erlaubten es oft sehr schnell, zu deren Anliegen vorzustoßen. Der durch und durch konstruktive Grundtenor des Vorgehens hat mich schnell fasziniert: Es wurde – und wird – nicht nach Defiziten gesucht, nicht nach etikettierenden Diagnosen, sondern danach, welcher Entwicklungsbedarf in dem jeweils auffälligen Verhalten des Kindes zu sehen ist. Anschließend wird geschaut, wo – und sei es nur in kleinen Ansätzen – im elterlichen Verhalten Momente erkennbar werden, in denen diese konstruktiv auf die kindlichen Bedürfnisse eingehen und das Kind ein Signal der Erleichterung, des Verstanden­ werdens oder der Freude zeigt. Man sieht das in den Videos oft beeindruckend schnell und die moderne Technik macht es möglich, das angehaltene Bild mit dem lächelnden Kind durch Makrofunktionen auch noch vergrößert zurückzuspiegeln. So entsteht rasch eine Arbeitsatmosphäre, die von freundlicher Sachlichkeit gekennzeich-

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net ist, die auch in den schwierigsten Situationen nach Ansätzen von Ressourcen sucht und diese letztlich immer auch findet (und seien sie noch so klein). Über die Jahre hinweg ist der Ansatz immer professioneller geworden und in viele Felder psychosozialer Arbeit vorgedrungen. Die Idee, dass in vielen Fällen eine Coaching-Beziehung auf Augenhöhe zahlreiche Problemstellungen befriedigend lösen kann, ist in vielfältigen Kontexten bestätigt worden. Insbesondere gilt dies, wenn 10

von den Ratsuchenden nicht in erster Linie umfangreiche psychotherapeutische Unterstützung gewünscht wird. Ein besonderer Kontext ist in diesem Zusammenhang Demenz. Hier ist es zwar besonders schwer, Augenhöhe herzustellen. Doch zeigen die Erfahrungen in diesem Umfeld, wie oft auch schwierige Verwicklungen sich auflösen, wenn elementare Rahmenbedingungen verwirklicht werden, durch die Menschen, die komplexe soziale Situationen nicht durchschauen können, Sicherheit und Orientierung vermittelt wird. Ganz ähnlich wie bei kleinen Kindern geht es hier um eine freundliche Form des Führens, durch die Vorhersagbarkeit und Klarheit vermittelt werden: es geht nicht um Unterordnung und Gehorsam, sondern darum, die Kooperationsbereitschaft des menschlichen Gegenübers mit seinen Beeinträchtigungen anzusprechen. Denn ein Mensch mit Demenz hat zwar einen Teil seiner Fähigkeit, die Welt gedanklich zu erschließen und sich in ihr zu orientieren, verloren, auch mehr oder weniger große Bereiche seines Gedächtnisses, zugleich aber bleibt er zu Emotionen fähig, insbesondere kann er auf für ihn undurchschaubare soziale Konstellationen mit zum Teil heftigen Gefühlen reagieren. Dieses Buch macht sehr explizit deutlich, dass gerade deshalb emotionale Sicherung für demente Menschen so wichtig ist, ein Bewusstsein, sich unabhängig von seinem Verhalten »als geliebt, berührt, gesehen und wahrgenommen« zu erleben. Es gibt jenseits aller schmerzlichen Verluste

etwas, das diesen ganz konkreten Menschen ausmacht und was die Autoren als unauslöschlich beschreiben. Mit dieser Grundhaltung kann dann in dem besonderen Kontext Demenz sehr professionell daran gearbeitet werden, genau diese Bedingungen herzustellen. Das Medium Video ermöglicht es den Pflegekräften, sich peu à peu mit sich selbst auseinanderzusetzen und konkrete Schritte zu gehen, die die Beziehung zu den Gepflegten auf eine stabile Basis stellen. Dadurch, dass von Demenz Betroffene – wie Kleinkinder – so unmittelbar positiv reagieren, wenn die hinter ihrem schwierigen Verhalten stehenden Bedürfnisse erkannt werden, ist die Chance groß, dass sich konstruktive Dynamiken entwickeln, die von allen Beteiligten als beglückend erlebt werden. In diesem Sinn wünsche ich dem Buch von Christian Hawellek und Ursula Becker eine breite Leserschaft, die sich von den Möglichkeiten von Marte Meo überzeugen und damit letztlich auch persönlich verändern lässt. Arist von Schlippe

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Der Kontext

1 Vorbemerkung Ein Text, der sich die Aufgabe stellt, die Möglichkeiten systemischer Hilfen für die Arbeit mit demenziell erkrankten Menschen1 zum Thema zu machen, passt ausgezeichnet zu einer Buchreihe mit den Überschriften »Leben. Lieben. Arbeiten«. Unter allen drei Schlagworten lassen sich besondere Herausforderungen der Situation von Menschen mit Demenz ausmachen.

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Leben: In ihrer Lebensgestaltung und -bewältigung sind sie in unterschiedlichem Maße auf die Sorge und Fürsorge ihrer Umgebung angewiesen. Damit gehen für alle Beteiligten viele Fragen, erhebliche Herausforderungen und Konflikte einher; z. B. die Frage, wie viel Autonomie den Betreffenden in konkreten Situationen zugestanden wird und werden muss. Wie wird Verantwortung übernommen, abgenommen, zugesprochen bei kleineren oder auch größeren Entscheidungen? Wer entscheidet etwa über größere finanzielle Ausgaben, über Umzug oder Verbleib in der Wohnung oder über das Steuern eines KFZ? Welche Entscheidungen müssen einvernehmlich getroffen werden und welche gegebenenfalls gegen den Willen der Betroffenen? Wie kann den Wünschen der Betroffenen entsprochen werden und wie können gleichzeitig die Bedürfnisse der anderen Familienmitglieder im Blick behalten werden? Hinter all diesen Fragen in ihren individuellen und spezifischen Ausformungen steht die allgemeinere Frage danach, wie ein Leben zu seinem Ende hin mit Achtung, Würde und Respekt für alle Beteiligten so gestaltet werden kann, dass Wohlbefinden und Lebensfreude darin noch einen angemessenen Platz finden können. Lieben: Lebensgeschichten sind über weite Strecken hinweg 1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Text möglichst eine neutrale oder die männliche Bezeichnung genutzt, gemeint sind aber jeweils alle Geschlechter.

Liebes­geschichten. Schon Sigmund Freud hat Lieben und Arbeiten als die zentralen menschlichen Lebensaufgaben herausgestellt – wenn diese gelingen, gelingt das Leben. Die Schicksale und Verläufe der Liebe prägen wesentlich den Gestaltungswillen und die Antriebskräfte der Menschen. Die Liebe hat sehr unterschiedliche Prägungen. Sie beginnt mit der ElternKind-Liebe, die sich im frühen Bindungsgeschehen ausdrückt und 15

macht, dehnt sich auch aus auf die Liebe zum Beruf, zur Musik

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ein Leben lang in unterschiedlichen Beziehungen sowohl einen Widerhall wie auch eine eigene Prägung erhält. Das, was Liebe ausund zu allem, was eine nachhaltige innere Berührung und ein Berührt-Werden erlaubt. Menschen mit Demenz verlieren ihre kognitiven Fähigkeiten, ihren Orientierungssinn und Teile ihres Erinnerungsvermögens, nicht aber ihre Fähigkeit zu fühlen und damit die Befähigung, liebevolle Gefühle zu hegen. Gleichzeitig sind sie in ganz besonderem Maße darauf angewiesen, sich als geliebt, berührt, gesehen und wahrgenommen zu erleben – trotz ihrer und mit ihren Einschränkungen und in dem, was sie ausmacht und was unauslöschlich ist. Arbeiten: Für die meisten Menschen ist die Arbeit ein wesentlicher Teil ihrer Identität. Neben dem Broterwerb vermittelt sie Lebenssinn, nämlich die Idee, einen nützlichen Beitrag geleistet zu haben, für die Familie, die Gesellschaft oder auch für bestimmte Projekte. Bei demenziellen Entwicklungen kann sich auch die Erinnerung an die Arbeit, an den Beruf auflösen. Das Bedürfnis nach einer Bestätigung, ein sinnerfülltes Leben gelebt zu haben, bleibt erhalten. In der Biografiearbeit mit demenziell veränderten Personen wird die Erinnerung an das Vergessene wieder aktiviert, wenn die Betroffenen hören, dass Menschen, die sie betreuen, wissen, wer sie sind oder waren. Auf diesem Weg werden Möglichkeiten geschaffen, verschlossene Erinnerungsfenster sozusagen von außen wieder zu öffnen. Die betreuenden Personen werden

zu Gewährsleuten für ein Leben, das einmal bestanden hat und immer noch der Person zugesprochen wird. Auch in ihrem aktuellen Leben möchten Menschen mit Demenz am alltäglichen gemeinschaftlichen Leben teilhaben. Gelingt dies, fühlen sie sich gesehen und wertgeschätzt. Neben der privaten Seite der menschlichen Identität gibt es immer auch eine öffentliche Seite. Wenn das eigene Bild von sich als ein gesellschaftlicher Jemand verloren geht, kann der Zuspruch von außen dieses Bild wieder lebendig werden lassen.

Kontext

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In diesem Text wird das Leben, Lieben und Arbeiten mit demenziell beeinträchtigten Menschen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Dabei gilt von den systemischen Arbeits- und Vorgehensweisen besonders den Möglichkeiten der beobachtungsgeleiteten Marte-Meo-Methode ein besonderes Augenmerk. Die Vorgehensweise mit Marte Meo wird anhand von Fallverläufen verdeutlicht. Systemisches Arbeiten verstehen wir hier als Arbeiten in Beziehungen. Systemische Berater und Helfer sind entsprechend dieser Sichtweise »Beziehungsarbeiter«. Damit bildet die Beschreibung von (professionellen) Erfahrungen und Erfahrungsberichten einen Schwerpunkt des Textes. Eher objektivierende Berichte wie Evaluationen von Hilfen finden zum Schluss ihren Raum. Der Text gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil geht es um Beschreibungen und Sichtweisen des Problems »Demenz«, also um die Frage »Was macht das Problem aus und was sind seine wichtigsten Kennzeichen?«. Dazu stellen wir das Phänomen »Demenz« aus drei unterschiedlichen Perspektiven dar: ȤȤ Eingangs gilt es, einen kurzen Blick auf die derzeit aktuellen gesellschaftlichen Diskurse zu werfen, die rund um das Thema Demenz entstanden sind.

ȤȤ In einem nächsten Schritt wird eine Annäherung an (Selbst-)Be­­ schreibungen und Problemsichten Betroffener gesucht. Dabei liegt der Fokus auch auf einigen typischen Erfahrungen von mitbetroffenen Bezugspersonen und Angehörigen von Menschen mit Demenz. ȤȤ In einem weiteren Schritt wird die medizinische Sicht von neurodegenerativen Erkrankungen skizziert, die unter dem Oberbegriff der Demenz zusammengefasst werden. Im zweiten Teil gehen wir der Frage »Was ist zu tun?« nach. Auf die inzwischen zahlreichen Initiativen zur Gestaltung einer demenzfreundlichen Umgebung und Umwelt kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden. Der Schwerpunkt dieses Beitrages widmet sich der Frage, was die Marte-Meo-Methode als eine Form von systemischer Beratung und systemischem Coaching zum Verständnis und zur Bewältigung des Problems »Demenz« leisten kann. Abschließend, im Schlussteil, geht es um bisherige Evaluationen zu Marte Meo und um ein Fazit der vorangegangenen Überlegungen.

2  Was ist Demenz? In einer systemischen Sichtweise wird den Aussagen über das Wesen oder den Kern eines Problems wie Demenz mit Skepsis begegnet, denn es gehört zur systemischen Erkenntnistheorie anzunehmen, dass alles auch »ganz anders« sein könnte bzw. dass alles auch »ganz anders« beschrieben werden könnte. Daher begnügen sich die nachstehenden Ausführungen damit, Demenz aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. Es sind die Blickwinkel von unterschiedlich Betroffenen: den Menschen mit Demenz, ihren Angehörigen sowie den Profis aus Betreuung, Pflege, sozialer Arbeit und Bera-

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tung, die sich der Behandlung und Unterstützung von Menschen mit Demenz widmen. Dabei ist zu beachten, dass es sich angesichts der Komplexität des Themas nur um Momentaufnahmen handeln kann. Wir nehmen jedoch an, dass sie einige wesentliche Informationskerne zum Verständnis von Demenz und den sich darum entwickelnden öffentlichen und privaten Diskursen deutlich machen.

Der Begriff »Demenz« ist in aller Munde. Bei einer Google-Recher-

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Ein Begriff rückt ins allgemeine Bewusstsein 18

che zum Begriff findet man derzeit 6,8 Millionen Einträge. Demenz ist ein medizinischer Fachbegriff, der etwas beschreibt, was nicht (mehr) vorhanden ist: De-mens heißt übersetzt »ohne Verstand, ohne Urteilskraft«. In älteren Ausgaben des Duden (Der große Duden, Band 5, Fremdwörterbuch, 1966) findet sich die Beschreibung »erworbener Schwachsinn« und, auf verschiedene Altersgruppen bezogen, »Jugendirresein« oder »Altersblödsinn« (Dementia senilis). Bei diesen Beschreibungen wird darauf verwiesen, dass es sich jeweils um medizinische Fachbegriffe handelt. Inzwischen sind die älteren stigmatisierenden Bezeichnungen neutraleren Beschreibungen gewichen. In der neueren medizinischen Nomenklatur, z. B. im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, DSM-5, ist der Eintrag »Demenz« inzwischen verschwunden. Demenz fällt hier unter die Kategorie der erworbenen neurokognitiven Störungen (neurocognitive disorders NCD) (Maier u. Barnikol, 2014). Die Medizin beschreibt Demenz demnach als besondere Form degenerativer Erkrankungen. Mit Blick auf eine alternde Gesellschaft, wie sie derzeit in den düsteren Sozialprognosen aller Medien vielfach erscheint, sind auch das Thema der Demenz, die Situation der Betroffenen und ihrer Angehörigen sowie die erforderlichen sozialpolitischen Maßnahmen längst in das Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt. Die Situ-

ation der Pflege und Betreuung alter und dementer Menschen und – damit verbunden – die erforderlichen Reformen, die den akuten Pflegenotstand beseitigen sollen, sind Gegenstand zum Teil heftiger Kontroversen geworden (siehe z. B. Güllemann, 2017). Dabei geht es immer um Fragen einer angemessenen Betreuung. Die vielfältigen Diskussionen, die sich um den Einsatz von ausländischen Pflegekräften oder gar Pflegerobotern, die Umsiedlung von Erkrankten 19

dern zwischen Überlegungen, die vom ökonomischen Kalkül geleitet

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nach Südostasien, die Erfordernis von Demenzstationen, Inklusion, den Nutzen von »Demenzdörfern« und anderes mehr drehen, mäansind, und werteorientierten ethischen Überlegungen über einen respekt- und würdevollen Umgang mit Menschen am Ende ihres Lebens. Wie schon erwähnt, lässt sich aus einer systemischen Betrachtungsweise heraus die Frage danach, was Demenz eigentlich ist, nicht abschließend beantworten. Stattdessen soll nun in den Blick genommen werden, welche Erfahrungen mit dem als »Demenz« bezeichneten Phänomen bestehen und wie diese zur Sprache gebracht werden. In einem ersten Schritt wird ein Schlaglicht auf die Erfahrungen Betroffener und mitbetroffener Menschen gerichtet. Erfahrungen von Betroffenen und Mitbetroffenen

Lebensprägende Veränderungen können in einem sehr unterschiedlichen Tempo eintreffen. Plötzliche Ereignisse wie unerwartete Glücksfälle oder Unfälle stehen langsamen Veränderungen wie Entwicklungs-, Reifungs- und Alterungsprozessen gegenüber. Demenzielle Entwicklungen – und hier soll noch nicht von Demenz als Erkrankung die Rede sein – verlaufen in der Regel langsam und schleichend. Sie sind immer auch bedeutsame soziale Geschehnisse. Die tiefgreifende Veränderung eines Familienmitgliedes verändert zwangsläufig die Lebenssituationen aller anderen Familienmitglieder. Eine demenzielle Entwicklung fordert die familiäre Kommuni-

kation und Organisation in besonderer Weise heraus: Die familiären Rollen verändern sich, was einen hohen Klärungsbedarf und auch ein erhöhtes Konfliktpotenzial mit sich bringt. Als Begleiterscheinungen des Alterungsprozesses eines eher langsamen und kontinuierlichen Geschehens schleichen sich demenzielle Veränderungen zunächst unbemerkt in das Alltagsleben ein, rufen aber plötzlich neue Fragen hervor:

