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German Pages 294 Year 2021
Anne Münch Häusliche Pflege am Limit
Care – Forschung und Praxis | Band 6
Anne Münch, geb. 1985, studierte Soziologie und Erziehungswissenschaften an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dort sowie an der Ludwig-MaximiliansUniversität München forschte und promovierte sie mit den Schwerpunkten Alter(n), Pflege(n) und Geschlecht.
Anne Münch
Häusliche Pflege am Limit Zur Situation pflegender Angehöriger von Menschen mit Demenz
Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, Sozialwissenschaftliche Fakultät, 2020, gefördert von der VolkswagenStiftung im Rahmen des Projektes »Alter(n) als Zukunft« (Projektnummer: 93274)
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Inhalt
Danksagung ........................................................................ 9 1. 1.1 1.2 1.3
Der kurze Traum von der späten Freiheit? − Einleitende Betrachtungen ..................................................13 Problemaufriss ................................................................13 Ziel, Forschungsfragen und Aufbau der Untersuchung .......................... 16 Sozialwissenschaftlicher Forschungsstand ..................................... 19
2.
Pflege und Demenz: Annäherung an die Situation ................................................. 25 2.1 Pflege als Sorgearbeit: Begriffsrahmung ...................................... 25 2.2 Zum Krankheitsbild und Verlauf der Demenz................................... 28 2.3 Demenzpflege: Institutionelle Rahmenbedingungen ............................ 33 2.4 Die Praxis der Pflege: Paradigmen soziologischer Praxisforschung ............. 37 3.
Das methodische Vorgehen: Zur Praxis der Untersuchung der Pflegesituation .......................................................... 45 3.1 Der Forschungsstil – Was ist hier eigentlich los? ............................... 45 3.2 Die Datenerhebung – Wer, wie, was, warum?................................... 48 3.3 Die Datenauswertung ........................................................ 53 3.3.1 Der Kodierprozess .................................................... 53 3.3.2 Das Kartografieren der Pflegesituation ................................. 57 4. 4.1 4.2 4.3
Die Arenen und Akteur*innen der sozialen Welt der Demenzpflege........... Die häusliche Pflegearena und ihre Akteur*innen .............................. Die Arena der Öffentlichkeit und die Blicke der Anderen ....................... Zwischenfazit ................................................................
65 67 77 84
5. 5.1 5.2 5.3
Die Grenze als heuristischer Rahmen für die Analyse ....................... 87 Die Semantik der Grenze...................................................... 87 Entgrenzung und Doing Boundary in der Familiensoziologie .................... 90 Auf dem Weg zu einer Heuristik individueller Grenzen ......................... 93
Zeitliche Be- und Entgrenzungen der häuslichen Demenzpflege.............. 97 Zeitsoziologische Grundlagen ................................................. 97 6.1.1 Der soziale Charakter von Zeit ......................................... 97 6.1.2 Zeit im Alter .......................................................... 100 6.1.3 Zeit in der Pflege ..................................................... 104 6.1.4 Fragen an die Empirie ................................................ 106 6.2 Die Zeiten der Pflege kontrastieren: Die Fälle Heinrich und Steg ............... 108 6.3 »Also ich lass mich durch die Uhr nicht tyrannisieren, aber […]«: Formen zeitlicher Be- und Entgrenzung in der Pflegepraxis .................... 115 6.3.1 Und plötzlich kommt alles anders: Diagnose und Anfangsphase der Demenzpflege......................... 116 6.3.2 Zeitliche Herausforderungen in der zweiten Phase der Demenzpflege .. 124 6.3.3 Ambivalente Zeiten in der letzten Phase der Demenzpflege ............ 138 6.3.4 Ausblicke auf ein Leben nach der Pflege .............................. 143 6.4 Zwischenfazit ............................................................... 146 6. 6.1
Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege .... 151 Geschlechtersoziologische Grundlagen ........................................ 151 7.1.1 Die soziale Konstruktion von Geschlecht................................ 151 7.1.2 Geschlecht und Pflege zusammengedacht ..............................157 7.1.3 Fragen an die Empirie ................................................ 169 7.2 Vergeschlechtlichte Pflegepraktiken kontrastieren: Die Fälle Moser und Franz .....................................................170 7.3 »Bis dass der Tod uns scheidet. Was anderes geht nicht.«: Formen vergeschlechtlichter Be- und Entgrenzung der Pflegepraxis ........... 179 7.3.1 Zur vergeschlechtlichten Vergesellschaftung vor der Pflege............. 179 7.3.2 »Das bisschen Haushalt…«: Episoden vergeschlechtlichter Be- und Entgrenzung unterstützender Sorgearbeit .................... 183 7.3.3 Wenn Pflege körperlich wird: Episoden vergeschlechtlichter Be- und Entgrenzung direkter Sorgearbeit ............................. 190 7.3.4 Episoden von Undoing Gender in der Pflegepraxis: Der Fall Briese ...... 204 7.3.5 Zur Verwobenheit von Sorge und Dominanz in der untersuchten Pflegesituation ................................... 209 7. 7.1
7.4
Zwischenfazit ................................................................ 219
8. 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5
Und daraus folgt? − »Es geht eben immer am Limit lang.« .................. 225 Die Situation der pflegenden Partner*innen skizzieren........................ 225 Pflegen entlang körperlicher Grenzen der Belastbarkeit....................... 231 Informelle Demenzpflege im Ungleichgewicht von Nähe und Distanz .......... 233 Das Pflegeheim als Reißleine................................................. 237 Schluss ..................................................................... 239
Literaturverzeichnis.............................................................. 243 Abbildungsverzeichnis ............................................................ 271 Tabellenverzeichnis .............................................................. 273 Anhang ........................................................................... 275 Anhang I: Interviewleitfaden....................................................... 276 Anhang II: Transkriptionsregeln ................................................... 277 Anhang III: Fallportraits ........................................................... 278
Danksagung
Da die Fertigstellung dieses Buches und der zugrundeliegenden Dissertation mit großer Dankbarkeit meinerseits gegenüber einer Vielzahl von Menschen einhergeht, freue ich mich ganz besonders, diese Zeilen hier publizieren zu dürfen. Zuallererst gilt mein Dank selbstverständlich meinen Interviewpartner*innen. Sie haben sich die Zeit genommen, mir ausführlich über ihre Lebenssituation zu berichten. Dabei war ich von Gespräch zu Gespräch immer wieder beeindruckt von der Offenheit, mit der die Pflegenden auf meine Nachfragen eingingen und von der Intensität der Erzählungen, die sich im Verlauf der Interviews entwickelte. Ohne sie wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Ähnlich verhält es sich im Hinblick auf meinen Erstbetreuer, Stephan Lessenich, der mir während der gesamten Promotionszeit beratend zur Seite stand, sich als geduldiger, begeisterungsfähiger Motivator erwies und ohne dessen Rücksichtnahme die vorliegende Arbeit vermutlich noch immer nicht fertiggestellt wäre. Dafür bin ich sehr dankbar. Meiner Zweitbetreuerin, Sylka Scholz, möchte ich für ihre Bereitschaft danken, mein bereits laufendes Promotionsvorhaben mit zu begleiten. Ihre inhaltlichen wie auch methodologischen Anregungen waren mir eine große Hilfe. Beide Betreuer*innen haben fortwährend ein offenes Ohr für meine Fragen gehabt und mir mit ihren kritischen, aber stets wertschätzenden und produktiven Rückmeldungen durch so manch holprige Phase der Promotion geholfen. Ich weiß, dass das nicht selbstverständlich ist und bin daher umso dankbarer. Abgesehen davon möchte ich allen Doktorand*innen der regelmäßigen Forschungswerkstätten in München und Jena für die vielen guten Hinweise danken, die im Zuge der gemeinsamen Interpretationsrunden oder der Diskussion von Teilen meiner Arbeit beigesteuert wurden. Mein besonderer kollegialer wie auch freundschaftlicher Dank geht an dieser Stelle zudem an
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Häusliche Pflege am Limit
Tina Denninger und Anna Richter, die meine Arbeit von Anfang an begleitet haben, sich immer wieder Zeit nahmen, um einzelne Kapitel mit mir zu diskutieren und bis zuletzt Telefonseelsorge betrieben, wenn gedankliche Knoten den Schreibprozess stagnieren ließen. Am Ende der Arbeit verhalfen gleich mehrere wunderbare Menschen den einzelnen Kapiteln zu ihrem letzten Schliff. Dafür danke ich vor allem Ron Beuster, Christine Knauff und meiner Schwester, Ulrike Roggenbuck. Und weil dieser Lebensabschnitt ohne ihren Beistand, ihre Nachfragen und fortdauernde Motivation höchstens halb so viel Spaß gemacht hätte, sei hier ebenfalls ganz dringend einer ganzen Reihe lieber Freunde gedankt – allen voran Anna Kornadt, Oliver Kling, Annekatrin Friedrich, Carina GräfGiesen, Ilse Gräf, Paul Lange und Caroline König. Meinen Eltern möchte ich an dieser Stelle insbesondere dafür danken, dass sie mir damals den nötigen Motivationsschubs verpassten, Berlin zu verlassen und den Studienplatz in Jena anzutreten. Vermutlich ahnten sie, dass mir das Leben und Studieren in dieser paradiesischen Stadt gefallen könnte und damit lagen sie nicht falsch. Abgesehen davon weiß ich ihren beherzten Einsatz als Großeltern in der Betreuung unseres Sohnes und die für mich dadurch entstandenen Freiräume zum Schreiben sehr zu schätzen. Und auch wenn es unter Umständen etwas untypisch ist, darf meine Hündin, Wilma, in dieser Danksagung nicht fehlen. Denn über die gesamte Promotionszeit hinweg war sie es, die mir täglich stoisch wartend zu Füßen lag und zum einen dafür gesorgt hat, dass ich die Pausen an der frischen Luft nicht vergesse. Zum anderen ermöglichte es ihre zauberhaft offene und menschenzugewandte Art, mit ihr gemeinsam im Bereich der tiergestützten Intervention aktiv zu werden und im Zuge dessen unter anderem in DemenzWohngemeinschaften, Pflegeheimen oder auf Palliativstationen zu arbeiten. Die dortigen Besuchseinsätze mit ihr habe ich als wertvolle praxisnahe Ergänzung zur theoretischen Auseinandersetzung mit Pflege und Demenz empfunden. Schließlich bin ich sehr dankbar, dass unser Sohn, Karlsson, in unser Leben gestolpert ist und mich Tag für Tag, spätestens beim nachmittäglichen Betreten des Kindergartens, dazu gebracht hat, das Gedankenkarussell rund um die Doktorarbeit pausieren zu lassen und mich stattdessen gemeinsam mit ihm auf die Suche nach Antworten zu den vielen »Warums« seiner kleinen, großen Lebenswelt zu begeben. Und passend zum Fokus der vorliegenden Arbeit ist es am Ende mein Partner, Lars Velter, dem mein allergrößter Dank dafür gilt, dass er mich so
Danksagung
geduldig und interessiert durch die üblichen Höhen und Tiefen des Promovierens begleitet und jedes fertig getippte Kapitel mit mir gefeiert hat, als wäre es sein eigenes. Darüber hinaus hat er mich in den richtigen Momenten bestärkt, den angefangenen Gedanken zu Ende zu denken oder aber auch einfach mal Feierabend zu machen. Ich bin sehr glücklich und stolz, mit so wunderbaren Menschen – okay, und Wilma – zusammenarbeiten und -leben zu dürfen.
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1. Der kurze Traum von der späten Freiheit? − Einleitende Betrachtungen »Wir hatten uns den Ruhestand anders vorgestellt.«1
1.1
Problemaufriss
»Wenn das Wochenende 7 Tage hat« (Stumpf 2011) und man »Endlich Zeit für ALLES« (Layer 2010) zu haben meint, dann, ja dann kann dies entsprechend alltagsweltlicher Vorstellungen eigentlich nur bedeuten, dass man »Endlich im Ruhestand« (Bergmann 2019) angekommen ist. So oder so ähnlich vermittelt es zumindest die überraschend große Zahl an Ratgeberliteratur, deren Gemeinsamkeit in dem Versprechen zu liegen scheint, den geneigten Leser*innen dabei behilflich zu sein, den Ruhestand »[…] zur besten Zeit deines Lebens« (Kosta 2019) zu machen. Quantitativ betrachtet ist der Annahme eines deutlichen Zugewinns an Zeit nach dem Wegfall der Erwerbsarbeit auch erst einmal nicht zu widersprechen. Immerhin stehen den Ruheständler*innen mit Austritt aus dem Erwerbsleben rein statistisch täglich rund sechs Stunden mehr (freie) Zeit zur Verfügung (Statistisches Bundesamt 2004). Dennoch haben in den zurückliegenden Jahren bereits verschiedene qualitativ-empirisch ausgerichtete Studien darauf verwiesen, dass diese Pauschalisierungen zu kurz greifen und es einer differenzierten Betrachtung des Ruhestands bedarf, um die verschiedenen Lebenssituationen im Alter in ihrer jeweiligen Komplexität erfassen zu können (vgl. u.a. Burzan 2002; Köller 2006; Münch 2014). Denn abgesehen davon, dass es sozialstrukturell nicht voraussetzungslos ist, den Ruhestand (zeitlich) genießen zu können, gibt es in der derzeitigen Gesellschaft des lan-
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Auszug aus dem Demenzreport (vgl. Berlin-Institut 2011: 8).
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Häusliche Pflege am Limit
gen Lebens eine immer größer werdende Zahl an Menschen, die im Ruhestand einen unmittelbaren Angehörigen pflegen. Gegenwärtig gibt es in Deutschland rund 3,4 Millionen Pflegebedürftige, von denen mehr als drei Viertel – in Zahlen sind das 2,59 Millionen – zuhause versorgt werden (vgl. Statistisches Bundesamt 2018: 8f)2 . Von diesen 2,59 Millionen Pflegebedürftigen werden wiederum mehr als zwei Drittel ausschließlich durch Angehörige gepflegt und das verbleibende eine Drittel »zusammen mit oder vollständig durch ambulante Pflegedienste« (ebd.). Führt man sich nun noch vor Augen, dass 81 % der Pflegebedürftigen 65 Jahre und älter sind sowie dass die Hauptpflegeverantwortung mehrheitlich von den Partner*innen oder den nicht selten ebenfalls bereits verrenteten Kindern übernommen wird (vgl. ebd.), dann dürfte deutlich werden, dass für eine nicht zu vernachlässigende und stetig wachsende Gruppe von Ruheständler*innen der vermeintliche Traum von der »späten Freiheit« (Rosenmayr 1983) ein (recht) kurzer bleibt.3 Pflegekritiker*innen, wie Claus Fussek4 , machen seit vielen Jahren darauf aufmerksam, dass neben der dringend notwendigen Verbesserung der Situation Pflegebedürftiger in Deutschland unbedingt auch ein Aufstand der pflegenden Angehörigen notwendig sei (vgl. Fussek 2019). Doch innerhalb der laufenden politischen Debatte zum Pflegenotstand fehle den pflegenden Angehörigen nach wie vor eine Lobby und so bleibe der Aufstand aus, weil »diese Menschen keine Zeit und keine Kraft haben, sich zu organisieren« (ebd.).
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Diese Personen gelten als pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI) und haben einen Antrag auf Pflegeleistung gestellt (vgl. ebd.). Noch nicht mit einberechnet ist hier jene Zahl insbesondere älterer Männer, die von ihren Ehefrauen gepflegt werden und bei denen auf die Beantragung zusätzlicher Pflegeleistungen verzichtet wird (vgl. ebd.: 9). Zwischen 2015 und 2017 ist die Zahl der Pflegebedürftigen um 19 % gestiegen (vgl. ebd.) − Tendenz weiterhin steigend. Noch nicht mit einberechnet ist hier jene Zahl vor allem älterer Ehefrauen, die ihre Männer pflegen, ohne Pflegeleistungen zu beantragen und dementsprechend nicht in der Statistik erfasst werden (vgl. ebd.; Auth/Dierkes 2015: 203f). Claus Fussek ist Sozialarbeiter mit Schwerpunkt Pflege und engagiert sich bereits seit den 1990er Jahren dafür, die Bedingungen in der Altenpflege zu verbessern (vgl. Röhrs 2007). Mittlerweile gilt er als Deutschlands bekanntester Pflegekritiker, hat mehrere Bücher zum Thema geschrieben und arbeitet auch über das Ruhestandsalter hinaus in der Beratungsstelle der Münchner »Vereinigung Integrations-Förderung e.V.« (VIF e.V.).
1. Einleitende Betrachtungen
Der Siebte Altenbericht der Bundesregierung widmet sich dem Thema der »Sorge und Mitverantwortung in der Kommune« und diskutiert darin zentrale Fragen zum Aufbau und der Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften (Deutscher Bundestag 2016). Doch obschon insbesondere in den Kapiteln zu »Sorge und Pflege« (ebd.: 181ff), »Ungleichheiten in der alternden Gesellschaft« (ebd.: 54ff) sowie »Subsidiarität als zentrales Gestaltungsprinzip des Sozialstaates« (ebd.: 44ff) wichtige Aspekte der gesellschaftlichen Organisation von (informeller) Pflege thematisiert werden, bleibt im Altenbericht ausgerechnet die Gruppe älterer Pflegender und deren Situation deutlich unterbelichtet. So kritisiert die Kommission unter anderem, dass ältere und alte Menschen häufig nur als Hilfeempfänger*innen gelten würden und verweist darauf, dass insbesondere Frauen häufig bis ins hohe Alter ihren Kindern oder in der Nachbarschaft helfen würden (vgl. ebd.: 50). Eine Erwähnung der Hilfeleistungen, die von den älteren Pflegenden im Hinblick auf die informelle Pflege erbracht werden, sucht man in dieser Aufzählung allerdings vergeblich. Und im Abschnitt zur Sorge und Pflege wird zwar problematisiert, dass es vor allem die älteren pflegenden Angehörigen sind, »für die sich die Pflege häufig als allein zu tragendes Schicksal darstellt« (ebd.: 195), aber im Anschluss an diese Feststellung wird der Fokus direkt wieder auf die pflegenden Angehörigen im erwerbsfähigen Alter und Fragen der besseren Vereinbarkeit von Pflege und Erwerbstätigkeit gelegt (vgl. ebd.: 195ff). Die Relevanz dieser Vereinbarkeitsproblematik soll hier nicht ansatzweise infrage gestellt werden. Jedoch wird an dieser Stelle des Altenberichts eine generelle Tendenz im gegenwärtigen Diskurs deutlich: Durch den Fokus auf Berufstätige mit Pflegeverpflichtung finden jene Pflegende zu wenig Beachtung, die sich nicht mehr im erwerbsfähigen Alter befinden. Die vorliegende Untersuchung entsteht daher in dem Anliegen, einen Beitrag zur Sichtbarkeit der Lebenssituation älterer pflegender Angehöriger zu leisten. Einer der häufigsten Gründe für Pflegebedürftigkeit im Alter ist Demenz (vgl. Berlin-Institut 2011). Nach aktuellen Schätzungen leben in Deutschland derzeit rund 1,7 Millionen Menschen mit Demenz und für die kommenden Jahre wird von einem jährlichen Zuwachs von rund 300.000 Erkrankten ausgegangen (vgl. BMFSFJ 2019: 11f). Für das Jahr 2050 könne dementsprechend mit einer Zahl von mehr als 3 Millionen Menschen mit Demenz gerechnet werden (vgl. ebd.). Demenz wird als alterskorreliertes Phänomen bezeichnet, da die Wahrscheinlichkeit, Symptome einer Demenz zu entwickeln erst nach dem 65. Lebensjahr deutlich steigt (vgl. Berlin-Institut 2011: 10). Innerhalb der
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Häusliche Pflege am Limit
Gruppe altersbedingter Erkrankungen5 gilt die Demenz wiederum als diejenige, die »die Lebensqualität sowohl der Betroffenen als auch die ihres Umfeldes auf lange Sicht am stärksten beeinträchtigt« (ebd.: 18). Doch warum? Demenz gilt als Krankheit des Vergessens, bei der es aufgrund absterbender Nervenzellen oder Durchblutungsstörungen im Gehirn nach und nach zum Verlust kognitiver Fähigkeiten kommt und die Betroffenen ihren Alltag nicht mehr allein bewältigen können (vgl. ebd.: 9). Im fortgeschrittenen Stadium der Demenz kommen motorische Einschränkungen dazu, die nicht selten in Bettlägerigkeit münden (vgl. ebd.). Diese Veränderungen werden nicht nur von den Erkrankten selbst, sondern insbesondere auch von den Familien, als sehr belastend erlebt. Aufgrund der Herausforderungen im Umgang mit dem betroffenen Familienmitglied sowie der Dauer der Pflegebedürftigkeit werden die pflegenden Angehörigen daher unter anderem auch als »stille Opfer von Demenz« (Catulli 2007:45) beschrieben. Und auch wenn die – noch vor ein paar Jahren prognostizierte – »Alzheimer-Epidemie« (Kupferschmidt 2016) sowie der vermeintlich heranrollende »Demenz-Tsunami« (von Lutterotti 2016) nun doch auszubleiben scheinen, wird bei näherer Betrachtung des Themas Demenz schnell deutlich, dass die »Angst vor dem Vergessen«6 im gesellschaftlichen Diskurs angekommen ist – und das nicht zuletzt, weil die Erkrankung eben nicht nur die Lebenssituation der Betroffenen selbst maßgeblich verändert, sondern auch die der unmittelbaren Angehörigen, für die die Pflege der Person mit Demenz in der Regel zur tagesfüllenden Aufgabe wird.
1.2
Ziel, Forschungsfragen und Aufbau der Untersuchung
Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung stehen männliche und weibliche Ruheständler*innen, die ihre an Demenz erkrankten Partner*innen im häuslichen Umfeld pflegen – entweder allein oder mit Unterstützung durch
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Abgesehen von der Demenz werden dazu ebenfalls Erkrankungen wie Schlaganfall, Diabetes mellitus oder Makula-Degeneration gezählt (vgl. ebd.: 18). So lautet der Titel der am 22. September 2018 im Deutschlandfunk ausgestrahlten »Langen Nacht über Demenz« (https://www.deutschlandfunk.de/eine-lange-nacht-ue ber-demenz-die-angst-vor-dem-vergessen.704.de.html?dram:article_id=424283).
1. Einleitende Betrachtungen
ambulante Pflegedienste.7 Die Frage danach, was es bedeutet, im Ruhestand seine*n Partner*in mit Demenz zu pflegen, kann dabei als forschungsleitende Frage verstanden werden, an die sich eine Reihe von Überlegungen anschließen: Was bedeutet es, wenn die Demenzdiagnose die Umsetzung der ursprünglich aufgestellten Pläne für den Ruhestand verhindert oder zumindest vorzeitig beendet? Wie erleben und erzählen die Betroffenen ihre Situation? Mit welchen Herausforderungen sehen sie sich im Pflegealltag konfrontiert? Welche Rolle spielt Zeit im Pflegealltag? Inwiefern ist das jeweilige Geschlecht der Pflegenden von Bedeutung für die Gestaltung der Pflege? Und welche Funktion haben individuelle Grenzen innerhalb der untersuchten Situation? Diesen und weiteren Überlegungen gilt es in der vorliegenden Studie auf der Suche nach möglichen Antworten nachzuspüren. Dabei ist die tendenzielle Offenheit der forschungsleitenden Frage bewusst gewählt, um erstens das induktive Vorgehen meiner Forschung abzubilden, zweitens den vorliegenden situationsanalytischen Blick auf die Daten mit zu reflektieren und darüber schließlich drittens den unterschiedlichen Überlegungen und deren finaler Bündelung in der Konsequenz des Pflegens am Limit ausreichend Platz zur Entfaltung zu geben. Der Aufbau der vorliegenden Untersuchung ist so konzipiert, dass nach einem – sich hier direkt anschließenden – kurzen Blick auf bestehende Forschungen zu informeller Demenzpflege im zweiten Kapitel eine Annäherung an die zu untersuchende Situation erfolgt. Diese Annäherung an die Themen Pflege und Demenz beinhaltet zunächst einmal eine begriffliche Rahmung von Pflege, eine genauere Vorstellung von Krankheitsbild und -verlauf der Demenz sowie der institutionellen Rahmenbedingungen der Demenzpflege. Im Anschluss an diese Begrifflichkeiten und Konzepte erfolgt zur Abrundung des zweiten Kapitels sodann die Darlegung der im weiteren Verlauf der Arbeit eingenommenen praxeologischen Perspektive auf das Pflegen. Ziel des zweiten Kapitels ist es dementsprechend, den Leser*innen das nötige begriffliche wie auch theoretische Kontextwissen zur untersuchten Situation zur Verfügung zu stellen, um im Anschluss bereits in die Empirie einsteigen zu können. Im dritten Kapitel wird sodann das methodische Vorgehen inklusive Forschungsstil, Datenerhebung und Datenauswertung vorgestellt. Im daran an7
Die Entscheidung, pflegende Töchter und Söhne aus dem Untersuchungssample auszuklammern, dient der Reduktion von Komplexität und der besseren Vergleichbarkeit der empirisch untersuchten Lebenssituationen.
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Häusliche Pflege am Limit
schließenden vierten Kapitel gilt es, die zuvor methodologisch eingeführte Situationsanalyse direkt empirisch umzusetzen und mithilfe einer Karte von den Arenen und Akteur*innen der sozialen Welt der Demenzpflege einen Einblick in die beiden Arenen der Pflege mit den darin jeweils beteiligten Akteur*innen zu gewähren. Als Vorbereitung auf den Hauptteil der empirischen Analysen erfolgt im fünften Kapitel eine genauere Auseinandersetzung mit dem Thema der Grenze. Ziel dieses Kapitels ist es, eine Heuristik individueller Grenzen der Pflege abzustecken, die als Orientierungsrahmen für die folgenden Analysen zu den Grenzen der Pflege dient. Besagten Hauptteil der Analysen bilden sodann die beiden Kapitel zu den zeitlichen und vergeschlechtlichten Be- und Entgrenzungen informeller Demenzpflege. Im sechsten Kapitel steht das Thema Zeit im Mittelpunkt und nach der Vorstellung der relevanten zeitsoziologischen Grundlagen wird empirisch basiert aufgezeigt, mit welchen zeitlichen Grenzen die älteren pflegenden Angehörigen in den unterschiedlichen Phasen der Demenz im Hinblick auf die Gestaltung der Alltagszeit sowie der noch verbleibenden Lebenszeit konfrontiert sind. Das siebte Kapitel wechselt sodann den Fokus und macht deutlich, dass neben den zeitlichen Konflikten in der Gestaltung der informellen Demenzpflege auch das Geschlecht der Pflegenden von Bedeutung für Be- oder Entgrenzung spezifischer Pflegeaufgaben ist. Auch in diesem Abschnitt erfolgt zunächst eine theoretisch geleitete Darlegung der geschlechtersoziologischen Grundlagen, an die sich dann die empirischen Analysen anschließen. Im finalen achten Kapitel der vorliegenden Untersuchung wird schließlich der Stand der Analysen zunächst noch einmal in Form einer Projektskizze gebündelt und aus den Analysen zu Zeit und Geschlecht sodann die Konsequenz einer dauerhaften Pflege am Limit abgeleitet und dargelegt, welche Bedeutung körperliche Grenzen, das dauerhafte Ungleichgewicht von Nähe und Distanz sowie die Institution des Pflegeheims für besagtes Pflegen am Limit haben. Der Aufbau dieser Publikation folgt damit nicht dem üblichen Muster von einem ersten theoretischen Teil, auf den ein empirischer folgt. Stattdessen ist die vorliegende Verschriftlichung der Untersuchung so konzipiert, dass die jeweils relevanten theoretischen Vorbetrachtungen erst im entsprechenden Abschnitt der Empirie direkt vorgeschaltet werden. Diese Form des Aufbaus verhindert zum einen die künstliche Trennung von Theorie und Empirie und macht es zum anderen für Leser*innen mit einem spezialisierten Anliegen leichter, nur einzelne thematische Abschnitte der Studie zu lesen und trotz-
1. Einleitende Betrachtungen
dem alle relevanten Informationen zu dem spezifischen Themenbereich zu erhalten (vgl. Denninger et al. 2014: 23). Die vorliegende Untersuchung ist nicht über Nacht entstanden, sondern das Ergebnis mehrerer Jahre intensiver Auseinandersetzung mit den Themen Ruhestand, Pflege und Demenz. In diesem Zeitraum ist sowohl im politischen als auch wissenschaftlichen Diskurs viel Bewegung erkennbar. Diesbezüglich wird nicht nur über die Themensetzung des Siebten Altenberichts, sondern unter anderem auch über die jüngste Anpassung der Pflegegesetzgebung oder die bundesweite Allianz für Menschen mit Demenz sowie die daraus aktuell zu entwickelnde Nationale Demenzstrategie ersichtlich, dass die gesellschaftlichen Herausforderungen im Zusammenhang mit Pflege und Demenz auf der politischen Agenda präsenter werden.8 Und auch der wissenschaftliche Diskurs führt seit einigen Jahren eine immer differenzierter werdende Care-Debatte.9 Zu dieser Debatte möchte ich mit der vorliegenden Arbeit einen empirisch fundierten Beitrag leisten. Bevor dieser eigene Beitrag zum wissenschaftlichen Pflegediskurs jedoch so richtig Fahrt aufnehmen kann, bedarf es noch einer überblicksartigen Sondierung des Forschungsfeldes zum Thema informeller Demenzpflege.
1.3
Sozialwissenschaftlicher Forschungsstand
Bei der Recherche nach sozialwissenschaftlichen Forschungsarbeiten zum hier vorliegenden Gegenstandsbereich der Angehörigenpflege von Demenz zeigt sich, dass insbesondere die Psychologie und Sozialpädagogik bereits seit einigen Jahren in diesem Bereich forschend aktiv sind und demgegenüber die Soziologie bis dato eher wenig konkrete Arbeiten zu diesen Themen vorzuweisen hat. Im Folgenden werden – differenziert nach Fachbereich – jene vornehmlich qualitativ-empirischen Studien kurz dargestellt, die sich insbesondere zu Beginn des Forschungsprozesses als relevant für die Son-
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https://www.nationale-demenzstrategie.de/ Hier sei insbesondere auf Arbeiten von Autor*innen wie Maria Rerrich (2006), Erna Appelt (2014), Gabriele Winker (2015), Sabine Beckmann (2016), Karin Jurczyk (2016), Tine Haubner (2017) oder zuletzt auch Sylka Scholz und Andreas Heilmann (2019) verwiesen.
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dierung des forschungsleitenden Interesses der vorliegenden Untersuchung erwiesen haben.10 Den Anfang machen dabei die Forschungen der Psychologin Gabriele Wilz, die sich bereits seit Mitte der 1990er Jahre mit den Belastungserfahrungen pflegender Angehöriger von Demenzkranken auseinandersetzt. In mehreren Projekten und einer Vielzahl von Publikationen entwickelt Wilz unter anderem Leitfäden, Gruppenarbeitskonzepte, telefonische Therapieansätze und andere therapeutische Interventionen für die Unterstützung von Angehörigen von Demenz (vgl. u.a. Wilz et al. 1997; Wilz 2002; Wilz/Pfeiffer 2019). Im wissenschaftlichen Diskurs ist Wilz dementsprechend eine der ersten Sozialwissenschaftler*innen, die in ihren Projekten und Publikationen immer wieder auf die Belastungen der pflegenden Angehörigen von Demenz aufmerksam macht. Auch in der Sozialpädagogik wurde zu Beginn des neuen Jahrtausends der Unterstützungsbedarf pflegender Angehöriger erkannt und so stellt sich Antje-Franziska Knauf in ihrer Studie »Demenz und pflegende Angehörige« (Knauf 2004) die Frage, durch welche Formen der Unterstützung bei pflegenden Angehörigen eine längerfristige Steigerung der subjektiven Lebensqualität erreicht werden könne. Dafür interviewt sie informell Pflegende im Alter zwischen 39 und 85 Jahren, von denen die deutliche Mehrzahl weiblich ist. Knauf kommt zu dem Ergebnis, dass insbesondere die Möglichkeit »einige Stunden ihres Tagesablaufs wieder autonom zu planen« (ebd.: 132) bei den pflegenden Angehörigen zu einem gesteigerten subjektiven Wohlbefinden führe. Der Wunsch nach mehr »Freizeit« stehe stets an erster Stelle der im Interviewverlauf formulierten Wünsche der pflegenden Angehörigen und während einige Befragte bereits genaue Ideen für die freien Stunden hätten, seien vor allem einige Frauen zunächst überfordert damit, nach mehreren Jahrzehnten etwas ohne ihren Ehepartner zu unternehmen (vgl. ebd.: 137ff). Ohne dass die Autorin es explizit so herausarbeitet, wird der Faktor Zeit in ihren Analysen zum Gradmesser für Anstieg oder Abfall der Lebensqualität in der Demenzpflege und auch geschlechtsspezifische Aspekte der informellen Pflege deuten sich in der Interviewstudie immer wieder an, werden aber nicht näher untersucht.
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Andere Forschungsarbeiten, die ebenfalls relevant für die vorliegende Arbeit sind, werden im weiteren Verlauf der Untersuchung vorgestellt und der Forschungsstand aus quantitativen Erhebungen zur Pflege von Demenz wird in Form von statistischen Daten an geeigneter Stelle fortlaufend in die vorliegenden Ausführungen eingeflochten.
1. Einleitende Betrachtungen
Wenig später beschäftigt sich Tanja Catulli in ihrer Dissertationsschrift mit der »Lebenswelt pflegender Angehöriger von Demenzkranken« (Catulli 2007). Ihre eigenen beruflichen Erfahrungen in der Pflege zum Anlass nehmend, fragt sie ebenfalls aus sozialpädagogischer Perspektive danach, warum die Unzufriedenheit der Pflegenden in der informellen Demenzpflege grundsätzlich als deutlich höher eingestuft werde, als in anderen Bereichen der informellen Angehörigenpflege und weshalb die pflegenden Angehörigen von Menschen mit Demenz darüber hinaus häufiger auf die Inanspruchnahme professioneller Unterstützung verzichten und gleichzeitig die Leistungen der Pflegeversicherung kritisieren (vgl. ebd.: 42). Ihr Sample setzt sich aus Personen zwischen 39 und 64 Jahren zusammen, die ein Familienmitglied mit Demenz pflegen – was in der Mehrzahl der Fälle ein Elternteil ist. Mithilfe einer Lebensweltanalyse des Alltags zeigt Catulli auf, dass einerseits insbesondere das ständige Angebundensein an die Pflegebedürftigen, der Rückzug aus sozialen Netzwerken sowie Vereinbarkeitsprobleme von informeller Pflege, Beruf, Familie und Partnerschaft als Gründe für die Unzufriedenheit angeführt werden (vgl. ebd.: 276ff). Andererseits ergebe sich die Unzufriedenheit aus der mangelhaften Passung der professionellen Unterstützungsangebote in die Lebenswelt der Pflegenden und der daraufhin gezogenen Konsequenz der Ablehnung professioneller Unterstützung (vgl. ebd.: 295). Die Autorin entwickelt daher abschließend ein Konzept lebensweltorientierter sozialer Arbeit als Katalysator zwischen professionellen Hilfen und Pflegealltag, das dazu beitragen soll, dass pflegende Angehörige entsprechend ihres Wunsches als »Experten [sic!] der Pflege, als Regisseure [sic!] ihrer Alltagsgestaltung und in ihrem Tun ernst genommen und geachtet werden.« (ebd.: 297) Und auch Katharina Rensch fragt in ihrer Studie, ob es einer »Herausforderung oder Überforderung?« (Rensch 2012) entspricht, wenn Angehörige ein Familienmitglied mit Demenz pflegen. Die Relevanz ihrer Forschung begründet sie darüber, dass in der häuslichen Pflege ein erheblicher Hilfebedarf für Pflegende bestünde, der unter anderem auf eine sozialpädagogische Unterversorgung zurückzuführen sei (vgl. ebd.: 19ff). Entlang spezifischer Krankheitssymptome der Demenz leitet Rensch aus den geführten Interviews einen informativen Überblick zu spezifischen Ursachen für die subjektiven Überlastungserfahrungen der Pflegenden ab. Dieser Überblick beinhaltet belastende Symptome wie den gestörten Tag-Nacht-Rhythmus der Menschen mit Demenz, Wahn- und Halluzinationsphasen, Herumwandern oder den Verlust der Tischmanieren (vgl. ebd.: 151ff). Die Überlastung, die durch die spezifische Demenzsymptomatik im Verlauf der Pflege entstehe, sei dabei wiederum
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abhängig von Faktoren wie dem Grad der Betroffenheit der Pflegenden, der Dauer der Pflege sowie der Notwendigkeit, Urlaub zu machen oder auch der »körperlichen Unterlegenheit« (ebd.: 206) pflegender (Ehe-)Frauen (vgl. ebd.: 185ff). Zur Bewältigung der Überlastung zeigt Rensch am Ende ihrer Untersuchung wiederum verschiedene Strategien wie Humor, Religiosität, Geduld oder das Modell der Optimierung durch Selektion und Kompensation11 auf (vgl. ebd.: 341). Schließlich findet sich mit der zuerst 2009 von Dieter Karrer veröffentlichten und 2016 in zweiter Auflage erschienenen Studie zum »Umgang mit dementen Angehörigen« die bis dato einzige soziologische Studie mit konkretem Fokus auf die informelle Demenzpflege (Karrer 2009; 2016). Ähnlich wie bereits Catulli interessiert sich auch Karrer für die Belastungen pflegender Angehöriger von Menschen mit Demenz und deren vergleichsweise häufige Ablehnung professioneller Unterstützungsangebote. Über die Frage nach dem Einfluss sozialer Unterschiede verfolgt er dabei allerdings besagten soziologischen Zugang zum Thema und das Ziel, mehr Hintergrundwissen zur Logik des Umgangs mit den Betroffenen und ihren Familien zu generieren (vgl. Karrer 2009). Als Datengrundlage dafür dienen Leitfadeninterviews mit vorrangig weiblichen Pflegenden von Demenzkranken (darunter viele Töchter), die aus verschiedenen sozialen Milieus kommen und zwischen 50 und 85 Jahren alt sind (vgl. ebd.: 37f). Unter Rückgriff auf theoretische Arbeiten von Pierre Bourdieu arbeitet Karrer in seinen Analysen heraus, dass die sozialen Unterschiede den Umgang mit Demenz und das Belastungserleben maßgeblich beeinflussen (vgl. ebd.: 43ff). Während also beispielsweise der Beginn der Demenz im unteren Bereich des sozialen Raumes12 stärker an funktionale Einschränkungen gekoppelt sei, werde er im oberen Bereich eher durch kommunikative Veränderungen markiert. Dementsprechend erfolge die Abklärung im oberen Bereich zumeist deutlich früher und damit auch der Beginn
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Dieses abgekürzt auch als SOK-Modell bekannte Konzept, benennt Selektion, Optimierung und Kompensation als Grundprozesse zur Erhaltung von Handlungskompetenz und Lebensqualität bei (altersbedingten) Funktionsverlusten (vgl. Baltes/Baltes 1989). Das Modell des sozialen Raumes (Bourdieu 1983) dient der Veranschaulichung des Zusammenspiels von ökonomischem und kulturellem Kapital. Während die vertikale Achse den Umfang des ökonomischen und kulturellen Kapitals abbildet, verdeutlicht die horizontale Achse das Verhältnis der beiden Kapitalsorten zueinander. Dabei überwiegt auf der rechten Seite der Achse das ökonomische Kapital und auf der linken Seite das kulturelle gegenüber dem ökonomischen Kapital (vgl. Karrer 2016: 23).
1. Einleitende Betrachtungen
der therapeutischen und medizinischen Behandlung (vgl. ebd.: 45f). Demgegenüber zeigten sich die Befragten aus den unteren Bereichen des sozialen Raumes wiederum offener, mit Nachbarn und Bekannten über die Demenz des Familienmitglieds zu kommunizieren. Darüber hinaus werde im unteren Bereich des sozialen Raumes die Wahrnehmung der Situation als weniger gravierend beschrieben, weil »herkömmliche Momente des Habitus und der Lebensführung durch die Krankheit des Partners [sic!] oben viel stärker tangiert werden als unten.« (ebd.: 60). Und nicht zuletzt sei es im unteren Bereich des sozialen Raumes wiederum deutlich verpönter als oben, sich professionelle Unterstützung zu suchen oder die Partner*innen mit Demenz gar in ein Pflegeheim abzugeben. Diesbezüglich verweist Karrer zusätzlich auf die Bedeutung der Geschlechtsidentität und die Tatsache, dass weibliche Pflegende sich insgesamt deutlich seltener Hilfe holen, als männliche Pflegende (vgl. ebd.: 82ff). Ein Aspekt, der auch im Auswertungsteil der vorliegenden Arbeit noch von Bedeutung sein wird. Zusammenfassend lässt sich aus den bestehenden Forschungen zur informellen Demenzpflege an dieser Stelle folgender Eindruck ableiten: Über die verschiedenen Studien hinweg herrscht Einigkeit bezüglich der hohen Belastung oder gar Überlastung, welche die Pflege eines Menschen mit Demenz für ihre Angehörigen darstellt. In allen Studien ist die Altersspanne der Befragten relativ breit und es wird nicht zwischen der informellen Pflege eines Elternteils oder der Partner*innen mit Demenz differenziert. Dies erscheint mir einerseits im Hinblick auf die unterschiedliche Beziehungsebene und Wohnsituation ein Stück weit problematisch. Andererseits muss darüber hinaus bei der breiten Alterspanne davon ausgegangen werden, dass die Pflegenden sich zum Teil in sehr unterschiedlichen Lebenssituationen mit je spezifischen Vereinbarkeitsproblematiken befinden dürften, was die Vergleichbarkeit der jeweiligen Situationen erschwert. Und nicht zuletzt zeigt sich im Hinblick auf die Altersspanne der bestehenden Studien, dass es bis dato keine gegenstandsbezogene Untersuchung mit Fokus auf ältere und alte pflegenden Angehörige und deren spezifische Lebenssituation gibt. Darüber hinaus wird über die verschiedenen Studien hinweg deutlich, dass die Kategorie Zeit stets einen wichtigen Gradmesser für die subjektive Be- oder Überlastung der Befragten darstellt, aber von den Autor*innen nicht vertiefend analysiert wurde. Und auch die Bedeutung von Geschlecht innerhalb der Pflegesituation geht aus sämtlichen der geschlechtlich durchmischten Samples hervor, wird aber − wenn überhaupt − eher als zufälliges Teilergebnis mit angesprochen und ebenfalls nicht näher untersucht.
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Dieser kurze Forschungsüberblick bietet dementsprechend nicht nur eine gute erste Sensibilisierung für die zu untersuchende Situation, sondern unterstreicht zugleich noch einmal die Forschungsrelevanz der vorliegenden Arbeit.
2. Pflege und Demenz: Annäherung an die Situation
Wie bereits angekündigt, wird es in diesem Abschnitt meiner Arbeit darum gehen, den Einstieg in die Empirie vorzubereiten. Dazu gilt es erstens zu klären, mit welchem Begriffsverständnis von Pflege an die vorliegende Untersuchung herangegangen wurde. Daran anschließend erfolgt zweitens eine kurze Einführung in das Krankheitsbild der Demenz sowie drittens ein Überblick zu den institutionellen Rahmenbedingungen der informellen Demenzpflege in Deutschland. Abgerundet wird besagte Vorbereitung der Empirie sodann viertens über die Darstellung der theoretischen Perspektive, mit der ich im Anschluss auf die Erzählungen der Pflegenden schaue.
2.1
Pflege als Sorgearbeit: Begriffsrahmung
Wenn man als Forscher*in die Situation pflegender Angehöriger in der informellen Demenzpflege untersuchen möchte, dann stellt sich natürlich die Frage danach, welches Begriffsverständnis von Pflege den Analysen zugrunde gelegt wird. Wie in der Einleitung bereits thematisiert, hat die vorliegende Arbeit das Ziel, einen empirischen Beitrag zu der seit den 1990er Jahren verstärkt geführten Care-Debatte zu leisten. Daher liegt es nahe, mich bei der begrifflichen Rahmung des von mir untersuchten Teilbereichs unbezahlter Pflege an bereits bestehenden Konzeptualisierungen relevanter Autor*innen aus diesem Forschungsgebiet zu orientieren. Vom englischen Terminus der »care work« abgeleitet, kann der Begriff der »Sorgearbeit« in der deutschsprachigen Care-Debatte als Oberbegriff für alle »praktischen Relationen zwischen Menschen, die sich […] aus dem Werden und Vergehen des Lebens ergeben.« verstanden werden (Klinger 2014: 83). Die Unterscheidung in direkte, indirekte und unterstützende Sorgetätig-
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keiten bietet dabei eine Möglichkeit, die Sorgearbeit vor dem Hintergrund ihrer handlungspraktischen Inhalte auszudifferenzieren (vgl. Knobloch 2013: 11). Während die direkte Sorgearbeit personenbezogene Tätigkeiten, wie das Waschen und Anziehen der zu umsorgenden Personen beinhaltet, wird von indirekter Sorgearbeit gesprochen, wenn es um weniger körperbezogene Tätigkeiten, wie die Beaufsichtigung der betreffenden Person geht. Als unterstützende Sorgearbeit gelten schließlich Tätigkeiten, wie das Kochen oder Putzen (vgl. ebd.). Soll in der Care-Debatte auf diese arbeitsinhaltliche Seite sorgender Tätigkeiten verwiesen werden, dann wird dafür auch häufig der Begriff der »Care-Arbeit« genutzt (vgl. Winker 2015: 17). Der Begriff der Pflege hingegen, findet sich im Fachdiskurs zumeist lediglich als ein Teilbereich von Care-Arbeit in der Auflistung der verschiedenen direkten Sorgetätigkeiten wieder (vgl. ebd.: 22). In dem Anliegen, mich in der vorliegenden empirischen Untersuchung nicht zu stark von der alltagsweltlichen Wortwahl der Befragten zu entfernen, halte ich es allerdings für angebracht, meinen Analysen ein erweitertes Begriffsverständnis von Pflege zugrunde zu legen. Denn all jene Personen, die von sich selbst sagen, die Pflege ihrer Partner*innen mit Demenz übernommen zu haben, sind in der Regel mit sämtlichen Formen von direkter, indirekter und unterstützender Sorgearbeit konfrontiert, weswegen der Begriff der Pflege in der vorliegenden Untersuchung synonym zum Begriff der Sorgearbeit als Bezeichnung für die Gesamtheit von Sorgetätigkeiten Verwendung finden wird, die im Zusammenhang mit der beschriebenen Verantwortungsübernahme für die zu umsorgenden Partner*innen stehen. Die zudem verwendete Bezeichnung als informelle Demenzpflege dient wiederum der Konkretisierung der Untersuchungsgruppe und erlaubt die begriffliche Abgrenzung vom Sektor der formellen Demenzpflege (vgl. Blinkert/Klie 2006: 203). Der im Kontext der Konzeptualisierung von Sorgearbeit ebenfalls häufig zu findende, stärker marxistisch geprägte Begriff der »Reproduktionsarbeit« ist für die vorliegende Untersuchung ebenfalls von Bedeutung, bedarf aber eines erweiterten Begriffsverständnisses, um ihn für die hier im Mittelpunkt stehenden Formen von Pflege in der Lebensphase des Ruhestands zu öffnen. In Anschluss an die Konzeptualisierungen des Feministischen Instituts Hamburg fokussiert Reproduktionsarbeit in der vorliegenden Untersuchung daher »nicht nur auf die (Wieder-)Herstellung von Arbeitskraft, sondern bezieht auch das Überleben und Wohlbefinden ehemaliger Arbeitskräfte und damit die Versorgung unterstützungsbedürftiger alter Menschen mit ein.« (Schrader 2014: 53).
2. Pflege und Demenz
Weiterhin bildet die in der Care-Debatte als wichtiger Teil von Sorgearbeit konzeptualisierte Selbstsorge – also »[…] all das, was eine Person tut, um sich selbst zu versorgen und immer wieder neu zu stabilisieren, so dass sie leistungsfähig bleibt […].« (Winker 2015: 18) – in der vorliegenden Untersuchung das Gegenstück zur Pflege der an Demenz erkrankten Partner*innen. Damit ist sie auch relevant für die Analysen zu den Grenzen der Pflege und die Frage nach einem potentiellen Mindestmaß an Selbstsorge, die gewährleistet, dass sich die betreffenden Personen weiterhin um die zu pflegenden Partner*innen kümmern können. Daraus lässt sich zudem ein weiteres viel diskutiertes Strukturmerkmal von Sorgearbeit ableiten, denn die in der vorliegenden Untersuchung interessierende Form der informellen Demenzpflege beruht maßgeblich auf einer asymmetrischen menschlichen Beziehung, bei der eine Person in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen ist und eine andere Person die Verantwortung für die hilfsbedürftige Person übernimmt. Das schafft ein Abhängigkeitsverhältnis, das in der Care-Debatte insbesondere im Hinblick auf die mit der Verantwortungsübernahme einhergehenden – zumindest subjektiv – beschränkten Möglichkeiten, die anfallenden Sorgetätigkeiten zu verweigern, kritisch hervorgehoben wird (ebd. 23). Dieser Aspekt ist auch in der vorliegenden Untersuchung von Bedeutung, um die handlungspraktischen Dynamiken innerhalb der Pflegesituation zu verstehen. Und schließlich spielt für das hier vertretene Verständnis von Pflege natürlich auch der Umstand eine Rolle, dass diese in der Praxis sowohl im bezahlten Sektor institutioneller Sorgearbeit, als auch in der unbezahlten, informellen Pflege vorrangig von Frauen übernommen wird (vgl. Haubner 2017: 225). Das bedeutet, dass Pflege – trotz der zunehmend brüchig werdenden Zuweisung von Fürsorgearbeit an das weibliche Geschlecht (vgl. Heilmann/Scholz 2017: 351) – nach wie vor überwiegend weiblich ist (vgl. Heusinger et al. 2016). Als Folge sozialer Zuschreibungsprozesse und Kulturprodukt moderner Gesellschaften ist Pflege demnach bei weitem nicht geschlechtsneutral, sondern weiblich konnotiert. Dies galt es nicht erst beim Analysieren der Empirie, sondern bereits im Zuge der Interviews im Hinblick auf das Sprechen über Pflege stets zu beachten.
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2.2
Zum Krankheitsbild und Verlauf der Demenz
Die Bezeichnung »Demenz« entstammt dem lateinischen Begriff »de mente«, was so viel bedeutet wie »von Sinnen« (Payk 2010: 9). Nach der Begriffsprägung 25 v. Chr. wurde dieser über viele Jahrhunderte hinweg genutzt, um das Verhalten all jener Menschen, die dem lateinischen Wortsinn entsprechend »des Verstandes beraubt« waren, mit einem medizinischen Terminus beschreiben zu können (Kastner/Löbach 2010: 1). Im 16. Jahrhundert benannte der Schweizer Medizinprofessor Felix Platter erstmals die Vergesslichkeit als das Hauptmerkmal der demenziellen Erkrankung und nahm damit eine erste Schärfung des Krankheitsbildes vor (vgl. Payk 2010: 9).1 Erst deutlich später, im Jahr 1797, beschrieb der französische Arzt Philippe Pinel die Demenz als eine chronisch verlaufende Erkrankung und sein Schüler Jean Etienne Esquirol differenzierte die Merkmale dieser Krankheit weiter aus, indem er 1827 postulierte, dass zwischen angeborener und erworbener Einschränkung der Gedächtnisleistung unterschieden werden müsse und letzteres als Demenz klassifizierte (vgl. ebd.). Im Jahr 1906 untersuchte Alois Alzheimer das Gehirn einer zuvor verstorbenen Patientin mit demenzieller Symptomatik und fand Eiweißablagerungen und abgestorbene Zellen in vielen Bereichen des Gehirns. Er war der Erste, der diese Veränderungen in direkten Zusammenhang mit dem zuvor beobachteten Verhalten seiner ehemaligen Patientin brachte. Wenige Jahre später, wurde die von ihm beschriebene Erkrankung als »Alzheimer’sche Krankheit« in die Psychiatrie eingeführt und seitdem kontinuierlich weiter erforscht sowie in verschiedene Formen von Demenz ausdifferenziert (vgl. Kastner/Löbach 2010: 2). Nach heutigem Stand der medizinischen Forschung wird zwischen primären und sekundären Demenzen unterschieden. Während die sekundären Formen von Demenz ihren Ursprung in anderen Erkrankungen, wie z.B. Alkoholsucht oder Stoffwechselstörungen haben, sind die ursächlichen Veränderungen bei den primären Demenzen im Gehirn zu finden (vgl. ebd.: 9). 1
Ich habe mich bewusst dafür entschieden, bei der Beschreibung des Krankheitsbildes die medizinische Perspektive auf Demenz darzulegen, weil es an dieser Stelle der Untersuchung darum geht, den Leser*innen mithilfe der folgenden Charakterisierung einen (ersten) Eindruck davon zu vermitteln, welche Veränderungen und Herausforderungen im Kontext der demenziellen Erkrankung für die Betroffenen selbst und ihre (pflegenden) Angehörigen zu erwarten sind. Die ebenfalls existierende sozial-konstruktivistische Perspektive auf die Diagnose Demenz (vgl. Radvanzsky 2011) erweist sich in diesem Zusammenhang wiederum als eher ungeeignet.
2. Pflege und Demenz
Die primären Demenzformen werden zudem in degenerative und nicht-degenerative Demenzerkrankungen unterteilt (vgl. Deutsche Alzheimer Gesellschaft 2017: 9). Entscheidend ist hierbei, dass die Demenz bei den nicht-degenerativen Formen gelindert oder zumindest eine weitere Verschlimmerung der Symptome verhindert werden kann, sobald die Erkrankung diagnostiziert wurde. Die degenerativen Formen von Demenz hingegen kennzeichnen sich durch eine fortschreitende Verschlimmerung, die höchstens medikamentös und therapeutisch hinausgezögert, nicht aber verhindert werden kann (vgl. ebd.: 10ff). Die Alzheimer-Demenz ist die wohl bekannteste und häufigste Unterform der degenerativen Demenzen. Abgesehen davon zählen aber auch die vaskuläre Demenz, die Lewy-Körperchen-Demenz, die Frontotemporale Demenz sowie die Demenz bei Morbus Parkinson zu den typischen Formen degenerativer Demenz und zusammen mit der Alzheimer-Demenz machen sie rund 80 % aller Demenzerkrankungen aus (vgl. Kastner/Löbach 2010: 29). In der vorliegenden Untersuchung sind sämtliche Partner*innen der interviewten Angehörigen an einer degenerativen Form von Demenz erkrankt, weswegen im folgenden Abschnitt die allgemeine Symptomatik und der Verlauf dieser Demenzformen im Vordergrund stehen werden.2
Anfangsstadium – Leichte Demenz Zu Beginn der Erkrankung werden die Betroffenen oder ihre Angehörigen in der Regel als erstes auf Störungen der Gedächtnisleistungen aufmerksam. Diese äußern sich zum Beispiel dadurch, dass auf einmal Termine vergessen werden, der Name eines Bekannten nicht mehr einfallen will oder Dinge des 2
Hierbei sei darauf verwiesen, dass natürlich auch die Unterformen der degenerativen Demenzen in jeweils spezielle Krankheitsbilder und -verläufe weiter ausdifferenziert werden können und sich die Alzheimer-Demenz beispielsweise infolge ihres schleichenden und konstant verschlechternden Verlaufs von der vaskulären Demenz unterscheidet, die plötzlich beginnt und stufenhaft schlimmer wird (vgl. ebd.: 34). Ziel dieses Unterkapitels ist es jedoch lediglich, den Leser*innen einen ersten Einblick in das Krankheitsbild der Demenz zu vermitteln, der es ermöglicht, die im weiteren Verlauf meiner Ausführungen immer wieder auftauchenden Schilderungen und Bezugnahmen auf das Handeln der Partner*innen mit Demenz in den Kontext der besonderen Symptomatik dieser Erkrankung einordnen zu können. Und eben dafür erscheint es ausreichend, die allgemeine Symptomatik der degenerativen Demenzen innerhalb der verschiedenen Stadien der Demenz darzulegen. Sofern für die empirischen Auswertungen Informationen zu den spezifischen Symptomen einer konkreten Unterform benötigt werden, so werden diese direkt in die Analysen oder aber in die Fallkontrastierungen mit eingeflochten.
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täglichen Gebrauchs nicht dort gefunden werden können, wo die Betroffenen sie vermuten. Die eigene Wahrnehmung dieser Gedächtnisstörung leitet häufig eine Phase ein, in der die Betroffenen versuchen, die Erinnerungslücken, Orientierungsschwierigkeiten oder Aufmerksamkeitsstörungen zu kaschieren und dabei nicht selten andere – insbesondere nahestehende – Personen verdächtigen, die verschwundenen Dinge verlegt oder den verpassten Termin vertauscht zu haben (vgl. Payk 2010: 24). Während in dieser frühen Phase die eigenen Defizite noch bemerkt und aktiv übergangen werden können, entfällt den demenziell erkrankten Personen mit Fortschreiten der Symptomatik zunehmend der Sinn und Zweck eigener Intentionen und das eigene sowie das Handeln anderer Personen im nahen Umfeld wird ihnen zunehmend unverständlich und fremd. Weiterhin kommen bereits im frühen Stadium der Demenz häufig Sprachstörungen dazu, die sich zunächst über Wortfindungsstörungen oder den vermehrten Gebrauch von Ersatzwörtern zum Umschreiben bestimmter Dinge äußern (vgl. Kastner/Löbach 2010: 11).
Fortgeschrittenes Stadium – Mittelschwere Demenz Treten bei den Betroffenen verstärkt psychische Symptome, wie Ängste oder wahnhaftes Erleben sowie deutliche Verhaltensänderungen auf, durch die sie im Alltag zunehmend auf Hilfe angewiesen sind, dann ist die Erkrankung bereits so weit fortgeschritten, dass eine mittelschwere Demenz vorliegt. Und während das Anfangsstadium der Erkrankung insbesondere durch die kognitiven Veränderungen gekennzeichnet ist, steht im fortgeschrittenen Stadium vor allem die Störung des Alltags durch herausfordernde Verhaltensänderungen der Menschen mit Demenz im Vordergrund (vgl. ebd.: 27). Als herausforderndes Verhalten werden in der Fachliteratur Handlungen bezeichnet, die für die Situation, in der diese Handlungen stattfinden eine Belastung darstellen und dadurch das Wohlbefinden der handelnden Person oder anderer Personen aus dem unmittelbaren Umfeld beeinträchtigen (vgl. James 2012: 23). Bei den Formen herausfordernden Verhaltens wird mit der Klassifikation nach Cohen-Mansfield häufig zwischen körperlich-aggressiven Handlungen (z.B. Schlagen, eigene Haare ausreißen), körperlich nichtaggressivem Verhalten (z.B. allgemeine Erregtheit, ständiges Nachlaufen) und verbal störenden Handlungen (z.B. repetitives Fragen, Schreien) unterschieden (vgl. Cohen-Mansfield 2000). Ab wann ein Verhalten als herausfordernd gilt, ist dabei von Fall zu Fall verschieden und insbesondere abhängig von der Beurteilung der in der Situation involvierten (Pflege-)Personen. So ist beispielsweise
2. Pflege und Demenz
das ständige Herumlaufen im Wohnzimmer erst dann herausfordernd, wenn sich die Partner*innen dadurch gestört fühlen. Aus diesem Grund kann herausforderndes Verhalten auch als soziales Konstrukt verstanden werden. Auf der Suche nach den Ursachen für diese Verhaltensweisen wird vermehrt davon ausgegangen, dass sie eine Reaktion auf unbefriedigte Bedürfnisse darstellen oder aber ein Bedürfnis signalisieren, welches direkt befriedigt werden soll (vgl. ebd.; James 2010). Verlässt die Person mit Demenz also beispielsweise am Vormittag immerzu das Haus und will davonlaufen, dann könnte dies sowohl ein Weg sein, um zeigen, dass es zuhause langweilig ist, als auch daran liegen, dass die betroffene Person glaubt, zur Arbeit gehen zu müssen. Dieses Verhalten galt im Fachdiskurs zunächst als Weglauftendenz, wird mittlerweile aber als Hinlauftendenz bezeichnet, um zu verdeutlichen, dass Menschen mit Demenz nicht planlos weglaufen, sondern zumeist ein mehr oder weniger spezifisches Ziel haben, zu dem sie sich auf den Weg machen.3 Die besondere Herausforderung für professionelles Pflegepersonal, aber insbesondere auch die pflegenden Angehörigen besteht darin, die unbefriedigten Bedürfnisse zu erkennen und – wenn möglich – zu erfüllen (vgl. James 2012: 114). Da herausforderndes Verhalten allerdings häufig mit einer deutlich abnehmenden Mitteilungsfähigkeit der Menschen mit Demenz einhergeht, wird die Ermittlung der Bedürfnisse zusätzlich erschwert. Wird jedoch einfach nur versucht, die betroffene Person an der Ausführung der störenden Verhaltensweisen zu hindern, dann verstärkt sich das herausfordernde Verhalten infolge von Frustration in der Regel eher noch. Hierbei sei allerdings angemerkt, dass es unter Umständen einfacher ist, das unbefriedigte Bedürfnis einer Person mit Demenz zu ermitteln, die ständig wegläuft, als jene Bedürfnisse, die hinter dem Verhalten stecken, immer wieder nackt mit einer Suppenkelle in der Hand auf den Balkon zu gehen.4 Im fortgeschrittenen Stadium der Demenz kommen bei den Betroffenen zudem häufig veränderte Schlafgewohnheiten hinzu, bei denen sich längere Schlafphasen am Tag mit Unruhezuständen in der Nacht abwechseln, was insbesondere für die pflegenden Partner*innen eine erhebliche Belastung erzeugen kann (vgl. Kastner/Löbach 2010: 27).
