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German Pages 98 [100] Year 2016
Graziano Zampolin
„Die Demenz kann uns mal“ Die Bedeutung der Musik für demenziell veränderte Menschen
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© VINCENTZ NETWORK, Hannover 2016 Besuchen Sie uns im Internet: www.altenpflege-online.net Illustrationen, Gestaltung und Durchführung: Spiess-Reimann-Design, Laatzen Fotos ab S.9: Frank Wiechens Druck: BWH GmbH, Hannover ISBN 978-3-86630-110-4 2
Graziano Zampolin
„Die Demenz kann uns mal“ Die Bedeutung der Musik für demenziell veränderte Menschen
VINCENTZ NETWORK
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Inhaltsverzeichnis Vorworte .............................................................................................................................. Wolfgang Niedecken ....................................................................................................... Gerhard Delling ............................................................................................................... Eckhart Altenmüller ......................................................................................................... Graziano Zampolin ..........................................................................................................
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Das Team Klang und Leben .................................................................................................. 11 Das Musikprojekt Klang und Leben .................................................................................... 16 Bedeutung von Musik .......................................................................................................... 21 Musik als Reisebegleiter ................................................................................................. 23 Veränderte Erlebenswelt ..................................................................................................... 26 Der Demenz begegnen .................................................................................................... 30 Ein bisschen zu Hause, ein bisschen zu Gast .................................................................. 32 Lebensgeschichten .............................................................................................................. 37 Der Einfluss der Erziehung .............................................................................................. 37 Und plötzlich ist wieder Krieg .......................................................................................... 39 Die Bedeutung der aktuellen Lebenssituation auf die Demenz ........................................ 40 Historisches Wissen als Grundlage für musikalisch/biografisches Arbeiten ..................... 42 Die Kindheit und Jugend des Herrn H. – Interviews ......................................................... 43 Kontaktaufnahme – Mimik, Gestik und Berührung ............................................................. 49 Lieder und Geschichten – Eine lebenslange Verbindung .................................................... 53 Die Lieder eines Lebens ...................................................................................................... 61 Kinderlieder 1920 bis 1939 ................................................................................................ 66 Fahrten- und Wanderlieder 1920 bis 1939 ........................................................................ 67 Schlager 1920 bis 1939 .................................................................................................... 68 Schlager 1950 bis 1960 .................................................................................................... 69 Die musikalische Arbeit mit demenziell erkrankten Menschen – Praxisbeispiel einer Veranstaltungsreihe ........................................................................... 70 Stufenmodell der Demenz ............................................................................................... 70 Dokumentation – Erfassungskriterien .............................................................................. 73 Die Begegnungen – Zehn Kurzporträts der teilnehmenden Bewohner ............................. 77 Abschlussbetrachtung der musikalischen Arbeit mit demenziell veränderten Menschen .............................................................................. 91 Nachruf ................................................................................................................................ 94 Literaturverzeichnis ............................................................................................................ 97 4
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Vorworte Grußwort Wolfgang Niedecken Musiker „Da meine Mutter am Ende ihres Lebens an Alzheimer litt, weiß ich ganz genau, was Sache ist. Das „Klang und Leben Projekt" ist für mich ein Columbus-Ei, eine völlig unspektakuläre Art, den Betroffenen ein wenig Freude in ihr Leben zurückzugeben."
Vorwort Gerhard Delling Journalist und Moderator Wann ist ein Mensch glücklich? Sicher ist das individuell verschieden, aber normalerweise kann man es sehen, wenn man genau hinschaut. Graziano Zampolin und seine Mitstreiter von „Klang und Leben!“ haben hingesehen. Und so genau musste es gar nicht sein, denn das Glück steht vielen aus ihrem Publikum ins Gesicht geschrieben. Nicht automatisch, das braucht einige Minuten bzw. Lieder. Ich habe es miterlebt und war so beeindruckt, dass ich zumindest einen Teil dieses Glücklichseins nachempfinden konnte. Ein ganz normaler Nachmittag in einem Pflegeheim. Leicht überheizt wirkt es für den Besucher, der aus der Herbstfrische kommt. Nur selten ist ein Lufthauch zu spüren. Letzte Geruchsfetzen des Mittagessens wabern umher. Eine fast schon lastende Stille liegt über allem. Nur im großen, heute voll bestuhlten Saal herrscht reges Treiben. Graziano Zampolin und die anderen bauen gut gelaunt die Instrumente auf, flachsen und lachen und ordnen noch einmal die Stühle der ersten Reihe in einem Halbkreis an. Auch ohne Bühne haben sie jetzt einen abgegrenzten Bühnenbereich. Aber, was sich später als viel wichtiger herausstellen wird: Sie haben eine ganz besondere (räumliche) Nähe zu ihrem ausgewählten Publikum.
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So langsam kommt immer mehr Leben in den Saal. Vierzig bis fünfzig ältere Frauen und Männer, im Rollstuhl, mit Gehhilfen oder noch einigermaßen gut zu Fuß suchen sich einen freien Platz oder werden dorthin begleitet. Nur die Stühle in der ersten Reihe scheinen reserviert und sehr bewusst vergeben zu sein. Während aus allen Richtungen reges Gesprächstreiben nach vorn schwappt, wird hier so gut wie gar nicht gesprochen. Wie versteinert sitzen sie da – die Gäste, die der „Bühne“ am nächsten sind. Als Graziano Zampolin das Publikum begrüßt und den Takt zum ersten Lied vorgibt, da leuchten bei vielen im Saal sofort die Augen, bewegen sich Lippen synchron zu jeder Textzeile, kommt richtig Leben in die Szenerie. Nur auf den Plätzen ganz vorn, da tut sich rein gar nichts. Die Musiker scheint das nicht zu stören. Sie machen unbeeindruckt weiter damit, gute Laune zu versprühen. Sie kennen den Verlauf! In der ersten Reihe sitzen die von besonders schwerer Demenz betroffenen Pflegebedürftigen. Eine Frau scheint fast einzuschlafen. Eine andere scheint beinah vorwurfsvoll auf den sehr charmant agierenden Sänger zu blicken, ein anderer Mann schaut abwesend in eine ganz andere Richtung. So geht das noch einige Lieder. Aber schon nach kurzer Zeit beginnt sich eine Veränderung in den Gesichtern breitzumachen. Sie werden entspannter, aktiver, lebendiger. Die ersten auch in dieser Reihe beginnen nun damit, die vielen anderen im Saal beim Schunkeln zu unterstützen. Die schlanke, gut gekleidete Frau ganz vorne links, die sich bisher noch überhaupt nicht geregt hatte, spricht plötzlich ihre Nachbarin an. Die wiederum zieht ihre Lippen mit einem kirschroten Stift nach, um dann sehr beschwingt in den ihr offensichtlich bestens bekannten deutschen Schlager aus den 50er-Jahren einzustimmen. Oliver Perau, der Sänger, geht auf sie zu und fordert sie zum Tänzchen auf. Aus den hinteren Reihen beginnt manch einer dazu im Takt zu klatschen. Die Dame mit dem Kirschmund macht eine gute Figur dabei. Sie scheint fit, beweglich und musikalisch. Und sie ist nun sichtbar glücklich. So geht das noch eine ganze Weile – ein vollständiges exklusives „Konzert“ lang. Am Ende gibt es mehr als artigen Beifall aus dem ganzen Saal – auch aus der ersten Reihe. Und insbesondere in diesen Gesichtern kann man unschwer erkennen: die Menschen fühlen sich wohl, sind froh, jetzt, hier, in diesem Moment. Und mir ist klar: Der Name „Klang und Leben“ ist keine Bezeichnung, es ist das Programm. Und dieses Programm, ganz hemdsärmelig, aber treffsicher, mit wenigen Instrumenten und hohem Einfühlungsvermögen gemacht, hat tatsächlich augenblicklichen Einfluss auf das Hier- und das Dasein der Zuhörer. Der Einfluss der Musik auf das Wohlbefinden der Menschen ist sicher oft untersucht und kalkuliert worden. Aber an diesem Nachmittag kann man ihn sehen und fühlen und mitempfinden. Es ist wie ein Geschenk, das Graziano Zampolin und seine Mitstreiter bei solchen Auftritten an ihr Publikum überreichen. Und wer die Musiker nach ihrem Auftritt sieht, der erkennt sehr schnell, dass auch sie beschenkt worden sind.
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Vorwort Prof. Dr. Eckhart Altenmüller Institut für Musikphysiologie und Musikmedizin … fast wie auf einer Insel des Glücks Ein Leben ohne Klang, ohne Musik könnte ich mir nicht vorstellen. Seit meiner Kindheit spielt Musik für mich eine zentrale Rolle. Meine sieben älteren Geschwister musizierten alle und ich war vom Säuglingsalter an von Musik umgeben. Als Sechsjähriger brannte ich darauf, Unterricht bei Frau Gräfin Praschma, der Klavierlehrerin unserer Familie, erhalten zu dürfen. Mit 13 Jahren wurde die Querflöte mein Hauptinstrument, und die Musiken von Jethro Tull, Ekseption, Led Zeppelin, Emerson Lake and Palmer und natürlich Klassik – von Bach bis Ligeti begeisterten mich. Heute ist Musik machen und über Musik nachdenken mein Beruf, und das ist ein Privileg. Die Wirkungen von Musik sind mein wissenschaftliches Thema. Und gerade bei Demenz kann Musik mächtige Effekte erzielen. Musik gibt Menschen Erinnerungen wieder, denn das Gedächtnis verbindet die emotionalen Musikerlebnisse mit biografischen Erinnerungen. Man nennt das den „Play it again Sam“ Effekt. In dem Film Casablanca erinnert der Song „As Time Goes By“ Humphrey Bogart so stark an eine Jahre zurückliegende schmerzliche Liebesaffäre, dass er dem Pianisten und Sänger Sam verboten hat, dieses Lied in seiner Gegenwart zu spielen. Aber auch glückliche Episoden kann Musik aus dem Dunkel des Vergessens wieder aufleben lassen. Sie kann so Menschen mit Demenz einen Teil ihrer Persönlichkeit zurückgeben. Die emotionalen musikalischen Gedächtnisse sind viel stabiler als die Gedächtnissysteme für Wissensinhalte. Doch Musik kann noch viel mehr, sie schafft Gemeinschaft, verbindet uns mit Menschen, sie aktiviert die motorischen Systeme, sie erzeugt Wohlbefinden, sie führt zur Ausschüttung von Glücks- und Bindungshormonen und sie erhöht so die Lebensfreude. Als ich das erste Mal bei „Klang und Leben“ in der Einrichtung in Hannover dabei war, wurde mir klar, dass hier etwas Außerordentliches geschieht. Es ist nicht nur die besonders hohe Qualität des Musizierens, die Musiker um und mit Graziano Zampolin nehmen warmherzigen Kontakt auf und beziehen die von Demenz Betroffenen, ihre Angehörigen und die Pflegerinnen und Pfleger mit ein. Sie improvisieren, aktivieren, tanzen, spornen an, berühren, ohne dabei Grenzen zu verletzen. Es kommt zu einem Prozess des einfühlsamen Kennenlernens und des Aufschließens von Emotionen. Vertrauen wird hergestellt, es wird gemeinsam gesungen, getanzt, gelacht,und alte Erinnerungen werden ausgetauscht und selbst die gebrechlichsten Teilnehmer blühen auf. Ich fühlte mich fast wie auf einer Insel des Glücks, herausgelöst aus dem Alltag. Hier gibt Musik eine Heimat für alle, die aufgrund der Demenz von Ängsten und Orientierungslosigkeit geplagt sind. Ich wünsche dem Projekt und dem Buch eine weite Verbreitung! Lassen Sie uns mit Musik die gesellschaftlichen Herausforderungen meistern. 8
Vorwort Graziano Zampolin Initator des Projektes Das Herz kennt keine Demenz Als ich vor drei Jahren die Idee entwickelte, demenziell veränderten Menschen musikalisch zu begegnen, hätte ich niemals gedacht, wie viel Erfüllung ich in diesem Vorhaben finden würde. Als Dozent in der Alten- und Krankenpflege hatte ich mich mit dem Thema Musik und Demenz nur theoretisch auseinandergesetzt. 2012 fasste ich den Entschluss, die Theorie in die Praxis umzusetzen. Aus meiner eigenen Biografie weiß ich, was für eine große Bedeutung die Musik im Leben eines Menschen haben kann. Mit Profimusikern aus Hannover, die ich im Laufe der Jahre kennen und schätzen gelernt hatte, besuche ich seit 2013 Seniorenheime und ambulante Pflegedienste, um gemeinsam mit demenziell veränderten Menschen zu musizieren. Die musikalische Begegnung mit den Menschen fasziniert und berührt uns jedes Mal wieder neu. Wir treten über die Musik in eine fantastische Welt ein, die voller emotionaler Erinnerungen ist. Die Journalistin Anne Göttenauer beschrieb es in einem Artikel über unsere Arbeit folgendermaßen: „Musik öffnet die Herzen demenzkranker Menschen und das Herz kennt keine Demenz.“ Treffender könnte ich es nicht formulieren. Die musikalische Erinnerung an vergangene Zeiten steht in einem sehr engen Zusammenhang mit emotionalen Erlebnissen. Eine Erfahrung, die nicht nur die Menschen mit Demenz machen, sondern auch wir Musiker. Auch bei uns weckt die Musik Erinnerungen und gemeinsam mit den Betroffenen tauchen wir in unsere eigenen Erlebniswelten ein und erinnern uns oft auf eine sehr sentimentale schöne Art und Weise an unsere eigene Vergangenheit. Aus diesen Eigenerfahrungen entsteht mehr als nur eine Ahnung von dem, was die Menschen empfinden, die an unseren Musikveranstaltungen teilnehmen. Aber auch die Betreuer und Pflegekräfte haben sichtlich Freude an der Musik und an den Geschichten, die sich zwischen den einzelnen Liedern entwickeln und erzählt werden. In diesem Buch geht es nicht um die fachliche Auseinandersetzung mit dem Thema Musik und Demenz, sondern das Erzählen steht im Mittelpunkt. Die Menschen, denen wir bei unserer musikalischen Arbeit begegnen, sind die Protagonisten. Ihnen und ihren Geschichten ist unsere ganze Aufmerksamkeit gewidmet. Die Musik lässt uns eins werden im gemeinsamen Erleben und die Demenz verliert für den Moment an Schwere, sie spielt keine Rolle mehr. 9
Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei allen, die zum Gelingen dieses Projektes beigetragen haben und die uns auch zukünftig auf unserem musikalischen Weg begleiten werden und die in ihrer Vielzahl hier nicht namentlich aufgezählt werden können. Ganz besonderer Dank gilt einem Mann, der sich sonst meistens im Hintergrund bewegt, dessen Mitarbeit für Klang und Leben aber von unermesslicher Bedeutung ist. Frank Wiechens, unser Fotograf und Freund, beeindruckt immer wieder durch seine faszinierenden Bilder, die das Empfinden und Erleben der demenziell erkrankten Menschen ohne Worte widerspiegeln. Eine kleine Auswahl seiner beeindruckenden Porträts und Momentaufnahmen werden Sie in diesem Buch wiederfinden. Eine für mich sehr wertvolle neue und beeindruckende Erfahrung ist es, mit Vollblutmusikern zusammenarbeiten zu dürfen. Wenn Oliver Perau singt, dann macht er dieses mit einer Hingabe und Leidenschaft, die einzigartig ist. Die Senioreneinrichtung wird zu einer Bühne, auf der das Leben pulsiert, und kaum einer kann sich diesem Sog entziehen. Andreas Meyer, unser Pianist, begleitet Ollis Gesang mit perfekt abgestimmten Harmonien, die wiederum eine innige Beziehung mit dem Beat von Karsten Kniep am Schlagzeug eingehen. Als Freizeitmusiker darf ich mich an der Gitarre entfalten und genieße jeden Augenblick unserer Veranstaltungen. Eine ältere Dame mit leichter Demenz erzählte mir, dass in ihrer Familie jeder ein Instrument spielen konnte. Auch sie lernte als Kind sehr früh von ihrem Vater das Klavier spielen. „Wenn unsere Familie am Wochenende zu Hause war, wurde immer kräftig musiziert und gesungen. Im Sommer gingen wir vor das Haus und beschallten die ganze Straße. Die Nachbarn tanzten und sangen mit. Einige brachten etwas zu essen mit, andere etwas zu trinken. Die Männer tranken meistens Bier und wir Kinder durften zur Feier des Tages Limonade trinken. An diese Zeit denke ich oft zurück. Und was Sie hier machen, dass ist genauso schön und ich freue mich so sehr darüber. Bitte kommen Sie, so oft wie Sie können, wieder.“ Und dann zitiert sie noch eine Zeile aus einem alten Volkslied von Johann Gottfried Seume: „Und Sie wissen doch genauso gut wie ich, junger Mann: Wo man singt, da lass dich ruhig nieder. Böse Menschen kennen keine Lieder.“
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Das Team Klang und Leben Graziano Zampolin Initiator Graziano Zampolin ist Krankenpfleger und Lehrer für Pflegeberufe. Er ist Initiator und Mitgründer des Vereins Klang und Leben e.V. Dort ist er als Demenzbeauftragter und Pädagoge für den Fort- und Weiterbildungsbereich verantwortlich wie auch für den Bereich Öffentlichkeitsarbeit. Als Geschäftsführer und leitender Pädagoge eines Weiterbildungsinstituts in Hannover war er viele Jahre lang für die Weiterbildung von Leitungskräften und Fachkräften in der Kranken- und Altenpflege verantwortlich. Er ist begeisterter Hobbymusiker, was ihm für sein Engagement für Klang und Leben sehr zugutekommt.
Oliver Perau Gesang und Entertainment Oliver Perau gründete bereits im Alter von siebzehn Jahren die Rockband Terry Hoax, veröffentlichte bisher acht Alben, feierte 2013 sein 25-jähriges Bühnenjubiläum und ist auch heute noch mit der hannoverschen Kultband unterwegs. Seit 1996 macht Oliver außerdem unter seinem Künstlernamen Juliano Rossi sehr erfolgreich Swing-Musik. Seine Konzerte genießen echten Kultstatus und er ist der erst dritte deutsche Musiker, der von dem legendären New Yorker Jazz Label Blue Note unter Vertrag genommen wurde. Herr Rossi ist Mitbegründer der „New Generation of Swing“ und die Berliner Morgenpost nannte ihn einen „echten Entertainer mit Eleganz und Humor.“
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Andreas Meyer Piano Andreas Meyer ist freischaffender Musiker, Produzent und Klavierlehrer. Mit seiner langjährigen Tätigkeit als Pianist und Keyboarder in zahlreichen Bands (wie z.B. Bahama Soul Club, Solid Jazz, Juliano Rossi, The Ellingtones, Cosmopolitan, Hit Radio Show, Alex Holtzmeyer Tanzband) als auch in eigenen Projekten (wie Fantastic Parking Lot, Don’t Touch That Dial, Andreas Meyer Trio, Mastix, Glue Project) sammelte er Erfahrungen in unterschiedlichsten musikalischen Bereichen, wie Pop, Jazz, Funk, Soul, Latin, Fusion usw. Er begleitete Künstler wie San Glaser, Ulita Knaus, Roger Cicero, Oliver Perau, Pat Appleton, Kürsche, Nashi-Young Cho, Billy Mo, Ken Norris. Außerdem komponierte und produzierte er Pop-, Orchester- und Genremusik für Christian Fleps, Peter Jordan, Gregor Jess, Dynamedion und das Pop Meets Classic Projekt in Göttingen.
Karsten Kniep Cajon/Drums Karsten Kniep ist Diplom-Sozialpädagoge und Musiker. Er ist im Karl-Lemmermann-Haus beschäftigt und im Rahmen des Ambulant Betreuten Wohnens selbstständig tätig. Seine Betreuungen beziehen sich größtenteils auf Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten und z.T. mit erheblichen psychischen Problemen. Karsten spielt seit vielen Jahren Schlagzeug und Perkussion in verschiedenen Bands und war an vielen Plattenproduktionen und Tourneen beteiligt. Karsten Kniep ist ein herausragender Schlagzeuger und Schlagzeuglehrer.
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Jens Eckhoff (Jean-Michel Tourette) Gitarre, Cajon, Piano Als Gitarrist, Keyboarder und Co-Autor der Band „Wir sind Helden“ stand er in den letzten 10 Jahren auf so ziemlich jeder Bühne dieser Republik, verkaufte 1,5 Mio. Platten und heimste sich einige Auszeichnungen (u.a. Echo Gruppe National 2006) ein. 2005 erhielt Eckhoff den Praetorius Förderpreis des Landes Niedersachsen. Nebenbei baute er sich in Hannover sein eigenes Tonstudio auf, wo er unter anderem mit Künstlern wie Bela B., Sebastian Madsen, Herrenmagazin, Tanner, Taiga, Gisbert zu Knyphausen, Denise M’Baye, Lukas Dröse, Martell Beigang, Jens Krause und Hurricane Dean zusammengearbeitet hat. Außerdem ist Eckhoff ein gefragter Livemusiker (u.a. Marquess, Ferris MC) und als Dozent ist er für den deutschen Musikrat (Popcamp), die LAG Rock Niedersachsen (Bandfactory) und die Popakademie Mannheim tätig. Bei Klang und Leben dabei zu sein bedeutet für ihn die Chance, demenziell erkrankten Menschen einen berührenden Nachmittag zu schenken und zusätzlich dabei mit tollen Musikern viel Spaß zu haben.
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Beate Trebing Organisation & Mitgliedswesen Beate Trebing ist hauptberuflich als Assistentin der Geschäftsführung in einem hannoverschen Unternehmen tätig, dort ist sie auch verantwortlich für Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungen. Sie ist die gute Seele von Klang und Leben und in erster Linie für das Mitgliedswesen und die Organisation zuständig. Ihre fachliche Kompetenz und ihre positive Ausstrahlung wird vom ganzen Team sehr geschätzt, auf ihre Arbeit können wir uns blind verlassen.
Frank Wiechens Fotos & Homepage Frank Wiechens hält die vielen schönen Momente unserer Arbeit mit ausdrucksstarken und oft sehr berührenden Bildern fest. Seine Bilder zeigen die Menschen, wie sie sind, in ihrer ganzen Natürlichkeit. Er bereichert Klang und Leben nicht nur mit seiner Leidenschaft für das Fotografieren und vielen guten Ideen, sondern ist auch für die Organisation, Termine, Homepage und das Sozial Media mitverantwortlich.
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Das Musikprojekt Klang und Leben Klang und Leben e.V. finanziert sich durch Spenden und music for the moment Fördergelder und erfreut sich mittlerweile bundesweit einer sehr großen Popularität und eines großen öffentlichen Medieninteresses. Zahlreiche Prominente unterstützen das Projekt und sind auch immer wieder zu Gast auf den Veranstaltungen in den Senioreneinrichtungen. Schirmherr des Vereins ist der Schauspieler Jan Josef Liefers. Mit demenziell veränderten Menschen treten wir in eine musikalische Kommunikation ein. Dieses geschieht entweder in der Gruppe oder musikalischen Einzelsitzungen. Um den demenziell veränderten Menschen Freude am Leben zu geben, ist es wichtig, in deren Lebensbiografien einzutauchen und auf dieser Zeitreise in die Vergangenheit die angenehmen Erinnerungen zu wecken. Eine ältere Dame und Teilnehmerin an einem unserer Konzerte führt trotz fortschreitender Demenz ein sehr zufriedenes Leben. Als sie in einem Fernsehinterview einmal gefragt wurde, welche Bedeutung die Musik für sie habe, antwortete sie spontan: „Wenn ich Musik höre, dann löst sich in mir was und ich werde freier und wieder so wie ein halbstarkes Kind.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
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Musik begleitet den Menschen von seiner Geburt an bis an sein Lebensende und sie ist die Sprache, die Menschen weltweit verbindet. Fast jeder Mensch kann singen oder ist auf eine andere Art und Weise musikalisch, der eine mehr und der andere weniger. Musik berührt die emotionale Seite des Menschen und weckt Erinnerungen. Sie spiegelt unsere Gefühle wider und beeinflusst unser seelisches Befinden. Viele demenziell erkrankte Menschen leiden unter Stress und Angstsymptomen, die durch fehlende zeitliche, örtliche und personelle Orientierung, durch kognitive Überforderung und durch das Gefühl der Einsamkeit entstehen können. Hier kann Musik sehr beruhigend wirken. Musik steigert die Wahrnehmungsfähigkeit und regt die Phantasie an. Sie trägt dazu bei, dass Menschen glücklicher und zufriedener werden. Gemeinsames Singen oder Musizieren schafft Geborgenheit und Gemeinschaft. Musik dient als nonverbales und emotionales Ausdrucksmedium für demenziell erkrankte Menschen. Sie bewirkt, dass sie sich besser fühlen und durch die Erinnerung Sicherheit und Orientierung gewinnen. Das aktive Musizieren hat bei Menschen, die in den 20er- und 30erJahren des letzten Jahrhunderts geboren wurden, einen sehr hohen Stellenwert. Volkslieder und Schlager prägen diese Generation und viele Texte und Melodien sind im Langzeitgedächtnis abgespeichert und können problemlos abgerufen werden, weil sie in einer frühen Lebensphase erlernt wurden und/oder eine hohe emotionale Bedeutung haben. Auch das Tanzen und Schunkeln ist für diese Generation etwas völlig Normales. Aktive Musikgestaltung fördert die Bewegung: „Wer rastet, der rostet!“ Bewegung wirkt stimmungsaufhellend und antidepressiv. Sich zur Musik wiegen oder klatschen bereitet den an Demenz erkrankten Menschen sehr viel Freude. Demenziell erkrankte Menschen sehnen sich oftmals nach Gemeinschaft mit anderen, bei denen sie sich aufgehoben fühlen und wo sie so sein dürfen, wie sie sind. Gemeinsam mit vertrauten Menschen zu musizieren, verbindet auf ganz besondere Weise. Musik fördert die Erinnerung und emotionales Erleben in der Gruppe. Jeder Mensch hat seine eigenen Erinnerungen, die mit der Musik verbunden sind. Dies möchte ich im folgenden Beispiel kurz näher beschreiben. Während unserer Musikveranstaltungen spielen und singen wir unter anderem das Lied „Schön war die Zeit“, das von der Liebe zur Heimat handelt, also von der Region, in der man in der Regel geboren wurde und aufgewachsen ist. Nachdem dieses Lied, das ältere Menschen sehr emotional berührt und bei dem alle aus voller Brust mitsingen, ausgeklungen war, griff eine ältere Dame nach meinem Arm und sagte:
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„Ich bin im Harz geboren und groß geworden. Mit meinem Bruder, der zehn Jahre älter war als ich, habe ich viel erlebt. Der hat mich immer überall hin mitgenommen, egal wo er hingegangen ist. Ich musste mit, meine Mutter bestand darauf. Ich bin aber auch gerne mitgegangen. Wir sind gemeinsam Ski und Schlitten gefahren und waren bis zum Sonnenuntergang draußen. Mein Bruder ist ein sehr netter Junge, den ich sehr mag.“
Die Dame ist 102 Jahre alt und ihr Bruder schon vor langer Zeit verstorben. Für sie lebt er noch und sie selbst sagte mir auf die Frage hin, wie alt sie denn ist, dass sie gerade erst 70 geworden sei. Das war ihre Realität in der Demenz. Die Erinnerung an die Zeit ihrer Kindheit, hervorgerufen durch die Musik, schafft für die Dame eine eigene Identität und lässt mich spüren, wo sie herkommt und wer sie ist. Jeder Mensch braucht die Erinnerung an sein eigenes Leben, ist diese durch die Demenz auch häufig auf die erste Lebenshälfte reduziert. Musik öffnet die Pforte zur Vergangenheit, die zur Gegenwart wird. Demenziell erkrankte Menschen fangen an, aus ihrem Leben zu erzählen. Somit erfahren wir etwas über ihre Geschichte, was wir für die Gestaltung der alltäglichen Betreuungsarbeit nutzen können. Der Stellenwert von Musik in der Betreuung von älteren Menschen ist nicht hoch genug einzuschätzen. Dieses erfahren wir auch tagtäglich durch Praxisberichte aus den Senioreneinrichtungen. 18
Mit unserem Projekt möchten wir einen Beitrag dazu leisten, demenziell erkrankten Menschen Lebensfreude zu schenken und ihnen somit auch im Alter und mit ihrer Erkrankung ein Stück Lebensqualität zurückzugeben. In unseren musikalischen Veranstaltungen tauchen wir auf humorvolle Art und Weise in die Welt des Vergessens und in die Welt der Erinnerung ein. Dabei sollen die Teilnehmer/innen mit viel Freude mit uns singen, pfeifen oder musizieren, je nach ihren Möglichkeiten. Hierbei spielt der deutsche Schlager, der seine Blütezeit in den 50er-Jahren hatte, eine große Rolle. Dabei drehte sich fast alles um die Liebe, aber auch das Verreisen war ein Thema. Endlich durften die Deutschen Europa bereisen. Der VW Käfer war das meistgefahrene Auto. Zum Tanzen traf man sich in der Tanzstunde oder auf dem Schützenfest. Die Tanzveranstaltungen dienten den jungen Heranwachsenden dazu, sich gegenseitig näherzukommen. Unabhängig von der Demenz sind ältere Menschen Zeitzeugen und können viele unterhalt same Geschichten aus der Vergangenheit, die ihre Gegenwart ist, erzählen. Diese Geschichten lassen sich wunderbar aus dem musikalischen Arbeiten heraus ableiten und miteinander verknüpfen. Die Texte dienen als Grundlage für den Einstieg in ein Gespräch. Liebe, Urlaub, Freizeit und Hobby sind hervorragende Themen hierfür. Für unsere Veranstaltungen wählen wir bekannte Schlager der 30er-, 40er- und 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts aus, die das Freizeitverhalten der Senioren, die in der Regel zwischen 80 und 100 Jahre alt sind, in den 50erJahren widerspiegeln. Natürlich sind die Präsentation und die musikalische Interpretation von wichtiger Bedeutung für unsere Konzerte. Bewegung, Mimik, Gestik, Instrumente und kleine Geschichten erschaffen eine bewegte musikalische Welt. Aus dem einzelnen Musikstück wird eine spielerische Aktion, in die das Publikum, in unserem Fall die demenziell erkrankten Menschen, eingebunden werden. Auf jedem Konzert wandelt sich der vorsichtige beobachtende Blickwinkel sehr schnell in ein freundliches Lächeln und in eine körperliche Aktivität.