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Paul S. besucht seine Mutter alle zwei Wochen. Mit ihren 83 Jahren ist sie noch rüstig und führt ihr Leben nach dem Tod ihres Ehemanns vor zwölf Jahren sehr selbstständig. Dass ihr Sohn regelmäßig vorbeikommt, findet sie schön, aber eigentlich unnötig. Dieses Mal macht Paul S. allerdings keinen Standardbesuch. Die Nachbarin seiner Mutter hat ihn nämlich angerufen und ihm mitgeteilt, dass die Mutter anscheinend immer vergesslicher geworden sei – neulich habe sie ihr drei Mal zum Geburtstag gratuliert. Ihr fiele auch auf, dass Frau S. mehrfach die Woche zur Bank ginge und sich anscheinend jedes Mal Geld auszahlen ließe. Bei ihrem Lebensstandard sei das doch sehr ungewöhnlich. Paul S. erschrickt; ihm war bisher nichts aufgefallen. Na ja doch, die Mutter hatte ihm immer häufiger die immer gleichen Geschichten erzählt und letztens rief sie doch einen Tag nach seinem Besuch bei ihr an und fragte, wann er endlich wiederkäme …

Eine Geschichte, die nicht ungewöhnlich ist. Fragen tauchen auf: Leidet Frau S. unter einer Demenz oder ist das eben die normale Altersvergesslichkeit? Ist sie krank oder doch noch ganz gesund? Wie kommt es, dass der Sohn die Veränderungen anscheinend kaum bemerkt? Eine Demenz kommt schleichend und die Alltagserfahrung lehrt auch, dass nicht jeder Tag ist wie der andere. Für viele kleine Ver-

gesslichkeiten finden sich daher erst einmal gute Erklärungen. Dieses kleine Beispiel zeigt, dass erste Hinweise auf beginnende demenzielle Entwicklungen in vielen Fällen zunächst aus dem Umfeld der Betroffenen kommen. Die Erfahrungen der Betroffenen selber kommen, wenn überhaupt, zumeist erst später zur Sprache. Zunächst werden die kleinen Vergesslichkeiten im Rahmen einer verständlichen Alltagstheorie »normalisiert«: »Das habe ich bei dem Stress ganz verzunehmendem Alter durchaus eine gewöhnliche Entwicklung. So

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erwartet man z. B. auf der körperlichen Ebene, dass eine achtzigjährige

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gessen« und ähnlich. Schließlich sind abnehmende Fähigkeiten mit

Person nicht die gleiche Leistungsfähigkeit wie ein Dreißigjähriger hat. Erst die Häufung von ähnlichen Vorkommnissen führt zu weiter­ gehenden Überlegungen, z. B. ob das alles noch normal ist oder nicht. Während im Anfangsstadium der demenziellen Entwicklung verbreitet Sprachlosigkeit vorherrscht, die sowohl dem Bedürfnis der Betroffenen als auch dem Wunsch der nahen Angehörigen geschuldet ist, es möge doch alles gut sein, geht bei fortschreitender demenzieller Entwicklung allmählich auch die Fähigkeit verloren, die eigene Geschichte zusammenhängend zu erzählen und die eigenen Erfahrungen in Worte zu fassen. Um die Innenperspektive einer demenziellen Entwicklung zu veranschaulichen, sei daher ein kleiner literarischer Ausflug in ein Werk gestattet, das episodisch einige Schlüsselerfahrungen eines Mannes mit einer beginnenden demenziellen Entwicklung einfängt. Es handelt sich um den Kriminalroman »Der Feind im Schatten« (2009) von Henning Mankell, dessen Hauptfigur, Kommissar Wallander, allmählich merkt, dass etwas an ihm »anders« ist: »Als er nach Hause kam […] fühlte er sich plötzlich rastlos. Manchmal überfiel ihn ein Gefühl der Verlassenheit in seinem zwischen den Äckern wie hingeworfenen Haus. […] Meistens verging seine Rastlosigkeit, doch an diesem Abend war sie hartnäckig (S. 44).«

Wallander entschließt sich in die Stadt zu fahren. »Woher der Gedanke kam, war ihm nicht klar …« (S. 44). Er geht in ein Restaurant. »Es waren kaum Gäste da. Er setzte sich an einen Ecktisch und bestellte eine Vorspeise und eine Flasche Wein. Während er auf das Essen und den Wein wartete, kippte er ein paar Drinks hinunter. Genau das war seine eigene Wahrnehmung: Er kippte den Schnaps hinunter, um seine Unruhe zu dämpfen. Als das Essen kam und der Kellner sein Weinglas füllte, war er

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schon betrunken« (S. 44 f.). Diese Episode zeigt, wie der Betroffene ein nicht einzuordnendes diffuses Unwohlsein, gepaart mit Unruhe, mit Alkohol zu bekämpfen versucht. Häufig führt ein einschneidendes Ereignis dazu, dass die Menschen aus der Umgebung einer betroffenen Person alarmiert werden. In unserem Beispiel vergisst Wallander seine Waffe im Restaurant. Zunehmende Zweifel ergreifen den Protagonisten: »Das Gefühl, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte, regte sich wieder. Ein Schatten war plötzlich wieder über sein Dasein gefallen. Wie kam es, dass er die Waffe am Morgen nicht einmal vermisst hatte? Es war als hätte ein anderer an seiner Stelle gehandelt und dann seine Erinnerung ausgeschaltet, damit er nicht wusste, was passiert war« (S. 54). Die Reaktion seiner Tochter Linda, ebenfalls Polizistin, die nach Bekanntwerden des Fehlverhaltens ihres Vaters um ihn besorgt ist, lässt nicht auf sich warten: »›Hast du mir alles erzählt? Oder gibt es etwas, was du nicht sagst?‹ Wallander überlegte kurz, ob er ihr von dem eigentümlichen Gefühl eines auf sein Dasein fallenden Schattens erzählen sollte, doch er schüttelte den Kopf. Es gab nichts hinzuzufügen« (S. 55).

Diese Reaktion scheint in den Anfangsphasen demenzieller Entwicklungen nicht ungewöhnlich zu sein. Durch das eigene Verhalten sozial auffällig zu werden, wird zunächst als Aussetzer oder Ausrutscher, der »schon mal passieren kann«, eingeordnet. Die untergründigen Zweifel an der eigenen Person zu benennen, ist zum einen schwierig, weil die passenden Worte fehlen, und zum anderen häufig schambesetzt. Das Thema bleibt also zwischen Wallander und seiner Tochter unbesprochen bestehen. Eine Weile später entsteht

»Sie sah ihn mit einem besorgt fragenden Blick an. ›Bist du vergesslich geworden?‹ ›Das bin ich immer gewesen. In gewissen Grenzen. Vielleicht sollte man lieber sagen, dass ich zerstreut bin.‹ ›Ich meine, mehr als früher?‹ Er setzte sich hin, plötzlich hatte er es satt, ständig die Unwahrheit zu sagen. ›Ich glaube, so ist es. Manchmal können ganze Zeiträume einfach verschwinden. Wie Eis, das schmilzt.‹ ›Wie meinst du das?‹ Wallander erzählte von seiner Reise nach Höör […] ›Auf einmal wusste ich nicht mehr, warum ich nach Höör gefahren bin. Es war als befände ich mich in einem hell erleuchteten Raum und jemand macht ohne Vorwarnung das Licht aus. Ich weiß nicht, wie lange ich mich im Dunkel befand. Es war, als wüsste ich nicht mehr, wer ich bin.‹ ›Ist das schon öfter vorgekommen?‹ ›Nicht so gravierend. Ich war bei einer Ärztin […] Sie meinte ich sei nur überarbeitet …‹ ›Das gefällt mir nicht. Geh zu einem anderen Arzt‹« (S. 389 f.). Diese Dialoge werfen ein Schlaglicht auf die Zeit vor einer Diagnosestellung. Eine solche Spanne kann unterschiedlich lange dauern: »Am meisten beunruhigten Wallander in dieser Zeit seine immer wieder auftauchenden Gedächtnisausfälle. […] Er ging nicht zum

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folgender Dialog:

Arzt, weil er einfach viel zu große Angst hatte. Er versuchte sich einzureden, dass er zu viel arbeitete, dass er ausgebrannt war. Aber die Angst, dass dieses Vergessen schlimmer und schlimmer werden würde, verließ ihn nicht mehr. Er fürchtete, dement zu werden, an Alzheimer im Anfangsstadium zu leiden« (S. 582). Schließlich erkennt er seine Enkelin nicht mehr: »Plötzlich überkam ihn ein furchtbarer Schrecken. Sein Gedächtwar, das auf ihn zurannte. Er hatte sie schon einmal gesehen, aber

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nis ließ ihn wieder im Stich. Er wusste nicht, wer das Mädchen 24

wie sie hieß und was sie hier tat, er hatte keine Ahnung. Es war als würde es vollkommen still. Als verschwänden die Farben und ließen ihm etwas in Schwarz und Weiß zurück. Der Schatten hatte sich vertieft. Und langsam sollte Kurt Wallander in einem Dunkel verschwinden, das ihn einige Jahre später in das leere Universum entließ, das Alzheimer heißt« (S. 587). Ein Mensch, der demenzielle Erfahrungen macht, wäre vermutlich nicht in der Lage, seine Situation so wie in der literarischen Vorlage zu beschreiben. Aus den einfühlsamen Schilderungen Mankells lässt sich ermessen, welch emotionaler Stress in der Erfahrungswelt eines Menschen herrscht, der von einer beginnenden demenziellen Entwicklung erfasst wird. Ebenso wird deutlich, dass eine tiefgreifende Verunsicherung, Ängste und Schamgefühle ebenso wie die Anstrengung, eine Fassade von Normalität zu wahren, das Erleben beherrschen. Das Beispiel Wallanders verdeutlicht, dass bei demenziellen Entwicklungen zwar das Faktenwissen verloren geht, das eher emotional gefärbte Beziehungswissen jedoch länger erhalten bleibt. Diese Diskrepanz erfährt der Protagonist in unserem Beispiel als »furchtbaren Schrecken«. Der geistige Zustand der Betroffenen wird zum Thema von Gesprächen der Familie. Damit einher gehen häufig Besorgnis und Überlegungen, welche Konsequenzen zum Schutz und Wohler­gehen

der Person und zur eigenen Beruhigung erfolgen müssen. Wenn Paare betroffen sind, sind die jeweiligen Lebenspartner von Betroffenen mit einer radikalen Herausforderung konfrontiert. Die gewohnten familiären Abläufe werden durch demenzielle Entwicklungen nachhaltig gestört. Eine Neuordnung des Familienlebens wird erforderlich und ist in der Regel mit erhöhten organisatorischen Planungen und finanziellen Aufwendungen verbunden. familiären Abläufen müssen geplant, organisiert und an die jeweils

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aktuellen Veränderungen angepasst werden. Die Partnerin muss

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Die Leistungsbezüge, der Pflegebedarf und die Anpassungen in den

gegenüber ihrem Partner und die Kinder müssen gegenüber ihren Eltern die gewohnten Rollen verändern und für die Betroffenen Verantwortung übernehmen. Stiens und Stoppe beschreiben dies als »filiale Reife«, definiert als »erfolgreiche Bewältigung einer Entwicklungskrise im mittleren Lebensalter (›filiale Krise‹), die durch vermehrte Hilfs­bedürftigkeit der Eltern eingeleitet wird und nach der sich im Idealfall eine ›reife‹, d. h. selbstbewusste, aber zugewandte Beziehung zu den Eltern ausbildet« (Stiens u. Stoppe, 2005, S. 115). Der filialen Reife der Kinder steht die »parentale Reife« der Eltern gegenüber. Diese stehen vor der Herausforderung, nicht nur ihre gewohnte Elternrolle zu verändern, sondern auch die eigene Hilfsbedürftigkeit zu akzeptieren und Hilfestellungen zuzulassen. Dieser Prozess verlangt danach, dass Eltern und Kinder ihre Rollen immer wieder neu nachjustieren. Für die Kinder erfordert er ein Pendeln zwischen dem Respekt vor der Autonomie der Eltern auf der einen und der Übernahme von Verantwortung für den hilfsbedürftigen Elternteil auf der anderen Seite. Auch die Balance zwischen der Verantwortung für sich selber als Pflegende bzw. Pflegender und der Verantwortung für den zu Pflegenden kann sich von Situation zu Situation ändern, genauso wie die Wahrnehmung des Elternteils als unterstützungsbedürftig oder noch kompetent.

Mit dieser familiären Entwicklung ist auch ein schrittweiser Abschied von dem Menschen, wie er einmal war, verbunden. Gleichzeitig aber gibt es diesen Menschen noch – oft verändert und manchmal so wie früher. Pauline Boss beschreibt diese besondere Form des Abschieds mit dem Begriff des »uneindeutigen Verlustes«. Für diesen Verlust gibt es vorerst kein Ritual, keinen Abschluss. Er ist deshalb häufig von tiefer Verunsicherung und Hilflosigkeit gekennzeichnet 26

beim Verlust eines nahestehenden Menschen durch den Tod eine

Kontext

(Boss, 2008, 2011; Bopp-Kistler, Boss u. Pletscher, 2014). Während erfahrbare Trennung geschieht, bleibt die Verlusterfahrung durch eine demenzielle Entwicklung für die Angehörigen über einen langen und nicht absehbaren Zeitraum uneindeutig. In dieser Situation besteht die Herausforderung darin, Eindeutigkeit dort zu schaffen, wo sie möglich ist, und wo das nicht möglich ist, mit der Uneindeutigkeit leben zu lernen; anders ausgedrückt: im Zusammensein mit diesem Menschen vom Entweder-oder zum Sowohl-als-auch zu kommen. Boss beschreibt diese Form des Abschieds als die schwierigste und stellt den Abschied von Menschen mit Demenz in eine Reihe mit anderen unterschiedlichen Erfahrungen von uneindeutigem Abschied wie dem Umgang mit vermissten Personen, dem Leben mit einem Menschen mit einer Suchterkrankung und Ähnlichem Das nachfolgende Interview eines Welt-Journalisten mit Inge Jens, der Ehefrau des an Demenz leidenden großen Intellektuellen Walter Jens (Krause, 2016), wirft ein Schlaglicht auf diese Erfahrung: »Die Welt: Fast zehn Jahre haben Sie Ihren Mann Walter Jens als Demenzkranken gepflegt und erlebt. Wie hart ist es, festzustellen: ›Den Mann, den ich liebte, gibt es nicht mehr‹? Inge Jens: Das ist eine Äußerung, zu der ich nach wie vor stehe. Einen Mann, dement, wie er in den letzten Jahren war, hätte ich

nicht geheiratet. Genauso wenig stand zur Debatte, dass ich ihn als Dementen verlassen würde. Wir hatten uns geschworen: ›Bis dass der Tod Euch scheide‹. Das galt. Die Welt: Wie wird einem klar, dass der Partner nicht mehr der alte ist? Inge Jens: Das ist ein Prozess. Mein Mann entschwand mir immer mehr. Unser gemeinsames geistiges Leben entwickelte sich immer die verwandelten sich, hin zu einem Verhältnis, bei dem der eine

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den Part des Schutzbefohlenen einnimmt, der andere den Part des-

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weiter auseinander. Bald blieben nur noch Emotionen. Aber auch

sen, der sich für ihn verantwortlich fühlt.« Wenn man die Beschreibungen demenzieller Erfahrung aus der Sicht der Betroffenen und Mitbetroffenen betrachtet, finden sich durchweg Ähnlichkeiten: So ist in literarischen und künstlerischen Beiträgen von einem »langsamen Entschwinden« (Jens), einem »Feind im Schatten« (Mankell) die Rede, oder auch von einem Prozess der »Auslöschung«, wie in dem gleichnamigen Film mit Klaus Maria Brandauer und Martina Gedeck über die Geschichte einer Beziehung, in der sich der Protagonist und seine Partnerin mit der Alzheimererkrankung auseinandersetzen. Diese Bedeutungsrahmen verweisen sowohl auf eine Bedrohung und als auch auf eine unentrinnbare und seltsam uneindeutige Verlusterfahrung. Ein »langsames Entschwinden« oder eine »Auslöschung« aktiviert im Hörer die Erfahrung dessen, der an einem Prozess einer Trennung von einem geliebten Menschen teilnimmt, ohne darauf irgendeinen Einfluss zu nehmen zu können. Das Bild des »Feindes im Schatten« legt nahe, dass das, was geschieht, weder sichtbar noch verständlich, aber diffus unheimlich und bedrohlich ist. Diese Beschreibungen lassen den mit einer demenziellen Erfahrung verbundenen hohen emotionalen Stress aller Beteiligten erahnen.