3 4
Vgl. https://www.wegweiser-demenz.de/weblog-und-forum/weblog/gust-jochen/beitr ag-jochen-gust.html Diese Beispiele sind nicht erdacht, sondern stammen aus den in der vorliegenden Arbeit erhobenen empirischen Daten.
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Spätes Stadium – Schwere Demenz Charakteristisch für den Übergang zum Stadium einer schweren Demenz ist das verstärkte Auftreten körperlich-neurologischer Symptome. Das bedeutet, dass die erkrankte Person zunächst Gangstörungen entwickelt, die im weiteren Verlauf in wiederholten Stürzen und/oder zunehmender Gangunfähigkeit münden und schließlich zur Bettlägerigkeit führen. Dazu kommt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit außerdem das Symptom der Inkontinenz, deren Ursache zum einen darin liegen kann, dass die Person mit Demenz die Toilette nicht mehr rechtzeitig findet. Und zum anderen werden zumeist auch jene Hirnregionen von der demenziellen Erkrankung geschädigt, die zuvor für die Steuerung der Blase und des Darms zuständig waren (vgl. ebd.: 21f). Die bereits im Anfangsstadium einsetzende Sprachstörung ist bei Personen mit schwerer Demenz außerdem in der Regel soweit ausgeprägt, dass sie maximal noch in Einwortsätzen und zuletzt gar nicht mehr verbal kommunizieren können. Zuvor beobachtbare herausfordernde Verhaltensweisen gehen wiederum in fast allen Fällen aufgrund zunehmender Immobilität und Apathie deutlich zurück. Die Betroffenen können sich in dieser Phase der Erkrankung weder allein waschen, noch ankleiden und sind bei sämtlichen reproduktiven Tätigkeiten des Alltags auf Hilfe angewiesen (vgl. Berlin-Institut 2011: 12). Erschwerend kommt für die Menschen mit Demenz außerdem dazu, dass sie zunehmend Probleme mit der Nahrungsaufnahme entwickeln, weil zum Beispiel entweder der Geschmacks- und Geruchssinn nicht mehr steuerbar ist oder aber Schluckstörungen auftreten, die so weit gehen können, dass die orale Nahrungsaufnahme durch die Ernährung via Magensonde ersetzt werden muss. Für das Endstadium der Demenz lässt sich daher festhalten, dass die frühere Persönlichkeit der Erkrankten auf einen minimalen »Überlebenskern« (Payk 2010: 26) zusammengeschrumpft ist, der lediglich die wichtigsten Körperfunktionen vorerst noch weiter am Leben erhält, während die geistige Verfassung der Menschen mit Demenz in dieser Phase keinerlei sinnvolle Überlegung oder Handlung mehr zulässt (vgl. ebd.). Schließlich sind in vielen Fällen Erkrankungen, wie Lungenentzündungen oder grippale Infekte die Ursache für das finale Ableben der betroffenen Personen. In den Sterberegistern ist daher nur selten die Demenz als Todesursache aufgeführt. Diese Infekte können allerdings als Folgeerkrankung der Grunderkrankung Demenz verstanden werden, denn durch diese ist die körpereigene Abwehr der Betroffenen geschwächt und die Anfälligkeit für Infekte deutlich erhöht (vgl. Berlin-Institut 2011: 12).
2. Pflege und Demenz
Für die Dauer der Demenzerkrankung können keine verlässlichen Angaben gemacht werden, da zu viele individuelle und soziale Faktoren den Verlauf der Krankheit beeinflussen. Es muss jedoch damit gerechnet werden, dass jedes der beschriebenen Stadien statistisch gesehen mindestens drei Jahre dauert, wobei Frauen die Erkrankung im Durchschnitt etwa anderthalb Jahre länger überleben als Männer (vgl. Kastner/Löbach 2010: 4). Im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit wird sich jedoch zeigen, dass diese durchschnittlichen Angaben zur Dauer im Einzelfall sehr stark variieren können und deshalb nur bedingt als Orientierungswert für Betroffene und ihre pflegenden Angehörigen zu empfehlen sind.
2.3
Demenzpflege: Institutionelle Rahmenbedingungen
In Deutschland sichert seit 1995 die Pflegeversicherung einen Teil der Risiken und Folgen von Pflegebedürftigkeit ab. Laut Pflegeversicherungsgesetz (SGB XI) gelten all jene Menschen als pflegebedürftig, die in ihrer Selbstständigkeit eingeschränkt und mindestens sechs Monate oder aber dauerhaft auf pflegerische Hilfen angewiesen sind (vgl. §14 SGB XI). Die Entscheidung darüber, ob und in welchem Maß eine Person pflegebedürftig und damit leistungsberechtigt ist, basiert auf bestimmten Kriterien, mit deren Hilfe der Pflegegrad – beziehungsweise vormals die Pflegestufe – der jeweiligen Person ermittelt wird (§15 SGB XI). Dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) kommt dabei die Aufgabe zu, mithilfe einer Pflegebegutachtung die häusliche Situation zu erfassen und eine Empfehlung zu erarbeiten, an der sich die Pflegeversicherungen bezüglich der Leistungsbewilligung maßgeblich orientieren.5 Unabhängig vom ermittelten Grad der Pflegebedürftigkeit und der jeweiligen Form der Erkrankung gilt für die praktische Ausgestaltung der Pflege dabei zunächst einmal der »Vorrang der häuslichen Pflege« (§3 SGB XI). Das ist insbesondere von Bedeutung für die pflegenden Angehörigen, denn damit wird gesetzlich festgehalten, dass die Leistungen der Pflegeversicherung lediglich subsidiär zur informellen Pflegeleistung durch Angehörige zu verstehen sind und zum Ziel haben, »vorrangig die häusliche Pflege und die 5
Im Kapitel zur häuslichen Pflegearena und ihren Akteur*innen erfolgt auf Basis der empirischen Daten noch einmal eine genauere Beleuchtung der Rolle des MDK innerhalb der informellen Demenzpflege (vgl. Kap. 4.1).
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Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn [sic!] [zu] unterstützen, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können.« (§3 SGB XI). Der Leistungskatalog der Pflegeversicherungen ist demnach in erster Linie auf die Unterstützung ambulant-häuslicher Pflege ausgerichtet und die Betroffenen können zwischen Pflegegeld6 , Pflegesachleistungen7 oder einer Kombination aus beidem wählen (BMG 2018: 85). Leistungen der teilstationären und vollstationären Pflege werden erst gewährt, wenn die Betreuung und Pflege der betroffenen Person im häuslichen Umfeld beispielsweise aufgrund von Krankheit der pflegenden Angehörigen nicht mehr gewährleistet werden kann (vgl. §3 SGB XI; BMG 2018: 129ff). Für Betroffene von Demenz und ihre Angehörigen ergibt sich die Besonderheit, dass ihr Anspruch auf Leistungen noch nicht seit Einführung der Pflegeversicherung besteht, da die Kriterien zur Erfassung von Pflegebedürftigkeit zunächst hauptsächlich auf körperliche Beeinträchtigungen ausgerichtet waren, während kognitive Einschränkungen mit den Begutachtungsinstrumenten viele Jahre lang nicht erfasst wurden (vgl. BMG 2008: 9f). Diese Situation ändert sich erst 2008 im Zuge einer mehrstufigen Reformation der Pflegegesetzgebung, mit der politisch auf die mit dem demografischen Wandel einhergehenden gesellschaftlichen Herausforderungen für die Pflege reagiert wird. Mit der Pflegereform 2008 und dem ab 1. Juli 2008 in Kraft getretenen PflegeWeiterentwicklungsgesetz (PfWG) erhalten Demenzkranke erstmals die Möglichkeit, auch ohne das Vorliegen zusätzlicher körperlicher Beeinträchtigungen Hilfeleistungen von der Pflegekasse zu beziehen. Grund dafür ist die Einführung verbesserter Leistungen für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, die eine Erweiterung der bis dato bestehenden drei Pflegstufen um die sogenannte »Pflegestufe 0« beinhaltet, in die insbesondere demenziell und psychisch erkrankte Personen aufgenommen und durch Geld- und Sachleistungen besser unterstützt werden sollen (DGB 2008: 28). Weiterhin werden bundesweit sogenannte Pflegestützpunkte eingerichtet, die die Betroffenen und ihre Angehörigen im Bedarfsfall mit allen notwendigen Informationen versorgen sollen und seit Januar 2009 besteht ein Rechtsanspruch
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Das Pflegegeld wird von der Pflegekasse direkt an die pflegebedürftige Person ausgezahlt und soll an pflegende Angehörige oder ehrenamtliche Helfer*innen weitergereicht werden (BMG 2018: 86) Bei dieser Form der Sachleistung beteiligt sich die Pflegekasse an den Kosten für ambulante Pflegedienste oder selbstständige Altenpfleger*innen (ebd.: 86).
2. Pflege und Demenz
auf individuelle Pflegeberatung für Angehörige – auch in strukturschwachen Regionen ohne Pflegestützpunkt (ebd.: 14ff). Und nicht nur in den Pflegestützpunkten werden die Mitarbeiter*innen verstärkt zu den Besonderheiten der Demenzpflege geschult, sondern auch in den ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen wird mit der Pflegereform von 2008 begonnen, den »Service für Demenzkranke« (ebd.: 28) deutlich zu verbessern. Die Pflegestärkungsgesetze (PSG I-III) sind wiederum das Ergebnis der seit der Pflegereform 2008 laufenden Überarbeitungsbestrebungen der Pflegegesetzgebung. Mit dem PSG I wird seit 1. Januar 2015 zunächst vor allem die häusliche Pflege gestärkt, indem deutlich mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden. Das bedeutet, dass sowohl das Pflegegeld erhöht, als auch der Anspruch auf Betreuungsleistungen in der ambulanten Pflege erweitert werden (vgl. BMG 2016: 12ff). Darüber hinaus erhalten erstmals auch pflegende Angehörige von Demenzkranken, die bisher nur als eingeschränkt alltagskompetent (Pflegestufe 0) eingestuft wurden, die Möglichkeit, zusätzlich Leistungen teilstationärer Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege in Anspruch zu nehmen (vgl. ebd.). Und schließlich soll auch die Einführung von Entlastungsleistungen, die für Haushaltshilfen oder Alltagsbegleiter*innen eingesetzt werden können sowie die Anhebung der finanziellen Zuschüsse für Umbaumaßnahmen im Haushalt dazu beitragen, die pflegenden Angehörigen mehr zu entlasten. Das PSG II bildet wiederum das Herzstück der neuen Pflegegesetzgebung und trat am 1. Januar 2016 in Kraft.8 Von besonderer Relevanz ist dieses Gesetz, weil es den Pflegebedürftigkeitsbegriff grundlegend neu ausrichtet und im Zuge dessen zum 1. Januar 2017 ein neues Begutachtungsinstrument eingeführt sowie die bisherigen drei Pflegestufen abgeschafft und durch fünf Pflegegrade ersetzt hat. Während der alte Pflegebedürftigkeitsbegriff vorrangig auf körperliche Beeinträchtigungen fokussierte, orientiert sich seine Neudefinition an den Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit und den Fähig8
Es sei darauf verwiesen, dass die empirischen Erhebungen der vorliegenden Arbeit bereits Ende 2015 abgeschlossen wurden und dementsprechend die im weiteren Verlauf der Untersuchung im Mittelpunkt stehenden Personen selbstverständlich noch nicht von den Veränderungen durch das PSG II berichten konnten. Langfristig betrachtet wäre es natürlich spannend, mithilfe einer zweiten Erhebungswelle ein paar Jahre nach Implementation der jüngsten Pflegereformen zu schauen, inwieweit die Pflegestärkungsgesetze tatsächlich zur subjektiven Verbesserung der Situation pflegender Angehöriger beitragen, aber das ist erstens natürlich auch abhängig von vielen weiteren Faktoren und zweitens schlichtweg nicht Fokus dieser Arbeit.
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keiten der Betroffenen (vgl. §14 SGB XI). Von dieser Änderung sollen laut des Bundesministeriums insbesondere die 1,7 Millionen demenziell erkrankten Menschen in Deutschland profitieren, da über den Fokus auf die Selbstständigkeit ihre demenzspezifischen Beeinträchtigungen besser berücksichtigt werden können (vgl. BMG 2017: 12f). Für das neue Begutachtungsverfahren bedeutet das wiederum, dass die Einstufung der Pflegebedürftigkeit sich nicht mehr am Zeitaufwand für die konkreten Pflegetätigkeiten orientiert, sondern am Grad der Selbstständigkeit der hilfsbedürftigen Person (vgl. ebd. 2016: 16). Im neuen Begutachtungsinstrument werden daher neben klassischen Bereichen, wie Körperpflege, Ernährung oder Mobilität, nun auch kognitive und kommunikative Fähigkeiten sowie die Gestaltung des Alltagslebens und der Sozialkontakte umfassend mit betrachtet (vgl. §15 SGB XI). Bei der Umgruppierung vom alten auf das neue System sind daher Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz – also insbesondere die Demenzkranken – deutlich pflegebedürftiger eingestuft worden als zuvor und erhalten dementsprechend mehr Leistungen (vgl. BMG 2016: 16). Mit dem im Januar 2017 in Kraft getretenen PSG III wird schließlich insbesondere auf die angespannte Situation auf Seiten der professionellen Pflegekräfte reagiert, weswegen es für die hier im Mittelpunkt stehende informelle Demenzpflege eher nachrangig ist. Wichtig ist allerdings eine Änderung im zwölften Sozialgesetzbuch innerhalb der Hilfen zur Pflege. Diese kann von der pflegebedürftigen Person als bedarfsorientierte Sozialleistung beantragt werden, wenn sie nicht die notwendigen Mittel hat, um den Selbstkostenanteil des entstehenden Pflegeaufwandes über das eigene Einkommen oder Vermögen zu decken (§61 SBG XII). Auch hier gilt grundsätzlich der Vorrang der häuslichen Pflege. Seit in Kraft treten des PSG III entfällt für die Empfänger*innen der Hilfen zur Pflege allerdings zusätzlich die Wahlfreiheit zwischen Geld-, Sach- oder Kombinationsleistung und stattdessen gilt der Vorrang der Zahlung von Pflegegeld und der Anspruch, »[…], dass die häusliche Pflege durch Personen, die dem Pflegebedürftigen nahestehen, oder als Nachbarschaftshilfe übernommen wird.« (§64 SGB XII). Die aufgeführten Reformbestrebungen zeichnen ein höchst ambivalentes Bild. Auf der einen Seite ist erkennbar, dass das Thema Demenz die deutsche Pflegepolitik erreicht hat und insbesondere der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff und die Einführung der Pflegegrade der Situation der Betroffenen und ihren pflegenden Angehörigen besser gerecht werden sollen. Auf der anderen Seite zeigt sich allerdings auch, dass der immer weiter ausgebaute Vorrang informell-häuslicher Pflege und das darin erkennbare Prinzip neuer Subsi-
2. Pflege und Demenz
diarität zu Lasten der informellen Pflegenetzwerke und hier insbesondere der pflegenden Familienmitglieder geht (vgl. Haubner 2017: 199). Denn wenn professionelle Pflege – sei es ambulant (§64 SGB XII) oder stationär (§3 SGB XI) – nicht mit informeller Pflege Hand in Hand geht, sondern erst dann unterstützt wird, wenn die informellen Pflegenetzwerke versagen, dann wird pflegepolitisch befördert, dass pflegende Angehörige zuerst mit der Situation im häuslichen Kontext »überfordert« (BMG 2018: 129) sein müssen, bevor sie professionelle Hilfe erhalten. Dies gilt es im weiteren Verlauf der Untersuchung vor allem in den empirischen Analysen zu den Grenzen der Pflege noch genauer zu beleuchten.
2.4
Die Praxis der Pflege: Paradigmen soziologischer Praxisforschung
Nachdem auf den zurückliegenden Seiten dieses Abschnitts zur Annäherung an die zu untersuchende Situation insbesondere Begrifflichkeiten, Symptome und spezifische Rahmenbedingungen der Pflege im Vordergrund standen, fehlt für den Einstieg in die Empirie nun nur noch die theoretische Brille, durch die im Anschluss auf die häusliche Pflegesituation geblickt wird. Die soziologische Praxistheorie benennt die Untersuchung dessen, was um uns geschieht, als zentralen Gegenstand ihrer Forschung. Um uns herum wird gelacht und geweint, geküsst und gestritten, gegessen und gehungert, geboren und gestorben und eben auch – und das gegenwärtig und zukünftig immer mehr – informell und professionell gepflegt. Versteht man also das, was um uns herum geschieht als Praxis und diese zunächst einmal ganz grundlegend als das Ergebnis der Verkettung von Praktiken des Tuns, Sprechens, Fühlens und Denkens im Zusammenspiel mit anderen (vgl. Schäfer 2016: 12), dann erscheint die Einnahme einer praxeologischen Perspektive auf die Praxis der Pflege als fruchtbarer Denkstil zur Erkundung der Empirie. Zu Beginn der Auseinandersetzung mit soziologischer Praxisforschung findet man sich recht bald mit einer Vielfalt an Theorietraditionen und Forschungsstilen konfrontiert, deren Ähnlichkeit sich zuweilen darin erschöpft, die Sozialität als Praxis zu erforschen. Gelingt es jedoch, dem daraufhin kurzzeitig einsetzenden Fluchtinstinkt in eine andere Theorie zu widerstehen und dieses Ausgangsproblem soziologischer Praxistheorie (vgl. Hillebrandt 2014: 8) zu tolerieren, dann entwickelt man im weiteren Verlauf der Lektüre wiederum recht bald ein Verständnis dafür, was Andreas Reckwitz meint, wenn er
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Häusliche Pflege am Limit
die Praxistheorie als facettenreiches Bündel von Analyseansätzen beschreibt, das aus nur lose miteinander verbundenen konzeptuellen Bausteinen besteht (vgl. ebd. 2003: 282). Anstelle eines festen Theoriegebäudes gehe es in erster Linie darum, die Praxistheorie als eine die Empirie anregende Heuristik und begriffliches Netzwerk zu verstehen, mit dessen Hilfe unterschiedlichste Phänomene und deren Zusammenhänge sichtbar gemacht werden können (vgl. ebd. 2016: 164). Dabei wird es zur Aufgabe der jeweiligen Praxisforscher*innen, sich aus diesem Bündel konzeptueller Bausteine jene herauszusuchen, die es bedarf, um die zu untersuchende Praxis angemessen erfassbar und theoretisch herleitbar zu machen. Die für mein Forschungsvorhaben notwendigen Bausteine orientieren sich daher nicht in erster Linie an konkreten Personen, wie Pierre Bourdieu, Anthony Giddens, Theodore Schatzki, Bruno Latour, Judith Butler oder Andreas Reckwitz, die als bedeutende Vertreterinnen je spezifischer Praxistheorien angesehen werden können. Stattdessen erscheint mir die Orientierung an zentralen Begriffen und den von Frank Hillebrandt ausformulierten Paradigmen soziologischer Praxisforschung sinnvoll (vgl. ebd. 2014; 2015; 2016), um die im weiteren Verlauf der Arbeit aus der Empirie zu entwickelnde praxeologische Perspektive auf die Situation pflegender Angehöriger von Demenzkranken theoretisch zu rahmen. Einen ersten Baustein für das praxistheoretische Fundament bildet die begriffliche Differenzierung von Praktiken, Praxisformen und Praxisformationen (vgl. Hillebrandt 2014: 59). Praktiken werden dabei als elementare (Einzel-)Ereignisse der Sozialität verstanden, die sich durch Wiederholung zu erwartbaren und regelmäßigen Praxisformen verketten können. Praxisformationen entstehen dann wiederum aus der Versammlung verschiedenster Formen von Praxis, »die in ihrer spezifischen Assoziation eine übersituative Wirkung entfalten.« (Ebd.). In der vorliegenden Untersuchung entspricht demzufolge das Führen des Löffels zum Mund einer anderen Person einer Praktik, die durch Wiederholung und Erwartbarkeit zur Praxisform des Anreichens von Nahrung wird. Im Zusammenspiel mit anderen Formen der Praxis, wie z.B. dem Waschen der anderen Person, regelmäßiger Medikamentengabe, Begleitung bei Arztbesuchen oder Organisation von Unterstützung durch professionelle Pflegekräfte wird dann schließlich die spezifische Pflegesituation mit der Begrifflichkeit der Praxisformation erfasst. Wichtig für die Auseinandersetzung mit der Praxis der Pflege ist dabei weiterhin, dass Praktiken immer als Folgepraktiken gedacht werden. Eine Praktik bringt die nächste Praktik hervor, wodurch sie immer sowohl als Attraktoren, als auch als Effekte der Praxis fungieren (vgl. ebd.: 58). Dies entspricht dem Ereignis-
2. Pflege und Demenz
paradigma und ist bei der Analyse der Pflegesituation u.a. von Bedeutung, um zu beachten, dass jede Form von Pflegepraxis eine Vorgeschichte hat, die sich mir zwar nicht immer unmittelbar erschließen, aber stets mitgedacht werden muss. So ist beispielsweise die allnächtliche Begleitung der Partner*innen zur Toilette von Relevanz für die Ausgestaltung darauf folgender Praktiken. Diesem Komplex aus regelmäßigen Verhaltensakten wird das Materialitätsparadigma (vgl. ebd.: 111) zu Grunde gelegt, welches auf zwei materielle Instanzen verweist, die den Vollzug einer Praktik überhaupt erst ermöglichen: den menschlichen Körper sowie die Artefakte (vgl. Reckwitz 2003: 290). Demzufolge ist Pflege materiell, weil sie sowohl auf das Vorhandensein von Körpern angewiesen ist, die spezifische Pflegepraktiken ausführen, als auch auf die von menschlichen Körpern geschaffenen Dinge der Pflege (z.B. Waschlappen, Toilettenstuhl, Pflegebett). Beim menschlichen Körper als Quelle der Praktik interessieren dabei nicht nur die offensichtlich physischen Akte, die sich durch bestimmte Bewegungen, Gesten oder Tätigkeiten äußern, sondern auch die Akte des Sprechens, Schreiens oder Weinens, also der Artikulation. Hierbei wird sich unter den Praxistheoretikern häufig auf die Unterteilung in »doings and sayings« (Schatzki 1996: 89) bezogen, wobei ich Stefan Hirschauers Kritik an dieser dualistischen Differenzierung teile und genau wie er, die Artikulation (sayings) als eine Form des Tuns (doings) verstehe (vgl. Hirschauer 2016: 55). Auf die Pflegesituation bezogen ist demnach das Nachfragen, ob die Person mit Demenz etwas essen möchte auch eine körperlich verankerte Praktik der Fürsorge und demzufolge ebenso eine Form des Handelns (doings), wie das daran gegebenenfalls anschließende Anreichen von Nahrung der Partner*innen. An den besonderen Zusammenhang von Sprechen und Handeln anknüpfend, kann die in der vorliegenden Arbeit interessierende Angehörigenpflege daher auch als eine Form des Doing Care verstanden werden (vgl. Zerle/Keddi 2011). Abgeleitet vom Konzept des »Doing Gender« (West/Zimmerman 1987) wird beim Doing Care nicht das Geschlecht, sondern die Pflege beziehungsweise die Pflegebedürftigkeit als das Produkt performativer Tätigkeiten verstanden.9 In Anlehnung an die Ethnomethodologie sind Pflege und Pflege-
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Eine genauere Erläuterung des Konzepts »Doing Gender« von Candace West und Jon H. Zimmerman findet sich im Kapitel zu den theoretischen Grundlagen der Geschlechtersoziologie (vgl. Kap. 7.1) und wird an dieser Stelle der Arbeit bewusst nicht vorgenommen.
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Häusliche Pflege am Limit
bedürftigkeit demnach soziale Konstruktionen und Merkmal der Situation und keine personengebundenen Eigenschaften. Doing Care bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die soziale Realität des Pflegens einerseits durch artikulierte Darstellungen der Pflegepraxis (z.B. von Seiten der interviewten Pflegenden) und andererseits zugleich durch das Verstehen dieser Praxis als Pflegepraxis (z.B. auf Seiten der Interviewerin) überhaupt erst als solche gemeinsam konstruiert werden kann (vgl. Gerding 2009: 73). Weiterhin ist der menschliche Körper nicht nur Quelle der Praktik, sondern immer auch Speicher der Sozialität (vgl. Hillebrandt 2014: 112). Mit dem Vollzug einer Praktik als Sequenz von Bewegungseinheiten geht immer auch eine Inkorporierung von Wissen einher, das als Habitus in den Folgepraktiken dann wiederum körperlich sichtbar wird (vgl. Bourdieu 1976: 165). In der soziologischen Praxisforschung werden Körper und Leib daher nicht einander entgegensetzt, sondern bedingen sich gegenseitig.10 Wenn die pflegenden Angehörigen also davon berichten, dass sie in einer bestimmten Pflegesituation weinen mussten, dann wird dieses Weinen nicht als natürliche Leiberfahrung gedeutet, sondern als zuständliche, man könnte auch sagen situative Leiberfahrung. Zwar mag der Weinende diese vermeintlich abrupte Entäußerung als unkontrollierbare Reaktion des Leibes empfinden. Der praxistheoretischen Logik folgend, ist das Weinen aber ein körperlicher Zustand, der auf zurückliegenden soziokulturell vermittelten Leiberfahrungen beruht, die sich in den Körper eingeschrieben und eine bestimmte Disposition erzeugt haben und in bestimmten Situationen »quasi als Eruption unserer inkorporierten Sozialität« (Hillebrandt 2016: 76) aus dem Körper herausbricht.11 Das hier beschriebene Körperparadigma basiert demzufolge auf der Annahme, dass alle Praktiken körperlich verankert sind, ohne dabei jedoch die Bedeutung des Leibes zu negieren. Wie bereits angedeutet, setzt sich eine Praktik allerdings nicht allein aus der Materialität menschlicher Körper zusammen, sondern hat (fast) immer auch eine dingliche Komponente (Dingparadigma). Abgesehen von Praktiken,
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Wichtig ist, dass es aus praxistheoretischer Perspektive nicht darum geht, den Leibbegriff aufzugeben und allein durch den Körperbegriff zu ersetzen. Stattdessen wird dafür plädiert, die von Helmut Plessner (1950) eingeführte Unterscheidung in den Körper als das, was wir beherrschen und den Leib als das, was uns beherrscht zu überwinden. Inwiefern in diesen Situationen das Erreichen oder Überschreiten einer spezifischen Grenze von Bedeutung ist, wird in den Auswertungen der Empirie insbesondere im Kapitel zu den vergeschlechtlichten Be- und Entgrenzungen genauer erläutert werden.
2. Pflege und Demenz
wie der des einfachen Händedrucks bei der Begrüßung, bedarf es in den allermeisten Situationen immer auch des Rückgriffs auf spezifische Artefakte, damit eine Praktik entstehen, vollzogen und reproduziert werden kann (vgl. Reckwitz 2003: 291). Innerhalb der von mir untersuchten Pflegesituation ist der sogenannte Patient*innenlifter12 ein gutes Beispiel für ein hochspezialisiertes Artefakt der Pflege, ohne das die pflegenden Angehörigen ihre Partner*innen ab einem gewissen Stadium der Pflegebedürftigkeit nicht mehr aus dem Bett bekommen würde. Ähnlich, wenn auch nicht annähernd so pflegespezifisch, verhält es sich mit Dingen, wie dem Löffel, dem Waschlappen, dem Sessel, dem Auto oder auch dem Fernseher. All diese und weitaus mehr Artefakte sind tagtäglich in die Pflege der Partner*innen mit Demenz eingebunden und ermöglichen Praktiken, wie die des Waschens oder Anreichens von Nahrung überhaupt erst. Dabei spielt die Fähigkeit der sozialen Akteur*innen zum sinnhaften Gebrauch der Artefakte eine wichtige Rolle und kennzeichnet in Gestalt des Sinnparadigmas einen weiteren Baustein der hier vertretenen praxistheoretischen Perspektive. Sinn entsteht im Vollzug der Praktik, schreibt sich in die materiellen Körper ein und ist für die Folgepraktiken insofern von Relevanz, als dass diese nur entstehen können, wenn die Akteur*innen einem bestimmten Artefakt als Repräsentant*in symbolischer Formen praktischen Sinn zuschreiben. Ohne das Wissen um den praktischen Sinn eines Toilettenstuhls wird man diesen weder bei der Krankenkasse beantragen, noch nutzen, falls er bereits zur Verfügung steht. Und auch wenn der Begriff der Kultur in meinen empirischen Analysen keine besonders große Rolle spielen wird, so ist es an dieser Stelle dennoch wichtig, darauf hinzuweisen, dass die von mir untersuchte Praxisformation der Pflegesituation eine spezifische Kultur des Pflegens repräsentiert, die sich auf gemeinsam geteilten praktischen Sinn zurückführen lässt. Wichtig ist dabei, dass dieser praktische Sinn sich aus verschiedenen anderen Sinnbereichen, wie dem Sinn für Verpflichtung und Verantwortungsübernahme oder dem Sinn für Rangfolgen und für Moral und nicht zuletzt auch dem Sinn für Humor zusammensetzt (vgl. Bourdieu 1976: 270; Hillebrandt 2014: 88). Die jeweilige Ausprägung dieser Sinnbereiche geht aus praxeologischer Perspektive ebenfalls auf inkorporiertes Wissen (z.B. Geschlechterwissen) zu bestimmten kulturellen Mustern (z.B. geschlechtsspezi12
Der Patient*innenlifter ist eine Aufstehhilfe, die es mithilfe von Tragegurten und einem elektrischen Hebearm möglich, schwer umsetzbare oder bettlägerige Personen zum Beispiel vom Bett in den Rollstuhl zu transportieren.
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fische Aufgabenverteilung) zurück und beeinflusst die weitere Zuschreibung und Einverleibung praktischen Sinns. Für die Pflegesituation könnte das beispielsweise bedeuten, dass bestimmte kulturell vermittelte Geschlechtsidentitäten unter anderem zu Differenzen beim Sinn für Verpflichtung oder Sinn für Moral führen, die sich auf den praktischen Sinn für bestimmte geschlechtersensible Formen von Pflegepraxis auswirken. Das Formationsparadigma bildet den letzten Baustein, der von Hillebrandt systematisierten Grundelemente soziologischer Praxisforschung. Hierbei geht es um die Betonung des Umstandes, dass sich Praktiken durch ihre gegenseitige Verkettung so anordnen, dass sie Praxisformationen bilden, »die als Intensitätszonen der Praxis auf Dauer gestellt sind und sich immer wieder erneut ereignen.« (ebd.: 115). In Ergänzung zum Ereignisparadigma soll dieses Paradigma schlichtweg dafür sensibilisieren, dass bei der Untersuchung der Pflegesituation nicht nur die verschiedenen Einzelpraktiken, sondern insbesondere auch die auf Dauer gestellten Regelmäßigkeiten der Praxis in den Blick genommen werden müssen. Die bis dato zusammengetragenen Paradigmen rund um die Begriffe der Ereignishaftigkeit, der Materialität, der Körper und Dinge sowie des Sinns und der Formation der Praxis geben mir Instrumentarien an die Hand, die es ermöglichen, die Vollzugswirklichkeit von Pflege als Praxis auf die Frage hin zu untersuchen, wie sich die Praxis vollzieht und durch welche externen oder auch internalisierten Faktoren dieses knowing-how (vgl. Schmidt 2012; Reuter/Lengersdorf 2016) der Angehörigenpflege beeinflusst wird. Um jedoch der Frage danach, warum sich eine Praxis des Pflegens genau so vollzieht, wie sie sich vollzieht, in Gänze gerecht werden zu können, erscheint es außerdem notwendig, die Bedeutung von Affekten für die Praxis des Pflegens mit zu beachten, weshalb ich die praxistheoretischen Grundelemente der vorliegenden Untersuchung über die Systematisierungen von Hillebrandt hinaus um das Affektparadigma erweitern möchte. Während Affekte in klassischen und zeitgenössischen Sozialtheorien oftmals neutralisiert und in den Bereich des Biologisch-Körperlichen verlagert werden, sind sie aus praxeologischer Perspektive ein konstitutiver Bestandteil des Sozialen und dessen Produkt (vgl. Reckwitz 2016: 166ff). Reckwitz formuliert diesbezüglich drei Grundsätze, die von hoher Relevanz für die Deutung der Affekte in der Praxis der Pflege sind: »Affekte sind nicht subjektiv, sondern
2. Pflege und Demenz
sozial. Sie sind keine Eigenschaft, sondern eine Aktivität.13 Sie bezeichnen körperliche Lust-Unlust-Erregungen, die auf Bestimmtes (Subjekte, Objekte, Vorstellungen) gerichtet sind.« (ebd.: 170) Berichten die Pflegenden also beispielsweise davon, in einer bestimmten Situation wütend auf ihre Partner*innen gewesen zu sein, dann wird diese Wut nicht als individuelles Phänomen gedeutet, sondern als eine Form affektiver Sozialität, die das Produkt vorangegangener Praktiken und inkorporierter Erfahrungen und Wissensbestände ist. Unter Beachtung des Körperparadigmas ist die Wut genauso wie das Weinen eine situative affektive Leiberfahrung, die sich in bestimmten Praktiken, sei es Schreien oder das Verlassen des Raumes, äußert. Die beschriebene Wut entspräche im hier geschilderten Beispiel dann einer körperlichen Unlust-Erregung, die auf die zu pflegenden Partner*innen gerichtet ist. Bei der Analyse der Pflegesituation fällt zudem auf, dass Affekte im Pflegealltag geradezu omnipräsent zu sein scheinen, wobei sich die affektive Struktur der Pflegepraxis bei weitem nicht in so eruptiven Praktiken, wie der der Wut oder des Weinens erschöpft, sondern eine große Bandbreite subtil bis explizit praktizierter Affekte wie Liebe, Zuneigung, Dankbarkeit, aber auch Angst, Trauer und Ablehnung umfasst. Diese Beobachtung legt es daher nahe, sich der These von Reckwitz anzuschließen, dass alle Praktiken in irgendeiner Weise affektiv bestimmt sind (vgl. ebd. 171). Weshalb, wann und wie es zu den Lust-Unlust-Erregungen kommt, ist wiederum kulturell bestimmt, da es spezifischer Wertesysteme bedarf, um etwas als gut oder schlecht, einschränkend oder bereichernd zu rahmen. Für die Situation der älteren pflegenden Angehörigen wird beispielsweise mit zu beachten sein, inwiefern sich die in Deutschland verbreitete Deutung vom Ruhestand als
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Aus diesem Grund wird in der praxistheoretischen Forschung auch bewusst versucht, auf die Verwendung des Begriffs der »Emotionen« zu verzichten, weil dieser zu stark mit der Deutungsebene individueller Gefühle und persönlicher Eigenschaften verknüpft ist (vgl. Reckwitz 2016: 173f). Während der Emotionsbegriff demnach suggeriert, dass ein Subjekt eine spezifische Emotion habe, ist der Affektbegriff vom Verb des Affizierens abgeleitet und damit deutlich prozessualer (vgl. ebd.). Im Sinne der hier eingenommenen praxeologischen Perspektive auf die Pflegesituation schließe ich mich in der vorliegenden Untersuchung dieser Differenzierung zwischen Affektund Emotionsbegriff an und werde in den empirischen Analysen auf die Verwendung des Emotionsbegriffs verzichten. Dies soll allerdings nicht als Kritik der Emotionssoziologie oder Zweifel an deren Berechtigung gedeutet werden, sondern ermöglicht mir vielmehr die Entwicklung einer stringenten Argumentationsstruktur mit einheitlichem theoretischen Überbau.
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wohlverdiente »späte Freiheit« (Rosenmayr 1983) auf die Affektstruktur in der Praxis des Pflegens auswirkt. Schließlich wird in der vorliegenden Untersuchung das praxeologische Verständnis geteilt, dass Affekte eine disruptive Kraft besitzen. Diese kommt zum Vorschein, wenn sich innerhalb kulturell routinisierter Praxisformen ungeplant neue Affizierungen ergeben, die die vorherige Normalität der Praktik sprengen (vgl. Reckwitz 2016: 173f). Im empirischen Teil meiner Ausführungen wird zu klären sein, inwiefern die disruptive Kraft von Affekten als Auslöser für die unterschiedlichen Praxisformen der Be- und Entgrenzung von Pflege zu verstehen ist. Wie eingangs bereits erwähnt, ist die Einnahme einer praxistheoretischen Perspektive auf die informelle Pflegesituation anders als es hier in der Verschriftlichung erscheinen mag, nicht der Ausgangspunkt für mein Forschungsanliegen gewesen, sondern vielmehr das Ergebnis eines zirkulären Pendelprozesses zwischen Empirie und Theorie. An einem bestimmten Punkt der empirischen Analysen ermöglichte mir die Praxistheorie einen Zugang zur Pflegesituation, der sich als besonders erkenntnisreich erwies, weil er über den Fokus auf die Handlungsebene der pflegenden Angehörigen hinausging. Zudem unterstreicht das Selbstverständnis des praxeologischen Forschungsstils, sich nicht von festen Theoriegebäuden einengen zu lassen, sondern mit den Mitteln qualitativer Forschung die Erfahrungswirklichkeit der sozialen Akteur*innen abzubilden und zu interpretieren (vgl. Hillebrandt 2014: 57), das Anliegen dieser grundsätzlich empirisch ausgerichteten Forschungsarbeit. Um die besagte Erfahrungswirklichkeit der Untersuchungsgruppe angemessen einfangen zu können, hatte ich mit der Situationsanalyse (vgl. Clarke 2012) bereits deutlich vor der aktiven Einnahme einer praxistheoretischen Perspektive passender Weise einen methodischen Zugang zum Untersuchungsfeld gewählt, der nicht allein das praktische Handeln in den Blick nimmt, sondern darüber hinaus die gesamte Situation der pflegenden Angehörigen mit all ihren darin beteiligten sozialen Akteur*innen, Artefakten, Affekten und Diskursen zu erfassen versucht. Diesen Zugang sowie die generelle methodologische Anlage der vorliegenden Studie gilt es im anschließenden Kapitel nun genauer darzulegen.
3. Das methodische Vorgehen: Zur Praxis der Untersuchung der Pflegesituation
3.1
Der Forschungsstil – Was ist hier eigentlich los?
Die Wahl der wissenschaftlichen Methode, mit der ich mich als Forschende den pflegenden Angehörigen genähert habe, verstehe ich in der vorliegenden Arbeit als »Festlegung des Modus der Interaktion« (Breuer 1998: 9) mit dem Untersuchungsfeld. Diesen Modus der Interaktion prägte dabei ganz maßgeblich die Grounded Theory. In den 1960er Jahren von den Soziologen Barney Glaser und Anselm Strauss konzipiert, entsprach die Grounded Theory zunächst dem Versuch eines methodischen Gegenentwurfs zur bestehenden Sozialforschung, die in den USA zu jener Zeit vorrangig durch das normative Paradigma bestimmt gewesen sei (vgl. Strübing 2004). Als Anhänger des interpretativen Paradigmas verstanden Strauss und Glaser die Interaktion zwischen zwei Personen nicht als objektiv gegebene gesellschaftliche Struktur, sondern als Praxis des Alltags, die erst situationsabhängig interpretiert werden müsse, um ihr Sinn und Bedeutung zuschreiben zu können (vgl. Schmidt et al. 2015: 36). Dabei legten die beiden Soziologen besonderen Wert darauf, dass die analytische Durchdringung des Untersuchungsfeldes immer zugleich empirisch und theoretisch erfolgen sollte. Die Parallelität der Prozesse von Datenerhebung, -analyse und Theoriebildung kennzeichnet daher eine der Grundannahmen dieser auf sorgfältiger Beobachtung und Feldforschung gründenden (grounded) Theoriebildung (vgl. Legewie/SchervierLegewie 2004). Weiterhin trägt die Prämisse der ständigen Vergleiche zwischen dem beobachteten sozialen Phänomen und den verschiedenen Kontexten dazu bei, die besagte Gleichzeitigkeit und Zirkularität der Arbeitsschritte methodologisch umzusetzen. Die ständigen Vergleiche sind dabei Teil des theoretischen Samplingprozesses und ermöglichen die Entwicklung theoretischer Konzepte, die wiederum als Basis für weitere Datenerhebungen und
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Häusliche Pflege am Limit
-auswertungen genutzt werden können. Um diese schrittweise Entwicklung der Theorie aus der Empirie heraus sicherzustellen, zählt es darüber hinaus zum Anspruch der Grounded Theory, dass sich der Forschungsprozess und damit auch der theoretische Fokus der Untersuchung kontinuierlich entwickeln. Das bedeutet, dass zwar bereits von Beginn an mithilfe des Kodierens empirisch basierte Theorie produziert wird, deren Endpunkt allerdings erst im Zuge der theoretischen Sättigung bestimmt werden kann (vgl. Strübing 2004: 14). Seit der besagten ersten Konzeption eines methodischen Gegenentwurfs zu den gängigen normativen Analyseansätzen und der ersten Veröffentlichung von »The Discovery of Grounded Theory« im Jahr 1967, ist die Grounded Theory in den letzten vier Jahrzehnten zu einem der am weitesten verbreiteten Verfahren der qualitativ-interpretativen Sozialforschung geworden. Dabei wird aus den dargelegten Grundannahmen deutlich, dass es sich weniger um ein klar definierbares Methodenset handelt, als vielmehr um einen »Stil, analytisch über soziale Phänomene nachzudenken.« (Strauss im Interview mit Legewie/Schervier-Legewie 2004: [58]) Diesen Stil habe ich als Forschende versucht, mir anzueignen und im Forschungsprozess immer wieder zu reflektieren. Dazu war es unter anderem hilfreich, das Datenmaterial, die analytischen Memos und Schaubilder immer wieder zu befragen – »Was ist hier eigentlich los?« – um zu verstehen, welche Bedeutung die einzelnen pflegenden Angehörigen ihrer Situation und den darin eingebetteten Handlungsentscheidungen zuschreiben.1 Es ist bekannt, dass sich die Wege von Glaser und Strauss nach der Entwicklung der Grounded Theory trennten. Seitdem wurde diese Methodolo-
1
Der hier beschriebene Forschungsstil der Grounded Theory greift in sehr vielen Punkten auf grundlegende Aspekte qualitativen Denkens zurück, die es als qualitativ arbeitende*r Forscher*in unabhängig von der jeweiligen Methode zu internalisieren gilt. Gemeint sind damit Aspekte wie Offenheit, Induktion, Einzelfallbezogenheit, Ganzheit oder Problemorientierung, die von Philipp Mayring zusammen mit weiteren Aspekten als »Säulen qualitativen Denkens« bezeichnet werden (vgl. Mayring 2016: 24ff). Ich verstehe die vorliegende Arbeit als praktische Anwendung des von mir erlangten Wissens um die »Theorie qualitativen Denkens« (ebd.: 19ff), verzichte daher an dieser Stelle auf eine ausführliche Darlegung der Bedeutung der einzelnen Säulen und empfehle Einsteiger*innen sowie Interessierten die Lektüre von Grundlagenliteratur wie »Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch« (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008) oder das erste und zweite Kapitel der »Einführung in die qualitative Sozialforschung« (Mayring 2016).
3. Das methodische Vorgehen
gie nicht nur von den Begründern selbst differenziert weiterentwickelt, sondern auch durch andere Anhänger*innen dieses Forschungsstils kontinuierlich verfeinert und verändert (vgl. Schmidt et al. 2015: 36). Es wäre daher unzureichend, sich bei der weiteren Erläuterung des methodischen Vorgehens pauschal auf die Grounded Theory zu beziehen, ohne die gewählte Traditionslinie und den daraus hervorgehenden methodologischen Standpunkt genauer zu benennen (vgl. Strübing 2007: 159). Die vorliegende Arbeit orientiert sich in weiten Teilen der Analysen an der pragmatisch-interaktionistischen Traditionslinie von Strauss, da diese besonders geeignet für die Untersuchung der interaktiven Praxis informeller Pflege erscheint (vgl. ebd.: 162). Denn während der von Glaser vertretene Positivismus bestrebt ist, empirische Phänomene einer extern gegebenen Wirklichkeit zu entdecken und zu verallgemeinern, geht der Pragmatismus von multiplen Wirklichkeiten aus. Innerhalb dieser kann untersucht werden, mittels welcher Handlungen Menschen auf entstehende Probleme, wie das der zeitlichen Belastung durch die Pflegetätigkeiten, reagieren (vgl. Charmaz 2011: 193). Aufbauend auf der Traditionslinie von Strauss wurde von ehemaligen Student*innen und heutigen Grounded Theorists der zweiten Generation die Konzeption einer konstruktivistischen Grounded Theory Methodologie (GTM) vorangetrieben (vgl. u.a. Charmaz 2014; Clarke 2005), die sich explizit von der objektivistischen GTM (nach Glaser) abgrenzt. Insbesondere Kathy Charmaz und Adele Clarke machen dabei das Argument stark, dass das Wissen, welches wir in Auseinandersetzung mit empirischen Phänomenen produzieren, sozial konstruiert ist. Das bedeutet, die konstruktivistische GTM übernimmt zwar den induktiven, komparativen, emergenten und offenen Ansatz der weiter oben geschilderten klassischen Version der GTM nach Glaser und Strauss (1967), widerspricht aber der objektivistischen Grundannahme von der Entdeckung der Theorie aus den Daten heraus und der Charakterisierung der Rolle der Forschenden als neutral und passiv (vgl. Charmaz 2011: 196). Stattdessen plädieren die Konstruktivist*innen eindringlich dafür, von einer gemeinsamen Herstellung der Daten in Interaktion auszugehen, woraus sich ergibt, dass auch die aus den Daten abgeleiteten Kategorien aktiv konstruiert sind und die Werte, Prioritäten und Handlungen der Forscher*innen Einfluss auf die jeweilige Konstruktion haben (vgl. ebd.). Es wird daher von einer kontinuierlichen Wechselbeziehung zwischen Forscher*in und Forschungsgegenstand ausgegangen, die darauf verweist, dass die Forschenden immer auch Subjekt des Forschungsprozesses sind und dementsprechend das »Resultat des Prozesses, die erarbeitete Theorie, immer auch ein subjektives Produkt« (Strübing 2004: 16) ist.
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Häusliche Pflege am Limit
Vor dem Hintergrund der Erfahrungen im Untersuchungsfeld erschien diese – auf der interaktionistisch-pragmatischen Traditionslinie aufbauende – Perspektive auf die Forschungssituation sowie die Wechselbeziehung zwischen mir, als Forscherin, und den pflegenden Angehörigen sehr zutreffend. Daher teile ich in der vorliegenden Arbeit den Standpunkt der konstruktivistischen GTM und werde die empirischen Daten in Orientierung an den Methoden der Grounded Theory nach Strauss sowie an der Situationsanalyse nach Clarke analysieren. Doch auch wenn die Erhebung und Auswertung der Daten zu weiten Teilen des Forschungsprozesses parallel erfolgten, so hat doch alles mit einer Initialerhebung begonnen, weshalb ich im folgenden Abschnitt zunächst die Datenerhebung schildern möchte, um dann anschließend auf die konkreten Schritte der Auswertung einzugehen.
3.2
Die Datenerhebung – Wer, wie, was, warum?
Die Zielgruppe und damit letztlich auch das eigentliche Thema dieser Arbeit standen nicht von Anfang an fest, sondern ergaben sich vielmehr durch das »Nosing Around«2 (Breuer 2010: 62) im Untersuchungsfeld. Denn klar war zu Beginn meiner Recherchen erstmal nur, dass ich mich dafür interessierte, wie Ruheständler*innen ihren Alltag gestalten und inwiefern die abnehmende Lebenszeit das Zeithandeln auf der Ebene der Alltagszeit beeinflusst. Durch die Einbindung in das Forschungsprojekt »Altern als Zukunft«3 , das von der Volkswagenstiftung gefördert wurde, hatte ich die Möglichkeit, mir Zugang und Kontakte zum Feld und der generellen Untersuchungsgruppe der Ruheständler*innen zu verschaffen. Im Zuge der Akquise von Interviewpartner*innen für die Erhebungen im Projekt, entstand dann irgendwann eher zufällig der Kontakt zu einer Angehörigenberatung, bei der sich regelmäßig 2
3
Der Begriff des »Nosing Around« entstammt der interaktionistischen SoziologieTradition der Chicago School und beschreibt die Zuwendung zu einem Forschungsfeld, ohne eine vorab festgelegte Forschungsfrage (vgl. Breuer 2010: 62). Der oder die Forschende bewegt sich stattdessen zunächst eine Zeitlang im Feld, schnüffelt herum, nimmt Kontakt auf und entwickelt ein Gespür für den Kontext und spezifische Themen, die von Relevanz für die Akteur*innen des Feldes sind. »Altern als Zukunft« ist ein interdisziplinär und international forschendes Projekt, in dem sich Wissenschaftler*innen aus den Disziplinen der Soziologie, Psychologie und Psychogerontologie der Untersuchung von Altersbildern, Vorsorgehandeln und Zeit im Alter widmen. Mehr dazu unter: www.alternalszukunft.de
3. Das methodische Vorgehen
pflegende Angehörige treffen, um Fragen zu stellen und über ihre Situation zu sprechen. Aus dieser Gruppe erklärten sich ein Mann und eine Frau bereit, mir ein Interview zu geben. Und ebendieses Initialsampling war schließlich der Auslöser für den Wunsch, die Lebenssituation von pflegenden Angehörigen im Rahmen eines eigenen Qualifikationsprojektes genauer in den Blick zu nehmen. Dabei waren die spezifischen Merkmale der Untersuchungsgruppe der pflegenden Angehörigen zunächst noch nicht festgelegt und es stellte sich erst im Verlauf weiterer Interviews heraus, dass der Fokus auf weiblichen und männlichen, verrenteten pflegenden Angehörigen aus ruralen wie urbanen Regionen der neuen und alten Bundesländer liegen sollte, die ihre an Demenz erkrankten Partner*innen im eigenen Heim pflegen. Das Interesse daran, sowohl weibliche als auch männliche Pflegende zu interviewen, ergab sich bereits aus den ersten beiden Interviews und verstärkte sich bei Sichtung des Forschungsstandes zur Bedeutung von Geschlecht in der Pflegepraxis (vgl. u.a. Backes 2005; Calasanti/King 2007; Langehennig 2012; Heusinger/Dummert 2016). Die Ausklammerung noch erwerbstätiger, älterer Pflegender erschien notwendig, weil die zeitlichen Herausforderungen dieser Personengruppe nicht vergleichbar mit denen der Ruheständler*innen waren und mich zudem die Deutung der Pflegeverpflichtung innerhalb der Posterwerbslebensphase interessierte. Weiterhin sollte die geografische Herkunft der Befragten nicht ignoriert werden, weil die zum Zeitpunkt des Interviews befragten Älteren viele Jahre ihres Lebens in einem geteilten Deutschland verbrachten. Die in dieser Zeit in der BRD beziehungsweise der DDR inkorporierten Wertesysteme müssen in ihren Unterschieden mit beachtet werden, wenn es beispielsweise um die Deutung geschlechtsspezifischer Aufgabenverteilungen vor und im Rahmen der Pflege geht. Da der Fokus in der vorliegenden Arbeit allerdings nicht auf einem Ost-West-Vergleich liegt, soll damit vor allem eine unreflektierte Vereinheitlichung der älteren Pflegenden in Deutschland vermieden werden. Die rurale oder urbane Wohnlage der Pflegenden ist wiederum von Relevanz für die Frage nach Entlastungsmöglichkeiten in der Pflege. Und nicht zuletzt erschien der ausschließliche Fokus auf die Pflege von Demenzkranken notwendig, weil die besondere Symptomatik der Demenz die Pflegenden, wie bereits erwähnt, vor ganz andere Herausforderungen zu stellen scheint, als jene Ruheständler*innen, die ihre ausschließlich körperlich beeinträchtigten Partner*innen pflegen. Wichtig war hierbei zudem, dass es die Partner*innen und nicht ein zu pflegender Elternteil waren, da die Beziehungsebenen mit daraus sich ergebenden Möglichkeiten und Grenzen der räumlichen Distanzierung beispielsweise nicht vergleichbar ge-
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Häusliche Pflege am Limit
wesen wären. Auf diese Weise erschien es möglich, ein – in seinen Merkmalsdimensionen – relativ homogenes Sample zu generieren, dessen Heterogenität der Praktiken und Deutungen der eigenen Pflegepraxis im weiteren Verlauf der Untersuchung im Mittelpunkt des Interesses stand. Die hier geschilderten Entscheidungen waren Teil eines Samplingprozesses, der sich an den Prinzipien des theoretischen Samplings (vgl. Pzryborski/Wohlrab-Sahr 2010; Strübing 2004) orientierte, ohne dessen Ansprüchen in Gänze gerecht werden zu können. Denn beim streng genommenen theoretischen Sampling folgt der Durchführung eines Interviews zunächst dessen Analyse, aus der mithilfe von minimaler und maximaler Kontrastierung Rückschlüsse für die Suche nach den nächsten Interviewpartner*innen gezogen werden. Diese Vorgehensweise war zwar möglich im Hinblick auf Faktoren wie die der Kontrastierung von ruraler oder urbaner Wohnlage oder Geschlecht, nicht aber, wenn es darum ging, die subjektive Zeitarmut, spezifische Praktiken der Pflege oder aber die Themensetzung in der Eingangssequenz des Interviews zu kontrastieren. Dazu war es notwendig, das theoretische Sampling auch nach Abschluss der Datenerhebung innerhalb des bestehenden Datenkorpus‹ fortzusetzen (vgl. Strauss/Corbin 1996: 164). Im Verlauf der Datensammlung wurden insgesamt 16 Interviews mit pflegenden Angehörigen geführt, von denen 14 Interviews genauer analysiert wurden und in unterschiedlichem Maße zur Generierung der empirischen Ergebnisse dieser Untersuchung beitrugen. Die Akquise der Interviewpartner*innen erfolgte dabei sowohl über Kontakte zu verschiedenen Einrichtungen mit Hilfsangeboten für pflegende Angehörige, als auch über einen Aufruf in zwei regionalen Zeitungen in den neuen und alten Bundesländern. Letzteres erfolgte insbesondere in dem Anliegen, auch Pflegende zu erreichen, die keine institutionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Darüber hinaus ergaben sich Kontakte über die Teilnahme an einem Symposium sowie einem Informationstag zum Thema Demenz. Und schließlich entstand auch über Gespräche mit Bekannten oder thematisch interessierten Personen der eine oder andere Kontakt zu Pflegenden, die der gesuchten Untersuchungsgruppe entsprachen. Die Interviews fanden zum Großteil bei den Befragten zuhause statt. Es gab allerdings auch mehrere Fälle, bei denen die Interviewten sich mit mir bewusst an anderen Orten zum Gespräch verabredeten, z.B. weil die Partner*innen mit Demenz nicht mitbekommen sollten, worüber wir sprachen oder weil die Teilnahme an der Interviewstudie einen Grund lieferte, sich eine Auszeit von der häuslichen Sorgearbeit zu verschaffen.
3. Das methodische Vorgehen
Die Datenerhebung wurde in Orientierung an den Prinzipien des problemzentrierten Interviews (vgl. Witzel 2000) vorbereitet und durchgeführt. Dieses Verfahren der Datengenerierung wurde von Andreas Witzel basierend auf dem Forschungsstil der Grounded Theory entwickelt (vgl. Korntheuer 2016: 185). Es erschien zudem besonders geeignet, weil es gemäß seiner Grundposition der Problemzentrierung theoretisches Vorwissen zulässt, es als heuristisch-analytischen Rahmen mit in die Erhebungen einbindet und gleichzeitig aber auch das Offenheitsprinzip realisiert, indem in der diskursiv-dialogischen Interviewsituation immer auch genügend Raum für spezifische Relevanzsetzungen durch die befragten Subjekte gelassen wird (vgl. ebd.: 2). Instrumente der durchgeführten problemzentrierten Interviews waren ein Kurzfragebogen, eine Tonträgeraufzeichnung des Gesprächs, ein Leitfaden sowie ein Postskript. Der Kurzfragebogen hatte dabei die Funktion, vor Interviewbeginn wichtige demografische Daten zu ermitteln, die mir als Randinformationen für die Gesprächsführung dienten – einerseits um von späteren Zwischenfragen zu entlasten (z.B. Anzahl der Kinder), andererseits um mögliche Erzählstimuli zu liefern. Die Tonträgeraufzeichnungen erfolgten im Einverständnis mit den Interviewten, ermöglichten mir die volle Konzentration auf die Gesprächsführung und wurden im Anschluss an das Interview vollständig transkribiert. Der Leitfaden war wiederum so aufgebaut, dass er sowohl erzählgenerierende Kommunikationsstrategien wie vorformulierte Einleitungsfragen für bestimmte Themenbereiche enthielt, als auch verständnisgenerierende Sondierungsfragen (vgl. ebd. 3f). Trotz des thematischen Interesses an der Pflege, waren die erzählgenerierenden Fragen insbesondere in der ersten Hälfte des Interviews bewusst so angelegt, dass sie nicht direkt das Thema ansprachen, wodurch es zunächst den Befragten überlassen wurde, welchen Stellenwert sie der Pflegeverpflichtung in ihren Narrationen beimaßen (vgl. Tab. 1).