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Bedeutung von Musik „Music was my first love and it will be my last. Music of the future and music of the past.“ Diese Zeilen, gesungen von John Miles, verbinden Millionen Menschen auf der ganzen Welt miteinander. Musik ist vielseitig. Sie bereitet Freude und lässt uns tanzen und singen. Sie erfüllt uns mit Emotionen, sie lässt uns lachen und lässt uns weinen. Musik spendet Trost und schenkt Hoffnung und ist häufig Balsam für die Seele. Kaum ein Mensch kann sich ihrer Magie entziehen. Als ich vier Jahre alt war, kniete ich das erste Mal auf dem Teppich vor Opas eichenbraunem Schallplattenschrank und schaute mir kindlich fasziniert die bunt bebilderten Plattenhüllen an. Das war 1966. Die Schlagerstars der damaligen Zeit hießen Freddy Quinn, Vico Torriani, Conny Froboes, Rocko Granada, Lale Andersen oder Bill Ramsay. Während die einen das Heimweh und das Fernweh besangen, drehte sich bei den anderen alles um die Liebe. Der deutsche Schlager war leicht und unbeschwert, ließ die Menschen mitsingen und von der Liebe und vom Reisen träumen. Ich habe die Platten meiner Oma damals rauf und runter gespielt. Das war meine erste Berührung mit der Musik, die mich von da an bewusst durch mein ganzes Leben begleiten sollte. Radio zu hören, mit dem Tonband oder mit dem Kassettenrekorder Musik aus dem Radio aufzunehmen, das war bei Millionen Jugendlichen in den 70er- und 80er-Jahren eine der schönsten Nebenbeschäftigungen. Die Radiomoderatoren der damaligen Zeit hatten die schreckliche Angewohnheit, zum Ende eines Songs hineinzumoderieren. Dieses erschwerte das Aufnehmen enorm. Angespannt saßen wir am Ende eines Liedes über dem Kassettenrekorder und versuchten, die Stopptaste bei der Ausblendung eines Songs im richtigen Moment zu drücken, bevor die Stimme des Moderators zu hören war, was meistens daneben ging. Im Fernsehen bewunderte ich immer die Musiker, vor allen Dingen die Gitarristen, die ihrem Instrument so tolle Töne entlockten. Dass viele in Wirklichkeit gar nicht spielten, vielleicht sogar gar nicht Gitarre spielen konnten, sondern ein Playback lief, spielte anfänglich überhaupt keine Rolle. Vor dem Fernseher oder vor dem Radio sitzend, träumte ich, wie viele andere Jugendliche auch, davon, später selbst mal ein großer Star zu werden. Der Teppichklopfer war die Gitarre, der Kochlöffel das Mikrofon und die Kochtöpfe die Drums. Bei meiner Oma im Wohnzimmer hing ein Bild von meinem Onkel, ihrem Sohn Thilo, der in Freiburg lebte und studierte. Es zeigte ihn mit langen Haaren und Rauschebart auf einer Mauer sitzend mit einer Gitarre im Anschlag. Und von ihm bekam ich dann zu meinem zehnten Geburtstag völlig unerwartet meine erste Gitarre geschenkt. Ich erinnere mich noch genau, wie es an der Haustür klingelte und mir ein 21
Paketbote einen sehr großen, länglichen Karton überreichte. Da stand mein Name drauf. Zügig öffnete ich den Karton und traute meinen Augen nicht. Ein Traum ging in Erfüllung, ich war der glücklichste Mensch der Welt. Ich nahm sie in den Arm, wie ich es im Fernsehen gesehen hatte, und schloss eine Freundschaft, die ein Leben lang halten sollte. Schon sehr früh erkannte ich, welche Strahlkraft Musik auf Menschen ausübt. In jedem Jugendzeltlager und auf jeder Klassenfahrt war meine Gitarre dabei. Wie oft haben wir abends am Lagerfeuer gesessen und gemeinsam gesungen und gelacht. Ich kann mich an so viele ausgelassene und lustige Abende erinnern. Noch bis spät in die Nacht lagen wir in unseren verrauchten Klamotten in unseren Schlafsäcken und sangen und erzählten uns Geschichten. Wenn ich heute den Sound meiner Kindheit und Jugend höre, sind diese Lieder mit ganz bestimmten Erinnerungen verbunden. Beispielsweise hörte ich vor einiger Zeit im Radio in einer Sendung den Soundtrack der Serie Raumschiff Enterprise, einer sehr bekannten Fernsehserie der 70er-Jahre. Diese Melodie weckte spontan vertraute Erinnerungen in mir. Ich sehe mich an einem Samstagnachmittag auf der Kuhweide hinter unserem Haus mit meinen Freunden Fußball spielen. Zwischen selbst gebauten schief zusammengenagelten Holztoren umspiele ich nicht nur meine Gegner, sondern auch so manchen Kuhfladen. Anschließend geht es in die Badewanne und meine Mutter schneidet mir die Fingernägel, wie immer viel zu kurz. Danach darf ich mir eine Folge von Raumschiff Enterprise anschauen und spiele anschließend mit Mutters Trockenhaube Astronaut.
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Im Wohnzimmer isst die ganze Familie gemeinsam Abendbrot und sieht sich gemeinsam die Hitparade mit Dieter Thomas Heck an und später die Rudi Carrel Show. Dabei dürfen Erdnussflips und Zitronenlimonade nicht fehlen. Die Erinnerung an diese Zeit ist für mich wunderschön und ich spüre ein Gefühl der Geborgenheit im Haus meiner Eltern. An dieser kleinen Geschichte aus meiner Vergangenheit soll deutlich werden, dass mit vielen Liedern, an die wir uns erinnern, Erinnerungen verbunden sind. Vor unserem geistigen Auge entstehen Bilder und Filme hierzu. Nicht anders verhält es sich bei der musikalischen Arbeit mit demenziell veränderten Menschen. Spielen oder singen wir ihnen Lieder aus ihrer Jugendzeit vor, tauchen sie in ihre eigenen Erlebenswelten ein. Die Erinnerung an ihre eigene Kindheit und Jugendzeit bis hin zum jungen Erwachsenenalter, hervorgerufen durch die Musik, lässt Bilder aus längst vergangenen Zeiten entstehen, die sie spüren lassen, wo sie hingehören und wer sie sind.
Musik als Reisebegleiter Wenn wir uns dem betroffenen Menschen öffnen, steht uns auch seine Welt offen und wir können gemeinsam mit ihm auf eine wunderbare Abenteuerreise gehen. Ganz besonders begeistert mich auf der Reise in die Vergangenheit der älteren Menschen, mit denen wir gemeinsam musizieren, dass viele von ihnen in einer Zeit ihre Kindheit verbracht haben, in der es noch Pferdekutschen als Haupttransport- und Beförderungsmittel auf den Straßen gab und in der das Auto noch etwas ganz besonderes war. Erst bei diesen persönlichen Begegnungen wird klar, was für unglaubliche Veränderungen ältere Menschen in ihrem Leben erfahren haben. Die Errungenschaften der technisierten Welt, die wir tagtäglich als so normal empfinden, waren vor einhundert Jahren unrealisierbare Zukunftsvisionen. Aus meiner beruflichen Erfahrung heraus weiß ich, dass sehr viele junge Betreuungs- und Pflegekräfte sehr wenig über die Zeit wissen, in der ihre Bewohner ihre Kindheit, Jugend oder ihr frühes Erwachsenenalter verbracht haben, geschweige denn, sich vorstellen können, dass ihre Bewohner auch mal so jung waren wie sie selbst. Als „Reisebegleiter“ demenziell erkrankter Menschen muss die Vergangenheit der Menschen, die wir betreuen und pflegen, eine wichtige Rolle spielen. Genauso wie man eine Sprache lernt und verinnerlicht, ist es wichtig, „Vergangenheit zu lernen und zu verinnerlichen“. Am Kühlschrank in meiner Küche hängt ein Bild, das mich im Alter von vier Jahren auf einem Fahrrad mit Stützrädern zeigt. Es hing dort lange Zeit unbemerkt von meinem dreizehnjährigen Sohn. Eines Tages sah ich ihn, das Bild betrachtend, vor dem Kühlschrank stehen. 23
„Papa, irgendwie kann ich mir gar nicht vorstellen, dass du auch mal klein gewesen bist“, sagte er zu mir. „Aber natürlich war ich mal klein“, antwortete ich ihm und nahm diesen Moment zum Anlass, ihm ausführlich aus meinen Kindheitserinnerungen zu erzählen. Er hörte gebannt zu und konnte gar nicht glauben, dass ich sehr wohl weiß, wie es sich anfühlt, ein Kind zu sein, und dass ich auch weiß, wie es sich anfühlt, erwachsen zu werden. Ich bot ihm dadurch die Möglichkeit, sich auch mir gegenüber zu öffnen. In der Pflege und Betreuung älterer Menschen muss es Aufgabe der Ausbildungszentren sein, junge Menschen für einen solchen Dialog zu sensibilisieren. Eine der wertvollsten Eigenschaften einer Pflege- und Betreuungskraft ist das aufmerksame und ehrliche Zuhören. Der empathische Dialog zwischen dem demenziell Erkrankten und der Pflege- und Betreuungskraft weckt das Interesse an der anderen Person. Das Verhalten eines älteren Menschen mit Demenz kann in vielerlei Hinsicht durchaus normal sein, selbst wenn es uns manchmal befremdlich vorkommt, und es hat in der Regel immer etwas mit dem Leben zu tun, das er geführt hat. Wenn sich jemand zum Beispiel in seinen Alltagsklamotten ins Bett legen möchte, dann hat er das vielleicht in der Phase seines Lebens, in der er sich gerade „gefühlt“ befindet, auch getan. Es war in den Kriegsjahren durchaus normal, komplett bekleidet ins Bett zu gehen, wenn nicht geheizt werden konnte und es bitterkalt war. Wenn demenziell Erkrankte Lebensmittel in ihrer Wohnung horten, dann tun sie das gefühlt, um sich einen Vorrat für schlechte Zeiten anzulegen, wie sie oder ihre Eltern das in Kriegszeiten auch gemacht haben. Auch in der Kommunikation mit demenziell veränderten Menschen kann es zu Missverständnissen kommen. Sowohl der Sender als auch der Empfänger können eine Nachricht völlig 24
falsch verstehen. Dieses sollte uns aber keine zu großen Sorgen bereiten, solange wir bemüht sind, immer den richtigen Ton zu treffen oder das notwendige Verständnis aufzubringen. Eigentlich kann man im Gespräch mit einem demenziell veränderten Menschen nicht so viel falsch machen, als dass es nicht wieder zu korrigieren wäre. Wichtig ist, dass unsere Einstellung stimmt und dass wir dem Menschen, der uns gegenübersitzt, mit der notwendigen Wertschätzung begegnen und es ehrlich mit ihm meinen. Die Übung macht den Meister und an der Mimik eines Menschen erkennen wir schnell, wie er sich gerade fühlt. Und sollte man tatsächlich mal in ein Fettnäpfchen treten, sollten wir es in der Bewertung humorvoll betrachten und bei der nächsten Gelegenheit korrigieren. Die Kommunikation oder das Gespräch mit den Betroffenen stellt uns nicht vor so große Herausforderungen, wenn man weiß, worum es im Wesentlichen geht. Demenziell erkrankte Menschen suchen oftmals Nähe und Geborgenheit, Sicherheit und Orientierung. Man kann mit ihnen lachen und Spaß haben oder Wegbegleiter sein in den Verlusten, die sie durch das Vergessen Tag für Tag erfahren. Die Nähe zu einer vertrauten Person scheint aus meiner Sicht das Allerwichtigste zu sein. Durch das gemeinsame Musizieren sollen die positiven Erinnerungen aufgearbeitet werden und von negativen Erinnerungen abgelenkt werden. Mit fortschreitendem Verlust der Gegenwart werden die Körpersprache und die Sprachmelodie wichtiger als das gesprochene Wort und wir als Begleiter schlüpfen in andere Rollen. Wir sind plötzlich die Freunde aus der Kindheit, der Vater, die Mutter, die Schwester oder der Bruder für den demenziell erkrankten Menschen. Wir müssen einfach nur in unserer Anwesenheit die Bedürfnisse des Betroffenen nach Wärme, Geborgenheit und Verständnis befriedigen. Das ist die Basis. Ein Mensch, der nicht mehr weiß, wo er ist und wer die anderen um ihn herum sind und was gerade von ihm erwartet wird, steht häufig unter ängstlicher Anspannung. Ein ehrliches Lächeln, eine warme ruhige Stimme, eine wunderschöne Melodie oder eine vorsichtige Berührung der Hände nehmen häufig einen großen Teil der Angst. Diese Erfahrung konnte ich immer wieder machen. „Musik war meine erste große Liebe und sie wird meine letzte große Liebe sein.“ Nichts gibt diesem Satz mehr Sinn als ein Erlebnis, dass uns vor zwei Jahren bei einem unserer ersten Konzerte sehr beeindruckt hat. Eine schwerkranke Frau, die davon gehört hatte, dass wir in ihrer Einrichtung für demenziell veränderte Menschen musizieren, wollte unbedingt an dieser Veranstaltung teilnehmen. Man erfüllte ihr diesen Wunsch und transportierte sie in ihrem Bett in den Veranstaltungsraum. Sie hat dann alle Lieder mitgesungen und sogar noch ein Stück auf ihrer Mundharmonika begleitet. Wir waren alle sehr berührt. Wenige Tage später ist sie verstorben. Bei uns allen ist 25
dieses Bild in tiefer Erinnerung geblieben, es hat sich geradezu eingebrannt und die Erinnerung daran verstärkt jeden Tag von Neuem die Freude an meiner Arbeit. Unser Sänger Oliver Perau erzählt oft die Geschichte, wie er von uns gefragt wurde, ob er es sich vorstellen könnte, als Sänger bei Klang und Leben mitzuarbeiten. In der Erinnerung daran, erwähnt er immer, dass es in seiner persönlichen Rangordnung als Rockmusiker nicht ganz oben angesiedelt war, in Senioreneinrichtungen aufzutreten. Trotzdem konnten wir ihn damals zu diesem Projekt überreden und er selbst möchte die Eindrücke, die er in den letzten Jahren gesammelt hat, nicht mehr missen. Die Dankbarkeit, die Freude und das Lächeln im Gesicht eines alten Menschen sind so ehrlich, dass diese uns auch tief berühren. Die Konzerte mit Klang und Leben und die Begegnungen mit den Menschen gehören zu den schönsten und emotionalsten Erlebnissen. So geht es uns allen. Wir sind die Reisebegleiter, die auf der Zugfahrt die „alte Zeit“ besingen. Wir sind die Tanzkapelle, die die mitfahrenden Gäste in ihren Bann zieht und sie ihre Sorgen und Nöte für den Moment vergessen lässt.
Veränderte Erlebenswelt Demenziell veränderte Menschen verlieren nach und nach die Erinnerung an ihr gelebtes Leben. Während es zunächst zu einem Verlust des Kurzzeitgedächtnisses kommt, gehen im weiteren Verlauf immer mehr Erinnerungen verloren, die in unserem Langzeitgedächtnis gespeichert sind. Der Bezug zu vertrauten Menschen, zum aktuellen zeitlichen und örtlichen Geschehen und ganz am Ende der Erkrankung auch zu sich selbst geht verloren. 26
Mit dem Verlust der Erinnerung schwinden auch nach und nach die Fähigkeiten, die im Laufe des Lebens erworben wurden. Die erlernte Sprache reduziert sich immer mehr. Worte oder deren Bedeutung lösen sich im Nichts auf. Betroffene halten sich oftmals für jünger, als sie in Wirklichkeit sind, und erkennen Verwandte, wie die eigenen Enkelkinder, Kinder, Freunde, Bekannte oder Arbeitskollegen nicht mehr. Sie haben für den Betroffenen nie existiert. Der im Inneren verlaufende Prozess der Verjüngung steht in einem Konflikt mit dem gealterten und durch Krankheiten gezeichneten Körper. Während der Vorbereitungen zu einem Drehtag für eine ARD Dokumentation über Klang und Leben in einer Senioreneinrichtung begegnete mir die 89-jährige Frau B., die sich nur noch mithilfe eines Rollators fortbewegen kann, mit ihrer Enkeltochter auf dem Gang. Ich begrüßte beide recht herzlich und beide grüßten freundlich zurück. Die Enkelin von Frau B. war gerade dabei, sich von ihrer Oma zu verabschieden. Nachdem sie gegangen war, fragte ich Frau B., wer das denn gewesen sei. Woraufhin sie mich an sich zog und mir ins Ohr flüsterte: „Das war meine Schwiegertochter, ich bin froh, dass die wieder weg ist, dieses falsche Luder.“ Auf das „falsche Luder“ ging ich nicht ein und antwortete: „Das hätte ich jetzt aber nicht gedacht, Frau B. „Wie alt sind Sie denn eigentlich?“ Sie antwortete: „Ich bin gerade 50 geworden, aber erzählen Sie es niemandem.“ Ich lächelte sie an und antwortete: „Frau B., dann bin ich ja älter als Sie, da könnten wir ja ein Paar sein.“ Woraufhin wir uns in den Arm nahmen und herzlich lachten.“ An diesem Beispiel soll verdeutlicht werden, dass man oft nicht weiß, welche Rolle erwartet wird, wenn man einem demenziell erkrankten Menschen begegnet. Wenn wir uns in einer solchen Begegnung empathisch verhalten und dem Betroffenen offen und ehrlich begegnen, haben wir alle Möglichkeiten, das Gespräch positiv und humorvoll zu gestalten. Ich habe es sehr wohl vermieden, weiter nach der Schwiegertochter zu fragen. Wenn wir uns intensiv auf die Erlebenswelt eines demenziell veränderten Menschen einlassen, wird bei dem erkrankten Menschen oftmals Stress reduziert und Angst abgebaut. Professionelle Betreuer und Pflegekräfte können sich häufig intensiver darauf einlassen als die Angehörigen oder Freunde. Diese wollen häufig nicht wahrhaben, dass ihre Mutter oder ihr Vater nicht mehr die sind, die sie einst gekannt haben. Gerade sie erleben einen Verlust, den sie häufig nur schwer aushalten. Insbesondere für den gesunden Lebenspartner ist es schwierig auszuhalten, wenn er von seiner Ehefrau, mit der er 50 Jahre verheiratet ist, nicht mehr wiedererkannt wird. Auf einer unserer zahlreichen Klang und Leben Konzerte ist mir ein älteres Ehepaar aufgefallen. Der Mann hielt beständig die Hände seiner demenziell erkrankten Frau und schaute sie immer wieder mit traurigen Augen an. Sie wiederum schien seine Anwesenheit völlig zu ignorieren und zog auch immer wieder die Hände weg. Plötzlich sagte die Frau den Satz: „Lassen Sie mich bitte in Ruhe, wer sind Sie überhaupt, ich kenne Sie nicht.“ Er antwortete daraufhin: „Ich bin es 27
doch, Erwin, dein Mann“, worauf die Frau empört erwiderte, wie er auf so eine verrückte Idee kommen würde. Sie hätte doch einen ganz anderen Mann. Nach dem Konzert nahm ich diese Beobachtung zum Anlass, den Mann sensibel auf die von mir beobachte Situation anzusprechen. Ich fragte ihn, wie es ihm denn damit ginge, dass seine Frau ihn nicht mehr erkennt. Er erzählte mir dann, wie sehr er unter dieser Situation leide und wie einsam er sich manchmal fühle. Manchmal habe er das Gefühl, es gehe seiner Frau besser als ihm selbst. Sie würde ihm immer wieder signalisieren, dass er in ihrem Leben nichts zu suchen habe. Dieser Tatsache ins Auge zu sehen, sei schwer zu ertragen. Dann nahm er unser Konzert zum Anlass, mir zu erzählen, dass er mit seiner Frau zusammen so oft wie möglich Musik aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit höre. Das würde ihm und auch seiner Frau guttun und wenigstens in der Erinnerung wären sie dann wieder zusammen. Diese Geschichte hat mich sehr berührt, aber sie zeigt die alltägliche Realität. Eine Realität, mit der Angehörige nur sehr schwer zurechtkommen. Nicht der demenziell erkrankte Mensch spürt den Verlust, sondern der Lebenspartner. Umgekehrt verhält es sich, wie schon erwähnt, bei der Demenz so, dass die Betreuer und Pflegekräfte plötzlich für alte Bekannte, gute Freunde oder Verwandte gehalten werden. Jedem von uns ist im Laufe seines Lebens schon einmal ein Mensch begegnet, der ihn an einen vertrauten Menschen erinnert, sei es, weil jemand einem guten Freund ähnlich sieht, ähnliche Ticks hat, einen ähnlichen Klang der Stimme oder identische Mimik und Gestik. Wir wissen, dass dieser Mensch, der uns begegnet, nicht der ist, den wir real aus unserem Leben kennen. In der Welt der Demenz verhält es sich ein wenig anders.
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Sprache und Stimmmelodie, Mimik, Gestik, Körpergeruch und Kleidung können sich zu einem vertrauten Bild formen. Das wahre Alter spielt auch in der Wahrnehmung des Gegenübers keine wichtige Rolle mehr. Der jungen Betreuerin kann durchaus plötzlich die Rolle der Mutter oder die der besten Freundin zugeschrieben werden.
Auf einer Veranstaltung in München sprach mich plötzlich eine ältere Dame an, die ich nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte. „Kennst du mich nicht mehr?“, fragte sie. Ich schaute sie an und zögerte einen Moment bevor ich antwortete. „Ich bitte Sie vielmals zu entschuldigen, aber im Moment kann ich mich wirklich nicht erinnern, woher wir uns kennen“, antwortete ich. „Na, du bist mir einer, kannst dich nicht mehr an deine Sandkastenfreundin erinnern?“ In diesem Moment wurde mir bewusst, dass sie irgendetwas an mir an einen sehr vertrauten Menschen erinnerte und ich begrüßte sie so herzlich, wie man einen vertrauten Menschen begrüßt.“ Da fing die Frau an zu lachen und wir drückten uns ganz herzlich. Wenn man das Phänomen der Demenz in einem einfachen Bild beschreiben möchte, findet eine Rückreise durch das eigene Leben statt, die den Betroffenen über viele Stationen bis in seine Kindheit führt. Der demenziell erkrankte Mensch findet sich auf dieser Reise in den verschiedenen Lebenswelten seiner Geschichte wieder. Dieses stellt in erster Linie sein persönliches Umfeld vor große Probleme. Kinder oder Lebenspartner wollen oder können den 29
Betroffenen nicht auf dieser Reise begleiten. Was mit Mutter oder Vater geschieht, verunsichert sie sehr. Jemanden auf diesem Weg zu begleiten, bedeutet auch, sich ab einem bestimmten Zeitpunkt von seiner Mutter oder seinem Vater verabschieden zu müssen. Ebenso müssen Kinder sich aus ihrer gewohnten Rolle verabschieden und bereit sein, Verantwortung für ihren Vater oder ihre Mutter zu übernehmen. Die Bereitschaft, diese Verantwortung für die eigenen Eltern zu übernehmen, steht häufig in einem engen Zusammenhang damit, wie das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern in der Vergangenheit war.