Überall dort, wo emotional kritische Erfahrungen so gehäuft auftreten, wie es bei demenziellen Erfahrungen der Fall ist, bleiben Reaktionen der Gesellschaft nicht aus. In diesem Zusammenhang sei ein kurzer, aber lohnenswerter Seitenblick auf ein klassisches ethnologisches Konzept gestattet, das der französische Ethnologe Arnold van Gennep schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts vorgeschlagen hat und das die von Stiens und Stoppe beschriebenen »filialen Entwicklungskrisen« in eine Reihe mit anderen bedeutsamen Über-

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gängen und Übergangskrisen im Leben stellt. Van Gennep hatte in den sogenannten primitiven vorindustriellen Gesellschaften beobachtet, wie Individuen, die im Verlaufe ihres gesellschaftlichen Lebens notwendigerweise zahlreiche Übergänge vollziehen müssen, von der sie umgebenden Gemeinschaft unterstützt werden (van Gennep, 1999). Es handelt sich dabei immer um Übergänge zwischen zwei Lebensstadien wie Jugend – Erwachsensein oder auch zwei sozialen Zuständen, z. B. verheiratet – verwitwet. In den vorindustriellen Gesellschaften – und nicht nur dort – galten Schritte des Übergangs von einer Lebenssituation in eine andere prinzipiell als gefährlich, gefährdet und riskant. Van Gennep beschrieb, dass in den von ihm untersuchten Gesellschaften und Gemeinschaften zwischen der Ablösung vom alten Zustand und dem Eintritt in einen neuen Zustand ein Zwischenstadium eingerichtet wurde, denn die Übergänge von einem sozialen Zustand in einen anderen galten als besonders heikel: Die Betroffenen waren beim Übergang, so glaubte man, Gefahren ausgesetzt – z. B. Attacken von Dämonen oder Zuständen der Verwirrung – und daher auf besondere Hilfen der Gemeinschaft angewiesen. Daher gab es für die Betroffenen auf den jeweiligen Übergang abgestimmte rituelle Hilfen. Die Übergangskandidaten erhielten einen besonderen Status, der sie von anderen Mitgliedern der Gruppe sichtbar unterschied. So zogen sie teilweise in besondere Häuser und unterzogen sich speziel-

len Ritualen. Bisweilen wurden/waren sie besonders angemalt oder anders gekennzeichnet, damit andere Mitglieder der Gemeinschaft ihren Status erkennen konnten. Van Gennep kannte bei seinen Untersuchungen die Übergangskrisen, die mit demenziellen Veränderungen einhergehen, sicher noch nicht. Sein Konzept des Übergangsrituals lässt sich jedoch ohne Weiteres auf die derzeitigen Unterstützungsbemühungen für frühen Gesellschaften haben nun Experten des Gesundheits- und

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Pflegesystems die wichtige Aufgabe einer Gestaltung des Übergangs

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Demenzbetroffene übertragen. Anstelle von Medizinmännern der

in neue Rollen und familiäre Organisationsformen übernommen. So markiert die offizielle Diagnose »Demenz« für alle Betroffenen einen bedeutsamen sozialen Übergang. Sie ist geeignet, die Beteiligten von emotionalen Belastungen, etwa von Schuldgefühlen, zu entlasten, und verspricht etablierte und geeignete Hilfen. Die Beteiligten erfahren, dass sie zu einer großen Gruppe ähnlich Betroffener gehören und daher mit ihren Problemen nicht alleine sind. Die Behandler signalisieren durch ihre Expertise, dass passende Unterstützung nach dem Stand der Wissenschaft geboten werden kann. Am Anfang der Hilfen beim Übergang steht jeweils die medizinische Diagnose. Sie öffnet den Zugang zu Therapien und Pflege­ einrichtungen und regelt die Kostenübernahme für die als erforderlich festgelegten Maßnahmen. Im Licht dieser Überlegungen lässt sich sagen, dass demenzbetroffene Menschen und ihre Familien eine ausgeprägte Übergangskrise bewältigen müssen und dass die medizinischen und pflegerischen Hilfen diejenigen Instanzen sind, die geeignete Bewältigungshilfen zur Verfügung stellen (sollten). Auf der anderen Seite lauert hier auch eine Gefahr: In dem Moment, in dem die Diagnose gestellt und das Hilfe- und Unterstützungssystem aktiviert wird, wird der Blick auf die gesunden Anteile des Erkrankten rasch verstellt. Dass dies problematisch ist und statt-

dessen ein ressourcenorientierter Blick vonnöten ist, spiegelt sich mittlerweile auch in dem zum 01.01.2017 in Kraft getretenen Zweiten Pflegestärkungsgesetz, in welchem der Pflegebedürftigkeitsbegriff im Hinblick auf die noch vorhandene Selbstständigkeit neu gefasst wurde. Im Zentrum stehen dabei die Ressourcen des Erkrankten und die Frage, wie diese erhalten und gestärkt werden können.2 Die medizinische Sicht auf Demenz

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Demenz kann aus medizinischer Sicht als eine Störung des neuronalen Netzwerks beschrieben werden. Ein schleichender Verlust von Nervenzellen des Gehirns führt zu einer Schädigung von Synapsen, den Überträgerstellen neuronaler Informationen. Damit wird die Wahrnehmung verändert und eingeschränkt. Wahrnehmungen und Sinneseindrücke werden normalerweise jeweils mit früheren Erfahrungen, Zusammenhängen, Einschätzungen, Gefühlen und der Wahrnehmung des jeweiligen Kontextes vernetzt. Erst durch diesen Prozess der Vernetzung ist Verstehen im weitesten Sinne möglich. Fehlen Verbindungsglieder bzw. ist die Übertragung gestört, kann es schnell zu Fehleinschätzungen, Erinnerungslücken und Unverständnis kommen, wie wir es bei demenziellen Erkrankungen erleben. In welcher Form sich dies bemerkbar macht, hängt zunächst davon ab, in welchem Gehirnareal der Nervenzellenuntergang lokalisiert ist. Unterschiedliche Lokalisationen führen zu unterschiedlichen Symptomen und erklären dann unterschiedliche Formen von Demenz, dem Oberbegriff für eine Gruppe neurodegenerativer Erkrankungen (Maier u. Barnikol, 2014). Die häufigste Form demenzieller Erkrankungen ist die Alzheimer-­ Demenz, bei der Nervenzelluntergänge vorwiegend in Hirnarealen 2 Der genaue Wortlaut des Gesetzes findet sich unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/p/pflegestaerkungsgesetz-zweites-psg-ii.html, zuletzt abgerufen am 14.3.2018.

zu finden sind, die mit dem Gedächtnis und dem logischen Verständnis zu tun haben. Dabei ist der Verlust des Kurzzeitgedächtnisses ein wesentliches Frühsymptom. Die zweithäufigste Form ist die vaskuläre, d. h. gefäßbedingte Demenz. Hier führen Durchblutungsstörungen verschiedener Hirnareale zu entsprechenden Ausfällen. Nicht selten liegen diese beiden Formen von Demenz auch kombiniert vor. 31

2 % aller Fälle ist die für eine Demenz typische Symptomatik Aus-

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Daneben gibt es noch eine Reihe seltenerer Demenzerkrankungen wie Lewy-Body-Demenz, frontotemporale Demenz u. a. Nur in circa druck einer dahinterliegenden und potenziell heilbaren Erkrankung, z. B. einer starken Unterfunktion der Schilddrüse oder einer Depression (Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V., 2016). In allen anderen Fällen ist eine Heilung bisher nicht möglich. Zur ungefähren Häufigkeitsverteilung siehe Abbildung 1. Tabelle1 Alzheimer-Krankheit + Lewy-Körperchen-Krankh Gefäßkrankheit Alzheimer-Krankheit + Gefäßkrankheit Alzheimer-Krankheit Behebbare Ursachen Infektionen Stoffwechselkrankheiten Frontotemporale Degeneration Lewy-Körperchen-Krankheit

Frontotemporale Degeneration

Stoffwechselkrankheiten

Infektionen Behebbare Ursachen

AlzheimerKrankheit

5%

10 10 34 30 2 2 2 5 5

Lewy-Körperchen-Krankheit Alzheimer-Krankheit + Lewy-Körperchen-Krankheit

5 % 10 %

je 2 %

10 %

Gefäßkrankheiten

30 % 34 %

AlzheimerKrankheit + Gefäßkrankheit

Abbildung 1: Häufigkeit unterschiedlicher Demenzformen © Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. Selbsthilfe Demenz, Quelle: Schneider, Arvanitakis, Bang u. Bennett (2007)

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Demenzielle Erkrankungen sind weitgehend Erkrankungen des Alters. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Altersverteilung demenzieller Erkrankungen (Abbildung 2):

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Abbildung 2: Die Häufigkeit von Demenzerkrankungen in Abhängigkeit vom Alter © Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. Selbsthilfe Demenz

Daneben gibt es gibt auch Frühformen z. B. der Alzheimer-Demenz (Auftreten der Erkrankung vor dem 60. Lebensjahr) und einzelne Krankheitsbilder wie die Frontotemporale Demenz, die schon in sehr jungem Alter (ab ca. 20 Jahre) auftreten können. Die Annahme, Demenzerkrankungen nähmen zu, ist objektiv durch Zahlen zu bestätigen. Nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft ist damit zu rechnen, dass die Zahl demenziell erkrankter Menschen von geschätzt 1.551.800 im Jahr 2015 auf bis zu 3.306.370 im Jahr 2060 steigen wird. Neben der verbesserten Diagnostik – viele Menschen mit Demenz wurden früher einfach als »verkalkt«, »ein bisschen tüttelig« o. ä. beschrieben – trägt die höhere

Lebenserwartung dazu bei. Hohes Alter stellt neben Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems den Hauptrisikofaktor für eine Demenzerkrankung dar (Kurz, Freter, Saxl u. Nickel, 2016). Gleichzeitig mehren sich Hinweise darauf, dass der prognostizierte Anstieg geringer ausfallen könnte als erwartet. Eine statistische Auswertung aus den USA konnte zeigen, dass dort der Anteil Betroffener von 11,6 % der über 65-Jährigen im Jahr 2000 auf 8,8 % Betroffener im Jahr gene Rate von Menschen mit einem Hochschulabschluss gesehen.

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Geistige Regsamkeit und höhere Bildung scheinen einer Demenz

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2012 gesunken ist. Ursächlich wird die in diesem Zeitraum gestie-

vorzubeugen – das Gehirn bleibt »in Übung« und diese Personengruppe ernährt sich im Allgemeinen auch gesundheitsbewusster (vgl. Bartens, 2016). Die Diagnose einer Demenz gründet sich auf ein Bündel von Untersuchungen. Dazu gehört neben dem Ausschluss behandelbarer Grunderkrankungen wie z. B. einer Unterfunktion der Schilddrüse insbesondere die Erhebung der Krankengeschichte (Anamnese) aus Sicht des Betroffenen und der Angehörigen. Neuropsychologische Tests, bildgebende Röntgenverfahren, Laboruntersuchungen sowie Untersuchungen des Liquors (Rückenmarksflüssigkeit) ergänzen die Diagnosestellung. So ist es mittlerweile in vielen Fällen möglich, die Diagnose mit hinreichender Sicherheit zu stellen. Üblicherweise schreitet die Erkrankung kontinuierlich voran, wobei das Tempo individuell sehr unterschiedlich sein kann. Die Lebenserwartung von Menschen mit Demenz ist statistisch gesehen verkürzt. Aus medizinischer Sicht werden drei Stadien unterschieden – die frühe, die mittlere und die schwere bzw. späte Demenz. Während in der frühen Demenz eine selbstständige Lebensführung im Allgemeinen – mit Einschränkungen – noch möglich ist, benötigen die Erkrankten mit mittlerer Demenz ein höheres und hohes Maß an Unterstützung, um den Alltag noch bewältigen zu können.

Bei schwerer Demenz sind die Patienten durchgängig von Hilfen und pflegerischen Maßnahmen abhängig. Dabei spielen das nahe Umfeld des Erkrankten, sein Partner und seine Angehörigen eine zentrale Rolle. Auch wenn die medizinische Forschung zahlreiche Rätsel um die Erkrankung gelöst hat, bleibt noch vieles offen. So können zwar die Zelluntergänge gesetzt werden; nichtsdestotrotz scheint es keine

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jeweiligen Symptome relativ gut in Beziehung zur Lokalisation der 34

eindeutige Beziehung zwischen Ausmaß der Zellschädigungen und Symptomen zu geben. So bestätigt die seit 1986 in den USA laufende sogenannte Nonnenstudie zwar den Zusammenhang zwischen Eiweißablagerungen im Gehirn, sogenannten Plaques, und kognitiven Defiziten; dies erklärt allerdings nur einen Teil der Symptomatik. Die Studie untersucht seit 1986 Nonnen, also Menschen mit einem sehr vergleichbaren Lebensstil und in einem konstanten Lebenssetting, biografisch, mittels psychodiagnostischer Tests und teilweise einer Untersuchung von Gewebeproben nach dem Tod. Interessanterweise finden sich hierbei immer wieder ausgeprägte Gehirnschädigungen, die nach dem Tod anhand von Gewebeproben festgestellt werden, jedoch ohne erkennbare wesentliche kognitive Einschränkungen zu Lebzeiten (vgl. Klug, 2015). Dem Autor zufolge vermuten die Wissenschaftler, dass der Lebensstil dieser Bevölkerungsgruppe einen wesentlichen positiven Einfluss auf die Ausprägung demenzieller Symptome hat. Es handelt sich dabei um regelmäßige geistige und körperliche Aktivitäten, soziale Faktoren, starke Gläubigkeit, Gebete, Enthaltsamkeit sowie eine abwechslungsreiche und erfüllende Arbeit.