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Häusliche Pflege am Limit
Tabelle 1: Auszug aus dem Interviewleitfaden Erzählgenerierende Fragen
Verständnisgenerierende Sondierungs- und Ad-hoc-Fragen
Was verbinden Sie mit Ruhestand? Seit wann sind Sie in Rente und wie ist der Übergang damals abgelaufen? Und können Sie mir ein bisschen darüber erzählen, wann und wie sich das mit der Demenz bei Ihrer/Ihrem Partner*in dann angedeutet hat? Können Sie mir erzählen, wie sich Ihr Alltag seit Beginn der Erkrankung entwickelt/verändert hat? […]
In der Narration nachhaken bei: a) subjektiver Bedeutung der Arbeit b) Umfang, Taktung der Arbeitszeit c) Hausarbeit: Aufteilung früher und heute Diagnose: Wann? Welche genau? Tabuthema oder nicht? Bedeutung für Beziehung? Zeit für sich? Früher? Heute? Hilfe durch andere? Wer? Seit wann? […]
Für den Einstieg ins Gespräch, bei dem ich stets danach fragte, was die Interviewten mit Ruhestand verbinden, ergab sich dadurch beispielsweise die Beobachtung, dass manche Befragte direkt im ersten Satz auf die Erkrankung der Partner*innen und deren Pflege zu sprechen kamen, während andere erst ausführlich von sich, etwaigen Aktivitäten, Engagements oder Plänen berichteten, bevor sie die Pflege erwähnten. Erst in der zweiten Hälfte des Interviews wurde die Gesprächsführung zunehmend konkreter und z.B. Ad-hoc-Fragen zu bisher gegebenenfalls ausgeklammerten Themenbereichen notwendig, um die Vergleichbarkeit der Interviews zu sichern (vgl. ebd.: 4). Zudem war der Leitfaden inhaltlich so konzipiert, dass persönliche Themen, wie Gedanken an den Tod der zu pflegenden Partner*innen oder Wünsche für die Zukunft erst in der zweiten Hälfte des Interviews explizit von mir angesprochen wurden, wenn dies vorher noch nicht durch die Interviewten geschehen war. Zu diesem Zeitpunkt waren anfängliche Unsicherheiten oder Skepsis gegenüber der Interviewsituation bereits überwunden und ein Vertrauensverhältnis etabliert, innerhalb dessen »die Befragten ihre Problemsicht ›ungeschützt‹ in Kooperation mit dem Interviewer [sic!] entfalten, […].« (ebd.: 2) Daher kam es in dieser Phase des Interviews auch nicht selten dazu, dass die Befragten unter Tränen berichteten, was sie in ihrer momen-
3. Das methodische Vorgehen
tanen Lage besonders belastet. Situative Affekte wie diese sowie nonverbale Auffälligkeiten, eine generelle Skizze der Interviewsituation und etwaige Anregungen für die Auswertungen wurden immer unmittelbar im Anschluss an das ein- bis zweistündige Gespräch mit den pflegenden Angehörigen in Form eines Postskriptes festgehalten.
3.3
Die Datenauswertung
Die Auswertung des empirischen Datenmaterials erfolgte als spiralförmiger Prozess, bei dem die unterschiedlichen Phasen intensiver Textanalyse, die Lektüre theoretischer Texte sowie erneute Datenerhebungen sich immer wieder abwechselten und schrittweise dazu beitrugen, das Thema der Be- und Entgrenzungen im Pflegealltag ins Zentrum der Analysen zu rücken. Da ich zu Beginn der Auswertungen noch davon ausging, dass der Fokus meiner Untersuchung ausschließlich auf dem Handeln der pflegenden Angehörigen liegen würde, erschien der singuläre Rückgriff auf die methodischen Grundsätze der Grounded Theory nach Strauss (1991) in den ersten Phasen der Datenauswertung als ausreichend. Je mehr Daten erhoben und analysiert waren, desto deutlicher wurde jedoch, dass der Fokus auf das Handeln nicht ausreichen würde, um die in den Interviews konstruierten Problemlagen der pflegenden Angehörigen angemessen konzeptualisieren zu können. Für diese methodische Schwierigkeit bot die Situationsanalyse von Adele Clarke (vgl. 2005, 2011, 2012) die passende Lösung, da sie die Pflegesituation selbst zum analytischen Schwerpunkt macht und mithilfe verschiedener Methoden des Kartografierens dazu anleitet, sämtliche Akteur*innen und Elemente im Feld sowie deren Beziehungen zueinander zu veranschaulichen. Im weiteren Verlauf der Auswertung wurden beide Methodensets parallel und ineinandergreifend eingesetzt. Um bei deren Erläuterung nicht ständig zwischen den einzelnen Ansätzen hin und her zu springen, werden sie im Folgenden jedoch getrennt voneinander dargestellt.
3.3.1
Der Kodierprozess
Das Kodieren kennzeichnet in den Auswertungen das zentrale methodische Werkzeug, um einen interpretativen Zugang zum erhobenen Datenmaterial zu gewinnen und dieses zu entschlüsseln (vgl. Böhm 1994: 125). Entsprechend der Forschungslogik der Grounded Theory geht es beim Kodieren nicht dar-
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Häusliche Pflege am Limit
um, das Datenmaterial nach bereits existierenden theoretischen Konzepten und Kategoriensystemen zu durchsuchen, sondern über die kontinuierlich vergleichende Analyse sukzessive Kategorien4 aus den Daten heraus zu entwickeln. Strauss hat diesen – gemeinsam mit Glaser entwickelten – Analysemodus zu einem dreistufigen Kodierprozess ausgebaut, bei dem offenes, axiales und selektives Kodieren unterschieden werden (vgl. Strauss/Corbin 1996). Diese drei Formen des Kodierens sind als »verschiedene Umgangsweisen mit textuellem Material« (Flick 2007: 387) zu verstehen und unterliegen keiner festen Reihenfolge. Es macht allerdings Sinn, nach dem Initialsampling mit dem offenen Kodieren zu beginnen. Wie bereits erwähnt, entstanden die ersten beiden Interviews mit einer weiblichen und einem männlichen Pflegenden, die ich in einer Angehörigenberatung kennengelernt habe. Das schrittweise Aufbrechen dieser beiden sehr unterschiedlichen Interviews brachte zunächst einmal eine Vielzahl an Kodes, die mehrheitlich in Form von In-vivo-Kodes angelegt waren. Diese Kodes stammen direkt aus der Umgangssprache des Untersuchungsfelds. Sie können ein Phänomen bildhaft und prägnant beschreiben und sind analytisch nützlich für eine subjektnahe Entwicklung erster Konzepte (vgl. Böhm et al. 2008: 38). Klassische Kategorien, wie Geschlecht, Alter oder Milieu der Befragten wurden zu Beginn bewusst noch nicht als Kodes vergeben, aber erste theoretische Fragen – z.B. zu potentiellen Geschlechterdifferenzen in der Pflege – wurden in Form von Memos festgehalten und im weiteren Verlauf der Auswertungen immer wieder hinterfragt und ausgebaut. Die Nutzung einer Software zur Analyse qualitativer Daten (MAXQDA) erwies sich als sehr hilfreich, um die entwickelten Kodes und Memos von Beginn an mit den jeweiligen Textstellen zu verknüpfen und nicht den Überblick über die rasant expandierenden Textmengen zu verlieren.5 Die Einbindung in das bereits erwähnte Forschungsprojekt sowie persönliche Forschungsinteressen führten bald nach Beginn der Auswertungen zu 4
5
Kurze Anmerkung zum Begriffsverständnis für das weitere Lesen: Wenn im Folgenden die Begriffe »Kode« und »Kategorie« verwendet werden, dann soll ersterer als datennahe Bündelung relevanter Sequenzen verstanden werden. Die Kategorie fungiert hingegen als Oberbegriff, der mehrere Kodes zu einem höherrangigen Konzept verbindet (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010: 203ff). Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass mit der genutzten Software keine computergesteuerten Analysen durchgeführt wurden, wie es z.B. bei der Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2000) mit der Suche nach der Häufigkeit einzelner Worte praktiziert würde.
3. Das methodische Vorgehen
einem ersten Fokus auf zeitliche Aspekte des Pflegens und damit einhergehende Zeitkonflikte (vgl. Münch 2015), was entsprechend der Grundannahmen der konstruktivistischen GTM zunächst einmal auch unproblematisch erschien. Im voranschreitenden Kodierprozess wurde das bestehende und neu dazugekommene Datenmaterial aber weiterhin kontinuierlich befragt: Was ist hier eigentlich los? Welche Akteur*innen sind beteiligt? Welche Rollen spielen sie? Seit wann? Wo? Wie lange? Wie stark oder schwach wird ein Thema kommuniziert? Welche Strategien werden kommuniziert? Und was ist das Nicht-Sagbare, was wird verschwiegen (vgl. Böhm 1994: 127)? Dieses wiederkehrende Fragen sowie vermehrte Dimensionalisieren und axiale Kodieren bestehender Kategorien machte schließlich deutlich, dass Zeit und Zeitkonflikte in der Pflege zwar ein wichtiges Thema sind, aber nicht den Kern der Interviews ausmachten. Denn die beim Dimensionalisieren angestellten Vergleiche fraglicher Phänomene deuteten darauf hin, dass neben den zeitlichen Aspekten beispielsweise auch sozialräumliche Aspekte oder spezifische Bezüge auf Geschlecht relevant sind. Dies bestätigte sich auch durch das axiale Kodieren, bei dem der Fokus bewusst auf einen wesentlichen Aspekt (z.B. Zeit) gelegt wird, um den sich dann alles drehen sollte (vgl. Strauss 1991: 63). Dabei zeigte sich, dass die Zeit nur eine Dimension einer übergeordneten Schlüsselkategorie zu sein schien. Die Suche nach dem Hauptthema ging demnach weiter: »Welches ist hier die eigentliche Geschichte? ist [sic!] eine Art Leitfrage, die der Forscher [sic!] immer wieder stellt, um sich daran zu erinnern, daß [sic!] er die obigen Fragen kontinuierlich beantworten sollte.« (ebd.: 66) Als eigentliche Geschichte erwies sich schließlich das Thema der Be- und Entgrenzungen in der Pflegesituation. Zunächst einmal erfüllte die Schlüsselkategorie der Grenze die von Strauss benannten Kriterien (vgl. ebd.: 67f): Sie hatte einen zentralen Bezug zu sehr vielen der vergebenen Kategorien. Weiterhin kamen die Indikatoren (z.B. Zeit, Sozialraum, soziale Netzwerke) mit denen das Phänomen der Be- und Entgrenzungen erfasst wird, sehr häufig in den Daten vor. Und nicht zuletzt ließ sich diese Schlüsselkategorie auch mühelos in Bezug setzen zu wichtigen – aber zuvor noch nicht schlüssig verknüpfbaren – Kategorien, wie denen der subjektiven Erschöpfung oder affektiven Distanzierung. Abgesehen von diesen Merkmalen bot die Schlüsselkategorie der Grenze aber auch eine Antwort auf viele der wiederkehrend gestellten Fragen, so zum Beispiel: Was ist hier eigentlich los? – Es werden Grenzen gemeinsam ausgehandelt oder allein entworfen und wieder verworfen oder aber durchgesetzt. Oder: Welche Akteur*innen sind beteiligt? Wel-
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Häusliche Pflege am Limit
che Rolle spielen sie? – Beteiligt sind Akteur*innen, die Grenzen ziehen, aber auch jene, die Grenzen erfahren, sie verschieben oder gar wieder einreißen, genauso wie jene Akteur*innen, die die Umsetzung subjektiv konstruierter Grenzen überhaupt erst ermöglichen. Über die Schlüsselkategorie der Grenze konnten nicht nur die Bedeutung der unterschiedlichen Zeiten innerhalb der Demenzpflege differenziert erfasst werden, sondern auch der Einfluss von Geschlecht auf die empirisch beobachtbaren Praktiken der Be- und Entgrenzung der Pflege. Zudem war es so auch möglich, die inter- und intrasubjektiven Ab- und Entgrenzungsprozesse zwischen den einzelnen Akteur*innen in der Pflegesituation zu erfassen. Die Grenze wurde damit zum heuristischen Rahmen für die weiteren Analysen (vgl. Kelle/Kluge 2010: 98) und die Praktiken und Prozesse der Be- und Entgrenzung in der informellen Pflege zum Fokus der vorliegenden Untersuchung (vgl. Kap. 5).6 Im weiteren Verlauf des Kodierprozesses trat neben dem offenen und axialen Kodieren das selektive Kodieren zunehmend in den Vordergrund. Bei dieser Form der interpretativen Textarbeit ging es darum, das empirische Datenmaterial und die darin vorkommenden Kategorien und Variablen im Hinblick auf ihren hinreichend signifikanten Bezug zur Schlüsselkategorie systematisch zu rekodieren (vgl. Strauss 1991: 63f). Im Zuge der Überarbeitungen wurden die entwickelten Kodes theoretisch unterfüttert, ohne dabei den Bezug zum Material aufzugeben. Zudem galt es die analytischen Memos erneut zu sichten und je nach Relevanz für das Thema des Grenzziehens auszusortieren sowie theoriegeleiteter zu reformulieren. Neben dem in dieser Phase ebenfalls sehr intensiv betriebenen Kartografieren der Pflegesituation, half zudem das Kodierparadigma von Strauss (vgl. ebd.: 56f; Strübing 2004: 27) bei der finalen Systematisierung des untersuchten Phänomens. Um hier nicht den Analysen vorwegzugreifen, erachte ich es allerdings als sinnvoll, die Abbildung und Aufschlüsselung der einzelnen Kategorien des – im Zuge der Datenauswertung entstandenen – Kodierparadigmas im Sinne einer finalen
6
Über den gesamten Prozess der Datenauswertung hinweg, hatte ich immer wieder die Möglichkeit, einzelne Zitate oder auch längere Textabschnitte sowie vergebene Kodes und bereits entwickelte Kategorien in mehr oder weniger großen und kleinen Teams zu besprechen. Dabei half der gemeinsame analytische Blick, so manchen gedanklichen Knoten zu lösen, durch den der Auswertungsprozess zeitweise stagnierte oder die Interpretation zu verengen drohte. Dafür bin ich insbesondere Stephan Lessenich, Sylka Scholz, Tina Denninger, Anna Richter und den Forschungskolloquien in München und Jena sehr dankbar.
3. Das methodische Vorgehen
Projektskizze an den Schluss meiner Analysen zu stellen (vgl. Kap. 8.1; Abb. 7).
3.3.2
Das Kartografieren der Pflegesituation
Mit der Situationsanalyse liefert Adele Clarke eine Weiterentwicklung der klassischen GTM, deren Ziel es ist, über die Mikroebene des sozialen Handelns hinaus, eine umfassende Analyse der gesamten Situation vorzunehmen. Ohne die Existenzberechtigung der klassischen GTM in Frage zu stellen, plädiert sie dafür, den Blick auch für die sozialen Welten, Arenen, Aushandlungen und Diskurse7 zu öffnen, die als konzeptionelle Infrastruktur auf der Mesoebene das soziale Handeln umgeben (vgl. Clarke 2011: 207ff). Diese Perspektiverweiterung ermögliche es zudem, auch die nicht-menschlichen Objekte, wie zum Beispiel spezifische Technologien und materiale Entitäten mit in die Analysen einzubeziehen (vgl. ebd.: 209).8 Genau aus diesem Grund wurde ich im Verlauf der Datenauswertungen auf die Situationsanalyse aufmerksam. Beim Kodieren stieß ich immer wieder auf Artefakte, aber auch diskursive Konstruktionen, die von Relevanz für das soziale Handeln der pflegenden Angehörigen zu sein schienen. Die Pflegenden sprachen über Bücher mit Erfahrungsberichten anderer Angehöriger von Menschen mit Demenz oder
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Zur Verwendung des Begriffes »Diskurs« in Clarkes Ausführungen sei kritisch angemerkt, dass sie es versäumt, ihren Leser*innen darzulegen, was sie selbst faktisch unter »Diskurs« versteht (vgl. Diaz-Bone 2012: 11). In ihrer Herleitung der Relevanz von Diskursen für die Analyse sozialer Situationen rekurriert sie allerdings ausschließlich auf Foucault und dessen Verständnis von Diskursen »als Modi, das Chaos der Welt zu ordnen« (Clarke 2012: 95), weshalb man als Leser*in davon ausgehen muss, dass Clarke ihren methodischen und methodologischen Ausführungen zum Diskurs die begrifflichen Konzeptionen von Foucault zugrunde legt. In der vorliegenden Untersuchung schließe ich mich dieser begrifflichen Orientierung an Foucault an und verstehe Diskurse als Praktiken, die über die Herstellung symbolischer Ordnungen »systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.« (Foucault 1981: 74). Clarke versteht die Situationsanalyse als »Grounded Theory Ansatz nach dem postmodern turn« (ebd. 2012: 26) und geht ausgiebig auf die Gründe und die theoretischen Anleihen von Foucault oder auch Latour ein, mit deren Hilfe sie die GTM durch den postmodern turn geschoben habe (vgl. ebd.). Da diese methodologische Herleitung für mein forschungspraktisches Interesse an der Situationsanalyse nicht unmittelbar relevant ist, werde ich in der vorliegenden Arbeit nicht näher darauf eingehen und verweise interessierte Leser*innen gern auf den Prolog sowie das erste Kapitel der 2012 erschienenen deutschen Fassung der Situationsanalyse.
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Häusliche Pflege am Limit
über Kinofilme zum Thema Demenz, sowie über Gegenstände, die sie von der Krankenkasse zur Unterstützung im Pflegealltag zur Verfügung gestellt bekommen haben. Doch wohin damit in meinen Auswertungen? Natürlich hätte ich diese im Kodierparadigma den Kontextbedingungen des Phänomens zuordnen können. Doch dies erschien unzureichend, um der Komplexität der unterschiedlichen an der Pflege beteiligten Elemente gerecht zu werden. Passenderweise kodierte ich zu dieser Zeit gerade ein Interview, in dem sich die Befragte verärgert darüber äußert, dass sich Bekannte, Verwandte und Menschen auf der Straße immer wieder dazu hinreißen lassen, Ratschläge zu erteilen, die sie als unbedacht und verletzend empfindet: »Weil daraus spricht, dass die sich überhaupt gar nicht in die Situation reinversetzt haben.« (Maler: 1404f)9 Indem ich wenig später also selbst die erforschte Situation10 zur Hauptuntersuchungseinheit machte, hoffte ich daher auch ein Stück weit, im Sinne der pflegenden Angehörigen zu handeln. Wesentliches Element der Situationsanalyse sind die bereits erwähnten Strategien des Kartografierens der Daten11 , mit deren Hilfe es gelang, die Pflegesituation empirisch zu rekonstruieren. Unterschieden werden dabei drei kartografische Ansätze (vgl. Clarke 2012: 24): (1) Situations-Karten zeigen alle relevanten menschlichen, nichtmenschlichen, diskursiven und anderen Elemente der untersuchten Situation auf und ermöglichen die Analyse der Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen. (2) Karten von sozialen Welten/Arenen kartografieren kollektive Akteur*innen und nichtmenschliche Elemente sowie die Arenen ihres Wirkens in Bezug auf Verpflichtungen, Beziehungen und Handlungsschauplätze. (3) Positions-Karten bilden die unterschiedlichen Positionen ab, die in der Situation bei spezifischen Belangen, Verschiedenheiten oder Kontroversen entlang bestimmter Achsen eingenommen oder auch nicht eingenommen werden. 9
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Selbstverständlich wurden sämtliche personenbezogenen Daten der Interviewten anonymisiert und die hier sowie im weiteren Verlauf verwendeten Namen sind von mir erdachte Pseudonyme. Clarke konstruiert den Begriff der Situation bewusst »elastisch« (Clarke 2011: 120) und definiert Situationen als »particular configurations of conditions – temporal, geographic, interactional, sentimental and so on.« (ebd. 2005: 298) Clarke verwendet in ihren Publikationen den Begriff des »Mappings«, der auch für die deutschen Übersetzungen ihrer Publikationen genutzt wird. Ich verwende den Begriff des Kartografierens hier stellvertretend für das Mapping.
3. Das methodische Vorgehen
Ähnlich wie bei den unterschiedlichen Formen des Kodierens, gibt es auch für das Kartografieren keine Vorgaben, in welcher Reihenfolge die verschiedenen Karten erstellt werden, geschweige denn, ob überhaupt alle drei Varianten des Kartografierens angewandt werden müssen. Für die Untersuchung der Pflegesituation bot es sich dennoch an, alle drei Varianten der Karten zu nutzen und mit den Situations-Karten zu beginnen. Zunächst wurde dazu nach der (erneuten) Lektüre der einzelnen Interviews zu jedem Fall eine eigene Situations-Karte erstellt. Ziel dabei war es, alle beteiligten Individuen, sozialen Gruppen, Organisationen, aber auch Schlüsselereignisse, Hauptthemen, Diskurse, räumliche Aspekte sowie nichtmenschliche Elemente zunächst einmal deskriptiv festzuhalten (vgl. ebd.: 124ff).
Abbildung 1: Ungeordnete Situations-Karte vom Fall Kleber mit beispielhaften Relationierungen
Das Kartografieren der Interviews gab noch einmal einen ganz neuen Einblick in das Datenmaterial und machte zudem zuvor übersehene Aspekte sichtbar. Weiterhin zeigte sich beim Kontrastieren der Karten, dass in einigen Interviews Dinge gesagt wurden, die in anderen Fällen wiederum unausge-
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Häusliche Pflege am Limit
sprochen blieben und eine Lücke erzeugten. Die Weiterarbeit mit dem kartografischen Material war vielfältig und so baute ich einige Situations-Karten zu Relations-Karten aus, indem ich die Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen in der Situation visualisierte (vgl. ebd.: 141ff; Abb. 1). Andere Karten wurden von der abstrakten in die geordnete Version überführt, um noch mehr Details zu erfassen und einen strukturierten Überblick zu bekommen, welche der Elemente eher zeitlich, räumlich oder nichtmenschlich sind und welche Hauptthemen in den verschiedenen Interviews verhandelt werden (vgl. ebd.: 128). Ohne an dieser Stelle meiner Ausführungen bereits den später folgenden Auswertungen vorweggreifen zu wollen, dient der Fall von Frau Kleber hier als exemplarische Veranschaulichung meiner situationsanalytischen Arbeit mit den empirischen Daten (vgl. Abb. 2). Der Vergleich von ungeordneter und geordneter Situations-Karte macht dabei deutlich, dass die Inhalte beider Varianten nicht deckungsgleich und einfach nur anders angeordnet sind, sondern dass die ungeordnete Variante einen ersten Zugang zum Beispiel zum Fall von Frau Kleber bietet und im weiteren Verlauf des Kartografierens die von Clarke vorgeschlagenen verschiedenen Bereiche der geordneten Situations-Karte zusätzlich noch weitere Aspekte und Themen als beachtenswert mit in die Analysen hineinholen. Im Anschluss an die verschiedenen Situations-Karten der jeweiligen Fälle wurden schließlich immer wieder übergreifende Karten abgeleitet. Diese begleiteten den Kodierprozess, wurden regelmäßig überprüft und fortlaufend an den Stand der Auswertung angepasst. Zu diesen »analytischen Übungen« (ebd.: 24) kam in der nächsten Phase der Auswertung die Karte von den sozialen Welten und Arenen dazu. Diese Form des Kartografierens schließt maßgeblich an die Sozialökologien der Chicago School und die von Strauss entwickelte Theorie der sozialen Welten an (vgl. Strauss 1978). Aus dieser Tradition heraus versteht auch Clarke soziale Welten als Gruppierung »mit gemeinsam geteilten Verpflichtungen hinsichtlich bestimmter Tätigkeiten, bei denen zum Zweck der Erreichung des gemeinsamen Ziels viele verschiedene Ressourcen geteilt […] werden.« (ebd.: 86). Kollektives Handeln findet sowohl zwischen verschiedenen sozialen Welten als auch innerhalb einer sozialen Welt und den darin befindlichen Subwelten statt. Die Verpflichtungen der kollektiv handelnden Akteur*innen innerhalb dieser Welten sind stetig veränderbar und drehen sich um spezifische Themen, die es in unterschiedlichen Arenen zu verhandeln gilt. Die Karten von den sozialen Welten und Arenen haben in der vorliegenden Untersuchung das Ziel, zumindest zeitweise ein Stück weit aus der Mikro-Ebene des pflege-
3. Das methodische Vorgehen
Abbildung 2: Der Fall Kleber in der geordneten Situations-Karte nach Clarke
rischen Handelns der Angehörigen herauszuzoomen und den Analyserahmen auf die Meso-Ebene auszuweiten. Auf diese Weise konnte ein verbesserter Überblick über die beteiligten Akteur*innen (z.B. Pflegende, Nachbarn, Pfle-
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Häusliche Pflege am Limit
gefachkräfte) und Organisationen (z.B. Wohlfahrtsverbände, Krankenkasse) sowie die relevanten Arenen für die Untersuchung der Pflegesituation erreicht werden. Das Ergebnis dieser kartografischen Versuche wird als »Karte von den Arenen und Akteur*innen der sozialen Welt der Demenz-Pflege« im Anschluss an dieses Kapitel noch detailliert erläutert werden (vgl. Kap. 4). Die Positions-Karten haben schließlich in Ergänzung zum selektiven Kodieren den Auswertungsprozess abgerundet und zur theoretischen Sättigung beigetragen. Dabei wurde zwar nicht so systematisch vorgegangen wie bei den beiden zuvor beschriebenen Strategien des Kartografierens, dennoch trug die Visualisierung verschiedener Positionen entlang zweier Achsen insbesondere dazu bei, fehlende Positionen aufzuzeigen.
Abbildung 3: Positions-Karte zu Erfahrungen mit Reaktion signifikanter Anderer
So verwies zum Beispiel die Positions-Karte noch einmal auf die vermeintlichen Geschlechterunterschiede bei den subjektiven Erfahrungen mit den Reaktionen signifikanter Anderer12 auf die Pflegesituation (vgl. Abb. 3).
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Signifikante Andere (significant others) ist ein Begriff aus dem symbolischen Interaktionismus, der von George Herbert Mead geprägt wurde. Im Rahmen der primären Sozialisation von Kindern bezeichnen signifikante Andere wichtige Personen wie Mut-
3. Das methodische Vorgehen
Dabei machte erst die Positionierung der Erfahrungsberichte deutlich, dass von den männlichen Pflegenden nicht eine einzige als abwertend empfundene Reaktion berichtet wurde, während im Gegensatz dazu bei den weiblichen Pflegenden die Position der positiven Reaktion fehlte. In Ergänzung zum Kodierprozess konnten mithilfe der verschiedenen Strategien des Kartografierens demnach sowohl die menschlichen als auch die nichtmenschlichen Elemente aufgezeigt werden, die von Relevanz für die untersuchte Pflegesituation sind. Darüber hinaus war es möglich herauszuarbeiten, in welchen (sozialräumlichen) Arenen das diskursive Wissen über die Praxis des Pflegens konstruiert und verhandelt wurde und auf welche Weise sich dieses Wissen auf das soziale Handeln der pflegenden Angehörigen auswirkt. Wie bereits im Kapitel zur Pflege als Praxis angedeutet wurde, stützt die Situationsanalyse die hier vertretene praxistheoretische Perspektive auf die Daten in besonderem Maße (vgl. Kap. 2.4). Denn die von Clarke betonte Situierung der Forscher*innenperspektive legt den Fokus bewusst auf einen bestimmten zeitlich-räumlichen Abschnitt des sozialen Handelns – so z.B. auf den Ruhestandsalltag älterer Pflegender. Hierbei wird über biografische Narrationen sowie historische Diskurse dem Ereignisparadigma Rechnung getragen. Darüber hinaus ist von Relevanz, dass die Situationsanalyse durch die explizite Berücksichtigung sowohl menschlicher, als auch nichtmenschlicher Elemente der Situation, das Materialitäts- und damit auch das Dingparadigma konsolidiert, was mit dem alleinigem methodologischen Rückgriff auf die GTM nach Strauss so nicht möglich gewesen wäre. Dennoch kritisiert Göde Both, dass die Situationsanalyse zwar einen praxeologischen Ansatz verfolge, am Ende aber selbst keine reine Praxistheorie sei, weil ihre fundamentale analytische Einheit eben die Situation und nicht die Praxis ist (vgl. Both 2015: 212). Dieses Argument teile ich zwar, für die vorliegende Untersuchung stellt diese Kritik allerdings kein Problem dar, weil dem Forschungsinteresse an den pflegenden Angehörigen methodologisch in einer Kombination aus GTM
ter, Vater, Geschwister oder auch Lehrer*innen – und damit konkrete Menschen aus dem unmittelbaren Umfeld einer Person, die als Vermittler*innen von gesellschaftlichen Normen und Werten fungieren (vgl. https://www.iep.utm.edu/mead/). Aus diesem Begriffsverständnis lässt sich allerdings auch schließen, dass signifikante Andere auch nach Abschluss der primären Sozialisation und bis ins hohe Erwachsenenalter von hoher Relevanz für das Handeln bleiben, weswegen die Verwendung dieses Begriffes auch für die hier im Fokus stehende Altersgruppe passend erscheint.
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Häusliche Pflege am Limit
und Situationsanalyse nachgegangen wurde. Dabei ist die Situation – und eben nicht allein das soziale Handeln – zur Hauptuntersuchungseinheit erklärt worden, weil sich die individuellen und kollektiven Akteur*innen und Artefakte13 , die in interaktiver oder diskursiver Form an der Praxis der Pflege beteiligt sind, auf diese Weise besser berücksichtigen ließen und die Analysen dementsprechend gesättigt werden. In den nun folgenden Abschnitten der Arbeit werden die Ergebnisse dieser Analysen vorgestellt. Dabei bietet es sich an, mit der Analyse der Arenen der informellen Demenzpflege zu beginnen, um so zunächst einen Überblick über die an der Pflegesituation beteiligten Akteur*innen und ihre Bedeutung innerhalb der Arenen der Pflege zu geben. Die daran anschließenden Auswertungskapitel zoomen dann wiederum stärker in die Situation hinein und die Analysen zur Bedeutung von Zeit und Geschlecht für die Praktiken der Be- und Entgrenzung der Demenzpflege bilden das Herzstück der vorliegenden Untersuchung. Dabei schwingt die Situation, welche die jeweilige Praxis umgibt, allerdings immer mit und ist genau deshalb so relevant für die praxistheoretische Perspektive auf die pflegenden Angehörigen.
13
Mit Blick auf die Bedeutung der Artefakte für die kommenden Analysen sei darauf verwiesen, dass diese – anders als im Sammelband »Pflegedinge« (Artner et al. 2017) – nicht im Fokus der Analysen stehen werden, sondern vielmehr stets mitgedacht und an den entsprechenden Stellen auch mit benannt werden.
4. Die Arenen und Akteur*innen der sozialen Welt der Demenzpflege
Mit Blick auf die erweiterte Pflegesituation werden in diesem Abschnitt nun alle an der daran beteiligten Akteur*innen und Institutionen vorgestellt, die innerhalb der Narrationen der pflegenden Angehörigen als relevant erzählt wurden. Denn ihr Handeln hat maßgeblichen Einfluss auf das Handeln der pflegenden Angehörigen und dementsprechend auch auf deren Praktiken der Be- und Entgrenzung der Pflege. Die Arenen des kollektiven Handelns sind wiederum hilfreich für ein sozialräumliches Verständnis der Situation in der informellen Demenzpflege und den darin eingelagerten sozialräumlichen Grenzen, die sich für die interviewten Angehörigen im Verlauf der Pflege ihrer Partner*innen ergeben. Wie bereits im Methodenkapitel angekündigt, wurde das angestrebte Gesamtbild der untersuchten Situation in Orientierung an der von Clarke entwickelten Karte von den sozialen Welten und Arenen (Arenen-Karte)1 zu visualisieren versucht. Das Ergebnis dieses Kartografierens ist die »Karte von den Arenen und Akteur*innen der sozialen Welt der Demenzpflege« (vgl. Abb. 4). Indem ich die Situation der pflegenden Angehörigen zur Hauptuntersuchungseinheit meiner Studie erklärt habe, ist gleichzeitig die soziale Welt der Pflege in den Mittelpunkt meines Forschungsinteresses gerückt. Für Strauss – ebenso wie für Clarke – sind wesentliche Merkmale sozialer Welten, dass selbige eine primäre Aktivität, besondere Schauplätze sowie Technologien aufweisen (vgl. Clarke 2012: 86). Diese werden zudem durch ihre Akteur*innen definiert und jeder Mensch partizipiert typischerweise in einer Vielzahl von sozialen Welten (vgl. ebd.: 148). Das Konzept der sozialen Welten wird
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Für einen besseren Lesefluss wird diese Form des Kartografierens in den weiteren Ausführungen kurzgefasst als »Arenen-Karte« bezeichnet.
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Häusliche Pflege am Limit
daher beispielsweise gern zur Beschreibung bestimmter Freizeit- oder Berufsgruppen genutzt (vgl. Bone 2002). Genauso gut lässt es sich aber auch auf die Pflege und im vorliegenden Fall etwas spezifischer auf die Pflege von Menschen mit Demenz anwenden.
Abbildung 4: Karte von den Arenen und Akteur*innen der sozialen Welt der Demenzpflege
Die primäre Aktivität in der sozialen Welt der Demenzpflege ist dabei naheliegender Weise die Praxis der Versorgung der pflegebedürftigen Person mit Demenz2 , die mithilfe tradierter (z.B. Waschen) oder innovativer Technologien (z.B. Patient*innenlifter) erfolgt. Die Schauplätze dieser primären Aktivität sind im hier untersuchten Fall informeller Demenzpflege insbe-
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Es sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass die demenzerkrankten Partner*innen im vorliegenden Sample in den meisten Fällen nicht mehr nur aufgrund ihrer Demenz pflegebedürftig sind, sondern dass im Verlauf der Krankheit weitere gesundheitliche Probleme, wie zum Beispiel Schlaganfälle, Inkontinenz oder Stürze zu Multimorbidität geführt und den Pflegebedarf zusätzlich erhöht haben.
4. Die Arenen und Akteur*innen der sozialen Welt der Demenzpflege
sondere die häusliche Pflegearena sowie die Arena der Öffentlichkeit.3 An dieser Stelle sei vor Einstieg in deren Analyse darauf hingewiesen, dass diese beiden induktiv aus den empirischen Daten abgeleiteten Arenen auf jene Dichotomie von Privatheit und Öffentlichkeit verweisen, die – ähnlich wie die Trennung von Erwerbsarbeit und Familie – als konstitutiv für die Moderne verstanden wird (vgl. Jurczyk/Oechsle 2006: 1f). In diesem Zusammenhang weist die Frauen- und Geschlechterforschung darauf hin, dass beide Begriffe geschlechtlich konnotiert sind, wobei der Bereich des Öffentlichen mit dem männlichen und demgegenüber das Private mit dem weiblichen Geschlecht verknüpft sei (vgl. ebd.). Diese geschlechtliche Konnotation wird in den Analysen der Arenen zwar bereits als Hintergrundwissen mitgedacht, spielt aber für die Vorstellung der Arenen und ihrer Akteur*innen zunächst einmal eine eher untergeordnete Rolle und wird dann aber zu einem späteren Zeitpunkt in den Analysen zur Bedeutung von Geschlecht in der informellen Pflegesituation erneut aufgegriffen (vgl. Kap. 7).
4.1
Die häusliche Pflegearena und ihre Akteur*innen
In Arenen verhandeln die Akteur*innen einer oder verschiedener sozialer Welten bestimmte Themen, auf die das kollektive Handeln ausgerichtet wird (vgl. Strauss 1978). Das Hauptthema der häuslichen Pflegearena ist dabei die informelle und formelle Pflege der Person mit Demenz. Die räumliche Koppelung dieser Arena an das Haus oder die Wohnung des Paares ist hierbei schlicht der Tatsache geschuldet, dass die eigenen vier Wände der Betroffenen auch den Hauptschauplatz der Pflege markieren. In der häuslichen Pflegearena wird gekocht, gewaschen, zusammen gespielt und aufgeräumt, es werden verschollene Dinge gesucht – und selten gefunden – oder Medikamente verabreicht und Verbände gewechselt. Den Großteil dieser Sorgearbeiten übernehmen zwar die pflegenden Angehörigen, in den meisten Fällen erhalten aber auch weitere Akteur*innen regelmäßig Zugang zu dieser Arena. Die in der Arenen-Karte eingesetzten gestrichelten Linien sind daher bewusst gewählt worden, um zu verdeutlichen, dass die Grenzen der Arenen in der Regel durchlässig sind. Und auch für die verschiedenen Akteur*innen wurden gestrichelte Linien und zum Abbildungsrand hin 3
Für den Fall, dass die Person mit Demenz in einem Pflegeheim lebt und versorgt wird, ergäben sich natürlich andere Arenen des kollektiven Handelns.
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Häusliche Pflege am Limit
offene Rahmenlinien genutzt, um die Gleichzeitigkeit der Mitgliedschaft(en) in verschiedenen sozialen Welten und Arenen zu visualisieren. In der häuslichen Pflegearena spielt der Pflegedienst eine wichtige Rolle. Dessen Mitarbeiter*innen gehören beispielsweise zusätzlich der sozialen Welt der professionellen Pflegefachkräfte an. Dabei ist allerdings zu beachten, dass es innerhalb des Samples von Fall zu Fall unterschiedlich ist, ob überhaupt ein Pflegedienst zur Verfügung steht und falls ja, wann und wie häufig dieser kommt sowie welche Aufgaben konkret übernommen werden. Diese Themen stehen zum einen in Zusammenhang mit der jeweiligen Pflegestufe beziehungsweise dem Pflegegrad4 und zum anderen sind sie Teil der Aushandlungsprozesse zwischen Pflegedienst und pflegenden Angehörigen. So sind beispielsweise Frau Maler und Herr Klopp dankbar für jeden Tag, an dem morgens eine »Schwester« (Klopp: 445) vom Pflegedienst kommt, weil das »einerseits die Entlastung« (Maler: 400) und »Erleichterung« (Klopp: 926) bringt, nicht alles selbst machen zu müssen.5 Andererseits wird es als sehr wichtig geschildert, dass regelmäßig »jemand mit guckt« (Maler: 402), weil »die ist perfekter als ich« und »SIE macht das einfach gründlicher.« (Klopp: 204; 933) Frau Heinrich hingegen hat den Pflegedienst nach ein paar Wochen wieder abbestellt, weil sie sich nicht auf eine passende Uhrzeit einigen konnten: »Es geht nicht anders, sie kommen früh halb zehn. Solange kann ich ihn nicht/bleibt er ja gar nicht liegen. Also, er will ja sein Programm.« (Heinrich: 520f) In der häuslichen Pflegearena werden zwischen Pflegedienst und Angehörigen rund um das Hauptthema der Versorgung der pflegebedürftigen Person demnach verschiedene Subthemen, wie das der professionellen Unterstützung und zeitlichen Entlastung, verhandelt. Dabei zeigt sich, dass ambulante Pflegedienste nicht per se als entlastend erzählt werden, sondern auch zur
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Am 1. Januar 2017 wurde das bis dahin geltende System der Pflegestufen durch ein neues, differenziertes System von Pflegegraden abgelöst (vgl. Kap. 2.3). Da zum Zeitpunkt meiner Datenerhebung(en) noch die Pflegestufen gültig waren, verwende ich hier beide Begriffe. Die in den empirischen Analysen ab jetzt fortlaufend genutzten Originalzitate dienen stets der Rückbindung der theoretischen Abstraktionen an das empirische Material. In ihrer Länge reichen sie von einzelnen Worten bis zu mehrzeiligen Textpassagen. Originalzitat mit einer Länge von drei Zeilen und mehr werden in den Fließtext eingerückt. Die Zeilenangaben hinter den Zitaten beziehen sich auf die transkribierten Interviews. Indem die Originalzitate stets kursiv gesetzt sind, wird auch innerhalb des Fließtextes ihre Sichtbarkeit erhöht.
4. Die Arenen und Akteur*innen der sozialen Welt der Demenzpflege
Belastung werden können, wenn die beteiligten Akteur*innen sich nicht auf einen passenden Zeitrahmen einigen können. Den Partner*innen mit Demenz kommt in der sozialen Welt der Demenzpflege und damit auch innerhalb der Arenen der Pflege die Position der implizierten Akteur*innen (implicated actors) zu. Diese ist aufschlussreich für die Machtdynamiken in der Situation (vgl. Clarke 2009: 204f). Wie der kurze Interviewauszug aus dem Gespräch mit Frau Heinrich zeigt, entscheidet zwar sie darüber, ob sie den Pflegedienst kündigt oder nicht, ausschlaggebend für diese Entscheidung ist aber die morgendliche Unruhe ihres Ehemannes, die seiner Frau implizit das Gefühl vermittelt, dass er nicht bis halb zehn im Bett liegen, sondern bereits früher aufstehen möchte. Herr Heinrich steht mit seinen Bedürfnissen daher stellvertretend für sämtliche zu pflegende Partner*innen mit Demenz im Fokus des Handelns, allerdings ohne dabei selbst tatsächlich zu Wort zu kommen: »Implizierte Akteure [sic!] können im Großen und Ganzen nicht ›sprechen‹ und niemand stellt ihnen Fragen. Normalerweise sprechen andere an ihrer Stelle – sie werden im Diskurs dieser Welt konstruiert und bilden häufig ihren Fokus oder ihr Ziel. Die Handlungen, die ›im Namen von‹ implizierten Akteuren vorgenommen werden, erfolgen häufig ›zu ihrem Wohlergehen‹. Individuen und soziale Gruppen mit weniger Macht in solchen Situationen sind eher implizierte statt voll handlungsmächtige Akteure [sic!].« (Clarke/Keller 2011: 122) Clarke geht davon aus, dass es in der Mehrzahl der sozialen Welten implizierte Akteur*innen gibt, die entweder lediglich diskursiv konstruiert und physisch gar nicht anwesend sind oder aber sie sind körperlich anwesend, werden aber von den anderen Akteur*innen zum Schweigen gebracht (vgl. Clarke 2012: 87). Letzteres trifft in der sozialen Welt der Demenzpflege auf die Partner*innen mit Demenz selbst zu. Ihre Krankheitsdiagnose ist die Ursache und Grundlage für die Konstruktion dieser sozialen Welt und die Entstehung der häuslichen Pflegearena. Die Akteur*innen mit Demenz bestimmen den Alltag der pflegenden Partner*innen und ihrer Familie. Ihre Erkrankung ist konstitutiv für die Entwicklung spezialisierter Berufsgruppen oder neuer institutionalisierter Wohnformen und sie bewirken über die Mikro- und Mesoebene hinaus – wie später noch genauer zu thematisieren sein wird – sogar die Reformierung bestehender Pflegegesetze. Und dennoch, es sind zu keinem Zeitpunkt die Pflegebedürftigen selbst, von denen die Handlungsmacht ausgeht, sondern die sie umgebenden Akteur*innen, die zu ihrem Wohle agieren, wäh-
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rend die erkrankte Person schweigt. Und dieses Schweigen ist im Fall der Demenz besonders eindrücklich. Denn zunächst einmal verlieren die Betroffenen durch die ärztliche Demenz-Diagnose ihre Handlungsmacht und erleben einen Statuswechsel von aktiven hin zu implizierten Akteur*innen, der sie auf gesellschaftlicher Ebene ihres bisherigen Mitspracherechts entledigt und verstummen lässt. Im Verlauf der Krankheit wirkt sich die fortschreitende Schädigung der Nervenzellen im Gehirn früher oder später schließlich auch auf das Sprachzentrum aus und bringt die Betroffenen nicht mehr nur im metaphorischen Sinne, sondern de facto auch physisch endgültig zum Schweigen. Für die vorliegende Untersuchung ließe sich selbstkritisch anmerken, dass auch ich dieses Schweigen nicht brach, sofern in der Erhebungssituation die erkrankten Partner*innen mit anwesend waren. Grund dafür war allerdings besagtes Interesse an der Situation der pflegenden Angehörigen und eine entsprechend ausgerichtete Gesprächsführung, die folglich weniger darauf abzielte, die Pflegenden im Namen ihrer Partner*innen mit Demenz sprechen zu lassen, als vielmehr darauf, deren eigene Situation und damit konkret ihr (Selbst-)Wohl(-empfinden) in den Blick zu nehmen. Für die Analyse der häuslichen Pflegearena ist die Person mit Demenz daher zum einen Grundbedingung für das (Fort-)Bestehen der untersuchten Situation und zum anderen bleiben die pflegebedürftigen Partner*innen und deren (implizierte) Bedürfnisse der handlungsleitende Fokus für die Alltagspraktiken der pflegenden Angehörigen und die weiteren Akteur*innen der häuslichen Pflegearena. Abgesehen vom Pflegedienst sind insbesondere die Kinder und häufig auch die Enkelkinder wichtige Bezugspersonen im häuslichen Pflegealltag. Die Kinder sind meist die Ersten, die von der Demenz-Diagnose des Familienmitglieds erfahren und stehen dem pflegenden Elternteil insbesondere bei Schlüsselereignissen, wie zum Beispiel Stürzen, akuter Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder überfordernden Grenzsituationen beratend zur Seite. Entscheidungen, wie die Beantragung einer neuen Pflegestufe oder Tagespflege, werden daher oft gemeinsam getroffen, wobei auffällt, dass sich die weiblichen Pflegenden im Sample deutlich häufiger mit ihren Kinder abstimmen, während die männlichen Pflegenden eher dazu neigen, allein zu entscheiden. Im Falle kollektiver Lösungssuche haben die Kinder in der Regel die Entlastung des pflegenden Elternteils im Blick und plädieren für die Inanspruchnahme zusätzlicher professioneller Hilfe. Nachdem beispielsweise Frau Maler die verschiedenen Formulare zur Beantragung pflegerischer Hilfsmittel abgeschreckt haben, setzte sich eine ihrer Töchter dafür ein, dass ihre
4. Die Arenen und Akteur*innen der sozialen Welt der Demenzpflege
Mutter einen Behindertenparkausweis erhält, um mit dem gehbehinderten Vater näher an der eigenen Wohnung parken zu können (vgl. Maler: 709ff). Es kommt aber auch vor, dass die vom pflegenden Elternteil erbrachte Leistung nicht wahrgenommen wird. So berichtet beispielsweise Frau Heinrich von ihrer Tochter: »Die ist, die ist meine Bezugsperson, aber/ähm/ich muss ganz ehrlich sein, so mit Pflege, die weiß gar nicht so richtig, was ich mache, so richtig weiß sie es nicht.« (Heinrich: 481ff) Obwohl die Tochter von Frau Heinrich im gleichen Ort wohnt und mindestens zweimal wöchentlich bei ihren Eltern in der häuslichen Pflegearena vorbeischaut, hat Frau Heinrich dennoch nicht das Gefühl, dass die pflegerische Leistung, die sie täglich erbringt in ausreichendem Maße gesehen und wertgeschätzt wird. Als ihre Bezugsperson bespricht sie alle relevanten Themen zur Pflege und Gesundheit ihres Mannes mit ihrer Tochter, empfindet diese aber aufgrund deren beruflicher Nähe zum pflegerischen Feld als »bissel hart« (ebd.: 487), wohingegen der Sohn bereits vor ein paar Jahren zu ihr gemeint habe: »Das Elend ertrag ich nicht mehr.« (ebd.: 489) und seitdem nur noch sehr selten zu Besuch kommt. Er scheidet daher als Hilfe für die Pflege gänzlich aus und ihre Tochter möchte Frau Heinrich nur im Notfall bitten, auf den Vater aufzupassen, damit sie sich nicht auch noch nach Feierabend um kranke Menschen kümmern muss. Als mehr oder weniger regelmäßige Gäste der häuslichen Pflegearena bilden die Kinder und der engere Familienkreis dementsprechend einen wichtigen Orientierungspunkt, an dem die pflegenden Angehörigen ihr Handeln und damit auch ihre Bereitschaft zur Be- oder Entgrenzung ausrichten. Freund*innen betreten die häusliche Pflegearena vergleichsweise selten. Zugang zu diesem letztlich doch sehr intimen Schauplatz der Demenzpflege erhalten nur diejenigen Freundschaften, die der Demenzdiagnose standgehalten und sich hinsichtlich der nun grundlegend veränderten Lebenssituation als besonders offen und empathisch gezeigt haben. Im Fall von Frau Kleber blieb zum Beispiel nach zehn Jahren der Pflege ihres Mannes von dem einst großen gemeinsamen Freundeskreis nicht mehr viel übrig, außer »[…] zwei Freundinnen hinten in der Siedlung. DER6 Kontakt, der bleibt. Die kommen auch zu uns und wir zu ihnen, also da ist das kein Problem.« (Kleber: 257f) Diesen Wandel des sozialen Netzwerkes deutet Frau Kleber allerdings sowohl negativ, als auch positiv. Auf der einen Seite bedauert sie den Verlust langjähriger 6
In Großbuchstaben transkribierte Worte wurden von den Interviewten besonders betont und werden daher im Transkript hervorgehoben (vgl. Anhang II, Transkriptionsregeln).
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Freundschaften und die subjektiv erfahrene Ablehnung, andererseits äußert sie sich aber auch als dankbar dafür, dass durch die Abnahme der Quantität an Sozialkontakten die Qualität der verbliebenen Freundschaften gestiegen ist und sie ihre begrenzten zeitlichen Ressourcen neben der Pflege nun für eben jenen Bekanntenkreis nutzen kann, der kein Problem mit der Erkrankung ihres Mannes hat. Den verbleibenden Freund*innen kommt innerhalb der häuslichen Pflegearena dabei – ähnlich wie der Familie – nur sehr selten die Aufgabe der unmittelbaren (Mit-)Pflege zu. Stattdessen konzentriert sich ihre Aufmerksamkeit vielmehr auf die pflegende Person und ermöglicht somit deren affektive Entlastung und zeitweise thematische Distanzierung. Das Ziel der Entlastung verfolgen auch die ehrenamtlichen Akteur*innen, die in einigen Fällen des Samples regelmäßig die häusliche Pflegearena betreten. Die stetig steigende Zahl von Menschen mit Demenz, von denen die deutliche Mehrheit durch Angehörige betreut und gepflegt werden (vgl. BerlinInstitut 2011: 30), hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass insbesondere in den urbanen Regionen eine Vielzahl sogenannter niedrigschwelliger Angebote geschaffen wurde, bei denen ehrenamtliche Helfer*innen dazu beitragen, den pflegenden Angehörigen eine Verschnaufpause zu ermöglichen. Bei Interesse an dieser Form der Unterstützung können sich die Angehörigen im Internet7 oder über den Pflegestützpunkt der jeweiligen Gemeinde oder Stadt Kontakte zu Ehrenamtsvereinen oder Wohlfahrtsverbänden mit entsprechender Angebotsstruktur vermitteln lassen. Die Ehrenamtlichen verfügen in der Regel nicht über eine professionelle pflegerische Ausbildung, sind aber zu den Besonderheiten im Umgang mit Menschen mit Demenz geschult worden. Jene Pflegenden im Sample, die ehrenamtliche Hilfen erhalten, betonen die Relevanz einer guten Beziehung zwischen allen drei Akteur*innen. Dabei legen die pflegenden Angehörigen insbesondere Wert darauf, dass die Reaktion ihrer Partner*innen auf die Ehrenamtlichen darauf hindeutet, dass sie sich in deren Anwesenheit wohlfühlen. Die Betreuung der Partner*innen mit Demenz durch die ehrenamtlichen Helfer*innen findet in der Regel in einem wöchentlichen Rahmen von zwei bis drei Stunden statt und ist so angelegt, dass sich die pflegenden Angehörigen in dieser Zeit aus der häuslichen Pflegearena zurückziehen können. Ähnlich wie die ehrenamtlichen Akteur*innen, werden auch die Haushaltshilfen nicht von allen Fällen des Samples als Unterstützung in Anspruch
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Zum Beispiel: www.wegweiser-demenz.de
4. Die Arenen und Akteur*innen der sozialen Welt der Demenzpflege
genommen. Bezüglich der Haushaltshilfen lässt sich allerdings eine klare Geschlechtsspezifik erkennen, da ausschließlich die männlichen Pflegenden von dieser Form der Hilfe im Pflegealltag berichten, während die weiblichen Pflegenden die reproduktiven Aufgaben im Haushalt auch bei hoher Pflegebelastung weiterhin selbst übernehmen. Die Gründe für oder gegen die Unterstützung durch eine – zumeist weibliche – Haushaltshilfe werden in den Analysen zu den vergeschlechtlichten Grenzen näher beleuchtet. Innerhalb der Arenen der Demenzpflege sind diese Akteur*innen vor allem auch insofern von Bedeutung, als das sie zwar regelmäßig in der häuslichen Pflegearena anwesend sind und den männlichen Pflegenden einen nicht unerheblichen Teil der unterstützenden Sorgearbeiten abnehmen, in den Selbsterzählungen bleiben sie aber stets weitestgehend unsichtbar und leisten ihren Beitrag zur Begrenzung des Pflegeaufwands (für die Partner*innen) dementsprechend mehr oder weniger im Schatten der häuslichen Pflegearena (vgl. u.a. Jurczyk/Oechsle 2006; Rerrich 2006). Ärzt*innen sind neben den Fachkräften des Pflegedienstes eine weitere Gruppe professioneller Akteur*innen, die allerdings nur in Notfällen und bei bereits bettlägerigen Pflegefällen innerhalb der häuslichen Pflegearena agieren. Für die pflegenden Angehörigen sind sie – ähnlich wie der Pflegedienst – wichtige Kontaktpersonen bei Fragen zum Gesundheitszustand sowie der professionellen Einschätzung des weiteren Verlaufs der Erkrankung und damit verbundenen Anforderungen an die Pflege. Dabei sieht beispielsweise der Arzt von Herrn Moser, der gegen Ende meines Interviews mit Frau Moser früher als angekündigt eintrifft, seine Rolle bei Hausbesuchen in gewisser Weise auch darin, vor Ort abzuschätzen, ob die mit dem erhöhten Pflegeaufwand einhergehenden Anforderungen an die pflegenden Partner*innen von diesen überhaupt noch geleistet werden können oder ob zum Wohl der Pflegenden und Gepflegten zum Beispiel eine institutionelle Unterbringung angeregt werden sollte.8 Während die Hausbesuche der Ärzt*innen von den pflegenden Angehörigen durchweg als hilfreich erzählt werden, sind die Erfahrungen mit den Gutachter*innen vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) nicht nur positiv. Die Pflegekassen sind im Falle schwerer Erkrankungen ihrer Versicherungsnehmer*innen gesetzlich dazu verpflichtet, vor der Erbringung 8
Das kurze Gespräch mit dem Hausarzt im Anschluss an das Interview mit Frau Moser, entsprang seinem Interesse an meiner Untersuchung und wurde mit seiner Erlaubnis im Postskript der Erhebungen bei Frau Moser mit protokolliert.
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von Hilfeleistungen eine gutachterliche Stellungnahme durch den MDK einzuholen (vgl. SGB XI, § 18, Verfahren zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit). Die Aufgabe der für den MDK tätigen Gutachter*innen besteht demnach darin, im Krankheitsfall einzuschätzen, ob und in welchem Maße die betreffende Person Unterstützung erhalten sollte. Die im Anschluss an die Begutachtung formulierten Empfehlungen des MDK dienen der jeweiligen Kranken- und Pflegeversicherung als Grundlage für die Entscheidung über die Höhe der zu gewährenden Leistungen.9 Wie bereits im Abschnitt zu den institutionellen Rahmenbedingungen der Demenzpflege erläutert, wurde mit der Pflegereform 2008 erstmals auch die besondere Situation der Demenzkranken und ihrer Angehörigen berücksichtigt (vgl. Kap. 2.3). Die Betroffenen erhielten damit die Möglichkeit, Pflegegeld sowie Pflegesachleistungen zu beantragen, auch wenn die demenziell erkrankte Person noch keine grundlegenden körperlichen Einschränkungen aufweist, sondern zunächst nur in ihrer Alltagskompetenz10 erheblich eingeschränkt ist (vgl. BMG 2008). Ohne im Sozialgesetzbuch als eigene Pflegestufe benannt zu werden, wurde diese Neuerung der Pflegegesetzgebung als sogenannte Pflegestufe 0 bekannt (vgl. Buchmann/Hirschkorn 2014: 33). Problematisch an dieser Anpassung blieb jedoch, dass die Bewertungssysteme der Gutachter*innen des MDK noch nicht gut genug auf die spezielle Symptomatik der Demenz ausgerichtet waren und es im Zuge der Pflegebegutachtung in der häuslichen Pflegearena immer wieder zu Problemen bezüglich einer bedarfsgerechten Einstufung des Ausmaßes der eingeschränkten Alltagskompetenz der Menschen mit Demenz kam. Stellvertretend für diese
9 10
Vgl. www.mdk.de Eine eingeschränkte Alltagskompetenz liegt laut MDK vor, wenn eine Person die alltäglichen Aufgaben innerhalb seiner Kultur nicht mehr selbstständig, unabhängig und eigenverantwortlich erfüllen kann. Bei der Begutachtung der Alltagskompetenz werden dabei verschiedene Bereiche, wie z.B. »Verkennen gefährlicher Situationen, Unfähigkeit zur Kooperation oder Strukturierung des Tagesablaufs oder aber auch anhaltende Zustände von Depression und Angst mit ihren Folgen« (www.mdk.de/817.htm) abgefragt.
4. Die Arenen und Akteur*innen der sozialen Welt der Demenzpflege
bundesweite Problematik11 , die sich beim vorliegenden Sample in verschiedenen Fällen zeigte, weiß beispielsweise Frau Zapf zu berichten: »Und da sind wir eben auf die Kurzzeitpflege gekommen. Das heißt, durch diese Pflegestufe, die er da hat. Na das war auch noch so ein Kapitel, bis man da, bis man da reinkommt. Ich kann Ihnen sagen, das hat gedauert, von 2010 bis 2012. Dreimal, wir haben`s dreimal wie/zweimal haben wir/äh/Einspruch erhoben. Beim dritten Mal hat`s ENDLICH geklappt. Also das war eine Katastrophe. Und da war wieder so ein guter Tag, beispielsweise./Äh/fragt/da hatte die Frau vom Medizinischen Dienst schon meinen Mann gefragt: ›Was ist denn heute für ein Tag?‹ Sagt er: ›14. Februar.‹ Na ja, ES WAR JA GUT, RICHTIG, aber in dem Falle war`s MIST, verstehen Sie mich. So, da hat er mal wieder einen verdammt guten Tag und da muss die gerade kommen. So, und der Erfolg war nichts.« (Zapf: 537ff) Zum Zeitpunkt der ersten Begutachtung im Jahr 2010 hatte Herr Zapf bereits seit fünf Jahren die Diagnose einer vaskulären Demenz und war an manchen Tagen schon nicht mehr allein in der Lage, sich etwas zu Essen zu machen oder sicher wieder nachhause zu finden. Allerdings wurden – den Berichten seiner Frau zufolge – weder die ärztliche Diagnose, noch die Beobachtungen seiner Frau in ausreichendem Maße bei der Begutachtung berücksichtigt und es schien vorrangig der Eindruck zu zählen, den die Gutachterin während ihres einmaligen Besuchs von Herrn Zapf erhielt. Die Gutachter*innen des MDK nehmen innerhalb der häuslichen Pflegearena eine sehr machtvolle Position ein, da sie mit ihrer Einschätzung maßgeblich die Entscheidung der Pflegeversicherung für oder gegen das Zuteilen einer Pflegestufe beziehungsweise eines Pflegegrades beeinflussen. Dabei versteht sich der MDK in seiner Begutachtungsfunktion zunächst einmal selbst als neutrale (ärztliche) Instanz, die zwar von den Pflegekassen beauftragt wird, die Bewertung der Situation erfolge aber unabhängig und sei – entsprechend des Sozialgesetzbu11
Klaus-Peter Buchmann und Frank Hirschkorn widmen 2014 ihre Publikation »Pflegestufen – beurteilen und widersprechen« den zunehmenden Herausforderungen bei der praktischen Feststellung der Pflegebedürftigkeit im Rahmen der Begutachtungssituation. Vor dem Hintergrund von jährlich ca. 100.000 Widerspruchs- und Klageverfahren bei den Pflegekassen fokussieren die beiden Autoren auf auftretende Probleme und Fehlerquellen im Verfahren der Begutachtung, die häufig zu Fehleinschätzungen auf Seiten der Gutachter*innen des MDK führen und geben Ausblick auf zukünftige Pläne der Bundesregierung zur Überarbeitung der Sozialgesetzgebung, bei denen insbesondere eine weiter verbesserte Bewertung demenziell erkrankter Personen berücksichtigt werden soll (vgl. ebd.: 33f).