Der Demenz begegnen Das Wesen der Demenz wird von Fachleuten unterschiedlich bewertet. Die Mediziner sehen in ihr vorrangig eine Krankheit, die organische Ursachen hat und die nicht heilbar ist und deshalb besorgniserregend. Für den Angehörigen bleiben nach der Diagnose viele Fragen offen, unter anderem die, wie man am besten damit umgeht. Die Pharmaindustrie blendet mit Hoffnung und begegnet der Demenz in erster Linie medikamentös; ein Riesengeschäft, mit dem Milliardenumsätze erzielt werden. Die Medikamente sollen den degenerativen Prozess der Demenz stoppen. Sie wecken eine enorme Erwartungshaltung bei Betroffenen und Angehörigen auf Heilung oder Linderung der Demenz. Die Enttäuschung ist groß, wenn sich dann herausstellt, dass die Mittel kaum etwas verändern, sondern ganz im Gegenteil oftmals noch mehr Verwirrtheit auslösen. Im Rahmen einer Beobachtungsreihe über den Einfluss von Musik auf Menschen mit Demenz hatte ich auch Einblick in das Medikamentenblatt und musste feststellen, dass 80 Prozent der demenziell erkrankten Menschen Beruhigungsmittel von ihrem behandelnden Arzt verschrieben bekamen. Wer schon einmal ein Beruhigungsmittel eingenommen hat, zum Beispiel vor einer Operation oder gegen Flugangst, der weiß, dass diese müde machen und eine, wie der Volksmund so schön sagt, „Scheißegalstimmung“ erzeugen. In der Demenz kann dieses den Zustand der Desorientierung verstärken, die Mobilität auf ein Minimum herabsenken und den erkrankten Menschen in der alltäglichen Versorgung noch abhängiger von den Betreuungskräften machen. Der Gießener Soziologe und Theologe Reimer Gronemeyer stellt zu dem Thema Medikamentengabe hierzu in einem Interview in der Hannoverschen Allgemeinen vom 06.01.2015 fest: „Bei den beschriebenen sieben Pillen gehören die Blutdrucksenker, Schmerztabletten und Beruhigungsmittel zum Standardprogramm. All diese Mittel haben neben ihrer Wirkung nicht unerhebliche negative Auswirkungen auf die Demenz.“ Humanisten und Soziologen sehen die Demenz eher als natürlichen Alterungsprozess und in der Begegnung mit ihr einen gesellschaftlich integrativen Ansatz. In diesem Zusammenhang 30
muss eine Gesellschaft mehr Zeit für die soziale und kulturelle Beschäftigung aufbringen, um den Bedürfnissen unserer älteren Generation gerecht zu werden. Hier fordert Reimer Gronemeyer einen ganz neuen Umgang mit altersverwirrten Menschen. Aus seiner Sicht ist die Demenz in erster Linie eine Alterserscheinung und keine Krankheit. Die Gesellschaft gäbe die Verantwortung für ihre ältere Generation sehr gerne an die Ärzte und an die Pflegekräfte weiter: „Der Versuch, das Thema Demenz in die pflegerische und medizinische Ecke zu verbannen, muss scheitern. Es ist an der Zeit, die soziale Seite zu entdecken. Ob wir im Stande sind, humane, menschenfreundliche Wege des Umgangs mit der Demenz zu entwickeln und zu erfinden, das wird über unsere kulturelle und soziale Zukunft entscheiden.“ (Quelle: Interview Gronemeyer, DIE WELT, Demenz ist keine Krankheit, 13.02.2013). Tatsächlich zeigt die Realität gerade in der häuslichen Versorgung, dass es sehr schwierig ist, die soziale, kulturelle und musikalische Seite zu bedienen. Eine leistungsorientierte Gesellschaft lässt in ihren Zwängen sehr wenig Raum hierfür. Nach einem Vortrag, den ich für Angehörige von demenziell Erkrankten hielt, die von ihren Kindern und Lebenspartnern noch zu Hause versorgt werden, berichtete mir eine Tochter über den Alltag mit ihrer demenziell erkrankten Mutter, die an manchen Tagen weder ihre eigene Tochter erkennt noch weiß, wo sie sich eigentlich befindet. Meine Mutter weiß schon lange nicht mehr, wo sie ist. Tagsüber lassen wir sie oft für mehrere Stunden allein, weil wir entweder Arbeiten müssen und andere Dinge zu erledigen haben. Wir setzen sie vor den Fernseher, schließen das Haus ab und hoffen jedes Mal, dass nichts passiert, wenn wir weg sind. Wenn ich dann nach Hause komme, erwarten mich jedes Mal neue Überraschungen. Entweder sind alle Küchenschränke ausgeräumt, alle Betten abgezogen oder das Badezimmer steht unter Wasser. Wenn dann das ganze Chaos beseitigt ist, wir aufgeräumt, geputzt und Abendbrot gegessen haben, sind wir so kaputt und genervt, dass wir keine Lust mehr haben, mit unserer Mutter noch irgendetwas zu spielen, geschweige denn Musik zu hören und zu singen, glauben Sie mir es. Wir sitzen alle noch ein Weilchen total erschöpft vor dem Fernseher und sind froh, wenn Mutter schläft.
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Wen mag es bei diesem Beispiel verwundern, dass niemand mehr Lust hat, sich abends mit Mutter hinzusetzen und zu singen, zu tanzen oder sonst wie kreativ zu sein. Mag dieses im frühen Stadium der Demenz noch gelingen, ist es später nur unter sehr optimalen Bedingungen möglich. Der Betreuungsaufwand, der für einen demenziell erkrankten Menschen im fortgeschrittenen Stadium erbracht werden muss, ist mindestens gleichzusetzen mit dem Aufwand, der für ein Kleinkind betrieben werden muss. Wir sprechen hier von einer Eins zu eins Versorgung, die in einer normalen Familie nicht zu gewährleisten ist. In einer leistungsorientierten Gesellschaft müssen sich die Angehörigen deshalb häufig von dem Betroffenen verabschieden. Eine sinnvolle Alternative zu einem Einzug in eine Senioreneinrichtung scheint die Tagespflege zu sein. Wie Eltern tagsüber durch den Kindergarten entlastet werden, bedient die Tagespflege einen ähnlichen Zweck. Bei vielen Besuchen in Tagespflegeeinrichtungen war zu erkennen, dass hier am ehesten der kreativ/musikalische Ansatz in der Betreuung und Beschäftigung gelebt wird.
Ein bisschen zu Hause, ein bisschen zu Gast Wenn ich den Menschen in den Senioreneinrichtungen begegne, finde ich sie nicht in ihrem gewohnten Umfeld wieder. Wie schon oben beschrieben, wissen die Betroffenen im fortgeschrittenen Stadium der Demenz oft nicht, wo sie sind und wer die anderen Menschen um sie herum sind. Wenn man Betroffene fragt, wo sie sich befinden, ist eine sehr häufige Antwort: „Ich wohne hier nicht, ich bin hier nur im Urlaub und fahre bald wieder nach Hause. Mein Sohn holt mich dann ab.“ Diese Feststellung scheint es ihnen zu erleichtern, den Alltag in einer ungewohnten Umgebung zu bewältigen, denn in einem Hotel sieht es nun mal anders aus als in den eigenen vier Wänden und dieses muss einem keine Angst machen, wenn man weiß, dass man wieder abgeholt wird. Je weiter die Demenz fortschreitet und je mehr die Vergangenheit zur Gegenwart wird, desto mehr Ängste und Unsicherheiten entstehen vor dem fremden Ort und vor den ihnen fremden Menschen. In den letzten Jahren erkennen Fachleute immer mehr die Wichtigkeit der individuellen psychosozialen Begleitung und Betreuung der Menschen mit Demenz und der Gestaltung der Lebensräume und der persönlichen Lebensbegleiter, die Vertrautheit schaffen. Wenn ich mir vorstelle, ich müsste eines Tages meine persönliche Reise in die Vergangenheit antreten und in dem Wissen, dass ich vermutlich meine letzte Lebenszeit in einer Senioreneinrichtung verbringen werde, dann habe ich eine konkrete Vorstellung davon, welche Dinge für mich wichtig wären, damit ich mich wohlfühle. Meine Gitarre, Bücher, ein Radio, Fußballposter an der Wand, kleine Cowboy- und Indianer figuren, Matchbox Autos und verschiedene Teddybären waren für mich wichtige Wegbegleiter, 32
die mir spontan einfallen und die eine sehr beruhigende Wirkung auf mich haben. Halten Sie an dieser Stelle einen Moment inne und überlegen, welche Gegenstände Ihre persönlichen Lebensbegleiter waren oder sind. Wie wichtig das Wissen der Biografie eines Menschen für eine optimale Versorgung ist, wird an dieser Stelle deutlich. Hier gewonnene Erkenntnisse erleichtern den Umgang mit dem Betroffenen. Ressourcen, die durch die Biografie gewonnen werden, können zur individuellen Lebensgestaltung beitragen und ihnen Lebensqualität zurückgeben. Ein Mensch in der lebenslangen Entwicklung hat beständig die Möglichkeit, sich und sein Verhalten zu verändern, wenn er die Notwendigkeit hierfür sieht, und ihm begegnen im Laufe seines Lebens immer wieder neue Menschen. Ein demenziell veränderter Menschen kann seine erworbenen Verhaltensmuster nicht mehr ändern und erkennt nur noch ihm bekannte oder vertraute Personen und ist auf der Suche nach den Menschen, die ihm in der Vergangenheit etwas bedeutet haben.
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Wenn die Betroffenen mich während unserer Veranstaltungen für eine ihnen vertraute Person halten, belasse ich sie in dem Glauben, weil ich durch meine Erfahrungen, die ich in vielen menschlichen Begegnungen gesammelt habe, deutliche Hinweise darauf bekommen habe, dass dieses Verhalten den Betroffenen Sicherheit gibt. Auch in der musikalischen Interaktion entstehen durch die Nähe zu den Betroffenen Erinnerungen an Personen, die ihnen im Laufe ihres Lebens begegnet sind. Aus der Stimme, aus dem Eigengeruch eines Menschen oder ausgelöst durch Mimik und Gestik des Gegenübers, aber auch durch Kleidungsstücke, entstehen Menschenbilder. Diese äußerlichen Erkennungsmerkmale bekommen eine neue Gewichtung und lassen bestimmte Personen des gelebten Lebens in der Wahrnehmung wieder auferstehen. Der Gesichtsausdruck und die Stimme der Betreuerin erzeugt beispielsweise das Bild der geliebten Mutter oder ein tiefer Blick in das Gesicht des Gesprächspartners entdeckt den Kindheitsfreund wieder. Diese Erfahrung konnte ich persönlich machen. Im vorhergehenden Kapitel habe ich über die Begegnung mit einer „alten Sandkastenfreundin“ berichtet. Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass die musikalische Auswahl bei unserer Arbeit vorrangig Einfluss auf das momentane Erleben hat, dass aber auch der empathische Umgang eine Rolle spielt wie auch äußere Erkennungsmerkmale, durch die der Gesprächspartner im Geiste in eine bekannte, vertraute Person verwandelt wird. Natürlich kann man auf der Basis der von mir beschriebenen Erkenntnisse den Rückschluss ziehen, dass im Zusammenspiel dieser Komponenten auch negative Erinnerungen erzeugt werden können. Widerstände demenziell erkrankter Menschen basieren aus meiner Erfahrung unter anderem darauf, dass sowohl die gespielte und gesungene Musik oder etwas an der Wahrnehmung des 34
Gegenübers mit einer negativen Erfahrung verknüpft wird. Eine Altenpflegerin, die beispielsweise sehr beliebt ist bei allen Bewohnern und bei den Kollegen, kann im Einzelfall völlig andere Erfahrungen machen, wenn sie einer Bewohnerin begegnet, die in ihrem Gesicht eine Mitschülerin erkennt, mit der sie sich während ihrer Schulzeit nur gestritten hat. In diesem Fall wird die Situation zwischen den beiden nicht positiv aufzulösen sein. Für die alltägliche Begegnung bedeutet dieses, dass die soziale Betreuung flexibel gestaltet werden muss und genau überlegt werden muss, wer wen betreut. Entsteht zwischen dem Betreuer und dem zu Betreuenden ein Spannungsfeld auf der Basis der oben beschriebenen Indikatoren, wäre eine Veränderung dieser Betreuungskonstellation wichtig. Da, wie erwähnt, auch die Musik negative Gefühle auslösen kann, wählen wir die Lieder für unsere musikalische Arbeit sehr gezielt aus. Unsere Lieder sollen angenehme Bilder erzeugen und für eine positive Grundstimmung sorgen. Meistens gelingt dieses sehr gut. Doch was passiert, wenn der gut gemeinte Vorsatz mal daneben geht und der längst vergessene Liebeskummer wieder an Wichtigkeit gewinnt und Traurigkeit hervorruft? „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt.“ (Schlager)
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In einer solchen Situation werden wir den Betroffenen ganz sicher nicht alleine lassen, sondern ihn in seinem spontanen Gefühl begleiten und ihm signalisieren, dass wir sein Gefühl verstehen und zu teilen versuchen. Die Erfahrung zeigt, dass spätestens beim nächsten Lied der Verlust der großen Jugendliebe wieder vergessen ist. Manchmal kann es für eine ältere Dame sogar sehr schön sein, ihrer Jugendliebe noch einmal zu begegnen. Die Tiefe der Begegnungen von Menschen, die in einer Senioreneinrichtung leben und denen, die dort arbeiten, ist immer auch abhängig davon, in welcher gefühlten Wohnatmosphäre sich der demenziell erkrankte Mensch befindet. Fühlt er sich als Gast, definiert er seine Rolle klar und deutlich. In dieser Rolle sind Begegnungen häufig neu und man muss sich nicht permanent die Frage stellen, wer die anderen eigentlich sind. Das gibt dem ganzen Erleben eine gewisse Leichtigkeit. Der demenziell Erkrankte kann sich freier bewegen und die „Hotelangestellten“ um Rat fragen, wenn er sein Zimmer sucht, oder wenn er wissen möchte, wann es wo Mittagessen gibt. Dafür muss er sich nicht schämen, sich nicht die Blöße geben, die unter Umständen erkennen lässt, dass etwas in seinem Kopf nicht stimmt. Diese Strategie wird häufig von demenziell veränderten Menschen gewählt, die in vielen alltäglichen Dingen der Versorgung noch selbstständig agieren können. Mit fortschreitender Demenz wird die Sehnsucht nach dem vertrauten zu Hause immer größer. Die Betroffenen suchen nach vertrauten Wiedererkennungsmerkmalen und Personen, die ihnen signalisieren, dass sie zu Hause sind. Finden sie diese nicht vor, machen sie sich selbst auf die Suche oder bitten beständig darum, doch bitte nach Hause gebracht zu werden. Hier geht die Leichtigkeit des Seins der klar definierten Gastrolle verloren und wird zu einer sehnsüchtigen Suche nach dem zu Hause. Man könnte es auch als Heimweh betrachten.
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Lebensgeschichten Der Einfluss der Erziehung Wer kennt nicht den Ausspruch: „Du bist doch wie deine Mutter“ oder „du benimmst dich wie dein Vater.“ Fast in jeder Beziehung zwischen Lebens- oder Ehepartnern fällt dieser Satz meistens im Streit mit dem Partner. Betrachten wir diesen Satz genauer und losgelöst aus einem Beziehungskonflikt, werden wir feststellen müssen, dass in diesen Aussprüchen sehr viel mehr Wahrheit steckt, als wir vermuten. Unsere Eltern prägen uns vom Tag unserer Geburt. Sie sind unsere Bezugspersonen, von denen wir uns in den ersten drei Lebensjahren äußerst beeindrucken lassen. Säuglinge und Kleinkinder entwickeln eine tiefe soziale und emotionale Bindung zu ihren Eltern. Ihnen können sie vertrauen und bei ihnen können sie sich geborgen fühlen und sie sollen den Grundstein legen für den Weg durchs Leben. Sie nehmen Einfluss auf unsere Persönlichkeitsentwicklung in einer Gesellschaft mit gezielten Normen- und Wertvorstellungen. In der Primärsozialisation wird nicht nur das Normen- und Wertesystem verinnerlicht, dass die Eltern vermitteln, sondern wir entwickeln unser eigenes Standing verbunden mit mehr oder weniger Selbstbewusstsein, aus dem das Selbstwertgefühl entsteht. In der frühen Entwicklungsphase eines Menschen entwickelt sich laut Sigmund Freud, Eric Berne und Konrad Adler die innerliche psychische Stabilität eines Menschen. Je nachdem, ob mir meine Eltern das Gefühl mitgegeben haben, mich übervorsichtig und ängstlich durch die Welt zu bewegen oder in freudiger Erwartung, was diese zu bieten hat, spüre ich auch das weitere Leben an mir vorbeiziehen und ich spüre es noch einmal in bestimmten Phasen der Demenz. In der Rückentwicklung zeigen sich in der Regel die Auswirkungen der familiären Sozialisation oder, wie ich es immer gerne zu sagen pflege: „Wir sind als Kinder häufig die Opfer unserer Sozialisation, wobei es hier keine Schuldzuweisung an unsere Eltern geben darf, denn sie sind auch Teil ihrer Erziehung.“ Die demenziell veränderten Menschen begegnen uns nicht nur in verschiedenen Stadien ihres Lebens, sondern sie begegnen uns während des gesamten Verlaufes der Demenz als mehr oder weniger selbstbewusste Menschen. Die innere in der frühsten Kindheit erworbene psychische Stabilität entscheidet darüber, ob die Betreuung eines Menschen einfach ist oder mit sehr viel Anstrengung verbunden. Ein offener extrovertierter Mensch wird auch in der Demenz eher klar kommen, weil er es von Kind auf verinnerlicht hat, den Menschen in seiner sozialen Umgebung offen zu begegnen. Bei traumatisierten oder ängstlichen Menschen gelingt der Kontakt zum Menschen nicht allein über die Musik, sondern ist auch abhängig davon, ob der Musiker von der betroffenen Person 37
akzeptiert wird oder nicht. Hier kann es manchmal für den Musiker sinnvoll sein, einen bestimmten Abstand zu wahren und es beim reinen Zuhören des Betroffenen zu belassen. Eine gesteigerte Musikaktivität ist bei den Menschen zu beobachten, die von Kind an darüber zu berichten wissen, dass in ihrem Elternhaus die Musik eine sehr entscheidende Rolle spielte. Hält sich jemand in den Aktivitäten dezent zurück und man fragt denjenigen, warum er sich nicht aktiv beteiligt, ist die Antwort fast immer: „In unserem Elternhaus wurde nie gesungen oder musiziert“ oder „Meine Eltern haben mir gesagt, wenn ich singe, halten sich alle die Ohren zu.“ Betrachtet man die 20er- und 30er-Jahre, also die Kindheit der heute 80- bis 90-Jährigen, hat die Erziehung in dieser Zeit sehr wenig mit der Erziehung in der heutigen Zeit zu tun und die Aussagen der modernen Entwicklungspsychologie finden in dieser Zeit keine Anwendung. Erziehung war streng und kompromisslos. Gehorsam war eine Tugend, die nicht nur der Erziehung gut war, sondern spätestens in den 30er- Jahren auch dem Bürger. So sahen es zumindest die politischen Machthaber. „Ein bisschen Zucht und Ordnung hat noch niemandem geschadet“, war einer der am häufigsten ausgesprochenen Sätze. Um in einer schweren Zeit, in der es in vielen Familien um das tagtägliche Überleben ging, klarzukommen, war der medizinische Rat der Ärzte, Schmerzabhärtung und emotionale Unabhängigkeit sei das Allerwichtigste, um im Leben klarzukommen. Eltern wie Lehrer waren sich, was die Erziehungsmethoden betraf, in der Regel einig. Züchtigung durch Bestrafung war das Mittel der Wahl, um maximalen Gehorsam zu erzielen. Wenn man die 30er- und 40er-Jahre betrachtet, dann wurde die Lebenssituation keineswegs besser. War die Kindheit geprägt durch Disziplin und Gehorsam den Eltern und den Lehrern gegenüber, durch körperliche Züchtigung und durch Entbehrungen, wurden die Kinder und jungen Erwachsenen dann mit der Grausamkeit des Krieges konfrontiert. Freunde, Verwandte, Eltern, Brüder, Schwestern starben im Krieg oder wurden misshandelt oder vergewaltigt und häufig war man selbst Zeitzeuge dieser Gräueltaten.
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Und plötzlich ist wieder Krieg Der Mensch, dem wir bei unserer musikalischen und biografischen Arbeit begegnen und der für uns nur schwer erreichbar ist, durchlebt mitunter in seiner Erinnerung Kriegserlebnisse noch einmal mit den Gefühlen, die damit verbunden sind. Er hört die Einschläge der Bomben und Granaten, sieht Menschen sterben oder um ihr Leben rennen. Menschen, die auf ihrer Rückreise im Albtraum Krieg angekommen sind, zeigen drei deutliche Verhaltensmuster. Sie rufen laut um Hilfe, sie wollen weglaufen oder sie schließen die Augen und ziehen sich komplett in ihr Innerstes zurück. Als Kinder haben wir uns die Ohren zugehalten und die Augen zugemacht, wenn uns etwas große Angst gemacht hat.
Wer den Albtraum Krieg noch einmal erlebt, braucht in der alltäglichen Begleitung tiefe Zuneigung, Nähe und das Gefühl, beschützt zu werden. Für viele Einrichtungen stellt die Begegnung mit der Vergangenheit des Krieges eine große Herausforderung dar. Es gibt mehrere Möglichkeiten, der Situation zu begegnen, aber es wird selten eine optimale Lösung geben, da sie an hohen menschlichen Zeitaufwand gekoppelt ist. Im schlechtesten Fall muss auf eine medikamentöse Therapie zurückgegriffen werden, damit der Betroffene angstfreie Ruhezeiten findet. Im besten Fall findet sich ein Weg, um das Leben des Betroffenen zu erleichtern. Ablenkung durch Musik, Geborgenheit und das Gefühl der 39
Sicherheit durch eine vertraute Person sind hier die Mittel der Wahl. Die Zeitfenster, in denen diese gewährleistet werden kann, sind sehr schmal. Leider sieht die Realität in den Senioreneinrichtungen so aus, dass die Menschen, die dort arbeiten, leider keine permanente Krisenbetreuung ableisten können. Die erlebte Kriegsvergangenheit geht häufig mit schrecklichen Erlebnissen einher, die auch beim nicht demenziell veränderten Menschen nur schwer therapeutisch begleitet werden können. In einem Seniorenheim begegnete ich einer offensichtlich im Krieg schwer traumatisierten älteren Dame, die ihre Angst laut herausschrie: „Hilfe, bitte, retten Sie mich, warum hilft mir denn keiner? Ich habe Angst, ich habe Angst, sie werden mich erschießen. „Hilfe, Hilfe, warum hilft mir denn keiner?“ Diese Hilferufe hörte man immer dann, wenn die Frau völlig auf sich alleine gestellt war. Wenn Frau P. alleine in ihrem Zimmer war, hörte sie gar nicht mehr auf zu rufen. Man fragt sich, wie groß die Angst in ihr gewesen sein muss. Mit meiner Musik ist es mir häufig gelungen, sie von diesen furchtbaren Orten wegzuführen. Die jungen Männer, die als Soldaten im zweiten Weltkrieg tagtäglich mit Tod und Sterben konfrontiert waren, die selbst häufig nur knapp dem Tod entronnen sind und selbst andere töten mussten, um zu überleben, haben manchmal im Schützengraben während der Feuerpausen vertraute Lieder im Geiste gesungen oder vor sich hingesummt, um an ihrer Situation nicht völlig zu verzweifeln, erzählte mir ein älterer Herr, der selbst das alles erlebt hatte. Wichtig für den Moment ist die Feststellung, dass Musik eine sehr wohltuende Ablenkung sein kann. Warme melodische Klänge können einen Menschen aus dem Tal der Tränen in den sommerlichen Frühtau der Berge entführen und ein angenehmes Gefühl hervorrufen. Die Konzertgitarre, die mit Nylonseiten bezogen ist, sorgt für sehr warme, beruhigende Klänge. Wichtig sind in der Interaktion natürlich auch die Stimme und die Sprachmelodie, die sicher und vertrauenserweckend klingen müssen.