Die systemische Beratung

3  Was ist zu tun? Eine klassische medizinische Sichtweise fragt zuerst nach den Ursachen einer Erkrankung und strebt dann im Sinne einer »kausalen Therapie« an, die Krankheit zu heilen. Wenn das nicht oder noch nicht möglich ist, besteht das ärztliche Therapieziel darin, den Krankheitsverlauf zu verlangsamen und die Symptome zu lindern. In die38

Medikamenten gesetzt. Dass Medikamente in der Behandlung einer

Beratung

sem Zusammenhang werden große Hoffnungen in den Einsatz von Demenz nur einen Baustein darstellen, spiegelt sich auch in der aktuellen Fassung der Leitlinie Demenz (Deuschl et al., 2016) wider, in der psychosoziale Interventionen als gleichrangig mit der medikamentösen Behandlung beschrieben werden. Veränderungen im Krankheitsverlauf lassen sich in Form psycho­ diagnostischer Messmethoden erfassen. Die dahinter liegende Annahme ist: Je mehr kognitive Fähigkeiten noch vorhanden sind, desto besser geht es dem Betroffenen. Diese Überlegung klingt zunächst einleuchtend. Eine Verzögerung in der Anfangsphase des Krankheitsverlaufs kann den Erkrankten und deren Familien ermöglichen, im Blick auf größere zukünftige Einschränkungen Vorkehrungen zu treffen. Die Betroffenen können sich länger als weitgehend kompetent erleben und alle Mitbeteiligten haben mehr Zeit, sich auf ein Leben mit der Krankheit einzustellen. Auch wenn viele Argumente für eine möglichst frühe Diagnostik sprechen, sollten gerade aus systemischer Sicht die verschiedenen Wirkungen von Diagnosen beachtet werden. Die Latenzphase der Erkrankung, beginnend mit den ersten Symptomen bis hin zur endgültigen Diagnose, ist meist von großer Unsicherheit gekennzeichnet, allerdings auch von der Möglichkeit, Symptome als »noch normal« einzuordnen, wie auch unser literarisches Beispiel verdeutlicht. Mit der Diagnosestellung geht diese Möglichkeit jedoch verlo-

ren. Gleichzeitig erleben sowohl Angehörige als auch Betroffene diesen Moment oft auch als entlastend, weil die Diagnose Klarheit über die zuvor unklare Situation schafft. Sie hat jedoch noch ein anderes Gesicht. Neben einer Entlastung informiert sie auch über die Unausweichlichkeit der Erkrankung und ihre Progredienz. Daher ist eine Diagnosestellung ohne eine adäquate Begleitung der Betroffenen und ihrer Angehörigen fatal. In den familiären Inter39

tionierte, wird nur noch reduziert wahrgenommen. Die Blicke rich-

Beratung

aktionen zeigt sich gerade kurz nach Diagnosestellung häufig eine starke Krankheitsorientierung. All das, was bis dahin noch gut funkten sich auf die Defizite, während die Ressourcen des Menschen mit Demenz aus dem Blickfeld verschwinden. Für die Betroffenen selbst ist gerade die erste Phase der Erkrankung davon gekennzeichnet, dass sie ihre Einschränkungen besonders deutlich erleben und reflektieren. Sie erfahren, wie sie zunehmend hilfsbedürftig werden. Daher sollte die Vermittlung der Diagnose immer in einen Beratungsprozess eingebunden sein, der alle Beteiligten einbezieht. Eine Demenzdiagnose schreibt den Status eines Demenzerkrankten offiziell fest. Diese Feststellung geht dann in die Erwartungshaltungen und Zuschreibungen aller Beteiligten und Betroffenen ein. Im Interview mit Inge Jens findet sich dazu folgender Dialog (Krause, 2016): »Die Welt: Sie haben sich bewusst entschieden, ihrem Mann keinen ›reinen Wein‹ einzuschenken? Sprich: Sie haben ihm die Diagnose ›Demenz‹ nie mitgeteilt. Warum nicht? Inge Jens: Ich glaube, er hätte es gar nicht verstanden, und ich bezweifle, dass er es hätte aufnehmen wollen. Was hätte es genutzt? Er hatte ja Angst. Die wollte ich nicht noch verstärken. Das Wort ›Demenz‹ ist zwischen uns nie gefallen. Die Welt: Nur aus Rücksichtnahme?

Inge Jens: Auch deshalb, weil man damals überhaupt nicht darüber sprach.« Während Inge Jens den möglichen Schaden einer Diagnosemitteilung in den Vordergrund stellt, gibt es auch Betroffene, die offensiv mit ihrer Krankheit umgehen. Beispielhaft sei hier auf Helga Rohra verwiesen, die mit 54 Jahren an Demenz erkrankte und aktiv in der Öffentlichkeit und durch Veröffentlichungen gegen die Tabuisierung

Beratung

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dieser Erkrankung kämpft (Rohra, 2012). Mittlerweile gibt es auch in allen Bundesländern Selbsthilfegruppen Betroffener. In diesen Gruppen wird die Krankheit weder versteckt noch steht sie ständig im Mittelpunkt. Hier treffen sich Menschen, deren Ziel es ist, der Krankheit einen angemessenen Platz zuzusprechen. Auf diese Weise wird ein solidarischer und aktiver Umgang mit der demenziellen Entwicklung ermöglicht. Die Beteiligten werden aktiv und verlassen damit ihre Opferrolle. Die medizinischen Maßnahmen markieren den Beginn der Hilfen durch das Gesundheits- und Pflegesystem. Im weiteren Verlauf der demenziellen Entwicklung dienen sie daneben der Kontrolle des Krankheitsverlaufes und der Unterstützung bei auftretenden Krisen. Hilfreich in der Begleitung ist eine palliative Sicht auf die Erkrankung. Palliative Care ist eine Zugangsweise, die nicht die Heilung einer Erkrankung, sondern die Linderung von Beschwerden zum Ziel hat. Sie fragt nicht primär danach, was »machbar« ist, sondern danach, was dieser Mensch braucht und möchte. Demenz ist nicht heilbar und zählt daher zu den palliativ zu sehenden Erkrankungen. Unter diesem Blickwinkel stellen sich drei wesentliche Unklarheiten als Herausforderungen für die Betroffenen und Mitbetroffenen: ȤȤ Die Unklarheit des Verlaufs: Auch wenn das Vorliegen einer Demenzerkrankung statistisch die Lebenserwartung reduziert,

sagt dies noch nichts über den Einzelfall aus. Im Gegensatz zu anderen Krankheitsbildern ist es auch in fortgeschrittenen Stadien enorm schwierig, die noch verbleibende Lebenszeit einzuschätzen. ȤȤ Die Unklarheit der Symptome und Bedürfnisse: Durch den Verlust der Sprache ist es für Angehörige und professionell Sorgende schwierig, Symptome wie beispielsweise Schmerzen und Bedürfnisse zu erkennen, denn diese werden primär nonverbal geäußert. Lebensphase betreffen, gerade dann, wenn ethisch wichtige Fragen auftauchen und entsprechende Entscheidungen anstehen. Was ist beispielsweise zu tun, wenn der Erkrankte die Nahrung verweigert? Wie sinnvoll sind wiederholte Krankenhauseinweisungen? Dazu können die Betroffenen nicht mehr eindeutig Stellung beziehen. Früher hinterlegte Wünsche, z. B. in Form einer Patientenverfügung, können dann weiterhelfen. Oft stehen die Sorgenden aber vor Situationen, die auch in der Patientenverfügung nicht eindeutig geregelt wurden. Ebenso häufig gibt es kein derartiges Dokument und in nur wenigen Familien wird über solch heikle Fragen frühzeitig gesprochen. Diese Unklarheiten erfordern eine Begleitung, die sich immer wieder neu am Betroffenen und seiner Situation orientiert. Eine solche Begleitung ist angewiesen auf eine gute Beobachtung und Einschätzung der Gesamtsituation, außerdem auf einen Austausch mit dem Kranken und seinen Angehörigen. Bei der Begleitung von Menschen mit Demenz ist ein möglichst frühzeitiges und respektvolles Fragen nach den Wünschen für die letzte Lebensphase angebracht. Im Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (2009) zum palliativen Versorgungsbedarf demenziell Erkrankter

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Beratung

ȤȤ Die Unklarheit der Wünsche, die die Gestaltung der letzten

werden in Anlehnung an die drei Phasen der Demenzerkrankung die folgenden Schwerpunkte und Ziele palliativer Begleitung umrissen: ȤȤ Diagnose und Aufklärung, nicht nur als Diagnosestellung, sondern als kontinuierlicher Dialog unter Einbeziehung der Angehörigen, psychosoziale Begleitung und Erfassen von Symptomen; ȤȤ Krankheitsprogression mit der Behandlung von Komplikationen und Symptomlinderung sowie die immer wiederkehrende Prüfung, ob medizinische und pflegerische Maßnahmen nötig sind;

Beratung

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Erhalt der Beziehungskultur; ȤȤ Lebensende mit der Intensivierung der palliativen Begleitung im engeren Sinn, Fallbesprechung, Sterbebegleitung und kontinuierliche Angehörigenbetreuung. Die Pflege von Menschen mit Demenz

Ist die Diagnose gestellt, obliegt ein Großteil der weiteren Betreuung den Angehörigen und den ambulanten, stationären und teilstationären Pflegeeinrichtungen. In diesen Arbeitsbereichen trifft die Bezeichnung »Demenzkranker« weitgehend auf Ablehnung, weil damit eine Reduzierung der betroffenen Menschen auf die Krankheit vorgenommen wird. Dies widerspricht einer humanen und ganzheitlichen Sicht auf die betroffenen Menschen und ihre Lebenswelt. Der Blick auf die steigende Anzahl der Menschen mit Demenz gibt Anlass zur Sorge. Angesichts des bereits jetzt akuten Pflegenotstandes stellt sich die Frage, wie die Versorgung und Pflege der Betroffenen zukünftig gewährleistet werden kann. Befriedigende Antworten darauf sind in jedem Falle mit erheblichen gesellschaftspolitischen Herausforderungen verbunden. Ein großer Teil der Pflege von Menschen mit Demenz wird in der Familie geleistet – häufig mit ergänzender Unterstützung durch professionelle ambulante Pflegedienste. Die Pflege erfordert ein hohes Maß an persönlicher Präsenz. Im frühen und mittleren Stadium demenzieller

Entwicklungen geht es um die Begleitung in den Pflegesituationen durch Anregung, Anleitung und Bestätigung und weniger um die Übernahme von klassischen Pflegehandlungen wie Waschen, Anziehen und dem Anreichen von Nahrung. Auch die Gestaltung des Alltags – »Wie verbringe ich meinen Tag?«, »Was mache ich?« – stellt Menschen mit Demenz oft vor große Herausforderungen. Im weiteren Verlauf wird Demenz zum mittlerweile häufigsten Pflegeeinrichtungen bedeutet dies, dass sie sich immer wieder auf die

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besonderen individuellen Bedürfnisse von Menschen mit Demenz

Beratung

Grund für die Aufnahme in ein Pflegeheim. Für die Mitarbeiter in

einlassen müssen und viele Abschiede erleben. Eine neuere Studie, die den Zusammenhang zwischen beruflichen Belastungen und krankheitsbedingten Ausfällen erfasst (Knieps u. Pfaff, 2016), macht deutlich, dass in Pflegeberufen ein signifikanter Zusammenhang zwischen den vielfältigen beruflichen Belastungen der Pflegenden und der Häufigkeit von somatischen wie psychischen Erkrankungen besteht. Das ist ein krasser Beleg für die strukturellen Mängel in der Pflege und ein weiteres Alarmsignal des viel diskutierten Pflegenotstandes. Eine weitere Belastung Pflegender stellt die immer kürzer werdende Verweildauer von Menschen im Pflegeheim dar (Techtmann, 2015). Grund hierfür ist im Wesentlichen der Ausbau ambulanter Angebote, der vielen Pflegebedürftigen eine längere Verweildauer im häuslichen Setting ermöglicht. Dieser durchaus gewünschte und wünschenswerte Effekt erschwert umgekehrt durch die Kürze der verbleibenden Zeit den Aufbau tragfähiger Beziehungen in stationären Pflegeeinrichtungen. Beispielhaft sei hier auf eine Untersuchung des Evangelischen Johanneswerks in Nordrhein-Westfalen e. V. aus dem Jahr 2015 verwiesen. Darin wird eine durchschnittliche Verweildauer Pflegebedürftiger in den stationären Einrichtungen des Trägers von ca. 27 Monaten festgestellt. Besonders interessant und

prägnant dürfte die Tatsache sein, dass ca. ein Fünftel der Bewohner bereits innerhalb von vier Wochen nach Einzug verstarb. Für Pflegende bedeutet dies nicht nur einen hohen Bedarf an zu erbringenden Pflegeleistungen, sondern auch viele Abschiede, die emotional verarbeitet werden müssen (Müller u. Pfister, 2014). Die palliative Komponente in der Versorgung demenziell Erkrankter (siehe oben) tritt dadurch immer mehr in den Vordergrund. Die medizinischen Handlungsoptionen umfassen sowohl medi-

Beratung

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kamentöse als auch nicht-medikamentöse Therapieangebote. Medikamentöse Ansätze, wie sie vornehmlich bei der Alzheimer-Demenz verfolgt werden, zielen auf eine Verzögerung des Krankheitsprozesses. Bei ihrem Einsatz lohnt es sich, den möglichen Nutzen gegen potentiellen Schaden, etwa durch Nebenwirkungen, kritisch abzuwägen. Nicht-medikamentöse Ansätze wie Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie, Musik- und Aromatherapie haben ebenso wie eine demenzfreundliche Gestaltung der Umgebung eine große Bedeutung. Sie zielen alle darauf ab, nicht nur wesentliche Fähigkeiten der Patienten möglichst lange zu erhalten, sondern auch bei fortschreitender Erkrankung den Betroffenen Wohlbefinden und damit Lebensqualität zu ermöglichen. Eine durch alle Lebens-, Betreuungs- und Behandlungsbereiche hindurch zentrale Rolle erhält dabei die Art und Weise, wie Beziehungen zu Demenzpatienten gestaltet werden und wie mit ihnen kommuniziert wird. Marte Meo in der Arbeit mit Demenzbetroffenen

An dieser Stelle findet die beobachtungsgeleitete Marte-Meo-Methode ihren Platz (Aarts, 2011). Sie gehört zu den bekanntesten videobasierten Beratungs- und Coachingmethoden und wird seit mehreren Jahren auch in der Betreuung und Pflege von demenzerkrankten Men-

schen genutzt (Becker, 2013, 2014; Berther u. Loosli, 2015; Dinand, Becker u. Berwig, 2017). Bei der Marte-Meo-Arbeit werden Alltagssituationen gefilmt, in denen Probleme z. B. mit einem Menschen mit Demenz erwartet werden oder auftauchen. Damit rücken konkrete Alltagssituationen in das gemeinsame Blickfeld. Diese bilden die Grundlage der Beratungs- und Coachingarbeit mit Marte Meo.

Systemische Hilfen richten ein besonderes Augenmerk auf die Kom-

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munikation, die sich z. B. um ein Problem wie Demenz herum orga-

Beratung

Systemisches Denken und Marte Meo

nisiert. Sie zielen darauf, die natürlichen Ressourcen von den an der Kommunikation beteiligten Personen zu aktivieren und neue, konstruktive Wege der Beziehungsgestaltung zu ermöglichen. Eine systemische Haltung verhält sich Ideen gegenüber respektlos und den Menschen gegenüber respektvoll (v. Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 207). Ideen sind so etwas wie verschiedene denkbare Möglichkeiten, einem Sachverhalt, z. B. einem Problem, zu begegnen. Wie genau sich eine Idee im Alltag bewährt, zeigt sich dagegen erst, wenn sie umgesetzt wird. Damit wird klar, dass systemisches Denken ein prinzipiell undogmatisches Denken ist, das in kommunikativen Zusammenhängen nach Veränderungsmöglichkeiten sucht. Systemische Beratungen sind Gespräche, die darauf zielen, Veränderungsmöglichkeiten zu schaffen. Mit der videobasierten Marte-Meo-Methode tritt eine weitere Dimension hinzu, dadurch dass Alltagsituationen nicht nur besprochen, sondern auf Video betrachtet und auf ihren Nutzen für die Gestaltung zukünftiger Situationen hin ausgewertet werden. Durch die Bilder wird konkret, was genau im Gespräch gemeint ist. Damit werden abstrakte Möglichkeiten zu konkreten Handlungsgelegenheiten, deren Wirkung im Ablauf eines Geschehens sichtbar und erfahrbar wird.