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ches – lediglich dem ärztlichen Gewissen unterworfen (vgl. § 275, Abs. 5, SGB V). Problematisch im Hinblick auf die Neutralität erscheint allerdings mindestens zweierlei: Erstens unterliegt der MDK dem Wirtschaftlichkeitsgebot, dem zufolge die Leistungen »ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein [müssen und] […] das Maß des Notwendigen nicht überschreiten« dürfen (§ 12, Abs. 1, SGB V). Darüber hinaus ist es zweitens fraglich, wie die Interessen der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen mit einem unzureichenden Begutachtungsinstrument angemessen erfasst werden sollen. So gehört es in Fachkreisen zum Grundwissen über die Symptomatik der Demenz, dass die demenziell erkrankte Person in Abhängigkeit vom Zusammenspiel verschiedener chemisch-neurologischer sowie physiologischer Veränderungen, aber auch psychologischer und sozialer Faktoren bessere oder schlechtere Phasen der Erkrankung hat, die umgangssprachlich als gute und schlechte Tage bezeichnet werden (vgl. James 2014: 19). Während an den guten Tagen, wie im Fall von Herrn Zapf, plötzlich wieder Ereignisse oder Daten erinnert werden, die zuvor schon länger vergessen schienen, kommt es an den schlechten Tagen zu herausfordernden Verhaltensweisen, wie zum Beispiel ständigem Herumwandern, Aggressionen oder Wut (vgl. Kap. 2.2).12 Dementsprechend ist es unzureichend, bei der Begutachtung von einer Momentaufnahme innerhalb der häuslichen Pflegearena Rückschlüsse auf die generelle Situation der Person mit Demenz und die pflegenden Angehörigen zu ziehen. Wie bereits dargelegt, reagiert das Pflegestärkungsgesetz (PSG) auf diese Problematik und hat mit dem PSG II zum 1.Januar 2017 ein neues Begutachtungsinstrument eingeführt, mit dessen Hilfe die Ausprägung des Ausmaßes der eingeschränkten Alltagskompetenz von den Gutachter*innen besser erfasst werden soll (vgl. Kap. 2.3). Doch auch nach dieser Reformierung der Pflegegesetzgebung bleibt es bei einem einmaligen Begutachtungstermin in der häuslichen Pflegearena und somit auch vorerst fraglich, inwiefern mit dem neuen Begutachtungsinstrument alle notwendigen Informationen zur eingeschränkten Selbstständigkeit und dem Pflege- und Betreuungsbedarf in dem Maße erfasst werden können, dass auch im Falle eines guten Tages am Begutach-
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Aus verhaltenspsychologischer Perspektive sind die herausfordernden Verhaltensweisen bei Menschen mit Demenz das Resultat der schwindenden Fähigkeit, sich verständlich zu machen und die Reaktion auf eine Welt, die für die Betroffenen nicht mehr bekannt und dementsprechend nicht mehr vertrauensvoll und verlässlich ist (vgl. Jantzen/Schnittka 2001).
4. Die Arenen und Akteur*innen der sozialen Welt der Demenzpflege
tungstermin anschließend ein angemessener Pflegegrad empfohlen werden kann. Bei den Leistungen, die mit den jeweiligen Pflegestufen beziehungsweise Pflegegraden verknüpft sind, geht es nicht allein um finanzielle Entlastungen, sondern insbesondere auch um Leistungen, wie Kurzzeit-, Verhinderungsoder Tagespflege, die die pflegenden Angehörigen in ihrem Pflegealltag entlasten sollen. Bedenkt man, dass Frau Zapf diese Unterstützung erst erhielt, nachdem sie zweimal Einspruch gegen das in ihrer häuslichen Pflegearena stattgefundene Begutachtungsverfahren eingelegt hatte und die Demenz ihres Mannes im dritten Jahr dann schon so weit vorangeschritten war, dass die Chance, ihn an einem guten Tag abzupassen, sehr gering war, dann sind die drei Jahre Wartezeit seit der ersten Beantragung einer Pflegestufe ein langer Zeitraum, in dem sie als pflegende Angehörige den Pflegeaufwand ohne angemessene Unterstützung von Seiten der Pflegeversicherung zu bewältigen hatte. Damit sind zunächst einmal sämtliche Akteur*innen vorgestellt, die in der sozialen Welt der Demenzpflege innerhalb der häuslichen Pflegearena agieren. Während die pflegenden Angehörigen sowie ihre demenziell erkrankten Partner*innen konstitutiv für diese Arena und immer anwesend sind, wenn andere Akteur*innen die Arena betreten, zeichnen sich die Familie, Freund*innen, Haushaltshilfen sowie Ärzt*innen oder auch Ehrenamtlichen durch sehr unterschiedliche Häufigkeiten der Anwesenheit in der häuslichen Pflegearena aus. Das Beispiel der Gutachter*innen des MDK hat allerdings gezeigt, dass es nicht unbedingt ausschlaggebend ist, wie regelmäßig die Akteur*innen die pflegespezifischen Themen miteinander aushandeln, sondern das in bestimmten Fällen bereits ein Besuch viel Einfluss auf die Situation der pflegenden Angehörigen und deren Handeln haben kann.
4.2
Die Arena der Öffentlichkeit und die Blicke der Anderen
Die in der Karte von den Arenen und Akteur*innen der sozialen Welt der Demenzpflege (vgl. Abb. 4) kreisförmig um die häusliche Pflegearena herum angeordnete Arena der Öffentlichkeit ist ebenfalls räumlich gekoppelt. Sie steht für das Verlassen der Wohnung oder des Hauses und dem damit einhergehenden Wechsel des Schauplatzes, mit dem zugleich ein Wechsel der Themen einhergeht. Denn während in der häuslichen Pflegarena der Fokus auf der
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pflegerischen Versorgung sowie den Möglichkeiten und Grenzen der Entlastung der Pflegenden liegt, treten diese Themen in den Hintergrund, sobald sich die Pflegenden mit ihren Partner*innen nach draußen begeben. Denn in der Arena der Öffentlichkeit geht es für die pflegenden Angehörigen vorrangig um das Sehen und Gesehen werden. In sämtlichen Situationen außerhalb der eigenen vier Wände sind die Menschen mit Demenz und ihre pflegenden Angehörigen den Blicken anderer – teils bekannter, teils unbekannter – Personen ausgesetzt, sei es auf dem Weg zum Einkaufen, zu Ärzt*innen, zur Tagespflege oder einfach beim Eis essen oder im Urlaub. Damit wird die Arena der Öffentlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes zum Schauplatz und das Blicken wird innerhalb dessen zur bestimmenden sozialen Praxis mit Auswirkungen auf das Handeln der pflegenden Angehörigen. Georg Simmel bezeichnet den Blick – im Gegensatz zum gesprochenen Wort – als »reinste Wechselbeziehung, die überhaupt besteht.« (Simmel 1908: 484) Die sich treffenden Blicke stiften eine Einheit zwischen den beteiligten Individuen, von der Simmel allerdings annimmt, dass sie sich auf das unmittelbare Geschehen beschränkt und im Anschluss an die Situation »keine objektive Spur« hinterlasse (ebd.). Dem widerspricht Tina Denninger in ihren Untersuchungen zu Körperbildern alternder Menschen und konstatiert, dass »Blicke mehr sind, als nur Momentaufnahmen zwischen Personen.« (Denninger 2013: 6) In Abgrenzung zu Simmel versteht sie Blicke stattdessen als Teil gesellschaftlicher Strukturen, die durch soziale und kulturelle Prozesse konstituiert und gefestigt werden, darüber hinaus soziale Ordnungen (mit-)konstituieren und dementsprechend durchaus Spuren hinterlassen (vgl. ebd. 2017: 47) Ich teile in diesem Punkt Denningers Kritik an Simmel und die Analyse meiner empirischen Daten verweist darauf, dass sich die von ihr entwickelte theoretische Konzeption des Blicks auch jenseits materieller Substrate, wie dem des (Körper-)Bildes als überaus anschlussfähig erweist, um die von den Blicken ausgehende handlungsnormierende Machtposition zu verdeutlichen. Im Fall von Frau Heinrich haben die Blicke der Anderen im Speiseraum des Hotels beispielsweise dazu geführt, dass sie mit ihrem Mann nicht mehr in den Urlaub fährt: »Also unsere letzte Reise war Österreich. Und/ähm/da ist mir schon aufgefallen […]/mein Mann, der hat manchmal nach dem Mund gesucht und das sieht komisch aus, wenn jemand/Und jeder kennt auch die Krankheit nicht. Und wir saßen mittendrin und rund rum Leute, die immer nur geguckt haben. Bis ich dann so weit
4. Die Arenen und Akteur*innen der sozialen Welt der Demenzpflege
war, dass ich gesagt hab, wir gehen früher essen oder später essen, dass wir nicht so in der Masse drin sind. Und da hab ich’s mal an der Rezeption gesagt, dass mir das peinlich ist, dass auf meinen Mann so geguckt wird und da hat sie gesagt: ›Hätten Sie vorher was gesagt, da hätten wir Sie woanders hingesetzt.‹« (Heinrich: 45ff) Bedingt durch seine Parkinson-Demenz und das symptomatische Zittern der Hände hat der Mann von Frau Heinrich Probleme bei der Ausführung feinmotorischer Praktiken, wie der Essensaufnahme. Dies erzeugt eine Abweichung von kulturell vermittelten Normen des gesitteten Verhaltens zu Tisch, deren Anspruch es ist, den Verzehr von Speisen für alle Beteiligten zu einem Vergnügen zu machen, welches nicht »durch unschöne Anblicke beeinträchtigt werden darf.«13 Die Blicke der anderen Hotelgäste können als Form der normierenden und zugleich auch sanktionierenden Reaktion auf diese Abweichung und den damit verbundenen, vermeintlich unschönen Anblick gedeutet werden. Dabei zeigt sich, dass Blicke »machtförmig strukturiert« (Denninger 2013: 7) sind, denn die von Frau Heinrich beschriebene Masse14 hört nicht nach der ersten gemeinsamen Mahlzeit auf zu blicken und ignoriert oder akzeptiert die Abweichung von der Norm. Nein, von Mahlzeit zu Mahlzeit überwacht die blickende Masse das Ehepaar Heinrich, und zwar so lange, bis Frau Heinrich den »stillschweigend durch die Blicke ausgeübte[n] normativen Druck« (Kaufmann 2006: 248) nicht mehr aushält und sich mit ihrem Mann aus der Masse zurückzieht, um nicht mehr gesehen zu werden. Demnach lag es in der Macht der Blickenden, die erblickten Normabweichler*innen in den Bereich des Nicht-(mehr)-Sichtbaren zu verdrängen und auf diesem Wege die soziale Ordnung im Speiseraum wiederherzustellen, um – zumindest vorerst – wieder ohne störende Anblicke speisen zu können. George Herbert Meads Konzept der verallgemeinerten Anderen bietet dabei einen passenden theoretischen Rahmen für das Verständnis der verhaltensnormierenden Dynamik des Blickens innerhalb der Gesellschaft (vgl. Denninger 2018: 151). Die verallgemeinerten Anderen beschreibt Mead als »organisierte Gemeinschaft oder gesellschaftliche Gruppe, die dem Einzelnen seine
13 14
www.knigge.de/themen/bei-tisch/die-tischmanieren-2044.htm Der Begriff der Masse kann hierbei als Vorgang der Gemeinschaftseinbindung und Machtentfaltung verstanden werden, bei dem einer großen Menge von Menschen innerhalb der Gesellschaft eine deutlich kleinere Menge von Menschen gegenübersteht, die aus bestimmten Gründen nicht in die Masse integriert, sondern als Minderheit ausgegrenzt wird (vgl. Canetti 1994).
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Häusliche Pflege am Limit
einheitliche Identität gibt« (Mead 1973: 196). Die Einstellungen und Haltungen dieser Gemeinschaft gehen dabei in den Erfahrungs- und Wissenshorizont der einzelnen Mitglieder über. Frau Heinrich ist in der beschriebenen Situation zugleich sie selbst, aber auch Mitglied der Gemeinschaft, um deren Einstellungen und Normen sie weiß. Und ebenjenes Wissen verstärkt die Möglichkeiten der verallgemeinerten Anderen »Kontrolle über das Verhalten ihrer einzelnen Mitglieder« auszuüben (ebd.). Die Blicke der verallgemeinerten Anderen weisen die pflegenden Angehörigen demzufolge in die Schranken (vgl. Denninger 2013: 7), werten ab und können dazu führen, dass sie sich, wie im Fall von Frau Heinrich, als Begleitpersonen der Betroffenen in ihrem bisherigen (Öffentlichkeits-)Handeln einschränken. Um den Blicken der Anderen möglichst zu entgehen, macht man sich für die gesellschaftliche Masse weitestgehend unsichtbar und fährt nun beispielsweise nicht mehr in den Urlaub und/oder zieht sich zunehmend in die häusliche Pflegearena zurück. Widersetzen sich die Angeblickten diesem normativen Druck und zeigen sich weiterhin in der Öffentlichkeit, dann bedarf es der Fähigkeit, diese Blicke, die nicht selten auch mit direkt verbalisierter Abneigung einhergehen, zu ignorieren oder zumindest zu erdulden: »Und das macht ihm Spaß, also jetzt da am Markt zu sitzen und ein Eis zu essen, aber dann hört man natürlich auch, wenn Leute sagen: ›Müssen die gerade HIER ein Eis essen?‹ Aber gut, da bin ich unterdessen, das kann ich ausblenden und er hört es nicht oder/« (Maler: 535ff) Wieder ist es der Anblick einer Person, die mit zittrigen Händen ihr Eis löffelt oder selbiges von Angehörigen gefüttert bekommt, der die verallgemeinerten Anderen oder zumindest Einzelne von ihnen dazu veranlasst, die Betroffenen nicht nur mit Blicken, sondern sogar verbal für ihre störende Sichtbarkeit zu sanktionieren. Die Empörung darüber, dass das Ehepaar Maler sich »gerade HIER«, auf einem öffentlichen Platz wie dem Markt niedergelassen hat, um ein Eis zu essen, deutet darauf hin, dass es, ähnlich wie beim Ehepaar Heinrich, von den verallgemeinerten Anderen nicht erwünscht ist, an gut einsehbaren Orten zu speisen, wenn die Nahrungsaufnahme nicht (mehr) der kulturellen Norm unauffälligen Essens entspricht. Indem Frau Maler anmerkt, dass sie unterdessen in der Lage ist, diese Blicke und Äußerungen auszublenden, verweist sie darauf, dass dies nicht immer so war. Die Fähigkeit, die abwertenden Blicke und Äußerungen zu ignorieren und sich nicht mit ihrem Mann aus der Arena der Öffentlichkeit verdrängen zu lassen, musste von ihr demnach erst erlernt werden. Dabei muss sie in Folge der Sprachlosigkeit ihres Mannes offen lassen, ob und wie er die Blicke und Äußerungen der verallgemeinerten Anderen wahrnimmt.
4. Die Arenen und Akteur*innen der sozialen Welt der Demenzpflege
Innerhalb der Gruppe der verallgemeinerten Anderen haben die Nachbar*innen eine besondere Position, denn sie sind besonders nah dran an der häuslichen Pflegearena. Die pflegenden Angehörigen wohnen in der Regel bereits seit mehreren Jahrzehnten mit ihren Partner*innen in der jeweiligen Wohneinheit – ähnlich wie ihre Nachbar*innen. Und wenn Letztere im Laufe der Jahre nicht zu Freund*innen wurden, dann kennt und grüßt man sich jahrelang, ohne weiteres Interesse aneinander. Dies scheint sich allerdings zu ändern, sobald den Nachbar*innen auffällt, dass eine*r der Nachbar*innen sich anders verhält als bis dato gewohnt. Bestimmte Symptome der Demenz, wie Orientierungslosigkeit, Verwirrtheit oder wiederholtes Verschwinden aus der häuslichen Pflegearena, ziehen die Blicke der Nachbar*innen auf sich und holen die Menschen mit Demenz wie auch ihre Partner*innen aus der zuvor überwiegenden Unsichtbarkeit in den Bereich des Sichtbaren: »Ich bin auch hier im Haus noch nicht groß angesprochen worden. Ich meine, wir haben ja hier eine Frau im Haus, die sitzt ja entweder am Spion an der Korridortür oder am Fenster in der Küche, was weiß ich. Die wird das/die hat das natürlich gleich beim ersten Mal mitgekriegt, als er zur Tagespflege abgeholt wurde. Die bringt immer ihre Enkeltochter da weg./Äh/Die hat sich ja bald den Hals verrenkt. Ich hätte beinahe so gemacht [hebt eine geballte Faust mit gestrecktem Mittelfinger in die Luft; Anm. A.M.], aber ich kann mich ja beherrschen, bin ja kein Kind mehr.« (Zapf: 406ff) Mit ihren mehr oder weniger versteckten Blicken gibt die Nachbarin Frau Zapf das Gefühl, sie und ihren Mann in ihren Tagesabläufen zu kontrollieren. Wann und wie lange verlässt das Ehepaar die Wohnung? Kommen sie mit Einkäufen wieder? Geht Frau Zapf ohne ihren Mann vor die Tür? Frau Zapf deutet die Blicke der Nachbarin dabei insbesondere auch als Bewertung ihres pflegerischen Handelns. Besonders beobachtet fühlt sie sich daher, nachdem sie aus Gründen der eigenen temporären Entlastung entschieden hat, ihren Mann zwei Mal in der Woche zur Tagespflege zu geben. Gleich am ersten Tag, an dem ihr Mann morgens vom Shuttle-Service des Pflegedienstes abgeholt wurde, ist die Nachbarin auf diese Neuerung aufmerksam geworden. Dabei scheint es zweierlei zu sein, das bei Frau Zapf die beschriebene Verärgerung auslöst. In erster Linie ist es die Unverhohlenheit des Blickes ihrer Nachbarin, den diese auch nach Passieren des Ehepaares Zapf nicht zu lösen vermag. Darüber hinaus scheint sich Frau Zapf aber auch dabei ertappt zu fühlen, mit Inanspruchnahme des Pflegedienstes etwas zu tun, das von den bestehenden Normen der Angehörigenpflege abweicht. Es bleibt an dieser
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Häusliche Pflege am Limit
Stelle offen, ob die Blicke der verallgemeinerten Anderen eine so ausgeprägte Wirkungsmacht zu entfalten vermögen, dass Frau Zapf, um nicht weiter aufzufallen, die Tagespflege lieber wieder abbestellt oder ob sie, ähnlich wie Frau Maler, die Fähigkeit zum Ausblenden der Blicke entwickelt. Was sich anhand der aufgeführten Beispiele allerdings zeigt, ist, dass die Blicke der verallgemeinerten Anderen – beginnend bei den Blicken der Nachbar*innen beim Verlassen der Wohnungstür – das Handeln und damit die pflegerischen Alltagspraxen beeinflussen. Neben den blickenden Akteur*innen sind in der Arena der Öffentlichkeit allerdings auch verschiedene Institutionen für die individuelle Situation der pflegenden Angehörigen von Relevanz (vgl. Abb. 4).15 Die Bedeutung des Medizinischen Dienstes sowie der Kranken- und Pflegekassen wurde im Zusammenhang mit der Pflegebegutachtung in der häuslichen Pflegearena bereits geschildert, weshalb ich an dieser Stelle auf eine weitergehende Betrachtung dieser beiden Institutionen verzichte. Wie ebenfalls bereits erwähnt, sind ärztliche Hausbesuche eher selten, während Termine in der Praxis der behandelnden Ärzt*innen zum Alltag der pflegenden Angehörigen und ihrer Partner*innen mit Demenz gehören. Aufgrund der Regelmäßigkeit der medizinischen Kontrolle stellen insbesondere die Arztpraxen für die pflegenden Angehörigen wichtige Anlaufstellen dar, um Fragen und Unsicherheiten bezüglich Pflege und Krankheitsverlauf mit dem medizinischen Personal klären zu können. Die Institution der Klinik wird im vorliegenden Sample wiederum häufig mit der offiziellen Demenzdiagnose verknüpft. In vielen Fällen ist ein Autounfall, ein schwerer Sturz oder aber plötzlich auftretende Taubheit einzelner Körperteile der Auslöser für eine Einweisung in die Klinik und die Demenz wird dann im Rahmen der Gesamtdiagnostik durch die Ärzt*innen mit festgestellt. Nicht selten ist es dabei so, dass die Angehörigen bereits seit einer ganzen Weile die kognitiven und motorischen Veränderungen bei ihren Partner*innen bemerken, aber »[…] das war so, dass das Wort Demenz nicht zwischen uns fiel. Außer bei der Entlassung aus der Klinik, als das das erste Mal diagnostiziert
15
Im Hinblick auf die an der hier untersuchten Pflegesituation beteiligten Institutionen wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Analog zu den vorgestellten Akteur*innen werden auch hier nur jene Institutionen benannt, denen in den Selbsterzählungen der pflegenden Angehörigen eine spezifische Bedeutung für die Praxis informeller Pflege zugewiesen wurde.
4. Die Arenen und Akteur*innen der sozialen Welt der Demenzpflege
wurde.« (Maler: 94ff) In diesen Fällen holen erst der ungeplante Klinikaufenthalt und die dabei erfolgte Diagnose die Krankheit Demenz in den Bereich des Sagbaren und schaffen Gewissheit für die Betroffenen und ihre Angehörigen. Während die Klinik insbesondere im frühen Stadium der Erkrankung von Bedeutung für die Klärung der sich verändernden Lebenssituation ist, werden die Institutionen der Angehörigenberatung16 sowie der Tagespflege in der Regel erst später im Krankheitsverlauf wichtig für die pflegenden Angehörigen.17 Bevor Herr Franz beispielsweise anfing, zu den Treffen der Angehörigenberatung zu gehen, pflegte er seine Frau bereits seit zehn Jahren und merkte, dass es ihm zunehmend schwerer fiel, seine Lebenssituation weiterhin einfach so hinzunehmen. Ein Kollege gab ihm schließlich den entscheidenden Anstoß: »›Du wirst das nicht ewig schaffen. Du musst zu einer Gruppe gehen. Du musst das machen. Du musst das machen‹ […] Und jetzt bin ich dem Mann heute dankbar.« (Franz: 246ff) Dankbar ist Herr Franz, weil er zum einen durch den Austausch mit den anderen Angehörigen gespiegelt bekommt, dass er mit seiner Situation nicht allein ist und es kein Problem darstellt, auszusprechen, dass man als pflegender Angehöriger mit der eigenen Situation (zeitweise) sehr unzufrieden, überfordert und unglücklich ist. Zum anderen ist Herr Franz dankbar für den regelmäßigen Termin, der ihm und seiner Frau die Möglichkeit gibt, die häusliche Pflegearena für ein paar Stunden zu verlassen. Bei der Institution der Tagespflege ist der Faktor der zeitlichen Entlastung noch deutlich ausgeprägter, als bei den wöchentlichen Treffen in der Angehörigenberatung. Jene Pflegende in meinem Sample, die ihre Partner*innen zur Tagespflege schicken, tun dies in der Regel an einem Tag in der Woche und nutzen die Zeit für Einkäufe, eigene Arztbesuche oder eigene Interessen. Es gibt allerdings auch Interviewte, wie Herrn Steg, der seine Frau an vier Tagen die Woche zur Tagespflege bringt: »Sonntag ist sie, glaube ich, fast froh, dass sie am Montag wieder dahingeht. Weil ich/äh/kann natürlich nicht hier mit ihr/äh/den 16
17
Unter dem Begriff der Angehörigenberatung fasse ich jene Angebote, bei denen sich pflegende Angehörige unter der Leitung von Expert*innen, wie zum Beispiel Psychogerontolog*innen regelmäßig in einer Gruppe zum gemeinsamen Austausch über ihre derzeitige Lebenssituation treffen. Für den Zeitraum des Treffens wird dabei in der Regel eine Betreuung der Partner*innen mit Demenz durch den Träger dieses Gruppenangebots gewährleistet. Träger der Angehörigenberatungsangebote sind in Deutschland in der Regel die Organisationen der Freien Wohlfahrtspflege.
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Häusliche Pflege am Limit
ganzen Tag Hänschen klein singen oder so irgendwas, macht mich verrückt, das kann ich nicht.« (Steg: 126f) Die Tagespflege bringt für die Pflegenden demnach nicht nur Entlastung auf der zeitlichen Ebene, sondern auch im Hinblick auf die Aufgabe der bedürfnisgerechten »Beschäftigung« (Steg: 128) der Partner*innen mit Demenz. Diese wurde von den pflegenden Angehörigen ja, anders als bei den professionellen Pflegefachkräften, nicht erlernt, sondern muss im Zuge der Pflegeübernahme im Anschluss an die Diagnose selbst angeeignet werden, was – wie die weiteren Analysen noch zeigen werden – von den Pflegenden auf verschiedene Art und Weise und in unterschiedlichem Umfang praktiziert wird. Schließlich bleibt in der Arena der Öffentlichkeit noch die Institution des Pflegeheims. Zum Zeitpunkt meiner Datenerhebungen wohnt keine*r der Partner*innen mit Demenz in einem Pflegeheim, sondern sie wohnen (noch) gemeinsam mit den pflegenden Partner*innen in den eignen vier Wänden. Dennoch nimmt das Pflegeheim in den Narrationen der pflegenden Angehörigen eine bedeutende Position ein. Denn während sie ihre Partner*innen auf unbestimmte Zeit in der häuslichen Pflegearena weitestgehend allein versorgen, haben alle interviewten Angehörigen das Pflegeheim als mögliche Alternative im Hinterkopf. Dabei kommt es vor, dass konkrete Pflegeheime bereits besichtigt wurden und die Partner*innen schon seit längerer Zeit für einen Platz in der jeweiligen Einrichtung angemeldet sind. In anderen Fällen bleibt es vorerst lediglich bei dem Gedankenspiel der Anmeldung der Partner*innen, für den Fall, dass die Pflege irgendwann nicht mehr selbst geleistet werden kann. Wie sich im weiteren Verlauf der Auswertungen noch konkreter zeigen wird, fungiert die Institution des Pflegeheims durch ebenjenes Gedankenspiel als affektive Entlastung der pflegenden Angehörigen und wird nur in den seltensten Fällen tatsächlich auch in die Praxis umgesetzt.
4.3
Zwischenfazit
Mithilfe der Arenen-Karte von Clarke konnte auf den zurückliegenden Seiten aufgezeigt werden, dass sich die jeweilige Situation der pflegenden Angehörigen aus ganz unterschiedlichen Elementen zusammensetzt. Dabei wurden mit der häuslichen Pflegearena und der Arena der Öffentlichkeit zunächst einmal zwei Arenen des Handelns identifiziert. Die häusliche Pflegearena bildet mit ihrer räumlichen Kopplung an die Wohnung oder das Haus des unter-
4. Die Arenen und Akteur*innen der sozialen Welt der Demenzpflege
suchten Paares den nach außen hin weitestgehend abgeschlossenen Hauptschauplatz der Pflege, zu dem immer wieder verschiedenste Akteur*innen, wie professionelle Pflegefachkräfte, die eigenen Kinder oder auch Freund*innen, Zugang erhalten. Dabei haben das Handeln und insbesondere die diskursiven Konstruktionen der beteiligten Akteur*innen erheblichen Einfluss auf die Wahrnehmung und Gestaltung der weiteren Pflegesituation. Mit dem Verlassen der eigenen vier Wände verlassen die pflegenden Angehörigen und ihre Partner*innen mit Demenz die häusliche Pflegearena und betreten die Arena der Öffentlichkeit. Diese kennzeichnet sich zum einen durch Institutionen wie Arztpraxen, Kliniken, Tagespflege oder Angehörigenberatung, die im Pflegealltag von den Betroffenen zumeist als institutionelle Unterstützung bei der Pflege in Anspruch genommen werden. Abgesehen davon ist es zum anderen vor allem die normierende Macht der Blicke der verallgemeinerten Anderen, die in der Arena der Öffentlichkeit von Bedeutung für die pflegenden Angehörigen ist. Die im Krankheitsverlauf der Demenz früher oder später einsetzenden kognitiven und motorischen Auffälligkeiten lösen die Betroffenen aus der Unsichtbarkeit der breiten Masse heraus und ziehen die Blicke der anderen an. Diese Blicke verweilen jedoch nicht nur kurzzeitig auf der Person mit Demenz. Wie anhand der empirischen Beispiele gezeigt werden konnte, setzen die verallgemeinerten Anderen ihre Blicke wiederkehrend ein, um die von der Norm abweichenden Erblickten beziehungsweise deren Begleitpersonen in ihrem Handeln in die Schranken zu weisen und ihren (vermehrten) Rückzug aus der Öffentlichkeit zu initiieren. Dabei ist dieser Rückzug unter anderem auch von Bedeutung im Hinblick auf das Geschlecht der Pflegenden. Denn die empirischen Daten deuten darauf hin, dass besagter Rückzug aus der Arena der Öffentlichkeit eine gewisse Geschlechtsspezifik aufweist, welche im Abschnitt zu den vergeschlechtlichten Praktiken der Be- und Entgrenzung der Pflege dann eingehender beleuchtet wird (vgl. Kap. 7). Bevor die verschiedenen Be- und Entgrenzungen der informellen Demenzpflege nun aber in den Mittelpunkt der empirischen Analysen rücken, erscheint es zunächst einmal geboten, die Heuristik individueller Grenzen der Pflege noch etwas genauer zu erläutern.
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5. Die Grenze als heuristischer Rahmen für die Analyse
Dieses vergleichsweise kurze Kapitel der vorliegenden Untersuchung folgt dem Anliegen, die sozialwissenschaftliche Bedeutung der Grenze zu umreißen und selbige als heuristischen Rahmen für die anschließenden empirischen Analysen herzuleiten. Dazu werden zunächst die Semantik der Grenze und ihre Begriffsdeutung in den Sozialwissenschaften betrachtet. Anschließend werden bereits bestehende Konzeptionen mit der Grenze als Heuristik im Hinblick auf ihre Anschlussfähigkeit für die Analyse der hier im Mittelpunkt stehenden Pflegesituation kritisch beleuchtet und das Kapitel sodann mit einem zusammenfassenden Konzeptualisierungsversuch zur Heuristik individueller Grenzen in der informellen Pflege abgeschlossen.
5.1
Die Semantik der Grenze
Wie im Methodenkapitel bereits hergeleitet, hat sich die Grenze im Verlauf der empirischen Analysen als zentrale Kategorie erwiesen, mit deren Hilfe sich die untersuchte Pflegesituation und die Selbsterzählungen zum Pflegealltag gut aufschlüsseln und analysieren lassen. Der Begriff der Grenze entstammt dem slawischen Lehnwort Granitza sowie dem polnischen Wort Greincz und wurde ab dem 16. Jahrhundert vorrangig genutzt, um die lokale Begrenzung von Eigentum im Sinne territorialer Einschnitte und Differenzen im Raum zu kennzeichnen (vgl. Eigmüller/Vobruba 2016: 3). Erst ab dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert tauchen erstmals auch erweiterte Begriffsverwendungen auf, um beispielsweise historische Epochen zu differenzieren oder Grenzen des Wissens zu markieren (vgl. Kleinschmidt 2014: 5). Mittlerweile hat der Begriff der Grenze auf vielfältigste Art und Weise Einzug in den alltäglichen wie auch wissenschaftlichen Sprachgebrauch gehalten. Da ist die
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Häusliche Pflege am Limit
Rede von Altersgrenzen, finanziellen Grenzen oder natürlich auch geografischen und staatlichen Grenzen und nicht zuletzt lassen sich verschiedenste soziale Grenzen beobachten oder es wird immer häufiger auch über persönliche Grenzen gesprochen. Die Liste möglicher Grenzen ließe sich hier noch beliebig lang fortsetzen und erzeugt eine Bedeutungsvielfalt, die die Suche nach einer Semantik der Grenze, im Sinne eines gemeinsamen Bedeutungskernes eher schwierig gestaltet (vgl. ebd.: 3ff). Dennoch kann man aus soziologischer Perspektive aber festhalten, dass all den unterschiedlichen Formen von Grenzen gemein ist, dass sie sozial konstruiert sind. Das bedeutet, dass nicht nur künstliche Grenzen, wie Mauern von Menschen geschaffen sind, sondern auch vermeintlich natürliche Grenzen, wie Flüsse oder Bergkämme nur von Menschen als Grenzen erfahren werden, während sie für andere Lebewesen kein Hindernis oder keine Einschränkung darstellen (vgl. ebd.). Grenzen lassen sich demnach »in erster Linie in Abhängigkeit zu dem definieren, was sie einerseits unterscheiden und andererseits in ein Verhältnis zueinander setzen« (ebd.: 3). Dabei hängt es maßgeblich von den historischen, gesellschaftlichen, sozialen wie auch individuellen Umständen ab, was eine Grenze ist und für wen sie welche Bedeutung hat. Daraus wird bereits ersichtlich, dass Grenzen komplexe und variable Konstruktionen darstellen, zu deren konstitutiven Merkmalen es zählt, sich stets in zwei Richtungen öffnen zu können und dementsprechend dauerhaft verhandelbar und bezüglich ihrer Gültigkeit nicht selten umkämpft zu sein (vgl. ebd.: 3ff). Die Soziologie der Grenze versucht, sich von dieser begrifflichen Bedeutungsvielfalt – im wahrsten Sinne des Wortes – abzugrenzen und rückt dezidiert die territorialen Grenzen in den Mittelpunkt ihres Forschungsprogrammes, während die metaphorischen Grenzformen eher ausgeklammert beziehungsweise den jeweiligen speziellen Soziologien zugeordnet werden (vgl. Eigmüller/Vobruba 2016: 1ff). Auf diese Weise erreicht die Soziologie der Grenze zwar einerseits eine klare Positionierung im wissenschaftlichen Diskurs, andererseits verhindert dies aber auch die Entwicklung einer anschlussfähigen Konzeptualisierung jener symbolischen Grenzen, die die Gesellschaft so vielfältig durchziehen und die für das Zusammenleben der verschiedenen Akteur*innen soziologisch nicht weniger relevant erscheinen als die räumlich-territorialen Grenzen. Innerhalb der vorliegenden Untersuchung verweisen die bereits aufgezeigten Arenen der informellen Demenzpflege zwar auch auf das Vorhandensein räumlicher Grenzen, doch in der hier im Fokus stehenden Praxis des Pflegens umfassen diese bei weitem nicht den Kern des Handelns. Um also
5. Die Grenze als heuristischer Rahmen für die Analyse
besagten Kern des Handelns für die vorliegende Untersuchungsgruppe heuristisch zu erfassen, erweisen sich die aktuellen Arbeiten der Grenzsoziologie dementsprechend nicht als anschlussfähig. In der untersuchten Pflegesituation werden die beobachtbaren Grenzen daher – entsprechend der hier vertretenen praxeologischen Perspektive auf Pflege – als Bestandteil der Vollzugspraxis sozialer Beziehungen verstanden. Dabei verweisen die Grenzen darauf, dass es innerhalb der alltäglichen Lebensführung der untersuchten Akteur*innen widerstreitende Interessen gibt, deren Unterschiedlichkeit über die Konstruktion ebenjener spezifischen Grenzen markiert wird. Der praxeologische Charakter der Grenze ergibt sich hierbei insbesondere aus ihrer Situativität, denn: »Für alle Grenzpraktiken gilt, dass sie an das strukturelle Kriterium der Wiederholung gebunden sind. Denn es genügt nicht, dass Grenzen errichtet werden. Sie müssen immer wieder Sichtbarkeit erlangen, um Gültigkeit zu beanspruchen. Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass sie veränderbar sind.« (Kleinschmidt 2014: 8) Für die hier im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehende Demenzpflege ergibt sich dabei insofern eine besondere – vermeintlich demenzspezifische – Situativität, als dass die Partner*innen mit Demenz im Verlauf der Erkrankung in der Regel das Zeitgefühl und damit auch die Fähigkeit zur Erinnerung oder Internalisierung bestimmter Handlungsroutinen verlieren. Das bedeutet, dass beispielsweise der als Pflegeauszeit konstruierte wöchentliche Saunanachmittag mit den ehemaligen Kolleg*innen häufig nur vom Pflegenden selbst als wiederkehrende Grenze erinnert werden kann.1 Gegenüber den betroffenen Partner*innen müssen spezifische Grenzpraktiken daher nicht selten Woche für Woche neu begründet und durchgesetzt werden, um besagte Gültigkeit als Grenze zu beanspruchen.2 Aufgrund der Flexibilität und stetigen Veränderung spezifischer Grenzen innerhalb der individuellen Pflegesituation erscheint es darüber hinaus sinnvoll, in den detaillierten Analysen nicht nur allgemein von Grenzpraktiken
1 2
Das Beispiel des Saunanachmittags ist dem Fall von Herrn Dreher entnommen. Das Aushandeln und Durchsetzen von Grenzen steht immer auch im Zusammenhang mit Dominanz- beziehungsweise Machteffekten. Da ich zu einem späteren Zeitpunkt meiner Analysen allerdings noch genauer auf die Verwobenheit von Sorge und Dominanz in der Pflegesituation eingehen werde, verzichte ich hier auf eine genauere Betrachtung dieser Thematik (vgl. Kap. 7.3.5).
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Häusliche Pflege am Limit
zu sprechen, sondern begrifflich zwischen Grenzen, die durchgesetzt werden und Grenzen, die aufgelöst oder verschoben werden, zu differenzieren. Aus diesem Grund habe ich mich hinsichtlich der empirischen Analysen dazu entschieden, zwischen den Praktiken der Begrenzung von Pflege und den Praktiken der Entgrenzung von Pflege zu unterscheiden. Diese Differenzierung hat den Vorteil, dass sie erstens die Handlungspraxis noch einmal stärker in den Fokus rückt und zweitens deutlicher betont, dass ich mich für beide Bewegungsrichtungen potentieller Grenzen interessiere. Und während der Begriff der Begrenzung in den Fachdebatten ohne spezifische Konzeptualisierung Verwendung findet, ist der Terminus der Entgrenzung in der Soziologie konkret konzeptualisiert und bedarf dementsprechend hier einer näheren Beleuchtung.
5.2
Entgrenzung und Doing Boundary in der Familiensoziologie
Der Begriff der Entgrenzung ist seit Ende der 1990er Jahre – zunächst vorrangig in Westdeutschland – zu einem wichtigen Konzept sozialwissenschaftlicher Diagnosen des aktuellen gesellschaftlichen Wandels avanciert (vgl. Jurczyk et al. 2009: 27f). Dabei ging es zunächst insbesondere um die Untersuchung der Entgrenzung von Arbeit und damit im engeren Sinne um die allmähliche Auflösung bestehender zeitlicher, räumlicher wie auch sachlicher Strukturen von Erwerbsarbeit sowie damit in Zusammenhang stehende Themen, wie den Wandel der Organisationsbedingungen von Arbeit, neuen Anforderungen an die Arbeitenden oder die Notwendigkeit der Restrukturierung des Verhältnisses von Arbeit und Leben (vgl. Voß 1998). Abgesehen davon wurde der heuristische Gehalt des Entgrenzungsbegriffes aber auch für andere Bereiche gesellschaftlichen Wandels entdeckt und sodann auch genutzt, um beispielweise die zunehmende Brüchigkeit der Abgrenzung zwischen Geschlechtsidentitäten oder die teilweise Auflösung starrer beruflicher Arbeitsteilung und Berufsordnung zu beschreiben (vgl. Jurczyk et al. 2009: 27f). In der sozialwissenschaftlichen Debatte hat der Begriff daher neben seinem praxisbezogenen Kern immer auch eine zeitdiagnostische Komponente. Anknüpfend an die Forschungen zur Entgrenzung von Arbeit geriet schließlich auch der Wandel des Verhältnisses von Erwerbsarbeit und Familie zunehmend in den Fokus wissenschaftlicher Aufmerksamkeit und damit auch das sozialkonstruktivistische Konzept des Doing Family, innerhalb dessen Familie als aktive Herstellungsleistung verstanden wird (vgl. Jurczyk
5. Die Grenze als heuristischer Rahmen für die Analyse
2009: 37ff). Die darin verhandelten Themen sind für die Untersuchungsgruppe der Ruheständler*innen zwar inhaltlich nur von marginaler Relevanz, aber es findet sich in der familiensoziologischen Debatte um die Entgrenzungsdynamiken mit der Konzeption des Doing Boundary ein Analyseansatz, den ich hier im Hinblick auf seine potentielle Übertragbarkeit auf die von mir untersuchte informelle Pflegesituation diskutieren möchte (vgl. ebd.: 60ff). Als Praxis des Doing Boundary beschreiben Jurczyk und Kolleg*innen die entstandene Handlungsanforderung an die Subjekte, zwischen den beiden entgrenzten Sphären von Erwerbsarbeit und Familie insofern begrenzend tätig zu werden, als dass die vormals institutionell vorgegebene Abgrenzung beider Sphären nun zunehmend eigenverantwortlich von allen mitbestimmenden Akteur*innen innerhalb der Familie aktiv gestaltet werden muss. Die Forscher*innen bezeichnen diese Praxis als familiäres Grenzmanagement (vgl. ebd.: 63). Dieses Grenzmanagement ziele auf die Konstitution von Privatheit als gemeinsame Veranstaltung und gleiche dementsprechend einer individuellen Kompetenz, welche »kompensatorisches, also ausgleichendes und kompetentes Handeln seitens der Subjekte im Hinblick auf ihre familiale Einbindung« erfordere (ebd.: 63). »[D]oing family Boundary« (ebd.) – so schlussfolgern die Autor*innen kritisch – stelle demnach eine Praxis des Austarierens struktureller Widersprüchlichkeiten zwischen unterschiedlichen Lebensbereichen dar, die zwar insgesamt nicht neu sei, aber vor dem Hintergrund der Entgrenzungsdynamiken zwischen Arbeit und Familie eine historisch neue Qualität erreiche, innerhalb derer die Fähigkeit zur Grenzziehung für die Subjekte zur existenziellen Voraussetzung individueller und familialer Reproduktion werde (vgl. ebd.). Doch inwieweit lässt sich diese Konzeptualisierung individueller Grenzziehungen nun auf die hier interessierende Pflegesituation übertragen? Aus praxeologischer Perspektive erscheint es zunächst durchaus naheliegend, die beobachtbaren Praktiken der Be- und Entgrenzung der Demenzpflege im Sinne des hier eingeführten Doing Boundary zu deuten. So könnte man die Grenzziehungen und deren Verschiebungen als Praxis des Austarierens struktureller Widersprüchlichkeiten zwischen der Sphäre der Angehörigenpflege und der Sphäre individueller Reproduktion in der Nacherwerbsphase verstehen und die Be- und Entgrenzungen als individuelles Grenzmanagement. Als einschränkend für die Übertragbarkeit des Konzeptes auf meine eigenen Analysen erscheint mir allerdings zweierlei: Erstens hat die von Jurczyk und Kolleg*innen analysierte Entgrenzung eine andere zeitdiagnostische
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Häusliche Pflege am Limit
Komponente, als die von mir untersuchte Entgrenzungspraxis im Kontext informeller Pflege im Alter. So geht es ihnen maßgeblich um die bereits erwähnte Veranschauchlichung der historisch neuen Qualität spezifischer – zeitlicher, räumlicher, wie auch biografischer – Entgrenzungsdynamiken innerhalb der Familie, die in direktem Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Wandel der Arbeitsbedingungen stehen (vgl. ebd.). Dieser historische Bezug lässt sich für die in der vorliegenden Untersuchung relevanten Praktiken der Entgrenzung allerdings nicht herstellen. Stattdessen erschließt sich die zeitdiagnostische Bedeutung meiner Analysen aus dem Zusammenhang mit dem demografischen Wandel der Gesellschaft. Denn historisch neu erscheinen in der vorliegenden Untersuchung nicht per se die spezifischen Entgrenzungsdynamiken, die sich in der Situation informeller Pflege im Ruhestand beobachten lassen. Historisch neu ist vielmehr die steigende Zahl von Menschen, die aufgrund gestiegener Lebenserwartung ein Alter erreichen, in dem die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken deutlich zunimmt (vgl. BerlinInstitut 2011).3 Die Relevanz der hier im Fokus stehenden Pflegepraxis ergibt sich demnach eher aus der historisch neuen Quantität von Betroffenen, die mit der Handlungsanforderung informeller Pflege und daraus entstehenden Entgrenzungsdynamiken konfrontiert werden. Zweitens widerspricht die – von den Autor*innen des Doing Boundary Konzepts durchaus kritisch intendierte – Deutung des Grenzmanagements im Sinne einer notwendig werdenden individuellen Kompetenz zur Herstellung von Familie dem in der vorliegenden Untersuchung angestrebten Verständnis der Bedeutung individueller Grenzen. Denn dies führt unter Um-
3
Man könnte an dieser Stelle die Frage aufwerfen, ob sich die Qualität der Pflegebelastung bei den pflegenden Partner*innen historisch nicht dahingehend verändert habe, dass die älteren Pflegenden weniger Unterstützung durch die Kinder erfahren, weil diese aufgrund der flexibilisierten Arbeits- und Lebensbedingungen seltener am Wohnort der Eltern verbleiben. Diese potentiellen Auswirkungen der Entgrenzungsdynamiken auf die informelle Pflege erweisen sich innerhalb des vorliegenden Samples allerdings nicht als relevant, weil bei fast allen Befragten die Kinder in der Nähe wohnen. Ohne der Empirie vorweggreifen zu wollen, zeigt sich allerdings in den Selbsterzählungen, dass die pflegenden Elternteile eine zeitlich gesteigerte Unterstützung durch die Kinder ablehnen, um diese nicht zu belasten. Inwiefern sich die Qualität der Pflegebelastung der pflegenden Lebenspartner*innen historisch verändert hat, kann in der vorliegenden Untersuchung demnach – auch aufgrund eines Mangels an anderen Forschungsarbeiten zu dieser speziellen Thematik – nicht beantwortet werden.
5. Die Grenze als heuristischer Rahmen für die Analyse
ständen zu einem Verständnis von Grenze und Grenzziehungen, das Gefahr läuft, die Praxis der Begrenzung von Pflege als individuelle Kompetenz und demgegenüber die praktische Entgrenzung der Pflege als Fehlen selbiger zu deuten. Und das könnte wiederum den Eindruck befördern, dass das Grenzziehen eine aktive Leistung ist, für die sich die Subjekte nur genug anstrengen müssen. Aber eben genau darum geht es mir gerade nicht. Stattdessen haben die Analysen der erzählten Be- und Entgrenzungen der informellen Demenzpflege das Ziel, die Situation aufzuschlüsseln und die verschiedenen Handlungsanforderungen an die pflegenden Partner*innen in ihrer Komplexität abzubilden. Die Grenze möchte ich dementsprechend vielmehr als Heuristik verstanden wissen, mit deren Hilfe es möglich ist, auf soziale Verhältnisse zu verweisen, die unter Umständen zwar durchaus der Veränderung bedürfen, aber nicht in erster Linie als individuelle Leistung der betroffenen Subjekte, sondern vielmehr als kollektive Leistung auf sozialer, politischer und damit schließlich insgesamt auf gesellschaftlicher Ebene. Dementsprechend erscheint es mir trotz der geteilten praxeologischen Perspektive auf die Bedeutung von Grenzen für das individuelle Handeln nicht sinnvoll, das innerhalb der Familiensoziologie entwickelte Konzept des Doing Boundary (vgl. Jurczyk et al. 2009) auf die von mir untersuchte Situation informeller Pflege zu übertragen.
5.3
Auf dem Weg zu einer Heuristik individueller Grenzen
Auf der Suche nach einem passenderen Denkansatz für die heuristische Rahmung der von mir beobachteten Grenznarrationen erwies sich stattdessen das Konzept der Grenzbearbeitung von Susanne Maurer als hilfreich (vgl. Maurer 2018). Denn dieses – eigentlich auf die Soziale Arbeit ausgerichtete – Konzept verortet die praktische Relevanz von Grenzen insbesondere in ihrer Fähigkeit, auf Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten innerhalb spezifischer Situationen zu verweisen und darüber einen Einhakpunkt für Kritik zu generieren (vgl. ebd.: 122). Und in ebendieser Perspektive scheint mir auch das heuristische Potential der Grenze innerhalb der vorliegenden Untersuchung zu liegen. Maurer konzipiert die Grenzbearbeitung aus drei, aufeinander aufbauenden Phasen. Denn um Grenzen bearbeiten zu können, bedarf es erstens der Markierung von Grenzen, im Sinne einer detaillierten Auseinandersetzung und Verdeutlichung subjektiver Grenzerfahrungen, Grenzpraktiken sowie de-
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Häusliche Pflege am Limit
ren Bedeutung für die Subjekte (vgl. ebd.: 120). Daran anknüpfend erfolgt zweitens die Kritik der Verhältnisse, mit deren Hilfe es möglich wird, Alternativen zur vorgefundenen Situation zu formulieren und aus den markierten Grenzen konkrete Handlungsanforderungen an die Soziale Arbeit sowie zuständige Institutionen abzuleiten. Und schließlich folgt drittens die Phase der Intervention, innerhalb derer es gilt, die benannten Konflikte praktisch zu bearbeiten und Modi des veränderten Umgangs mit Grenzen zu implementieren, »um etwas anderes, als das bislang Gegebene und Erfahrene zu erreichen.« (ebd.: 121) Zur Etablierung einer Praxis gelingender Grenzbearbeitung sei es dabei von zentraler Notwendigkeit, ganz konkrete Erzählungen aus den sozialen Verhältnissen, so wie sie sich uns jetzt gerade darstellen und inklusive ihrer machtvollen Wirkung auf die Akteur*innen, zu erhalten. Denn erst wenn »diese Erzählungen einmal artikuliert sind, können wir damit in eine Auseinandersetzung eintreten – und damit befinden wir uns bereits mitten in der Praxis der ›Grenzbearbeitung‹.« (ebd.: 122) Ohne in der vorliegenden Untersuchung sämtliche Phasen der Grenzbearbeitung abdecken zu können und ohne die analysierten Praktiken der Beund Entgrenzung mit den Konzeptualisierungen von Maurer gleichsetzen zu wollen, erscheint mir der in diesem Kontext skizzierte Bedeutungsgehalt von Grenzen dennoch als gut anschlussfähig für die vorliegende Untersuchung. Denn mithilfe der Ausführungen von Maurer kann das heuristische Potential der Grenze ganz maßgeblich darin gesehen werden, dass es mithilfe einer detaillierten Markierung von Grenzen der Pflege, im Sinne einer Auseinandersetzung mit subjektiv artikulierten Grenzerfahrungen, Grenzpraktiken sowie Grenzziehungen, möglich wird, Einhakpunkte für eine erweiterte Kritik der Verhältnisse in der informellen Pflege zu generieren. Die im Verlauf dieses Kapitels überblicksartig aufgezeigte sozialwissenschaftliche Perspektivvielfalt rund um den Begriff der Grenze unterstreicht die Notwendigkeit, sich selbst innerhalb dieser Vielfalt konzeptuell zu positionieren, um in den folgenden empirischen Analysen reflektiert mit den Kategorien von Grenze, Entgrenzung sowie Begrenzung umgehen zu können. Daher erfolgt an dieser Stelle noch einmal ein zusammenfassender Konzeptualisierungsversuch des hier zugrunde gelegten Verständnisses von Grenze als heuristischem Rahmen der Analyse: Praxeologisch auf die Pflegesituation blickend, werden die beobachtbaren Grenzen als grundlegender Bestandteil der Vollzugspraxis sozialer Beziehungen verstanden. Innerhalb der von mir untersuchten Praxis alltäglicher Lebensführung veranschaulichen Grenzen dabei das Vorhandensein widerstreitender Interessen zwischen den an
5. Die Grenze als heuristischer Rahmen für die Analyse
der Pflegesituation beteiligten Akteur*innen. Besagte Situativität sämtlicher Grenzpraktiken erklärt sich hierbei wiederum über das Kriterium der Wiederholung, welche notwendig ist, um die Sichtbarkeit individuell konstruierter Grenzen zu wahren (vgl. Kleinschmidt 2014: 8). Es zählt demnach zu den Grundannahmen dieser Arbeit, dass sämtliche der narrativ konstruierten Grenzen wieder und wieder verhandelt, errichtet, eingerissen oder lediglich verschoben werden. Dabei gilt es zu reflektieren, dass über das Forschungsinteresse der vorliegenden Untersuchung der Blick auf jene individuellen Grenzen fokussiert wird, die durch die Selbsterzählungen der pflegenden Partner*innen konstruiert werden und die Analyse der individuellen Grenzen hier nicht der Perspektive der anderen, an der Situation beteiligten Akteur*innen – wie zum Beispiel derer der Partner*innen mit Demenz – gerecht werden kann. Dem Merkmal der Offenheit von Grenzen in zwei Richtungen wird über die Unterscheidung zwischen Praktiken der Begrenzung und Praktiken der Entgrenzung informeller Demenzpflege Rechnung getragen. In diesem Zusammenhang benennt die narrativ konstruierte Begrenzung der Pflege jene Praktiken, die in den Selbsterzählungen der Pflegenden als Begründung oder Ausgangspunkt für das Aussetzen, die Abgabe oder auch Verweigerung spezifischer Pflegepraktiken oder pflegerischer Zuständigkeiten konstruiert werden. Demgegenüber werden jene Praktiken als Entgrenzung der Pflege gedeutet, die in den Narrationen der pflegenden Partner*innen als Praxis der Ausweitung der Pflegeverantwortung sowie praktischen Einbindung in die Pflege erzählt werden. Im Zuge der Sichtung des Forschungsstandes habe ich mich trotz praxistheoretischer Parallelen vom Konzept des Doing Boundary abgegrenzt, da darin das wiederholte Aushandeln und Errichten von Grenzen – wenn auch kritisch – im Zusammenhang mit Begrifflichkeiten wie individueller Kompetenz oder Grenzmanagement ausdeutet wird (vgl. Jurczyk et al. 2009). Denn, ohne den anschließenden Analysen an dieser Stelle bereits zu stark vorweggreifen zu wollen, wird sich insbesondere im Abschnitt zu den vergeschlechtlichten Grenzen informeller Pflege zeigen, dass es komplexe biografische Kontextbedingungen für die Be- oder Entgrenzungspraktiken gibt, für deren Deutung eine konzeptuelle Verknüpfung mit individuellen Kompetenzen nicht sinnvoll erscheint. Stattdessen wurde aus dem Konzept der Grenzbearbeitung abgeleitet, dass das Potential der Grenze als heuristischer Rahmen in der vorliegenden Untersuchung insbesondere darin gesehen wird, über die konkrete Markierung unterschiedlichster subjektiv konstruierter Grenzpraktiken und -erfahrungen konkrete Einhakpunkte
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Häusliche Pflege am Limit
für Kritik zu generieren, mit deren Hilfe schließlich nach Alternativen zur vorgefundenen Situation gesucht werden kann.
6. Zeitliche Be- und Entgrenzungen der häuslichen Demenzpflege
6.1
Zeitsoziologische Grundlagen
Um mein Verständnis der Kategorie Zeit im weiteren Verlauf dieses Kapitels schlüssig nachvollziehen zu können, erscheint es an dieser Stelle hilfreich, zunächst einen kurzen Einblick in die grundlegenden soziologischen Überlegungen zum sozialen Charakter der Zeit zu geben. Im Zuge dessen werden mit der Differenzierung in Alltagszeit und Lebenszeit zwei Dimensionen dieses Phänomens vorgestellt, die von besonderem Interesse bei der Analyse der zeitlichen Gestaltung von Pflege im Ruhestand sind. Die dann nachfolgenden Ausführungen zur Zeit im Alter sowie in der Pflege gewähren einen schlaglichtartigen Überblick über jene Forschungsarbeiten, die als wegweisend für die folgenden Analysen eingestuft werden können, und schließen mit den daraus sich ergebenden Fragen an die Empirie ab.
6.1.1
Der soziale Charakter von Zeit
Das Phänomen der Zeit(lichkeit) ist aus unserem Leben und Alltag nicht wegzudenken. Man richtet sich Tag für Tag nach Öffnungs- und Sprechzeiten, Arbeits- und Pausenzeiten und versucht dabei, die Essens- und Schlafenszeiten nicht zu vergessen. Damit einher geht meist das Gefühl, nicht genug Zeit zu haben und sich noch mehr davon zu wünschen. Und manchmal kann man sich diese Zeit tatsächlich nehmen, ein andermal aber rennt man ihr weiterhin gnadenlos hinterher. Doch wie ist diese alltagsweltliche Präsenz soziologisch zu verstehen? Ein kurzer Blick auf drei Klassiker der Zeitsoziologie soll hierbei genügen, um den hier relevanten Kern der Bedeutung von Zeit zu umreißen.
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Häusliche Pflege am Limit
Émile Durkheim war einer der ersten Soziolog*innen, die sich mit Zeit auseinandersetzten. In seinen 1912 erstmals veröffentlichten Schriften über »Die elementaren Formen des religiösen Lebens« machte er darauf aufmerksam, dass Zeit eine soziale Kategorie mit kollektivem Charakter darstellt. Er verwies auf die gesellschaftlich geschaffene Taktung der Zeit in Form von Kalendern. Ein Jahr, eine Woche und auch ein Tag, all das seien Kollektiverfahrungen: »Es ist nicht meine Zeit, die auf diese Weisen organisiert ist; es ist die Zeit, wie sie von allen Menschen ein und derselben Zivilisation gedacht wird.«1 (Durkheim 1984: 29) In ihrer Kollektivität wird Zeit damit zu einem Moment gesellschaftlicher Natur, was für die einzelne Person vielfach einen externen Zwang darstellt, dem sich nur schwer entzogen werden kann (vgl. Benthaus-Apel 1995: 36). Daher lernt der Mensch in der Regel bereits in jungen Jahren, sich den zeitlichen Vorgaben seiner sozialen Umwelt anzupassen. Im Jahr 1937 veröffentlichten Pitirim A. Sorokin und Robert K. Merton den Aufsatz »Social Time« und griffen darin Durkheims Überlegungen zur soziologischen Bedeutung von Zeit wieder auf. Sie kritisierten die astronomischphysikalische Perspektive als unzureichend, da diese die Zeit als eine homogene und quantitative Einheit erfasse und damit die eigentliche Dynamik von Zeit verkenne (vgl. Sorokin/Merton 1937: 621). Indem sie in verschiedensten Kollektiven beruflicher und religiöser Art jeweils distinguierte Formen von Zeitordnungen nachwiesen, kennzeichneten sie Zeit als soziales Konstrukt, das vom Menschen, besser gesagt von der Gemeinschaft für seine und ihre Zwecke genutzt wird (vgl. ebd.). Auch der vermutlich einflussreichste Klassiker zeitsoziologischer Theorien, Norbert Elias, zweifelt in seinen Ausführungen »Über die Zeit« (1984) zu keinem Moment am genuin sozialen Charakter des Phänomens Zeit. Allerdings distanziert er sich insofern von der Position Sorokins und Mertons, als dass er deren Forderung nach einem rein sozialen Zeitbegriff nicht teilt und stattdessen die Notwendigkeit des Neben- und Miteinanders verschiedener Zeitperspektiven betont: »Wenn man ›die Zeit‹ untersucht, untersucht man Menschen in der Natur, nicht ›Menschen‹ und ›Natur‹ getrennt.« (Elias 1988: 72) In diesem Sinne wird Zeit bei Elias nicht als rein soziale Substanz gedacht, sondern als soziale Symbolik für den Vorgang, verschiedene Entitäten in Beziehung zueinander zu setzen. Und diese Beziehung ist in der Regel eine Kombination aus gesellschaftlichen sowie physikalisch-mathematischen 1
Hervorhebungen im Zitat stammen vom Autor.