Die Bedeutung der aktuellen Lebenssituation auf die Demenz Die Menschen, denen wir in den Senioreneinrichtungen begegnen, haben sich in den meisten Fällen eher unfreiwillig aus dem gewohnten Lebensumfeld verabschiedet und Freunde oder Angehörige, die die Pflege- oder Betreuungsleistung übernehmen könnten, sind selbst nicht dazu in der Lage oder schon verstorben. Konnten die meisten Tätigkeiten des Alltags bisher selbstständig durchgeführt oder Hobbys selbstbestimmt gelebt werden, ist dieses in einer Senioreneinrichtung nur noch begrenzt möglich. 40
Die Durchführung alltäglicher Aktivitäten ist nur mit Hilfestellung durch Pflege- und Betreuungskräfte möglich. Viele Bewohner benötigen beispielsweise Unterstützung bei der Körperpflege oder beim Toilettengang. Dieses stellt einen schamhaften Eingriff in die Intimsphäre dar. Grund hierfür sind häufig schwere körperliche Erkrankungen, die den Gelenkapparat oder die Organe betreffen. Schmerzen, die Angst, an einer Krankheit zu sterben oder Verdauungsprobleme werden zu zentralen Themen, die die Lebensqualität auf ein erhebliches Maß reduzieren und das Selbstwertgefühl schwinden lassen. Der alte Mensch verliert die Lust am Leben und das Interesse am alltäglichen Geschehen. Aus diesen Verläufen heraus fällt der alte Mensch in eine schwere depressive Verstimmung oder sogar in eine Depression mit schweren Angst- und Unruhezuständen und häufig sogar mit suizidaler Neigung. Diese Zustände werden durch die Gabe von Psychopharmaka aufgefangen, die nicht selten gravierende Nebenwirkungen haben. Beruhigungsmittel oder zentral wirkende Schmerzmittel führen im Alter häufig zu einer verzerrten Wahrnehmung der Gegenwart, zur Teilnahmslosigkeit, zur Desorientierung und zum Nachlassen der Konzentrations- und Gedächtnisleistung und verstärken die Symptome einer Demenz. Im Folgenden eine kurze stichpunktartige Zusammenfassung der Faktoren, die einen Einfluss auf das Erleben von Demenz haben, bezogen auf die Personengruppe der Bewohner von Heimen: • Körperliche Erkrankungen und dadurch bedingte Symptome wie Einschränkungen in der Mobilität, Nachlassen der Sinneswahrnehmungen, Schmerzen, Atemnot und Verdauungsstörungen. • Seelische und geistige Erkrankungen und dadurch bedingte Symptome wie Angst, Unruhe, Wahnvorstellungen, Orientierungs- und Handlungsunfähigkeit, Verlust der kognitiven Leistungen, der Erinnerung, der Sprache und der Mobilität. • Die Wirkung oder Nebenwirkungen zahlreicher Medikamente gegen Schmerzen, Unruhe und Schlaflosigkeit. • Die Sozialisation und Entwicklung in Abhängigkeit von Elternhaus, Lebensumfeld und Lebensbedingungen. • Der Verlust der gewohnten, vertrauten Umgebung und der nachbarschaftlichen Kontakte. • Der Verlust der Individualität und der Selbstbestimmung. • Die Abhängigkeit von Pflege- und Betreuungskräften.
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Die Summe der einflussnehmenden Faktoren auf die Demenz ist sehr groß und erfordert eine ganzheitliche Behandlungsform, die unter den Bedingungen der heutigen gesellschaftlichen Strukturen und der sozialen Sicherungssysteme kaum möglich ist.
Historisches Wissen als Grundlage für musikalisch/biografisches Arbeiten Wir haben heutzutage viele Möglichkeiten, die Vergangenheit zu betrachten. Film- und Fernsehdokumentationen bis in die Anfänge des letzten Jahrhunderts gibt es zahlreich. Auch die Auswahl an Literatur ist unerschöpflich. Ich diesem Kapitel lasse ich einen älteren Herrn über seine Kindheit und Jugendzeit zwischen 1924 und 1945 berichten. Es ist ein tiefer Einblick in eine Zeit, in der die Kinder im Sommer noch barfuß zur Schule gingen. Als ich das Interview mit Herrn H. führte, war ich von seinen Erzählungen tief fasziniert und hörte wie gebannt zu. Der Rückblick auf sein langes Leben und die Erlebnisse, die er mir schilderte, berührten mich sehr. Ich hatte viele Fragen und je mehr Antworten ich bekam, desto mehr Fragen hatte ich. Natürlich erzählte er mir auch aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges, denn das war auch seine Jugend und manchmal fehlten mir die Worte, gerade dann, wenn er mir vom Krieg erzählte und vom täglichen Überleben. Während des Interviews tauchten wir aber auch in die Welt der Kinder-, Fahrten- und Schlagerlieder der 20er- und 30er-Jahre ein. Für das zweite Interview wählte ich Lieder aus, von denen ich glaubte, dass sie Herrn H. gefallen würden. Die Geschichte des Herrn H. beginnt in der Zeit der Weimarer Republik. Mit dem Begriff der Weimarer Republik (1918 bis 1933) ist verbunden, dass die Mitglieder des Parlaments das erste Mal in der Geschichte der Deutschen durch freie Wahlen bestimmt wurden. Deswegen nannte man die politische Form damals ebenso wie heute parlamentarische Demokratie. In dieser Zeit nach dem ersten Weltkrieg, der am 11. November 1918 endete, ging es den meisten Menschen nicht gut und sie wussten nie, was der nächste Tag bringen würde. Viele Menschen lebten am Rande des Existenzminimums und kämpften um das Überleben. Kinder und alte Menschen wurden häufig krank und verstarben an Infektionskrankheiten wie der Lungenentzündung oder der Grippe, die häufig mit einem schlechten Allgemein- und Ernährungszustand Hand in Hand gingen. Es gab erhebliche Unterschiede zwischen dem Stadt- und dem Landleben. Die Landbevölkerung arbeitete auch hart in der Zeit der hohen Arbeitslosigkeit in den Städten und hatte ausreichend zu Essen. Luxusware wie Fleisch, die für die Städter unbezahlbar war, gab es auf dem Lande durch die eigene Viehwirtschaft zur Genüge. Auf dem Lande half man sich gegen42
seitig, auch wenn man 18 Stunden hart arbeiten musste, das betraf häufig auch die Kinder. Das Straßenbild in den Großstädten wurde ab 1918 durch Kriegsversehrte, durch unterernährte Kinder und Erwachsene geprägt. Ich kann mich gut an meinen Urgroßvater Gustav erinnern, der zu Hause bei meiner Oma in der Küche auf einem Sessel saß und nur noch ein Bein hatte. Er hatte sein Bein im Ersten Weltkrieg verloren. In der Ecke neben dem Sessel stand seine hölzerne Beinprothese, deren Anblick bis heute einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen hat. Arbeitslosigkeit sowie Hunger und soziales Elend führten in den Großstädten zu einer Kriminalisierung. Diebstähle von Lebensmitteln und Plünderungen von Lebensmittelgeschäften waren keine Seltenheit. 1923 wurden über Nacht Millionen Menschen arm, weil es zu einer ausgeprägten Inflation kam. Das bedeutete, das Geld war plötzlich nichts mehr Wert.
Die Kindheit und Jugend des Herrn H. – Interviews Karl-Heinz H. 22.10.1924 Herr H. ist 91 Jahre alt und lebt heute in einer Seniorenresidenz in Hannover in einer gemüt lichen Ein-Zimmer Wohnung. Er war 60 Jahre lang verheiratet und hat bis zum Tode seiner Frau 2013 in Wetzlar in Hessen gelebt. Von dort ist er dann in die Nähe seiner Kinder gezogen. Herr H. ist ein sehr gebildeter, aufgeschlossener, lebensfroher, ehrlicher und hilfsbereiter Mensch. Als er mir das erste Mal begegnete, wäre ich nicht im Traum darauf gekommen, dass er schon 91 Jahre alt ist. Auch körperlich ist er noch fit, was er damit erklärt, dass er ein Leben lang begeisterter Sportler war. Allen medizinischen Prognosen zum Trotze ist er trotz einer Bluthochdruckerkrankung so alt geworden und wird, wenn Gott will, mit dem Elan des Alters
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auch das hundertste Lebensjahr erreichen. Menschen, die ihn nicht kennen, schätzen ihn auf Mitte 70. Vor unserem Interview versicherte ich ihm, dass ich nur über das schreibe, was von ihm freigegeben wird. Das folgende Interview mit Herrn H. führte ich im Januar 2014. Während des Interviews wurde mir klar, dass wir nicht so tun können, als hätte es den Nationalsozialismus und den 2. Weltkrieg in Herrn H. Leben nicht gegeben. Herr H. gab mir ein 4 Stunden Interview, das ich hier nur in Auszügen wiedergeben kann.
Erstes Interview ohne Musik Ich klopfe an die Tür mit der Nummer 101 in der ersten Etage der Senioreneinrichtung. Die Tür öffnet sich sofort. Herr H. scheint mich erwartet zu haben. Er begrüßt mich sichtlich erfreut und bittet mich herein. Das Zimmer ist sehr gemütlich eingerichtet. Die letzten zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau hat er hier verbracht. Während unserer gesamten Unterhaltung wird mir immer wieder klar, dass er sich hier sehr wohl und gut aufgehoben fühlt, aber auch, dass er seine Frau sehr vermisst. Er zeigt mir Bilder, auf denen sie zu sehen ist, und bekommt feuchte Augen, wenn er von ihr erzählt. 60 Jahre haben die beiden miteinander verbracht. Es berührt mich zu tiefst, wenn er von seiner großen Liebe erzählt und ich spüre seine noch immer währende Trauer. Während des Interviews wird er immer wieder von ihr sprechen. Er bietet mir seinen Lieblingssessel an, der direkt neben dem Fußende seines Bettes platziert ist. Herr H. sitzt mir gegenüber. An den Wänden hängen Bilder, die Geschichten aus seinem Leben erzählen, auf fast allen ist auch seine Frau zu sehen.
Die Kindheit und Jugend in seinem Elternhaus Am 22.10.1924 bin ich geboren. Ich habe meine Kinderzeit in Oberschlesien verbracht. Die Stadt, in der ich aufwuchs, hieß Hindenburg und hatte 140000 Einwohner. Ich bin schon mit 4 Jahren in einen katholischen Kindergarten gekommen. Und in diesem Kindergarten waren wir 25 Jungs und ebenso viele Mädchen. Und dann kam ich in die Volksschule in Hindenburg, in den Stadtteil Nordost, und habe nach 8 Jahren meinen Abschluss gemacht. Danach habe ich ein sogenanntes Landjahr absolviert, in dem wir hart arbeiten mussten, das hat aber viel Spaß gemacht und wir hatten immer genug zu essen. Danach bin ich am 01. April 1940 nach Berlin gegangen und habe eine Ausbildung zum Flugzeugmechaniker in den Heinkel Flugzeugwerken gemacht. Danach bin ich direkt in den Krieg gegangen und jeden Tag mit dem Flugzeug Kriegseinsätze geflogen; wurde dann 1944 abgeschossen und überlebte schwer verletzt. Dann war ich zwei Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft. Das war meine Jugend.
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Das Elternhaus Mein Vater war im Bergwerk als Bergmann im Kohlebergbau. Ich hatte zwei Brüder, wir waren drei Jungs, Jahrgang 24, 27 und 33. Im Bergbau war schon die 8 Stunden Schicht eingeführt. Meine Mutter war im Haus tätig und im Schrebergarten. Das war ihre Welt. Ich habe sehr viel mit meinen Brüdern gemacht. Meine Mutter war in ihrer Familie die älteste von 4 Geschwistern. Wir wurden von unserer Mutter erzogen, der Vater war wohl auch da, aber meistens im Betrieb. Meine Mutter stand auf dem Standpunkt und ich will Ihnen sagen, das war für mein Leben später so wichtig, ihr lernt als Jungen alles das, was die Mädchen auch machen. Wir konnten stopfen und nähen. Als ich dann später auf der Fliegerschule war, da habe ich für die Kollegen die Knöpfe angenäht. Die haben staunend gesagt: „Ja sag mal, Karl Heinz, du stopfst ja deine Socken selber, das könnte ich nicht, ich lauf dann lieber mit Löchern rum.“ Wie oft habe ich auf der Stube für meine Kollegen die Knöpfe angenäht. Am Samstag haben wir geputzt, gewaschen, nach dem Mittagessen gespült. Wir haben alle Hausarbeiten kennengelernt und Sie glauben nicht, was das später beim Militär für ein Segen war. Wir hatten Glück, wir hatten einen so genannten Schrebergarten, der 400 m2 groß war und eine Gartenlaube stand drauf, Wasser war da. Wer einen Schrebergarten hatte, der konnte seine Familie ernähren. Und jeder baute Obst und Gemüse an. Unsere vierköpfige Familie lebte nur vom Schrebergarten und manchmal konnten wir sogar unserer Nachbarin, die keinen Garten hatte, etwas davon abgeben.
Der Familienalltag Morgens sind wir in die Schule gegangen, nachmittags in die Jugendgruppe oder in den Schrebergarten. Dort teilte meine Mutter uns auf. Einer musste die linke Rabatte vom Unkraut befreien und einer die rechte Rabatte. So hatte jeder seine Aufgabe. Abends wurde gemeinsam gegessen, da war der Vater ja auch da und wir berichteten über unsere Arbeit im Schrebergarten. Jeder berichtete, was er im Garten gemacht hat. Im Keller hatten wir eine Ecke mit Sand und da steckten die Möhren drin, damit die sich besser halten. Wir haben uns die Schuhe selbst geputzt, meine Mutter hat alles wieder neu zusammengenäht, weil man wenig Geld hatte. Wir trugen alle Strickstrümpfe und es gab ein paar Schuhe. Wissen Sie, was mein Vater damals mit einer Familie und drei Kindern pro Woche an Arbeitslosengeld bekommen hat? Fünf Mark für 5 Personen. Ein Liter Milch kostete damals 20 Pfennig, ein Kilo Brot 38 Pfennig, 1 Kilo Kartoffeln 8 Pfennig, 100 Gramm Butter 50 Pfennig und ein Ei 20 Pfennig und an Obst, Gemüse oder Fleisch war bei den meisten gar nicht zu denken. Da sehen Sie mal, wie wenig Geld das war. Wenn wir unseren Schrebergarten nicht gehabt hätten, wäre es uns sehr schlecht gegangen.
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Die Schulzeit Im Sommer liefen wir barfuß und das war für alle normal im Sommer. Wir sind sogar barfuß zur Schule gegangen. Wir hatten Lehrer, die hatten einen Rohrstock und andere nicht. Die einen sagten: Bücken und drei Schläge auf den Hintern. Bei anderen mussten wir, wenn wir einen Streich gespielt hatten, 50 x einen Satz aufschreiben. Es gab solche und solche Lehrer. Wir hatten immer mehr Lehrer, die vom Nationalsozialismus geprägt waren, und andere. Die Lehrer wurden dann unter Hitler nach und nach aussortiert und der Rohrstock und laute Befehle bestimmten den Schulalltag. Nach der Schule hat man sich zum Sport verabredet. Ich war bis 14 Jahre im Jungvolk und wir trafen uns zweimal in der Woche. Ab 1933 wurden alle Jugendorganisationen zur Hitlerjugend zusammengefasst. 40 Jungs marschierten oder wanderten durch die Natur und sangen Volkslieder. Wir haben auch Fußball gespielt oder den sogenannten Schlagball. Bei uns gab es sogenannte Sandberge, die schön mit Heide bewachsen waren und machten dort Geländespiele. Wir haben uns im Gelände versteckt und mussten uns gegenseitig finden und fangen. Wir waren immer in Bewegung. Als ich 12 Jahre alt war, da hab ich ein Schulpreisausschreiben gemacht. Da hab ich gewonnen. Wissen Sie, was ich gewonnen habe? Einen Rundflug über das oberschlesische Industriegebiet. Drei Klassenlehrer und drei Jungs flogen mit. Dieser Flug war so wunderschön; ab dem Tag gab es für mich nur noch die Fliegerei.
Die Zeit des Krieges Vom ersten April 1940 bis zum 1. April 1943 habe ich eine Ausbildung zum Flugzeugmechaniker in Berlin gemacht. In der Zeit habe ich von der Pike auf gelernt, wie ein Flugzeug funktioniert. Während meiner Ausbildung bin ich auch 3- oder 4-mal geflogen. Und immer, wenn ich in den Ferien nach Hause zu meinen Eltern kam, haben die sich sehr gefreut. Mein Vater hat einmal zu mir gesagt: „Junge, immer wenn ich dein Zeugnis nach Hause bekomme, bin ich so stolz auf dich. (Herr H. wird sentimental und hat Tränen in den Augen). Direkt nach der Ausbildung bin ich nach Clermont-Ferrand in Frankreich zur Luftwaffe gekommen. Dort bin ich fast täglich Einsätze geflogen. Damals war ich 18 Jahre jung. Wissen Sie, ein Jahr im Krieg wollte gar nicht enden. Wir wurden gar nicht lange eingeführt. Ich habe den Schlüssel für mein Flugzeug bekommen und dann hieß es: „Fliegen Sie los, Sie sind doch Flugzeugmechaniker“, und ich habe gedacht, hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Bis 1944 bin ich jeden Tag geflogen und hatte fast immer Feindberührung. Wir wurden ständig beschossen und oft kamen drei oder vier Kameraden nicht zurück vom Einsatz. Manchmal waren die Verlust unter den Kameraden riesengroß. Besonders gefährlich waren die Bombenangriffe auf unseren Stützpunkt. Einmal war wieder Luftalarm und wir mussten in einen großen Bunker, der für 70 oder 80 Menschen Platz hatte. Die Luft war da drin sehr schlecht, das kön46
nen Sie sich ja vorstellen. Plötzlich sagte mir eine innere Stimme; Karl Heinz, du musst sofort raus hier. Ich bin dann raus, ich hab die feindlichen Bomber schon gehört und bin schnell zum Waldrand gelaufen. Dort gab es kleine Einmannbunker. Da bin ich rein. Im selben Moment schlug eine Bombe in den großen Bunker ein, wo ich vorher noch drin gewesen war, und alle waren tot. An diesem Tag hat mich mein Schicksal vor meinem Ende bewahrt. Im Juli 1944 musste ich mit Kameraden mit einer Ju 52 nach Augsburg fliegen, um Ersatzteile zu holen. Wir sind dort gelandet und das Flugzeug wurde gerade neu aufgetankt, als es wieder Fliegeralarm gab. Ich stand mit meinen Kollegen bei der Maschine und sehe die feindlichen Maschinen am Horizont. Ich bin dann sofort losgelaufen und habe mich am Waldrand auf den Boden geschmissen. Dann hörte ich eine Explosion. Als ich mich umdrehte, standen das Flugzeug und der Tankwagen in Flammen und meine Kameraden waren tot. Das hat mich so geschockt, dass ich dort liegengeblieben bin, bis es dunkel wurde. Als ich am Abend zurück bin, hatte man mich schon für tot erklärt. Zwei Tage später sind wir mit Ersatzteilen beladen zurückgeflogen. Im Herbst 1944 wurde ich mit meiner Maschine abgeschossen und landete in russischer Gefangenschaft. Dort habe ich zwei Jahre auf dem Boden geschlafen, nur mit einer dünnen Decke. Am Tag gab es eine Scheibe Brot und eine Wassersuppe mit zwei, drei Erbsen drin. Als ich Herrn H. an dieser Stelle unterbreche und frage, wie man so etwas überleben kann, lächelt er und antwortet: „Scheinbar kann man es. Wir haben ja auch sonst noch alles gegessen, was um uns herum kroch, alles Ungeziefer. Entweder es blieb drin oder es kam ganz schnell wieder raus.“ In der Gefangenschaft hab ich dann auch noch Typhus bekommen und auch überlebt, weil ich jeden Tag Wasser mit zerriebener Holzkohle getrunken habe. Den Tipp hatte ich von einer polnischen Krankenschwester. Der schlimmste emotionalste Tag in meinem Leben war der 8. Mai 1945, der erste Tag im Frieden. An diesem Tag stand ich am Stacheldrahtzaun des Gefangenenlagers und musste den russischen Soldaten beim Feiern zuschauen. In der einen Hand den Wodka und in der anderen Hand die Pistole, mit der sie vor Freude in die Luft ballerten und schrien: „Der Krieg ist zu Ende, der Krieg ist zu Ende.“ Da musste ich weinen und habe mir das erste Mal die Frage gestellt, wofür das alles, und ich habe mir geschworen, nie wieder in eine Partei einzutreten oder einer Organisation zu folgen. Ich hatte so oft fast mein Leben verloren und viele meiner Kameraden und Freunde waren sinnlos gestorben. Das war ein Teil meiner Jugend.
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Zweites Interview mit musikalischer Begleitung Im ersten Interview habe ich sehr viel über Herrn H. Leben erfahren. Interessant für mich war, dass ich über seine Kindergartenzeit 1927 bis 1930 fast gar nichts erfahren habe. Wenn Sie das erste Interview aufmerksam gelesen haben, werden Sie dieses auch festgestellt haben. Ich erkläre Herrn H., nachdem wir ein wenig geplaudert haben, dass ich heute mit ihm zusammen einige Lieder singen werde, die er vermutlich aus seiner Kindergartenzeit kennt, und wir mal schauen werden, ob durch die Lieder die Erinnerung an diese Zeit zurückkehrt. Er ist damit einverstanden. Ich beginne mit dem Lied „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ und er beginnt sofort mitzusingen. Begleitet werden wir beide durch die sanften Töne meiner Gitarre. Nach dem Lied frage ich ihn, ob ihm aus seiner Kindergartenzeit nun mehr einfällt. Mit einem bübischen Lächeln im Gesicht erzählt er mir von Schwester Augusta, die alle Jungs küssen wollten, weil sie zwei Goldzähne hatte. Und von Schwester Theokrata und von den großen Hauben, die die Vincentinerinnen auf dem Kopf hatten. Wir stimmen mit „Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh“, ein weiteres Kinderlied an und Herr H. erzählt, wie sich die Mädchen und die Jungen im Kreis an die Hand gefasst haben und gesungen haben. Er erzählt von den Holzkisten, in denen das Spielzeug verstaut war. An das kleine Holzauto erinnert er sich am besten. Im Sommer haben die Jungs draußen Fußball gespielt. Den Ball hatte Schwester Augusta selbst gemacht, aus Stoff. Und so erzählt Herr H. und erzählt und ich kann gar nicht glauben, dass dieser Mann mit seinen 91 Jahren das alles noch weiß. Er sitzt mir gegenüber wie ein kleiner Junge und strahlt über beide Wangen. Wir singen dann noch mehr Lieder aus seiner Kindergartenzeit und irgendwie landen wir dann auch in seiner Pfadfinderzeit. Und Herr H. erzählt vom Lehrer Zöllner, der auch so eine Gitarre hatte, vom Wandern, vom gemeinsamen Singen am Lagerfeuer und noch vieles vieles mehr. Als sich der Nachmittag dem Ende neigt, frage ich ihn, ob er glaubt, dass die Musik die Erinnerung bei ihm ausgelöst habe. Er nickt und erzählt mir, dass es wirklich so war. Mit dem ersten Lied, das wir gesungen haben, war plötzlich wieder die ganze Erinnerung da, fantastisch. Offensichtlich habe ich ihn auch wohl ein wenig an seinen Lehrer Zöllner erinnert. Menschen mit Demenz, die sich nicht mehr verbal mitteilen, können wir Brücken bauen, indem wir sie an eine bestimmte Zeit in ihrem Leben erinnern und entsprechende Lieder aus dieser Zeit mit ihnen singen. Wir können uns sicher sein, dass in solchen Momenten Filme vor ihrem geistigen Auge laufen. Wir können ihnen auch Freude schenken, ohne uns mit ihnen zu unterhalten.
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Kontaktaufnahme – Mimik, Gestik und Berührung Auch wenn bei vielen demenziell erkrankten Menschen im fortgeschrittenen Stadium die Sprache weitgehend verlorengeht, haben wir trotzdem die Möglichkeit, mit ihnen in einen intensiven Kontakt zu treten. Die Mimik und die Gestik eines Menschen sagen uns etwas über sein Befinden und wir können entsprechend zurückhaltend oder offensiv reagieren, gerade so, wie es die Situation verlangt. Ein Großteil der menschlichen Kommunikation funktioniert über die Körpersprache. Im Gesicht der Menschen kann ich sehr genau beobachten, wie es ihnen gerade geht. Paul Ekmann spricht in seinen Studien von sieben Basisemotionen, die sich unter anderem im Gesicht ablesen lassen. Dazu gehören Angst, Ärger, Ekel, Verachtung, Trauer, Überraschung und Freude. Einen weiteren typischen Gesichtsausdruck sehen wir beim Schmerz. Schmerzen sind häufig der Grund dafür, dass eine so wunderschöne Sache wie die Musik nicht wahrgenommen wird. Die Basisemotionen Angst und Ärger wandeln sich während der musikalischen Veranstaltungen schnell in Freude um. Wenn ich mich dem Menschen zuwende, spiegelt sich meine innere Freude und Lust an der Musik in meinem Gesicht wider. Bei der Kontaktaufnahme mit dem einzelnen Teilnehmer ist dann meistens gleich das Eis gebrochen. Wie es in den Wald hineinschallt, so schallt es aus dem Wald heraus, ist ein sehr treffendes uraltes Sprichwort. Umgekehrt habe ich auch schon erlebt, wie der schmerzverzehrte Gesichtsausdruck des Menschen mir gegenüber auch meine innere Haltung verändert. Wenn jemand Schmerzen hat, vergeht mir selbst in diesem Moment ebenfalls die Lust auf die Musik, ich leide mit. Neben der Musik spielt unsere körperliche und vor allen Dingen mimische Grundhaltung eine sehr wichtige Rolle bei der Vertrauensbildung. Wenn die freundlichen Töne und Harmonien mit offenen Gesten und lächelnden Gesichtern begleitet werden, erhalten wir genau dieses zurück. Wie oft habe ich in meiner Zeit als Lehrer von den Altenpflegerinnen gehört, dass sich die Stimmung eines Mitarbeiters direkt auf den Bewohner überträgt. Eine junge Dame erzählte mir, dass sie aufgrund sehr negativer privater Ereignisse längere Zeit sehr traurig war, aber nichts über ihre Traurigkeit erzählt hat. Die Bewohner in ihrem Pflegebereich haben es trotzdem sofort gemerkt und sehr unterschiedlich darauf reagiert. Einige haben versucht, sie zu trösten, andere wurden ebenfalls sehr traurig. In der Demenz fand keine Abgrenzung statt. Das innere Leiden der Altenpflegerin übertrug sich auf die gesamte Gruppe. In einem weiteren Beispiel stellte eine Altenpflegerin fest, dass eine Bewohnerin immer sehr ängstlich und aggressiv wurde, wenn sie mit einem bestimmten Kollegen zusammen das Zimmer betrat. Daraufhin sprach sie sofort den Kollegen an, ob er wüsste, was da nicht in Ordnung sei. Der schüttelte den Kopf. Nachdem sie alle Möglichkeiten überprüft hatte, die der Grund für die Angst und Aggression sein könnten, beschloss sie, sich einmal ein bisschen 49
mehr Zeit für die ältere Dame zu nehmen. Sie ging in ihr Zimmer, setzte sich zu ihr auf das Bett und begegnete ihr mit einem sanften Lächeln. Ganz vorsichtig nahm sie die Hände der Dame und erzählte ihr, was sie an diesem Tag alles so erlebt hätte. Sofort entspannte sich die Frau und fing an, ein Kinderlied zu singen, und lächelte dabei freundlich. Die Pflegerin stimmte mit ein. Am Ende des Liedes fing die Frau an zu weinen und flüsterte der Pflegerin ins Ohr, dass sie ihr bitte helfen sollte, weil sie solche Angst vor dem Altenpfleger hätte. Der würde immer sehr grob mit ihr umgehen und sie ständig beschimpfen. Ich selbst habe miterlebt, wie eine junge Dame während der Frühstücksrunde ihren Bewohnern freudestrahlend erzählte, dass sie Geburtstag habe. Einige ihrer Bewohner stimmten sofort ein Geburtstagsständchen an und in den Gesichtern fast aller war ein Lächeln zu sehen, wie man es auf jedem Geburtstag sieht. Als die Pflegerin dann ein Geschenk ihrer Kollegen auspackte, konnte man in den Gesichtern kindliche Neugier entdecken und jeder der Anwesenden hätte am liebsten das Geschenk selbst ausgepackt. Man sollte im Übrigen einem demenziell erkrankten Menschen im fortgeschrittenen Stadium kein Geschenk zur Aufbewahrung in die Hand drücken, er macht es unter Umständen sofort zu seinem eigenen Geschenk. Hierzu eine kleine lustige Anekdote. Auf unserer ersten Veranstaltung mit Klang und Leben bekam ich von einer befreundeten Kollegin ein Geschenk und vertraute dieses noch verpackt einer demenziell erkrankten Dame an, mit der Bitte, es fünf Minuten festzuhalten, weil wir noch ein Lied spielen müssten. „Das mache ich doch gerne“, sagte sie. Wir schauten uns an und ich hatte über den Blickkontakt gleich das Gefühl, dass die Dame da wohl etwas missverstanden hatte. Wir spielten dann unser letztes Lied. Als ich mich der Dame nach dem Stück wieder zuwendete, hatte sie es bereits ausgepackt, schaute mich an und sagte: „Junger Mann, warum haben Sie mir das geschenkt, ich habe doch heute gar nicht Geburtstag?“ Warum bekomme ich das von Ihnen?“ Ich musste laut lachen, weil mir klar war, dass ich mein Geschenk nun los war, und nutzte die Situation positiv. „Ich habe Ihnen ein Geschenk gemacht, weil Sie so nett sind und ich Ihnen eine Freude bereiten wollte.“ Da strahlte sie über beide Wangen. Die Betreuerinnen haben das Mobile, an dem kleine Musikinstrumente hingen, dann in ihrem Zimmer aufgehängt. Die Dame hat später sehr viel Freude daran gehabt, wenn sich die kleinen Instrumente im Kreis drehten. Im wechselseitigen Mienenspiel versuchen wir einen Kontakt zum Gegenüber aufzubauen. Hier findet der Begriff emotionale Intelligenz Anwendung. Damit ist im weitesten Sinne gemeint, dass man situationsbedingt die Gefühle des anderen wahrnehmen kann und dazu in der Lage ist, sich ehrlich und authentisch darauf einzulassen. Ein demenziell erkrankter Mensch merkt sehr wohl, ob unser Lachen aufgesetzt ist oder ob es ehrlich ist; er sieht es in meinem Gesicht und an meiner Körperhaltung. Diese archaische Fähigkeit, die bei Kindern noch sehr ausgeprägt ist, geht im Laufe eines Lebens immer mehr 50
verloren und kehrt mit der Demenz zurück. Mein Gegenüber sieht in meinem Gesicht, ob ich mich für ihn interessiere oder ob mein Verhalten aufgesetzt ist. Bei der emotionalen Intelligenz sprechen wir nicht von einer messbaren Größe, wie dem Intelli genzquotienten. Um zu spüren, was in dem anderen vor sich geht, muss ich mich selbst auch wahrnehmen und meine eigenen Emotionen kennen. Emotionale Intelligenz ist eine Grundlage für unser positives Sozialverhalten in der Gruppe oder dem Gesprächspartner gegenüber.