Marte Meo kann somit als eine besondere beobachtungsgeleitete Form systemischen Arbeitens verstanden werden (Hawellek u. v. Schlippe, 2005). Wenn von »beobachtungsgeleitet« die Rede ist, muss immer auch verdeutlicht werden, unter welcher Leitperspektive beobachtet wird: »Leitperspektiven [sind] diejenigen Muster, nach denen Beobachtungen ausgewählt, beschrieben und interpretiert werden. Sie folgen denjenigen Leitgedanken und Leitlinien, die dem professionellen Handeln einen sinnvollen, zielgerichteten Rahmen

Beratung

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geben« (Hawellek, 2012, S. 41). Eine vorwiegend defizitorientierte Sichtweise der Medizin bietet keine Leitperspektiven für die Marte-Meo-Arbeit mit demenziell erkrankten Menschen. Dafür wird eine defizitakzeptierende und Ressourcen wahrnehmende Sichtweise benötigt. Eine solche Sicht findet sich im Salutogenesekonzept Antonovkys. Salutogenese – eine Orientierung für unterstützende Hilfen

Antonovsky hat als Schlussfolgerung seiner Salutogeneseforschung die Grundlagen seelischer Gesundheit beschrieben. Er nennt diese Grundlage »Kohärenzgefühl« und beschreibt sie als das durchgängige Gefühl der Verstehbarkeit, der Handhabbarkeit und der Sinnhaftigkeit der Welt und damit der jeweiligen Lebenssituationen (Antonovsky, 1997). Bei demenziellen Entwicklungen werden die Grundlagen der seelischen Gesundheit nachhaltig, manchmal bis zum Zusammenbruch erschüttert. Das Gefühl der Verstehbarkeit wird untergraben und alle Beteiligten werden zunehmend verunsichert, etwa wenn betroffene Menschen die Orientierung verlieren und nicht mehr wissen, wo sie sind und was sie wollten. Der situative, auf die eigene Person und die näheren Angehörigen bezogene Orientierungsverlust wie auch der Verlust der zeitlichen und örtlichen Orientierung gelten als ein psychiatrisches Leitsymptom für eine akute Desorientierung. Je häufiger die

Missgeschicke, Entgleisungen und Vergesslichkeiten der Betroffenen von ihnen selber oder ihrer Umgebung erfahren werden, desto mehr schwindet das Zutrauen in die Sicherheit und Verlässlichkeit derjenigen Kompetenzen, die für die Lebens- und Alltagsgestaltung und -bewältigung unerlässlich sind. Die Erklärung von Symptomen als »normale Altersschusseligkeit«, die zunächst noch hinreichend zu sein scheint, wird ebenso schleichend wie der Krankheitsverlauf brüchiger. 47

derholten Male vergessen, den Herd abzuschalten, die Seife anstatt

Beratung

Ein demenzieller Verlauf wird häufig von kleineren und größeren kritischen Ereignissen begleitet, z. B.: »Großmutter hat zum wieder Butter in den Kühlschrank gestellt oder Unmengen von Käse gekauft – in der Annahme, dass sie keinen mehr hat« etc. Derartige Ereignisse verdeutlichen den – zunächst häufig partiellen – Verlust der Fähigkeit, den Alltag selbstständig zu gestalten. Sie alarmieren die Angehörigen und andere Menschen aus dem Nahbereich der Person und werfen die Frage auf, was zu tun ist. Für die Betroffenen ist das Gefühl der Handhabbarkeit ihrer Alltagsgestaltung infrage gestellt. Derartige Erfahrungen rufen bei den Betroffenen häufig Scham hervor. Sie reagieren dann mit Rückzug bzw. mit Erklärungsversuchen für eigentlich Unerklärliches, um wieder Verstehbarkeit und Handhabbarkeit herzustellen. Damit wird beispielsweise die Aussage, das Portemonnaie sei sicher gestohlen worden, wenn es nicht auffindbar ist, zu einer zumindest für den Moment hilfreichen Strategie. Wenn es gestohlen wurde, dann ist das schlimm, passt aber in den Erfahrungskontext, und es gibt Strategien, mit Diebstahl umzugehen. Das Portemonnaie verlegt zu haben und es mithilfe anderer an einem Ort wiederzufinden, wo es überhaupt nicht hingehört, ist für das eigene Selbstbild kaum erträglich. Eine durchgängige Erfahrung von Betroffenen, aber auch von Menschen aus ihrem Umfeld ist daher eine tiefgreifende epistemische Verunsicherung: Die Erfahrung, sich auf die eigenen Wahrneh-

mungen und Handlungskompetenzen verlassen zu können, wird erschüttert. Selbst wenn Handlungskompetenzen noch weitgehend zur Verfügung stehen, kann das Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten gering sein und zu einem erhöhten Bedürfnis nach Rückversicherung und Bestätigung durch andere führen. Eine Leitperspektive für die Marte-Meo-Arbeit mit Demenz­ betroffenen ist demnach, die Beziehung zu den Menschen mit 48

Handhabbarkeit, Sinnhaftigkeit sowie das Zutrauen zu sich selber

Beratung

Demenz so zu gestalten, dass das Gefühl der Verstehbarkeit, möglichst lange erhalten bleibt. Das Kohärenzgefühl beim Menschen entwickelt sich in der alltäglichen Kommunikation mit den Bezugspersonen und wird durch Kommunikationsprozesse fortlaufend bestätigt, differenziert und gefestigt. Im Zusammensein mit Demenzbetroffenen geht es um die Entwicklung einer auf den jeweiligen Menschen und die jeweilige gemeinsame Situation ausgerichteten Kommunikation, die es möglich macht, das Kohärenzgefühl des Menschen mit Demenz zu erhalten und, wenn möglich, zu beleben. Durch die beobachtungsgeleitete Arbeit wird sichtbar, wann und wie genau Menschen mit Demenz in ihrem Alltag so unterstützt werden können, dass sie sich auch unter eingeschränkten Bedingungen als kompetent, wirksam und leistungsfähig erleben können. Im späteren Verlauf der demenziellen Entwicklung – wenn Leistung und Kompetenz immer mehr in den Hintergrund treten – können sich Betroffene durch respektvolle Beziehungserfahrungen bis zuletzt als bedeutsam und wertvoll erleben. Die Erfahrung, dass andere ihnen mit Wertschätzung und Respekt begegnen, vermittelt den Betroffenen, dass sie Würde haben, und den Pflegenden, dass ihre Arbeit wertvoll ist und Sinn ergibt. Die Marte-Meo-Methode wurde zunächst in Skandinavien in der Altenpflege eingesetzt. Nach ermutigenden Erfahrungen in verschie-

denen europäischen Ländern gibt es seit mehreren Jahren auch in Deutschland Marte-Meo-Weiterbildungsgruppen für Pflege- und Betreuungskräfte.3 Einige Einrichtungen haben inzwischen eine Vorreiterrolle übernommen und die Methode als ein wichtiges Instrument in der Qualitätssicherung und -entwicklung etabliert. Die Berichte der Pflegekräfte aus diesen Einrichtungen (siehe nachstehend) sprechen dafür, dass sie mit Marte Meo ein alltagstaugliches, hilfreiches und unterDie Fallberichte verdeutlichen ein jeweils ganz auf den Einzelfall und die individuelle Betreuungssituation zugeschnittenes Vorgehen. Die Marte-Meo-Arbeit folgt dem generellen Prinzip, dass sich die Methode den beteiligten Menschen und ihren Alltagssituationen anpasst. Insofern ist jeder Fallbericht einmalig, die Beratungs- und Coachingarbeit jedoch folgt den gleichen Prinzipien: Zuerst wird die Alltagsgestaltung mit dem demenzbetroffenen Menschen in den Blick genommen. In einem zweiten Schritt wird mithilfe einer Videointeraktionsanalyse herausgearbeitet, welche Botschaft z. B. hinter einem Problemverhalten erkennbar ist und welche Unterstützungsformen in welchen Momenten hilfreich sind, um dem problematischen Verhalten vorzubeugen oder, wenn es auftritt, dazu beizutragen, dass es kurzfristig gemildert wird und langfristig einem konstruktiveren Verhalten weicht. Menschen mit Demenz benötigen in aller Regel, dass ihre Initiativen wahrgenommen und bestätigt werden. Dazu ist erforderlich, dass die Betreuungskräfte zuerst Anschluss an die betroffenen Personen finden, bevor sie selber eine Pflege- oder Versorgungshandlung beginnen. Hierzu ist meist zunächst eine Anpassung an das verlang3 Z. B.: Netzwerk Marte Meo Altenpflege, hier sind die Ansprechpartnerinnen Ursula Becker ([email protected]) und Birgit Ulma ([email protected]).

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Beratung

stützendes Instrument an die Hand bekommen haben.

samte Tempo des Menschen mit Demenz vonnöten. Ohne eine derartige Anpassung ist keine Kontaktaufnahme möglich. Im Marte-Meo-Konzept wird mit dem Begriff des »Folgens« eine Haltung der Betreuungsperson beschrieben. Beim Folgen nimmt sich die Betreuungsperson Zeit, um zu sehen, wo sich die Aufmerksamkeit des Menschen mit Demenz gerade befindet und was er von sich zeigt, um anschließend darauf zu reagieren. In Momenten des Fol50

Zielen begegnet, sondern er wird so wahrgenommen und bestätigt,

Beratung

gens wird dem Menschen mit Demenz nicht mit Erwartungen und wie er gerade ist. Darin drückt sich eine tiefe Wertschätzung aus. Der Blick richtet sich darauf, was da ist, und nicht darauf, was verloren gegangen ist oder jetzt getan werden soll. Mit diesem Blick bleiben Respekt und würdevoller Umgang bis zuletzt erhalten. Erst auf dieser Basis, die immer wieder neu gestärkt werden muss, können Erwartungen an Menschen mit Demenz formuliert werden. Hierzu braucht es klare Leitung, um Unterstützung da zu geben, wo Fähigkeiten verloren gegangen sind, und um die Wahrnehmung der Umgebung zu ermöglichen. Die situativ passende Balance von Folgen und Leiten stellt den Kern des Marte-Meo-Konzepts dar. Erfahrungen mit Marte Meo in der Betreuung und Pflege von Menschen mit Demenz

Die nachstehenden Fallberichte geben Einblicke in verschiedene Bereiche der Arbeit mit demenzbetroffenen Menschen. Die Grundlage dieser Berichte aus der praktischen Arbeit mit Marte Meo sind zumeist Arbeiten, die anlässlich der Zertifizierung zum »Marte Meo Therapist« bzw. »Marte Meo Colleguetrainer«4 vorgelegt wurden. Aus 4 Informationen zu den Marte-Meo-Weiterbildungsgängen und zu weiterführender Literatur sind auf der Website des Norddeutschen Marte-Meo-Institutes zu finden: www.nmmi.de.

Gründen der Anonymisierung wurden die Berichte so paraphrasiert und überarbeitet, dass die Arbeitsweise, die Erfahrungen der Beteiligten und die Effekte der Marte-Meo-Arbeit nach wie vor zur Darstellung kommen. Alle Informationen, die Rückschlüsse auf die beteiligten Personen erlauben, wurden geändert. Den Menschen mit Demenz in den Blick nehmen

Die folgende Darstellung stammt von der Pflegedienstleiterin einer großstädtischen Pflegeeinrichtung. Sie beschreibt die Arbeit mit Marte Meo in einer Wohngemeinschaft demenzbetroffener Menschen. Die Wohngemeinschaften ermöglichen den Bewohnern eine individuelle Wohnform unter ambulanten Bedingungen. Diese Lebensform bietet den Betroffenen die nötige Stabilität vor allem durch räumliche Überschaubarkeit und eine enge persönliche Begleitung. In den Wohngemeinschaften leben sieben bis elf Bewohner mit unterschiedlichem Grad der Pflegebedürftigkeit. »Schon im Jahr 2012 wurde begonnen, Marte Meo in die ersten Wohngemeinschaften zu integrieren, denn wir erleben immer wieder, dass die Mitarbeiter schwierigen Situationen gegenüber hilflos sind und mehr Handwerkzeug benötigen. Aufgrund der einfachen Handhabung und der leicht umsetzbaren Unterstützung ist die Marte-Meo-Methode für alle Mitarbeiter (Pflege, Hauswirtschaft, Reinigung) eine geeignete Beratungs- und Coachingmethode. Außerdem erscheint die wertschätzende und anerkennende Umgangsweise mit den Mitarbeitern sehr hilfreich, denn Kritik und Tadel gibt es ja bekanntlich im häufig hektischen Alltag genug. Und leider führen Kritik und Tadel nicht zu den gewünschten Änderungen. Hier sieht man, es geht auch anders. In der

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Beratung

Marte Meo – Selbstvertrauen und Handlungssicherheit ermöglichen: Erster Fallbericht

Marte-Meo-Beratung können die Mitarbeiter sehr genau sehen, welche Fähigkeiten die Menschen verloren haben, die ihnen anvertraut sind, und sie sehen, wie sie angemessen damit umgehen. Das stärkt das Gefühl ihrer Kompetenz und motiviert dazu, passende und individuelle Handlungsstrategien für die Menschen mit Demenz weiterzuentwickeln. Auch zur Beratung von Angehörigen erscheint uns diese Methode

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Der nachstehende Bericht beschreibt die Marte-Meo-Arbeit mit einer

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sehr gut geeignet.«

demenziell erkrankten Frau und verschiedenen Mitarbeitern aus dem Betreuungs- und Pflegebereich der Wohngemeinschaft. Frau A. lebt seit sechs Monaten in der Wohngemeinschaft. Sie ist dement, sehr unruhig und hat eine stoßweise, sehr laute Atmung. Sie baut kaum Kontakt zu anderen Menschen auf. Sie nimmt so gut wie keinen Blickkontakt auf. Frau A. scheint in vielen Situationen überfordert und wird dann sehr unruhig. Frau A. hat zwei Töchter. Eine von ihnen wohnt in der Nähe, die andere weiter weg. Zu der Tochter in der Nähe hatte sie immer guten Kontakt, der sich aber mit zunehmender Demenz verschlechtert hat. Erster Filmclip Die ersten Filmclips dienen bei Marte Meo einer genaueren Einschätzung des Unterstützungsbedarfes bei den Menschen mit Demenz. Darüber hinaus zeigen sie Momente unterstützender Kommunikation und ebenso Gelegenheiten, die Unterstützung, angepasst an die betroffene Person, die jeweiligen Kommunikationspartner und die Situation, weiterzuentwickeln. Das erste Video wird mit einer Fachkraft (im Folgenden »Pflegekraft« oder »Mitarbeiterin« genannt) und Frau A. beim gemeinsamen

»Mensch-ärgere-dich-nicht«-Spiel aufgenommen. Frau A. mag dieses Spiel sehr gern und zeigt sich in der gefilmten Szene sehr aufmerksam. Die Mitarbeiterin gibt Frau A. mehrfach doppelte Informationen durch Benennen (»Einen nach vorne«) und gleichzeitiges Zeigen auf das Feld. Durch diese Unterstützung weiß Frau A., was sie als nächstes tun kann, und handelt dadurch sicherer. Durch häufige Bestätigungen von der Mitarbeiterin bekommt Frau A. eine Unterstützung dabei, ihr Selbstvertrauen zu behalten. Die erste Videoberatung (Review) Das dazugehörige Review mit der Mitarbeiterin findet ein paar Tage später statt. Zunächst zeigt die Beraterin ein Standbild aus dem Video, bei dem sich Frau A. und die Mitarbeiterin anschauen. Letztere macht ein freundliches Gesicht, bei Frau A. ist ein angedeutetes Lächeln zu sehen. Das Standbild zeigt einen guten Kontaktmoment. Anschließend zeigt die Beraterin zunächst den gesamten Film, bevor ihn sich die beiden gemeinsam auf der Basis einer Interaktionsanalyse Schritt für Schritt ansehen. Dabei richtet sich der Fokus auf die unterstützenden Momente im Zusammensein mit Frau A. Die Mitarbeiterin ist bei dem Review sehr aufmerksam, zeigt aber selbst wenig Emotionen. Als eine konkrete weitere Unterstützungsgelegenheit hebt die Beraterin hervor, dass es gut wäre, die Kontaktmomente im Zusammensein mit Frau A. zu intensivieren. Die hierzu passenden Gelegenheiten zeigt sie in kurzen Bildsequenzen. Konkret kann der Kontakt zu Frau A. in den gezeigten Momenten durch Herstellung von Blickkontakt und persönliche Ansprache gestärkt werden. Diese Momente tragen zu Frau A.s emotionaler Sicherheit bei und helfen, Vertrauen in die Beziehung zu entwickeln.