6. Zeitliche Be- und Entgrenzungen der häuslichen Demenzpflege
Entitäten. So ist es im Sport häufig die Schnelligkeit der Sportler, die in Beziehung zu einem standardisierten Zeitfenster und der darin zurückgelegten Strecke gesetzt wird – und auf diese Weise über Sieg oder Niederlage entscheidet. Und ebenso ist es die uniforme Dauer einer Klassenarbeit, welche Schüler und ihr qualitativ wiederzugebendes Wissen stets in Beziehung zur quantitativ ablaufenden Prüfungszeit setzt. Auch hier wird deutlich: Der Mensch nutzt standardisierte Zeit für seine Zwecke. Sie dient der Koordination sozialer Handlungen und der Strukturierung von Geschehensabläufen. Sie bietet dem Individuum Orientierung im Ablauf der Ereignisse und macht diese auch danach noch strukturiert erinnerbar. Der Mensch nutzt die Zeit zur Herstellung spezifischer Ordnungssysteme, die auf institutionalisierten Zeitnormen basieren. Diese Gesetzmäßigkeiten gibt es sowohl auf der Ebene der »Lebenszeit« als auch auf jener der »Alltagszeit«. Beide Begriffe bezeichnen grundlegende Zeitindizes der Gesellschaft und wurden durch den Soziologen Peter Alheit geprägt (ebd. 1985: 375ff). Unter die Perspektive der Alltagszeit fasst Alheit die aktuell-spontane Handlungsorientierung, die insbesondere für die Routinen des täglichen Lebens benötigt werde und dementsprechend einen eher zyklischen Charakter habe (vgl. ebd.: 373). Demgegenüber ist die Perspektive der Lebenszeit dafür verantwortlich, einzelne Handlungen und Erlebnisse zu Sequenzialisieren und über den Lebensverlauf hinweg Kontinuität und Kohärenz herzustellen, weswegen die Lebenszeit einen stärker linearen Charakter habe (vgl. ebd.). Im subjektiven Erleben durchdringen sich beide Perspektiven immer wieder und geraten dabei auch wiederholt miteinander in Konflikt. Als Auslöser dieser Konflikte werden zum einen das Verlassen alltäglicher Routinesituationen sowie der Eintritt in eine biografisch neu markierte Lebensspanne benannt. Ein in diesem Zusammenhang klassisches Beispiel wäre der Übergang in den Ruhestand. Zum anderen sind es die Krisen des Alltagslebens, wie beispielsweise die Pflegebedürftigkeit oder der Tod einer nahestehenden Person, die das Individuum vor die Aufgabe stellen, die bisherige aktuell-spontane Handlungsorientierung an die veränderte biografische Situation anzupassen und auf diese Weise die widersprüchlichen Zeiterfahrungen wieder »in Ordnung zu bringen« (ebd.: 371). Für das hier interessierende Forschungsfeld von Pflege und Alter ist Elias‹ Argument der Verwobenheit sozialer und standardisierter Zeiten innerhalb beider Zeithorizonte auf verschiedenste Weise von Bedeutung. So repräsentiert das Renteneintrittsalter in der Dimension der Lebenszeit ein klassisches Beispiel für eine sozial konstruierte Norm, die an die standardisierten Zeit-
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Häusliche Pflege am Limit
normen des Kalenders geknüpft ist. Bezüglich der Dimension der Alltagszeit sei hier an einige der Beispiele vom Kapitelanfang erinnert: Die Sprechzeiten beim Arzt, die Arbeitszeiten des Pflegedienstes und nicht zuletzt die täglichen Essenszeiten – all die aufgeführten Momente betiteln formelle sowie informelle Zeitnormen, die tagtäglich den Alltag pflegender sowie zu pflegender Ruheständler*innen beeinflussen. Im Sinne der konstatierten Dynamik sozialer Zeit sind allerdings auch diese Normierungen keineswegs statisch, sondern unterliegen stetiger Veränderung (vgl. Sorokin/Merton 1937; Elias 1988). So führte beispielsweise die Zunahme an Seniorenwohngemeinschaften dazu, dass in der ambulanten Pflege mittlerweile immer häufiger vom Zweischicht- auf das Dreischichtsystem umgestellt wird, um auch nachts auf etwaige, nicht durch Angehörige abzufangende Pflegebedarfe eingehen zu können. Auf diese Weise wurde eine Lockerung der zeitlichen Verfügbarkeit ambulanter Pflegedienste initiiert, die es einerseits den Pflegebedürftigen ermöglicht, länger im privaten Haushalt zu verbleiben, während sich andererseits für die ambulanten Pflegekräfte neue zeitliche Zwänge und Anforderungen an die Organisation von Arbeits-, Familien- und Freizeit ergeben. Der Kern der Antwort auf die Frage nach der soziologischen Bedeutung von Zeit liegt damit in ihrer kollektiv-sozialen Konstrukthaftigkeit, durch die der Einzelne zunächst vergemeinschaftet und schließlich auch vergesellschaftet werden kann. Und dies gilt eben nicht nur für verschiedene Kollektive innerhalb von Religions- oder Berufsgruppen (vgl. Sorokin/Merton 1937), sondern – wie bereits beispielhaft angedeutet – auch für die Situation der Angehörigenpflege im Ruhestand.
6.1.2
Zeit im Alter
Setzt man die Überlegungen zum sozialen Charakter der Zeit nun in Bezug zur Lebensphase des Alters, dann fällt auf, dass die Forschungsliteratur ebenfalls zwischen Alltagszeit und Lebenszeit differenziert. Dabei liegt die Bedeutung der Lebenszeitperspektive bei steigendem Alter und dem Übergang in die erwerbsentpflichtete Altersphase vor allem in der Wahrnehmung des allmählich abnehmenden Kontingents an verbleibender Lebenszeit (vgl. Thomae 1989; Staudinger et al. 1996; Burzan 2002; Held 2005). Dies darf jedoch nicht als eine krisenhafte Veränderung der Zeitperspektive im Alter verstanden werden, die einer bewussten Auseinandersetzung mit dem herannahenden Tod geschuldet ist. Vielmehr geht es hierbei um eine allmähliche und zumeist unbewusste Umstrukturierung von langfristig angelegten Zeitaspek-
6. Zeitliche Be- und Entgrenzungen der häuslichen Demenzpflege
ten zu vermehrt gegenwartsbezogenen Lebensperspektiven (vgl. Staudinger et al. 1996: 321f). Dieser eher linearen Zeitlichkeit steht (wie immer) die von vornherein kurzfristiger angelegte, zyklische Alltagszeit gegenüber. Für den Ruhestand ergibt sich dabei die Besonderheit, dass dem Individuum nach der Ausgliederung aus dem Erwerbsleben – wie bereits in der Einleitung erwähnt – ein deutlich gesteigertes Volumen an Zeit, im Umfang mehrerer Stunden pro Tag, zur vermeintlich freien Verfügung stehen. Mit der Frage, wie und wodurch die Ruheständler*innen das Mehr an Zeit ausfüllen, beschäftigt sich die Wissenschaft bereits seit mehreren Jahrzehnten, vorrangig in Form von Zeitverwendungsstudien (vgl. u.a. Tokarski 1989; BMFSFJ 1994, 2003; Opaschowski 1998; Engstler et al. 2004). Diese geben einen Ein- und Überblick hinsichtlich der verschiedenen Tätigkeiten im Ruhestandsalltag und deren jeweiliger Länge, wobei die Situation pflegender Rentner*innen zumeist ausgeblendet bleibt. Dabei ist ein Grundtenor dieser Studien, dass die Zeitverwendung im Alter in der Regel wenig spektakulär sei und wenig »essentiell Neues« in der Rentenphase begonnen werde (vgl. Burzan 2002: 74). Die Hauptaktivitäten lägen im Bereich des Medienkonsums, der sozialen – vor allem familialen – Kontakte, reproduktiver Tätigkeiten sowie Hobbys (vgl. Opaschowski 1994, 1998). Der Einfluss von Pflegetätigkeiten auf die Zeitgestaltung blieb dabei in den Zeitverwendungsstudien generell (und unabhängig vom Alter der Befragten) lange Zeit unbeachtet, gewinnt aber in den jüngsten Erhebungen, etwa des Statistischen Bundesamtes, etwas an Aufmerksamkeit (vgl. Engstler/Tesch-Römer 2016). Den verschiedenen statistischen Erhebungen zur Zeitverwendung ist gemeinsam, dass sie einen wichtigen Beitrag zur zahlenbasierten Untermauerung der Forschungsrelevanz des von mir untersuchten Themenbereiches liefern. Da die vorliegende Untersuchung jedoch einen methodisch-qualitativ ausgerichteten Fokus auf die Situation der älteren Pflegenden hat, waren bei der Sichtung des Forschungsstandes insbesondere auch die wenigen existierenden qualitativ-empirischen Arbeiten zur Zeitgestaltung im Ruhestandsalltag relevant für die Vertiefung meines grundsätzlichen Interesses an Zeit im Alter und schließlich besonders an der Zeit bei älteren und alten pflegenden Angehörigen. Eine dieser Arbeiten ist die Untersuchung von Nicole Burzan zur »Zeitgestaltung im Alltag älterer Menschen« (2002), in der sie sich mit der Frage beschäftigt, nach welchen Regeln und Prinzipien Rentner*innen ihre Zeit organisieren. Darin identifiziert sie unter anderem verschiedene Muster der Zeitgestaltung, die von starker bis zu schwacher Strukturiertheit verlaufen, und kommt unter Einbezug biografischer Faktoren zu dem – hier nur verein-
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facht wiedergebbaren – Ergebnis, dass die biografische Vielfalt der Lebensbereiche erheblich zur Erklärung der jeweiligen Zeitgestaltungstypen beiträgt (vgl. ebd.: 5). Die Soziologin Regine Köller greift Burzans Überlegungen in ihrer Dissertationsschrift »Ruhestand – Mehr Zeit für Lebensqualität?« (2006) auf, setzt den Fokus aber vor allem auf die Erwerbsbiografie und deren Auswirkungen auf die Zeitgestaltung, das Zeitempfinden und die subjektive Zufriedenheit im Alter. Methodisch kombiniert sie Alltagszeit und Lebenslaufperspektive in stärkerem Maße als Burzan. Zusätzlich zur Komponente der Alltagsstrukturierung interessiert Köller beim sozialen Charakter der Zeit im Alter vor allem das Phänomen des veränderten Zeitempfindens (vgl. Köller 2006: 108). Dabei handelt es sich um eine subjektive Einschätzung in Bezug auf den Fluss der Alltagszeit. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Zeit im Alter bei den Befragten entweder mehr wird oder aber weniger – als gleichbleibend wird sie von keinem beschrieben.2 Hierbei ließen sich zwar keine Zusammenhänge mit biografischen Typen herstellen, wohl aber, dass ein subjektives Mehr an Zeit häufiger zu einer gesteigerten Zufriedenheit führt. Pflegeverpflichtungen spielten allerdings weder bei Köller noch bei Burzan eine Rolle in der Zeitgestaltung der Ruheständler*innen. Im Anschluss an die Arbeiten von Burzan und Köller stellte ich in meiner Studienabschlussarbeit die Frage, welche Bedeutung Zeitsouveränität in der Wiederherstellung von Alltag nach dem Ausstieg aus dem Erwerbsleben für die Ruheständler*innen hat.3 Es zeigte sich, dass zwar alle Befragten großen Wert auf die selbstbestimmte Verfügbarkeit der Alltagszeiteinheiten im Ruhestand legen, diese aber nicht durchweg zufriedenstellend arrangieren können. In den Analysen konnten schließlich drei verschiedene Strategien des Umgangs mit Zeitsouveränität im Alter identifiziert werden, die in Zusammenhang mit unterschiedlichen Zeitkompetenzen und -erfahrungen stehen und zudem auf den Einfluss der Erwerbsbiografie auf die Zeitgestaltung, auch über den Ruhestandseintritt hinaus, verweisen. In Abhängigkeit von den individuellen biografischen Kontextbedingungen neigen die Rentner*innen entweder dazu, ihre Zeit bewusst zu genießen, ihre Zeit einfach irgendwie
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Diese Feststellung divergiert mit den Ergebnissen aus der Studie von Huinink/Häder (1998), die ein konstantes Zeitempfinden im Alter konstatieren (vgl. Köller 2006: 70). Auch in dieser Untersuchung wurden ausschließlich Ruheständler*innen berücksichtigt, die keine Pflegeverpflichtung hatten und ihre Zeit im Ruhestand weitestgehend selbstbestimmt gestalten konnten.
6. Zeitliche Be- und Entgrenzungen der häuslichen Demenzpflege
auszufüllen oder aber dazu, ihre Zeit aktiv zu investieren (vgl. Münch 2014). Hier liegt mit Blick auf die Empirie der vorliegenden Untersuchung die Vermutung nahe, dass Zeitsouveränität kein Konzept ist, das im Alltag der Pflegenden zum Tragen kommt. Für die späteren Analysen kann diese Studie dennoch im Hinterkopf behalten werden, da das Bedürfnis, selbstbestimmt die Zeit zu gestalten, durchaus eine Rolle im Pflegealltag spielen könnte. An die Analysen des Umgangs mit der mehr oder weniger frei zur Verfügung stehenden Alltagszeit im Ruhestand schloss sich jedoch die Frage an, in welchem Zusammenhang die alltagszeitlichen Zeitpraxen mit der Tatsache stehen, dass der alltägliche Zeitreichtum des Ruhestands von einer zunehmenden biografischen Zeitarmut flankiert wird, deren subjektive Bedeutung für die Praktiken der Lebensführung im Ruhestand bis dato kaum untersucht wurde. Dieser Frage konnte im Rahmen meiner Mitarbeit im – bereits erwähnten – Forschungsprojekt »Alter(n) als Zukunft« nachgegangen werden und es zeigte sich, dass das Zeithandeln der Älteren im Zusammenspiel von Alltags- und Lebenszeit nicht reibungslos verläuft und insbesondere die individuelle Wahrnehmung zunehmender biografischer Zeitarmut Druck auf die Ausgestaltung des Ruhestandsalltags ausüben kann. Dabei verwies die Auswertung der geführten Interviews darauf, dass dem Zeithandeln im Ruhestand vielfach eine Logik des Nachholens zugrunde gelegt wird. Diese Logik speist sich aus dem Bestreben, bei der Wiederherstellung von Alltag nach dem Ruhestandseintritt »vorherige Zeitorientierungen umzukehren und darüber insbesondere defizitäre Zeiterfahrungen aus der Vergangenheit zu kompensieren.« (Münch 2015: 11) Die subjektiven Deutungen individueller Zeitkonflikte des Ruhestands ergaben sich schließlich im Aufeinandertreffen der Logik des Nachholens mit situativen biografischen Faktoren, wie kritischen Lebensereignissen, dem subjektiven Lebenshorizont, dem chronologischen Alter oder der subjektiven Wahrnehmung des öffentlichen Diskurses um Hochaltrigkeit. So schildern chronologisch hochaltrige Personen beispielsweise den subjektiven Konflikt, dass sie bestimmte Tätigkeiten, die sie eigentlich gern noch erledigen würden, langsam einstellen, weil ihnen ihr soziales Umfeld immer wieder vermittelt, dass sie dafür zu alt seien und ihre biografische Zeitarmut zu akut. Demgegenüber berichten Rentner*innen mit vergleichsweise jungem chronologischem Alter, aber aufgrund kritischer Lebensereignisse (wie dem spontanen Tod eines nahen Angehörigen) nur noch relativ kurzem subjektivem Lebenshorizont von dem Stress, innerhalb der verbleibenden Lebenszeit noch alles zu schaffen, was man sich für den Ruhestand vorgenommen habe (vgl. ebd.). Diese Ergebnisse verweisen darauf,
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dass situativen biografischen Faktoren im Zusammenspiel von Alltags- und Lebenszeit eine hohe Relevanz zukommt und machen die Forschungen zu Zeit im Alter einmal mehr anschlussfähig für die vorliegende Untersuchung der Situation pflegender Ruheständler*innen.
6.1.3
Zeit in der Pflege
In den bereits existierenden Studien zur Situation der pflegenden Angehörigen wird die Relevanz von Zeit in der Pflege entweder nur angedeutet, aber nicht tiefergehend analysiert (vgl. Kap. 1.3) oder die Kategorie Zeit wird vorrangig dann mit in die Analysen einbezogen, wenn es darum geht, zu verdeutlichen, wie hoch der Zeitaufwand für die Versorgung und Betreuung eines nahestehenden Familienmitglieds für die pflegenden Angehörigen ist und welche Konsequenzen dies für den Alltag der Pflegenden mit sich bringt (vgl. u.a. Berlin-Institut 2011; Blinkert/Klie 2006). Aufgrund ihrer standardisierten Messbarkeit stellt die Kategorie Zeit demnach auch im Feld der Pflege einen wichtigen Faktor für die wissenschaftliche und politische Auseinandersetzung mit diesem Thema dar. Wünschenswert wäre jedoch in den meisten Fällen eine deutlich differenziertere Betrachtung von Zeit, die sich beispielsweise nicht allein auf die Dimension der Alltagszeit beschränkt. Weiterhin fehlt diesen Studien in der Regel ein Vergleich mit Personen, die nicht pflegen, wodurch unklar bleibt, wie sehr sich der Alltag und das Leben der Pflegenden tatsächlich von dem anderer Personengruppen unterscheidet. Heribert Engstler und Clemens Tesch-Römer machen im zwölften Kapitel der Analysen zur Zeitverwendung des Statistischen Bundesamtes auf diesen Sachverhalt aufmerksam und legen den Fokus ihrer Analysen dezidiert auf die Zeit der Pflegenden im Vergleich zur Zeit der Nichtpflegenden (vgl. Engstler/Tesch-Römer 2017: 229). Unter Nutzung der empirischen Daten aus der Zeitverwendungserhebung der Jahre 2012/2013 des Statistischen Bundesamtes ziehen die beiden Autoren eine Stichprobe von 260 Personen, die angeben, eine Person in ihrem Haushalt zu betreuen und zu unterstützen, die Leistungen der Pflegeversicherung erhält. Dieser Gruppe stellen sie 260 Nichtpflegende mit weitgehend identischen soziodemografischen Merkmalen gegenüber, um »andere Effekte auf die Zeitverwendung zu kontrollieren.« (ebd.: 229). Untersucht und verglichen werden insbesondere die zeitlichen Ressourcen beider Personengruppen, wobei beispielsweise erhoben wird, wie viel Zeit Pflegende für die Versorgung des pflegebedürftigen Haushaltsmitglieds aufwenden, ob sie weniger Freizeit und Zeit für Sozialkontakte haben als die
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Nichtpflegenden und welche Aktivitäten die Pflegenden im Vergleich zu den Nichtpflegenden zurückstellen müssen. Darüber hinaus wird danach gefragt, ob Pflegende unzufriedener mit ihrer Zeitverwendung sind, als Nichtpflegende (vgl. ebd.: 230). Die Ergebnisse dieser Studie zeigen zunächst einmal, dass zwischen den Pflegenden entsprechend des Pflegeumfangs differenziert werden muss. Denn es sind insbesondere die »Vielpflegenden« (ebd.: 234) – das umfasst alle Personen mit einem Pflegeaufwand von mehr als 10 Stunden pro Woche –, die sich deutlich in ihrer Zeitverwendung von den Nichtpflegenden unterscheiden. Jene Pflegende hingegen, die angeben, einen Pflegeaufwand von weniger als 10 Stunden pro Woche zu haben, ähneln in ihrer Zeitverwendung stark der Gruppe der Nichtpflegenden. Unzufrieden mit ihrer Zeitgestaltung zeigen sich dementsprechend auch vorrangig die Vielpflegenden, denen es vor allem an Zeit für Sozialkontakte außerhalb des eigenen Haushalts sowie Zeit für sich selbst mangele (vgl. ebd. 229) und von denen mehr als die Hälfte das Gefühl hat, durch die Pflegetätigkeiten in ein Zeitkorsett gepresst zu sein, in dem der Tag immer ganz genau geplant werden müsse (vgl. ebd.: 241). Aus diesen Ergebnissen leiten die Autoren abschließend die Empfehlung ab, dass insbesondere die umfänglich Alleinpflegenden in Zukunft in stärkerem Maße unterstützt und entlastet werden sollten. Dabei plädieren sie für einen »Versorgungsmix« (ebd.: 243), bei dem die informelle Pflege und Betreuung auf mehrere Angehörige verteilt und zusätzlich durch professionelle Pflege flankiert wird (vgl. ebd.). Zwar wäre es wünschenswert gewesen, wenn die Autoren in der Ergebnispräsentation ihrer Analysen zusätzlich nach chronologischem Alter und Geschlecht der untersuchten Personen differenziert hätten, dennoch liefern die aus dieser Untersuchung hervorgegangenen Ergebnisse wichtige Daten und Impulse für das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit. Die Tatsache, dass in der Studie von Engstler und Tesch-Römer bereits als Vielpflegender gilt, wer mehr als 10 Stunden Pflegeaufwand pro Woche hat, unterstreicht dabei unter zusätzlicher Berücksichtigung der Daten aus dem Demenz-Report (vgl. Berlin-Institut 2011) in besonderem Maße die Brisanz der Situation der von mir untersuchten Zielgruppe. Denn der Demenz-Report verweist darauf, dass insbesondere die Versorgung und Unterstützung von Menschen mit Demenz in der fortgeschrittenen Phase der Erkrankung in der Regel mit einem Zeitaufwand von 8 bis 10 Stunden pro Tag einhergeht. Die auf der individuellen Ebene ansetzende Untersuchung der Praktiken der zeitlichen Be- und
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Entgrenzung von Pflege im Kontext von Demenz erscheint dementsprechend umso interessanter, aber vor allem auch relevanter.
6.1.4
Fragen an die Empirie
Auf den zurückliegenden Seiten habe ich unter Bezugnahme auf Durkheim, Sorokin, Merton und Elias meine Perspektive auf Zeit als soziales Konstrukt mit standardisiert messbarem Kern hergeleitet und in den grundlegenden Unterschied zwischen Alltagszeit und Lebenszeit eingeführt. Weiterhin habe ich einen Überblick über jene zeitsoziologischen Forschungen gegeben, die wichtige Impulse für die Konkretisierung meines eigenen Forschungsinteresses gegeben haben. Anknüpfend an diese Arbeiten ergaben sich vor dem Hintergrund des forschungsleitenden Interesses an den zeitlichen Be- und Entgrenzungen der Pflegepraxis daher verschiedene Fragen an die Empirie des vorliegenden Kapitels: a) Inwieweit ist die von Peter Alheit vorgenommene Differenzierung zwischen Alltags- und Lebenszeit relevant für die zeitsoziologische Untersuchung der informellen Demenzpflege? b) Welche zeitlichen Ambivalenzen im Hinblick auf das Zusammenspiel von Alltagszeit und Lebenszeit lassen sich bei den pflegenden Ruheständler*innen beobachten? c) Inwiefern spielt die Logik des Nachholens eine Rolle für etwaige Praktiken alltags- oder lebenszeitlicher Grenzziehung? d) Gibt es ähnlich wie bei den Ruheständler*innen ohne Pflegeverpflichtung charakteristische Formen des Umgangs mit Zeit im Pflegealltag? Wodurch sind diese gekennzeichnet? Und welche Bedeutung haben sie im Hinblick auf die Praktiken der Be- und Entgrenzung?
Bevor im folgenden Kapitel über die maximale Kontrastierung zweier Fälle, die sich durch sehr verschiedene zeitliche Praktiken des Pflegens kennzeichnen, der empirische Einstieg in die Analysen der Zeit in der Pflege erfolgt, empfiehlt sich an dieser Stelle der Arbeit noch eine Bemerkung zur thematischen Anordnung der beiden (großen) Empiriekapitel zu Zeit und Geschlecht sowie zur darin enthaltenen Darstellung der Ergebnisse: Im Verlauf dieses Kapitels dürfte erneut deutlich geworden sein, dass mein Zugang zur Untersuchung der Situation pflegender Angehöriger über das Untersuchungsfeld der Zeit im Alter erfolgte (vgl. Kap. 3.2). Dies hatte zur Konsequenz, dass
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das zeitsoziologische Vorwissen, mit dem ich mich in die Interviews begeben habe, ausgeprägter war als mein geschlechtersoziologisches Vorwissen. Neben meiner Grundannahme, dass Zeit in der Praxis der Pflege eine besonders wichtige Rolle spielt, darf daher nicht ignoriert werden, dass – basierend auf diesem Vorwissen und spezifischen Interesse – meine Interviewführung auch maßgeblich zu diesem Themenschwerpunkt in den Interviews beigetragen hat. Die Reflexion dessen war schließlich zugleich auch ausschlaggebend für die Entscheidung, bei der Verschriftlichung meiner Untersuchungsergebnisse mit der Analyse der zeitlichen Praktiken der Be- und Entgrenzung von Pflege zu beginnen und die vergeschlechtlichten Praktiken im Anschluss daran zu betrachten. Bei der Darstellung der Ergebnisse gilt es zu beachten, dass in den Analysen keine Typen gebildet, sondern verschiedene Einzelfälle herangezogen werden, um spezifische Aspekte herauszuarbeiten und im Zuge dessen eventuell auch zu kontrastieren, die im Sample wiederholt beobachtet werden können, sich aber anhand des jeweils gewählten Einzelfalls am besten empirisch verdeutlichen lassen. Dabei kann es auch vorkommen, dass sich die einzelnen Interviewpersonen in einander widerstreitenden Kategorien wiederfinden. Aufgrund des bewussten Verzichts auf Typenbildung, stellt dies methodologisch aber kein Problem dar, sondern verweist vielmehr auf die Vielschichtigkeit der selbsterzählten Lebensentwürfe sowie die Episodenhaftigkeit der praktizierten Be- und Entgrenzungen innerhalb des Pflegealltags (vgl. Denninger 2018: 78f). Und schließlich sei darauf hingewiesen, dass ich für die Darstellung der Ergebnisse ebenfalls bewusst auf individuelle Fallportraits aller Befragten des Samples verzichte.4 Daher erfüllen die Fallkontraste die Funktion, den Leser*innen anhand jeweils zweier ausführlich vorgestellter Fälle dennoch einen Einblick in die Komplexität der je individuellen Situation zu geben und dabei mit der Fallauswahl sowohl die im Sample vorgefundenen Differenzen zu überspannen als auch die sampleübergreifenden Gemeinsamkeiten abzubilden.
4
Der Vollständigkeit halber und für die oder den interessierte*n Leser*in befinden sich diese im Anhang der vorliegenden Arbeit.
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6.2
Die Zeiten der Pflege kontrastieren: Die Fälle Heinrich und Steg
Die Fallauswahl für die maximale Kontrastierung der zeitlichen Praktiken des Pflegens fiel auf Frau Heinrich und Herrn Steg. Frau Heinrich ist zum Zeitpunkt des Interviews 71 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder sowie drei Enkelkinder. Sie bewohnt eine Drei-Zimmer-Wohnung in einer Kleinstadt, die in einer sich infrastrukturell eher rückläufig entwickelnden ländlichen Region Mitteldeutschlands liegt. Die ehemalige Verwaltungsangestellte mit evangelischer Konfession ging mit 60 Jahren in den vorgezogenen Ruhestand und zusammen mit ihrem Mann verfügt sie über ein monatliches Nettohaushaltseinkommen von rund 2.500 Euro. Die Diagnose Parkinson erhielt der Mann von Frau Heinrich bereits bevor sie in den Ruhestand ging. Zum Zeitpunkt des Interviews hat er eine schwere Parkinson-Demenz und ist infolge der zusätzlich mit dem Parkinson-Syndrom einhergehenden körperlichen Einschränkungen, wie zum Beispiel Muskelsteifheit, weitestgehend immobil. Darüber hinaus hat er einen Blasenkatheter, einen künstlichen Darmausgang und seit kurzem auch eine Magensonde. Herr Steg wiederum ist zum Zeitpunkt des Interviews 82 Jahre alt, ebenfalls verheiratet und hat zwei Kinder, wovon eines bereits verstorben ist. Zudem hat er drei Enkelkinder. Gemeinsam mit seiner Frau wohnt er in einem geräumigen Einfamilienhaus mit weitläufigem Garten, das in einem Vorort einer süddeutschen Großstadt steht. Der ehemalige Ingenieur evangelischer Konfession ging im Alter von 64 Jahren in den Ruhestand und hat seitdem ein monatliches Nettohaushaltseinkommen von rund 4000 Euro zur Verfügung. Fünf Jahre nach dem Ruhestandseintritt wurde bei seiner Frau eine frühe Demenz diagnostiziert. Mithilfe von Medikamenten und Therapie konnte der Krankheitsverlauf fast zehn Jahre so verzögert werden, dass Frau Steg trotz bereits deutlicher kognitiver Einschränkungen noch relativ selbstständig ihre gewohnten Aufgaben im Haushalt erledigte. Zum Zeitpunkt des Interviews liegt es etwa vier Jahre zurück, dass der Sohn des Ehepaares tödlich verunglückte. Seit diesem Schicksalsschlag hat sich der Gesundheitszustand von Frau Steg in relativ kurzer Zeit sehr stark verschlechtert. Zwar kann sie sich noch selbstständig durchs Haus bewegen, ist aber mittlerweile schwer dement und kognitiv so eingeschränkt, dass sie den Nutzen funktionaler Artefakte, wie Zahnbürste, Messer oder Kochlöffel, nicht mehr erinnert und aufgrund ihrer Inkontinenz Tag und Nacht Windeln tragen muss.
6. Zeitliche Be- und Entgrenzungen der häuslichen Demenzpflege
Bereits die kurze Vorstellung der beiden Fälle verweist auf sehr unterschiedliche Kontextbedingungen, die die Situation der Pflegenden maßgeblich mitbestimmen und die bei der Analyse der sozialen Praktiken des Pflegens stets mitzubeachten sind. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei an dieser Stelle allerdings noch einmal explizit darauf verwiesen, dass die Fallauswahl nicht durch die erkennbaren Unterschiede im Hinblick auf finanzielle Ressourcen oder die Wohnlage bestimmt war, sondern durch den maximalen Kontrast zeitlicher Praktiken der Pflege. Dabei bot bereits die Eingangssequenz der beiden Interviews – weitestgehend unabhängig von den Kontextbedingungen – zwei sehr unterschiedliche Beschreibungen der eigenen Situation und der Bedeutung von Zeit. Danach gefragt, was sie mit Ruhestand verbinde, berichtet Frau Heinrich als Einstieg in das Gespräch davon, dass sie sich kurz vor dem Übergang in den Ruhestand eigentlich sehr auf diesen gefreut und daher bereits »die Wochen gezählt« (ebd.: 8) habe. Diese Vorfreude sei jedoch getrübt worden, als ihr Kollege sie irgendwann mal fragte: »›Frau Heinrich, was wollen Sie denn zuhause? Sie haben einen kranken Mann und eine alte Mutter.‹ Dachte, das klang frech und ich war bissel empört. Ja und da/und heute weiß ich, dass er recht hatte, auf seine Art. Ja, ja, er hatte Recht. Auf Arbeit wäre es vielleicht anders.« (ebd.: 9ff) Worauf hier angespielt wird, ist Frau Heinrichs ursprünglicher – und daher mit Vorfreude verbundener – Blick auf den Ruhestand als erwerbsbefreite Lebensphase, auf die es sich in Anbetracht des Zugewinns an freier Zeit zu freuen lohnt. Ihr Kollege, der um ihre private Lebenssituation weiß, konfrontiert sie jedoch mit der impliziten Annahme, dass das Leben, welches Frau Heinrich zuhause im Ruhestand erwartet, unter den gegebenen Bedingungen zweier pflegebedürftiger Familienmitglieder nicht schöner sein wird, als die Fortsetzung ihres Arbeitslebens. Ihre anfängliche Empörung über diesen pessimistischen Blick auf die ihr bevorstehende Zukunft hat sich bei Frau Heinrich im Laufe der Jahre angesichts der Erkenntnis gelegt, dass es durch die Pflege zuhause für sie tatsächlich anstrengender wurde als gedacht und eine Fortsetzung der Arbeit anders, und womöglich sogar besser, für sie gewesen wäre. Um die Bemerkung ihres Kollegen für mich als Interviewerin besser verständlich zu machen, führt Frau Heinrich daraufhin ihre damalige Situation näher aus. Weder ihr Mann noch ihre Mutter waren zum damaligen Zeitpunkt bereits akut pflegebedürftig. Ihr Mann hatte jedoch kurz zuvor die Parkinson-Diagnose bekommen und »man wusste ja, es ist nicht heilbar, also
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das kommt auf mich zu« (ebd.: 15f). Und auch ihre Mutter brauchte vermehrt ihre Hilfe, woraus sie ebenfalls die Tendenz zur Pflegebedürftigkeit ableiten konnte. Diese Doppelbelastung brachte Frau Heinrich in den ersten Jahren nach ihrem Ruhestandseintritt zunehmend in Zeitnot: »Oft saß mein Mann sonntags alleine und ich bin mit ihr weggefahren oder so/äh/man wollte jedem gerecht werden, ja, ja. Ich hab mich um sie gekümmert. Später habe ich sie dann auch gepflegt, aber das ging nicht. Zwei Leute, das hab ich nicht, das/da wäre immer einer zu kurz gekommen.« (ebd.: 17ff) Hin- und hergerissen zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen zweier nahestehender Familienmitglieder, die sich zusätzlich die Aufmerksamkeit von Frau Heinrich untereinander neideten, pendelte diese die ersten fünf Ruhestandsjahre zwischen Mutter und Ehemann. Mit der Mutter, die »ein ganz geselliger Mensch« (ebd.:134) gewesen sei, machte sie regelmäßig Ausflüge, kochte ihr das Essen und erledigte den Haushalt. Zu der Zeit wurde ihr Mann allerdings auch zunehmend hilfsbedürftiger, konnte nicht mehr lange allein bleiben und wünschte aber auch keinen Besuch. Die Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse beider Angehöriger brachte Frau Heinrich schließlich dazu, eine Entscheidung zugunsten der Pflege ihres Mannes zu treffen und für ihre Mutter, mit deren Einverständnis, ein Pflegeheim zu suchen, in dem sie die letzten vier Jahre bis zu ihrem Tod lebte. Dabei beschreibt Frau Heinrich das Gefühl, weder für die Mutter noch für ihren Mann ausreichend Zeit gehabt zu haben, als ausschlaggebend für den Entschluss, die pflegerische Versorgung und Betreuung ihrer Mutter an eine Pflegeeinrichtung abzugeben. Wie sich in den weiteren Analysen noch zeigen wird, hat das »schlechte Gewissen« (ebd.: 150), das Frau Heinrich infolge dessen ihrer Mutter gegenüber hatte, auch Jahre später, zum Zeitpunkt des Interviews, noch maßgeblichen Einfluss auf die zeitlichen Praktiken bei der Pflege ihres Mannes. Im Fall von Herrn Steg gestaltet sich die Antwort auf die erzählgenerierende Eingangsfrage danach, was er mit Ruhestand verbinde, hingegen so, dass er bezugnehmend auf die Norm des aktiven Alter(n)s zunächst einmal klarstellt, dass es von hoher Relevanz ist, »[i]mmer aktiv zu sein.« (Steg: 7), um nicht so schnell zu altern.5 Daran anschließend führt Herr Steg gut drei Mi-
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Die hier angesprochene Norm des aktiven Alter(n)s kann als eine der neueren gesellschaftlichen Entwicklungslinien im Hinblick auf die Lebensphase des Alter(n)s verstanden werden, die – beginnend in der 1990er Jahren – mit dem historischen Wandel vom versorgenden zum aktivierenden Sozialstaat eingesetzt hat (vgl. u.a. van Dyk/Les-
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nuten lang aus, wie er diesen Aktivitätsanspruch für seinen Ruhestand in den Jahren nach der Verrentung umgesetzt hat und berichtet von Immobilien in Familienbesitz, die er verwaltet und dessen Instandsetzung er koordiniert hat sowie von Vorstandstätigkeiten in einem Verein. Diese Aufzählung seiner Aktivitäten schließt Herr Steg wie folgt: »Gut, also Sie sehen, ich bin noch etwas im Amt, etwas immer irgendetwas noch machen und/äh/ja auch meine Frau auch versorgen, wobei sie/äh/vier Tage in der Woche, da gehört der heutige auch dazu/äh/zu einer Tagespflege geht.« (ebd.: 44ff) Die Selbstbeschreibung, noch etwas im Amt zu sein, verweist an dieser Stelle zum einen darauf, dass er die beschriebenen Tätigkeiten als Erwerbsarbeitssubstitute versteht und nicht etwa als Teil der Freizeitaktivitäten seines Ruhestandes. Zum anderen möchte Herr Steg seinem Gegenüber auf diese Weise versichern, dass er sich auch nach Ende der Erwerbsarbeitsphase nicht langweile und konstruiert eine fortgesetzte Geschäftigkeit, die bei vielen Ruheständler*innen beobachtet werden kann und unter Alter(n)ssoziolog*innen als »busy ethic«6 bekannt ist (Ekerdt 1986; 2009). Was die beschriebene Eingangssequenz hier aber besonders interessant macht, ist die Tatsache, dass Herr Steg die Thematik der Erkrankung und Pflege seiner Frau in dieser Selbstkonzeptualiserung des beschäftigten Ruheständlers an das Ende der Aufzählung setzt und durch seine Formulierung – »und/äh/ja auch meine Frau mit versorgen, […].« (ebd.: 46) – der Eindruck entsteht, er hätte fast vergessen, die Pflege seiner Frau mit zu erwähnen und füge dies als letzten Punkt
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senich 2009; Lessenich 2010; Denninger et al. 2014). Die Weltgesundheitsorganisation definiert aktives Altern als »Prozess der Optimierung der Möglichkeiten von Menschen, im zunehmenden Alter ihre Gesundheit zu wahren, am Leben ihrer sozialen Umgebung teilzunehmen […] und derart ihre Lebensqualität zu verbessern.« (WHO 2002: 12) Die Norm des aktiven Alter(n)s lancierte in den zurückliegenden Jahren sozialpolitisch zu einer der zentralen Strategien im Umgang mit den Herausforderungen des demografischen Wandels. Kritiker*innen verweisen jedoch darauf, dass dieser Aktivierungsanrufung unter anderem die Tendenz zur Individualisierung und Privatisierung sozialer Risiken des Alter(n)s innewohne und nicht ausreichend berücksichtigt werde, dass es einen sozial ungleichen Zugang zu notwendigen Mitteln und Wegen für Altersaktivität gebe (vgl. u.a. van Dyk/Graefe 2009: 116). Das Konzept der »busy ethic« wurde Mitte der 1980er Jahre von dem amerikanischen Soziologen David Ekerdt genutzt, um die bei den Rentner*innen beobachtbare Verlängerung der (Lohn-)Arbeitsethik in den Ruhestand hinein zu beschreiben, innerhalb derer das Streben nach Anerkennung eine berufsähnliche Simulation von Beschäftigtsein hervorbringt (vgl. Denninger et al. 2014: 240).
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auf seiner Aktivitätenliste eher der Vollständigkeit halber noch mit an. Dabei verweist die Verwendung des Wortes »auch« bereits darauf, dass die Versorgung seiner Frau ein Aspekt unter vielen ist, nicht aber seine Hauptaufgabe. Dies bestärkt Herr Steg, indem er im nächsten Halbsatz relativierend darauf hinweist, dass er seine Pflegeverantwortung zeitlich stark reduziert hat, indem er seine Frau an vier von sieben Tagen in der Woche zur Tagespflege bringt. Aus der Eingangssequenz kann demnach bereits ein erheblicher Unterschied hinsichtlich der grundlegenden Bedeutung abgeleitet werden, die beide Fälle der Pflege ihrer Partner*innen beimessen.7 Denn während Frau Heinrich direkt auf die Pflege und die dadurch im Ruhestand für sie entstandenen moralischen und zeitlichen Verpflichtungen zu sprechen kommt, ist dieses Thema für Herrn Steg zunächst einmal nicht maßgeblich bestimmend für seine Praktiken der Ruhestandsgestaltung. Darüber hinaus bilden beide Eingangssequenzen einen maximalen Kontrast im Hinblick auf die (aufgewandte) Zeit für die Pflege der Partner*innen. Denn während sich Frau Heinrich dazu entschließt, ihre Mutter in ein Pflegeheim zu geben, um mehr Zeit für die Pflege des Ehemannes zu haben, gibt Herr Steg die Pflege seiner Frau deshalb zu weiten Teilen an einen professionellen Pflegedienst ab, um ausreichend Zeit für eigene Interessen zu haben. Vergleicht man daran anschließend systematisch die alltagszeitlichen Praktiken der Pflege in beiden Fällen, dann wird die bereits aus der Einstiegserzählung ableitbare Divergenz beider Fälle immer deutlicher. Herr Steg hat eine klar strukturierte Woche, in der er seine Ehefrau von Montag bis Donnerstag am Morgen zur Tagespflege bringt und anschließend sechs bis sieben Stunden zur freien Verfügung hat, bevor sie am Nachmittag durch einen Fahrdienst wieder nachhause gebracht wird. In der Zeit ohne seine Frau widmet er sich seinen verbliebenen Ämtern, geht Wandern, trifft Freunde oder kümmert sich um den Garten. Vor und nach der Tagespflege
7
An diesem Punkt drängt sich bereits die Frage nach der Bedeutung von Geschlecht für die Praxis der Angehörigenpflege auf. Da der Fokus in diesem Teil der Analysen allerdings bewusst darauf liegt, welche zeitlichen Konflikte und Grenzen die Pflegenden erzählen und es im anschließenden Analysekapitel ausführlich um vergeschlechtlichte Grenzen der Pflege – auch bei Frau Heinrich und Herrn Steg – gehen wird, verzichte ich an dieser Stelle der Analysen bewusst darauf, nach der potentiellen Geschlechtsspezifik des hier kontrastierten Handelns zu fragen.
6. Zeitliche Be- und Entgrenzungen der häuslichen Demenzpflege
ist Herr Steg hauptsächlich damit beschäftigt, seine Frau bei reproduktiven Tätigkeiten wie dem Essen, der Körperpflege oder dem Aufstehen und Zubettgehen zu unterstützen. Von Freitag bis Sonntag bleibt seine Frau dann wiederum ganztägig bei ihm. Diese Tage beschreibt Herr Steg als sehr anstrengend, denn er müsse sich dann »dauernd/ähm/mit dem Quatsch befassen, auf den sie noch reagiert. Sie wissen dann selber nicht mehr, was sie jetzt eigentlich sagen sollen, was sie machen sollen, […].« (ebd.: 512f) Herr Steg äußert sich zuweilen ratlos bis genervt im Hinblick auf die Aufgabe der subjektiv sinnvollen Beschäftigung seiner Frau, die nicht mehr ausdrücken kann, was sie machen möchte. Er löst diesen Konflikt, indem er sie weitestgehend in seine Tätigkeit in Haus und Garten einbindet. Und so gehen sie häufig gemeinsam in den Garten oder hören klassische Musik. Um weiterhin in den Urlaub fahren zu können, organisiert sich Herr Steg etwa siebenmal im Jahr eine Pflegefachkraft aus Osteuropa, die für ein verlängertes Wochenende oder eine Woche bei den Stegs einzieht und sich um seine Frau kümmert, solange er unterwegs ist. Auf diese Weise könne er sich die notwendigen Auszeiten von der Pflege gönnen, ohne seiner Frau erneut den temporären Umzug in ein Pflegeheim zumuten zu müssen. Denn als er das Pflegeheim Jahre zuvor einmal als Urlaubsbetreuung testete, kam sie damit – wie die Mehrzahl der Menschen mit Demenz – nur sehr schwer zurecht. Die Frage danach, ob er gern mehr Zeit hätte, verneint Herr Steg als einziger Fall im gesamten Sample und findet, »das ist ein vernünftiges Maß, was wir jetzt haben mit meiner Freizeit/äh/und mit der Pflegezeit. Ich denke (.) Nöö, ich finde das als ausgewogen, ja, finde das ausgewogen.« (ebd.: 508f) Frau Heinrich hingegen findet ihre Situation alles andere als ausgewogen. Als ich sie darum bitte, mir einen typischen Tag vom Aufstehen bis zum Schlafengehen zu schildern, beginnt sie nicht mit dem Aufstehen, sondern mit der Rekonstruktion einer typischen Nacht. Damit macht sie deutlich, dass sich ihr Pflegealltag nicht auf den Tag beschränkt. Stattdessen sind es insbesondere die Nachtstunden, die sie als pflegende Angehörige stark fordern. Denn in der Nacht habe ihr Mann häufig starke Schmerzen. Diese führen dazu, dass er stöhnt, zittert, nicht wieder einschlafen kann und nach ihr schreit: »Und/ähm/dann ruft er nach mir, wenn ich nicht gleich höre./Äh/Dann also dann wird der Ton auch schroff. Wenn ich mal ins/manchmal denke ich: Och nee, ich ich kann das nicht aus/jetzt geh ich mal ins Wohnzimmer. Und da höre ich's, da schreit er so laut, dass ich`s im Wohnzimmer auch noch höre (lacht). So und und die Nachbarn
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und so, man möchte ja auch nicht auffallen. Dann geht man wieder zurück und ja.« (ebd.: 203ff) Frau Heinrichs Versuch, sich der Pflege ihres Mannes immerhin in den Nachtstunden hin und wieder zu entziehen, scheitert demnach an ihrer Sorge, durch das nächtliche Geschrei die Aufmerksamkeit der Nachbarn und damit auch deren Blicke auf sich zu ziehen (vgl. Kap. 4.2). Bereits seit Jahren hat sie daher keine Nacht mehr durchgeschlafen. Am Morgen steht sie um sieben Uhr auf, weil Herr Heinrich nicht länger im Bett bleiben möchte, geht zunächst kurz selbst ins Bad und versorgt anschließend ausgiebig ihren Mann und dessen Katheter. Den Pflegedienst hat sie wieder abbestellt, weil sie selbst zeitlich flexibler auf die unterschiedlichen Bedürfnisse ihres Mannes eingehen kann (vgl. Kap. 4.1). Am Vormittag komme sie dann generell ganz gut zurecht, weil »er ist anwesend und ich mache meine Hausarbeit.« (ebd.: 283) Nach dem Mittagsschlaf fährt Frau Heinrich mit ihrem Mann regelmäßig zum örtlichen Fußballplatz, weil er dort gern zuschaut und dann von seinen Schmerzen abgelenkt ist. Nach dem Abendessen dauert es täglich etwa eine Stunde, bis Frau Heinrich ihren Mann gewaschen, umgezogen und die Katheter für die Nacht erneut gewechselt hat. Anschließend sehen beide noch eine Weile fern und gehen dann gemeinsam ins Bett. In den Urlaub fährt sie nicht mehr, seitdem die Parkinson-Krankheit ihres Mannes in der Öffentlichkeit zu viel Aufmerksamkeit erzeugte (vgl. Kap. 4.2) und allein wegzufahren ist für Frau Heinrich in ihrer aktuellen Lebenssituation keine Option. Erst wenige Monate zuvor verkaufte sie den gemeinsamen Garten, den sie als ihr »Lebenselixier« (ebd.: 360) beschreibt, aber dessen Instandhaltung von ihr allein neben der Pflege nicht mehr geleistet werden konnte. Für Hobbies und eigene Interessen bleibe ihr tagsüber keine Zeit. »[I]ch stell das zurück.« (ebd.: 453), weil die Hausarbeit, die körperliche und medizinische Versorgung ihres Mannes sowie dessen häufige Arzt- und Krankenhausbesuch sie zeitlich komplett vereinnahmen. Danach gefragt, ob sie gern mehr Zeit hätte, vermeidet sie eine direkte Antwort und meint stattdessen, dass sie sich einfach nicht mit Ruheständler*innen vergleichen dürfe, die die Zeit hätten, mit ihren Wanderstöcken durch die Gegend zu ziehen. Mehr Zeit für sich zu haben, würde es aus ihrer Sicht notwendig machen, ihren Mann in ein Pflegeheim zu geben und das wolle weder sie noch ihr Mann, weshalb Frau Heinrich ihre aktuelle Pflegesituation jetzt einfach »durchstehen« (ebd.: 1148) wolle.
6. Zeitliche Be- und Entgrenzungen der häuslichen Demenzpflege
Mit Frau Heinrich und Herrn Steg stehen sich hier zwei Fälle gegenüber, deren zeitliche Pflegepraktiken unterschiedlicher kaum sein könnten. Herr Steg verkörpert dabei einen pflegenden Angehörigen, der die Pflegeverpflichtung gegenüber seiner Frau zwar sehr ernst nimmt, sich selbst, die eigenen Interessen und sein Bedürfnis nach Pflegeauszeiten dabei aber nicht zurückstellt. Über die Inanspruchnahme externer Hilfen begrenzt er dabei konsequent den zeitlichen Pflegeaufwand für seine Frau, um das von ihm als ausgewogen empfundene Verhältnis von Freizeit und Pflege aufrechtzuerhalten, von dem Frau Heinrich durch das Zurückstellen eigener Interessen so weit entfernt scheint. Denn in maximalem Kontrast zu Herrn Steg steht sie beispielhaft für eine ausgeprägte Entgrenzung der Pflegezeiten. Indem professionelle Pflegehilfen abgelehnt werden, weil sie zeitlich nicht flexibel genug auf die Bedürfnisse ihres Mannes eingehen oder nächtliche Versuche der Begrenzung ihrer pflegerischen Verfügbarkeit aus Sorge vor den Blicken der anderen nicht durchgehalten werden können, folgt Frau Heinrich einer Praxis des Pflegens, die sich zwar im Konjunktiv nach Grenzen zu sehnen scheint, diese aber im Pflegealltag schlicht nicht umsetzen kann. Mit diesen Formen der extremen Be- und Entgrenzung überspannen beide Fälle die Vielfalt der Praktiken zeitlichen Grenzziehens, deren Dimensionen es im folgenden Abschnitt nun näher zu analysieren gilt.
6.3
»Also ich lass mich durch die Uhr nicht tyrannisieren, aber […]«: Formen zeitlicher Be- und Entgrenzung in der Pflegepraxis
Im Abschnitt zu den zeitsoziologischen Grundlagen wurde die Differenzierung von Zeit in die Dimensionen Alltagszeit und Lebenszeit eingeführt und damit auch die Konzeptualisierung der Lebenszeit als linear verlaufende Zeit, die die Handlungen und Erlebnisse im Lebensverlauf sequenzialisiert und Kohärenz herzustellen versucht (vgl. Alheit 1988). Demgegenüber steht das Verständnis von der Alltagszeit als zyklisch ablaufende Zeit, die insbesondere für die Herstellung der Routinen des täglichen Lebens von Bedeutung ist. Beim Nachdenken über die zeitlichen Grenzen erschien es mir hilfreich, mich ebenfalls an diesen beiden Charakteren zu orientieren, um die beobachteten Praktiken der Be- und Entgrenzung und deren dynamische Verwobenheit besser verstehen und im vorliegenden Kapitel systematischer verdeutlichen zu können. Das bedeutet, es wird nach linearen und zyklischen Zeiten
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und darin vorkommenden Grenzen differenziert. Dabei erscheint es allerdings wenig sinnvoll, erst die eine und dann die andere Dimension zu beleuchten, sondern ich werde versuchen, die zyklisch angelegten Be- und Entgrenzungen des Pflegealltags entlang der biografischen Sequenzen herauszuarbeiten, die sich aus dem Krankheitsverlauf und damit verbundenen linear zu verortenden Grenzen ergeben. Die Unterteilung entlang der verschiedenen Phasen der Demenz ermöglicht dabei einen differenzierteren Blick auf die im Krankheitsverlauf variierenden Zeitanforderungen in der Demenzpflege und veranschaulicht zugleich die in diesem Rahmen ebenfalls veränderliche Relevanz von zeitlichen Grenzen der Pflege. Die Abbildung zu den linearen und zyklischen Zeiten in der Demenzpflege 6dient hier vor allem der grafischen Verdeutlichung meines Verständnisses von Zeit, mit welchem ich mich durch die folgenden Analysen bewege (vgl. Abb. 5). Es sollte zudem ersichtlich werden, dass die Pflegenden in den unterschiedlichen Phasen immer wieder mit der Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von Alltag konfrontiert sind, wobei in den Analysen herausgearbeitet wird, inwieweit die jeweiligen Tageszeiten in den verschiedenen Phasen jeweils unterschiedlichen Graden der Entgrenzung, zum Teil aber auch Begrenzung, unterliegen. Der biografisch-linear verlaufende Pfeil überspannt den Zeitverlauf der Pflege und ist mit drei subjektiv bedeutsamen Zäsuren verknüpft, auf deren spezifische Relevanz im Zuge der folgenden Auswertungen an den entsprechenden Stellen näher eingegangen wird.
6.3.1
Und plötzlich kommt alles anders: Diagnose und Anfangsphase der Demenzpflege
Mit Demenz als typischer Erkrankung der gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaft des langen Lebens kommen Betroffene und deren Partner*innen in der Regel erst im höheren Alter in Berührung. Aus ihrem Leben vor der Pflege berichten die meisten der Befragten von lang gehegten Reiseplänen, die für das Leben im Ruhestand geschmiedet und nicht selten auch bereits umgesetzt wurden sowie von verschiedensten Aktivitäten, für die nach dem Austritt aus dem Erwerbsleben nun endlich genug Zeit sein sollte. Die Wünsche für die Praktiken der Ruhestandsgestaltung folgen demnach in weiten Teilen der Logik des Nachholens (vgl. Münch 2015). In der Praxis gerät diese Logik bei den Befragten jedoch in dem Moment ins Stocken, in dem sie bei ihren Partner*innen auf latente Veränderungen im Handeln aufmerksam werden, die die weitere Umsetzung der gemeinsamen
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Abbildung 5: Lineare und zyklische Zeiten in der Demenzpflege
Pläne nun erschweren. Im Fall von Frau Kleber äußerte sich dies beispielsweise so, dass sich das Ehepaar nach dem Übergang in den Ruhestand ein Wohnmobil kaufte und damit über Jahre mehrere Monate am Stück auf Reisen ging. Nachdem Frau Kleber allerdings an ihrem Mann beobachtet, dass dieser beim Fahren immer häufiger die Orientierung verliert, die Routinen der technischen Überprüfung des Fahrzeugs vor Fahrtantritt nicht mehr erinnert und die Fahrten immer kürzer werden, weil ihr Mann vorzeitig die Rückkehr nachhause wünscht, beschließt sie irgendwann: »Das bringt eigentlich nichts mehr. Der Aufwand ist zu hoch. […] Wenn sich das so sehr HÄUFT, dann kommt natürlich der Verdacht immer MEHR.« (Kleber: 208ff) Wenig später gibt sie das Wohnmobil an ihre Tochter weiter und beginnt, sich aktiv mit dem Thema Demenz auseinanderzusetzen. Die Entscheidung, das Wohnmobil abzugeben und den Ruhestand auf Reisen gegen einen Ruhestand in gewohnter Umgebung zu tauschen, bedeutet nicht nur einen sozialräumlichen Fokus auf die häusliche Pflegearena (vgl. Kap. 4), sondern stellt auch eine Praxis zeitlichen Grenzziehens dar. Denn Frau Kleber setzt damit eine lebenszeitliche Grenze, die in Form einer biografischen Zäsur ihr Leben vor der Pflege von dem Leben mit der Pflege abgrenzt. Ausschlaggebend dafür ist die Diagnose der Demenz, wobei der Fall von Frau Kleber stellvertretend für mehrere Fälle des vorliegenden Samples zeigt, dass es nicht zwingend auf die Diagnose me-
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dizinischer Expert*innen ankommt, sondern die Laiendiagnose8 der Befragten selbst häufig die Praxis der Übernahme pflegeförmiger Unterstützung der Partner*innen einläutet. Die Diagnose stellt demnach eine biografische Zäsur dar, die an die Erkenntnis geknüpft ist, dass die Lebenszeitgestaltung in Zukunft nicht so weitergehen kann, wie geplant. Herr Franz zum Beispiel, der über mehrere Jahrzehnte darauf hingearbeitet hat, den Ruhestand zusammen mit seiner Frau im Sinne der »späten Freiheit« (Rosenmayr 1983) als dauerhaften Urlaub mit eigenem Haus im Süden zu gestalten, schildert das subjektive Erleben dieser Erkenntnis besonders drastisch: »Es war eigentlich/das war eigentlich der ganze, der ganze Lebensweg, der war dann KAPUTT, sozusagen.« (Franz: 24f) Nach der Diagnose besteht dementsprechend die Herausforderung für die Partner*innen der Personen mit Demenz insbesondere darin, ihren Lebensweg wieder ein Stück weit zu reparieren und Kohärenz zu erzeugen (vgl. Alheit 1988), was in der Regel im Zuge der Wiederherstellung von Alltag erfolgt und die Dimension der Alltagszeit ins Spiel bringt. In der Anfangsphase der Demenzerkrankung geht es in den wenigsten Fällen bereits um das Begrenzen der Pflegeanforderungen im Alltag. Lediglich Herr Steg nimmt schon kurz nach der Demenzdiagnose bei seiner Frau Kontakt zu Tagespflegeeinrichtungen auf, weil ihm von Seiten des behandelnden Arztes empfohlen wurde, seine Frau lieber schon im Anfangsstadium der Erkrankung an das neue Umfeld in der Tagespflege zu gewöhnen, wenn er plant, sich professionelle Hilfe in der Pflege zu holen. In den ersten Jahren nach der Diagnose geht Frau Steg daher zunächst einmal wöchentlich in die Tagespflege und ihr Mann stockt im Laufe der Jahre die Tage immer dann schrittweise auf, wenn in der Einrichtung wieder ein weiterer Tagesplatz frei wird. Bei allen anderen pflegenden Partner*innen im Sample kennzeichnen sich die ersten Jahre vielmehr dadurch, dass es zu einer zeitlichen Entgrenzung mit Blick auf die tägliche Verfügbarkeit und Unterstützung der erkrankten Partner*innen kommt. Exemplarisch dafür sei hier der Alltag des 76-jährigen Herrn Pohl geschildert, dessen Frau sich zum Zeitpunkt des
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Die Laiendiagnose kann hier als eine subjektive Zuordnung von Symptomen zu einem Krankheitsbild verstanden werden, die sich auf ein alltäglich-lebensweltliches System bezieht. Demgegenüber bezieht sich die Expertendiagnose auf ein wissenschaftlichrationales System, bei dem die Zuordnung der Symptome möglichst objektiv zu erfolgen hat (vgl. Eisenbach-Stangl 1991: 69)
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Interviews noch in der ersten Phase der Demenzerkrankung befindet.9 Da sein langjähriger Verdacht erst wenige Wochen zuvor medizinisch bestätigt wurde, ist das Thema der Demenz auch erst seit dieser Zeit kein Tabuthema mehr in der Beziehung des Paares und Herr Pohl ist sehr intensiv damit beschäftigt, sich über das spezifische Krankheitsbild seiner Frau sowie den daraus zukünftig entstehenden Anforderungen für die Pflege zu informieren. Er besucht daher regelmäßig eine Schulung für Angehörige von Demenzkranken und liest sowohl Ratgeberliteratur für Angehörige, als auch Fachbücher für professionelle Demenzpflege. Er selbst begreift diese Phase als »Lernprozess, […] um in ihre Welt einzusteigen, in der sie ist. Es ist nicht meine und es ist auch nicht die von früher, aber es ist eine […].« (ebd.: 328ff) Die praktische Umsetzung der erlangten Informationen mündet im Alltag schließlich in dem Versuch, so auf die sich verändernden Bedürfnisse seiner Frau einzugehen, dass daraus keine Konflikte zwischen den beiden entstehen. Dabei fällt Herrn Pohl insbesondere der erhöhte Zeitbedarf für die Auseinandersetzung mit seiner neuen Lebenssituation auf und er reflektiert: »[W]as sich erheblich geändert hat, ist, dass ich sehr viel Zeit brauche, um mich diesen Problemen zu stellen und auch festzustellen, wie ich mich zu verhalten HABE.« (ebd.: 304ff) Aus praxeologischer Perspektive ergibt sich der zeitliche Aufwand in der Anfangsphase der Pflege demnach insbesondere durch die Auseinandersetzung mit neuen Einzelpraktiken des Umgangs mit den erkrankten Partner*innen. So lernt Herr Pohl unter anderem gerade, dass er in der alltäglichen Kommunikation keine Entweder-Oder-Fragen mehr stellen darf, sondern ausschließlich einfache Fragen, die sie bejahen oder verneinen kann. Darüber hinaus sucht Herr Pohl nach Wegen, um technische Artefakte wie die Fernbedienung oder den Computer so zu beschriften, dass seine Frau diese auch trotz abnehmender »kognitiver Fähigkeiten« (ebd.: 657) noch ohne seine Hilfe bedienen kann. Zudem bedarf es seiner zunehmenden Unterstützung bei ihr ursprünglich gut bekannten Haushaltstätigkeiten wie dem Ba9
Hier sei noch einmal daran erinnert, dass die in den vorliegenden Analysen dargestellten Einzelfälle nicht der Bildung spezifischer Typen dienen, sondern deshalb herangezogen werden, um spezifische Aspekte zu beleuchten, die an verschiedenen Stellen im Sample beobachtet werden können, sich aber anhand des spezifischen Einzelfalls am besten empirisch verdeutlichen lassen. Die Wahl von Herrn Pohl als exemplarischer Fall begründet sich an dieser Stelle dementsprechend genau darüber, dass er der einzige Fall im Sample ist, dessen Partner*in sich zum Zeitpunkt der Interviewerhebung noch in der Phase der leichten Demenz befindet und seine Selbsterzählungen sich daher als besonders ergiebig für die Analyse der ersten Phase erweisen.