Frau K. zeigt während der musikalischen Veranstaltung ausgelassene Freude. Ihr Lachen ist ansteckend und wirkt sich positiv auf die gesamte Gruppe aus. Frau K. hat in ihrem Leben gerne gefeiert und sie ist überhaupt nicht kontaktscheu. Durch ihr extrovertiertes Auftreten hat sie es natürlich sehr viel leichter, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie war ein sehr aufgewecktes Kind und in ihrem Leben ein weiblicher „Hans Dampf“ in allen Gassen. Die Lebenslust spiegelt sich in ihrem Gesicht wider.
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Frau W. hört auf diesem Bild aufmerksam zu, als ich die Geschichte erzähle, wie sich meine Eltern kennengelernt haben. Die Geschichte scheint ihr zu gefallen und sie wirkt sehr konzentriert.
Frau W. mit fortgeschrittener Demenz ist eine sehr zurückhaltende Person, die auch in ihren Emotionen sehr sparsam ist. Aber auch bei ihr gelingt es uns, ihr ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.
Frau R. ist schon über 100 Jahre alt und neben ihrer fortgeschrittenen Demenz hört sie auch noch sehr schlecht. Aber sie beobachtet sehr genau. In dieser Momentaufnahme ist sie sehr traurig und verbalisiert ihre Trauer. Sie ist in Sorge um ihre Schwester, weil sie nicht genau weiß, wo diese sich befindet.
Frau S. verzieht ihr Gesicht. Irgendetwas scheint ihr zu missfallen. Wir haben uns gerade darüber unterhalten, was man so gerne isst. Ich zähle ihr ein paar Lebensmittel auf, bei dem Wort „Leberwurst“ verzieht sie das Gesicht. Sie erzählt mir dann, dass sie Leberwurst in ihrer Kindheit jeden Tag essen musste und sich mittlerweile davor ekelt. Ihre Kindheit begann vor über 100 Jahren, unglaublich.
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Lieder und Geschichten – Eine lebenslange Verbindung In einem Abstand von fünf Jahren nehme ich regelmäßig an einem Klassentreffen der 10. Klasse Jahrgang 1978 teil. Je älter ich werde, desto schneller vergehen diese fünf Jahre und man ist immer wieder erstaunt darüber, wie schnell das Leben an einem vorbeizieht. Auf unseren Klassentreffen sitzen wir meistens bis spät in die Nacht und unterhalten uns über die alten Zeiten. Wer gerade beruflich was macht oder wie sich die aktuelle Lebenssituation gestaltet, ist auf unseren Treffen von geringem Interesse. Schon nach kurzer Zeit sind wir wieder die Klasse 10 a und benehmen uns wie 15-Jährige. Jeder gräbt seine Erinnerungen aus, die er an gemeinsame Erlebnisse, an sein Elternhaus oder an die Schulzeit hat. Die Rolle, die wir in der Schulzeit in der Klasse hatten, ist uns auf den Leib geschrieben, auch wenn wir uns persönlich weiterentwickelt haben. Im jetzigen Leben sind meine Schulfreunde von damals Lehrer, Ärzte, Altenpfleger, Ergotherapeuten, Handwerker, Kaufleute, Kraftfahrer oder Unternehmer und viele haben schon längst eigene erwachsene Kinder. Je älter ein Mensch wird, desto mehr beschäftigt er sich mit seiner Vergangenheit und genießt die Erinnerungen vollen Zügen. Wir reflektieren unser bisheriges Leben, stellen mitunter eine Bilanz auf und kommen unter dem Strich häufig zu dem Ergebnis, dass es ja bisher eigentlich ganz schön war oder dass es immer ein auf und ab gibt. Die Rückblicke fallen unterschiedlich aus und doch möchten wir uns bei einem Klassentreffen nur an die angenehmen Ereignisse des Lebens erinnern. An die Streiche in der Schule, an die Klassenfahrten, an die ersten Küsse. Die Schulzeit hat eine lebenslange Verbindung geschaffen. Wenn sich meine Mitschüler an den Schüler Graziano erinnern, fallen ihnen immer wieder Geschichten ein, die mit meiner Musikalität verbunden sind. Sie erinnern sich an Erlebnisse, die ich selbst überhaupt nicht mehr vor Augen habe. Daran, dass wir gemeinsam Lieder gesungen und sogar komponiert haben. Die Erinnerung an mich und meine Gitarre öffnet eine Schatztruhe an Erinnerungen.
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Die Basis der musikalischen Biografiearbeit sind Lieder aus der Kinder-, Jugend- und jungen Erwachsenenzeit. Die Liste der bekannten und erinnerten Lieder im Leben eines Menschen ist lang und fast jeder Mensch knüpft bei einem bestimmten Lied an eine bestimmte Erinnerung an. Wenn ich mir meine persönliche Liste der Kinderlieder anschaue, fällt mir zu dem Lied „Hoppe, hoppe Reiter, wenn er fällt dann schreit er“ sofort eine Situation aus meiner Kindheit ein. In der Küche meiner Mutter sitze ich auf dem Schoß meines Opas, der dieses Lied singt und mich durch das Wippen mit den Beinen immer ein Stück in die Luft schleudert und mich dabei an den Händen festhält. Ich habe ein Kribbeln im Bauch und bin ein glückliches Kind, das in die strahlenden Augen meines Opas schaut. Meine Mutter kocht derweil das Mittagessen. Es riecht nach Sauerkraut und Kartoffelbrei. Der Duft von gebratenen Frikadellen und Zwiebeln liegt in der Luft. Opa ist zu Besuch. Er hat eine Seemannsmütze auf und seine Hemdsärmel hochgekrempelt. Mein Vater sitzt ebenfalls am Küchentisch und Opa und Papa haben jeder eine Bierflasche vor sich stehen. Es ist Sonntag, Frühschoppenzeit. Anschließend essen wir gemeinsam und Opa geht wieder nach Hause. Ich klettere auf die Küchenbank am Fenster und winke ihm zu, bis er hinter einer Straßenkurve verschwindet. Singen wir mit den älteren Menschen Lieder aus ihrer Jugend, werden wir ähnliche Erinnerungen erzeugen. Eine musikalische Bewohnerrunde hat immer einen allgemein unterhaltenden Charakter. Die Menschen erinnern sich gemeinsam an schöne Erlebnisse aus ihrer Vergangenheit. Es besteht wenig Spielraum, um tiefer in die Lebenswelt des Einzelnen einzutauchen. Die Bereitschaft, sich in der Gruppe zu öffnen, ist nur begrenzt vorhanden, da sich ja die Teilnehmer untereinander fremd sind. Ganz andere Erfahrungen mache ich, wenn ich die Bewohner mit meiner Gitarre auf ihren Zimmern besuche. Bevor ich jedoch mit dem Bewohner zusammen musiziere, muss ich sein Vertrauen gewinnen. In meiner langjährigen Erfahrung als Dozent in sehr sensiblen menschlichen Themenfelder, wie Umgang mit Sucht, Gewalt in der Pflege, Sterbebegleitung oder psychiatrische Erkrankungen im Alter, habe ich die Erfahrung gemacht, dass Menschen viel eher dazu bereit sind, etwas von sich zu erzählen, wenn ich mich zuerst öffne und dazu bereit bin, aus meinem Leben zu erzählen. Wer sich selbst öffnet, wird über kurz oder lang erfahren, dass es sein Gegenüber auch tut. Die musikalische Arbeit mit einzelnen Personen gestaltet sich meistens sehr viel persönlicher und geht mehr in die Tiefe als die Arbeit in der Gruppe. Dieses gilt aber auch für die musikalische Runde. Hier ist es ratsam, im Zusammenhang mit der Musik Gesprächsthemen zu wählen, die einen angenehmen Charakter haben, wie das Freizeitverhalten, die Hobbies und die Liebe. Manche Menschen haben das Bedürfnis, aus den sehr unangenehmen Phasen ihres Lebens zu berichten. Da viele Menschen der Generation 80 plus durch Kriegserlebnisse bis in die Gegenwart traumatisiert sind, rücken furchtbare Kriegserlebnisse immer wieder in den Mittelpunkt der Erinnerung, ob wir es wollen oder nicht. In diesen Phasen können wir zuhören oder bei 55
besonderer Schwere Impulse der Ablenkung setzen, indem wir den Bewohner freundlich unterbrechen und durch geschicktes Fragen und Einbringen neuer Lieder aus dem Kriegserlebnis herausführen. Unsere Arbeit erfordert ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen, das wir auch als Empathie bezeichnen. Damit ist die Fähigkeit gemeint, sich in die Gefühls- und Lebenswelt des anderen hineinzuversetzen und ihn dort zu begleiten und in schwierigen Situationen emotional zu unterstützen. Wir freuen und wir trauern gemeinsam mit ihm. Wir sind bereit, sein Lachen und seine Schmerzen für den Moment zu teilen. Sowohl in der Gruppenarbeit als auch in der Einzelbetreuung nutze ich für den Einstieg in ein Gespräch, die Möglichkeit aus meinem eigenen Leben zu erzählen. Die Menschen merken dadurch, dass auch ich dazu bereit bin, mich ihnen zu öffnen. Und wenn ich mit Freude erzähle und die Menschen mir diese Freude anmerken, fangen auch sie an zu strahlen. Ich lasse meine Blicke durch die Runde wandern und trete in den Blickkontakt ein.
Um mit den demenziell erkrankten Menschen in ihre ganz persönliche Erinnerung einzutauchen, erzähle ich zwischen zwei Liedern, die das Thema Liebe und Kennenlernen behandeln, gerne die Geschichte, wie sich meine Eltern in den fünfziger Jahren kennengelernt haben:
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Nach der Vertreibung aus Schlesien fand meine Mutter, wie schon erwähnt, in Westdeutschland, genauer gesagt in der kleinen Stadt Nordhorn an der holländischen Grenze, eine neue Heimat. Eine Freundin, die sie dort kennenlernte, erzählte ihr davon, wie schön es doch im Süden Europas sei und von der italienischen Schweiz, in die sie zum Arbeiten gehen würde und um das Leben zu genießen. Ja das Leben endlich genießen, diesen Wunsch zumindest verspürte eine ganze Generation der Kriegskinder, auch wenn viele das nach ihren Kriegserlebnissen nicht mehr wirklich konnten. Einige Zeit, nachdem die Freundin meiner Mutter Nordhorn verlassen hatte, beschloss meine Mutter ebenfalls, ihr zunächst für eine begrenzte Zeit zu folgen. Der schicksalshaften Begegnung meiner Eltern sollte nun nichts mehr im Wege stehen. 1952 folgte meine Mutter ihrer Freundin in die Schweiz und arbeitete dort als Kellnerin in einer Hotelgastronomie. Dort kehrten jeden Abend nach einem langen harten Arbeitstag die italienischen Gastarbeiter ein, um ordentlich zu essen, reichlich zu trinken und bedingungslos charmant mit den jungen Kellnerinnen zu flirten. Die Damen, die zumeist aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz kamen, waren berauscht von diesen muskulösen, dunkelhaarigen Männern mit ihren Goldkettchen um ihre gebräunten Hälse. Wenn sie an ihren Tischen saßen und ihren Rotwein tranken und ihre Zigaretten rauchten, versprühten sie einen unwiderstehlichen Charme auf die jungen Damen und schmissen mit Komplimenten nur so um sich. Sie lachten sie mit strahlend weißen Zähnen an, scherzten mit ihnen und sagten ihnen immer wieder, wie schön sie doch seien. Die Hormone spielten verrückt und was die Liebe betraf, ging es in den Jahren kreuz und quer und hin und her. Und da es die Pille noch nicht gab und Verhütung auch kein so großes Thema war, wurden viele der Kolleginnen meiner Mutter in den kleinen Hotelzimmern, mit Blick auf die Berge, schwanger und kehrten entweder allein oder mit ihrem italienischen Freund nach Deutschland zurück oder Italien wurde ihre neue Heimat. Meine Eltern haben mir Bilder aus dieser Zeit gezeigt, auf denen man junge Kellnerinnen, unter anderem meine Mutter, in enger Umarmung mit lachenden schwarzhaarigen Männern sieht. In dieser ausgelassenen Jugendzeit müssen sich dann mein Vater und meine Mutter auch irgendwie nähergekommen sein. Wie genau das abgelaufen ist, haben sie mir nie erzählt, aber ich kann mir sehr wohl meinen Teil dazu denken, was mir als Kind und junger Mann nicht möglich war. Damals war ich felsenfest davon überzeugt, meine Eltern hätten kein Sexualleben, ich konnte es mir einfach nicht vorstellen. Nach einer ausschweifenden und lebensbereichernden Zeit kehrte meine Mutter im Herbst 1954 nach Deutschland zurück und Livio mit sehr viel Herzschmerz nach Italien und somit trennten sich die Wege meiner Eltern erst einmal. Wenn es so sein sollte, würde Gott Amor schon für ein Wiedersehen sorgen. Sieglinde wohnte nach ihrer Rückkehr gemeinsam mit ihren Eltern und drei Geschwistern, zwei Brüdern und einer Schwester in einem kleinen Häuschen am Rande der Stadt und hatte meinen Vater schon bald vergessen. Sie fand Arbeit in einer Textilfabrik, in der ihre Hauptaufgabe darin 57
bestand, Baumwohlfäden, die an riesigen lauten Maschinen zu Garn gesponnen und aufgespult wurden, zu flicken, wenn diese gerissen waren. Einen Teil des Geldes, dass sie verdiente, zahlte sie als Haushaltsgeld an meine Oma aus und den anderen Teil sparte sie. Mein Vater verbrachte den italienischen Winter in tiefer Depression auf dem Hof seiner Eltern und sah, wohin er auch blickte, keine rosige Zukunft für sein Leben. Sein Glück wartete in der Ferne auf ihn. Er musste immer nur an meine Mutter denken, von der er tragischerweise nur ihren Vornamen kannte und den Namen der Stadt, in der sie lebte. Er litt so sehr unter der Trennung, dass er wenige Wochen später einen kleinen braunen Koffer packte, sich in einen Zug setzte und sich auf die lange Reise zu meiner Mutter begab. Als der Bundesgrenzschutz an der deutsch-österreichischen Grenze seinen Personalausweis sehen wollte und ihn auf Deutsch fragte: „Was ist ihr Reiseziel?“, verstand er zwar kein Wort und antwortete ganz aufgeregt: „Sieglinde“, woraufhin beide Grenzschützer ihn anlächelten, der eine ihm zuzwinkerte und sie ihm eine gute Reise wünschten. An einem schönen Sonntag im Mai 1955 kam mein Vater am Bahnhof in Nordhorn an. Es war ein strahlend blauer Tag und der Wind wehte kalt aus Osten, so dass sich die Luft auf nur knapp 13 Grad erwärmte. Mein Vater erzählte mir später, dass er es kaum glauben konnte. Blauer Himmel, strahlender Sonnenschein und trotzdem diese Kälte. Das kannte er nicht. Da er kein Wort Deutsch sprechen konnte, war die Aufgabe, meine Mutter zu finden, umso schwieriger. Jeden, dem er begegnete, stellte er folgende Frage: Sieglinde? Viele konnten mit diesem Namen nichts anfangen, einige sehr wohl. Mit Gesten und mit für ihn unverständlichen Worten wiesen sie ihm die Richtung. So kam es, dass er zwei Stunden, nachdem er aus dem Zug ausgestiegen war, vor dem Haus meiner Großeltern stand. Mein Opa öffnete ihm die Tür und mein Vater sagte: „Buon Giorno, Sieglinde?“ Da mein Opa nichts mit dem jungen Mann anfangen konnte, ihn aber auch nicht auf der Straße stehen lassen wollte, bat er ihn herein und bot ihm eine Flasche Bier an. Meine Mutter war bei 58
der Ankunft meines Vaters gerade mit ihren Freundinnen auf dem Schützenfest. Derweil hatten mein Opa und mein Vater schon das vierte Bier geöffnet und jeder erzählte dem anderen etwas in seiner eigenen Sprache. Nach jedem Bier schienen sie sich besser zu verstehen. Als meine Mutter schließlich nach Hause kam, fiel sie aus allen Wolken. Damit hatte sie nicht gerechnet. Aber er durfte bleiben. Um die Geschichte nun zum Abschluss zu bringen, sei noch gesagt, dass mein Vater herzlich von meinen Großeltern aufgenommen wurde. Die beiden heirateten 1956 und waren bis zum Tode meiner Mutter 55 Jahre verheiratet. Ich erzähle diese Geschichte immer wieder gerne, weil sie für mich etwas Besonderes ist. Spätestens nach dieser Geschichte sind bei unseren Gästen alle Kommunikationskanäle offen. Da sie einen sehr persönlichen, familiären Charakter hat, ergibt sich jetzt für jeden die Möglichkeit, sich an seine eigene erste Liebe, an seine Großeltern oder Eltern zu erinnern. Weitere Themen können die Reise nach Italien, die Schweiz oder auch das Kennenlernen des eigenen Partners auf dem dörflichen Schützenfest sein. Auch erinnert die Geschichte an das Reisen mit der Bahn oder an die ersten Gastarbeiter in Deutschland. Somit basiert die Interaktion zum einen auf der Einbindung in musikalische Aktivitäten und zum anderen auf den Geschichten, die wir erzählen. Es wird viel gelacht und es entsteht ein Grundvertrauen und das Gefühl der Geborgenheit. Menschen mit leichter Demenz können in der verbalen Kommunikation den Betreuern noch klar mitteilen, was ihnen gefällt und was ihnen Freude macht. Mit fortschreitender Demenz wird es wichtig, auf die Mimik und Gestik zu achten und biografische Fragen so zu stellen, dass der Betreffende mit Ja oder Nein antworten kann. Dieses kann auch in einem weit fortgeschrittenen Stadium noch funktionieren. Während unserer musikalischen Veranstaltungen hörte ich immer wieder Sätze wie: „Mein Vater hat auch Klavier gespielt“ oder „Mein Mann konnte Trompete spielen, ach und wie wunderschön!“ An einer unserer ersten musikalischen Veranstaltungen nahm ein älterer Herr teil, der mit zusammengesunkenem Körper im Rollstuhl saß und so aussah, als würde er tief schlafen. Seine Augen waren fest geschlossen. Ich fragte die verantwortliche Ergotherapeutin, ob es nicht besser wäre, den Herrn ins Bett zu bringen, damit er entspannt weiterschlafen könnte. Sie erklärte mir daraufhin, dass sich der Mann in einem komaähnlichen Zustand befinde und auf Ansprache nicht reagiere. Man wolle ihm aber immer wieder die Möglichkeit geben, an kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen. Der Herr habe bis in die 70er-Jahre selbst Gitarre in einer Band gespielt. Wir starteten daraufhin mit unserer musikalischen Zeitreise. Alle Teilnehmer unserer Gruppe nahmen von Anfang an auf die eine oder andere Weise an unserer Musik teil, nur der ältere Herr mit Hut blieb völlig teilnahmslos. Ich überlegte mir, auf welche Art ich ihn vielleicht doch erreichen könnte und entwickelte folgende Idee: 59
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Ich sprach ihn an und erzählte ihm, dass ich genauso wie er Musik mache und dass ich ihm jetzt meine Gitarre geben würde und mir wünschen würde, dass er ein wenig mit uns gemeinsam musiziert. Ich stellte daraufhin meine Gitarre vor ihn hin und legte seine Hand an den Steg. Er hielt sie fest und ich hatte sofort das sichere Gefühl, dass er gut auf sie aufpassen würde. Was er berührte, war ihm sehr vertraut. Wir musizierten weiter und eine ganze Weile geschah nichts. Der Herr hielt meine Gitarre fest, aber auch das war schon sehr bemerkenswert. Umso erstaunlicher war das, was dann geschah. Plötzlich richtete er sich langsam auf, öffnete die Augen und sah sich um, nahm die Gitarre in die Hand und fing an mitzuspielen. Wir alle waren völlig sprachlos und gleichzeitig sehr berührt. Nachdem wir unser Musikprogramm beendet hatten, nahm ich die Gelegenheit wahr und sprach den Mann an. Ich stellte ihm gezielte Fragen zu seiner musikalischen Vergangenheit und er trat tatsächlich mit mir in ein Gespräch ein. Die Betreuer konnten es kaum fassen. An diesem Beispiel wird deutlich, dass Musikinstrumente nicht nur dem Instrumentieren dienen, sondern auch vertraute Gegenstände sind, die von Kindern schon früh als etwas Positives wahrgenommen werden. Instrumente wecken Erinnerung an Tanzabende, Schützenfest, Konzerte oder sonstige musikalische Veranstaltungen. Auch in den 20er- und 30er-Jahren gehörte gespielte Musik zu jedem Fest dazu. Das sommerliche Schützenfest oder der Jahrmarkt waren Orte, an denen Kinder sich wohlfühlten. Jedes Kind dieser Generation hat eine Erinnerung an eine Blaskapelle oder einen Leierkasten. Im Unterschied zur Musik aus dem Lautsprecher bietet die gespielte Musik viel mehr Reize. Der demenziell erkrankte Mensch hört nicht nur zu, sondern er beobachtet die Aktivität um sich herum und nimmt aktiv am Geschehen teil.