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Zweiter Filmclip Gefilmt wird eine Frühstückssituation mit Frau A. und derselben Pflegekraft. Frau A. beginnt, ihr Brötchen zu schmieren. Die Mitarbeiterin unterstützt sie durch einen Moment positiver Anleitung (»Hier ist die Butter«) und die anerkennende Bemerkung »Das haben Sie schon gut gemacht«. Dadurch weiß Frau A., was sie in diesem Moment tun kann, und kann 54

Frau A.s Initiativen zeigt die Pflegekraft Respekt; eine Überforderung

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sich bestätigt fühlen. Durch eine ruhige Atmosphäre und Warten auf aufseiten der Bewohnerin ist vermieden. Frau A. ist sehr auf ihr Frühstück fixiert, es besteht noch kein Blickkontakt. Aber auch ohne Blickkontakt kann Frau A. durch Sätze wie »Das haben Sie schon gut gemacht« erleben, dass sie gesehen wird. So kann sie langsam Vertrauen und Sicherheit aufbauen. Hilfreich wären vermutlich noch deutlichere Signale der Kontaktaufnahme. Zweite Videoberatung Diesmal ist die Mitarbeiterin sehr an den Bildern interessiert und freut sich über die positiven Rückmeldungen. Sie wirkt in diesem Review etwas entspannter. Erneut erhält sie die Empfehlung, mehr Kontakt zu Frau A. aufzunehmen. Sie entwickelt selbst die Idee, dies durch persönliche Ansprache mit Namen oder eventuell Berührungen am Unterarm zu versuchen. Diese Episode macht deutlich, dass demenzbetroffene Personen deutlichere Signale benötigen als unbeeinträchtigte Menschen, um die soziale Information aufzunehmen und zu verarbeiten. Zu einer deutlicheren sozialen Information gehört, dafür zu sorgen, dass unter Umständen eine größere körperliche Nähe zur betroffenen Person hergestellt werden muss, damit die visuellen Informationen eines freundlichen Gesichtes »ankommen« können. Die Abstimmung einer angemessenen Nähe ist vom individuellen Erfassen des

jeweiligen Beziehungsmomentes in der jeweiligen Situation abhängig und erfolgt in der Regel intuitiv und nicht als »Technik«. Zu einer deutlichen Information des Gegenübers kann auch die doppelte Information durch Sagen und Berühren gehören. Für die Mitarbeiter ist es hilfreich zu verstehen und zu sehen, weshalb ihre Kontaktangebote in bestimmten Momenten nicht angemessen erwidert werden können. Wenn das gelingt, verwandeln Menschen«, »Ich bin völlig unbedeutend für Frau A.« zu Überle-

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gungen wie »Frau A. hat anscheinend durch ihre Erkrankung die

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sich Eindrücke wie »Frau A. hat kein Interesse mehr an anderen

Fähigkeit verloren, kleine Kontaktsignale zu erkennen. Sie braucht wohl deutlichere Signale«. Diese Überlegung kann dann überprüft werden. Im Sinne salutogenetischen Denkens entsteht in diesem Moment auch für die sorgende Person Verständnis und eine Idee von Handhabbarkeit der jeweiligen Situation mit dem demenzbetroffenen Gegenüber. Dritter Filmclip Die Filmsituation: Eine andere Pflegekraft unterstützt Frau A. beim Zähneputzen am Waschbecken. Gleich zu Beginn des Films gibt es einen Blickkontakt. Die Mitarbeiterin schaut mit lächelndem Gesicht zu Frau A. und spricht sie mit Namen an. Frau A. erwidert den Blick. In diesem Moment erlebt Frau A. ganz konkret, dass sie von Frau P. auf eine freundliche Weise wahrgenommen wird. Nun bittet die Mitarbeiterin Frau A., ihre Zähne zu putzen, und bietet ihr ihre Unterstützung an. Sie reicht Frau A. die Zahnbürste. Durch das Reichen der Zahnbürste weiß Frau A., was sie als Nächstes tun kann. Die anerkennenden Worte der Mitarbeiterin – »super« und »gut gemacht« – unterstützen ihr Selbstvertrauen in die aktuelle Handlung. Gleichzeitig schafft die Mitarbeiterin damit eine Struktur. Die Äußerungen »super« und »gut gemacht« machen auch deutlich,

dass jeweils ein Teilschritt des Handlungsablaufes erfolgreich bewältigt wurde. Sie machen gewissermaßen den Kopf frei für den nächsten Handlungsschritt. Solange Frau A. nicht weiß, ob das, was sie gerade getan hat, in Ordnung war, ist sie in Gefahr, sowohl gedanklich als auch in ihrem Handlungsablauf an dieser Stelle stehen zu bleiben. Während des gesamten Films ist zu sehen, dass die Pflegekraft für eine ruhige Atmosphäre sorgt und Frau A. genügend Zeit gibt, wodurch diese Sicherheit erfährt und nicht überfordert wird. Durch

Beratung

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das schrittweise Ankündigen des nächsten Handlungsschrittes erhält Frau A. eine konkrete Orientierung, und ihre Handlungssicherheit wird unterstützt. Schritt für Schritt die einzelnen Handlungsschritte anzukündigen und dabei das Tempo an den Menschen mit Demenz anzupassen, bedeutet, diesem Menschen ein Gefühl von Handhabbarkeit zu ermöglichen und ihn in seiner Handlung zu bestätigen. Frau A. erlebt auf diese Weise auch Wertschätzung und Autonomie. Ihr Tempo wird respektiert, damit ist sie bedeutsam. Während sich das Erleben von Autonomie bei Menschen im Normalfall häufig auf Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten bezieht, sind Menschen mit Demenz davon meist überfordert. Ein Gefühl für das eigene Tempo bleibt dagegen bis zum Lebensende als Ausdruck der sich wandelnden Persönlichkeit erhalten. Ein Nebeneffekt des Ankündigens der nächsten kleinen Handlungsschritte besteht darin, dass auch die Pflegenden so für einen klaren Ablauf und ein angemessenes Tempo in ihren Handlungen sorgen. Dritte Videoberatung Auch dieses Review findet zeitnah statt. Die Mitarbeiterin nimmt den Filmclip positiv auf und erklärt, dass vieles »ganz unbewusst« passiere. Sie freut sich über die Wertschätzung, die sie für ihre Arbeit erhält. Die Beraterin erläutert ihr, wie wichtig ein persönlicher Kon-

takt für Frau A. ist. Sie verknüpft die bildbasierte mit der fachlichen Information, dass Studien darauf hindeuten, dass Menschen mit Demenz in höherem Maß auf ein freundliches Gesicht angewiesen sind. Ein eher neutrales Gesicht wird offensichtlich von vielen Betroffenen rasch als ärgerlich erlebt. Die Bemerkung der Mitarbeiterin, dass viele unterstützende Handlungen »ganz unbewusst« ablaufen, ist ein Hinweis auf die Kommunikation basiert auf dem Schatz des impliziten Wissens, der

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gesunden Menschen in unbelasteten Situationen intuitiv zur Verfü-

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Grundlage der Marte-Meo-Methode. Die Basis unterstützender

gung steht. Vermutlich gehört er zum evolutionären Erbe der Menschen. Durch das implizite Wissen werden die lebensförderlichen und -erhaltenden Fürsorgehandlungen für sehr junge oder auch alte und demenzbetroffene Menschen spontan ermöglicht und aufrechterhalten (Hawellek, 2017). Vierter Filmclip Für diesen Film war geplant, dass ein anderer Mitarbeiter mit Frau A. »Mensch ärgere dich nicht« spielt. Nun hat sich überraschend Frau B., eine andere Bewohnerin, dazugesetzt. Der Mitarbeiter spricht Frau A. mit ihrem Namen an und berichtet ihr, dass Frau B. mitspielen möchte. Dadurch fühlt sich Frau A. persönlich angesprochen und kann sich auf die Situation einstellen. Durch die Worte »Fangen Sie an« und das Reichen des Würfels erhält Frau A. eine doppelte Information über den nächsten Handlungsschritt. Der Kollege bestätigt die Spielinitiativen bei beiden Bewohnerinnen häufig durch »Genau«, »Jawohl«, »Die Gelben«, wodurch sich Frau A. und Frau B. immer wieder wahrgenommen fühlen können. Eine Bestätigung in den jeweiligen Aktionsmomenten unterstützt das Gefühl der Verstehbarkeit; in diesem Falle der aktuellen Spielsituation. Ebenso trägt es zur Handlungssicherheit der Betroffenen bei.

Der Pfleger zeigt Frau A. den Würfel und fragt: »Frau A., was ist das für eine Zahl?« Durch die Ansprache mit ihrem Namen fühlt sich Frau A. persönlich angesprochen und wahrgenommen. Sie antwortet: »Eine Drei«, worauf er erwidert: »Eine Drei, das erkennen Sie aber sehr gut!« Frau A. kann sich in diesem Moment bestätigt fühlen. Dies unterstützt ihr Selbstvertrauen. Die Marte-Meo-Arbeit folgt dem Leitgedanken, dass Fragen nur 58

die Frage gilt, sie auch beantworten kann. Bei Menschen mit Ein-

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gestellt werden, wenn der Fragende sicher ist, dass derjenige, dem schränkungen oder auch bei Kindern birgt ein Nicht-antworten-Können auf eine Frage ein Beschämungsrisiko. Wenn solche Erfahrungen gehäuft gemacht werden, führt das nicht selten zum Rückzug oder zu Aggressionen der Befragten. Vierte Videoberatung Es ist die erste Videoberatung für diesen Mitarbeiter. Er ist überrascht, viel Positives über seine unterstützende Kommunikation aus dem Filmausschnitt zu erfahren. Anhand ganz konkreter Bilder sieht er, wie er für eine entspannte Atmosphäre sorgt, häufig ein freundliches Gesicht mit freundlicher Stimme zeigt und dadurch Vertrauen aufbaut. Er kann gut abwarten und setzt dadurch die Bewohnerinnen und auch sich selber nicht unter Druck. Die Erfahrung der Videoberatung und die Bilder des Films haben diesem sensiblen Mitarbeiter sichtlich gutgetan. Er traut sich selbst häufig nicht so viel zu, und hat die Wirkung seiner einfühlsamen, ruhigen Art nun deutlich sehen können. Fünfter Filmclip Durch Zufall wurde ganz spontan nochmals eine Frühstückssituation mit Frau A. und der ersten Mitarbeiterin gefilmt. In diesem Clip, ca. fünf Monate nach der ersten Aufnahme zeigt sich Frau A. viel aufgeschlossener und ihr Gesicht wirkt entspannter. Die

Fachkraft erklärt: »Frau L. (die Beraterin) will mich heute filmen, ich bin dann im Fernsehen.« Diese reagiert darauf: »Und Sie, Frau A., auch!« Frau A. guckt nun direkt in die Kamera und lächelt. Alle drei genießen den schönen Moment. In der weiteren Kommunikation zwischen der Mitarbeiterin und Frau A. zeigt sich Frau A. viel aufmerksamer und schließt viel stärker an die Beiträge der Pflegekraft an.

Schon im Standbild ist sichtbar, wie gut Frau A. und die Mitarbeiterin in ihrer Kommunikation aneinander angeschlossen sind. Beide lächeln und die Verbundenheit ist deutlich zu spüren. Nach dem Anschauen des Films und der einzelnen unterstützenden Momente lädt die Beraterin die Mitarbeiterin dazu ein, diesen Film mit der ersten Filmaufnahme zu vergleichen. Teilweise finden sich in beiden Clips identische Situationen. Durch den Vergleich wird die positive Entwicklung der Bewohnerin und der Kommunikation besonders deutlich. Sowohl die Beraterin als auch die Mitarbeiterin sind beeindruckt.

Das Anschluss-Finden an den jeweiligen Kommunikationspartner ist die Grundlage jedweder Kommunikation. Es gelingt dort, wo den Initiativen der Person, an die der Anschluss gesucht wird, gefolgt wird. Dazu ist erforderlich, die unterschiedlichen Initiativen zunächst wahrzunehmen und ihnen dann zu folgen. Ein Folgen der Initiative kann sehr unterschiedliche Formen haben. Bei demenzbetroffenen Personen ist häufig ein Wiederholen der Lautäußerungen der Betroffenen eine passende Form des Anschluss-Findens: Wenn ich die Töne, die jemand äußert, wiederhole, bietet mir das die Möglichkeit, mich in die Mitteilung hinter der Äußerung einzufühlen. So kann ein Seufzer je nach Kontext z. B. ein Signal von Belastung oder auch Erleichterung sein. Greift man die Lautäußerung auf und benennt

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Beratung

Fünfte Videoberatung

das dahinter erkennbare Gefühl, kann ein Anschlussmoment entstehen, der eine Verbindung zu dem Betroffenen ermöglicht: »Puh, das war jetzt schwer … gut, dass es vorbei ist …« Das Anschluss-Finden an eine demenzbetroffene Person ist eine Voraussetzung für die weitere Kommunikation. Wenn Pflegekräfte mit Menschen mit Demenz umgehen, ist zunächst ein Kontakt bzw. Anschlussmoment erforderlich, bevor eine konstruktive Pflegeinteraktion möglich ist. Der Grundrhythmus einer konstruktiven Pflegeinteraktion besteht daher

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in der kontinuierlichen Abfolge: Kontaktmoment – Anleitungsmoment – Aktionsmoment, Kontaktmoment usw. Da die emotionale Verfassung von Menschen mit Demenz sehr schwankend sein kann, ist es für die Betreuungspersonen wichtig, besonders auf Kontaktund Anschlussgelegenheiten zu achten. In welchem Ausmaß ein Mensch mit Demenz Kontakt- und Anschlussgelegenheiten benötigt und in welchem Tempo dies vonstattengehen kann, wird dabei immer vom Schwächeren, dem Menschen mit Demenz, bestimmt. Eine Zwischenbilanz: Die Erfahrungen mit Marte Meo in der Wohngemeinschaft einer Pflegeeinrichtung für Menschen mit Demenz Alle beteiligten Mitarbeiter berichten, die Feedbacks hätten ihnen – nach anfänglicher Skepsis den Videoaufnahmen gegenüber – sehr viel mehr Sicherheit in der täglichen Arbeit gegeben. Sie waren fasziniert, mit welch scheinbar einfachen Handlungsweisen (Blickkontakt, persönliche Ansprache, Bestätigung usw.) eine so viel bessere Kontaktaufnahme und Kooperation mit den Bewohnern möglich ist. Die Mitarbeiter, die videobasiert beraten wurden, waren von ihren eigenen Filmclips zumeist positiv beeindruckt. Sie erhielten Bestätigung und ein differenziertes Feedback zu ihrer professionellen Arbeit. Nach den Reviews mit vielen positiven Momenten, Anerkennung und Wertschätzung nahmen sie die Empfehlungen, die am Ende

der Beratung gegeben wurden, meist sehr ernst und passten ihr Verhalten schnell an. Ein großer Teil der gefilmten Mitarbeiter hat mittlerweile an einem weiterführenden Kursus teilgenommen oder wird dies noch tun. Auch die Angehörigen, denen Videos gezeigt und erläutert wurden, waren positiv beeindruckt.

Diese Schilderung verdeutlicht, auf welche Weise diejenigen, die Marte Meo in ihr professionelles Handwerkszeug integriert haben, Auf der Ebene der Organisation kann sich durch die ressourcenorientierte Arbeit auch die Unternehmenskultur positiv in eine Kultur der wechselseitigen Anerkennung und der Transparenz der professionellen Arbeit verändern. Dadurch, dass die Präsentation von Videoclips einen gemeinsamen Beobachtungsfokus ermöglicht, ist sichergestellt, dass die Informationen über demenzbetroffene Menschen für alle Mitarbeiter einer Einrichtung konkret, situationsbezogen und detailliert sind. Die Bilder bieten den Fachkräften eine gute Orientierung, um in einer nächsten, ähnlichen Situation konstruktiv und zielorientiert zu handeln. Neben der gemeinsamen Sicht auf eine Situation ermöglicht die Methode auch die Nutzung einer gemeinsamen beobachtungsgeleiteten Sprache, etwa wenn davon die Rede ist, die eigenen Initiativen in einer Anleitungssituation anzukündigen oder die Initiativen des Gegenübers zu benennen und so für Orientierung zu sorgen.

Marte Meo – verschüttete Fertigkeiten aktivieren: Zweiter Fallbericht Dieser Bericht stammt von der Pflegedienstleitung einer Einrichtung der Langzeitpflege, in der zum Teil hochbetagte Bewohner mit den unterschiedlichsten Diagnosen über viele Jahre leben.

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davon profitieren können.