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cken oder Kochen, um zu verhindern, dass Zutaten oder einzelne Arbeitsschritte vergessen werden. Dabei ist Herr Pohl bemüht, seiner Frau dennoch nicht das Gefühl zu vermitteln, dass sie diese Routinen eigentlich nicht mehr beherrscht. Und nicht zuletzt ist es die – für dieses Stadium der Demenz so typische – Suche nach spezifischen Artefakten, die für Herrn Pohl eine besondere zeitliche Herausforderung darstellt: »Dann verschwende ich auch viel Zeit/nicht verschwenden/verwende/um Sachen zu suchen, die sie verlegt hat.« (ebd.: 339f) In seinem steten Bemühen darum, die demenzspezifischen Herausforderungen im Zusammenleben mit seiner Frau mit möglichst viel Respekt gegenüber ihrer Situation zu schildern, entfährt ihm mit der Bezeichnung der Verschwendung von Zeit eine wertende Beschreibung dieser alltäglichen Praxis, deren negativen Duktus er durch die Selbstkorrektur auf Verwendung der Zeit zu neutralisieren versucht. Die – im Sinne eines freudschen Versprechers verstehbare – versehentliche Konzeptualisierung als Verschwendung von Zeit wird dem subjektiven Zeitempfinden, welches das ständige Suchen nach Artefakten begleitet, hier allerdings sehr treffend gerecht. Denn versteht man den Begriff der Verschwendung entsprechend seiner Wortherkunft von »Schwinden« als übermäßigen Verbrauch begrenzt zur Verfügung stehender Ressourcen (vgl. Duden 1989: 660), dann bezeichnet das Verschwenden von Zeit eine Form der entgrenzten Zeitverwendung, weil die zeitlichen Ressourcen der pflegenden Partner*innen über das subjektiv als sinnvoll eingestufte Maß für die Praxis des Suchens beansprucht werden. Das Verschwenden der Zeit findet sich in nahezu allen Interviews des Samples wieder und wird in der vorliegenden Arbeit dementsprechend als charakteristische Form der Zeitverwendung innerhalb der Anfangsphase der Pflege verstanden. Relevant für die subjektive Wertung als vermeintlich sinnlose Alltagspraxis erscheint dabei insbesondere die Tatsache, dass die Partner*innen mit Demenz häufig über Wochen und Monate ganz bestimmte Artefakte suchen, die dann nicht selten bereits kurz nach dem Auffinden wieder verschwinden und die Suche somit (wieder) von vorn beginnen lassen. Abgesehen von diesen zeitlichen Herausforderungen im Hinblick auf die Herstellung eines Beziehungsalltags mit Demenz, unterscheidet sich die generelle Ruhestandsgestaltung in der Anfangsphase der Erkrankung zunächst aber scheinbar noch wenig vom Alltag jener »zufriedener Ruheständler [sic!]« (Denninger et al. 2014: 260), bei denen Pflege und Demenz keine Rolle spie-
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len.10 Seine Schilderung eines typischen Tages beginnt Herr Pohl demzufolge damit, dass der Wecker nur noch klingelt, wenn am Vormittag irgendwelche Termine anstehen. Ist das nicht der Fall, dann wacht Herr Pohl gegen 8 Uhr auf, bereitet in Ruhe das Frühstück vor und wartet darauf, dass seine Frau zwischen 9 und 10 Uhr von selbst wach wird. Nach dem Frühstück kümmern sich beide zusammen um etwaige Erledigungen oder gehen eine Runde spazieren. Gegen Mittag möchte sich Frau Pohl bereits wieder ausruhen und er verbringt die Zeit, in der sie schläft, zumeist vor dem Computer oder mit Literatur über Demenz. An den Nachmittagen treffen sich die beiden dann mit Freunden, gehen zum Sport oder nehmen an Tanzveranstaltungen für Senior*innen teil. Dabei hat Herr Pohl bereits gelernt, dass »alleine von ihr dann nichts mehr kommt, auch nichts unternommen wird […].« (ebd.: 678f). Daher initiiert er die gemeinsamen Aktivitäten, bei deren Auswahl er darauf achtet, dass sie seine Frau nicht überfordern, sondern sich positiv auf ihr Wohlbefinden auswirken. In der narrativen Rekonstruktion seines Alltags wird deutlich, dass bei Herrn Pohl durch den im Anfangsstadium der Demenz noch relativ ungewohnten, latenten Fokus auf die Bedürfnisse der erkrankten Partnerin, die eigenen Bedürfnisse aus dem Blick geraten. Was er durchaus reflektiert. Denn obwohl sich Herr Pohl grundsätzlich zufrieden darüber äußert, wie er mit den sich verändernden Anforderungen an die Zeitgestaltung im Ruhestand umgeht, fällt ihm im Verlauf der Schilderung seines typischen Tages doch auf, dass die früher so selbstverständlichen Zeiteinheiten für Eigenzeit11 in seiner aktuellen Alltagspraxis kaum noch vorkommen: »Also der Tagesablauf ist eigentlich ohne große Pausen. Das muss ich auch mal sagen. Ich habe mir jetzt auch gemerkt/zumindest beim Belesen dieser Dinge, dass
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Für besagten Vergleich bietet sich aus dem Buch »Leben im Ruhestand« (Denninger et al. 2014) insbesondere die Lektüre des Kapitels über »Die vielen Welten des Nacherwerbslebens« (ebd.: 257ff) an sowie die Miniatur »Das Frühstück – ein frühes Stück später Freiheit« (ebd.: 220). Der Begriff der Eigenzeit wurde in den 1980er Jahren von der Soziologin Helga Nowotny geprägt. In ihrem gleichnamigen Buch konzeptualisiert sie die Eigenzeit als Ich-Zeit, die sich mit der Zeit der anderen und für andere, der Fremd-Zeit, immer wieder neu arrangieren müsse (vgl. Nowotny 1989: 42). Dies gelte insbesondere für den institutionalisierten Komplex der Arbeitszeit (vgl. ebd.), ist letztlich aber sehr gut anschlussfähig für den hier vorliegenden Fokus auf Zeit in der informellen Demenzpflege.
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Häusliche Pflege am Limit
man auch als Angehöriger, der die Hilfe oder die Pflege übernimmt, eine Zeit einplanen sollte, um mal ein bisschen mehr zu ENTSPANNEN. […] Ja, ich habe kaum Pause. Sie schon eher.« (Pohl: 640ff) Versteht man Pausen als zeitlich begrenzte Unterbrechung eines Vorgangs, dann verweist das Fehlen größerer Pausen im Tagesablauf von Herrn Pohl hier einmal mehr auf die generell beobachtbare Tendenz zur latenten Entgrenzung der Zeiten, die für die Unterstützung der Partner*innen im Anfangsstadium der Demenz zur Verfügung gestellt werden. Dabei ist es interessant, dass die Mittagspause, in der seine Frau schläft, von Herrn Pohl nicht direkt als Pause für ihn selbst gedeutet wird. Erklärt werden kann dies damit, dass er sich während der Mittagsruhe seiner Frau weiter mit dem Themen »Demenz und Pflege« beschäftigt, anstatt sich eigenen Interessen zu widmen oder selbst auszuruhen. Es kann daher zunächst einmal als positiver Effekt der Literaturrecherche gedeutet werden, dass die Demenz-Ratgeber Herrn Pohl daran erinnern, die eigenen Bedürfnisse nicht vollkommen zu vernachlässigen und die Fürsorge in Zukunft wieder ein Stück weit zu begrenzen, indem bewusst zeitlich begrenzte Entspannungsphasen im Alltag eingeplant werden.12 Die Frage danach, ob er sich die empfohlenen Auszeiten von der Pflege manchmal auch schon wünschen würde, verneint er jedoch: »Das Gefühl ist noch nicht da, mag sein, dass das dann kommt, wenn ich dann mehr belastet bin durch Pflege vielleicht. Jetzt ist es ja mehr Hilfe.« (ebd.: 718f) An dieser Aussage wird deutlich, dass allein die Feststellung fehlender Pausen im Tagesverlauf sowie die Reflexion, dass diese Praxis des Zeithandelns den pflegenden Angehörigen in der Ratgeberliteratur nicht empfohlen wird, nicht ohne weiteres ausreichen, um als Betroffener selbst auch den Wunsch nach Umstellung der momentanen Zeitgestaltung des (Pflege-)Alltags zu entwickeln. Herr Pohl verweist hier auf zwei Aspekte, die für die Entstehung des Bedürfnisses nach Auszeiten zusätzlich von Bedeutung zu sein scheinen. Erstens ist es sein subjektives Verständnis davon, was man unter Pflege versteht. Denn während die 12
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Intensität und die Formen der Auseinandersetzung mit dem Thema Demenz innerhalb des Samples natürlich variieren. Ausschlaggebend sind dabei insbesondere Faktoren wie der individuelle Bildungsstand sowie die Wohnlage und damit verbundene Zugangsmöglichkeiten zu Beratung und Fachliteratur. Grundsätzlich berichten aber alle Interviewten davon, sich in der Anfangsphase verstärkt damit auseinandergesetzt zu haben, was die Demenzerkrankung für die Partner*innen und ihr weiteres Leben bedeutet.
6. Zeitliche Be- und Entgrenzungen der häuslichen Demenzpflege
Fürsorge, die Herr Pohl bereits in dieser Phase der Erkrankung seiner Frau zukommen lässt, dem in der vorliegenden Arbeit zugrunde liegenden theoretischen Verständnis von Pflege als Sorgearbeit voll und ganz entspricht, definiert er seine alltägliche Praxis der Fürsorge – oder Sorgearbeit – nicht als Pflege, sondern als Hilfe.13 Diese Unterscheidung betont er bereits zu einem früheren Zeitpunkt des Interviews, als er klarstellt: »Wobei ich eigentlich nicht PFLEGE, sondern HELFE.« (ebd.: 548f) Im Verlauf seiner Narrationen wird deutlich, dass er die tägliche Unterstützung seiner Frau bei Problemen, die sich aus den zunehmenden kognitiven Einschränkungen ergeben, nicht als Pflege versteht, weil diese Form der Fürsorge nicht körperlich verankert ist. Aus der Hilfe wird seinem Verständnis zufolge erst dann Pflege, wenn seine Frau Krankheitssymptome entwickelt, die es notwendig machen, dass er ihr beispielsweise Nahrung anreichen oder sie waschen muss. Dieses Verständnis von Pflege findet sich in mehreren Interviews wieder und ist im Kontext der Demenzpflege besonders interessant, weil erst im Stadium der schweren Demenz die körperliche Pflege in den Vordergrund tritt und diesem Stadium nicht selten bereits fünf bis zehn Jahre der Unterstützung und Begleitung der leichten bis mittelschweren Demenz der Partner*innen vorausgegangen sind. Dieser zeitliche Bezug passt wiederum sehr gut zum zweiten wichtigen Aspekt in der Aussage von Herrn Pohl. Denn abgesehen davon, dass er die Unterstützung, die er seiner Frau in der aktuellen Phase der Demenz zukommen lässt, nicht als Pflege versteht, spielt er selbst auch auf den zeitlichen, genauer gesagt, lebenszeitlichen Faktor für die Entstehung des Bedürfnisses nach Auszeiten an. So ist das Gefühl bei ihm, wie er sagt, noch nicht vorhanden, wird aber im Laufe der Zeit, konkret angesichts des Wandels der zu leistenden Unterstützung seiner Frau bereits antizipiert. Die in der alltagszeitlichen Dimension bereits erkennbare Entgrenzung der Pflege scheint dem13
Hier sei noch einmal an das vorliegende Begriffsverständnis von Pflege erinnert, demzufolge die hier empirisch im Fokus stehenden Praktiken der informellen Pflege sämtliche direkten, indirekten und unterstützenden Sorgearbeiten umfassen, die sich in der Beziehung zwischen Menschen »aus dem Werden und Vergehen des Lebens ergeben« (Klinger 2014: 83; vgl. Kap. 2.1). Die Formen der Sorgearbeit sind nach ihren handlungspraktischen Inhalten ausdifferenziert. Das bedeutet, die direkten Sorgearbeiten umfassen sämtliche Tätigkeiten mit Körperbezug, wohingegen es bei den indirekten Sorgearbeiten eher um die Beaufsichtigung der pflegebedürftigen Person geht und die unterstützenden Sorgearbeiten schließlich vor allem reproduktive Tätigkeiten wie Putzen oder Kochen betreffen (vgl. Knobloch 2013: 11).
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nach noch nicht ausreichend stark mit der auf Dauer angelegten lebenszeitlichen Dimension verwoben. Daraus lässt sich die Vermutung ableiten, dass es typischerweise erst einer bestimmten lebenszeitlichen Dauer der Pflege in Kombination mit der Notwendigkeit körperlich verankerter Pflegepraktiken bedarf, um das Bedürfnis nach Begrenzung der Pflege wachsen und schließlich auch in spezifische Praktiken der zeitlichen Begrenzung übergehen zu lassen. Zusammenfassend lässt sich für die Anfangsphase der Demenzpflege festhalten, dass die – subjektiv oder medizinisch objektiv gestellte – Diagnose der Demenz eine grenzförmige biografische Zäsur darstellt, die den ursprünglichen lebenszeitlichen Ruhestandsplänen Grenzen aufzeigt. Die betroffenen Paare begeben sich daraufhin in eine neue Sequenz innerhalb der Dimension der linear verlaufenden Lebenszeit und stehen nun vor der Herausforderung, die zyklische Alltagszeit neu zu ordnen. Dabei konnte am Fall von Herrn Pohl exemplarisch aufgezeigt werden, dass es im Alltag zunächst zu einer zeitlichen Entgrenzung jener Praktiken kommt, die im Zusammenhang mit der Demenzpflege stehen. Die zyklisch wiederkehrende Verschwendung von Zeit für das Suchen vermisster Artefakte stellt dabei eine charakteristische Form der Zeitverwendung in der partnerschaftlichen Begleitung der Phase der leichten Demenz dar. Der aus der Entgrenzung der Pflegezeiten hervorgehende Mangel an Aus- und Eigenzeiten wird zwar wahrgenommen, mündet aber noch nicht in das Bedürfnis nach zeitlicher Begrenzung, weil zum einen das Leben mit Demenz gerade erst begonnen hat und zum anderen die vorrangig kognitiv notwendigen Hilfen nicht körperlich genug erscheinen, um als Pflegepraxis gedeutet zu werden. Im Verlauf der weiteren Analysen und mit Blick auf die zeitlichen Herausforderungen der pflegenden Partner*innen im Umgang mit dem Krankheitsstadium der mittelschweren Demenz wird sich jedoch zeigen, dass es nicht unbedingt der körperlichen Belastung durch die Pflege bedarf, damit die pflegenden Partner*innen an ihre Grenzen stoßen.
6.3.2
Zeitliche Herausforderungen in der zweiten Phase der Demenzpflege
Der Übergang vom Anfangsstadium der Demenz in die mittelschwere Demenz erfolgt entsprechend des Krankheitsbildes schleichend, was sich auch mit den subjektiven Erfahrungen der pflegenden Partner*innen deckt. Dabei nehmen die Pflegenden selbst keine explizite Trennung zwischen den beiden
6. Zeitliche Be- und Entgrenzungen der häuslichen Demenzpflege
Phasen vor. In der empirischen Analyse der Interviews wird aber durchaus ein Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Phase der Demenzpflege sichtbar. Dieser findet sich in den Narrationen zumeist an der Stelle, an der rückblickend oder mit Bezug auf die gegenwärtigen Pflegeanforderungen geschildert wird, dass es aufgrund massiv abnehmender Selbstständigkeit der erkrankten Partner*innen in Kombination mit zunehmend herausforderndem Verhalten (vgl. Kap. 2.2) zu einer deutlichen Steigerung des zeitlichen Aufwands für die Unterstützung gekommen ist. Im Fall von Frau Hahn beispielweise kann der zum Zeitpunkt des Interviews erst relativ kurz zurückliegende Übergang in die zeitaufwendigere Phase der Demenzpflege daran festgemacht werden, dass sie ihren Mann jetzt beim Austragen der Zeitung im Dorf begleiten muss und ihn auch nicht mehr allein in den etwas entfernt liegenden Garten schicken kann, weil er sonst eventuell das Dach des Gartenhauses abdeckt – »Dann ist es eben besser, du bist mit dabei.« (Hahn: 706). Die Verwobenheit der beiden zeitlichen Dimension wird hier einmal mehr darüber sichtbar, dass die auf der linear verlaufenden Lebenszeitdimension situierte zweite Subsequenz der Demenzpflege an die geschilderte Notwendigkeit zur Änderung der zyklisch wiederkehrenden Alltagspraktiken geknüpft ist. Begleitete die pflegenden Partner*innen in der ersten Phase noch das Gefühl, dass es insgesamt einfach »sehr viel Zeit braucht« (Pohl: 304), um den Partner*innen zu helfen, setzt in der zweiten Phase bereits die Zeitnot ein: »Es reicht die Zeit einfach nicht. (…) Und je mehr das wird, dass ich dann eben auch beim Aufstehen, beim Waschen, beim Zähneputzen mit hingucken muss, mindestens. Wenn er dann das dritte Mal zum Frühstück runterkommt und die Zähne sind immer noch oben. Na, dann muss ich halt mit hochgehen.« (Kleber: 642ff) Was Frau Kleber hier beschreibt, ist der von ihr erlebte Übergang in die mittelschwere Demenz ihres Mannes. Immer häufiger kommt es dazu, dass die bis dato selbstverständlichen Praktiken der Körperpflege von ihrem Mann nicht mehr erinnert und durchgeführt werden, weshalb die Unterstützung, die sie ihm gegenüber leisten muss, immer kleinteiliger und so zeitintensiv wird, dass die zur Verfügung stehenden zeitlichen Ressourcen tendenziell überansprucht scheinen. Doch wie kommt es dazu und welche Konsequenzen lassen sich vor dem Hintergrund dieser erweiterten Entgrenzung des zeitlichen Pflegeaufwands im Hinblick auf die individuelle Handlungspraxis beobachten?
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Häusliche Pflege am Limit
Im Sample fällt für die Demenzpflege im mittelschweren Stadium zunächst einmal Folgendes auf: Haben im Anfangsstadium alle Interviewten noch in dem Sinne ähnlich gepflegt, dass – abgesehen von Herrn Steg – niemand bereits professionelle Hilfen in Anspruch genommen hat, so differenziert sich die Situation der Pflegenden in der zweiten Phase der Demenzpflege schon deutlicher aus. Dazu bietet sich an dieser Stelle der Auswertungen eine Übersicht zum Sample an, aus der ersichtlich wird, in welcher Phase die Befragten zum Zeitpunkt des Interviews pflegen (vgl. Tab. 2 7) und welche Formen der professionellen oder privaten zeitlichen Unterstützung innerhalb der jeweiligen Phase in Anspruch genommen wurden und werden (vgl. Abb. 6). Tabelle 2: Phasen der Demenzpflege zum Zeitpunkt des Interviews 1. Phase
2. Phase
3. Phase
Herr Pohl
Frau Hahn Frau Kleber Frau Zapf Herr Briese Herr Franz Herr Klopp
Frau Heinrich Frau Maler Frau Moser Frau Werner Herr Dreher Herr Steg Herr Thiel
Die Tabelle zu den Phasen der Demenzpflege hat vorrangig informativen Charakter und ermöglicht es den Leser*innen, im Verlauf der Auswertungen bei Bedarf immer wieder die nachvollziehen zu können, in welcher Phase sich die jeweils zitierte Person zum Zeitpunkt des Interviews gerade befand (vgl. Tab. 2). In der Auswertung der jeweiligen Phase kommen dann zwar vorrangig jene Interviewten zu Wort, die zum Interviewzeitpunkt gerade in dieser Phase pflegten – was insbesondere daran liegt, dass die subjektiven Deutungen der gegenwärtigen Situation besonders ausführlich ausfallen und dementsprechend gehaltvoll für die Analysen sind. Darüber hinaus werden aber auch immer wieder pflegende Partner*innen zitiert, die sich rückblickend über die jeweilige Phase der Demenzpflege äußern. Das bedeutet, dass mithilfe der Tabelle auf einen Blick nachvollzogen werden kann, dass Personen wie Frau Heinrich, Frau Moser oder Herr Steg für alle drei Phasen von Bedeutung sind, während Herr Pohl beispielsweise ausschließlich für die erste Sequenz der Pflege sprechen kann.
6. Zeitliche Be- und Entgrenzungen der häuslichen Demenzpflege
Anknüpfend an die Übersicht zu den Phasen der Demenzpflege wurde das Sample außerdem danach aufgeschlüsselt, wer von den Interviewten in welcher Phase der Demenzpflege zeitliche Unterstützungspraktiken in Anspruch genommen hat (vgl. Abb. 6). Diesbezüglich ist es erstmal nicht so relevant, in welchem Ausmaß die Unterstützung erfolgt ist, sondern vielmehr, wann die Grenze erreicht wird, an der eine zeitliche Entlastung eingefordert wird. Ohne hier den weiteren Auswertungen vorweggreifen zu wollen, zeigt sich dabei, dass die professionelle Unterstützung im (linearen) Verlauf der Pflege zunehmend an Bedeutung gewinnt. Entsprechend der methodischen Konzeption der vorliegenden Arbeit verfolgen die tabellarischen Überblicke jedoch nicht das Ziel, Häufigkeiten abzubilden, sondern dienen vielmehr der Veranschaulichung der Diversität des Samples sowie der Erhöhung der Transparenz meiner qualitativ-methodischen Arbeit mit den Daten. Was genau aber bedeutet nun die erwähnte Ausdifferenzierung der zeitlichen Pflegepraxis innerhalb der zweiten Phase der Demenzpflege für die hier im Mittelpunkt des Interesses stehenden zeitlichen Herausforderungen und die zunehmende Zeitnot im Pflegealltag? Zunächst einmal fällt auf, dass sich der Alltag dahingehend ändert, dass Ausschlafen keine Option mehr ist und man nur auf den Wecker verzichtet, wenn man sich darauf verlassen kann, jeden Morgen von selbst zur gleichen – ausreichend frühen – Zeit aufzuwachen. Denn »kullert« (Kleber: 388) man am Morgen zu lange im Bett rum, dann »fehlt die Zeit.« (Franz: 440) Dabei ist es irrelevant, ob die Partner*innen morgens von den Pflegenden selbst versorgt werden, zu einer bestimmten Uhrzeit abfahrbereit für die Tagespflege sein müssen oder durch eine professionelle Pflegekraft gewaschen und angezogen werden. So muss Herr Franz spätestens um 8 Uhr aufstehen, weil er sonst im Verlauf des Tages nicht alle anfallenden Aufgaben im Haushalt und in der Versorgung seiner Frau schafft (vgl. ebd.: 430ff). Frau Kleber stellt sich den Wecker immer an den Tagen auf 7 Uhr, an denen ihr Mann kurz vor 8 Uhr für die Tagespflege abgeholt wird. Und Herr Briese steht sogar bereits um 5 Uhr in der Früh auf, damit seine Frau um 8 Uhr für den Fahrdienst abholbereit ist. Dies begründet er zum einen über seine eigenen – mit seiner Hochaltrigkeit verknüpften – gesundheitlichen Einschränkungen und zum anderen aber auch darüber, dass die Unterstützung seiner Frau bei der Morgentoilette viel Zeit in Anspruch nimmt. Allein das Anziehen wird da bereits zum Geduldsspiel: »Und beim Anziehen geb ich ihr dann die Kleidungsstücke richtig hin. Ich muss ihr wieder, immer wieder helfen. Und dann/äh/das dauert eine gute Dreiviertelstunde bis eine Stunde, je nachdem, wie es klappt.« (ebd.: 486ff)
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Häusliche Pflege am Limit
Abbildung 6: Überblick zur Inanspruchnahme von Unterstützung in der jeweiligen Phase der Demenzpflege
Die zeitliche Herausforderung besteht für Herrn Briese hier darin, durch die Tagespflege einerseits in feste Terminvorgaben eingebunden und dafür
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verantwortlich zu sein, dass seine Frau auch wirklich fertig ist, wenn der Fahrdienst sie abholen kommt. Andererseits muss er jedoch auch damit umgehen, dass seine Frau entsprechend des Krankheitsbildes der Demenz von Tag zu Tag anders reagiert und sich keine wirklich verlässlichen zeitlichen Routinen in der Morgentoilette etablieren lassen. Er löst diesen Zeitkonflikt, indem er deutlich eher aufsteht als früher und dadurch zeitliche Puffer anlegt, die etwaige Komplikationen im Vorfeld des Termins abzufangen vermögen. Die zeitliche Entgrenzung der Demenzpflege erfolgt hier demnach über die Handlungspraxis, die eigenen Schlafenszeiten und damit die Zeiten individueller Regeneration zu verkürzen, was nicht ohne Folgen für das subjektive Belastungsempfinden und die Grenzen der (körperlichen) Belastbarkeit bleibt (vgl. Kap. 8.2). Mit der beschriebenen zeitlichen Herausforderung ist Herr Briese bei weitem kein Einzelfall. Herr Steg hat dieses morgendliche Problem gelöst, indem er seine Frau nicht mehr vom Fahrdienst abholen lässt, sondern selbst zur Tagespflege fährt und dadurch nicht mehr an feste Zeiten gebunden ist. Herr Klopp wiederum erhält unter der Woche morgens Hilfe von einer Pflegefachkraft, die seine Frau wäscht und anzieht, weil er sich, wie er selbst sagt, erst noch qualifizieren müsse (Klopp: 212), um im Umgang mit den unvorhersehbaren Verhaltensweisen seiner Frau gelassener zu werden und weniger affektiv zu reagieren. Bei der Pflegefachkraft hingegen gehe das morgens alles deutlich schneller: »Schwupp, schwupp, schwupp. Also das sind ja bloß zehn Sekunden. Da hat sie das ausgezogen und schon steht sie im Bad und wäscht. […] Aber es ist für mich eine Erleichterung. Es soll mir ja helfen. Während die sie hier fertig macht, kann ich mich in Ruhe schon an den Frühstückstisch setzen. Wenn sie fertig ist, […] dann können wir beide frühstücken. Das müsste ich sonst vorneweg machen, ja?« (ebd.: 877ff) Hier zeigen sich die unterschiedlichen Praktiken im Umgang mit den zeitlichen Anforderungen in der Demenzpflege. Denn während Herr Briese früher aufsteht, um seine Frau rechtzeitig abholbereit zu haben, holt sich Herr Klopp Hilfe und setzt damit der weiteren Vorverlagerung des Tages- und Pflegebeginns eine zeitliche Grenze. Die von Herrn Klopp überspitzt benannten zehn Sekunden, die die Pflegefachkraft für das An- oder Ausziehen benötigt, verweisen im Vergleich zu der von Herrn Briese morgens benötigten Dreiviertelstunde bis Stunde besonders eindrücklich auf die Unterschiede zwischen den ökonomisch durchgetakteten Zeiteinheiten in der professionellen Pflege und der Laienpflege, welche eher auf das Erlernen von Geduld im Umgang mit den
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betroffenen Angehörigen ausgerichtet ist, als auf das Erlernen zeitsparender Handgriffe. Dennoch lässt sich an diesen Beispielen eine gemeinsame Tendenz in Bezug auf den Umgang mit der Zeit in der Demenzpflege erkennen, die unabhängig davon ist, ob sich die pflegenden Partner*innen Hilfe holen oder nicht, beziehungsweise ob sie die Pflegezeiten eher weiter entgrenzen oder aber anfangen, diese zu begrenzen: In der zweiten Phase der Demenzpflege läuft es bei allen Interviewten darauf hinaus, dass die zyklische Pflegepraxis des Alltags mehr und mehr dem Diktat der Uhr unterliegt. Ursprünglich wurde die Redewendung vom »Diktat der Uhr« von der britischen Soziologin Barbara Adam geprägt. In ihrer gleichnamigen Publikation14 setzt sie sich aus theoretischer Perspektive mit der Komplexität sozialer Zeit auseinander, leitet die historische Entwicklung der Rationalisierung von Zeit her und macht deutlich, wie die Arbeitszeit zum bedeutenden Taktgeber für verschiedenste gesellschaftliche Teilbereiche wie den der Erziehung, der Gesundheit oder der Umwelt werden konnte (vgl. Adam 2005: 121ff). Wie sich in der vorliegenden Untersuchung zeigt, gilt dies auch für den gesellschaftlichen Teilbereich der informellen Demenzpflege. Neben den bereits hergeleiteten zeitlichen Bindungen, die mit der Inanspruchnahme zeitökonomisch getakteter Pflegedienstleistungen einhergehen und bei den Betroffenen nicht selten das Gefühl einer »Arbeitswoche« erzeugen (Klopp: 1454), lassen sich aber noch zwei weitere Faktoren identifizieren, die das Diktat der Uhrzeit im Pflegealltag bestärken. Dies sind zum einen die Medikamente, die die Pflegenden ihren Partner*innen in der Regel morgens und abends zu festen Uhrzeiten verabreichen müssen. Zum anderen bekommen die Pflegenden von professioneller Seite häufig die Empfehlung, ihren Alltag den Partner*innen mit Demenz zuliebe möglichst klar entlang bestimmter Uhrzeiten zu strukturieren. So berichtet Frau Kleber davon, dass sie selbst eigentlich nicht sehr viel Wert darauf lege, immer wissen zu müssen, wie spät es ist. Ihr Mann sei da allerdings mittlerweile anders: »ER braucht es ganz genau. […]Er sagt es mir dann auf die Sekunde genau, wenn ich eine Uhrzeit wissen will. Dabei will ich bloß wissen, ob es halb oder UM ist (lacht).
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Ich beziehe mich hierbei auf die 2005 erschienene deutsche Übersetzung ihrer bereits 1995 im angelsächsischen Raum veröffentlichten Publikation »Time Watch. The Social Analysis of Time« (ebd. 2005).
6. Zeitliche Be- und Entgrenzungen der häuslichen Demenzpflege
[…]Da gebe ich mir jetzt Mühe, dass wir immer zu einer bestimmten Uhrzeit essen, aber ich schaffe das nicht. Also, so wie die Nachbarin, dass es da um elf MITTAGESSEN gibt, das würde ich sowieso nicht hinkriegen. […] Und, aber ich versuche immer so um zwölf, spätestens halb eins rum dann ein Mittagessen auf dem Tisch zu haben. […] Einfach, weil es heißt, dass bei Demenzkranken der Tagesablauf einen bestimmten Rhythmus haben soll und nicht so durcheinander kommen. Ist klar. Wenn das immer wieder jeden Tag was anderes ist, können sie sich auf nichts einstellen.« (ebd: 1748ff) Während es für Frau Kleber ausreichend ist, ihr im Alltag nach wie vor gut funktionierendes Zeitgefühl hin und wieder mit einer ungefähren Uhrzeit abzugleichen, benötigt ihr Mann die Zeitangaben so detailliert wie möglich, da ihm sein Gefühl für Tages- und Uhrzeiten im Verlauf der Demenz bereits abhandengekommen ist. Dabei bleibt es offen, ob die abgelesenen Uhrzeiten von Herrn Kleber überhaupt noch in den Kontext der Zeit eingeordnet werden können oder für ihn einfach eine interessante Aneinanderreihung von Zahlen darstellen. Sein Interesse an den Uhrzeiten passt für Frau Kleber allerdings gut zu dem Wissen über Demenz, das sie sich im Rahmen der Angehörigenschulung angeeignet hat. Und so bemüht sie sich, dieses Wissen in der alltäglichen Pflegepraxis umzusetzen, legt dabei aber besonderen Wert darauf, sich von ihrer Nachbarin abzugrenzen, die ebenfalls im Ruhestand ist, aber keine Pflegeverpflichtungen hat. Ohne es dezidiert auszuführen, ruft Frau Kleber mit dieser Nebenbemerkung ein negatives Bild vom Ruhestand auf, welches tief verankert ist und immer wieder in Interviews mit Ruheständler*innen auftaucht (vgl. Denninger et al. 2014: 224f). Die Negativfolie, von der es sich abzugrenzen gilt, ist die eines passiven und leeren Ruhestandsalltags, in dem feste Essenszeiten zum einzigen Anhaltspunkt innerhalb des ansonsten ereignislosen Tages werden. Die Gründe, warum man selbst nicht diesem Typus von Ruheständler*innen entspricht, können dabei sehr individuell sein (vgl. ebd.). In der vorliegenden Untersuchung ist es allerdings bei allen Befragten das biografische Merkmal der Pflegeverpflichtung, das als Begründung dafür angeführt wird, warum sie ein anderes Ruhestandsleben als die breite Masse der anderen Ruheständler*innen führen. Dementsprechend weist auch Frau Kleber darauf hin, dass die festen Essenszeiten ihrer Nachbarin für sie gar nicht zu schaffen wären. Die von ihr als Versuch formulierte Praxis, das Essen stattdessen aber zwischen zwölf und halb eins fertig zu haben, kann diesbezüglich als eine Art Kompromiss zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und denen ihres Mannes gedeutet werden, innerhalb dessen sie
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zugleich auch vermeidet, sich auf die Minute genau dem Diktat der Uhr zu beugen – oder, um es in den Worten von Herrn Briese zusammenzufassen: »[I]ch lass mich durch die Uhr nicht tyrannisieren, […].« (ebd.: 722) Bis hierher dürfte deutlich geworden sein, dass die zeitliche Entgrenzung der Pflege mit fortschreitender Demenz der Partner*innen tendenziell weiter zunimmt, da die notwendige Unterstützung kleinschrittiger und zeitaufwendiger wird. Begrenzungen der Pflegepraxis aus Gründen zeitlicher Erleichterung finden sich hingegen eher punktuell. Zugleich bedürfen die Partner*innen mit Demenz als Ausgleich zunehmender Orientierungslosigkeit in Zeit und Raum einer gesteigerten Strukturierung des Tages, die zusammen mit festen Zeiten für Medikamente und etwaigen Terminen im Kontext der professionellen Pflegeunterstützung das Diktat der Uhr und das Gefühl latenter Zeitnot erzeugen. Da die pflegebedürftigen Partner*innen nicht mehr selbst an der Zeitgestaltung des Ruhestandsalltags mitwirken können, wird es im Rahmen der indirekten Sorgearbeit zur Aufgabe der Pflegenden, nicht nur ihre eigenen Zeiten, sondern auch die ihrer Partner*innen zu verwalten. Und sofern diese nicht zur Tagespflege gehen, stehen die Pflegenden in der Zeit zwischen dem morgendlichen Aufstehen, den Mahlzeiten und dem abendlichen ZuBett-Gehen vor der Frage, was sie mit ihren Partner*innen machen. Die Lösungen, die die Pflegenden für diese zeitliche Herausforderung finden, sind von Fall zu Fall verschieden, der Modus im Umgang mit der Zeit ist jedoch überraschend ähnlich, wie sich anhand der folgenden Auszüge zeigt. Als Herr Briese von seinem typischen Tag berichtet, meint er: »Sie ist da völlig abhängig geworden. Und ja und dann ist es so, dass wir da/[…]/ich muss dann sehen, dass sie etwas macht, also Mandala malen macht sie sehr gern, sie hat einen ganzen Ordner voll. Und/äh/da ist sie dann beschäftigt. Da während der Zeit, wo ich dann vorbereite/da das Abendessen.« (ebd.: 519ff) Bei Herrn Franz ergibt sich diese Situation bereits am Vormittag: »Und dann, nach dem Frühstück, habe ich dann Zeit, weil sie sich dann mit dem Fernseher beschäftigt, obwohl dass sie gar nicht weiß, was sie anschaut. (lacht) Und dann habe ich Luft, dass ich irgendwas erledige.« (ebd.: 268ff) Und weil der Mann von Frau Hahn weder fernschaut noch liest und schon gar nicht malt, hat seine Familie für ihn nach Artefakten gesucht, die die Interessen aus seinem Leben vor der Demenz aufgreifen:
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»Und die Kinder wissen aber, dass das sein Leben ist. Denn sein Leben ist nicht das Lesen. Das hat er nie gemacht, […]. Die bringen halt dann mal ein Radio mit, wo sie wissen, das muss verschrottet werden und sagen: ›Kannst du das reparieren?‹ Der repariert das zu Tode, den ganzen Tag. Da hat der zu tun. […] [U]nd eine Zeit lang bleibt er auch alleine, […] dann habe ich mir für den Tag was Technisches gesucht, was er möglichst selber basteln könnte. Was weiß ich, wo nichts passiert oder so. Also Beschäftigung. Gell?« (ebd.: 75ff) Was fällt auf? Zunächst einmal geht es in allen drei Fällen darum, die Partner*innen zu beschäftigen. Der Sinn, den die jeweilige Beschäftigung dabei zu erfüllen hat, ist lediglich der, dass die Partner*innen mit Demenz sich durch dieses Beschäftigungsangebot so angesprochen fühlen, dass sie sich freiwillig damit auseinandersetzen und vor allem auch eine Zeit lang damit allein bleiben können. Der dabei erkennbare Modus des praktischen Umgangs mit der Zeit weist hier durchaus Parallelen zur Praxis des Zeitausfüllens auf, die in meiner Studie zur Wiederherstellung von Alltag nach dem Übergang in den Ruhestand insbesondere bei jenen Ruheständler*innen beobachtbar war, die fremdbestimmt und vorgezogen in den finanziell nicht ausreichend abgesicherten Ruhestand geschickt wurden und mit der plötzlichen Leere des Tages zu kämpfen hatten (vgl. Münch 2014: 33). Und ebendiese Leere des Tages innerhalb der »Lebenswelten ohne Gestern« (Wolter 2016: 69) ist es, die im Kontext der Demenzpflege die Grundlage für die zyklisch wiederkehrende Notwendigkeit zur pflegerischen Praxis des Zeitausfüllens bildet.15 Im Hinblick auf die Zeit der Pflegenden finden sich zumindest in dieser Phase keine Anhaltspunkte dazu, dass es auch für sie selbst darum geht, die Zeit des Tages einfach nur irgendwie auszufüllen. Stattdessen wird in den Interviewausschnitten von Herrn Briese, Herrn Franz und Frau Hahn sehr gut deutlich, dass es darum geht, die Partner*innen zu beschäftigen, um darüber ein Zeitfenster zu erhalten, in dessen Rahmen die zur Verfügung stehende Zeit für notwendige Sorgearbeiten im Haushalt genutzt werden kann, die gemeinsam mit den Partner*innen nur noch schwer zu erledigen sind. 15
Diesbezüglich sei allerdings ausdrücklich darauf verwiesen, dass es natürlich in keiner Weise darum gehen soll, diese Gruppe von Ruheständler*innen mit den an Demenz erkrankten Personen gleichzusetzen. Stattdessen geht es hier lediglich um die Beobachtung eines vergleichbaren Duktus, der im vorliegenden Sample ja nicht von den Personen mit Demenz selbst konstruiert wird, sondern von den pflegenden Partner*innen im Kontext der narrativen Rekonstruktion der zeitlichen Herausforderungen, mit denen sie im Pflegealltag konfrontiert sind.
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Die Praxis des Ausfüllens der ansonsten leeren Zeit der Partner*innen mit Demenz kann dabei durchaus als eine Form der Begrenzung verstanden werden, die sich jedoch nicht auf die Begrenzung der Pflege per se bezieht, sondern auf die Begrenzung des Gefühls, zeitlich vollkommen »beschlagnahmt« (Briese: 814) zu werden, weil die erkrankten Partner*innen dazu neigen, im Verlauf der Demenz immer stärker zu »klammern« (ebd.: 517). Dieses Klammern dehnt sich in der zweiten Phase der Demenzpflege bei einigen Betroffenen insbesondere auf die Abende aus. Da allerdings die Abende im Tagesverlauf häufig die einzigen Inseln der Eigenzeit darstellen, ist der Wunsch und das Streben nach Begrenzung der Pflege abends auch am deutlichsten erkennbar: »Sagen wir mal, es hat sich verschlechtert. Jetzt diese Angst immer. Ich kann ja kein Fernsehen mehr sehen. Um 19 Uhr bringe ich sie ins Bett. Fünfzehn Minuten später steht sie hinter mir, im Nachthemd. ›Kommst du denn nicht?‹ Na ja. Ich sage: ›Ich will doch das jetzt gerade noch sehen.‹ Aber na ja, dann bringe ich sie wieder zurück. Zehn Minuten später ist sie wieder ran. Also diese Sache hat sich mächtig/Weil sie jetzt Angst hat. […] Ich möchte aber gerne die Nachrichten hören, weil ich ja nicht lesen kann. Ich habe ja keine Zeit und die Zeitung mir ja abbestellt. Ja.« (Klopp: 259ff) Herr Klopp beschreibt hier eine neue zeitliche Herausforderung, mit der er im Zuge der Verschlechterung der Krankheitssymptome seiner Frau zu kämpfen hat. Konnte er sich bisher an den Abenden ab 19 Uhr anderen Praktiken als der Pflege und Unterstützung seiner Frau widmen, so droht diese zeitliche Grenze zum Zeitpunkt des Interviews gerade dauerhaft eingerissen zu werden. Vor dem Hintergrund der Semantik der Grenze kann das wiederholte Zurückbringen ins Bett als Versuch verstanden werden, die eigentlich bestehende Grenze zwischen Pflegezeit und Eigenzeit aufrechtzuerhalten. Da er sich noch im Prozess der Verteidigung seiner zeitlichen Grenzen befindet, muss für den Fall von Herrn Klopp offen bleiben, ob er damit erfolgreich ist oder er ähnlich wie das Zeitunglesen schließlich auch das Schauen der Nachrichten einstellt. Aus den Fällen im Sample, die rückblickend von diesen Bedürfnisveränderungen der zu pflegenden Partner*innen berichten, lässt sich jedoch ableiten, dass es einige wenige Grenzen gibt, die nicht so leicht aufgegeben werden – und der (Feier-)Abend gehört definitiv dazu. Frau Kleber sitzt diese Phase daher aus und schickt ihren Mann, der ebenfalls allabendlich darauf drängt, mit ihr gemeinsam ins Bett zu gehen, immer wieder »eine
6. Zeitliche Be- und Entgrenzungen der häuslichen Demenzpflege
rauchen, und dann NOCH eine rauchen« (ebd.: 454f), bis sie selbst das Bedürfnis hat, ins Bett zu gehen. Vor dem Hintergrund der sehr unterschiedlichen Grade der professionellen oder auch familiären Unterstützung fällt zudem auf, dass naheliegender Weise insbesondere jene Fälle, die wenig bis keine zeitliche Unterstützung in der Pflege haben, besonderen Wert auf die freie Zeit am Abend legen (vgl. Abb. 6). Herr Franz, der lediglich in Notfällen die Hilfe seiner Tochter oder einer externen Pflegekraft in Anspruch nimmt, steht dementsprechend exemplarisch für eine Praxis des Einforderns von Pflegeauszeiten, die in der zweiten Phase der Demenzpflege von fast allen Befragten begonnen wird, aber bei weitem nicht von allen Befragten aufrechterhalten werden kann: »Und die Zeit stehle ich mir dann. Ja. Die MUSS ich mir stehlen. […] Jeden Donnerstag treffe ich mich mit Freunden. Wenn ich ihr ihr Bett gerichtet habe, eine Wärmflasche und was sie halt wünscht, dann verschwinde ich. Und, na ja, das sind dann so zwei Stunden, wo man dann ganz andere Diskussionen hat, und so weiter. […] Ja, ja, ich versuche irgendwie, wenn es geht, wegzugehen, sonst fällt mir die Decke auf den Kopf.« (ebd.: 308ff) Herr Franz beschreibt hier die Praxis, sich vom Alltagszeitkonto, das er infolge der Doppelbelastung mit Pflegeverpflichtung und Haushaltstätigkeiten als vollkommen geschröpft bezeichnet – »Zeit habe ich gar keine.« (ebd.:713) – trotzdem regelmäßig ein paar Stunden für den Eigenbedarf zu stehlen. Das erkennbare Bestreben, seiner Frau vorher alles recht zu machen, basiert dabei auf der Erfahrung, schneller Zeit für sich zu haben, wenn alles zu ihrer Zufriedenheit und so gewohnt wie möglich abläuft. Die erfolgreich gestohlene Zeit nutzt er dann wiederum dazu, temporär aus seiner Situation auszubrechen und sich über das Verlassen der häuslichen Pflegearena nicht nur räumlich, sondern auch gedanklich zu distanzieren. Interessant ist an dieser in vivo generierten Zeitpraxis hier insbesondere, dass die Verwendung des Begriffs des Stehlens darauf hindeutet, dass Herr Franz sich etwas nimmt, das ihm eigentlich nicht (mehr) gehört. Denn er konstruiert sein Verlassen der Wohnung nicht im reflexiven Sinne als unbemerktes Davonstehlen, sondern er stiehlt sich etwas von einer wertvollen Ressource – der Zeit. Daraus könnte man die Vermutung ableiten, dass das Zeitstehlen erst dann zu einer relevanten Zeitpraxis wird, wenn die subjektive Entgrenzung der Pflegezeiten so weit vorangeschritten ist, das Eigenzeiten zurückerobert und anschließend verteidigt werden müssen. Aus diesem Grund spielt das Zeitstehlen bei Fällen, wie dem von Herrn Steg oder auch Frau Hahn, die regelmäßig von ih-
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Häusliche Pflege am Limit
ren Kindern unterstützt werden, keine nennenswerte Rolle, bei Herrn Franz, Frau Kleber oder auch Frau Heinrich dafür aber umso mehr. Die Praxis des Zeitstehlens zählt dabei zu den Aspekten, die mir in der vorliegenden Untersuchung bereits früh aufgefallen sind und welche die Entwicklung der Grenze als Schlüsselkategorie und zentrale Heuristik in der Analyse der Daten maßgeblich mit beeinflusst haben. Die Anfänge meiner Auseinandersetzung mit Zeit in der Pflege und der Praxis des Zeitstehlens mündeten bereits in eine Publikation, deren Ziel es war, »einen ersten Einblick in die Komplexität der Zeitanforderungen zu geben, mit denen pflegende Angehörige im Ruhestand alltäglich und biografisch konfrontiert sind.« (Münch 2015: 9) Wie bereits angedeutet, bildet das Zeitstehlen einen charakteristischen Modus der Begrenzung der Pflegezeiten im Kontext der mittelschweren Demenz, der allerdings auch in der dritten Phase der Demenzpflege von Bedeutung ist und im weiteren Krankheitsverlauf immer wieder verteidigt werden muss. Bevor ich allerdings auf die zyklischen Zeitpraktiken im Kontext der Pflege der schweren Demenz eingehe, gibt es auf der linear verlaufenden Zeitdimension noch eine Grenze, die im Sample mehrfach auftaucht und in den entsprechenden Fällen in der Zone des Übergangs von der mittelschweren in die schwere Demenz situiert ist, ohne dabei jedoch notwendigerweise das eigentliche Grenzmal für den Wechsel von der zweiten in die dritte Phase der Demenzpflege zu sein. Als ich im Verlauf des Interviews mit Frau Kleber auf das Thema der Endlichkeit des Lebens zu sprechen komme, gesteht sie etwas verlegen ein, dass sie schon die Hoffnung habe, vor ihrem eigenen Ableben irgendwann nochmal wieder etwas mehr Zeit zu haben: »Weil ja immer gesagt wird, das ist dann ENDLICH die Zeit, dass/irgendwann geht es dann nicht mehr. Mhm (bejahend). Die meisten, was ich so gelesen habe, sagen ja immer so, na ja, zehn Jahre etwa, ja. Und da sind wir eigentlich schon drüber raus, denn die ersten Anzeichen habe ich 2005 gemerkt.« (ebd.: 1287ff) Frau Kleber spricht hier einen wichtigen Aspekt an, der bereits in der Beschreibung des Krankheitsbildes (vgl. Kap. 2.2) angedeutet wurde. Die im (populär-)wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs über Demenz gemachten Angaben zur durchschnittlichen Dauer der Erkrankung sind von erheblicher Bedeutung für die pflegenden Angehörigen. Zum Beginn der Demenz geben sie den pflegenden Partner*innen eine Orientierung und schaffen einen (lebens-)zeitlichen Rahmen für die bevorstehenden Jahre. Wird dieser Rahmen jedoch gesprengt und die Erkrankung dauert länger als vom behandelnden Arzt oder der Demenzliteratur prognostiziert, dann tritt eine gewisse Un-
6. Zeitliche Be- und Entgrenzungen der häuslichen Demenzpflege
sicherheit ein. Im Fall von Frau Kleber wird sehr gut deutlich, dass die als selbstverständlich gerahmte Bereitschaft zur Übernahme der partnerschaftlichen Demenzpflege ihre zeitlichen Grenzen haben kann. Die Endlichkeit der Zeit der Demenzpflege, die in der Aussage von Frau Kleber so betont wird, ist dabei nicht gleichzusetzen mit der abstrakten Endlichkeit des Lebens. Vielmehr scheint es eine andere – krankheitsbedingt vorgezogene – Endlichkeit zu sein, in der das Versprechen mitschwingt, dass sie deutlich vor der eigenen Endlichkeit eintritt. Wie sich in einem späteren Abschnitt dieses Kapitels noch zeigen wird, kann diese Endlichkeitsperspektive allerdings in ganz unterschiedliche Erwartungen an die Zukunft münden. Bei jenen Pflegenden, deren Partner*innen zum Zeitpunkt des Interviews schon mehr als ein Jahrzehnt mit der Demenz leben, scheint die Dauer der Pflege allerdings auf jeden Fall thematisierungsbedürftig. Neben der Zäsur des Einstiegs in das Leben als Pflegende*r – zum Zeitpunkt der Demenzdiagnose – und dem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt des Ausstiegs aus dem Leben als Pflegende*r – zum Zeitpunkt des Ablebens der Partner*innen – markiert dieses verbalisierte Nachdenken über die weitere Dauer der Pflege eine weitere wichtige Zäsur auf der Dimension der linear verlaufenden Zeit und ihren Grenzen (vgl. Abb. 5 6). Denn sie verweist nicht nur darauf, dass die Bereitschaft zur (entgrenzten) Pflege vor dem Hintergrund der ablaufenden Lebenszeit begrenzt ist, sondern in den Interviews markiert sie auch so etwas wie einen Wendepunkt, an dem die Pflegenden ihre eigenen Bedürfnisse wieder stärker in den Blick zu nehmen scheinen. Im Fall von Herrn Franz führte die »10-Jahres-Zäsur« dazu, dass er sich psychische Unterstützung holt und sich einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Demenzkranken anschließt: »Ende vergangenes Jahr, da sagte der Neurologe: ›Wissen Sie, Herr Franz, wie lang dass ich Ihre Frau jetzt mit dieser Krankheit betreue?‹ Dann sage ich: ›Na ja, vielleicht sechs Jahre.‹ Dann sagt er: ›Nein, das sind zehn Jahre.‹ Und wie gesagt, also fünf oder sechs Jahre, da habe ich mich erbarmt. Habe ich halt so hingenommen. Bis dann eben der Kollege sagt: ›Du wirst das nicht ewig schaffen.‹ Und der hat dann gesagt: ›Du musst zu einer Gruppe gehen. Du musst das machen.‹ […] Und jetzt bin ich dem Mann heute dankbar. Und seine Frau war auch demenzkrank. Aber die ist da zwischenzeitlich viel schneller gestorben, innerhalb von drei Jahren. Während meine nach zehn Jahren immer noch lebt.« (ebd.: 242ff)16
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Die in dieser Interviewpassage ebenfalls offensichtliche Bedeutung von Geschlecht wird im Kapitel zu den vergeschlechtlichten Be- und Entgrenzungen der Pflege noch
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Herr Franz verdeutlicht in dieser Aussage zunächst einmal, dass das subjektive Zeitgefühl in der Demenzpflege sich nicht unbedingt mit dem chronologischen Zeitverlauf decken muss, die objektiv zählbar gepflegten Jahre aber für die Bewertung der eigenen Situation von höherer Relevanz scheinen, als das subjektive Zeitgefühl. In seinem Fall hat ihn das Gespräch mit dem Arzt auf die bereits erfolgte Dauer von zehn Jahren der Pflege seiner Frau aufmerksam gemacht und die Bereitschaft erhöht, sich auf das zuvor abgelehnte Gruppenangebot der Angehörigenberatung einzulassen. Weiterhin wird einmal mehr deutlich, dass die sehr unterschiedliche Dauer der Erkrankung nicht nur in Unsicherheit, sondern auch gesteigerte Unzufriedenheit im Hinblick auf die eigene Zukunft münden kann. Aus dieser Unzufriedenheit heraus kann das Ableben der pflegebedürftigen Partner*innen dann sogar wünschenswerter sein, als die fortgesetzte gemeinsame Zukunft. Hier variieren die Ansichten im Sample allerdings sehr stark und der Fall von Herrn Franz repräsentiert eher eine extreme Perspektive. Was sowohl im Fall von Herrn Franz als auch insbesondere im Fall von Frau Kleber im Zusammenhang mit der 10-Jahres-Zäsur steht, ist die Logik des Nachholens. Wie bereits thematisiert, spielt diese Logik eine wichtige Rolle bei der Wiederherstellung von Alltag nach dem Übergang in den Ruhestand und kommt aber im Falle der Demenz für die Betroffenen und ihre pflegenden Angehörigen ins Stocken. Doch während die Logik des Nachholens für die Personen mit Demenz im Verlauf der Krankheit in Vergessenheit gerät, bleibt sie bei den pflegenden Partner*innen stets mehr oder weniger präsent und spielt insbesondere bei jenen Befragten eine Rolle, die schon zehn Jahre und länger pflegen. Daher ist die Logik des Nachholens in der dritten Phase der Demenzpflege auch wieder zunehmend in den Praktiken der alltäglichen Zeitgestaltung von Relevanz.
6.3.3
Ambivalente Zeiten in der letzten Phase der Demenzpflege
Der Übergang in die dritte Phase der Demenzpflege wird von der Mehrzahl der Befragten rückblickend über ein kritisches Lebensereignis gerahmt. Dies kann – wie im Fall von Herrn Steg – der Verlust einer nahestehenden Person sein, in den meisten Fällen berichten die Pflegenden allerdings von gesundheitlichen Problemen, die zusätzlich zur Demenz auftreten beziehungsweinäher beleuchtet, weswegen ich an dieser Stelle bewusst noch nicht darauf eingehe, sondern auf den Fallkontrast von Frau Moser und Herrn Franz verweise (vgl. Kap. 7.2).
6. Zeitliche Be- und Entgrenzungen der häuslichen Demenzpflege
se als Begleiterscheinung damit einhergehen und eine Multimorbidität erzeugen, die die erkrankten Partner*innen weitestgehend immobil oder sogar bettlägerig macht. Im Falle der Bettlägerigkeit nehmen zum einen zwar der Anteil und die Notwendigkeit direkter Sorgearbeiten erheblich zu, zum anderen lässt sich aber auch eine Veränderung der zeitlichen Anforderungen an die Pflege erkennen. Denn wenn die Partner*innen mit Demenz sich nicht mehr selbstständig innerhalb der häuslichen Pflegearena bewegen können, ergibt sich daraus nicht selten eine Erleichterung der Pflege, die darauf beruht, dass die Pflegenden nicht mehr so viel Zeit dafür aufwenden müssen, ihre Partner*innen bei Praktiken wie dem Anziehen oder der Morgentoilette schrittweise anzuleiten. Stattdessen gibt es feste Zeiten, zu denen entweder eine professionelle Pflegekraft diese Praktiken – nicht selten aufgrund vergeschlechtlichter Grenzen der Pflegenden – übernimmt oder aber die Pflegenden selbst (vgl. Kapitel 7). Dadurch entsteht die Möglichkeit, die Pflege zeitlich wieder ein Stück weit mehr zu begrenzen: »[I]ch habe dann, seitdem er liegt, […] dann habe ich ja auch gemerkt, du kriegst 28 Tage Behinderung/Verhinderungspflege und da habe ich gedacht, so, nein, das machst du jetzt. […] Und das hat mir SO gutgetan, da waren wir erst zuhause in meiner Heimat und dann habe ich gedacht, so, du fährst mal/hatte ich mich mit meiner Freundin, […] und da hatte ich angefragt, ob ich mal kommen kann. Und (lachend) das erste Mal seit langem wieder Zug (lacht). (lachend) Das war sowas von SCHÖN.« (Werner: 92ff) Den rechtlichen Anspruch auf Verhinderungspflege hatte Frau Werner bereits lange, bevor ihr Mann bettlägerig wurde.17 Der subjektiv richtige Zeitpunkt für die Inanspruchnahme scheint aber erst gekommen, seitdem er liegt. Die Begeisterung über die Auszeit, die anhand der Betonung einzelner Wörter und dem wiederholten Lachen aus dieser Passage des Gesprächs spricht, kommt vergleichsweise selten im restlichen Interviewverlauf vor und unterstreicht die Unzufriedenheit von Frau Werner mit ihrer sonstigen Situation (vgl. Kap. 7.3.4). Im Anschluss an diese Auszeit stellt Frau Werner auch ihren Pflegealltag weiter um und trifft sich unter der Woche wieder regelmäßiger mit
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Auch vor der jüngsten Pflegereform erwarb man als pflegender Angehöriger bereits einen Anspruch auf insgesamt 28 Tage Verhinderungspflege, sobald die zu pflegende Person die geringste Pflegestufe zugeteilt bekam und man mindestens seit zwölf Monaten die Hauptpflegeperson war. Seit 2008 erhielt man diesen Anspruch dann bereits nach sechs Monaten der Pflege (vgl. Kap. 2.3).