Die Lieder eines Lebens In der Einleitung dieses Buches habe ich von meiner kindlichen Faszination über den Schallplattenschrank meiner Oma erzählt und von der Bedeutung des Musizierens mit der Gitarre im Zeltlager. Mir fallen noch unendlich viele Geschichten aus meinem Leben ein, die unwiderruflich an die Musik gekoppelt sind. Bei dem Kinderlied Hänsel und Gretel erinnere ich mich an eine Hänsel und Gretel Theateraufführung in der Stadthalle meiner Heimatstadt, wo mir die böse Hexe sehr große Angst eingejagt hat und ich vor Entsetzen und Unverständnis erstarrte, als die Kinder sie in den Ofen stießen. In der Grundschule habe ich zum Fasching in der 2. Klasse das Tonbandgerät meiner Eltern mitgeschleppt. Auf der einzigen Tonbandspule, die ich mitgenommen hatte, waren deutsche Schlager und Volksmusik zu hören. Ganz frei von dem Gedanken, welche Musik politisch korrekt und welche nicht korrekt war, hatten wir Kinder unseren Spaß beim Fasching und sangen und tanzten zu den Klängen der Musik. Diese Unbeschwertheit, sich einfach an jeglicher Form der Musik zu erfreuen, änderte sich später 61
dann gänzlich. In der Mittelstufe der Schule entstanden Stimmungen und Meinungen zu der Musik, die gehört wurde. Die 1970er-Jahre waren voll musikalischer Gegensätze. Disco und Punk, Jazz, Folk und Blues, Schlager und Rock und Pop prägten diese Zeit und man hatte sich zu entscheiden zwischen T-Rex und The Sweet und somit zwischen doof, mittelmäßig begabt, arrogant oder intellektuell. Ein richtig cooler Rocker war man nur, wenn man AC/DC hörte, eine Memme, wenn man ABBA gut fand. Stand man als cooler Typ trotzdem auf ABBA, durfte man sich dieses auf keinen Fall anmerken lassen. Trotzdem existierten alle Musikrichtungen in friedlicher Koexistenz neben einander. Bis in die heutige Zeit klingen die Songs von Bob Dylan, Queen, Janis Joplin, Rod Steward, The Doors und Led Zeppelin nach. Für meine Generation war diese Musik eng verbunden mit der ersten Liebe, dem Engtanz, schüttelnden Mähnen und dem anarchistischen Ausdrucktanz. Tanzschulen waren verpönt. Partys feiern, Bier trinken und ab und zu mal an einem Joint ziehen war für die meisten Jugendlichen meiner Generation völlig normal, wenn auch Letzteres streng verboten und deshalb so reizvoll für die heranwachsenden Jugendlichen. Im Gegensatz zu den Kids der heutigen Generation, die sich häufig überhaupt nicht vorstellen können, ihr Elternhaus jemals zu verlassen, wollten wir nur weg, weit weg von unseren Eltern, die wir spießig fanden und konservativ. Wir pfiffen auf ihre Meinung und kamen Nächte lang nicht nach Hause, weil wir mit unseren Freunden und wegen der vielen hübschen Mädchen völlig die Zeit vergaßen. Musik stand immer im Mittelpunkt, in der eigenen Bude, im Auto, auf der Party, in den Jugendzentren und Diskotheken. Auf den Schulhöfen rauchte man heimlich, wenn man noch keine 16 Jahre alt war und unterhielt sich über die Trends und Bands und natürlich über die Mädchen in der Klasse, bei denen wir Jungs ebenso Thema waren. Perspektivisch gesehen wird die Musik der 60er-, 70er- und 80er-Jahre für die ältere Generation der Jahrgänge 2030, 2040 und 2050 eine sehr wichtige Rolle spielen. Der demenziell erkrankte Mensch der Zukunft erlebt auf seiner Reise in die Vergangenheit Love, Peace und Rock ’n’ Roll. In der Kinder-, Jugend- und jungen Erwachsenenzeit der 20er- und 30er- Jahrgänge spielen neben den Kinderliedern, die heute auch noch jeder kennt, Volkslieder und der deutsche Schlager eine sehr wichtige Rolle. Die sogenannte „Black Music“, die vom amerikanischen Kontinent in den 20er-Jahren nach Deutschland gelangte, war vorwiegend geprägt durch Jazz und Blues Einflüsse. Die Stars aus Amerika hießen Josephine Baker und Louis Armstrong. Da die englische Sprache zur damaligen Zeit kaum von jemandem beherrscht wurde, hat diese Musik für die Arbeit mit demenziell erkrankten Menschen kaum eine Bedeutung.
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Musik ist ein sehr emotionales Ausdrucksmedium für demenziell erkrankte Menschen. Sie leiden häufig unter ihrer ängstlichen Grundhaltung, die durch ihre Orientierungslosigkeit entsteht. Musik erzeugt ein Gefühl der Sicherheit und Orientierung.
Wenn wir unser Leben rückwirkend betrachten, reduzieren sich unsere Lebensjahre auf wesentliche Momente, die wir in wenigen Stunden zusammenfassen können. Wir können uns nur an ganz bestimmte Situationen im Guten wie im Schlechten erinnern. Diese Erinnerungen sind immer gepaart mit einer starken emotionalen Berührung. Medizinisch spielt die Ausschüttung der Hormone Dopamin, Serotonin oder Noradrenalin eine wesentliche Rolle. Wenn ich in meiner Erinnerung bei meiner Oma im Wohnzimmer auf dem Teppich sitze, kommt es mir so vor, als wäre es gestern gewesen. Alle Schallplattenhüllen, alle Lieder, der Schallplattenschrank, das alte Radio auf ihm, ja das ganze Wohnzimmer meiner Oma ist in meinem Kopf abgelichtet. Ich habe gerade eine Schallplatte aufgelegt, höre die Knistergeräusche am Anfang der Tonspur, bis aus dem Lautsprecher das Lied „Junge komm bald wieder“ von Freddy Quinn ertönt, das von einem jungen Mann handelt, der mit einem Schiff in die weite Welt hinausfährt. Seine Mutter scheint sich sehr große Sorgen um ihn zu machen. Auf den Knien hockend fahre ich 63
mit einem Aschenbecher über den Teppich, der für mich das große Meer ist, ebenfalls zur See hinaus. Ich bin plötzlich der Junge in dem Lied und beschließe, meine Mutter nie zu verlassen. Eindrücke, die uns sehr nahegehen, sind im Positiven wie im Negativen in Momentaufnahmen oder als Film in unseren Erinnerungen abgespeichert. Wer hat als Kind nicht mit offenem Mund gestaunt, als ihm plötzlich ein riesengroßer Elefant im Zoo den Rüssel soweit entgegengestreckt hat, dass man ihn berühren konnte. So ein Bild bleibt ein Leben lang gespeichert. Wer kann sich nicht an sehr emotionale Momente wie die erste große Liebe oder an die Beerdigung der Oma oder eines nahen Verwandten erinnern? Im gemeinsamen Musizieren und Singen begeben wir uns auf die Suche nach den angenehmen Erinnerungen demenziell erkrankter Menschen. Momente in der Geborgenheit des Schoßes der Familie oder beim Spielen mit den Nachbarskindern. Wir begleiten sie auf dem Weg in die Tanzschule, zum Wochenendtanz oder ins Kino.
Das aktive Musizieren hat bei älteren Menschen einen sehr hohen Stellenwert. Volkslieder und Schlager sind, wie schon erwähnt, prägend für diese Generation und sind im Langzeitgedächtnis abgespeichert. Sie können problemlos abgerufen werden, weil sie in einer frühen Lebensphase erlernt wurden oder mit einer tiefen emotionalen Erinnerung verknüpft sind. 64
Auch das Tanzen und Schunkeln ist für diese Generation etwas völlig Normales. Aktive Musikgestaltung fördert die Bewegung: „Wer rastet, der rostet!“ Bewegung wirkt stimmungsaufhellend und antidepressiv. Sich zur Musik zu wiegen oder in die Hände zu klatschen bereitet den an Demenz erkrankten Menschen sehr viel Freude. Wenn ich während unserer Klang und Leben Veranstaltungen die älteren Damen zum Tanz auffordere, gibt es so gut wie nie einen Korb. Beim Tanzen erzählen mir die Damen dann häufig von ihren Lebenspartnern, die sie wiederum beim Tanzen kennengelernt habe. Demenziell erkrankte Menschen sehnen sich nach Gemeinschaft mit anderen, die durch das Musizieren entsteht. Gemeinsam mit vertrauten Menschen zu musizieren verbindet auf ganz besondere Weise. Menschen, die an Demenz erkrankt sind, leben häufig in Vereinsamung, Isolation und Sprachlosigkeit an einem inneren Ort, den wir nicht kennen. Musik fördert die Erinnerung und emotionales Erleben in der Gruppe. Während unserer Musikveranstaltungen spielen und singen wir unter anderem das Lied „Schön war die Zeit“, das von der Liebe zur Heimat handelt, also von der Region, in der man in der Regel geboren wurde und aufgewachsen ist. Nachdem dieses Lied, das ältere Menschen sehr emotional berührt und bei dem alle aus voller Brust mitsingen, ausgeklungen war, griff eine ältere Dame nach meinem Arm und sagte: „Ich bin im Harz geboren und groß geworden. Mit meinem Bruder, der zehn Jahre älter war als ich, habe ich viel erlebt. Der hat mich immer überall hin mitgenommen, egal wo er hingegangen ist. Ich musste mit, meine Mutter bestand darauf. Ich bin aber auch gerne mitgegangen. Wir sind gemeinsam Ski und Schlitten gefahren und waren bis zum Sonnenuntergang draußen. Mein Bruder ist ein sehr netter Junge, den ich sehr mag.“
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Die Dame hatte schon das hohe Alter von 102 erreicht und ihr Bruder ist schon vor langer Zeit verstorben. Für sie lebt er noch und sie selbst antwortete mir auf die Frage, wie alt sie denn sei, dass sie gerade erst 70 geworden ist. Das ist ihre Realität in der Demenz. Die Erinnerung an die Zeit ihrer Kindheit, hervorgerufen durch die Musik, schafft für die Dame eine eigene Identität und lässt mich spüren, wo sie herkommt und wer sie ist. Jeder Mensch braucht die Erinnerung an sein eigenes Leben, ist diese durch die Demenz auch häufig auf die erste Lebenshälfte reduziert. Musik öffnet die Pforte zur Vergangenheit, die zur Gegenwart wird. Demenziell erkrankte Menschen fangen an, aus ihrem Leben zu erzählen. Somit erfahren wir etwas über ihre Geschichte, das wir für die Gestaltung der alltäglichen Betreuungsarbeit nutzen können. Die Mitarbeiter der sozialen Betreuung fertigen uns nach einer Veranstaltung immer einen Bericht an, in dem sie dokumentieren, was sie während der Klang und Leben Veranstaltung bei ihren Bewohnern an Veränderungen beobachtet haben. Die Berichte sind häufig sehr emotional geschrieben. In allen Berichten wird beschrieben, wie die demenziell erkrankten Menschen innerlich ruhig werden, aufblühen, mitgehen und sogar ihren Humor wiederfinden. Auf eine unbeschwerte Art und Weise tauchen wir in die Welt der Erinnerung ein. Mit großer Freude wird gesungen, gepfiffen, getanzt, geklatscht und geschunkelt. Im Folgenden habe ich eine Aufstellung von Liedern gemacht, mit denen sich in der Praxis ganz hervorragend arbeiten lässt. Wenn Sie diese Lieder singen und spielen, erzeugen sie automatisch eine Reaktion bei ihrem Gegenüber. Abhängig vom Grad der Demenz wird ihr Gegenüber für Sie mehr oder weniger wahrnehmbar auf die Musik reagieren. Die Palette der Lieder könnte noch sehr viel länger sein. Die hier vorgestellte Auswahl ist eine Art Chartliste. Ich habe ein Dutzend Einrichtungen gebeten, mir die Lieder aus den folgenden drei Rubriken zu nennen, die von den Bewohnern am häufigsten gehört werden.
Kinderlieder 1920 bis 1939 Die hier aufgezählten Kinderlieder sind zwischen 1800 und 1880 entstanden und sie werden teilweise heute noch in jedem Kindergarten gesungen. Jedes Kind kennt sie und sie sind die längste Zeit in der Erinnerung der Menschen mit Demenz präsent. Auch eignen sich diese Lieder sehr für ein generationsübergreifendes gemeinsames Musizieren. In den letzten Jahren sind im Netzwerk der Senioreneinrichtungen mit Kindergärten viele Singkreise entstanden, in denen Kinder mit älteren Menschen zusammen musizieren und singen. Sowohl die Kinder als auch die älteren Menschen profitieren von diesen musikalischen und menschlichen Begegnungen. Demenziell erkrankte Menschen und Kinder sprechen meistens 66
die ungeschminkte Wahrheit aus und niemand nimmt es ihnen übel. Zwischen Kindern und demenziell veränderten Menschen findet eine uneingeschränkt ehrliche Kommunikation statt, davon konnte ich mich auf unseren Veranstaltungen selbst überzeugen. Selbst bei Menschen, die annähernd sämtliche Erinnerungen und Fähigkeiten auf der Rückreise zu ihrer Geburtsstunde verloren haben, lösen diese Lieder Reaktionen aus. Wie häufig haben die Kinder der 20er- und 30er-Jahre ihren Müttern beim Singen zugehört. Während die Mutter den Haushalt erledigte, sang sie ihrem Sprössling etwas vor. Beim Kartoffeln schälen, beim Kochen, beim Wäsche waschen oder beim Putzen, das Kind war immer dabei und lauschte dem Gesang der Mutter. Die Kinderlieder der ersten Lebensjahre lassen beim gemeinsamen Musizieren vermutlich noch einmal diese Bilder der Vergangenheit aufblitzen und sie wärmen die Seele. Der kindlichen Fantasie sind bei diesen Liedern keine Grenzen gesetzt. Oftmals hat diese Fantasie einen Kurzfilm zu dem vertrauten Lied entstehen lassen, der sich auch im Spätstadium der Demenz noch abrufen lässt. Fuchs du hast die Ganz gestohlen Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh Hoppe, hoppe Reiter Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf’ Galopp Mein Hut, der hat drei Ecken Alle meine Entchen Hänschen klein ging allein Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann Ein Männlein steht im Walde Auf der Mauer, auf der Lauer
Fahrten- und Wanderlieder 1920 bis 1939 Der riesengroße Schatz der Volkslieder unterteilt sich in unterschiedliche Themenbereiche. Volkslieder wurden früher zu verschieden Anlässen gemeinsam gesungen. Es gibt Wiegen- und Kinderlieder, Liebeslieder, Heimat-, Fahrten- und Wanderlieder und viele weitere Liederthemen. Aus diesem endlosen Repertoire der deutschen Volkslieder möchte ich hier eine Auswahl an Fahrten- und Wanderliedern vorstellen, die alle im Zeitalter der Romantik entstanden sind. Hiermit wird weitgehend die Endphase des 18. Jahrhunderts und das ganze 19. Jahrhundert bezeichnet. Auch diese Lieder sind heute noch sehr bekannt, aber längst nicht so zeitlos wie die Kinderlieder. In den Schulen im Musikunterricht werden sie kaum noch gelehrt. Jugendliche der heutigen Generation kennen diese Lieder häufig nicht mehr.
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In der sozialen Betreuung gehören sie zum festen Repertoire jedes Singkreises. Die Gedanken sind frei Im Frühtau zu Berge Im schönsten Wiesengrunde Wem Gott will rechte Gunst erweisen Kein schöner Land in dieser Zeit Hoch auf dem gelben Wagen Alle Vögel sind schon da Das Wandern ist des Müllers Lust Muss i denn zum Städtele hinaus Horch, was kommt von draußen rein
Schlager 1920 bis 1939 Die 20er- und 30er-Jahren sind die erste Hochzeit des deutschen Schlagers. Die Musik hat nationalen und noch nicht internationalen Charakter. Niemand kann Englisch sprechen oder verstehen. Jazz und Blueseinflüsse ist die Musik der Intellektuellen und der Künstlerszene in den deutschen Großstädten. Die Schlagerstars dieser Zeit heißen Marlene Dietrich, Hans Albers, Comedien Harmonists oder Lilian Harvey. Der Schlager dieser Zeit ist eine einzige große Liebeserklärung an die Frau und es besteht ein hohes Bedürfnis nach Harmonie. Nach dem 1. Weltkrieg sind viele Menschen traumatisiert und sehnen sich nach einer heilen Welt, die sie enger zusammenrücken lässt. Die 20er-Jahre sind die Blütezeit des deutschen Tonfilms. Die Erfindung des Tonfilms ist unweigerlich ein unendlicher Fortschritt für die Unterhaltungsindustrie. Und natürlich spielt die Musik in den deutschen Tonfilmen eine große Rolle. Die Menschen strömen in den Großstädten zu Scharen in die Lichtspielhäuser (Kinos), in denen in den Großstädten oft mehr als tausend Menschen Platz finden. Viele der folgenden Lieder, die auch im Mittelpunkt der Klang und Leben Veranstaltungen stehen, werden auch in den damaligen Kinofilmen besungen. Auf der Reeperbahn nachts um halb eins Das gibt’s nur einmal Lili Marleen Dona Clara Veronika der Lenz ist da Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt 68
Ich brech’ die Herzen der stolzesten Frau’n Du hast Glück bei den Frau’n, Bel Ami Ein Freund, ein guter Freund Wochenend und Sonnenschein
Schlager 1950 bis 1960 Der deutsche Schlager der 50er- und 60er-Jahre ist auch tief in den Köpfen der Menschen abgespeichert. Auch hier dreht sich fast alles um die Liebe, aber auch das Verreisen ist ein Thema. Endlich dürfen die Deutschen Europa bereisen. Der VW Käfer ist das meistgefahrene Auto. Zum Tanzen trifft man sich in der Tanzstunde oder auf dem Schützenfest. Am Wochenende beim Tanz kommt man sich näher. Man verliebt sich, verlobt sich, heiratet, baut ein Häuschen und fährt mit dem Auto Richtung Süden. Die Texte dieser Zeit haben immer mehr europäischen Charakter. Der englische Krimi (Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett) oder die Liebe unter dem Eiffelturm (Ganz Paris träumt von der Liebe) sind Themen. Europa wächst langsam wieder zusammen und lauscht man dem deutschen Schlager, könnte man meinen, es hätte in Europa nie einen Krieg gegeben. In den 50er- und auch noch in den 60er-Jahren ist der deutsche Heimatfilm sehr populär. Während in den Heimatfilmen der 50er-Jahre die frühen Volkslieder noch eine große Bedeutung haben, sind es in den 60er-Jahren immer mehr die Schlager, die in den Filmen an Bedeutung gewinnen. Und während viele Heimatfilme der 50er-Jahre in schönen Landschaften und kleinen idyllischen Orten gedreht werden, spielt in den Filmen der 60er zunehmend das Großstadtleben eine wichtige Rolle. Der deutsche Film dieser Epochen beschreibt häufig eine Welt, in der es trotz aller Ärgernisse und Streitigkeiten zum Schluss ein gutes Ende gibt. Es gibt die Guten, die zum Schluss belohnt werden, und die Bösen, die bestraft werden. Während die Gesellschaft nach dem ersten Weltkrieg in einer Schockstarre verharrt und dahingehend orientiert ist, das Glück in der Befriedigung der lebensnotwendigen Dinge zu finden, herrscht jetzt Aufbruchstimmung. Harte Arbeit wird belohnt, die Deutschen können sich wieder etwas leisten. Ein Auto kaufen oder ein Haus bauen oder Geld für Freizeitvergnügen ausgeben. Die folgenden Lieder werden in dieser Zeit von Millionen von Deutschen im Radio gehört. Die Schallplattenindustrie verzeichnet Rekordumsätze damit und sie werden im Film von den Schauspielern, die manchmal auch Schlagerstars sind, gesungen. Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett Ich brauche keine Millionen Zwei kleine Italiener Caprifischer 69
Schön war die Zeit Marina Ganz Paris träumt von der Liebe Schuld war nur der Bossanova Mit 17 hat man noch Träume Ich will nen Cowboy als Mann
Die musikalische Arbeit mit demenziell erkrankten Menschen – Praxisbeispiel einer Veranstaltungsreihe In der Zeit vom 25.03.2014 bis zum 12.06.2014 waren wir zu Gast in einem Altenheim in der Nähe von Hannover. In dieser Zeit führten wir zwölf musikalische Veranstaltungen durch, an denen 10 Bewohner mit der Diagnose Demenz teilnahmen. Eine genauere Einstufung der Stadien nach einem bestimmten Bewertungsmodell wird in dieser Einrichtung nicht durchgeführt. Die Bewohner und Bewohnerinnen werden auf der Grundlage ihrer seelischen, geistigen und körperlichen Mobilität ihren Fähigkeiten entsprechend begleitet und der Begriff Demenz bemerkenswerterweise von Seiten der Verantwortlichen kaum verwendet. Zum einfachen Verstehen der Veränderungen durch die Demenz habe ich mich für diese Beobachtungsreihe am Stufenmodell der Alzheimer Gesellschaft im Kreis Warendorf e.V. orientiert. Dieses Modell beschreibt in einfacher Darstellung die Verluste, die Menschen mit fortschreitender Demenz erfahren, und erwies sich auch als sehr hilfreich für unsere Begegnungsreihe.
Stufenmodell der Demenz Die Demenz nach dem Stufenmodell der Alzheimergesellschaft im Kreis Wahrendorf e.V.: Demenzstufe 1 Bei der Demenzstufe 1 handelt es sich noch um eine leichte Form der Demenz. Im Vordergrund stehen Störungen des Kurzzeitgedächtnisses. Neue Informationen können nur schwer behalten werden. Die Aufmerksamkeit ist eingeschränkt, es können nicht mehr mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigt werden. Fragen wiederholen sich, Verabredungen werden vergessen, der Herd bleibt eingeschaltet. Zugleich bestehen Schwierigkeiten des Denkens. Komplexe Zusammenhänge werden nicht so schnell erfasst und die Urteilsfähigkeit lässt nach. Das Nachlassen der Leistungsfähigkeit wird in neuen, eher ungewohnten Situationen und fremden Umgebungen früher bemerkbar als im gewohnten Alltag und in häuslicher Umgebung. Bei den meisten 70
Betroffenen verliert die Sprache an Präzision. Die Wortfindung ist erschwert, der Informationsgehalt der Mitteilungen nimmt ab. Störungen in der Wahrnehmung räumlicher Verhältnisse äußern sich in Unsicherheiten beim Autofahren, beim Anziehen oder bei handwerklichen Arbeiten. Die Betroffenen sind in weiten Teilen der täglichen Verrichtungen noch sehr selbstständig. Demenzstufe 2 Bei der Demenzstufe 2 handelt es sich um eine mittelschwere Form der Demenz. Der Betroffene hat nun bereits Schwierigkeiten bei alltäglichen Verrichtungen. Die Einschränkungen des Gedächtnisses und des Denkvermögens erreichen allmählich einen Grad, der die Erkrankten von fremder Hilfe abhängig werden lässt. Auch in vertrauter Umgebung fällt das Zurechtfinden schwer. Komplizierte Aktivitäten im Haushalt oder in der Freizeit werden aufgegeben oder durch einfachere ersetzt. Die Erkrankten ziehen sich häufig zurück, nicht selten zeigen sie sich niedergeschlagen, resigniert und gereizt. Zunehmend verblasst die Erinnerung an frühere Ereignisse, sogar an die eigene Lebensgeschichte. Der Verlust der Wahrnehmung kann zu Sinnestäuschungen und illusionären Verkennungen führen. Die Betroffenen glauben sich beispielsweise im besten Erwachsenenalter und im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte. Sie suchen ihre Eltern, wollen verreisen oder zur Arbeit gehen. Manche Betroffenen sehen nicht vorhandene Personen, erkennen ihre Angehörigen nicht oder sich selbst nicht in ihrem eigenen Spiegelbild. Häufige Begleitsymptome sind wahnhafte Befürchtungen, ziellose Unruhe, Störungen des TagNacht-Rhythmus, verminderte Beherrschung von Gefühlsreaktionen und Harninkontinenz. Die Betroffenen erleben in ihrem Handeln erhebliche Alltagseinschränkungen und brauchen häufig Hilfestellung bei der Verrichtung alltäglicher Dinge. Demenzstufe 3 Bei der Demenzstufe 3 handelt es sich um eine schwere Form der Demenz. Im diesem Stadium der Erkrankung kommt es zu einem hochgradigen geistigen Abbau. Das Gehirn kann keine neuen Informationen mehr speichern. Die Sprache ist sehr eingeschränkt, oft reiht der Erkrankte einzelne Worte oder Laute aneinander oder spricht gar nicht mehr. In diesem Stadium werden auch enge Angehörige nicht mehr erkannt. Doch das Gefühlsleben bleibt erhalten. Stimmungen, Gefühle und Veränderungen im zwischenmenschlichen Bereich werden wahrgenommen. Auch eigene Empfindungen können zum Ausdruck gebracht werden, sind allerdings oft mit Verhaltensweisen gemischt, die schwer verständlich sind. Die Körperbewegungen sind oft stereotyp wie z. B. ständiges Nesteln, Reiben oder Wischen. Die Betroffenen sind nicht mehr dazu in der Lage, ein selbstständiges Leben zu führen. Sie benötigen im Lebensalltag vollständige Unterstützung.
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Grundkrankheiten der Demenz der 10 Teilnehmer der Beobachtungsreihe In der Vorbereitung auf die Beobachtungsreihe wurde mir ganz schnell klar, dass Menschen sehr schnell die Etikette Demenz erhalten, ohne dass in der ärztlichen Diagnose genauer beschrieben wird, welche Krankheit die Ursache für die Demenz ist. Auch wurde mir klar, dass gestellte Diagnosen in einer Momentaufnahme gestellt wurden und häufig nicht mehr überprüft wurden. Dieses kann sich für die Patienten, die unter Umständen an einer anderen psychischen Erkrankung leiden, die ähnliche Symptome aufweist wie die Demenz, in der weiteren Behandlung sehr negativ auswirken. Aus meiner beruflichen Praxis weiß ich, dass im Alter gerade das Krankheitsbild der Depression ähnliche Symptome und ähnliche Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen aufweist wie die Demenz. In unserer Beobachtungsreihe konnten folgende Krankheitsbilder den Teilnehmern zugeordnet werden:
Die Alzheimer-Krankheit Alzheimer ist eine Erkrankung des Gehirns, die vorrangig vom fortschreitenden Verlust des Gedächtnisses geprägt ist. Im Verlauf der Erkrankung verlieren die Erkrankten aber nach und nach auch andere geistige Fähigkeiten wie z. B. ihr Orientierungsvermögen oder das Sprachverständnis. Ärzte sprechen von einer Demenz. Die Erkrankten werden hilfloser und sind zunehmend auf Betreuung angewiesen. Die Symptome der Alzheimer-Erkrankung entstehen durch eine verminderte Funktionsfähigkeit und den Untergang von Nervenzellen. Obwohl auf diesem Gebiet mit Hochdruck geforscht wird, sind die Gründe für diese Vorgänge noch immer unbekannt. (Quelle: www.alzheimer.de) Können die Ursachen für eine vaskuläre Demenz klar umrissen werden, so ist dieses bei der Alzheimer-Demenz nicht möglich. Von daher gibt es auch zurzeit weder ein Medikament noch eine andere bekannte alternative Behandlungsform, die diese Krankheit heilen oder den Verlauf verlangsamen kann. Medikamente, die hier Anwendung finden, sind häufig Medikamente, die bei der vaskulären Demenz auch angewendet werden, das heißt, der die Gehirndurchblutung fördernde Aspekt steht im Vordergrund. Der degenerative Prozess des Untergangs der Nervenzellen lässt sich durch die Medikamente nicht aufhalten. Die vaskuläre Demenz – Durchblutungsstörungen schädigen das Gehirn Als vaskuläre Demenzen bezeichnet man solche Formen der Demenz, die sich aufgrund von Durchblutungsstörungen im Gehirn entwickeln. Nach Alzheimer sind vaskuläre Demenzen die zweithäufigste Form der Demenz. Die Symptome können sehr unterschiedlich sein. Eine vaskuläre Demenz kann dann auftreten, wenn Teile des Gehirns nicht mehr ausreichend mit Blut und Sauerstoff versorgt werden können. Die Ursache dafür sind meist Ablagerungen 72
in den Blutgefäßen (Arteriosklerose). Fetteinlagerungen und entzündliche Prozesse engen die Gefäße ein, behindern den Blutfluss und fördern die Bildung von Blutpfropfen, die zum Gefäßverschluss führen können. (Quelle: www.alzheimer.de) Im Gegensatz zur Alzheimer-Demenz ist der Grad der Schädigung des Gehirns bei der vaskulären Demenz auch abhängig vom Zustand der Blutgefäße. Die Arteriosklerose, eine Verkalkung der Blutgefäße im Gehirn, die eine Verengung der Gefäße und somit eine Minderdurchblutung des Gehirns nach sich zieht, kann mehr oder weniger ausgeprägt sein. Je ausgeprägter der Verschluss der Blutgefäße, desto ausgeprägter sind die negativen Folgen auf die Leistung des Gehirns. Somit kann es sein, dass das Fortschreiten der Ausfälle im Gehirn sehr viel langsamer vonstattengeht. Durchblutungsfördernde Medikamente sind hier das Mittel der Wahl.