Herr B. ist vor einigen Monaten in die Einrichtung gezogen. Er kann sprechen, ist aber situativ und örtlich nicht orientiert, was allerlei Probleme bereitet. So zieht er sich zur Unzeit aus, uriniert auf den Fußboden und demontiert Mobiliar. Herr B. schläft wenig. Er leidet an den Folgen von Hirnblutungen und wird durch eine Magensonde ernährt. Seine Ehefrau berichtet, dass er diese Form der Ernährung selber nie gewollt habe. Aufgrund dieser Information will das Team der Einrichtung ihn dabei unterstützen, wieder selbst-

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ständig zu essen, und ihm auf diese Weise ein Stück seiner Lebensqualität zurückgeben. Erster Filmclip Es wird eine Frühstückssituation gefilmt. Herr B. wird in die Wohnküche gebracht und an den Esstisch gesetzt. Die Pflegerin begleitet ihn dabei. Sie setzt sich zu ihm und sagt: »So, Herr B., jetzt gibt es ein Brötchen.« Herr B. antwortet: »Ja«, schaut aber nicht auf den Teller mit dem Brötchen. Die Mitarbeiterin nimmt das Brötchen und lässt Herrn B. vom Brötchen abbeißen. Erste Videoberatung Die Marte-Meo-Beraterin zeigt der Mitarbeiterin zunächst den Moment, in dem Herr B. das erste Mal seit langer Zeit feste Nahrung zu sich nimmt und das sichtlich genießt. Als die Kollegin fragt, wie es schmeckt, antwortet er: »Sehr gut.« Jetzt schauen sich beide die Situation an, in der die Mitarbeiterin ihn mit Worten auf das Brötchen hinweist. Es fällt auf, dass Herr B. in diesem Moment ins Leere schaut. Die Mitarbeiterin bekommt den Hinweis, gegenüber Herrn B. das, worum es in diesem Moment geht, nicht nur zu sagen, sondern auch darauf zu zeigen, also Herrn B. deutlich und doppelt zu informieren. Darüber hinaus wird besprochen, dass Herrn B.s Sehkraft ärztlich abgeklärt wird. Diese Episode macht deutlich, wie

durch die videobasierte Arbeit auch Probleme sichtbar werden können, die zunächst nicht offensichtlich sind, wie hier die Frage nach der Sehkraft des Bewohners. Zweiter Filmclip Inzwischen ist klar, dass die Sehkraft Herrn B.s stark eingeschränkt ist. Wieder wird eine Frühstückssituation gefilmt. 63

arbeiterin zeigt auf den Teller mit den Brötchen und erläutert Herrn B.,

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Die Kollegin und Herr B. sitzen über Eck am Tisch. Sie sagt: »Herr B., ich helfe Ihnen jetzt beim Frühstücken.« Herr B. reagiert: »Ja.« Die Mitwelcher Belag sich auf welcher Brötchenhälfte befindet. Dabei zeigt sie auch auf die jeweilige Brötchenhälfte. Herr B. folgt ihren Gesten mit dem Blick, entscheidet sich für eine Hälfte und beginnt zu essen. Als Herr B. mit dem Kauen fertig ist, fordert sie ihn auf zu trinken und hält ihm den Becher hin. Herr B. greift ins Leere. Zweite Videoberatung Wenn die Mitarbeiterin das, was sie Herrn B. sagt, mit Gesten begleitet, erleichtert sie es ihm zu verstehen. Sichtbar wird dies daran, dass Herr B. der Information mit seinem Blick folgen kann und handlungsfähig wird. Auf die doppelte Information durch Benennen und Zeigen kann er adäquat reagieren. Auf diese Weise wird er positiv angeleitet und erhält eine Struktur für sein Handeln. Dadurch dass die Mitarbeiterin mit der nächsten Information (trinken) wartet, bis Herr B. mit dem Kauen fertig ist, ermöglicht sie ihm, seinen Rhythmus beizubehalten und sich dadurch wertgeschätzt zu fühlen, und sie erleichtert ihm das Verstehen. In diesem Fall greift Herr B. allerdings ins Leere. Bei genauer Betrachtung wird deutlich, dass sie zwar den Becher hinhält, allerdings nicht auf Augenhöhe zu Herrn B. Hieraus wird die Empfehlung abgeleitet, bei der Kontaktaufnahme mit Herrn B. auf Augenhöhe zu ihm zu gehen.

Dritter Filmclip und dritte Videoberatung Wieder wird eine Frühstückssituation gefilmt. Diesmal setzt sich die Mitarbeiterin Herrn B. gegenüber, um leichter Kontakt auf Augenhöhe aufnehmen zu können. Sie begrüßt Herrn B. mit: »Guten Morgen Herr B.«, und Herr B. grüßt zurück. Sie sagt ihm, dass sie ihm das Brötchen in die Hand geben wird, und tut dies anschließend. Herr B. isst sein Brötchen selbstständig. Im nächsten Moment hat Herr B. das Frühstück beendet und sucht mit den Händen den Tisch

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ab. Die Kollegin ist in diesem Moment durch eine andere Bewohnerin abgelenkt. In diesem Film wird deutlich, dass Herr B. zunehmend in der Lage ist, alleine zu essen. Er wird allerdings unsicher, sobald die Mitarbeiterin aus dem Kontakt geht. Daher wird ihr empfohlen, möglichst mit Herrn B. in Verbindung zu bleiben und seinen Initiativen zu folgen. Vierter Filmclip und vierte Videoberatung Erneut wird eine Frühstückssituation gefilmt. Herr B. wird an seinen Platz gebracht, Brötchen und Kaffee sind bereits vorbereitet. Man sieht in dem Clip, wie Herr B. selbstständig Kaffee trinkt, nachdem die Mitarbeiterin nach der Begrüßung gesagt hat: »Herr B., hier ist Ihr Kaffee, ich gebe Ihnen den Becher in die Hand.« An diesem Verlauf wird deutlich, wie es mit Unterstützung des Videocoachings der Mitarbeiterin gelungen ist, Herrn B. ein Stück Lebensqualität zurückzugeben. Herr B. ist immer mehr in der Lage, seine Mahlzeiten mit gelegentlicher Unterstützung selbstständig zu sich zu nehmen. Er bekommt einen Termin im Krankenhaus, um seine Magensonde entfernen zu lassen. Nach dem Krankenhausaufenthalt zieht er in eine angegliederte Wohngemeinschaft um. Auch dort wird Herr B. situativ mit Marte Meo begleitet werden.

Dieses Beispiel zeigt, wie bei Marte Meo kleine und unspektakuläre Schritte nachhaltige Veränderungen ermöglichen. Die Präsentation überschaubarer, aber bedeutsamer Mikroereignisse in der Interaktion ermöglicht den Beobachtern bei der Videoberatung einen empathischen Zugang zu den Beteiligten der jeweiligen Szenerie. Der Blick von außen auf die Interaktionen und die eigenen Verhaltens- und Reaktionsweisen befördert die Möglichkeit eines Perspektivwechsels: kann seine inneren Bilder, seine »Er-innerungen«, mit dem Blick von

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außen abgleichen. Nicht selten werden dadurch neue Lernerfahrun-

Beratung

Der Betrachter sieht sich aus der Perspektive eines Beobachters und

gen möglich, etwa wenn ein Betreuer selber sieht, dass er mit seinem Tempo den demenziellen Interaktionspartner überfordert. Ebenso kann er sich aus der Distanz des Beobachters heraus ein Bild davon machen, was in seinem Gegenüber in den gemeinsamen Momenten vorgeht. Insofern ist die Marte-Meo-Methode immer auch ein Training der Empathie und Mentalisierungsfähigkeit der Beobachter. Die Anwesenheit eines geschulten Marte-Meo-Beraters lenkt dabei das Augenmerk auf die Ressourcen der Beteiligten und neue Gelegenheiten zu einem konstruktiven Miteinander. Der Berater regt konkrete Handlungsschritte an und evaluiert diese in einem Folgevideo von einer ähnlichen Interaktion.

Marte Meo und herausforderndes Verhalten: Dritter Fallbericht Demenzielle Entwicklungen gehen häufig mit herausforderndem Verhalten einher, das die Betreuungskräfte sehr beanspruchen kann. Was ist zu tun bei herausforderndem Verhalten? Die Marte-Meo-Antwort dazu ist indirekt. Es geht hier nicht in erster Linie um Krisenmanagement, sondern darum, wie Maria Aarts (2008) es ausdrückt, zuerst die Botschaft hinter dem herausfordernden Verhalten verste-

hen und lesen zu lernen (Aarts, 2008; Becker, 2014). Herausforderndes Verhalten ist demnach ein Hinweis auf ein »nicht gesehenes Bedürfnis« bzw. eine »verlorene Fähigkeit« (Becker, 2014, S. 32). Schauen wir uns dies an einem Beispiel an: In einer Tagespflegeeinrichtung für Menschen mit Demenz klagen die Mitarbeiter darüber, dass Frau M. beim Essen immer wieder aufsteht. Darin ist zu sehen, wie eine Mitarbeiterin zu Beginn der Mahlzeit liebe-

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Dies stellt eine Belastung für alle dar. Eine Videoaufnahme wird erstellt. 66

voll Körperkontakt zu Frau M. aufnimmt und ihr sagt und zeigt, dass es jetzt etwas zu essen gibt. Man sieht, dass Frau M. dadurch in die Lage versetzt wird, das Brot in die Hand zu nehmen und zu essen. Anschließend geht die Mitarbeiterin zu anderen Gästen, Frau M. isst weiter. So weit, so gut. Nach einigen Bissen jedoch legt Frau M. das Brot auf den Teller zurück und weiß offensichtlich nicht mehr weiter. Was soll bzw. kann sie jetzt tun? Sie schaut sich um, ihr Gesicht wirkt gequält. Nach einigen Sekunden macht sie Anstalten aufzustehen. Zufällig kommt eine Mitarbeiterin vorbei, die wie zu Beginn den Arm um sie legt und ihr mit liebevollen Worten zeigt, wie sie weiteressen kann. Dieser Ablauf wiederholt sich mehrmals. Erst beim dritten Mal kommt niemand zufällig vorbei, Frau M. bleibt alleine, steht nach kurzem Zögern auf und begibt sich »auf Wanderschaft«. Was fällt auf? Die Mitarbeiter beklagen, dass Frau M. »immer« aufstehe. Das herausfordernde Verhalten wird jeweils deutlich, man könnte fast sagen überdeutlich wahrgenommen. Dass sie die Lösung des Problems bereits praktizieren, ist den Mitarbeitern aber noch nicht bewusst. Erst durch die Betrachtung des Videos wird klar, wie oft sie es Frau M. ermöglichen, sitzen zu bleiben und weiterzuessen. Obwohl sie für so viele Gäste da sein müssen, nehmen sie offensichtlich häufig wahr, wenn Frau M. wieder Unterstützung braucht,

und geben ihr Kontakt und positive Leitung. Es wird deutlich, dass Frau M. dann in der Situation bleiben kann. Ob und wann die Unterstützung geschieht, ist aktuell eher vom Zufall bestimmt. Dadurch ist es zwar im Moment hilfreich, ermöglicht Frau M. aber nicht, Sicherheit in die Erwartung zu entwickeln, dass immer jemand kommen wird. Fehlt diese Sicherheit, kann auch keine grundsätzliche Verhal-

Nach der Besprechung des Videos nehmen die Mitarbeiter sich vor,

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mehr auf Frau M. zu achten und öfter mal zwischendurch zu ihr

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tensänderung erfolgen.

zu gehen, sozusagen vorbeugend. Ihnen wird klar, dass sie durch ein solches Vorgehen trotz der Zeitknappheit, unter der alle leiden, vermutlich eher Zeit einsparen werden, denn sie brauchen Frau M. nicht mehr mühevoll zurück an den Tisch holen. Auf längere Sicht könnten alle damit zufriedener sein. Mit diesem Vorgehen nehmen sie Frau M.s Bedürfnis hinter ihrem herausfordernden Verhalten wahr: Sie braucht Kontakt und in Handlungssituationen positive Leitung. Wenn sie dieses Bedürfnis vorbeugend erfüllen, kann Frau M. auf die Herausforderung verzichten. Dieses von Maria Aarts beschriebene Prinzip findet sich auch in anderen Kontexten wie beispielsweise der modernen Schmerztherapie. Auch hier hat sich bei chronischem Schmerz das Vorgehen durchgesetzt, Schmerzmedikamente zu verabreichen, bevor der Schmerz unerträglich wird. Dies erfolgt im Allgemeinen in Form von Retardpräparaten, die regelmäßig kleine Mengen Schmerzmittel freisetzen. Dadurch wird nicht nur der Schmerz in Schach gehalten, sondern es kann auch Sicherheit und Vertrauen entstehen. Analog dazu werden sich die Mitarbeiter vorbeugend Frau M. vermehrt zuwenden und können damit ihren seelischen Schmerz lindern.

Marte Meo und traumatische Erfahrungen: Vierter Fallbericht Mit dem videobasierten Zugang gelingt es auch, Menschen mit Demenz durch äußerst kritische Situationen zu begleiten. Hierzu ein Beispiel: Aus der Biografie von Frau B. ist bekannt, dass sie als Kind beim Spielen in einen Brunnen gefallen und fast ertrunken ist. Die Angehörigen 68

haben. Nun leidet sie seit einigen Jahren an einer Demenz, lebt mittler-

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wissen davon, aber es scheint Frau B. nicht wesentlich beeinträchtigt zu weile in einem Pflegeheim und alte, verschüttet geglaubte Erinnerungen werden wieder wach: Jedes Mal, wenn das Waschen ihres Gesichts ansteht, gerät sie in einen Zustand höchster Anspannung und wehrt sich. Das ist vor dem Hintergrund der traumatischen frühen Erfahrung verständlich. Die Mitarbeiter haben das Waschen des Gesichts bereits auf das absolute Minimum reduziert. Im nächsten Schritt überlegen sie, wie sie das Waschen selbst so gestalten können, dass Frau B. in der Lage ist, es zu ertragen. Hierzu ist es hilfreich auf die Erfahrungen zu schauen, die Frau B. in der traumatischen Situation ihrer Kindheit gemacht hat. Beim Sturz in den Brunnen und dem drohenden Ertrinken hat sie absolute Hilflosigkeit erlebt. Sie war darauf angewiesen, dass andere ihr halfen. Sie konnte nicht verstehen, was da passiert war, und ihre Angst war überwältigend. Sinn war in solch einer Situation nicht zu finden. Mit einem Blick auf das Konzept der Salutogenese fehlten alle Elemente, die zum Kohärenzgefühl beitragen. Wenn es nun gelingen sollte, das Waschen erträglich und akzeptabel zu gestalten, dann war klar, dass Frau B. im Sinne einer korrigierenden Erfahrung eben die salutogenetischen Elemente in hohem Maße benötigte. Ein Mitarbeiter nimmt sich vor, beim nächsten Waschen besonders die Aspekte von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit

der Situation zu beachten. Die Situation wird gefilmt und gestaltet sich wie folgt: Frau B. liegt im Bett. Es ist vorgesehen, sie wie immer im Bett zu waschen, denn sie kann kaum noch mobilisiert werden. Waschschüssel und alle Utensilien sind bereits vorbereitet. Ein Mitarbeiter betritt den Raum und begrüßt Frau B. mit Namen, beugt sich zu ihr hinunter und berührt sie an der Schulter. Er wartet einen Moment, sie schaut ihn ten Tonfall. Jetzt erfährt sie, worum es geht: »Ich möchte Sie gleich

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waschen.« Der Tonfall des Pflegers, die paraverbale Information, ist

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an und murmelt etwas Unverständliches in einem ruhigen, entspann-

ruhig, entspannt. Dem kann sie entnehmen, dass das, was bevorsteht, nicht gefährlich ist. In der Folge benennt der Pfleger jeden Schritt, den er tut, wartet, bis er sieht, dass Frau B. verstanden hat. Er nimmt wahr, wie sie die Situation erlebt. So teilt er ihr mit, dass er das Bett ein bisschen hochfahren muss, und tut es erst, als sie entspannt mit ihrem Blick bei ihm bleibt und etwas murmelt. Während des Hochfahrens ruckelt das Bett und das benennt er, ebenfalls mit Blick zu ihr. Bereits zu diesem Zeitpunkt hat Frau B. im Zusammenhang mit Waschen viele kleine Momente erlebt, die Gegenerfahrungen zu der traumatischen Situation ihrer Kindheit sind: –– Sie wird gesehen, war als Person bedeutsam – das macht Sinn. –– Sie kann sich auf jeden Schritt einstellen, der Mitarbeiter war vorhersehbar – dadurch erlebt sie Verstehbarkeit und Handhabbarkeit. –– Ihre Wahrnehmungen werden wahr-genommen, d. h. validiert – das schafft Sinn und Verstehbarkeit. Dabei erhält sie über Mimik, Gestik und Tonfall des Pflegers immer wieder die Information, dass keine Gefahr droht. Ob sich einer schwer dementen Frau noch der Sinn des Waschens erschließt,

sei dahingestellt. Was sie erlebt, ist Sinnstiftung durch eine Halt gebende und respektierende Erfahrung. Beziehung macht Sinn! Auf diese Weise gelingt es, ihre Hände zu waschen, aber sobald sich der Pfleger dem Gesicht von Frau B. nähert, wehrt sie ab. Und er nimmt diese Abwehr wahr und respektiert sie. Dadurch kommt er in ein Dilemma: Frau B.s Abwehr respektieren versus ihr Gesicht waschen. im Sitzen zu waschen. Durch diesen Perspektivwechsel ergeben sich