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Häusliche Pflege am Limit
Bekannten oder geht mit einem befreundeten Nachbarn gemeinsam Essen. Und damit ist Frau Werner kein Einzelfall. Auch Frau Maler geht beispielsweise abends wieder regelmäßiger ins Kino und Herr Dreher hat keine Probleme mehr, seinen wöchentlichen Saunatag wahrzunehmen. Von Bedeutung ist es dabei auch, dass nicht nur der physische, sondern auch der kognitive Zustand der Partner*innen in diesem Stadium der Demenz so beeinträchtigt ist, dass die Pflegenden von einem (auch) tagsüber deutlich erhöhten Schlafbedürfnis der Partner*innen berichten. Je weniger sie demnach von den pflegebedürftigen Partner*innen im Hinblick auf die Gestaltung der Zeit gefordert werden, desto mehr Inseln für Eigenzeit tauchen wieder auf und werden – wenn möglich – auch wieder aktiver wahrgenommen. Demgegenüber stehen jedoch jene Fälle, deren Partner*innen zwar schon schwer dement sind, aber noch nicht liegen oder aus anderen Gründen nicht allein gelassen werden. Frau Heinrich beschreibt diesbezüglich das Problem, dass ihr Mann dazu neigt, sich den Blasenkatheter oder künstlichen Darmausgang herauszuziehen, wenn sie nicht bei ihm ist. Herr Stegs Frau ist noch vergleichsweise mobil, aber kognitiv bereits schwer dement und kann aus diesem Grund nicht allein gelassen werden. Und Frau Moser möchte ihren Mann nicht »einsperren« (ebd.: 261) und berichtet von seiner ängstlichen Erregtheit, sofern sie nicht in seiner Nähe ist. In diesen Fällen kommt es zu einer zeitlichen Herausforderung im Pflegealltag, die in den Situationen eintritt, in denen keine professionelle oder familiäre Unterstützung möglich ist und die Partner*innen aber auch bereits zu dement sind, als dass sie über das Ausfüllen der Zeit in ausreichendem Maße beschäftigt werden könnten: »Wenn sie da ist, […] mach ich mit ihr dann bissel draußen rum im Garten oder so was, also was im Wesentlichen rumlaufen und Sachen angucken. Da ist eine blaue Blume und da ist eine rote Blume und so weiter. […] Sich mit ihr beschäftigen und […] dann/äh/kann man/äh/ihr Bilder geben zum Anschauen und das macht sie teilweise. […] Ja und die ZEIT TOTSCHLAGEN irgendwie. Was sollen sie sonst machen?« (Steg: 316ff) Herr Steg berichtet in dieser Passage des Interviews von den Tagen am Wochenende, an denen er seine Frau nicht zur Tagespflege bringen kann. Die von ihm hier als besondere Herausforderung beschriebene Praxis des Zeittotschlagens erinnert auf den ersten Blick an eine besonders drastisch beschriebene Form des Zeitausfüllens. Schaut man sich jedoch zusätzlich zu Herrn Steg auch die zeitbezogenen Narrationen der anderen Fälle an, deren Partner*innen bereits im Stadium der schweren Demenz sind und vergleicht diese noch
6. Zeitliche Be- und Entgrenzungen der häuslichen Demenzpflege
einmal systematisch mit den Narrationen jener Pflegender in der zweiten Phase, dann wird ein Unterschied zwischen den zeitlichen Herausforderungen in der zweiten und dritten Phase der Pflege deutlich, der das Zeittotschlagen zu einer eigenen, für diese letzte Phase der Demenzpflege charakteristischen Form des praktischen Umgangs mit Zeit macht. Der wesentliche Unterschied zwischen Zeitausfüllen und Zeittotschlagen liegt hierbei darin, dass es jetzt nicht mehr nur darum geht, für die Partner*innen mit Demenz irgendeine Form der Beschäftigung zu finden, mit der deren Zeit ausgefüllt werden kann, während die Pflegenden selbst Zeitfenster erhalten, um andere Aufgaben zu erledigen. Stattdessen mündet die Zeitgestaltung in diesen Zeitfenstern innerhalb der Pflege in die Praxis des Zeittotschlagens, weil die Pflegenden immer (häufiger) dabei bleiben müssen und sich, wie im Fall von Herrn Steg mit den Partner*innen zusammen beschäftigen müssen und dabei in der Regel nur noch auf gemeinsame Praktiken zurückgreifen können, die von den Pflegenden selbst als kognitiv höchst unbefriedigend gedeutet werden. Und während Herr Steg an den Wochenenden wieder und wieder mit seiner Frau durch den Garten geht und die Blumen anschaut, schlägt Frau Moser wiederum die Zeit mit ihrem Mann auf der Couch vor dem Fernseher tot und ist mit dieser Situation sehr unzufrieden: »Ich habe viel zu viel Zeit, vor dem Fernseher zu sitzen. […] Ich habe viel zu viel Zeit. Ich möchte diese Freizeit, die wir haben, wenn man dann gespült hat und alles, dann bis zum Abendessen wäre ja Zeit. Aber er konnte ja nicht gehen, dass man sagt: Na, wir gehen jetzt spazieren. Das geht nicht. Dann sitzt man hier in der Wohnung. Die Bekannten sind auch alle weit weg und kann man nicht gehen. Und so ist die Zeit, wie soll ich sagen, so traurig. Man weiß nicht, man soll immer im Fernsehen sehen, was einen oft nur aufregt. […] Dass wir diese vielen Jahre nicht haben leben KÖNNEN so wie/für Freizeit/und wie wir das gerne gemacht hätten, das ist traurig. Aber wenn es nicht geht, geht es nicht.« (ebd.: 284ff) Frau Moser macht hier deutlich, dass die ansonsten vorrangig vorherrschende Zeitnot bei ihr zwischen den Schlafens- und Mahlzeiten von einem anderen subjektiven Zeitextrem flankiert wird – dem Gefühl viel zu viel Zeit zu haben. Das beschriebene Zuviel entsteht dabei nicht aus der quantifizierbaren Dauer bestimmter Praktiken wie Fernsehschauen, sondern aus der subjektiven Deutung, die vorhandene Zeit nicht für jene Praktiken nutzen zu können, die als befriedigend oder zumindest notwendig empfunden werden – man denke hier an die Aufgaben im Haushalt.
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Häusliche Pflege am Limit
Darüber hinaus wird bei dieser zeitlichen Herausforderung in der dritten Phase der Demenzpflege nicht nur deutlich, dass Zeit und Raum episodisch miteinander verflochten sind, sondern es wird auch einmal mehr die Verwobenheit der alltagszeitlichen Dimension mit der lebenszeitlichen Dimension deutlich. Denn zum einen erzählt sich Frau Moser als unzufrieden darüber, aufgrund der Immobilität ihres Mannes tagtäglich in der häuslichen Pflegearena festzusitzen und zum anderen stellt sie über die Erwähnung dieser vielen Jahre, die sie rückblickend in ihrem Ruhestand mit ihrem Mann nicht entsprechend der Logik des Nachholens hat nutzen können, einen lebenszeitlichen Bezug her. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sie ihre eigene Gesundheit infolge der jahrelangen Pflege als sehr schlecht einschätzt, lässt die etwas fatalistisch anmutende Bewertung ihrer Situation die Annahme zu, dass ein Nachholen der gewünschten Aktivitäten in einem zukünftigen Leben nach der Pflege für sie keine Option darstellt. Zu beachten ist an dieser Stelle, dass das Zeittotschlagen in dieser Phase der Demenzpflege zwar unabhängig vom Ausmaß der Unterstützung im Pflegealltag sämtlicher Betroffenen von Relevanz ist, die subjektive Deutung der verlorenen beziehungsweise totgeschlagenen Lebenszeit allerdings nur in jenen Fällen thematisiert wird, die – wie die Fälle von Frau Moser oder Frau Heinrich zeigen – über einen längeren Zeitraum tagtäglich ohne nennenswerte Unterstützung und die Möglichkeit zur zeitlichen Abgrenzung damit konfrontiert sind, die Zeit nicht auf subjektiv sinnvoll erscheinende Weise nutzen zu können (vgl. Abb. 6). Bis hierher dürfte bereits deutlich geworden sein, dass die Phase der Pflege der schweren Demenz tagsüber durch sehr gegensätzliche Zeitanforderungen geprägt ist. Denn während die einen die Pflege infolge der zunehmenden Immobilität zeitlich wieder mehr begrenzen können, kommt es bei anderen zu einer noch stärkeren Entgrenzung jener Zeiten, die ausschließlich der Pflege der Partner*innen zuteilwerden. Ähnlich gegensätzlich steht es in dieser Phase der Pflege auch um die Nächte der Pflegenden. Denn während Herr Dreher, Herr Thiel, Frau Werner oder auch Frau Maler davon berichten, dass ihre Nächte deutlich ruhiger sind, seitdem die Partner*innen sich im Stadium der schweren Demenz befinden, sind es erneut Frau Heinrich (vgl. Kap. 6.2) und Frau Moser, die in erheblichem Maße unter der nächtlichen Unruhe ihrer Ehemänner leiden: »[U]m zehn Uhr, dann gehen wir ins Bett und dann schläft er und ich liege wach. Ich kann nicht schlafen, weil ich eben in diesen vielen Jahren, wie soll ich sagen, seelisch sehr belastet bin. […] Und um ein Uhr, zwei Uhr setzt er sich schon wieder
6. Zeitliche Be- und Entgrenzungen der häuslichen Demenzpflege
auf und steht dann auf und geht in die Küche und das Geschirr oder was er in die Hand nimmt und dann kracht es, ja. Dann stehe ich auf, hole ihn wieder herein ins Bett. Dann schläft er wieder. Das geht so und manchmal vergehen die Nächte, dass ich nicht zum Schlafen komme, zwei, drei Stunden, weil er immer wieder aufsteht.« (Moser: 247ff) Ihre täglichen Probleme beim Einschlafen führt Frau Moser hier auf die seelische Belastung zurück, der sie sich durch die jahrelange Pflege ausgesetzt sieht. Das bedeutet in ihrem Fall, dass zu Beginn der Nacht spezifische Affekte, die in Zusammenhang mit der Pflegeverpflichtung stehen, verhindern, dass sie den eigentlichen Feierabend auch als diesen und zu ihrer Regeneration nutzen kann.18 Die zeitliche Grenze der Pflege wird hier demnach durch die fehlende Möglichkeit zur affektiven Abgrenzung von der Pflegesituation obsolet. Und bereits kurze Zeit, nachdem sie dann einschlafen konnte, ist es die krankheitsbedingte Unruhe ihres Mannes, die den zur Erholung notwendigen Nachtschlaf schon wieder unterbricht beziehungsweise sogar dauerhaft beendet. Auch Frau Heinrich kennt diese Situation: »Ja, na ja, sind eben auch so Sachen, die einen auch manchmal wach halten. Und/äh/aber trotzdem, also durch ihn werde ich dann auch geweckt und ich kann dann auch nicht wieder einschlafen.« (ebd.: 219ff) Und ebenjene regelmäßige nächtliche Störung durch die Partner*innen ist in besonderem Maße verantwortlich für das subjektive Belastungsempfinden der Pflegenden. Das bedeutet, je regelmäßiger und langfristiger die nächtlichen Störungen, desto ausgeprägter die negativen Affekte, die zu Problemen beim Einschlafen führen und desto kürzer werden letztlich die nächtlichen Zeitfenster zur Regeneration.
6.3.4
Ausblicke auf ein Leben nach der Pflege
Dennoch ist die Abgabe der Pflege keine Option, die zur Erleichterung der eigenen Situation wünschenswert erscheint. Dementsprechend blicken gerade jene Fälle, die zeitlich besonders entgrenzt pflegen, häufig mit Sorge auf ihr Leben nach der Pflege. Der Tod der Partner*innen wird von allen Pflegenden – meist von selbst, manchmal aber auch erst auf Nachfrage – thematisiert und
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Auf die Bedeutung von Affekten, wie Wut oder Ekel innerhalb der Pflegesituation, gehe ich im Kapitel zu den vergeschlechtlichten Be- und Entgrenzungen der Pflege noch genauer ein (vgl. Kap. 7.3.2).
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markiert die entscheidende lebenszeitliche Begrenzung für ihren Lebensabschnitt als pflegende Partner*innen (vgl. Abb. 5 6). Dabei ist es naheliegend, dass der Tod in der dritten Phase der Pflege deutlich präsenter ist als in den Phasen zuvor. Danach gefragt, wie häufig sie über ein Leben nach der Pflege nachdenkt, weiß Frau Heinrich zu berichten: »Ja, ich hab schon paar Situationen gehabt, wo ich gedacht hab, ich bin nun alleine. Als ich mir die Wolle für den Pullover gekauft hab/in der Stadt gibt`s so einen schönen Wollladen. Und da hab ich gedacht/war er gerade so/stand so auf der Kippe. Und/äh/mussten nochmal operieren und er sah auch schlecht aus und hat schlecht reagiert. Und/äh/da dachte ich, Mensch, eigentlich darfst du dir nur schwarze Wolle kaufen, hab aber nachher dann bunte genommen. Heute bin ich froh, dass ich die bunte/na solche Gedanken hab ich schon gehabt, ja. Und/äh/alleine, ich, also wenn er im Krankenhaus ist, weiß man ja schon so bissel, wenn man alleine so in der Küche sitzt.« (ebd.: 1014ff) Dieser Auszug aus dem Gespräch mit Frau Heinrich verdeutlicht die Alltäglichkeit der Auseinandersetzung mit dem Tod der kranken Partner*innen auf sehr spannende Art und Weise. Da das Leben ihres Mannes bereits mehrfach auf der Kippe stand, befand sie selbst sich schon wiederholt an der Grenze zum Leben nach der Pflege. Dabei ist zunächst einmal das Beispiel vom Kauf der Wolle sehr interessant, weil es auf die Alltäglichkeit des potentiellen Todes verweist. Denn während ihr Mann im Krankenhaus an der Grenze zwischen Leben und Tod schwebt, geht sie in die Stadt Wolle kaufen. Sei es aus Gründen der Ablenkung oder weil sie nur durch den Krankenhausaufenthalt mal wieder die Zeit dafür hat. In dieser Situation befindet sie sich in einem inneren Konflikt, den sie über die Farbwahl umschreibt. Die Farbe Schwarz steht hierbei für die gesellschaftlich-moralische Erwartung an ihr Handeln in diesem Moment. Die bunte Wolle hingegen steht für das, worauf sie tatsächlich Lust hat. Aber ist es überhaupt in Ordnung, in ihrer Situation Lust auf bunte Farben zu haben? Und ist es in Ordnung, in dieser Situation etwas für sich zu tun? Ihre Erleichterung darüber, sich schließlich für die bunte Wolle entschieden zu haben, steht hierbei auch symbolisch für die Erleichterung von Frau Heinrich, dass ihr Mann trotz all der persönlichen Belastung durch die Pflege noch weiterlebt. Und ebendiese Erleichterung steht wiederum in Zusammenhang mit dem Bild, was sie von ihrem Leben nach der Pflege zu zeichnen beginnt. Denn dies ist kein Bild von einem Leben mit der Möglichkeit durch- oder gar auszuschlafen oder davon, ihre Zeit endlich für all die Reisen nutzen zu können, von denen ihr die anderen Rentner*innen immer
6. Zeitliche Be- und Entgrenzungen der häuslichen Demenzpflege
erzählen (vgl. ebd.: 551ff). Nein, ihr Leben nach der Pflege wird für sie dadurch repräsentiert, dass sie allein in ihrer Küche sitzt. Auch Herr Dreher teilt diese Sorge: »Und dann hab ich Angst, dass ich ins schwarze Loch falle. […] Man sieht es ja oft dann mal, dass dann, ja ich weiß nicht, wenn die Aufgabe weg ist und gar nichts mehr da ist und ich mich den ganzen Tag hier allein auf den Kanapee setzen soll, nee, da bin ich noch zu jung zu.« (Dreher: 437ff) Abgesehen davon, dass diese Erzählung einmal mehr auf das vermeintlich passive Ruhestandsleben der Anderen anspielt, von dem es sich abzugrenzen gilt (vgl. Denninger et al. 2014: 224f), macht Herr Dreher über seine Sorge vor dem schwarzen Loch sehr klar deutlich, dass der Tod seiner Frau und das damit einhergehende Ende der Pflege für ihn, ähnlich wie für Frau Heinrich, alles andere als eine Erleichterung darstellen würde. Denn so anstrengend die Pflege auch ist, sie gibt ihm eine Aufgabe und seinem Ruhestandsalltag eine klare zeitliche Struktur. Interessant ist dabei, dass die antizipierte Einsamkeit, Aufgabenlosigkeit und daraus resultierende Langeweile von jenen Befragten, die diese Perspektive auf das Leben nach der Pflege vertreten19 , als subjektiv noch weniger erstrebenswert gedeutet zu werden scheint als das gemeinsame Zeittotschlagen mit den schwerkranken Partner*innen. Dies verdeutlicht einmal mehr, wie kompliziert die Situation der pflegenden Partner*innen sein kann. Etwas weniger kompliziert erscheint demgegenüber jene Perspektive auf das Leben nach der Pflege, die durch die Logik des Nachholens geprägt ist und im Sample – vertreten durch Frau Kleber, Frau Werner, Herrn Franz sowie Herrn Steg – den Gegenpol zur Angst vor dem schwarzen Loch darstellt. Denn diese Perspektive kennzeichnet sich maßgeblich durch die Idee, bei aller Trauer um den Verlust der Partner*innen »mehr Freiheiten« (Steg: 837) zu erhalten, die insbesondere für die praktische Gestaltung der verbleibenden Lebenszeit genutzt werden können. Herr Franz weiß diesbezüglich zu berichten, dass er sofort ins Ausland fliegen würde (ebd.: 1010) und »dauernd unterwegs« (Franz: 1212) wäre. Mit Blick auf die unmittelbare Zukunft formuliert er daher gegen Ende des Gespräches den Wunsch: »Ja, hoffentlich muss sie nicht so lange leiden, dass ich nicht so lange leiden muss.« (ebd.: 1195f) Wie bereits im Kontext der 10-Jahres-Zäsur erwähnt, repräsentiert Herr Franz innerhalb des Samples einen Fall, der sich durch vergleichsweise seltene Klarheit im 19
Dies betrifft die Fälle von Frau Moser, Herrn Thiel, Herrn Dreher und Frau Heinrich.
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Häusliche Pflege am Limit
Hinblick auf die Formulierung des Wunsches einer endgültigen Begrenzung der Pflege auszeichnet. Diese Aussage legt zudem die Vermutung nahe, dass, neben der lebenszeitlichen Dauer der bereits erfolgten und noch zu erwartenden Pflege, auch die Qualität der Beziehung vor der Pflege eine Rolle spielt. Da Herr Franz sich – anders als ein paar der weiblichen Pflegenden des Samples – allerdings nicht näher zur subjektiven Beziehungsqualität vor der Erkrankung seiner Frau äußert, kann diese Vermutung hier nicht empirisch belegt werden.20 Dennoch ist es aus praxeologischer Perspektive aber gerade im Fall von Herrn Franz besonders interessant, dass es dennoch nur bei der Formulierung des Wunsches bleibt und die Pflege nicht selbst aktiv begrenzt oder über die Abgabe in ein Pflegeheim sogar beendet wird, um seinem Bedürfnis nach selbstbestimmter Nutzung der verbleibenden Lebenszeit nachzugehen. Eine Begründung dafür lässt sich insbesondere in seinem Verweis auf die traditionellen Werte des Eheversprechens erkennen, was wiederum verknüpft ist mit dem Bereich der vergeschlechtlichten Grenzen und deswegen erst später in den Auswertungen näher betrachtet wird. Bis hierher kann jedoch schon einmal festgehalten werden, dass das Bedürfnis nach Eigenzeit zwar maßgeblich bestimmend für die Unzufriedenheit von Herrn Franz und anderen Pflegenden im Sample ist, jedoch scheint dieses Bedürfnis nicht wirkmächtig genug, um in eine konsequente Praxis der zeitlichen Begrenzung der Pflege zu münden.
6.4
Zwischenfazit
Am Ende der Analysen zu den Praktiken zeitlicher Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege angekommen, möchte ich diese in Form von insgesamt sieben Einsichten zusammenfassen, die aus der Empirie gewonnen werden konnten: Als erste Einsicht macht dabei naheliegender Weise die Demenzdiagnose den Anfang. Diese wurde von sämtlichen Befragten als biografische Zäsur erzählt, welche lebenszeitlich betrachtet das Potential hat, den gesamten Lebensweg kaputtzumachen (vgl. Franz: 24f). Das bedeutet, für die vorliegende Untersuchungsgruppe von Ruheständler*innen ergibt sich hier
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Im Kapitel zur Verwobenheit von Dominanz und Sorge wird die Bedeutung der subjektiven Einschätzung der Beziehungsqualität vor der Pflege noch näher beleuchtet im Hinblick auf ihr Potential zur Umverteilung der Dominanz innerhalb der Beziehung (vgl. Kap. 7.3.4)
6. Zeitliche Be- und Entgrenzungen der häuslichen Demenzpflege
die Besonderheit, dass das gesellschaftlich verbreitete Narrativ der späten Freiheit des Alters plötzlich doch nicht oder zumindest nicht länger erzählt und – wichtiger noch – nicht (weiter) praktiziert werden kann. An die Stelle des vermeintlich wohlverdienten Ruhestands tritt dementsprechend nicht selten die Fortsetzung oder Wiederaufnahme einer Arbeitswoche (Klopp: 1454), die sich durch unterschiedlichste Formen von Sorgearbeit auszeichnet. Lebenszeitlich betrachtet, wirkt sich die Erkrankung an Demenz beziehungsweise die Entscheidung zur Übernahme der Pflegeverantwortung für die erkrankten Partner*innen also zunächst einmal deutlich begrenzend auf die antizipierten oder bereits praktizierten Pläne zur Gestaltung des Ruhestandes aus. Nachdem die Diagnose der Demenz von den pflegenden Partner*innen zwar als hilfreich für den Prozess der Akzeptanz der in der Regel bereits seit längerem beobachteten Veränderungen der Lebenspartner*innen beschrieben wird, stehen sie dennoch vor der Herausforderung der Wiederherstellung eines Alltags im Zusammenleben mit den zunehmend unterstützungsbedürftigen Partner*innen. Auf die biografische Zäsur der Demenzdiagnose folgt demnach zweitens, mit Blick auf die Ebene der Alltagszeit, eine zunehmende zeitliche Entgrenzung der indirekten Sorgearbeit, welche sich in der Phase der leichten Demenz insbesondere durch das Suchen immer wieder verschwindender Artefakte des Alltags auszeichnet und nicht selten in ein Gefühl der Verschwendung von Zeit mündet. Der Übergang von der ersten Phase der Demenzpflege in die zweite Phase wird in den Selbsterzählungen der Pflegenden insbesondere darüber gekennzeichnet, dass die demenziell bedingten kognitiven Veränderungen irgendwann zu einer auffallend nachlassenden Selbstständigkeit der Partner*innen führen, die ein erneutes Umstrukturieren zuvor eingeübter Praktiken der gemeinsamen Alltagsgestaltung notwendig machen. Damit geht drittens die Einsicht einer weiteren zeitlichen Entgrenzung der Pflege einher, in deren Verlauf wiederholt die Entstehung von alltäglicher Zeitnot geäußert wird. Dieser Zeitnot wird in einigen, aber bei weitem nicht allen, Fällen mit der (zunehmenden) Inanspruchnahme professioneller und familiärer Unterstützung begegnet. Doch ob mit oder ohne Unterstützung, die demenzspezifischen Anforderungen an die Pflege der Partner*innen erfordern von den Pflegenden selbst in dieser Phase der Demenz eine vermehrte Orientierung an festen Uhrzeiten, etwa für die Einnahme der Medikamente, Mahlzeiten oder die Abfahrt zur Tagespflege, die ihren Alltag zunehmend einem Diktat der Uhrzeit zu unterwerfen scheint.
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Häusliche Pflege am Limit
Als vierte Einsicht kann schließlich der – an verschiedenen Stellen im Sample beobachtbare – Versuch festgehalten werden, die wachsende Zeitnot in der Pflege der mittelschweren Demenz mithilfe zweier charakteristischer Modi im Umgang mit der Alltagszeit wieder etwas zu begrenzen. Dabei lässt sich einerseits beobachten, dass sich die Pflegenden infolge der stark eingeschränkten Selbstständigkeit zunehmend mit der Aufgabe konfrontiert sehen, ihre Partner*innen mit Demenz in den Zeiten zwischen den Mahlzeiten und anderen festen Terminen zu beschäftigen. Diese Beschäftigung folgt wiederholt einem Modus des Zeitausfüllens, dessen vorrangiges Ziel es ist, dass die Partner*innen sich durch das jeweilige Beschäftigungsangebot so angesprochen fühlen, dass sie sich freiwillig und vor allem auch eine Zeit lang allein damit auseinandersetzen. Diese Praxis der temporären Begrenzung der (indirekten) Sorgearbeit mithilfe zeitfüllender Beschäftigung der pflegebedürftigen Partner*innen wird andererseits ergänzt durch das Bestreben der Pflegenden, sich selbst, insbesondere in den Abendstunden, immer mal wieder ein paar Stunden Eigenzeit zu stehlen. Nicht selten mit dem Übergang in die dritte Phase der Pflege einhergehend, erweist sich fünftens die 10-Jahres-Zäsur als wichtige Einsicht aus der Empirie, die erneut auf die Bedeutung der lebenszeitlichen Perspektive in der Demenzpflege verweist. Das bedeutet, in jenen Fällen des Samples, die bereits ein Jahrzehnt und länger pflegen, wird die Feststellung ebenjener Dauer in der Pflege als Zeitpunkt erzählt, der ein Nachdenken über die weitere Dauer der Pflege initiierte und damit einhergehend auch ein Nachdenken über die eigene Endlichkeit. Die Bereitschaft zur mehr oder weniger entgrenzten Pflege im Alltag erfährt darüber eine lebenszeitliche Begrenzung, deren zeitliches Überschreiten zwar nicht zur Beendigung der Pflege führt, aber in der Pflegepraxis dennoch die eigenen Bedürfnisse und die Logik des Nachholens wieder stärker in den Blick geraten lässt. Die dritte Phase der Pflege mündet schließlich sechstens in die Einsicht, dass mit der Pflege der schweren Demenz sehr ambivalente Zeiterfahrungen einhergehen. Denn jenen Pflegenden, die von einem Zugewinn an Zeit berichten, steht die andere Gruppe von Pflegenden gegenüber, die sich im Pflegealltag wiederkehrend vor der Herausforderung stehen sehen, die Zeit totschlagen zu müssen. Das bedeutet, auf der einen Seite finden sich Berichte von Pflegenden des Samples, bei denen insbesondere die Bettlägerigkeit der Partner*innen als ausschlagend dafür erzählt wird, dass bestimmte direkte und indirekte Sorgearbeiten entfallen und vereinzelt wieder mehr Pflegeauszeiten entstehen. Und auf der anderen Seite gibt es im Sample Berichte
6. Zeitliche Be- und Entgrenzungen der häuslichen Demenzpflege
von zu pflegenden Partner*innen, die kognitiv zwar bereits schwer dement, aber physisch weiterhin vergleichsweise mobil sind und den pflegenden Partner*innen infolgedessen nicht selten ein besonderes Maß an indirekter Sorgearbeit in Form gemeinsam verbrachter Zeit abverlangen, die von den Pflegenden selbst allerdings nicht als sinnvoll gestaltet erfahren wird und dementsprechend stattdessen irgendwie totgeschlagen werden muss. Dabei ist es für das Narrativ des Zeittotschlagens nicht ausschlaggebend, ob die pflegende Person Hilfen in der Pflege erhält oder nicht. Für das subjektive Ausmaß der zeitlichen Entgrenzung durch das Totschlagen der Zeit zeigen sich aber durchaus erhebliche Unterschiede im Sample, die maßgeblich davon abhängen, ob die Pflegenden professionelle oder familiäre Hilfen in der Pflege erhalten oder weitestgehend allein pflegen. Im narrativen Ausblick auf ein Leben nach der Pflege schwanken die Pflegenden schließlich siebtens zwischen der Angst vor dem Verlust der Partner*innen und der wachsenden Hoffnung auf baldige Entpflichtung von der Pflege. Überwiegt die Angst vor dem Verlust der Partner*innen, dann wird eher ein schwarzes Loch der Einsamkeit antizipiert, welches die Aussicht auf die dann potentiell frei verfügbare Zeit trübt. Gerade im fortgeschrittenen Stadium der Demenzpflege und im Zusammenhang mit der 10-Jahres-Zäsur scheint jedoch das Nachdenken über ein Nachholen der späten Freiheit zuzunehmen und damit auch der Wunsch nach absehbarer Endlichkeit der aktuellen Situation. Möchte man die empirischen Zeitanalysen abschließend noch einmal vor dem Hintergrund der Grenzheuristik resümieren, dann lässt sich festhalten, dass naheliegender Weise in sämtlichen Narrationen eine generelle Tendenz zur Entgrenzung der Pflegezeiten innerhalb des Ruhestandsalltags erkennbar ist, die im Verlauf der Pflege allerdings nicht einfach nur linear ansteigt, sondern vielmehr wellenförmig zu verlaufen scheint. Diese Wellenbewegung erklärt sich über das handlungspraktische Changieren zwischen der Tendenz zur zeitlichen Entgrenzung der zunehmenden Sorgearbeiten und dem Versuch, die Zeiten der Pflege auf unterschiedlichste Art und Weise sowohl alltags- als auch lebenszeitlich ein Stück weit zu begrenzen. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Phasen der Demenzpflege scheint die zeitliche Entgrenzung mehrheitlich in der Phase der mittelschweren Demenz ihren Höhepunkt zu erreichen und fällt in der letzten Phase der Demenzpflege, insbesondere durch die Inanspruchnahme professioneller Unterstützung, eher wieder etwas ab. Und mit Blick auf die unterschiedlichen Formen der Pflege fällt schließlich auf, dass in der Gesamtdeutung der Pflegesituation insbe-
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Häusliche Pflege am Limit
sondere jene Pflegezeiten in den Selbsterzählungen als unbefriedigende zeitliche Entgrenzungen gedeutet werden, die mit indirekten Sorgearbeiten verbracht werden, innerhalb derer für die pflegenden Partner*innen subjektiv kaum oder kein Spielraum zur subjektiv sinnvollen Nutzung der vorhandenen Alltags- und damit auch Lebenszeit bleibt. Für die nun anschließenden Analysen zur Bedeutung von Geschlecht für die Grenzen der Pflege wird sich – so viel sei bereits verraten – diese Relevanz indirekter Sorgearbeiten allerdings nicht fortsetzen.
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
7.1
Geschlechtersoziologische Grundlagen
In diesem Teil der Arbeit wird es zunächst darum gehen, jene theoretischen Konzeptionen der Geschlechterforschung zu umreißen, die den Blick für die empirische Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Geschlecht in der untersuchten Situation geschärft haben. Darauf folgt der Überblick über die Forschungsarbeiten zum Zusammenhang von Pflege und Geschlecht, die den wissenschaftlichen Diskurs prägen und den Einstieg in die Empirie vorbereiten.
7.1.1
Die soziale Konstruktion von Geschlecht
Nachdem zu Beginn meiner Ausführungen die praxeologische Perspektive auf Pflege als übergreifender theoretischer Rahmen für die vorliegende Untersuchung formuliert wurde (vgl. Kap. 2.4), liegt es auf der Hand, dass sich auch die hier eingenommene Perspektive auf Geschlecht in diese sozialkonstruktivistische Theorieströmung einfügt. Das bedeutet zunächst einmal ganz grundlegend, dass Geschlecht nicht als biologische Tatsache verstanden wird, sondern im Sinne des »Doing Gender« als soziales Tun, welches im Rahmen alltäglich-interaktiver Handlungspraxis zwischen den Gesellschaftsmitgliedern (re)produziert wird (vgl. u.a. West/Zimmerman 1987; Dölling 2005; Wetterer 2008; Gildemeister 2010). Während im angelsächsischen Sprachraum bereits seit den 1960er Jahren mit den Begriffen sex und gender zwischen einem biologischen und einem sozialen Geschlecht unterschieden wurde, fand diese Differenzierung im deutschsprachigen Raum erst gegen Ende der 1980er Jahre vermehrt Einzug
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Häusliche Pflege am Limit
in die wissenschaftliche Debatte (vgl. Villa 2019).1 Als biologische Dimension von Geschlecht bezog sich sex auf vermeintlich natürliche Eigenschaften, wie die körperliche Konstitution, die Genitalien oder auch Gebärfähigkeit einer Person und galt als unveränderbar. Mit gender wurde demgegenüber die soziale Dimension von Geschlecht erfasst und damit all das, was handlungspraktisch aus dem biologischen Geschlecht resultierte. Weil Frauen also beispielsweise aufgrund ihrer körperlichen Konstitution dazu in der Lage sind, Kinder zu gebären, wurde ihnen auch zugeschrieben, dass sie sich fürsorglich um die Kinder kümmern können und in einem weiteren Schritt geschlussfolgert, dass sie sich in besonderem Maße für die sozialen Berufsfelder eignen (ebd.). Anders als sex galt und gilt gender allerdings als veränderbar und sozial konstruiert, weil es in Abhängigkeit von kulturellen Einflüssen im Verlauf der geschlechtsspezifischen Sozialisation als Mädchen oder Junge erst erlernt werden müsse (vgl. Becker-Schmidt 1993: 41f). Damit ging wiederum die Annahme einer Gleichzeitigkeit von sex und gender einher, die bald in die Kritik geriet, indem darauf verwiesen wurde, dass eine Person mit den körperlichen Merkmalen eines Mannes genauso gut Vorlieben und Eigenschaften entwickeln kann, die als weiblich gelten und umgekehrt (vgl. Küppers 2012: 2). Die daraus wiederum abgeleitete Frage, wie es zum Gendern komme, wenn das biologische Geschlecht nicht länger als ausschlaggebend betrachtet werden könne, mündete schließlich in die konstruktivistische Antwort, dass es als eine soziale Praxis in unbewussten Prozessen erlernt und stetig reproduziert werden muss und erfährt über die theoretische Konzeptualisierung als Doing Gender bis heute eine breite Rezeption im wissenschaftlichen Diskurs (vgl. u.a. Buschmeyer 2011: 48; Gildemeister 2019: 410ff). Als Teil der sozialen Praxis der Herstellung von Geschlecht gilt dabei auch die binäre Differenzierung in Mann und Frau. Der außerhalb der Geschlechtersoziologie nach wie vor vorherrschenden Annahme, die Naturwissenschaft habe mit dieser Unterscheidung lediglich das direkte Abbild der Natur beschrieben (vgl. Küppers 2012: 2), wird aus sozialkonstruktivistischer Perspektive die Annahme gegenübergestellt, dass auch die soziale Praxis der naturwissenschaftlichen Identifizierung des Untersuchungsgegenstandes vor dem Hintergrund bereits etablier-
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Ich verzichte an dieser Stelle bewusst auf einen dezidierten historischen Überblick zur Entwicklung der wissenschaftlichen Diskussion um die Konstruktion von Geschlecht, da dieser zum einen nicht von zentraler Bedeutung für die Vorbereitung der empirischen Analysen ist und zum anderen bei Bedarf problemlos an anderer Stelle nachgelesen werden kann (vgl. u.a. Villa 2019 oder auch Buschmeyer 2011: 45ff).
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
ten Alltagswissens über Zweigeschlechtlichkeit erfolgte, »[d]enn zur Feststellung von ›Geschlechtsunterschieden‹ und (biologischen) ›Geschlechtsmerkmalen‹ müssen immer bereits ›Geschlechter‹ unterschieden sein.« (Hirschauer 1989: 102) Das vermeintlich biologische Geschlecht ist dementsprechend weniger Abbild der Natur, als vielmehr Abbild der gesellschaftlichen beziehungsweise politischen Vorstellungen von Geschlecht (vgl. Küppers 2012: 2f). Diese Distanzierung von naturgegebenen Annahmen ist ein elementarer Aspekt in der grundlegenden theoretischen Konzeption von Doing Gender und wird von den Autor*innen Candace West und Don Zimmerman wie folgt beschrieben: »Sex is a determination made through the application of socially agreed upon biological critieria for classifying persons as females or males. […] Placement in a sex category is achieved through application of the sex criteria, but in everyday life, categorization is established and sustained by socially required identification displays that proclaim one’s membership in one or the other category. […] Gender, in contrast, is the activity of managing situated conduct in light of normative conceptions of attitudes and activities appropriate for one’s sex category. Gender activities emerge from and bolster claims to membership in a sex category.« (West/Zimmerman 1987: 127) Während sex demzufolge einer bei Geburt einmalig stattfindenden Geschlechtszuweisung entspricht, umschreibt gender den daran anschließenden lebenslangen interaktiven Prozess der wechselseitigen Darstellung und Zuschreibung von Geschlecht, der sich an gesellschaftlichen Normen und Regeln orientiert (vgl. Küppers 2012: 5). West und Zimmerman schließen sich dabei Harold Garfinkels These der Omnirelevanz von Geschlecht an und verstehen gender insofern als grundlegendes Merkmal sozialer Situationen (vgl. Geimer 2013a), als dass ihnen die stetige Geschlechtskonstruktion unausweichlich erscheint: »Doing gender is unavoidable.« (West/Zimmerman 1987: 137) Diese Dauerrelevantsetzung von Geschlecht ist allerdings in die Kritik geraten. Und so relativiert zum einen West selbst das Konzept des Doing Gender zugunsten eines »Doing Difference« (West/Fenstermaker 1995), bei dem neben Geschlecht auch Kategorien, wie Klasse oder Ethnizität in Interkationen relevant gesetzt werden können (vgl. Geimer 2013a). Etwa zeitgleich weist zum anderen auch Stefan Hirschauer darauf hin, dass es im Sinne des von ihm vorgeschlagenen Konzept des »Undoing Gender« (Hirschauer 1994; 2001) je nach situativem Kontext unterschiedliche Grade der Relevantsetzung von
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Geschlecht geben kann (vgl. Geimer 2013b). Dabei teilt Hirschauer durchaus die Annahme der Omnirelevanz von Geschlecht, bezieht diese aber vorrangig auf einen elementaren Ausweiszwang, als Person in der Interaktion innerhalb einer Geschlechtskategorie klassifizierbar zu sein (vgl. Hirschauer 1994: 215). Abgesehen davon macht auch er – ähnlich wie West und Fenstermaker – das Argument der relativen Signifikanz von Geschlecht im Vergleich zu anderen Kategorien wie Alter, Klasse oder Religion stark und vertritt darüber hinaus die Annahme, dass Geschlecht nicht kontinuierlich hergestellt wird, sondern episodisch (vgl. ebd.: 677ff). Das bedeutet, Hirschauer stellt nicht generell das Konzept von West und Zimmerman infrage, sondern er verbleibt mit Undoing Gender im Horizont des Doing Gender, verweist aber darauf, dass die Konstruktionsprozesse von Geschlecht diskontinuierlich verlaufen und Geschlecht demzufolge in bestimmten Episoden als relevant auftauchen und in anderen Episoden wieder verschwinden kann (vgl. ebd. 2001: 212ff). Das praktizierte Absehen von Geschlecht versteht er dabei als situative Wirklichkeit, in der sich eine Art soziales Vergessen in Form des Undoing Gender beobachten lässt (vgl. ebd. 1994: 678). Diese episodenhafte Relevantsetzung von Geschlecht deckt sich mit meinen Eindrücken aus der vorliegenden Empirie. Mithilfe von Doing Gender auf die von mir untersuchte Pflegesituation zu schauen, schärft dementsprechend zunächst einmal den Blick dafür, dass die pflegenden Angehörigen ihr Handeln immer wieder unhinterfragt vor dem Hintergrund ihrer Mitgliedschaft in einer der beiden Geschlechtskategorien legitimieren (müssen) – und das sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber mir als Interviewerin mit wahlweise gleicher oder aber konträrer Geschlechtszuschreibung. Und das Konzept des Undoing Gender ermöglicht es schließlich, bei aller Omnipräsenz von Geschlecht den Blick trotzdem noch offenzulassen für jene Episoden, Kontexte und Situationen, in denen Geschlecht in der Selbsterzählung irrelevant erscheint. Um allerdings verstehen zu können, auf welcher Grundlage die Individuen die Entscheidungen für ihr Handeln im Kontext der Konstruktionsprozesse von Geschlecht treffen, erscheint hier zudem eine Verknüpfung mit dem – von Irene Dölling eingeführten – Begriff des Geschlechterwissens als hilfreich (vgl. Dölling 2005). Bezugnehmend auf die Biografieforschungen von Peter Alheit und Erika Hoerning geht Dölling zunächst einmal davon aus, dass Menschen im Laufe ihres Lebens einen Erfahrungs- und Wissensvorrat anlegen, der von synthetischer Qualität ist (vgl. ebd.: 49f; Alheit/Hoerning 1989: 9). Synthetisch sei das Wissen dabei zum einen, weil es sich nicht al-
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
lein aus den Erfahrungen speist, die die Individuen selbst gemacht haben, sondern auch auf Erfahrungen basiert, die lange vor Beginn der eigenen Biografie zustande gekommen sind. Und zum anderen ergibt sich besagte synthetische Qualität aus der Einzigartigkeit der biografischen Wissensbestände, die das Ergebnis der individuellen Konstruktionsarbeit darstellen und damit wiederum strukturierend auf das aktuelle und zukünftige Handeln wirken (vgl. ebd.). Anknüpfend an dieses Verständnis von Wissen versteht Dölling Geschlechterwissen daher als: »[…] biografisch aufgeschichteten, sich aus verschiedenen Wissensformen zusammensetzenden und strukturierten Vorrat an Deutungsmustern und an Fakten- und/oder Zusammenhangs-Wissen [sic!], mit dem die Geschlechterdifferenz wahrgenommen, bewertet, legitimiert, begründet bzw. als selbstverständliche, quasi ›natürliche‹ Tatsache genommen wird.« (Dölling 2005: 49) In der alltäglichen Praxis des Herstellens von Geschlecht, sei es im beruflichen Kontext (vgl. ebd.) oder aber in Praxis der Pflege, greifen die Individuen demnach auf einen Wissensvorrat an spezifischen Geschlechternormen und -praktiken zurück, den sie im Laufe ihres Lebens übermittelt bekommen und sich selbst angeeignet haben. Dieses Wissen ist für die Praxis des Doing Gender unverzichtbar, weil es ein Repertoire an geschlechtsspezifischen Praktiken bereitstellt, auf das die Akteur*innen beim Handeln im jeweiligen sozialen Feld situationsabhängig zurückgreifen (vgl. Kahlert 2019: 182f). Um in den empirischen Analysen verstehen zu können, warum die pflegenden Angehörigen auf die eine oder andere Art und Weise vergeschlechtlicht handeln, ist es sinnvoll, die Zusammensetzung dieses Wissensvorrates noch etwas genauer zu beleuchten. Dölling hebt dazu zuallererst hervor, dass Wissen plural ist und jede Kultur oder auch Gemeinschaft auf verschiedene Wissensformen zurückgreift, um ihre ›Welt‹ zu deuten (vgl. Dölling 2005: 50). Wichtig ist dabei insbesondere, dass dieser Rückgriff auf Wissen nicht primär bewusst erfolgt, sondern es werden Wissenselemente in Anspruch genommen, von denen die Akteur*innen in der Regel überhaupt nicht wissen, »dass sie über sie verfügen, weil sie als quasi ›natürliche‹ Einstellungen im praktisch-alltäglichen Handeln unbewusst ins Spiel kommen.« (Ebd.) Weiterhin wird zwischen gesellschaftlichem beziehungsweise kollektivem auf der einen Seite und individuellem beziehungsweise subjektivem Geschlechterwissen auf der anderen Seite unterschieden. Kollektives Geschlechterwissen umfasst dabei einen geteilten Wissensvorrat, der, abgesehen von der Selbst-
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evidenz der Geschlechterdifferenz, insbesondere die normativen Vorstellungen des vermeintlich richtigen Handelns beider Geschlechter umfasst (vgl. ebd.: 50f). Demgegenüber basiert das biografisch aufgeschichtete individuelle Geschlechterwissen vorrangig auf habitualisierten inkorporierten Geschlechtsklassifikationen, die dem gesellschaftlichen Alltags- und Erfahrungswissen entstammen und bezieht darüber hinaus aber auch lebensweltlich relevantes sowie wissenschaftlich und medial vermitteltes Wissen über die Geschlechterdifferenz mit in die Alltagstheorien ein (vgl. ebd.: 52). Man denke hier beispielsweise an den politischen Diskurs über die steigende Zahl von Männern in der Pflege (vgl. z.B. BMFSFJ 2012) oder die publizierten Erfahrungsberichte pflegender Angehöriger (vgl. u.a. Geiger 2011; Jens 2016). Zu beachten ist dabei allerdings, dass das individuelle Geschlechterwissen immer auch feldspezifisch ist. Der individuelle Zugang zu Wissen ist demnach immer auch abhängig davon, in welchem sozialen Feld2 die Akteur*innen positioniert sind sowie von den darin konsensfähigen Unterscheidungs- und Hierarchisierungsweisen für die Herstellung von Geschlecht (vgl. Dölling 2003: 116f). Und schließlich ist es neben der Feldspezifik auch der Verweis auf die lebenszeitliche, »[…] d.h. individual-geschichtliche, biografische Dimension […]« (Dölling 2005: 53), mit dem das Konzept des Geschlechterwissens dazu beiträgt, die vergeschlechtlichten Praktiken der Ruheständler*innen verstehend analysieren zu können. Dabei sei allerdings abschließend für dieses Teilkapitel noch einmal betont, dass es in den anschließenden empirischen Analysen nicht darum gehen wird, verschiedene Formen von Doing Gender oder Geschlechterwissen herauszuarbeiten. Vielmehr sind sie als theoretische Brille zu verstehen, die aufzusetzen sich für mich im Verlauf der Auswertungen als hilfreich erwies, um die vergeschlechtlichten Praktiken der Be- und Entgrenzung von Pflege besser zu verstehen. Bevor jedoch eine erneute Zuwendung zur Empirie erfolgen kann, wird im folgenden Abschnitt der Arbeit der Forschungsstand vorangestellt, der sich als relevant für die eigenen empirischen Analysen erwies. Diesbezüglich war eigentlich geplant, den Aufbau aus dem Zeitkapitel (vgl. Kap. 6) beizubehalten und hier zunächst ein Unterkapitel zu Alter und
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Der Begriff des sozialen Feldes wird hier in Anlehnung an Pierre Bourdieus Feldtheorie verwendet und so verstanden, dass es innerhalb des sozialen Raumes als Netz objektiver Relationen zwischen den unterschiedlichen Positionen der darin befindlichen Individuen und Institutionen fungiert (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 127).
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
Geschlecht und anschließend die Verknüpfung von Geschlecht in der Pflege folgen zu lassen. Im Verlauf der Sichtung des Forschungsstandes zu Alter und Geschlecht entstand allerdings der Eindruck, dass allein die Verknüpfung von Geschlecht und Alter mit den dazu vorhandenen Publikationen mir als nicht ausreichend relevant für meine Arbeit erschien. Und so fanden sich lediglich in einschlägigen Texten von Gertrud Backes (2005; 2008) einige interessante Aspekte zu Geschlecht und Alter, die allerdings bereits mit Pflege verknüpft sind und daher beim Forschungsstand zu Geschlecht und Pflege mit einfließen. Es kann demnach als Forschungslücke und offene Frage an die Empirie formuliert werden, ob, und wenn ja auf welche Weise, das chronologische oder subjektive Alter der pflegenden Angehörigen die vergeschlechtlichten Praktiken der Be- und Entgrenzung von Pflege mit beeinflusst. Vorab folgt nun aber der Blick auf die wissenschaftliche Debatte zu Pflege und Geschlecht.
7.1.2
Geschlecht und Pflege zusammengedacht
»Pflege ist weiblich«3 – diese häufig zu findende Verknüpfung geht zurück auf die bereits thematisierte Zuschreibung, dass sich Frauen aufgrund ihrer körperlichen Konstitution zum Gebären der Kinder natürlich auch um sie zu kümmern hätten (vgl. Buschmeyer 2011: 47). Diese Zuschreibung sowie die daraus abgeleitete Ausweitung auf sämtliche fürsorglichen Praktiken in Interaktion mit Jung und Alt, sei es privat oder beruflich, halten sich hartnäckig bis in die Gegenwart (vgl. Backes 2008: 141) – und das, obwohl die Pflegebeteiligung der Männer kontinuierlich steigt und der Anteil an Männern in der häuslichen Angehörigenpflege mittlerweile bereits rund ein Drittel aller Pflegenden ausmacht (vgl. Dosch 2016: 679; Rothgang/Müller 2018: 6). Die Zuschreibung, dass Pflege weiblich sei, ist dementsprechend als Teil des kollektiven Geschlechterwissens – im Sinne einer normativen Vorstellung vermeintlich richtigen Handelns – zu verstehen. Darüber hinaus festigt sie sich bei den Akteur*innen insbesondere über biografisch aufgeschichtetes Alltagswissen sowie medial vermitteltes Geschlechterwissen. Den soziologischen Bestrebungen der Vermittlung sozialkonstruktivistischen Geschlechterwissens
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Vgl. u.a. https://www.linksfraktion.de/presse/pressemitteilungen/detail/pflege-ist-wei blich/; https://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/panorama/frauenberufe-pfl ege-ist-weiblich/; https://www.fr.de/politik/pflege-weiblich-11309980.html; https://ww w.versicherungsbote.de/id/4840787/Pflege-weiblich-ueberanstrengt-zerruetteter-Ehe/
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zum Trotz entspricht Pflege daher in den meisten Teilen der Gesellschaft auch gegenwärtig einer vergeschlechtlichten Praxis – mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die Subjekte. In der Praxis des Pflegens äußert sich die anhaltende Vergeschlechtlichung inhaltlich vor allem darüber, dass Aspekte wie Einfühlungsvermögen, Fürsorglichkeit oder direkte körperliche Interaktion mit den Pflegebedürftigen nach wie vor eher als weibliche Attribute gedeutet werden statt als tätigkeitsspezifische Kompetenzen der Pflegenden (vgl. Backes 2008: 142). Für Frauen ergibt sich daraus die Zuweisung einer Fürsorgepflicht, mit erheblichen Konsequenzen für ihren Lebensverlauf und darin erkennbaren sozialen Ungleichheiten (vgl. Frerichs 2000: 37f; Jurczyk/Oechsle 2006: 2f). Denn die geschlechtsspezifische Vergesellschaftung benachteiligt Frauen mit Blick auf die informelle Pflege in doppelter Hinsicht: So sind sie im Verlauf ihres Lebens zum einen häufiger als Männer mit Pflegeverpflichtungen gegenüber einem oder mehreren Mitgliedern der Familie konfrontiert (vgl. Backes 2008: 142). Man denke hierbei zum Beispiel an Frau Maler oder Frau Heinrich aus dem Sample der Befragten, die in jüngeren Jahren neben ihrer Berufstätigkeit auch die Hauptverantwortung für die Erziehung und Versorgung der Kinder trugen, sich nach der Familienphase um die erkrankten Mütter kümmerten und schließlich von einem fließenden Übergang in die Pflege ihrer an Demenz erkrankten Ehemänner berichten.4 Zum anderen kämen Frauen seltener selbst in die Situation, im Falle von Pflegebedürftigkeit in den eigenen vier Wänden gepflegt zu werden, weil sie dann häufig bereits verwitwet seien5 und darüber hinaus in der Regel deutlich geringere finanzielle Ressourcen als gleichaltrige Männer in ihrer Situation zur Verfügung hätten und sich somit keine häusliche Pflege leisten könnten (vgl. ebd.; Deutscher Bundestag 2016: 66, 186).
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Die Tatsache, dass ich hier im Theorieteil zu Geschlecht stellenweise bereits kurze Bezüge aus der Empirie einfließen lasse, begründet sich über den unkonventionellen Aufbau der vorliegenden Untersuchung. Jenen Leser*innen, die bereits die empirischen Analysen zu den zeitlichen Grenzen gelesen haben, dürften die hier benannten Namen und die Biografie dahinter (daher) nicht mehr fremd sein. Als Autorin dieser Studie sehe ich in dieser Verknüpfung unter anderem die Möglichkeit, das zirkuläre Changieren sowie Herstellen von Verknüpfungen zwischen Theorie und Empirie zu verdeutlichen, das den Forschungsprozess methodologisch begleitet hat. Dieser Umstand ergibt sich zum einen aus der Tatsache, dass Frauen nach wie vor eine höhere Lebenserwartung haben als Männer und verstärkt sich dadurch, dass Frauen häufig jünger sind als ihre männlichen Lebenspartner.
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
Dabei gilt es, das chronologische Alter der von mir untersuchten Frauen zu beachten: »Heute alte Frauen und Männer waren über den Lebensverlauf hinweg meist über traditionelle Formen von geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung vergesellschaftet. […] Heute alte Frauen weisen im Vergleich zu gleichaltrigen Männern eine brüchigere Erwerbsbiographie [sic!] auf. Ihre geschlechtsrollenspezifische6 Zuständigkeit bezog sich hauptsächlich auf die familiären/privaten Aufgaben. Ihr Einkommen war damit meist auf einen ›Zuverdienst‹ begrenzt. Eine eigenständige Alterssicherung war dadurch nur eingeschränkt möglich und macht heute alte Frauen von den Renteneinkünften des Mannes bzw. der Witwenrente und staatlichen Sozialleistungen abhängig.« (Backes 2008: 139) Diese Beschreibung der Lebenslage gegenwärtig alter Frauen bezieht sich insbesondere auf die Situation in den alten Bundesländern, weswegen für meine gemischt ost-/westdeutsche Untersuchungsgruppe unbedingt auch die historische Zeit sowie die Kohortenzugehörigkeit mit beachtet werden muss. Denn bei den heute alten ostdeutschen Frauen wurde im Hinblick auf die reproduktiven Arbeiten zwar in der Regel ebenfalls eine traditionelle geschlechtsgebundene Arbeitsteilung praktiziert, aber ihr Beitrag zum Haushaltseinkommen war häufig nicht nur auf einen bloßen Zuverdienst begrenzt und die »doppelte Vergesellschaftung« (vgl. Becker-Schmidt 1987) der Frauen dementsprechend ausgeprägter. Die Dopplungen, auf die Regina Becker-Schmidt anspielt, sind vielfältig und umfassen insbesondere den – durch Haushalt und Erwerbsarbeit – doppelten Beitrag zur gesellschaftlichen Reproduktion, darüber hinaus aber auch ihren Beitrag zum Bevölkerungserhalt und den nach der Gründung der Familie zumeist höheren Anteil an der Übernahme der psychosozialen Versorgung sämtlicher Familienmitglieder (vgl. ebd. 2003: 12f). Die informelle Pflege und damit einhergehende psychosoziale Belastungen mit inbegriffen, leisten Frauen demzufolge im Schnitt mehr gesellschaftlich
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Hier sei angemerkt, dass ich mich vom hier zitierten Begriff der Geschlechterrolle dahingehend distanziere, als dass ich Rollen in Anschluss an West und Zimmerman als situative Identitäten verstehe, die kombiniert oder je nach Situation auch getauscht werden können (dann werden Ärzt*innen im Falle von Krankheit plötzlich selbst zu Patient*innen) (vgl. West/Zimmerman 1987: 128). Geschlecht beziehungsweise gender hingegen sind nicht situativ, nicht einfach austauschbar und zudem auch wichtiger Bestandteil vieler anderer Rollen.
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notwendige Arbeit als Männer und erfahren trotzdem eine soziale Abwertung ihrer Leistungen und eine Vielzahl an Diskriminierungen (vgl. ebd.). Männer hingegen seien im Geschlechterverhältnis besser positioniert und nehmen in der sozialen Rangordnung höhere Positionen ein, weil sie in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und darin befindlichen Machtzentren (z.B. Politik, Technik oder Wirtschaft) stärker vertreten sind und auf diesem Wege mehr Prestige erfahren (vgl. ebd.). Diese sozialen Ungleichheiten resultieren aus den von Backes (2005: 361) als »hierarchisch komplementär strukturiert« bezeichneten Formen geschlechtsspezifischer Vergesellschaftung und bleiben bis ins hohe Alter wirkmächtig, denn: »Weibliche Ressourcen bleiben auch im Alter privatisiert und damit marginalisiert, männliche haben eher die Tendenz zu einem öffentlichen Charakter, sind sichtbarer und werden höher eingestuft.« (ebd.: 369) Hier findet sich demnach die zu Beginn der Arenenanalyse bereits erwähnte Geschlechtsspezifik im Hinblick auf Privatheit und Öffentlichkeit wieder (vgl. Kap. 4), welche – so viel sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen – auch die vergeschlechtlichten Praktiken der informellen Pflege durchzieht und daher bedeutend für die anschließenden Analysen ist. Im Verlauf der Sichtung des Forschungsstandes zum Thema Pflege und Geschlecht ergab sich interessanterweise ein ähnlicher Eindruck im Hinblick auf die unterschiedliche Sichtbarkeit der Pflegepraktiken von Frauen und Männern. Denn diese stehen ja im Fokus der vorliegenden Untersuchung. Wie also pflegen Männer und Frauen? Zwar wird in sämtlichen Publikationen zur Pflegekrise und innerhalb der laufenden Care-Debatten notwendigerweise mit Nachdruck auf den weiblichen Anteil an der gesellschaftlichen Reproduktionsarbeit verwiesen und damit ein wichtiger Beitrag geleistet, die weibliche Pflege aus der privaten Sphäre herauszuholen und zu politisieren. Auffällig ist allerdings, dass die weiblichen Pflegepraktiken selbst dabei nicht oder nur selten in den Fokus der Forschungsfrage gelangen. Die Selbstverständlichkeit, dass Frauen pflegen, und dass Pflege nach wie vor eine weiblich konnotierte Praxis ist, scheint demzufolge kein großes Interesse dafür zu erzeugen, wie Frauen pflegen. Da es demgegenüber aber immer noch alles andere als selbstverständlich scheint, dass Männer pflegen, geraten aktuell jene Männer, die sich aktiv in die Pflege hilfsbedürftiger Familienmitglieder einbringen, sowohl medial7 , politisch als auch wissen7
Dies gilt sowohl für Väter, die Elternzeit nehmen, als auch Männer, die sich um ihre pflegebedürftigen Eltern oder Partner*innen kümmern (vgl. u.a. Ebeling 2013; Reichstetter 2017).