Dokumentation – Erfassungskriterien Speziell für unsere regelmäßigen Begegnungen wurde von mir ein Evaluationsbogen erstellt. Die Auswertung der Ergebnisse erfolgte auf niedrigschwelligem Niveau und nicht auf der Basis einer wissenschaftlichen Untersuchung. Dieses erklärt sich dadurch, dass wir im Rahmen unserer Arbeit keine wissenschaftliche Begleitung und Beobachtung ableisten können. Der positive Effekt unserer Arbeit auf demenziell veränderte Menschen lässt sich auf der Basis der Auswertung des Evaluationsbogens trotzdem gut darstellen. Der Auswertungsbogen besteht aus vier Teilen. Im ersten Teil wird die Bewohnerbiografie erstellt. Die für unsere Untersuchung wichtigen Daten sollen uns Erkenntnisse über das Leben der Menschen geben. Diese Ergebnisse können wir als Einstieg für ein Gespräch mit dem Bewohner während der Veranstaltung nutzen. In der Vorbereitungsphase für unsere Veranstaltung besuchte ich zusammen mit der leitenden Ergotherapeutin der Einrichtung jeden Bewohner in seinem Zimmer, um mir ein genaues Bild seiner Persönlichkeit zu machen. Ganz wichtig hierbei war der persönliche Kontakt zum Menschen. Meine Gitarre, die ich immer dabei hatte, ist ein hervorragend geeignetes Kontaktinstrument, über das man sofort ins Gespräch kommen kann. Ich lud die Bewohner ein, gemeinsam mit uns zu musizieren. Alle Bewohner haben dem zugestimmt. Damit wir unsere Arbeit in diesem Buch in Bild und Wort darstellen können, holten wir uns jeweils die Genehmigungen der Angehörigen und Betreuer ein. Gemeinsam mit den Ergotherapeuten der Senioreneinrichtung fertigten wir ein Bewohnerprofil an, mit dem wir den Grad der geistigen und körperlichen Einschränkungen entsprechend des Stufenmodells der Alzheimer Gesellschaft im Kreis Warendorf e.V. festlegten, wie schon oben beschrieben. Bei allen 10 Begegnungen der Untersuchungsreihe wurden durch die Ergotherapeuten die Aktivitäten während der Veranstaltung und die Befindlichkeit danach dokumentiert. 73
Parallel hierzu ließ ich die individuellen Eindrücke auf mich wirken und dokumentierte diese ebenfalls. Die Datensammlung durch biografisches Arbeiten zeigte sich in einem fortlaufenden Prozess. Immer wieder konnte ich neue Erkenntnisse aus dem Leben der Teilnehmer gewinnen. Beeindruckend war, dass sich die Teilnehmer im Prozess immer mehr öffneten. Im Folgenden stelle ich die Erfassungskriterien dar, die mir halfen, die Menschen, die mir begegneten, besser kennenzulernen.
Teilnehmerprofil Erstkontakt Persönlichkeit: Der Teilnehmer: • hat eine entspannte Körperhaltung, • hat eine angespannte Körperhaltung, • hat eine aggressive Körperhaltung, • hat eine starre und angespannte Mimik. • Die Mimik des Teilnehmers: • ist ausdruckslos, • ist ängstlich, • hat aggressive Züge, • ist freundlich.
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Der Teilnehmer: • neigt zu verbaler Aggression, • äußert sich verbal ängstlich, • ist in sich zurückgezogen, • ist ruhig und entspannt, • ist unruhig, • ist gutmütig, • ist freundlich, • ist wach.
Wichtige biografische Daten Name des Teilnehmers Alter des Teilnehmers Ort der Kindheit und Jugend Wohnort im Erwachsenenalter
Lebenspartner/Kinder Interessen Hobbys Musikalität
Bewohnerprofil zur personellen Orientierung Der Teilnehmer: • kennt seinen Namen, • kennt sein Alter, • kennt sein Geburtsdatum, • schätzt sein Alter, • erkennt Angehörige/Freunde, • erkennt Betreuer/Pflegekräfte, • erkennt Mitbewohner, • erkennt in seinem Gegenüber andere Personen.
Bewohnerprofil zur örtlichen Orientierung Der Teilnehmer: • kennt den Ort, an dem er lebt, • verkennt den Ort, an dem er lebt, • findet sich im Wohnbereich zurecht, • findet sein Zimmer, • erkennt sein Zimmer.
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Bewohnerprofil zur zeitlichen Orientierung Der Teilnehmer. • kann das aktuelle Datum benennen, • weiß die Tageszeit, • weiß den Wochentag, • weiß den Monat, • weiß die Jahreszeit.
Bewohnerprofil Kommunikation Der Sinn der Antwort des Teilnehmers ist schwer zu verstehen. Er antwortet verständlich mit eingeschränktem Wortschatz. Der Teilnehmer: • macht sich verständlich in ganzen Sätzen, • antwortet verständlich mit eingeschränktem Wortschatz, • versucht zu antworten, • spricht nicht, zeigt aber Reaktionen in Mimik und Gestik, • nimmt weder verbal noch über körperliche Kommunikation am Geschehen teil. Diese Kriterien wurden bei der Bewohnerbefindlichkeit nach der jeweiligen Veranstaltung ebenfalls zugrunde gelegt. singen, summen, pfeifen, wippen mit dem Körper, klatschen, dirigieren, auf die Schenkel klopfen, tanzen, kommunizieren, sonstige Aktivität. Die hier beschriebenen Kriterien wurden von mir ausgewertet ebenso wie die Dokumentation der sozialen Betreuungskräfte, die die individuelle Veränderung durch die Musik dokumentieren sollten, die sie tagtäglich betreuen.
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Die Begegnungen – Zehn Kurzporträts der teilnehmenden Bewohner Erna F. Alter: 89 Jahre Einschränkungen im Bereich Demenzstufe 1 Frau F. Sie ist eine sehr natürliche, lebensfrohe und kontaktfreudige Person. Sie ist in ihrem Leben viel gereist und hat nach eigener Aussage immer und überall Anschluss gefunden. Sie ist sehr musikalisch, war viele Jahre in einem Frauenchor aktiv und hört ausgesprochen gerne Schlager. Frau F. begrüßte mich zu unseren Veranstaltungen immer mit einem freundlichen Lächeln oder einem kleinen Scherz auf den Lippen, über den sie meistens selber lachte. Tanzen gehörte während unserer gemeinsam verbrachten Zeit zu ihrer großen Leidenschaft. Da sie nicht die einzige Dame in unserer Runde war, die gerne Tanzen wollte, versuchte sie mich immer wieder mit einem Lächeln herumzubekommen, zuerst sie zum Tanzen aufzufordern. Zur Einstimmung auf das Lied „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt“ ließen wir immer einen kleinen roten VW Käfer in der Runde herumgehen, um mit diesem Modell in Gedanken eine Reise zur Insel Capri bei Neapel anzutreten. Bei unserer ersten Begegnung erzählte sie mir, dass sie selbst auch noch einen VW Käfer in der Garage stehen habe, mit dem wir beide gerne mal ausfahren könnten. Sie lud mich zu einer Spritztour ein, die wir nie durchgeführt haben, weil es diesen Käfer, der in ihrer aktuellen Lebenswelt in ihrer Garage stand, schon viele Jahre nicht mehr gab. Als ich Frau F. beim zweiten Besuch fragte, wie es ihrem VW Käfer geht, fragte sie mich mit großen Augen, woher ich denn wüsste, dass sie einen hat. „Sie haben es mir selbst erzählt“, antwortete ich. – „Ach so, naja, dann ist ja gut“, war ihre Antwort, woraufhin sie wieder einmal herzlich lachte. Frau F. stand immer mit anderen Teilnehmern in der Gruppe im Kontakt und versuchte, diese aktiv mit einzubeziehen. Im Verlauf der Beobachtungsreihe wurde mein Verhältnis zu Frau F. immer vertrauter und sie erkannte mich vor jedem Konzert wieder. Wer nun genau ich war, konnte sie nicht zuordnen, aber das wir uns kennen, war 77
ihr völlig klar. „Ach Gott, wie heißt du denn noch, wir haben uns auch so lange nicht gesehen“, war der Satz, den sie immer wieder sagte, wenn ich sie fragte, wer ich bin. Auf eine Nachfrage nach ihrem Alter wendete sich Frau F. hilfesuchend an ihre Ergotherapeutin. Als diese ihr Geburtsdatum nannte, antwortete Frau F; „O Gott, da muss ich ja bald hundert sein und fing wieder herzlich an zu lachen. Ihre körperlichen und geistigen Verluste akzeptiert sie mit einer außerordentlichen Gelassenheit. Frau F. genoss jedes Konzert in vollen Zügen, aufgrund ihres herrlichen Lachens und ihrer puren Lebensfreude habe ich sie tief in mein Herz geschlossen. Sie weiß nicht, wo sie ist und warum sie in diesem Haus ist. Auch hat sie die Erinnerung an ihr Alter verloren und ist zeitlich desorientiert. Manchmal äußert sie den Wunsch, nach Hause zu wollen. In ihrer Erinnerung ist ihr zu Hause ihr letzter Wohnsitz. Bei allen Aktivitäten des täglichen Lebens ist Frau F. auf Unterstützung angewiesen, aber noch weitgehend selbstständig. Ihre körperlichen und geistigen Verluste akzeptiert sie mit einer außerordentlichen Gelassenheit. Sie genoss jede Veranstaltung in vollen Zügen. Als ich Frau F. vier Wochen nach der Veranstaltung noch einmal auf ihrem Zimmer besuchte, konnte sie sich weder an mich noch an unsere gemeinsamen Aktivitäten erinnern. Und trotzdem waren wir uns gleich wieder so vertraut, als würden wir uns schon seit Ewigkeiten kennen. Von Frau F. stammt der sensationelle Satz: „Wenn ich Musik höre, dann löst sich in mir was und ich werde freier und wieder so wie ein halbstarkes Kind."
Edith G. Alter: 93 Jahre Einschränkungen im Bereich Demenzstufe 2 Frau G. ist eine Prima Ballerina und eine hochmusikalische Frau. Ihre Vergesslichkeit, vor allen Dingen die Tatsache, dass sie häufig keine Worte findet für das, was sie gerade mitteilen möchte, lässt sie immer wieder verzweifeln und manchmal in Tränen ausbrechen. Als leidenschaftliche Tänzerin war sie natürlich auch während der Konzerte immer zu einem Tänzchen bereit, wenn ich sie dazu aufforderte. Während der Tanz mit Frau F. eher aus gemütlichem hin und her bewegen bestand, drückte Frau G. ordentlich auf die Tube.
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Ihre körperliche Fitness war für ihr hohes Alter noch ziemlich gut, vermutlich besser als meine. Frau G. war während der Veranstaltungen körperlich immer sehr aktiv, mit dem Singen konnte sie sich nicht so anfreunden. Sie ist sehr musikalisch und eine leidenschaftliche Tänzerin, die bis zur Mitte ihres Lebens Ballett getanzt hat, aber auch für alle anderen Tanzrichtungen, unter anderem für lateinamerikanische Tänze, eine große Vorliebe hat. Frau G. bewegt sich in einem Stadium des Vergessens, in dem ihr dieses oft noch bewusst wird. In diesen Momenten zieht sie sich zurück. In anderen Momenten strahlt sie über beide Wangen und nimmt sehr aktiv am Geschehen teil. Ich beobachtete oft, wie sie immer wieder von sich aus nach Worten suchte, um mir ihr Befinden mitzuteilen. Wenn ihr die Worte nicht einfielen, zeigte sie auf ihren Kopf und sagte: „Also, das gibt es doch gar nicht“ oder „Da ist nichts“. Sie bewegte sich in einer Phase, in der sie die Demenz noch als Verlust von Teilen ihres Lebens empfand. Aus diesem frustrierenden Zustand treten viele Menschen in das Stadium der Resignation ein und es kann sich eine Depression entwickeln. Gerade in dieser Phase ist die Akzeptanz der Freunde und Verwandten sehr wichtig und das Signal an den Betroffenen, dass er so angenommen wird, wie er ist. Im Widerspruch zur Diagnose der fortgeschrittenen Demenz war Frau G. örtlich orientiert und konnte sich sämtliche Wege merken. Ihr Zimmer hat sie als einzige Teilnehmerin immer selbst wiedergefunden. Mich hat sie immer wiedererkannt und die Mitarbeiter der sozialen Betreuung erzählten mir, dass sie im Eingangsbereich fast jeden Tag auf mich gewartet hat. Für sie war ich der Mann im roten Hemd. Als ich zwei Monate nach Abschluss unserer Beobachtungsreihe auf dem Sommerfest der Einrichtung war, kam sie plötzlich mit offenen Armen auf mich zu gerannt und umarmte mich herzlich. Dann nahm sie mich an der Hand und führte mich zu einer Bilderwand, auf der wir beide abgebildet waren. Das war wirklich ein sehr berührender Moment. Frau G’s Tochter teilte mir am letzten Nachmittag mit, dass ihre Mutter sich durch die Teilnahme an unserer musikalischen Beobachtungsreihe sehr zum Positiven verändert habe. Sie gehe seit dem wieder mit mehr Freude und Ausgeglichenheit durch das Leben. Auch habe sich seitdem das Verhältnis Mutter Tochter zum Positiven gewandelt. Durch die Demenz bedingt hätten beide den Kontakt verloren, den sie durch Klang und Leben wiedergefunden hätten.
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Hugh G. Alter: 78 Einschränkungen im Bereich Demenzstufe 2 Herr G. ist seit 2012 in der Altenhilfeeinrichtung und leidet laut ärztlicher Diagnose an einer postoperativen Demenz, was so viel bedeutet, dass er seit einer Operation sehr durcheinander und desorientiert ist. Von seinem Sohn habe ich erfahren, dass ein Narkosezwischenfall wohl zu diesem Zustand geführt hat. Als ich Herrn G. das erste Mal auf seinem Zimmer besuchte, war er höflich zurückhaltend, jedoch sehr liebenswert. Nach wenigen Minuten war meistens das Eis gebrochen. Bei ihm nutzte ich immer wieder die Gitarre zum Erstkontakt, weil ich wusste, dass er selbst einmal Gitarre gespielt hatte. Herr G. war in der täglichen Versorgung völlig selbstständig, hatte jedoch jegliche zeitliche und örtliche Orientierung verloren. Das machte ihm offensichtlich große Angst. Die Betreuer erzählten mir, dass Herr G. regelmäßig seinen Koffer packen würde und darum bitten würde, dass man ihm ein Taxi bestellt. Er müsse verreisen. Dann würde er oft stundenlang neben seinem Koffer sitzen und auf das Taxi warten. Die Selbständigkeit des Herrn G. und auch sein Verreisen wollen, lassen sich durch seine Lebensgeschichte erklären, die sehr bewegt ist. Er ist Engländer und wurde in Kairo geboren. Er lebte in Ägypten, in England und in Deutschland und zwar genau in dieser Reihenfolge. Beruflich war er viele Jahre in der englischen Armee. Später war er als Radio- und Fernseh mechaniker tätig und als Experte für Programmierungen und Programmiersprachen. Die Liebe seines Lebens lernte er in Deutschland kennen. Er hat zwei Söhne, die beide in Deutschland leben. Das tägliche Koffer packen hilft Herrn G. ein wenig, seine Angst zu überwinden. Dieses gewohnte Ritual kennt er und es verschafft ihm Sicherheit an einem für ihn unbekannten Ort. Wir gingen auf seinen Balkon und er zeigte mir von dort aus die Umgebung, die er allerdings völlig anders wahrnahm. Aus seiner Erzählung heraus verstand ich, dass wir uns irgendwo in England befinden. Er zeigte auf verschiedene Gebäude und sagte mir, wer dort arbeitet. Ich nickte und staunte. Zum Abschluss unseres ersten Zusammentreffens fragte ich ihn, ob wir nicht gemeinsam etwas singen sollen. Er winkte zwar zuerst ab, als ich jedoch das Lied „What shall we do with the drunken sailor“ anstimmte, sang er aus voller Kehle mit und das Eis zwischen uns war gebrochen.
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Während der Veranstaltungen war Herr G. manchmal sehr unruhig und verunsichert und manchmal sehr gelöst und locker. Er hatte keinen Kontakt zur Gruppe. Es schien, als seien die anderen Teilnehmer überhaupt nicht vorhanden. Er war während der Veranstaltungen beständig auf mich und meine Gitarre konzentriert. Nach den Veranstaltungen nahm er das Instrument häufig an sich und untersuchte es von allen Seiten. Dabei erzählte er mir Geschichten, die offensichtlich etwas mit seinen musikalischen Erlebnissen zu tun hatten. Ein freundliches angestrengtes Lächeln ist im Gesicht von Herrn G. zu erkennen. Er wirkt vor der Musikveranstaltung meistens nervös und ängstlich. Man merkt ihm an, dass er nach vertrauten Gesichtern sucht. Über die Gitarre, die ich ihm ab und zu in die Hand drücke, entsteht ein Gespräch und über das Gespräch Vertrauen. Über die Gitarre führen wir ein sehr intensives Gespräch über die Musik der 50er- und 60erJahre. Beatles, Rolling Stones, The Doors. Ich muss mich ein wenig konzentrieren, weil Herr G. mit ausgeprägtem englischen Akzent spricht. Ich hörte ihm immer aufmerksam zu, obwohl ich überhaupt nicht verstanden habe, was er mir erzählen wollte. Die Aufmerksamkeit tat ihm sehr gut.
Konrad H. Alter: 86 Jahre Einschränkungen im Bereich Demenzstufe 2 Er war sein Leben lang glücklich verheiratet und hat nach dem Tod seiner Frau im Jahr 2005 sehr gelitten. Wie in vielen langjährigen Beziehungen kann der Verlust eines Partners dazu führen, dass der Mensch, der zurückbleibt, über diesen Verlust nicht hinwegkommt. Eine Altersdepression im schlimmsten Fall beschleunigt den körperlichen und seelischen Verfall. Herr H. entwickelte nach dem Tode seiner Frau die ersten Symptome einer Demenz. Herr H. war sein Leben lang sehr sportlich und hat sich für alles interessiert, was mit Sport zu tun hatte. Bei einem Rugbyverein hat er bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr Rugby gespielt und dann bis ins hohe Alter Faustball. Wenn er mir von seiner aktiven sportlichen Zeit erzählte, leuchteten seine Augen. Von seiner Begeisterung angesteckt, erzählte ich meiner Lebensgefährtin von Herrn H. Spontan beschlossen wir, ihm einige Gegenstände zu besorgen, die ihn an seine Rugbyzeit erinnern sollten. Meine Lebensgefährtin ist daraufhin sofort losgefahren, hat sich in die Höhle der Rugbyspieler 82
begeben. Mit Erfolg. Mit einem Wimpel, einem Buch über die Vereinsgeschichte des FC Schwalbe und mit einem Rugbyball ausgestattet, kam sie freudestrahlend zurück. Bei unserer nächsten Veranstaltung habe ich Herrn H. die Geschenke seines Vereins überreicht. Den Rugbyball allerdings mit sehr viel Schwung. In der absoluten Überzeugung, dass es gut gehen würde, warf ich ihm die Pille quer durch den Raum zu. Er fing sie mit der Sicherheit eines Profis und strahlte über beide Augen. Anschließend habe ich ihm den Wimpel und das Buch überreicht. Herr H. bedankte sich und dachte, es würde sich um eine sportliche Auszeichnung handeln. Wir ließen ihn in dem Glauben. Herr H. ist ein ausgesprochen freundlicher, älterer Herr, der sehr auf seine Mitmenschen achtet. Während unserer musikalischen Veranstaltungen stellte er mir mehrere Teilnehmer/ innen unserer Runde vor. Im Mittelpunkt seiner Vorstellung stand immer eine Besonderheit an der Person und nicht ihr Name. Die Namen kannte er nicht. „Darf ich Ihnen diese Dame vorstellen, die ist schon über 100 Jahre alt, aber noch total fit im Kopf, alle Achtung“ oder „Diese Dame weiß oft nicht, wo sie ist, wir müssen ihr helfen“, aber auch „Bei der hier müssen sie aufpassen, die hat Haare auf den Zähnen. Herr H. beobachtete die anderen Teilnehmer der Gruppe sehr genau. Die Situation der Dame, die häufig nicht wusste, wo sie sich gerade befindet, beschäftigte ihn sehr und er versuchte immer wieder, sie zu beruhigen. Wenn ihm dieses nicht zu gelingen schien, kam er zu mir und bat mich um Rat. Herr H. hat eine Narbe am linken Knie. Die ist laut seiner Erzählung auf einen Sturz aus größerer Höhe zurückzuführen, den er schon vor vielen Jahren hatte. Für Herrn H. ist es jedes Mal so, als wäre das Ereignis erst vor Kurzem gewesen. Es ist für ihn aber auch eine hervorragende Ausrede dafür, nicht tanzen zu müssen, denn das lehnt er vehement ab. Er ist sehr kommunikativ, sehr offen und immer voll dabei. Er singt, klatscht, pfeift und wir haben wirklich viel Spaß mit ihm. Herr H. hat die Diagnose der fortschreitenden Demenz. Während sämtlicher Veranstaltungen wirkte er auf mich sehr orientiert. Jedes Mal, wenn wir uns wiedersahen, lief er freudestrahlend auf mich zu und begrüßte mich wie einen alten Bekannten. Auch schien er örtlich, zeitlich und personell ganz gut orientiert zu sein und in vollem Umfang selbstständig, so dass die Diagnose in der Momentaufnahme für mich nicht ganz nachvollziehbar ist. Mein Gefühl sollte mich nicht täuschen. Wochen nach unserer Veranstaltungsreihe, als ich mich nach Herrn H´s Befinden erkundigte, erfuhr ich, dass dieser im Krankenhaus liege und die vorrangige Diagnose Depression laute, vermutlich ausgelöst durch den Verlust seiner Frau.
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Dora K. Alter: 98 Jahre Einschränkungen im Bereich Demenzstufe 2 Frau K. wurde 1916 geboren, mitten im ersten Weltkrieg, in der 17 Millionen Menschen ihr Leben verloren. Das Leben in Deutschland war eine einzige Herausforderung und das Überleben als Kind nicht ganz einfach. Die Kindersterblichkeit war enorm. Ihre Jugend und ihr frühes Erwachsenenleben hat sie in Breslau in Schlesien verbracht. Während des 2. Weltkrieges musste die Familie flüchten und landete in der Nähe von Hannover. Frau K. kommt aus einer sehr musikalischen Familie. Ihr Mann und ihre Geschwister haben alle ein Instrument gespielt. Sie selbst hat Akkordeon und Geige gespielt. Frau K. ist ihr ganzes Leben lang eine sehr weltoffene und lebensfrohe Frau. Sie gehört zu den extrovertierten Menschen in unserer Gruppe und zeigt, obwohl sie große Einschränkungen im sprachlichen Bereich hat, absolute Präsenz. Sie setzt gezielt ihre Mimik ein, um auf sich aufmerksam zu machen. Wie alt sie ist und wo sie sich befindet, das weiß sie nicht mehr und trotzdem wirkt sie nicht verunsichert. Menschen um sie herum scheinen ihr grundsätzlich gut zu tun, egal ob sie diese näher kennt oder nicht. Sie schaut sich ihre Mitmenschen sehr genau an. Die Aktivitäten des täglichen Lebens bewältigt sie weitgehend noch selbstständig. Auf ihrer Reise zurück in die Vergangenheit präsentierte sie sich während unserer Veranstaltungen als junges Mädchen. Sie sprach plötzlich Englisch mit uns, was ihre Kinder überhaupt nicht von ihr kannten. Als ich das hinterfragte, erfuhr ich, dass Frau K. auf dem Gymnasium Englischunterricht hatte. Ihre Tochter erzählte mir, dass sie selbst sehr verwundert darüber gewesen wäre, dass ihre Mutter Englisch spricht. Immer wenn Frau K. irgendwelche Zusammenhänge nicht verstand, sagte sie: „Do you speak English? I can not understand" und fing herzlich an zu lachen. Frau K. ist sehr gesellig und sprüht vor Lebensfreude. Sie bemüht sich ständig um Blickkontakte zu anderen Personen und ist eine äußerst genaue Beobachterin. Sie hat ein ausgeprägtes Mienenspiel, aus dem man gut ableiten kann, was sie gerade fühlt oder denkt. Ihre sprachlichen Möglichkeiten sind begrenzt, sie ist allerdings sehr geschickt im Umschreiben, wenn ihr die Worte fehlen. 84
Während unserer Veranstaltungen zeigte sich immer wieder ihr geselliges Gemüt. Folgenden Vers aus ihrer Jugendzeit sagte sie manchmal spontan auf. In Breslau ist’s gemietlich, da gibt’s ’ne Pferdebahn, das eine Pferd, das zieht nich’, das andere, das ist lahm. Der Kutscher, der ist bucklig, die Deichsel, die ist krumm und alle fünf Minuten da fliegt die Karre um. Frau K. weiß, dass sie zu ihrem persönlichen Vorteil in einer Senioreneinrichtung lebt, und sie scheint sich dort sichtlich wohlzufühlen.