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Er nimmt sich einen Moment Zeit, denkt nach und schlägt vor, Frau B. 70

wichtige Veränderungen. Beide sind nun auch körperlich auf Augenhöhe, der Pfleger kann seinen Arm um Frau B. legen und ihr dadurch die nötige Nähe geben. Der Gesichtsausdruck von Frau B. zeigt, dass ihr dies angenehm ist. Gleichzeitig hat Frau B. eine andere Wahrnehmung der Situation. Im Bett zu liegen bewirkt ein verzerrtes Bild der Umgebung. Im Sitzen stellt sich die Umgebung in vertrauter Weise dar. Gleichzeitig eröffnet die Position die Erfahrung eines erweiterten Bewegungsspielraumes. Der Pfleger hat Frau B. also durch den Positionswechsel in eine deutlich sicherere, verstehbare und handhabbare Situation gebracht. Erneut geht er in Kontakt und schlägt ihr vor, sich selber zu waschen. Hierzu bietet er ihr den Waschlappen an. Auch diese intuitive Initiative des Pflegers ist geeignet, der Aktualisierung der traumatischen Erfahrung entgegenzuwirken: Der Kern einer traumatischen Erfahrung ist Ohnmacht, die Erfahrung, etwas Unaushaltbarem ausgeliefert zu sein, ohne darauf Einfluss zu haben. Durch die Initiative des Pflegenden, der alten Dame den Waschlappen zu geben, entsteht die Möglichkeit, wieder eine Handlungsvollmacht in der Situation zu bekommen. Es wirkt, als wenn Frau B. die Mitteilung bekommt: »Sie können es selber in die Hand nehmen – oder auch nicht.« Frau B., die bisher nicht verständlich gesprochen hat, sagt nun klar verständlich: »Das ist noch viel schlimmer«; eine klare Aussage. Damit zeigt Frau B. deutlich – trotz ihrer erheblichen Einschränkungen – was möglich ist und was nicht.

Der Pfleger hat nun die Handlung eingebettet in eine Situation von Nähe, Beziehung, Vorhersehbarkeit und Wahrnehmung – und dies in einer für beide Seiten recht entspannten Situation. Frau B.s Gesicht, ihre Stimme, ihre Körperhaltung zeigen keine besondere Anspannung. Dem Pfleger ist es gelungen, sie in der Realität zu halten und diese als ungefährlich zu vermitteln. Das ist im Vergleich zu den früheren Waschsituationen eine deutliche Verbesserung. Gleichzeitig macht Frau B. unmissverständlich klar, dass der Waschlappen nicht ins Gesicht kommen soll. und die Schritte dazu. Frau B. als Person war dabei dadurch mit im Blick, dass sie persönlich begrüßt wurde, der Pfleger Körper- und Blickkontakt herstellte und ihre Wahrnehmungen benannt wurden. Damit ist der Blick pflegezentriert. Gerade das Video stellt eine wunderbare Möglichkeit dar, den Blick stärker auf den Menschen im Mittel­punkt zu lenken. Frau B. hat mehrfach »gesprochen«. Die Worte waren bis auf eine Ausnahme (s. o.) nicht verständlich. Allzu leicht wird sie als jemand beschrieben, der sich nicht mehr äußern kann. In der Marte-Meo-Arbeit werden alle Äußerungen eines Menschen als Ausdruck dieser Person gesehen, und sie verdienen es, wahrgenommen und beantwortet zu werden. Mit diesem Blick fällt im Video auf, dass der Pfleger auf die Lautäußerungen von Frau B. fast jedes Mal »antwortet« – indem er nickt, in ähnlichem Tonfall reagiert. Diese unscheinbaren Momente sind bedeutsam. Denn jedes Mal erlebt Frau B., dass sie – unabhängig von pflegerischen Notwendigkeiten – als Person wahrgenommen wird, und sie zeigt mit ihren Äußerungen, dass sie ein Bedürfnis nach Kommunikation und Austausch hat. Im Film wird deutlich, wie der Mitarbeiter dieses Bedürfnis intuitiv nutzt, um eine Lösung zu finden. Er legt seinen linken Arm um Frau B., kommt ihr sehr nahe und hält intensiven Blickkontakt. Mit der rechten Hand nimmt er den Waschlappen und tupft ganz vorsichtig Frau B.s Gesicht ab.

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Die bisherige Betrachtung fokussiert auf die Handlung Waschen

Während­dessen »unterhalten« sich die beiden. Sie gibt weiterhin entspannte Laute von sich, der Mitarbeiter antwortet, spricht in sanftem Ton und hat »nur Augen für Frau B.«. Das Gesicht ist gewaschen und Frau B. hat Beziehung erlebt. Bei der Betrachtung des Videos kann nachvollzogen werden, was hier passiert ist. Über einen längeren Zeitraum ist es der Pflegekraft gelungen, Frau B. in der gemeinsamen Realität zu halten. Damit vergrößern. Das Gesicht bleibt – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt –

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konnte er die Spanne dessen, was sie ohne Angst ertragen kann, 72

tabu. Frau B. zeigt aber einen Weg auf. Sie will gesehen und gehört werden. Je kritischer die Situation ist, desto mehr braucht sie es. Der Mitarbeiter nimmt dies intuitiv wahr und folgt ihren Initiativen immer mehr, bis das Waschen nebensächlich wird. In einer gemeinsamen Fallbesprechung kann nun das Video gezeigt und damit die Information über das, was Frau B. benötigt, geteilt werden. Häufig werden Bedenken gegen die videobasierte Arbeit in der Betreuung und Pflege mit dem Einwand vorgetragen, dass diese Form der Hilfe Zeit koste. Am Beispiel von Frau B. sind die Mitarbeiter eingeladen, darüber nachzudenken, ob ein solches Vorgehen wirklich mehr Zeit braucht. Mit Blick auf die Uhr stimmt das nur teilweise, denn der Umgang mit Menschen, die sich gegen eine Handlung wehren, kostet zusätzliche Zeit. Und sie sehen, dass das Waschen in diesem Fall von einem Mitarbeiter anstelle von zweien durchgeführt werden konnte und dass die Zeit, sich von solch schwierigen Situationen, wie sie bis vor Kurzem bestanden, zu erholen, wegfällt. Am Ende sind nämlich beide entspannt. Der Mitarbeiter, der bereit war sich filmen zu lassen und diese Form des Umgangs auszuprobieren, kann jetzt aus der Metaebene heraus auf das sehen, was und wie er es getan hat. Er kann sich nochmals über diesen Erfolg freuen und die Bilder in seinem Kopf bewahren.

Es ist davon auszugehen, dass die Pflege von Frau B. zunehmend leichter wird, wenn die Mitarbeiter konsequent darauf achten, –– Frau B. wahrzunehmen, d. h. sie mit Namen ansprechen, Blickkontakt und Körperkontakt anbieten; Frau B.s Wahrnehmungen benennen, d. h. in Worte fassen, und ihre Signale aufgreifen. –– sich vorhersehbar zu machen, d. h. alle Handlungen in einfachen Worten und passenden Gesten anzukündigen und zu schauen, ob Frau B. schon bereit ist. respektieren.

4 Evaluation Mittlerweile liegen interessante Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit von Marte Meo bei Demenz vor. Marte Meo nimmt hilfreiche und unterstützende Interaktionen in den Blick. Daher stellt sich die bisherige Forschung zu Marte Meo u. a. folgende Fragen: ȤȤ Führt die Anwendung der Methode zu größerem Wohlbefinden bei Menschen mit Demenz, und gibt es eine Abnahme herausfordernden Verhaltens? ȤȤ Hat die Methode einen Einfluss auf die Zufriedenheit und berufliche Kompetenz der Mitarbeiter? ȤȤ Gibt es einen Zuwachs von positiven Interaktionen zwischen Mitarbeitern und Menschen mit Demenz? Diese drei Forschungsfragen werden im Folgenden genauer beleuchtet. Die Basis dafür bilden die Untersuchungen von Alnes, Kirkevold und Skovdahl (2011), der Bremer Heimstiftung BHS (Schäuble u. Scholz, 2013) sowie von Zwicker-Pelzer (2013). Alnes et al. können in ihrer Untersuchung folgende Effekte feststellen:

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–– zu warten – um das Tempo von Frau B. zu erkennen und zu

ȤȤ eine verbesserte Fähigkeit von Mitarbeitern, die Art des Ausdrucks von Bewohnern zu verstehen, ȤȤ eine erhöhte Aufmerksamkeit für die noch verbliebenen Fähigkeiten, ȤȤ ein Verständnis darüber, wie wichtig es ist, sich Zeit zu nehmen, Interaktionen abzustimmen, Blickkontakt aufrechtzuerhalten und die Situation im Handeln zu beschreiben; dadurch war es offensichtlich möglich, die Fähigkeit der Bewohner, mit Situationen

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umzugehen, zu verbessern. Hinweise zur Lebensqualität von Menschen mit Demenz finden sich bei Alnes et al. indirekt: Es wird festgestellt, dass Mitarbeiter die Signale von Menschen mit Demenz mithilfe von Marte Meo besser lesen können. Bei der Marte-Meo-Arbeit steht die Verbesserung der Lebensqualität im Mittelpunkt der Hilfe. Marte-Meo-Berater können immer wieder erleben, wie unter günstigen Bedingungen, d. h. unter Bedingungen, die die Bedürfnisse der Erkrankten berücksichtigen, so manche verloren geglaubte Fähigkeit zumindest zeitweise wieder auftaucht und zum Wohlbefinden des Betroffenen beiträgt. Dieser Erklärungsansatz deckt sich mit den Grundannahmen des Marte-Meo-Konzepts. Sehr gut erforscht sind die Auswirkungen der Methode auf Mitarbeiter, die durchweg positiv dargestellt werden. Das Praxisforschungsprojekt von Zwicker-Pelzer (2008) aus der stationären Pflege zeigt bei den Mitarbeitern einen deutlichen Zuwachs an Selbst- und Fachkompetenz sowie eine Steigerung der Arbeitszufriedenheit. Die Besprechung der Filme im Team ermöglicht allen Mitarbeitern, von der Information zu profitieren. Es entwickelt sich eine gemeinsame Sprache über die Berufsgruppen hinweg, die sich positiv auf die Zusammenarbeit auswirkt. Zwicker-Pelzer führt aus, dass sich

darüber hinaus die Informationsweitergabe über die Bewohner verändert, und zwar weg von überwiegend medizinischen und pflegerischen Informationen hin zu den Bedürfnissen und Möglichkeiten, also primär psychologischen Aspekten. Damit geht auch eine Veränderung von der Problem- zur Lösungsorientierung einher, welche zu neuen und motivierenden Inhalten der Kommunikation untereinander führt. Positiv erlebt wird auch die Fehlerfreundlichkeit des Konzepts. Es geht nicht darum, immer alles richtig zu machen, sonder Alltag genügend Gelegenheiten. Vergleichbare Effekte finden sich in der Evaluationsstudie der Bremer Heimstiftung. Hier wird eine hohe Zufriedenheit mit dem Basiskurs formuliert. Die dort gewonnenen Informationen und Einsichten werten die Teilnehmer in hohem Maße (»stimme voll zu« und »stimme eher zu«) als alltagstauglich und leicht im Arbeitsalltag umsetzbar. In dieser Untersuchung wird nach einzelnen Marte-­MeoElementen differenziert. Die Befragten beschreiben es zu 100 % als leicht, ein freundliches Gesicht/einen warmen Ton herzustellen (und damit eine gute Atmosphäre zu schaffen), die eigenen Aktionen zu benennen sowie kleinschrittige Anleitung zu geben (»stimme voll zu«). Den Initiativen des Bewohners zu folgen, empfanden 67 % als leicht (»stimme voll zu«) und 33 % als eher leicht (»stimme eher zu«). Auch in dieser Studie beschreiben sich die Mitarbeiter als mit Marte Meo kompetenter und besser in der Lage, die Bedürfnisse der Bewohner zu erkennen. Berücksichtigt man die hohe Arbeitsbelastung sowie die oft mangelhafte Wertschätzung des Tätigkeitsfelds Altenpflege vonseiten der Gesellschaft, können diese Ergebnisse als sehr wesentlich angesehen werden. Mitarbeiter werden auf diese Weise befähigt, die Qualität ihrer (Beziehungs-)Arbeit selber wahrzunehmen. Dies stellt einen wesentlichen Aspekt von Burnout-­Prophylaxe dar.

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dern darum, gute Momente häufiger werden zu lassen. Dazu bietet

5 Fazit In einer Lebensphase, in der die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten immer weiter verschwinden und auf ihre Vorformen wie Lautäußerungen beschränkt sind, ist ein systemisches Werkzeug vonnöten, mit dessen Hilfe die »Ausdrucksformen der Vitalität« (Stern, 2011) erfasst, verstanden und eingeordnet werden können. Das video­basierte Kennen-Lernen, das Marte Meo ermöglicht, hilft den

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Pflege- und Betreuungspersonen, neue Unterstützungsgelegenheiten in den Alltagsinteraktionen mit Menschen mit Demenz zu finden und diese selber, aus eigener Kraft, und auf eigene Art und Weise zu erproben. Menschen, die die Marte-Meo-Methode erlernen, lernen auch, einen neuen Blick auf sich selber und die eigenen Kompetenzen zu finden. Insofern kann die Methode das Selbstvertrauen und die Zuversicht der Betreuenden nachhaltig stärken und die Qualität der professionellen Arbeit weiterentwickeln: »Als wir mit Marte Meo begannen, waren wir alle angespannt. Es war befremdlich, sich selber in den Filmen zu sehen. Nachdem wir feststellten, welche kleinen und auch großen Erfolge wir durch die Methode erreichen können, hat sich die Einstellung gegenüber dem Gefilmt-Werden positiv verändert. […] In unserer Einrichtung möchte ich Marte Meo so weit ausbauen, dass alle Kollegen dies als alltägliches Hilfsangebot sehen können, weniger gestresst in ihre Arbeit zu gehen« (aus der Abschlussreflexion einer Marte-Meo-Beraterin).

Dem Anliegen der Beraterin ist hinzuzufügen, dass die Träger von Einrichtungen der Altenpflege – wenn ihnen das Wohlergehen der Betreuten und der Mitarbeiter ein ernsthaftes Anliegen ist – auch Zeit und Raum für die Lern- und Entwicklungsprozesse der Mitarbeiter ermöglichen müssen. Das ist eine Investition, die sich für alle lohnt.

Am Ende

Literatur

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Der Autor und die Autorin Dr. phil. Christian Hawellek, Diplom-­ Pädagoge, Erziehungs-, Familien- und Ehe­berater und Kinder- und Jugend­ lichen­psychotherapeut, ist ­lizenzierter ­Marte-Meo-Supervisor und Leiter des 83

Fachbücher über Marte Meo und die

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Nord­deutschen Marte-Meo-Instituts. Au­­ßer­dem ist er Autor verschiedener Beratung und Therapie von Familien und Kindern sowie Lehr­ beauftragter am den Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Osnabrück. Dr. med. Ursula Becker, Ärztin für Allgemeinmedizin, Palliativ­medizin, Sys­ temische Einzel-, Paar- und Fami­lientherapeutin (DGSF), lizenzierte Marte-­­ Meo-­ Supervisorin und Traumatherapeutin (PITT), hat eine eigene Praxis als Systemische Beraterin und Therapeutin mit dem Schwerpunkt Familien-, Angehörigen- und Paarberatung bei Demenz in Alfter bei Bonn. Sie ist zudem freiberuflich als Dozentin zu demenzspezifischen Themen tätig, z. B. zu Marte Meo in Altenpflege, Gesundheitswesen und Behindertenhilfe und systemischer Gesprächsführung.