Liselotte L. Alter: 93 Jahre Einschränkungen im Bereich Demenzstufe 3 Frau L. wurde 1920 in einer Kleinstadt in Niedersachsen geboren und hat dort ihr ganzes Leben verbracht. Im Elternhaus gab es zu der Zeit Nutzvieh, das durch sie versorgt wurde. In ihrem frühen Erwachsenenalter ist sie gerne ausgegangen. Frau L. war schon immer recht musikalisch. 1940 hat sie ihren Mann geheiratet, der mehrere Instrumente spielte. Ihm hat sie zu Hause, wenn er zum Beispiel am Klavier geübt hat, immer sehr gerne zugehört. Sie selbst hat den Beruf der Bürokauffrau erlernt und war nach dem Krieg in einer Spielwarenhandlung tätig. Sie war eine gute Verkäuferin, was unter anderem an ihrer warmherzigen Ausstrahlung lag. Frau L. ist eine besonders liebevolle und introvertierte Person. Dieses ist aber in keinem Zusammenhang damit zu sehen, dass die Demenz bei ihr weit fortgeschritten ist, sondern die Introvertiertheit scheint eher Ausdruck ihrer Persönlichkeit zu sein. Während der gesamten Veranstaltungen beobachtet sie das Geschehen und scheint aufmerksam zuzuhören. Ihr ganzes äußeres Wesen ist sehr gelassen und sie scheint sehr entspannt zu sein. Frau L. war leider nicht mehr so mobil, dass ich mit ihr tanzen konnte, ich glaube aber, sie hätte ihre Freude daran gehabt. Immer, wenn sie mich beim Tanzen beobachtete, sah man einen ganz besonderen Glanz in ihren Augen. Ich habe mich öfter zu ihr gesetzt, ihre Hände gehalten und sie angelächelt. So konnte ich ihre Aufmerksamkeit erreichen und sie zum Mitsingen animieren. Wenn ich ihr Fragen gestellt habe, hat sie diese kurz und knapp mit „Ja“ oder „Nein“ 85
oder „Weiß ich nicht“ beantwortet. Ob sie in ihren sprachlichen Fähigkeiten eingeschränkt war oder nicht, konnte ich leider nicht herausfinden. Jedoch schon bei meinem ersten Besuch zur Kontaktaufnahme, bei dem ich ihr viele Fragen stellte, hatte ich den Eindruck, dass sie diese nicht mehr versteht. Ich habe dann versucht, über den Gesang Kontakt aufzunehmen und wir haben gemeinsam Kinderlieder gesungen. Dieses bereitete ihr viel Freude und gab Sicherheit. Bei Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz spielt körperliche Nähe durch sanfte Berührungen oder durch das Halten der Hände eine wichtige Rolle. Berührungen schaffen Geborgenheit und erzeugen vertraute Momente.
Erna R. Alter: 101 Jahre Einschränkungen im Bereich Demenzstufe 3 Frau R. hat ihre Jugend in der Region Hannover verbracht. Sie war eine sehr gesellige und offene Frau, die gerne mal ein „Pläuschchen“ auf der Straße gehalten hat. Laut ihrer Tochter hat Frau R. ihre Jugendzeit sehr genossen. Sie hat gerne gefeiert und hat an allen Festen teilgenommen, die in der Umgebung veranstaltet wurden. Sie war ebenso eine pflichtbewusste Hausfrau und Mutter, die auch sehr streng und dominant sein konnte. Als ich Frau R. kennenlernte, begegnete sie mir recht distanziert, zurückweisend und ängstlich. „Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?“ und was machen wir hier?“, waren immer wiederkehrende Fragen. Dabei beobachtet sie mich genau. Bei unserem ersten Gespräch zur Kontaktaufnahme antwortete ich auf ihre Fragen, hatte aber gleich den Eindruck, dass sie die Antworten nicht verstehen würde. Von den Betreuern erfuhr ich später, dass sie schwerhörig ist und aufgrund einer Augenerkrankung nur noch sehr schlecht sieht. Während unserer Veranstaltungen fragte sie häufig danach, was wir denn eigentlich hier machen. Nachdem ich es ihr erklärt hatte, war es in Ordnung. Dadurch, dass Frau R. ihre Umwelt nur noch begrenzt wahrnimmt, schafft eine Berührung nicht immer unbedingt Sicherheit oder erzeugt das Gefühl des geborgenen Schutzes. Eine falsche Bewegung kann für sie eine Bedrohung bedeuten. Unsere musikalischen Darbietungen hat sie nur begrenzt wahrgenommen, weil sie vermutlich kaum etwas gehört hat. Wir haben sie immer direkt neben dem Klavier platziert, in der Hoffnung, dass sie so mehr mitbekommt. Offensichtlich mit Erfolg:
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Sie hat häufig mitgesungen, aber häufig andere Lieder. Vermutlich hat sie wirklich nichts gehört, aber die Atmosphäre als eine sehr angenehme musikalische wahrgenommen. Manchmal hat sie auch in die Hände geklatscht und mit den Beinen gewippt und manchmal huschte sogar ein Lächeln über ihr Gesicht, das, als es das Licht der Welt entdeckte, das ganze zwanzigste Jahrhundert noch vor sich hatte. Immer wieder hat Frau R. nach ihrem Vater und ihren Schwestern Lina und Frieda gefragt. Alle drei sind schon vor langer Zeit verstorben. Das, was für sie gerade Gegenwart war, konnte auch gut und gerne 90 Jahre her sein. Äußerst beeindruckend. Frau R. wird von ihrer Tochter als lustiger, geselliger Mensch bis zur Hälfte ihres Lebens beschrieben. Später hat sie sich vermutlich aufgrund einer schweren körperlichen Erkrankung mehr und mehr in ihre Wohnung zurückgezogen. Sie ist zeitlich und örtlich desorientiert und erkennt die Betreuungskräfte nicht oder hält sie für andere Personen. Auch in den Verrichtungen des täglichen Lebens ist Frau R. sehr stark eingeschränkt und auf fremde Hilfe angewiesen.
Erika S. Alter: 102 Jahre Einschränkungen im Bereich Demenzstufe 2 Frau S. wurde in Thüringen geboren und hat dann in Wernigerode im Harz gelebt. Dort hat sie ihre Jugend verbracht. Diese Zeit ist ihr noch sehr präsent. Ihr Vater war Landrat. Ihr zehn Jahre älterer Bruder Willy hat in ihrer Kindheit einen sehr großen Einfluss auf sie gehabt und sie als Kind immer überall hin „mitgeschleppt“, wie sie sagt. Besonders präsent sind ihr die Wintererlebnisse im Harz, das Skifahren und das Rodeln, und sie hat laut eigenen Angaben den gesamten Harz durchwandert. Anfang der 30er-Jahre hat sie ein Jahr in Hamburg verbracht. Als wir das Lied „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ gespielt und gesungen haben, erinnerte sie sich im Anschluss an diese Zeit. Als junge Frau muss sie dieses Jahr besonders genossen haben. 1955 ist sie aus der DDR mithilfe ihrer Familie nach Berlin geflüchtet. Sie ist eine praktisch denkende Frau, die Geselligkeit liebt und sehr kontaktfreudig ist. Sie hat ziemlich viele Hobbys gehabt und war eine Meisterin mit dem Pinsel in der Hand. Bis ins hohe Alter hat sie wirklich tolle Bilder gemalt. Auch die Musik hat sie immer interessiert, sie selbst hat Klavier gespielt. 87
Als ich sie mal fragte, wie alt sie sei, antwortete sie mir, Mitte 70 und wenn man ihr begegnet, hat man tatsächlich das Gefühl, dass es so ist. Frau S. ist trotz ihres hohen Alters körperlich noch topfit. Während unserer Veranstaltungen habe ich häufig mit ihr getanzt, was sie sehr genossen hat. Frau S. war immer topmodisch gekleidet und aktiv dabei. Sie hat jedes Lied mitgesungen. Wenn ich Frau S. darum bat, mir etwas aus ihrem langen Leben zu erzählen, plauderte sie gleich munter drauf los. Es ist immer wieder faszinierend, ihr zu begegnen. Ich glaube nicht, dass sie die Personen um sich herum wirklich erkannt hat. Sie hat in ihrem Leben vermutlich viele angenehme Begegnungen gehabt und somit grundsätzlich keine Ängste davor, Menschen immer wieder neu zu begegnen. Damit hat sie im Erleben der Demenz eine sehr hohe Lebensqualität. Obwohl sie ihr genaues Alter nicht kennt, weiß sie sehr wohl, wann sie geboren ist. Wenn sie behauptet, dass sie erst 70 sei, lebt sie in ihrer Vorstellung um 1970 herum. Sehr beeindruckt hat mich eine Geschichte, die mir ihre Tochter erzählte. Im Jahr 2005 hat Frau S. zwei Herzinfarkte erlitten. Nach dem zweiten Infarkt hat sie 36 Stunden lang geschlafen und alle dachten, sie würde nicht mehr aufwachen. Dann öffnete sie plötzlich die Augen, als sei nichts gewesen.
Inge-Maria W. Alter: 92 Jahre Einschränkungen im Bereich Demenzstufe 2 Frau W. wurde in Pommern geboren. Dort lernte sie schon in sehr frühen Jahren von ihrer Mutter das Klavier spielen. Die Familie war insgesamt sehr musikalisch. Ihr Vater hat Geige gespielt und ihre Tante ebenfalls Klavier. Ihre große Liebe zur Musik fand sich in der Klassik wieder. Schon in jungen Jahren war sie eine hervorragende Pianistin, die mehrere Stunden am Tag geübt hat. Im Alter von 16 Jahren absolvierte Frau W. eine Aufnahmeprüfung an der Reichs musikschule Berlin, die sie mit Auszeichnung bestand und war dann später als Klavierlehrerin tätig. Sie war mehrere Jahre in mehreren Kirchengemeinden als Organistin tätig. 88
Frau W. hat sich bei meinem Erstbesuch selbst als Einzelgängerin beschrieben. Der Bezug zu ihren Eltern war sehr eng und sie hat diese bis zu ihrem Tode versorgt und gepflegt. Frau W. ist ihr Leben lang eine sehr genügsame Frau gewesen, die sich an Kleinigkeiten erfreuen konnte. Frau W. lebt gerne in der Altenhilfeeinrichtung und wird regelmäßig von ihrer Nichte und deren Mann besucht. Beim Erstgespräch mit Frau W. bemerkte ich gleich, dass sie eine sehr zurückhaltende Person ist. Ich erzählte ihr von unserem Vorhaben und dass ich sie gerne dazu einladen würde, mit uns gemeinsam zu musizieren. Sie lehnte dieses Angebot zunächst dankend ab. Ich habe es während der 12 Begegnungen mit Frau W. dann doch zweimal geschafft, sie ans Klavier zu bewegen. Das Ergebnis war erstaunlich. Trotz der fortgeschrittenen Demenz spielte sie frei nach Noten. Dieses lässt sich durch den Verlauf der Demenz begründen. Da sie schon als Kind nach Noten Klavier spielen gelernt hat, bleibt diese Fähigkeit in der Demenz lange erhalten. Was früh erlernt wird, kann man häufig noch bis zum Schluss. Frau W. sitzt gern vor dem Fernseher, nimmt an der Gymnastik teil und besucht regelmäßig Musikangebote. Während unserer Veranstaltungen war Frau W. sehr still, bescheiden und zurückhaltend. Zum Tanzen ließ sich Frau W. nur einmal bewegen. Ihre Angst zu stürzen, war sehr groß. Dieses war ihr in der Vergangenheit wohl auch schon einige Male passiert. Sie war immer hellwach und eine aufmerksame Beobachterin. Insgesamt gesehen, ist sie sowohl zeitlich, örtlich wie auch personell noch gut orientiert. Sie findet ihr Zimmer, erkennt nahestehende Personen und weiß auch den Tag und die Uhrzeit. Auch ist sie recht selbstständig. Die Diagnose Demenz ließ sich für mich nur schwer erklären. Die Erfahrung zeigt, dass sehr stille, unsichere und ängstliche Menschen mit wenig Selbstbewusstsein in Kurzdiagnosen in den Arztpraxen traurigerweise viel zu häufig in die falsche Schublade gesteckt und dann falsch behandelt werden.
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Gerda W. Alter: 92 Jahre Einschränkungen im Bereich Demenzstufe 1 Frau W. wurde in Pommern geboren. Sie verließ ihr Elternhaus, als sie Anfang 20 war und zog in die Nähe von Berlin. Dort machte sie eine Ausbildung zur Kauffrau. Sie war verheiratet und hat ihren Mann durch eine schwere Krankheit sehr früh verloren. Nach dem Krieg zog sie in die Region Hannover. Frau W. ist eine sehr gesellige, lebensfrohe Frau, die immer ausgesprochen gern gefeiert hat. „Ich habe jedes Fest mitgemacht“, erzählte sie mir bei unserer ersten Begegnung und strahlte dabei über beide Wangen. Sie hat früher sehr gerne Romane gelesen und war häufig im Opernhaus in Hannover zur Oper oder Operette zu Gast. Sie ist auch gerne ins Kino gegangen. Frau W. liebt es, in Gesellschaft mit anderen zu spielen. Ihre Lieblingsspiele sind Rommé und Mensch ärgere dich nicht. Frau W. hat ein sehr gepflegtes Erscheinungsbild und legt besonders viel Wert auf ihre Frisur. Sie ist früher fast wöchentlich zum Friseur gegangen. Während unserer Veranstaltungen sang Frau W. immer aus voller Kehle mit und war für jedes Tänzchen zu haben. Bei einem Telefonat, das ich fast drei Monate nach Abschluss unseres Projektes führte, konnte sie sich noch recht genau an mich erinnern und sie bat mich, doch wieder einmal vorbeizuschauen. Trotz eines engen Terminkalenders konnte ich ihr diesen Wunsch nicht abschlagen. Frau W. begegnete mir als offene und kommunikative Person, die sich für ihre Mitmenschen interessiert und ständig bemüht ist, mit anderen in Kontakt zu treten. Jedes Mal, wenn ich sie zum Tanz aufforderte, leuchteten ihre Augen und sie fühlte sich wie eine junge Frau. Frau W. ist Raucherin und der lebende Beweis dafür, „dass man auch mit dem Glimmstängel als Lebensbegleiter uralt werden kann“, wie sie sagt. Sie hat immer gerne geraucht und hat dieses auch bis zum Schluss getan. Frau W. lebt nach eigener Aussage immer noch zu Hause und ist in diesem Haus nur zu Gast. Warum sie dort sein muss, ist ihr nicht klar. Das hat ihr angeblich keiner so genau erklärt. Sie findet sich in der Umgebung gut zurecht und ist sehr selbstständig. In der zeitlichen Orientierung kann sie noch den Monat, das Jahr und die Tageszeit benennen. Die diagnostizierte Demenz ist kaum wahrnehmbar. Die Hannoversche Allgemeine veröffentlichte im April 2014 einen Artikel über die Arbeit von Klang und Leben. Auf der Titelseite, auf der normaler Weise nur die Präsidenten oder sonstiges hochrangige Vertreter der Gesellschaft abgebildet sind, war an diesem Tag ein Bild von Frau W. und mir zu sehen. Als ich ihr die Zeitung in das Pflegeheim brachte, war die Freude groß darüber. Allen Bewohnern wurde stolz die Zeitung gezeigt und sie konnte wirklich stolz auf sich sein. 90
Abschlussbetrachtung der musikalischen Arbeit mit demenziell veränderten Menschen Die individuell erlebte Wirklichkeit eines Menschen hat einen großen Einfluss auf das Erleben von Krankheit und Gesundheit und somit auf das Erleben von Demenz. Wir müssen uns von dem Gedanken frei machen, dass der Mensch ausschließlich aufgrund physikalischer, chemischer oder mikrobiologischer Faktoren erkrankt und letztendlich zum Pflegefall wird und dadurch Mobilität und Lebensfreude verliert. Die psychosozialen Einflüsse auf das vegetative Nervensystem sind ebenfalls entscheidend für das Erleben von Krankheit im Alter. Stellen Sie sich einen unsichtbaren Trichter vor, der in ihrem Kopf steckt. Durch diesen Trichter fließen ein Leben lang die alltäglichen Erlebnisse unseres ereignisreichen Lebens in unseren Körper und werden dann in unserem Gehirn abgespeichert. Je größer die Summe der negativen Erfahrungen, die abgespeichert werden, desto größer wahrscheinlich das innere Leiden, das dann durch körperliche Beschwerden auf sich aufmerksam macht. Ein optimistischer Mensch, der offen in die Welt geht und viele positive Erfahrungen macht, der wird in der Regel auch die Demenz in all ihren Auswirkungen anders wahrnehmen als ein Mensch, der ängstlich und pessimistisch durch sein Leben gegangen ist. Jeder Mensch weiß aus eigener Erfahrung, wie unterschiedlich mobil und aktiv er sein kann, abhängig davon, wie er sich fühlt. Und wenn wir einmal einen Moment in uns gehen und uns selbst einmal betrachten, können wir vielleicht eine Ahnung davon entwickeln, dass die Rückenschmerzen, unter denen wir so leiden, oder Migräne, die uns regelmäßig quält, viel mit unserem Alltagserleben zu tun haben könnten. 91
Wenn beispielsweise der Ärger und Frust am Arbeitsplatz kaum noch auszuhalten sind und negative Gefühle erzeugen, werden die Menschen körperlich krank. Wenn ich meine Arbeit mit Freude erlebe und diese Freude einfließen lasse, geht es auch meinem Körper gut. Diese Erfahrungen hat schon jeder von uns machen können. Ähnlich verhält es sich in der Demenz. Demenziell veränderte Menschen, die ein erfülltes und zufriedenes Leben hinter sich haben und durch Freunde, Familie, ehrenamtliche Helfer und professionelle Betreuungs- und Pflegekräfte täglich menschliche Zuwendung erfahren, begegnen ihrer Erkrankung mit größerer Gelassenheit. Die Demenz entwickelt sich in unserer leistungsorientierten Gesellschaft zu einer der größten sozialpolitischen und menschlichen Herausforderungen. Institutionalisierung von Alter und Krankheit und die Pille gegen die Demenz dürfen nicht die Lösungen der Zukunft sein. Der kulturelle Auftrag an unsere Gesellschaft muss es sein, demenziell erkrankte Menschen in die Gemeinschaft zu integrieren. Menschliche Zuwendung auf allen Ebenen, zum Beispiel durch gemeinsames Musizieren, muss ein zentrales Thema in der Demenzbetreuung werden. Musik spendet Lebensfreude und weckt die Lebensgeister. Musik kann heilen, kann trösten, kann die Erinnerung an schöne Zeiten zurückbringen, sie lässt uns träumen. Sie ist Balsam für Körper, Geist und Seele. Um eine Veränderung oder eine Beeinflussung durch Musik nachzuweisen, ist eine individuelle Betrachtung der Person notwendig. Grundsätzlich wirkt sich Musik immer positiv auf das seelische und körperliche Befinden eines demenziell veränderten Menschen aus. Durch das Vermitteln positiver Reize durch die aktive Einbindung in das musikalische Geschehen wird die Lebensqualität gesteigert. Menschliche Ressourcen werden aktiviert, hierdurch Vitalität und Mobilität gesteigert und dadurch die Selbstständigkeit der Betroffenen. Dieser Prozess kann auch zu einer Entlastung des oft physisch und psychisch an sehr hohe Anforderungen geknüpften Pflegealltags führen. Folgende Ergebnisse lassen sich in meiner Abschlussbetrachtung zusammenfassen: Demenziell veränderte Menschen werden unter dem regelmäßigen positiven Einfluss der Musik auf ihr Befinden glücklicher, zufriedener und lebensfroher. Die Bereitschaft, aktiv am Leben teilzunehmen, steigt um ein Vielfaches. Gemeinsam zu musizieren und hierdurch in die schönen Momente der erlebten Vergangenheit einzutauchen, reduziert Ängste und schafft Sicherheit und Geborgenheit. Der Gedanke der musikalischen Alltagsgestaltung sollte in der ambulanten und stationären Versorgung einen höheren Stellenwert erhalten, weil dieses auch zu einer Entlastung in der pflegerischen Versorgung beitragen kann. 92
In der sozialen Betreuung wirkt sich das gemeinsame Musizieren positiv auf die Bindung zwischen betreuender Person und betroffener Person aus. Angehörige und Betreuungskräfte müssen gezielt in dieses Thema eingeführt und unterstützt werden. Auch sie profitieren vom gemeinsamen Singen und Musizieren, indem sie ihrer Mutter oder ihrem Vater neu begegnen und sich das Verhältnis in der Krankheit entspannt. Über das Erkennen des Wertes der Musik für die eigene Person steigt die Bereitschaft, gemeinsam mit dem demenziell veränderten Menschen zu musizieren und mit Freude in die Erlebenswelt der Betroffenen einzusteigen. Deswegen sollten Angehörige und Pflege- und Betreuungskräfte auch musikalisch ausgebildet werden.
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Nachruf Wenn man in einer Senioreneinrichtung tagtäglich mit Menschen zu tun hat, die die 90 überschritten haben, muss man jeden Tag damit rechnen, dass man sich von jemandem verabschieden muss. Gerade die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen erleben den Abschied regelmäßig. Während ich an diesem Buch schrieb, verabschiedeten sich einige Menschen, die an unserer Beobachtungsreihe teilgenommen hatten, aus diesem Leben. Jedes Mal, wenn mich diese Nachricht ereilte, musste ich an die vielen schönen musikalischen Momente denken, die ich mit diesem Menschen verknüpfe.
Für unsere leidenschaftliche Tänzerin Frau W., die mich beim Tanzen immer so nett anlächelte und es sich nicht einmal anmerken ließ, wenn ich ihr wieder einmal auf den Füßen stand. Liebe Frau W., das Tanzen gehörte noch nie zu meinen Stärken, aber mit Ihnen hat es richtig Spaß gemacht. Einmal erzählten Sie mir von Ihrer Hochzeit und davon, wie sehr Sie Ihren Mann geliebt haben, den Sie ja ganz bald wiedersehen. Ihnen und Ihrem Mann widme ich dieses Lied und will glauben, dass Ihr Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Ich tanze mit Dir in den Himmel hinein …
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Für unseren weitgereisten Englisman Herrn G., der oft auf seinen gepackten Koffern saß und auf sein Taxi wartete, das ihn nach Hause bringen sollte. Lieber Herr G., sehr oft haben Sie versucht, mir aus Ihrem Leben zu erzählen. Es ist wohl ein sehr aufregendes und erfülltes Leben gewesen, das Sie erlebt haben, habe ich im Nachhinein von Ihrem Sohn erfahren. Jetzt haben Sie wieder einmal einen kleinen und dieses Mal für keinen von uns sichtbaren Koffer gepackt und sind wieder auf die Reise gegangen. Dieses Mal mussten Sie nicht vergeblich auf ein Taxi warten. Zum Abschied widme ich Ihnen folgende Zeilen von Rod Steward, dessen Musik Sie so sehr mochten: I am Sailing …
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Für Frau W., die auf leisen Sohlen durch das Leben ging und lieber die Töne des Klaviers sprechen lies, als sich selbst mit lauter Stimme in den Vordergrund zu spielen. Liebe Frau W., wie oft habe ich versucht, Sie dazu zu bewegen, mir etwas auf dem Klavier vorzuspielen. Sie haben immer abgewehrt und behauptet, Sie hätten das Klavier spielen verlernt und Sie bräuchten, wenn Sie spielen sollten, Notenblätter. Also fragte ich unseren Pianisten Andreas Meyer, ob er mir nicht ein paar Notenblätter für Sie besorgen könnte. Gesagt, getan. Und dann haben Sie gespielt: Für Elise … mit glänzenden Augen und einem kindlichen Lächeln haben Sie so wunderschön gespielt. Das folgende Lied, das Sie so schön fanden, widme ich Ihnen. Irgendwo auf der Welt …
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Literaturverzeichnis Mein Tanz mit der Demenz, Christine Bryden, Huber Verlag, Auflage 2005 Musik erleben und gestalten, Heidrun Harms, Urban und Fischer Verlag, 3. Auflage 2007 Das vierte Lebensalter, Reimer Grönemeyer, Pattlochverlag, Auflage 2013 Lehrbuch der Gerontopsychiatrie und Psychotherapie, Hans Förstle, Auflage 2003 Musizieren im Alter, Theo Hartogh, Schott Verlag, 1.Auflage 2008 Musiktherapie für Menschen mit Demenz, Dorothea Muthesius, Mabuse- Verlag, Auflage 2010 Artikel Demenz ist keine Krankheit, Die Welt, 13.02.2013 Mit Musik geht vieles besser, Simone Willig, Silke Kammer, Vincentz Network, Auflage 2012 Lebenswelt und Gesellschaft, Thomas Luckmann, VVK-Verlagsgesellschaft, Auflage 2007 Statistische Zahlen, Bundeszentrale für politische Bildung, www.bpb.de Validation. Naomi Feil, Reinhardt Verlag, 10. Auflage 2013 Wir vom Jahrgang 1922, Kindheit und Jugend, Gerd Gabriel und Eleonore Wittke, Wartbergverlag, Auflage 2012 Wir vom Jahrgang 1927, Kindheit und Jugend, Reinhard Appel, Wartbergverlag, Auflage 2013 Illustrierte Geschichte der Hitlerjugend 1922 bis 1945, Die verlorene Kindheit, Brenda Ralph Lewis, tosa Verlag, Auflage 2000 Mimikresonanz, Gefühle sehen. Menschen verstehen, Dirk W. Eilert, Junfermann Verlag, eBook-Ausgabe 2013 Das große Buch der Körpersprache, K.H. Kerkorian, Sonderausgabe by K.H. Kerkorian, eBook – Ausgabe 2013 Emotionale Intelligenz, Das Trainingsbuch, Marc A. Pletzer, Haufe Verlag, Auflage 2007 Psychosomatische Medizin, Thomas von Uexküll, Urban & Schwarzenberg, 5. Auflage 1979
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Bettina M. Jasper. Dipl. Sozialpädagogin, freiberuflich tätig als Dozentin.
Ihre Lehrtätigkeit übt sie bei verschiedenen Trägern aus. Seit 1991 unterrichtet sie an der staatlich anerkannten Fachschule für Altenpflege „Sancta Maria“ in Bühl in den Schwerpunkten Gerontologie, Aktivierung und Rehabilitation, Psychiatrie sowie im Fach Deutsch. Die lizenzierte Gehirntrainerin und Sport-Übungsleiterin ist Autorin von Fachbüchern und zahlreichen Artikeln zu Themenbereichen in der Gerontologie, im Hirnleistungs- und Hirnfunktionstraining und in Turnen und Sport. In ihrer Denk-Werkstatt® leitet sie Kurse, Seminare und Therapieeinheiten.
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