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
schaftlich stärker in den Fokus und werden demnach aufgrund der fehlenden Selbstverständlichkeit8 ihres Handelns besonders sichtbar gemacht. Während es in Publikationen über Pflege im Allgemeinen oder die Care-Krise also vorrangig darum geht, (quantitativ) zu verdeutlichen, dass mehrheitlich Frauen pflegen und welche individuellen wie gesellschaftlichen Konsequenzen dies nach sich zieht, geht es in den Publikationen über Männer in der Pflege vorrangig darum, zu untersuchen wie sie pflegen und inwiefern sie sich mit ihren Praktiken der Pflege von den weiblichen Pflegenden unterscheiden (vgl. u.a. Langehenning 2012; Auth/Dierkes 2015; Dosch 2018). Der Eindruck erhöhter Sichtbarkeit der Männer in der Pflege speist sich hierbei insbesondere daraus, dass – zumindest im deutschsprachigen Raum – die Titel sowie der inhaltliche und argumentative Fokus der Forschungsarbeiten in der Regel auf die männlichen Pflegenden ausgerichtet werden, obwohl ebenfalls weibliche Pflegende befragt wurden. Indem diese aber häufig lediglich als Vergleichsfolie für die männlichen Pflegenden genutzt werden, bleiben sie im Titel sowie in der Rezeption der Studien vielfach unsichtbar. Eine Ausnahme scheinen hier die nicht mehr nur im angelsächsischen Sprachraum einflussreichen Arbeiten von Toni Calasanti zu bilden, die in einem ihrer Forschungsprojekte den Fokus auf die partnerschaftliche Pflege (spousal caregiving) legte und die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der informellen Pflege von Personen mit Alzheimer untersuchte (vgl. Calasanti 2006, 2007). Als zentrales Ergebnis stellte sich dabei heraus, dass die Wahrnehmung, Durchführung sowie das Erleben von Stress in der informellen Pflege durchaus geschlechtsspezifische Unterschiede aufweisen: »Dr. Toni Calasanti has postulated that there are gender differences in the care work styles and coping strategies used by spousal caregivers dealing with dementia. While caregiving husbands tend to adopt task-oriented […] approaches, caregiving wives are more likely to take an emotionally focused […] orientation. These differences result in the need for varied interventions. Male caregivers tend toward a managerial approach, whereas female caregivers generally adopt a relational approach.« (Hong/Coogle 2014: 765)
8
Auf die hier angenommene fehlende Selbstverständlichkeit verweist unter anderem die Wahl der Titel der verschiedenen Publikationen, in denen Männer »Auf fremdem Terrain« pflegen (vgl. BMFSFJ 2012) und festgestellt wird »Männer pflegen anders« (Betz 2012) oder »Neue Männer hat das Land« (vgl. Dosch 2016).
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Im Hinblick auf den Umgang mit Stress und psychischer Belastung durch die Pflege führten die unterschiedlichen Pflegestile dazu, dass die aufgabenorientierte Herangehensweise der männlichen Pflegenden es besser als bei den weiblichen Pflegenden ermögliche, Stress und Unzufriedenheit abzubauen und nach Lösungen zu suchen, bei denen es im Sinne besagten Managementstils der informellen Pflege vollkommen in Ordnung war, Aufgaben auszulagern (vgl. Calasanti 2007). Ein Ergebnis, das auch für meine Analysen der vergeschlechtlichten Praktiken des Grenzziehens von Bedeutung sein könnte. Und ohne immer direkt auf Calasanti zu verweisen, findet sich das Bild des männlich Pflegenden, der die Pflegeaufgaben managt, auch im deutschsprachigen Raum in den allermeisten Studien wieder (vgl. u.a. Schneekloth 2006; Langehennig et al. 2012; BMFSFJ 2012). Manfred Langehennig legt – unter Mitarbeit von Erna Dosch und Detlef Betz – mit »Männer in der Angehörigenpflege« (Langehennig et al. 2012) eine qualitativ angelegte Studie vor, in der mithilfe biografisch-narrativer Interviews mit insgesamt 75 pflegenden Männern untersucht wurde, welches Verständnis von Männlichkeit diese im Zusammenhang mit oder in Abgrenzung von ihrer Rolle als Pflegeperson entwickelten. Die Selbstpräsentation der interviewten Männer wird dabei als wichtiges Datum der Konstruktion sozialer Wirklichkeit gedeutet (vgl. ebd.: 8). Indem die Männer ihre Pflege als männlich erzählten, demonstrierten sie einen Pflegestil, der nicht in Konflikt mit ihrer Geschlechtsidentität gerät. Die in biografischer Kontinuität aufrechterhaltene Arbeitsorientierung beim Pflegen gebe den Männern das Gefühl, weiterhin die Kontrolle über eine für sie ansonsten eher unbekannte und neue Situation zu behalten und ermöglicht zugleich auch die Aufrechterhaltung persönlicher Interessen (z.B. technische Konstruktionen zur Erleichterung der Pflege). Und nicht zuletzt wird es als zentrale Erkenntnis der Studie hervorgehoben, dass die als typisch männlich konstruierte Pflege der befragten Männer eine interaktive Hervorbringung ist, die auch von den gepflegten Frauen und dem sozialen Umfeld mitgetragen wird (ebd.: 10f) – was gut anschlussfähig zu dem von mir vertretenen situationsanalytischen Ansatz und der bereits erfolgten Analyse der Arenen der sozialen Welt der Demenzpflege und ihren Akteur*innen erscheint (vgl. Kap. 4). Fast zeitgleich mit der Studie von Langehennig gelangen pflegende Männer auch auf die politische Agenda und das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend veröffentlicht die Broschüre »Auf fremdem Terrain – Wenn Männer pflegen« (2012). Dabei sei es das Anliegen der darin nachlesbaren Auseinandersetzung mit dem Thema, mithilfe von sieben Por-
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
traits die Geschichten von Männern zu erzählen, die entweder beruflich oder privat pflegen und dies auf ganz unterschiedliche Art und Weise, denn: »Wenn Männer pflegen – pflegen sie anders« (vgl. BMFSFJ 2012: 10) Besagte Portraits handeln sodann vom »Kümmerer«, »Sinnsucher«, »Unentbehrlichen« oder »Aufopferer« und auch der »Familienmanager« darf nicht fehlen (vgl. ebd.: 17ff). Es stellt sich allerdings nach der Lektüre dieser Portraits die Frage, was genau an diesen Formen vermeintlich kümmernder oder aufopfernder Pflege oder der Unentbehrlichkeit das Andere und spezifisch Männliche sein soll. Wie so oft wird in dieser Broschüre demnach von pflegenden Männern auf männliche Pflege geschlossen und damit ein struktureller Fehlschluss vollzogen, der in der Geschlechterforschung immer wieder kritisiert wird. Darüber hinaus ist diese Broschüre ein gutes Beispiel für den bereits erwähnten kritischen Eindruck, dass den pflegenden Männern über öffentlichkeitswirksame Publikationen wie diese letztlich mehr individuelle Anerkennung zukommt9 als der großen und im privaten verbleibenden Masse der pflegenden Frauen und das nicht zuletzt, weil man Broschüren mit Portraits über Frauen in der Pflege vergeblich sucht. Ebenfalls nachvollziehbar und berechtigt erscheint demgegenüber allerdings auch die Argumentation jener Autor*innen, die ihren Fokus dezidiert auf Männer in der Pflege legen, um der zu Beginn des Kapitels bereits thematisierten hartnäckigen Assoziation entgegenzuwirken, dass Pflege weiblich ist. Denn – so lautet die Argumentation weiter – durch die Adressierung der Pflege als weiblich, verblieben die pflegenden Männer in geschlechterübergreifenden Untersuchungen entweder tendenziell unsichtbar oder aber es werde ein weiblicher Maßstab konstruiert, vor dessen Hintergrund die Pflegeleistung der männlichen Pflegenden abgewertet wird (vgl. u.a. Langehennig et al. 2012; Klott 2012; Dosch 2016). Wichtig für die eigenen Analysen erscheint es demzufolge vor allem, auf eine geschlechtersensible Perspektive zu achten, die ohne die Abwertung der einen oder anderen Praxis vergeschlechtlichter Pflege auskommt. Den Überblick der – für die vorliegende Untersuchung relevanten – empirisch fokussierten Arbeiten zu Männern in der Pflege rundet schließlich Erna
9
So schreiben die Verfasser*innen der Broschüre einleitend unter anderem von ihrer Hoffnung, dass in den Portraits »unser Respekt und unsere Bewunderung für diese Männer zum Ausdruck [kommt].« (ebd.: 7) Es wäre wünschenswert gewesen, diese Broschüre hätte Portraits pflegender Frauen und Männer enthalten und auf diese Weise auch die Sichtbarkeit der pflegenden Frauen erhöht.
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Dosch mit ihrer Studie »Wie Männer pflegen« (2018) ab. Mithilfe biografischnarrativer Interviews analysiert sie die Pflegearrangements von pflegenden Ehemännern und Söhnen im erwerbsfähigen Alter und identifiziert – mit der Differenzierung in organisierend, supplementär, vorwiegend solitär und solitär – insgesamt vier Typen von Pflegetätigkeit häuslich pflegender Männer zwischen Beruf und Pflege, die sich insbesondere im Grad der Auslagerung der Pflegetätigkeiten voneinander unterscheiden (vgl. Dosch 2018: 175ff). Für die vorliegende Untersuchung sind diese Typen interessant, weil sie natürlich auch das Thema der Begrenzung von Pflege behandeln. Einen wichtigen Unterschied zur Untersuchungsgruppe der pflegenden Angehörigen im Ruhestand macht dabei allerdings die Tatsache, dass die von Dosch untersuchten Männer die im jeweiligen Pflegetyp erkennbaren Grenzen der Pflege über die individuelle berufliche Einbindung legitimieren (vgl. Dosch 2016: 680ff). Diese Option fällt bei dem von mir untersuchten Sample weg. Da diese Argumentation jedoch durchaus geschlechtsspezifisch erscheint10 , gilt es für meine empirischen Analysen in Anschluss an Dosch im Blick zu behalten, ob und in welcher Form diese Geschlechtsspezifik auch von den männlichen Pflegenden im Ruhestand reproduziert wird. Ohne dass die bis hierher aufgeführten Untersuchungen zu Männern in der Pflege selbst Bezug darauf nehmen, leisten sie dennoch einen empirischen Beitrag zu einer umfassenderen Care-Debatte, die unter dem Schirmbegriff der »Caring Masculinities« in den letzten Jahren innerhalb der Männlichkeitsforschung geführt wird (vgl. u.a. Elliott 2016; Heilmann/Scholz 2017; Lengersdorf/Meuser 2019). Im Zentrum dieser Debatte steht die in den modernen Gesellschaften erkennbare Transformation der Geschlechterverhältnisse, die sich insbesondere darüber kennzeichnet, dass die bisherige Zuweisung der Fürsorgearbeit an das weibliche Geschlecht brüchig zu werden scheint (Heilmann/Scholz 2017: 351). Die Gründe dafür sind komplex und beziehen sich in der Diskussion insbesondere auf die Ablösung des männlichen Ernährermodells durch die geschlechterübergreifende Norm des Adult Workers (vgl. ebd.). Das bedeutet, indem Fürsorge nicht mehr per se von Frauen übernommen wird, sondern mehr und mehr Männer ihre Partner*innen
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Als geschlechtsspezifisch wird diese Argumentation gedeutet, weil die Erwerbsarbeit bei den männlichen Befragten entsprechend ihrer Geschlechtsidentität als Mann nach wie vor einen höheren Stellenwert hat als die private Pflegearbeit. In den männlichen Pflegetypen spiegelt sich daher wider, dass eher die anfallende Pflege an andere Personen abgegeben wird, als dass die Erwerbsarbeit reduziert wird (vgl. ebd.).
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
oder Söhne ihre Eltern pflegen und immer mehr Väter nicht nur finanziell für die Familie sorgen, sondern sich zusätzlich auch fürsorglich in der Familie engagieren, praktizieren diese Männer andere, vermeintlich neue Formen von Männlichkeit, die von gesellschaftlich normativen Männlichkeitspraktiken abweichen (vgl. Elliott 2016; Scholz/Heilmann 2017; Lengersdorf/Meuser 2019). Als Leittheorie für die Untersuchung der normativen Praktiken gilt dabei das Konzept »hegemonialer Männlichkeit« (Connell 1983), welches in den 1980er Jahren von Raewyn Connell entwickelt wurde und seitdem die sozialwissenschaftliche Männlichkeitsforschung geprägt hat (vgl. u.a. Buschmeyer 2011; Lengersdorf/Meuser 2019). Connell übernimmt für ihre theoretischen Konzeptionen den Begriff der Hegemonie von Antonio Gramsci, um darauf zu verweisen, dass es sich bei hegemonialer Männlichkeit um einen erfolgreich durchgesetzten Anspruch auf Autorität handelt, der nicht mit physischer Gewalt durchgesetzt werden muss, sondern insbesondere über die Anerkennung der Macht durch die Beherrschten funktioniert (vgl. Scholz 2004: 38; Connell/Messerschmidt 2005: 831). Beherrscht werden bei Connell in diesem Zusammenhang zum einen Frauen und Weiblichkeit, die – wie oben bereits angesprochen – durch die Vormachtstellung des Patriarchats als den Männern und Männlichkeit untergeordnet gedeutet werden (vgl. Buschmeyer 2011: 92f). Und beherrscht wird zum anderen aber auch jene Mehrzahl von Männern, deren Männlichkeit nicht die Anforderungen des Idealtyps hegemonialer Männlichkeit erfüllt.11 Dieses Idealbild entspricht in den westlichen Kulturen dem weißen, heterosexuellen, gesunden und Vollzeit arbeitenden Mann mit ausgeprägter Berufsorientierung und wird von Connell zwar ausdrücklich als wandelbar konzeptualisiert, hält sich aber dennoch recht hartnäckig (vgl. Buschmeyer 2011: 93). In den aktuellen Debatten um das Konzept der Caring Masculinities fungiert dieses heteronormative Bild von Männlichkeit als Ausgangspunkt, von dem aus die Transformation beschrieben und alternative Konzepte entwickelt werden können. Im angelsächsischen Sprachraum entwirft Karla Elliott (2016) unter Bezug auf die Critical Studies on Men and Masculinities (CSMM) sowie feministische Theorien ein relativ klar abgegrenztes Konzept von Caring Masculinities:
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Connell unterscheidet zwischen hegemonialer, untergeordneter, komplizenhafter und marginalsierter Männlichkeit. Die genauere Erläuterung und Ausdifferenzierung der einzelnen Typen von Männlichkeit erscheint für die vorliegende Untersuchung nicht relevant, kann bei Interesse aber unter anderem in der Studie von Anna Buschmeyer nachgelesen werden (vgl. ebd.: 92ff).
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»I suggest that the central features of caring masculinities are their rejection of domination and their integration of values of care, such as positive emotion, interdependence, and relationality, into masculine identities. […] The rejection of domination, a characteristic so integral to traditional hegemonic masculinity, is of central importance to this model of caring masculinities. […] Caring masculinities therefore need to ensure the absence of domination to ensure the presence of equality.« (Elliott 2016: 241ff) Sylka Scholz und Andreas Heilmann greifen diese Konzeptualisierung im Zuge ihres Nachdenkens über »Männlichkeit als blinder Fleck in den Debatten um Wachstumskritik und Postwachstumsgesellschaften« (Heilmann/Scholz 2017: 349) auf und eröffnen mit ihrer Frage nach dem gesellschaftlichen Transformationspotential fürsorglicher Männlichkeiten auch im deutschsprachigen Raum eine rege wissenschaftliche Diskussion um Caring Masculinities (vgl. Laufenberg 2017; Gruhlich 2017; Lengersdorf/Meuser 2019). Folgende Aspekte daraus sind relevant für die vorliegende Untersuchung: Scholz und Heilmann verweisen darauf, dass es ihnen nicht darum geht, einen spezifischen Typus von fürsorglicher Männlichkeit zu entwerfen, sondern darum, Caring Masculinities als Prozesskategorie und damit Möglichkeitsraum vielfältiger fürsorglicher Männlichkeiten zu verstehen. Dabei machen sie allerdings deutlich, dass es ihnen nicht ausreicht, Praktiken wie die aktive oder involvierte Vaterschaft (vgl. u.a. Behnke/Meuser 2013; Meuser 2016) bereits als Caring Masculinities zu deuten, weil dieses Engagement nicht nur für, sondern innerhalb der Familie in der Regel trotzdem patriarchal gerahmt und damit historisch nichts Neues sei (vgl. Scholz/Heilmann 2017: 372). Um also das Transformationspotential der Caring Masculinities ausloten zu können, schließen sie sich im fachlichen Diskurs zunächst einmal dahingehend Elliott an, als dass auch sie die Ablehnung von Dominanz12 und Herrschaft als zentrales Merkmal fürsorglicher Männlichkeit benennen (vgl. ebd.). Dieser Aspekt wird allerdings unter anderem von Michael Meuser aufgegriffen und kritisch hinterfragt13 , indem er gemeinsam mit 12
13
Das in der vorliegenden Untersuchung vertretene Begriffsverständnis von Dominanz wird im Rahmen der empirischen Analysen, zu Beginn meiner Ausführungen zur Verwobenheit von Sorge und Dominanz, erläutert (vgl. Kap. 7.3.5). Michael Meuser formuliert seine Bedenken bereits während der Veranstaltung »Männlichkeiten in der Transformation kapitalistischer Wachstumsgesellschaften«, die vom 18. bis 19.Januar 2018 vom Kolleg Postwachstumsgesellschaften an der FriedrichSchiller-Universität Jena veranstaltet wurde. Gemeinsam mit Diana Lengersdorf führt
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
Diana Lengersdorf fragt, »ob Caring Masculinities nicht auch mit einem traditionalen Männlichkeitsverständnis (unbewältigt) einhergehen kann« (Lengersdorf/Meuser 2019: 101). Unter Verweis auf eigene empirische Forschungen, in denen die Befragten fürsorgliche Männlichkeiten konstruieren, ohne dabei notwendigerweise patriarchale Praktiken abzulehnen, geben die Autor*innen zu bedenken, dass die durch Elliott vorgenommene und von Scholz und Heilmann zunächst übernommene Ablehnung von Dominanz und Herrschaft im Zusammenhang mit Caring Masculinities ausblendet, dass Sorgebeziehungen in den allermeisten Fällen hierarchisch angelegt sind und nur sehr selten ohne Dominanz, Kontrolle oder Macht auskommen (vgl. ebd.: 106). Das liege zum einen an dem strukturellen Abhängigkeitsverhältnis zwischen hilfsbedürftiger und fürsorgender Person und zum anderen daran, dass Pflege eben nicht nur positiv erfahren werde, sondern auch Affekte wie Wut, Überlastung oder Ekel eine Rolle spielen, die nicht ignoriert werden darf und eben dazu führen kann, dass sich Sorge und Dominanz nicht ausschließen, sondern in vielen Pflegebeziehungen eng miteinander verwoben sind (vgl. ebd.; Laufenberg 2017: 362).14 Die Bedeutung von Affekten gilt es daher auch in der von mir untersuchten Pflegesituation unbedingt mit zu beachten. Innerhalb der geschilderten Diskussion teile ich die Überzeugung, dass fürsorgliche Männlichkeiten dazu beitragen können, die Abwertung der Sorge- und Reproduktionsarbeit zu reduzieren und tradierte Formen hegemonialer Männlichkeit zunehmend zu hinterfragen (vgl. Scholz/Heilmann 2017: 370f). Um Caring Masculinities allerdings – wie von Scholz und Heilmann vorgeschlagen – als Prozesskategorie empirisch nutzbar zu machen, empfinde ich es – entsprechend der Kritik von Meuser und Lengersdorf – als wenig hilfreich, das Konzept im Sinne von Elliott geradezu idealtypisch engzuführen. Elliott entwickelt ihr Konzept von Caring Masculinities nicht nur basierend auf feministischer Theorie und CSMM, sondern auch im Anschluss an eine 2014 durchgeführte Interviewstudie, in der sie mit einer
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er diese Kritik schließlich näher aus und verschriftlicht sie in dem Sammelband über Caring Masculinities, der im Anschluss an die Veranstaltung von Sylka Scholz und Andreas Heilmann initiiert wurde (vgl. Scholz/Heilmann 2019). Hier sei noch einmal an das von mir im ersten Teil meiner Ausführungen postulierte Affektparadigma erinnert (vgl. Kap. 2.4). Demzufolge verzichte ich in der vorliegenden Untersuchung auf den Emotionsbegriff und deute Wut oder Ekel nicht als individuelle Empfindung, sondern als prozessuale, soziale Affizierungen, die auf Subjekte, Objekte oder Vorstellungen gerichtet sein können (vgl. Reckwitz 2016: 173f).
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Gruppe privilegierter junger, weißer, vornehmlich heterosexueller Männer in Australien über Männlichkeit sprach.15 Diese erzählten ihre Männlichkeit in Abgrenzung zur stereotypen (australischen) Männlichkeit (Elliott 2018) allerdings in einem Reflexionsgrad, der vor allem für ebenjene privilegierte Gruppe junger, gebildeter Männer angenommen werden kann. Die Ablehnung von Dominanz und damit einhergehend die Ablehnung von Werten tradierter hegemonialer Männlichkeit als zentrales Merkmal von Caring Masculinities festzuhalten, führt insbesondere auch zum Ausschluss all jener älteren bis hochaltrigen Männer meines Samples, die zwar pflegen, aber deswegen nicht notwendigerweise ihr biografisch aufgeschichtetes, tradiertes Geschlechterwissen mit den daraus resultierenden vergeschlechtlichten Praktiken hinterfragen. Ich schließe mich daher dem Vorschlag von Meuser und Lengersdorf an, die für die Nutzung von Caring Masculinities im Sinne eines relativ offenen sensitizing concepts plädieren (vgl. ebd. 2019: 107), um empirisch offen zu bleiben für die Frage, ob Wandel nicht auch von jenen Personen initiiert werden kann, die ihn praktizieren, ohne ihn zu reflektieren. Und schließlich möchte ich die Diskussion um die An- oder Abwesenheit von Dominanz in der Pflege noch einmal aufgreifen, um für die anschließenden empirischen Analysen festzuhalten, dass ich auch hier die Ansicht von Meuser, Lengersdorf wie auch Mike Laufenberg teile, der zufolge Sorge und Dominanz in vielen Pflegebeziehungen eng miteinander verwoben sind – und das ganz unabhängig von der Geschlechtsidentität der pflegenden und zu pflegenden Person. Dies zu ignorieren oder gar zu tabuisieren wäre insbesondere mit Blick auf die Situation pflegender Angehöriger in der informellen Demenzpflege alles andere als angemessen.
15
Die Tatsache, dass diese Interviewstudie auch Elliotts Konzeption von Caring Masculinities beeinflusst hat, geht nicht direkt aus dem Artikel von ihr hervor, aber sie erwähnte dies im Rahmen einer öffentlichen Diskussion beim Hearing zu Männlichkeit an der FSU Jena, an dem ich selbst auch teilnahm. Der im Oktober 2018 im Journal of Sociology erschienene Artikel über »Negotiations between progressive and ›traditional‹ expressions of masculinity among young Australian men« (Elliott 2018) stellt diese Interviewstudie wiederum vor, ohne dabei allerdings explizit auf deren Bedeutung für die Konzeptualisierung von Caring Masculinities einzugehen.
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
7.1.3
Fragen an die Empirie
Auf den zurückliegenden Seiten wurde unter besonderer Beachtung von Doing Gender (West/Zimmerman), Undoing Gender (Hirschauer) und Geschlechterwissen (Dölling) die sozialkonstruktivistische Perspektive dargelegt, mit der im nachfolgenden empirischen Teil auf die Bedeutung von Geschlecht in der untersuchten Situation geblickt wird. Weiterhin sind jene Publikationen mit Fokus auf Geschlecht und Pflege vorgestellt worden, deren Ergebnisse und wissenschaftliche Rezeption von mir als relevantes Vorwissen für den Einstieg in die eigenen geschlechtersoziologischen Analysen genutzt werden. Aus diesen theoretischen wie empirischen Forschungsarbeiten lassen sich daher auch in diesem Kapitel wieder einige Fragen an die eigene Empirie ableiten. Dabei gilt es zu beachten, dass die Frage nach den Grenzen der Pflege weiterhin den Hauptfokus der Analysen darstellt, es aber hilfreich erscheint, Unterfragen aus der bereits bestehenden Forschung abzuleiten. Denn diese tragen nicht nur dazu bei, die Darstellung der vergeschlechtlichten Praktiken der Be- und Entgrenzung zu strukturieren, sondern ermöglichen auch eine Verknüpfung bereits bestehender Konzepte mit neuen Forschungsergebnissen. a) In welchen Situationen lässt sich die von Langehennig und auch Dosch betonte interaktive Hervorbringung von Geschlecht in der Pflege auch bei den von mir untersuchten informell pflegenden Ruheständler*innen erkennen? b) Was passiert nach dem Ruhestandseintritt mit der männlichen Berufsorientierung, die bei den Typen männlicher Pflegeübernahme von Dosch als Hauptgrund für die Begrenzung der informellen Pflege herausgearbeitet wurde? c) Welche Bedeutung haben Affekte in der von mir untersuchten Pflegesituation? d) Inwiefern spielt das höhere Lebensalter der Untersuchungsgruppe eine Rolle im Hinblick auf vergeschlechtlichte Grenzen der Pflege und potentielle Episoden des Undoing Gender? e) Wie pflegen Frauen? f) Welche Bedeutung hat Dominanz innerhalb der untersuchten Pflegebeziehung für die vergeschlechtlichten Praktiken der Be- und Entgrenzung informeller Demenzpflege?
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g) Inwiefern kann die nachfolgende empirische Analyse einen Beitrag zur weiteren Diskussion um Caring Masculinities leisten?
Als Überleitung zu den empirischen Analysen folgt nun die Kontrastierung zweier Fälle meines Samples, die zu den ersten Interviews des theoretischen Samplings zählen und deren maximaler Kontrast zueinander mich auf das Vorhandensein vergeschlechtlichter Praktiken innerhalb der informellen Demenzpflege aufmerksam gemacht hat.16
7.2
Vergeschlechtlichte Pflegepraktiken kontrastieren: Die Fälle Moser und Franz
Frau Moser ist zum Zeitpunkt des Interviews 86 Jahre alt und wohnt zusammen mit ihrem Mann in einer Zwei-Zimmer-Wohnung am Stadtrand einer Großstadt in Süddeutschland. Das Haushaltseinkommen der beiden beschränkt sich auf rund 900 € pro Monat. Die Mosers haben zwei Kinder und drei Enkel. Anfang der 1990er Jahre sind sie aus Rumänien nach Deutschland immigriert. Gemeinsam arbeiten sie bis weit über das übliche Rentenalter hinaus als Reinigungskräfte und entscheiden schließlich im Alter von 75 Jahren, ihre Jobs aufzugeben, um »mehr frei« zu haben (Moser: 93). Etwa zeitgleich mit dem Ende der Erwerbstätigkeit wird Frau Moser auch auf die gesundheitlichen Veränderungen bei ihrem Mann aufmerksam, der Arzt diagnostiziert wenig später die Demenz. Unabhängig davon sind beide in den folgenden Jahren noch sehr mobil, schließen sich einer kirchlichen Gemeinde an und nehmen in diesem Kontext an ein paar Kurzreisen, Tagesfahrten und Veranstaltungen teil, was insbesondere Frau Moser sehr viel Freude bereitet. Mit dem Fortschreiten der Krankheit ihres Mannes und dem damit einhergehenden körperlichen Abbau verkleinert sich der Mobilitätsradius der Mosers über 16
Für jene Leser*innen, die erst in diesem Kapitel in die Lektüre einsteigen und dementsprechend die Zeitanalysen nicht gelesen haben, sei hier noch einmal die Funktion der Fallkontraste erläutert (vgl. Kap. 6.1.4): Die Struktur der beiden großen Auswertungskapitel zu Zeit und Geschlecht ist so angelegt, dass die Fallkontraste den Übergang zwischen den theoretischen Ausführungen und den empirischen Analysen herstellen. Sie nehmen die Leser*innen mit in die Pflegesituation und geben einen Einblick in dessen Komplexität. Als Alternative zu den Fallportraits aller Befragten des Samples überspannen die Fallkontraste einerseits die im Sample erkennbaren Differenzen und bilden zugleich aber auch die übergreifenden Gemeinsamkeiten ab.
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
die Jahre allerdings mehr und mehr. Am Tag des Interviews wartet Frau Moser gerade auf den Arzt, da ihr Mann seit zwei Tagen nicht mehr allein aufstehen könne und über starke Schmerzen klage. Herr Franz wiederum ist zum Zeitpunkt des Interviews 83 Jahre alt und bewohnt gemeinsam mit seiner Frau eine Drei-Zimmer-Wohnung etwas außerhalb des Zentrums einer süddeutschen Großstadt. Die beiden haben eine Tochter und keine Enkelkinder. Das Haushaltseinkommen beläuft sich auf knapp 3000 € im Monat. Nach seinem Ruhestandseintritt mit 64 Jahren beginnt Herr Franz zunächst, seinen Plan vom Altersruhesitz im Süden in Angriff zu nehmen und die beiden sind viel auf ihrem Grundstück im Ausland und bauen das darauf gelegene Haus aus. Nach etwa fünf Jahren erkrankt seine Frau allerdings an Krebs und erleidet im Laufe der langwierigen Behandlung mehrere kleine Gehirnschläge, in deren Anschluss Herr Franz bei seiner Frau bald erste Anzeichen von Demenz wahrnimmt. Obwohl Frau Franz relativ zeitig auf Antidementiva eingestellt wird, verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand in den folgenden Jahren so sehr, dass Herr Franz die Auswanderungspläne verwirft und das Haus im Süden wieder verkauft. Seit anderthalb Jahren wird die Betreuung und Pflege seiner Frau stetig anspruchsvoller, weil der Sprachverlust stark voranschreitet, alltägliche Handlungsabläufe von ihr immer seltener selbstständig realisiert werden können und gefährdende Handlungen, wie beispielsweise das Erhitzen von Einrichtungsgegenständen im Ofen, zunehmen. Zum Zeitpunkt des Interviews kann sich Frau Franz noch selbstständig waschen und Nahrung aufnehmen, kommuniziert aber nur noch bruchstückhaft mit einzelnen Worten ihrer spanischen Muttersprache. Ähnlich wie beim ersten Fallkontrast (vgl. Kap. 6.2) verweist auch hier bereits die kurze Vorstellung der beiden Fälle wieder auf sehr unterschiedliche Kontextbedingungen, die aber erneut nicht ausschlaggebend für die Entscheidung zur Kontrastierung waren. Stattdessen besteht der maximale Kontrast in der Art und Weise, wie sich beide Gesprächspartner*innen im Interview im Hinblick auf ihren Umgang mit der Pflegesituation erzählt haben. Doch was genau ist damit gemeint? Auch hier lohnt sich zunächst die Kontrastierung der Einstiegssequenz. Danach gefragt, was er mit Ruhestand verbinde, entgegnet Herr Franz: »Mit Ruhestand verbinden, das wäre eigentlich gewesen, dass ich gar nicht mehr in Deutschland WÄRE, sondern im Süden wäre. Dort hatte ich ein Haus. Und, ja, das
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war das eigentlich. Und durch die Krankheiten der Frau hat sich das eben alles ganz anders ergeben, wie ich im Ruhestand erwartet habe.« (ebd.: 9ff) Herr Franz antwortet im Konjunktiv auf diese Frage und macht durch die Wahl dieser Zeitform deutlich, dass er ganz konkrete Pläne für den Ruhestand hatte, die sich aber nicht umsetzen ließen. Er erzählt seine Pläne dabei in der ersten Person Singular, sodass zunächst einmal offen bleibt, ob er allein in den Süden auswandern wollte oder gemeinsam mit seiner Frau. Erst im weiteren Gesprächsverlauf wird deutlich, dass beide ursprünglich gemeinsam auswandern wollten. Herr Franz verzichtet demnach rhetorisch auf eine Ausdrucksform, die auf ein Zusammengehörigkeitsgefühl als Paar und gemeinsame Lebenspläne verweisen könnte. Dieser Eindruck wird darüber verstärkt, dass Herr Franz nicht von den Krankheiten seiner Frau spricht, sondern von »den Krankheiten der Frau« (ebd.). Über diesen Verzicht auf das Possessivpronomen stellt er eine rhetorische Distanz zu seiner Frau her und unterstreicht zugleich, bei wem er die Verantwortung für das Scheitern seiner eigenen Ruhestandspläne zu verorten scheint. Dieser Verzicht auf das Possessivpronomen – der in bestimmten Regionen von Deutschland auch dialektal bedingt vorkommen kann – wird von Herrn Franz im weiteren Verlauf des Gespräches schließlich auch explizit über die mit der Demenz einhergehenden kognitiven Veränderungen begründet, weswegen er schlussfolgert: »Und heute betrachte ich meine Frau nicht mehr als meine Frau, sondern nur noch als, als betreute Person.« (ebd.: 232f) Auch Frau Moser hatte sich ihren Ruhestand ursprünglich anders vorgestellt: »Also Ruhestand war für uns in [Region in Rumänien] eigentlich, die Enkel, die Urenkel zu versorgen. Aber wir sind in den 90ern nach dem Zusammenbruch gekommen. Waren ja unsere Enkel schon so groß, dass wir mit den Enkeln nichts mehr zu tun hatten. (lacht) Und hier ist es ja ganz anders alles. Die Kinder wohnen ja an einem anderen Ort. […] Und so habe ich hier in Deutschland mit meinem Mann zusammen, also wie soll ich sagen, […] geputzt.« (Moser: 4ff) Anders als Herr Franz konstruiert Frau Moser direkt zu Beginn des Interviews eine kollektive Identität und erzählt ihre Vorstellung, sich im Ruhestand verstärkt um die (Ur-)Enkel*innen kümmern zu können, nicht als individuellen Wunsch, sondern als Teil der kulturell geteilten Bilder vom Ruhestand innerhalb ihres Herkunftslandes. Sie spricht mehrheitlich im Plural und signalisiert darüber ihre Vergesellschaftung als Ehepaar. Als Grund da-
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für, dass ihre Pläne vom Ruhestand nicht aufgingen, benennt sie schließlich das fortgeschrittene Alter ihrer Enkel*innen und die Tatsache, dass es – anders als in Rumänien – in Deutschland bereits üblicher war, dass die Kinder17 nicht mehr dauerhaft an einem Ort und in der Nähe der anderen Familienmitglieder wohnen blieben und sie dementsprechend kaum Kontakt zu den Urenkel*innen hatte. Und so begründet sie die Fortsetzung ihrer Erwerbstätigkeit weit über das Alter von 65 Jahren hinaus auch nicht in erster Linie mit der finanziell prekären Situation, in der sie sich nach ihrer Migration nach Deutschland befanden, sondern darüber, dass sie – anders als erwartet – keine familiären Fürsorgeverpflichtungen hatte. Beide Interviewpartner*innen nehmen hier demnach direkt bei der Einstiegsfrage eine Rekonstruktion ihrer biografischen Identität als spezifisch männliche beziehungsweise weibliche Identität vor. Denn indem Herr Franz die individuelle Erholung von der zurückliegenden Berufstätigkeit als zentrales Thema für seine Ruhestandspläne benennt, macht er deutlich, dass seine Biografie- und Identitätsmuster fundamental mit Erwerbsarbeit und dem institutionalisierten Lebenslauf verknüpft sind und rekonstruiert darüber seine spezifisch männliche Identität (vgl. Scholz 2004: 160). Frau Moser hingegen stellt die familiäre Fürsorge in den Mittelpunkt ihrer Vorstellung von Ruhestand und leitet ihre – auf tradiertem Geschlechterwissen basierende – weibliche Identität her, indem sie ihre Biografie- und Identitätsmuster nicht mit dem Beruf, sondern in erster Linie mit der Familie und kulturell geteilten Bildern fürsorglicher Großelternschaft verknüpft. Diese bereits in der Gesprächseröffnung begonnene geschlechtsgebundene Identitätskonstruktion setzen sowohl Herr Franz als auch Frau Moser im weiteren Interviewverlauf stetig fort. Als Herr Franz über die Zeitgestaltung im Erwerbsleben berichtet, macht er deutlich, dass er in der mittleren Lebensphase generell selbstbestimmter und zufriedenstellender über seine Zeit verfügen konnte als in seiner aktuellen Lebenssituation: »Ich war zwölf Jahre Chef. War mehr woanders tätig, als wie an meinem Arbeitsplatz fast. Und, ja, was soll ich weiter dazu sagen? […] Ich habe früher mehr Zeit gehabt, weil ich habe mich da im Häuslichen überhaupt nicht drum gekümmert. Das hat alles sie gemanagt. […] Ich habe gearbeitet. Ich habe noch eine nebenberuf-
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Gemeint sind hier die Enkel*innen, was sich allerdings erst im Verlauf des Interviews genauer herausstellt.
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liche Vertretertätigkeit gehabt und alles. Und das habe ich alles gemacht und ohne Probleme, ne. […]« (ebd.: 114ff) Herr Franz erzählt sich als Person mit Berufsorientierung und erfolgreicher Karriere. Aufgrund seiner gehobenen beruflichen Position war es ihm möglich, seine Arbeits- und Urlaubszeiten weitestgehend selbstbestimmt einzuteilen und so zusätzlich noch die besagte Vertretertätigkeit auszuüben. Die traditionelle Aufgabenteilung innerhalb seiner Beziehung ermöglichte ihm dabei, dass er außerhalb der Erwerbsarbeitssphäre keine weiteren Verpflichtungen hatte und seine Frau sich um die Hausarbeit und die Erziehung der Tochter kümmerte, während er an den Abenden und Wochenenden ausschließlich Zeit für sich oder Unternehmungen mit der Familie hatte. Herr Franz vergleicht diese Aufteilung der Zuständigkeitsbereiche mit dem Prinzip der »Gewaltenteilung« (ebd.: 407) innerhalb einer Demokratie: »Sie hat ihre Erziehung gemacht, sie hat das gemacht, ne. Das Häusliche, all das gemacht. Während ich das Wirtschaftliche dann gemacht habe, und das Finanzielle, und so weiter und so fort.« (ebd.: 408f) Damit spielt er darauf an, dass beide klar abgegrenzte Hoheitsbereiche hatten, in die sich der oder die jeweils andere nicht einmischte. Grundlegendes Merkmal der Gewaltenteilung ist es zudem, das ein und dieselbe Person nicht verschiedenen Funktionsbereichen angehören darf,18 weshalb der Vergleich der ehelichen Aufgabenteilung mit einer Gewaltenteilung auch als Begründung gelesen werden kann, warum sich Herr Franz im Haushalt – wie er selbst sagt – um nichts gekümmert hat. Die Erkrankung seiner Frau erzeugt daher einen doppelten biografischen Bruch, denn er muss sich nicht nur plötzlich um seine Frau kümmern, sondern muss zudem auch immer mehr Aufgaben im Haushalt übernehmen. Dass dieser Wechsel der Zuständigkeiten für Herrn Franz nicht zu seiner geschlechtsgebundenen Identität passt, zeigt sich auch, als er davon spricht, dass er sich »erbarmt« habe, die Pflege seiner Frau zu übernehmen (ebd.: 246). Diese Wortwahl kann so gedeutet werden, dass es für ihn alles andere als selbstverständlich war, die Fürsorge für ein hilfsbedürftiges Familienmitglied zu leisten. Indem er sich zur Übernahme der Pflege erbarmen muss, signalisiert Herr Franz zugleich, dass – seiner Logik der Gewaltenteilung folgend – die Hoheitsbereiche »Wirtschaftliches« und »Häusliches« von ihm nicht als
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Quelle: https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/pocket-politik/16434/gewaltenteilun g
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
gleichwertig deutet werden, sondern dass die Pflege und das Häusliche für ihn keine erstrebenswerten Tätigkeitsbereiche darstellen. In den Narrationen von Frau Moser taucht dieser biografische Bruch im Zusammenhang mit der Erkrankung des Mannes hingegen nicht auf. Aus der mittleren Lebensphase weiß sie zu berichten, dass sie einen eng getakteten Alltag hatte, in dem sie zwischen Schichtdiensten, Wäsche waschen und Kinderbetreuung changierte und kaum Zeit für eigene Interessen blieb: »Zuerst waschen bis um zwei Uhr Mittag mit der Hand […], dann schnell anziehen und acht Stunden, das gab es nicht wie jetzt hier und Samstag, wir haben auch Sonntag gearbeitet, in die Arbeit und um zehn Uhr oder im Winter um elf Uhr sind wir nach Hause gekommen.« (ebd.: 602ff) Diesen Schichtarbeitsalltag beendete Frau Moser im Alter von rund 60 Jahren, immigrierte dann nach Deutschland, arbeitete rund zehn Jahre als Putzkraft und wuchs anschließend in die Rolle der pflegenden Angehörigen ihres an Demenz erkrankten Mannes hinein. Die Übernahme der Pflege wird von ihr zu keinem Zeitpunkt des Interviews problematisiert und auch die im Alltag anfallenden Aufgaben erzählt sie als selbstverständlichen Bestandteil ihrer Geschlechtsidentität: »Als Hausfrau koche ich dann und wasche und bügle, so wie eine Hausfrau eben die Arbeiten macht.« (ebd.: 193f) Belastend sind für Frau Moser dementsprechend weniger die Praktiken der Pflege, als vielmehr die Zeiten, in denen sie alle häuslichen und pflegerischen Aufgaben erledigt hat und die Zeit totschlagen muss, ohne die Möglichkeit zu haben, etwas zu unternehmen (vgl. Kap. 6.3.3). Denn seit ihr Mann nicht mehr so gut laufen kann, kommt sie selbst auch immer seltener außer Haus und hat regelmäßige Verabredungen wie den wöchentlichen Singkreis abgesagt, um ihren Mann nicht allein zu Hause lassen zu müssen. Herr Franz wiederum trifft sich einen Abend die Woche allein mit alten Freunden und geht zweimal wöchentlich mit seinem spanischen Freundeskreis essen. Je nach Tagesform seiner Frau nimmt er sie zu den Treffen mit den spanischen Freunden mit oder lässt sie zu Hause, was er als unproblematisch beschreibt, weil sie keine Hinlauftendenzen habe und sich mit dem Fernseher beschäftige oder bereits im Bett liege, wenn er geht. Bei allen anderen Terminen sei er mittlerweile dazu übergegangen, keine festen Zeiten oder Tage mehr zu verabreden, um flexibel auf die Bedürfnisse seiner Frau reagieren zu können, aber: »[…] meine festen Tage, also da lasse ich nicht dran rütteln. Da gehe ich WEG. […] Und wenn ich das nicht mehr kann, habe ich gesagt, dann bleibt mir nichts anderes übrig, dann kommt sie einfach in ein HEIM.« (ebd.: 633ff)
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Häusliche Pflege am Limit
Mit Nachdruck und Betonung auf dem Wort »Heim« erzählt sich Herr Franz hier als Person mit Willensstärke und klaren Grenzen. Dabei signalisiert er, dass er, anders als Frau Moser, nicht bereit ist, sein gesamtes Sozialleben für die Pflege der erkrankten Ehefrau aufzugeben. Abgesehen davon gibt es für Herrn Franz schließlich noch einen zweiten Umstand, der ebenfalls zur Beendigung der häuslichen Pflege seinerseits führen würde: »Auslöser wäre, wenn ich sie also körperlich auch pflegen müsste. Dass sie praktisch nicht mehr zum Klo gehen kann und solche Sachen. Dann würde ich nein sagen, weil das würde ich nicht fertigbringen, […] weil ich einen Ekel habe, wenn ich irgendeine Person waschen muss oder sonst was, die eben verschmiert ist durch Notdurft und sonst welche Sachen. Also da reagiere ich also ziemlich SCHLECHT. […] Da würde ich dann wahrscheinlich da hinkotzen in demselben Moment.« (ebd.: 658ff) Die Ablehnung dieser Pflegepraktiken, die in der Demenzpflege in der Regel mit Eintreten der schweren Demenz zum Pflegealltag der pflegenden Angehörigen gehören, legitimiert Herr Franz anschließend zusätzlich darüber, aufgrund seines generellen Ekels vor Fäkalien früher auch nie die Windeln seiner Tochter gewechselt zu haben. Damit macht er deutlich, dass es dabei nicht um die individuelle Ablehnung einer bestimmten Pflegepraxis geht, sondern er beruft sich auf seine männliche Biografie, zu deren Denk- und Handlungsmustern es gehört, spezifische Formen körperlicher Pflege ablehnen zu können, ohne dabei soziale Sanktionen fürchten zu müssen. Für Frau Moser wiederum gehört die Unterstützung ihres Mannes beim Toilettengang bereits seit längerem zum Alltag. Danach gefragt, ob und unter welchen Bedingungen die Übergabe der Pflege des Mannes an eine institutionelle Einrichtung für sie eine Option darstellt, erzählt sie, dass sie bereits seit längerem den Wunsch hat, gemeinsam mit ihrem Mann in ein Pflegeheim umzuziehen, um mehr professionelle Unterstützung zu erhalten. Frau Moser begründet diesen Wunsch darüber, sich in der letzten Zeit zunehmend überfordert zu fühlen, was zum einen daran liege, dass die mit der schweren Demenz in Zusammenhang stehenden Symptome, wie beispielsweise die ausgeprägte Gangstörung und fast vollständig verlorene Sprache, die häusliche Pflege immer schwerer machen. Zum anderen habe ihre eigene Gesundheit in den zurückliegenden Jahren der Pflege, insbesondere infolge der ständigen Sorge und des Schlafmangels, stark gelitten. Die Durchsetzung dieses Wunsches erscheint jedoch nicht so einfach:
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
»Das haben wir gerade heute besprochen mit Tochter. Was machen wir, weil er nicht mehr gehen kann und so. Und ich sagte: ›Ins Heim.‹ Auf der anderen Seite weiß man ja auch, wenn man dort ist, hat man auch ein schlechtes Gewissen, wenn er dort ist. Und wenn man hier ist, ist man doch in der alten Umgebung. Und haben es jetzt so, wie soll ich sagen, vorläufig, gerade heute besprochen. Es war dann auch diese Frau vom [häuslicher Pflegedienst] da, dass man kommt in der Früh und Abend und hilft ihm und die Tochter kommt im Laufe des Tages (.) und (.) hilft ein bisschen, wenn es Not tut oder wenn ich irgendwohin gehen muss. Soll sich das Ganze, so lange wir noch können, wir sollen jetzt sehen, wie es ausfällt, zu Hause bleiben, hier. […] Denn das war wirklich bis heute immer ein Tabu. Ich habe nicht die Courage gehabt, denn die Tochter wollte es auf keinen Fall. Sie hält sehr zum Papa und macht alles, was der Papa will […] Und so hatte ich nicht den Mut. Und heute sagt sie dann: Und was machen wir? Und ich sagte dann: ›Ins Heim.‹ Zum ersten Mal. Aber dann, wie ich das sagte, kam diese von [Pflegedienst] und hat uns dann so reingeredet und so ein Programm gemacht, dass wir uns jetzt auf dieses eingelassen haben und probieren es so.« (ebd.: 906ff) Obwohl Frau Moser die Hauptpflegeperson ist, erfährt sie sich selbst nicht als entscheidungsbefugt im Hinblick auf die Veränderung der häuslichen Pflegesituation. Aus ihrer Narration geht hervor, dass ihr Mann nicht ins Pflegeheim möchte und innerhalb der Familie der Wille ihres Mannes maßgebend für die danach auszurichtenden Praktiken zu sein scheint, während ihr eigener (weiblicher) Wille sich der Stimme des Mannes unterzuordnen hat (vgl. Sauer 2010). Dieser Logik folgend erzählt sie es daher auch als »Tabu«, sich dem Willen ihres Mannes zu widersetzen und den Umzug in ein Pflegeheim vorzuschlagen. Den Mut, ihren persönlichen Wunsch zu formulieren, findet Frau Moser schließlich nur aufgrund der starken Verschlechterung des Gesundheitszustandes ihres Mannes, was infolge seiner widerholten Stürze auch auf Seiten der Tochter zu der Einsicht führt, dass dem Wunsch des Vaters nach Verbleib in der häuslichen Umgebung in der von ihm gewünschten Form nicht länger entsprochen werden kann. Den weiteren Verlauf der Situation lese ich so, dass sich Frau Moser im Gespräch mit ihrer Tochter zunächst reelle Chancen eingeräumt hat, diese vom Umzug ins Pflegeheim zu überzeugen. Das Eintreffen der Mitarbeiterin des Pflegedienstes hat die Situation dann jedoch wieder kippen lassen, sodass Frau Moser sich letztlich auf den Vorschlag verstärkter Unterstützung durch den Pflegedienst und die Tochter einlässt und die häusliche Pflegesituation fortgesetzt wird, solange sie noch können.
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Häusliche Pflege am Limit
Mit Frau Moser und Herrn Franz stehen sich hier zwei Fälle gegenüber, durch deren Kontrastierung sich die Bedeutung der individuellen Geschlechtsidentität für die Praktiken des Pflegens sehr gut veranschaulichen lässt. Herr Franz verkörpert dabei einen pflegenden Angehörigen, der sich, seine Situation und seine Pflegepraxis von Anfang an in Bezug setzt zu seiner männlichen Identität und damit verbundenen biografischen Denkund Handlungsmustern als berufsorientierter Mann, der Sorgearbeit im Sinne reproduktiver Tätigkeiten, wie Erziehung, Hausarbeit oder Pflege, traditionell eher dem weiblichen Zuständigkeitsbereich zuordnet. Die Erkrankung seiner Frau rekonstruiert er daher als bedeutenden biografischen Bruch, in dessen Folge er sich einen für ihn bis dato fremden Tätigkeitsbereich aneignen musste. Dabei wird diese Selbsterzählung innerhalb einer Ruhestandspraxis, die seinen biografisch aufgeschichteten Vorstellungen eines männlichen Ruhestandes ganz klar widerspricht, zur wichtigsten Grundlage für die Legitimation und Durchsetzung individueller Grenzen der Pflege. Und ebenjene Legitimation ist es, die im Fall von Frau Moser aufgrund ihrer Selbsterzählung als weibliche Pflegende fehlt, um sich ebenfalls von der Pflege abgrenzen zu können. Das bedeutet, dass die weibliche Geschlechtsidentität von Frau Moser dazu führt, dass die Fürsorge für ihren Mann und alle weiteren mit der Pflege verknüpften reproduktiven Arbeiten für sie ein so selbstverständlicher Bestandteil ihrer weiblichen Denk- und Handlungsmuster sind, dass sie die Überlastung zwar wahrnimmt, aber eine individuelle Entlastung nicht durchsetzen kann und zugleich aber auch die von ihr formulierte Grenze vom sozialen Umfeld nicht akzeptiert wird. Während der Fall von Herrn Franz demnach exemplarisch für vergeschlechtlichte Praktiken der Begrenzung von Pflege steht, verkörpert Frau Mosers Fall in maximalem Kontrast dazu die geschlechtsgebundenen Praktiken der Entgrenzung von Pflege. Wie bereits erwähnt, wurden beide Fälle direkt zu Beginn des theoretischen Samplingprozesses erhoben und initiierten damit meine Sensibilisierung für die Bedeutung von Geschlecht innerhalb der häuslichen Pflege, deren vertiefte Analyse im Mittelpunkt des nun folgenden Abschnittes stehen wird.
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
7.3
»Bis dass der Tod uns scheidet. Was anderes geht nicht.«: Formen vergeschlechtlichter Be- und Entgrenzung der Pflegepraxis
Im Abschnitt zu den geschlechtersoziologischen Grundlagen habe ich unter anderem darauf hingewiesen, dass das Wissen über spezifische vergeschlechtlichte Praktiken im Laufe des Lebens biografisch aufgeschichtet, auf dieser Grundlage wiederholt praktiziert und dabei internalisiert wird. Die im Fokus meiner Analysen stehende Untersuchungsgruppe ist zwischen 64 und 95 Jahre alt und es kann davon ausgegangen werden, dass in den früheren Lebensphasen bereits reichlich Geschlechterwissen aufgeschichtet und episodisch in der Handlungspraxis reproduziert wurde. Um die Vergeschlechtlichungen innerhalb des von mir untersuchten Pflegealltags erkennen und verstehen zu können, erscheint es dementsprechend sinnvoll, zum Einstieg in die Analysen einen Überblick zu den im Interview erzählten Episoden vergeschlechtlichter Vergesellschaftung in früheren Lebensphasen zu geben. Daran anschließend werden mit Fokus auf den Haushalt und die körperliche Pflege jene beiden Praxisfelder genauer beleuchtet, die – besonders von den männlichen Pflegenden – häufig mit Bezug auf die eigene Geschlechtsidentität erzählt wurden und sich dementsprechend als besonders ergiebig im Hinblick auf die Betrachtung der vergeschlechtlichten Be- und Entgrenzungen des Pflegealltags erweisen. Einen Kontrast dazu bildet das darauf folgende Fallbeispiel von Herrn Briese, welches der exemplarischen Veranschaulichung der empirisch beobachtbaren Episoden des Undoing Gender dient. Und die Verwobenheit von Sorge und Dominanz in der Pflegebeziehung wird abschließend im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Schlüsselkategorie der Grenzen der Pflege analysiert und daraus kritisch geschlussfolgert, welchen Beitrag die vorliegenden Analysen zur aktuellen wissenschaftlichen Debatte um Caring Masculinities zu leisten vermögen.
7.3.1
Zur vergeschlechtlichten Vergesellschaftung vor der Pflege
Was sich bereits im Fallkontrast von Frau Heinrich und Herrn Steg angedeutet (vgl. Kap. 6.2) und innerhalb der Kontrastierung von Frau Moser und Herrn Franz weiter fortgesetzt hat, ist die innerhalb des Samples vorherrschende Praxis des Doing Gender im Sinne traditioneller Aufgabenverteilung in den Lebensphasen vor der Erkrankung der Partner*innen. Diese Beobachtung ist zunächst einmal deckungsgleich mit dem bestehenden Forschungsstand (vgl.
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Backes 2008). Als Bestandteil der biografischen Narrationen bat ich die Interviewten immer auch darum, mir aus ihrer mittleren Lebensphase und dem damaligen Verhältnis von Arbeitszeit und Freizeit sowie der Aufgabenteilung innerhalb der Beziehung zu berichten: »Ich habe früher mehr Zeit gehabt, weil ich habe mich da im Häuslichen überhaupt nicht drum gekümmert. Das hat alles sie gemanagt.« (Franz: 392f) Was Herr Franz hier als einer der ersten Interviewten sehr kurz und prägnant auf den Punkt gebracht hat, setzt sich auch in den Erzählungen der anderen männlichen Pflegenden fort. Ebenso wie Herr Franz in den alten Bundesländern lebend, war es bei Herrn Steg und Herrn Briese so, dass die Ehefrauen nach der Hochzeit aus ihren erlernten Berufen ausschieden und: »nach der alten Regel [lebten]. Also hier Haus und Hof in Ordnung halten, kochen, dies und jenes machen. […] wie gesagt, nach der alten Regel, die es heute nicht mehr gibt oder die heute, sagen wir mal, belächelt wird. Aber war halt so.« (Steg: 686ff) Herr Steg macht hier deutlich, dass ihm durchaus bewusst ist, dass diese traditionelle Aufteilung geschlechtsspezifischer Zuständigkeitsbereiche innerhalb der Partnerschaft, mit der Frau in der privaten, häuslichen Sphäre und dem Mann im öffentlichen, deutlich geltungsstärkeren Bereich der Gesellschaft (vgl. Becker-Schmidt 2003), mittlerweile kritisch hinterfragt wird. Er rechtfertigt diese Handlungspraxis über den Verweis auf die damalige gesellschaftshistorische Zeit, in der diese innereheliche Aufgabenverteilung nach der alten Regel der gängigen Norm entsprach.19 Bei den männlichen Befragten aus den neuen Bundesländern waren die Ehefrauen in der mittleren Lebensphase zwar mehrheitlich ebenfalls berufstätig, aber auch hier übernahm die Frau das Gros der anfallenden Sorgearbeit. So berichtet beispielsweise Herr Dreher davon, dass seine Frau ab Geburt des ersten Kindes nur noch halbtags arbeitete und dies auch nach der Einschulung des dritten Kindes und bis zur Verrentung weiter beibehielt: »Und dadurch habe ich mich um Kochen oder sowas oder Einkaufen überhaupt nicht gekümmert. Das brauchte ich nicht.« (Dreher: 149) Und Herr Klopp, dessen Frau – genau wie er – immer Vollzeit arbeitete, stellt fest:
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Hier gilt es zudem erneut, die Besonderheit der Interviewsituation zu reflektieren, innerhalb derer der Rechtfertigungsdruck auf Seiten des älteren männlichen Interviewten auch durch mich als deutlich jüngere, weibliche, berufstätige Interviewerin verstärkt, wenn nicht sogar überhaupt erst erzeugt wird.
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
»Nee, ich habe mich ja um gar nichts gekümmert. Auch eingekauft hat sie, Wäsche oder Hemden oder Schlips. (lacht) Da war meine Frau/das ist enorm. Die hat alles gemacht, im Grunde.« (Klopp: 762ff) Gekümmert haben sich demnach in der Regel die Frauen und das – den Selbsterzählungen der männlichen Befragten zufolge – in gegenseitigem Einvernehmen: »Nein, da hat’s keine Probleme gegeben.« (Briese: 208f) Dieser Eindruck unproblematischer Arbeitsteilung deckt sich allerdings nicht mit den Schilderungen der weiblichen Interviewten: »Also mein Mann […] der war wenig für die Kinder da, weil er allen geholfen hat. […] Das hat mich manchmal rasend gemacht, aber mich auf den Hermann zu verlassen, dass der die Kinder mal holt, wenn ich länger gearbeitet habe/also das war/Da kam eben ein Kollege, der Hilfe brauchte oder einer hat den Bus verpasst. Oder er war nochmal zu seiner Mutti gegangen, die in der Nähe gewohnt hat, […], ist alles nachvollziehbar. Aber MICH hat es schon manchmal sehr genervt. Auf der Seite war kein Verlass. Ich war dann auf mich alleine gestellt. Ich habe immer voll gearbeitet. Ich habe nach dem dritten Kind ein paar Jahre am Fließband gemacht, da brauchte man nur halbtags arbeiten. […] Aber die ganzen Jahre sind meine Kinder immer in die Kinderkrippe gegangen ab EIN Jahr. Meine Mutti war im Winter da. […] Nur nach dem dritten Kind habe ich dann ein paar Jahre halbtags gearbeitet.« (Hahn: 199ff) Frau Hahn, die in den neuen Bundesländern lebt, erzählt ihre mittlere Lebensphase – ähnlich wie Frau Moser – als stressiges Changieren zwischen den Anforderungen der doppelten Vergesellschaftung als Frau (vgl. BeckerSchmidt 2003). Dabei wird deutlich, dass zwar der Wunsch nach Unterstützung durch ihren Mann vorhanden war, die Durchsetzung seiner eigenen Interessen letztlich aber doch als nachvollziehbar gerahmt wird. Das tradierte Konzept der Frau als Verantwortliche für die Versorgung der Kinder wird demnach trotz Vollzeiterwerbstätigkeit beider Elternteile nicht hinterfragt und so lag die Lösung für diesen Konflikt schließlich auch nicht darin, eine gleichberechtigtere Verteilung der Sorgearbeit innerhalb der Partnerschaft zu erreichen, sondern darin, dass Frau Hahn ihre Aufgabenbereiche innerhalb des Betriebes an die zeitlichen Anforderungen bei der Kinderbetreuung anpasste und die darüber hinaus notwendige Unterstützung von ihrer Mutter – und dementsprechend einem anderen weiblichen Mitglied der Familie – erhielt. Ähnlich verhielt es sich auch bei Frau Maler und ihrem Mann:
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»Mein Mann, die waren sechs Geschwister, vier Schwestern und da war klar, Weiberarbeit und Jungsarbeit wurde schön säuberlich getrennt. Und mein Mann hat mich bestochen mit angeblichen Kochkünsten. Als wir uns kennenlernten, hat er einen Radieschen-Salat gemacht, das war dann aber auch alles. (lacht) Es folgte dem nichts. Nein, das war eine klassische Rollenaufteilung. Aber ich muss mal sagen, wenn wir in den Urlaub fuhren und unser Auto stand dann nachts irgendwo im Regen und ging nicht mehr weiter, da war ich auch froh, dass ich dafür nicht zuständig war. […] Die Kinder haben manchmal gesagt: ›Vati muss mehr mitmachen, das darfst du dir nicht gefallen lassen.‹ Da habe ich dann gesagt: ›Erzieht ihr eure Männer.‹ (lacht) Ja, nein, das hängt mit seiner Geschichte zusammen. Der Vater war Pfarrer, die Mutter diese klassische Pfarrfrau und dann, ja, haben die Kinder/die Jungs haben Holz geholt und was weiß ich, Männerarbeit eben geleistet. Das ist so geblieben und da habe ich auch nichts erreicht bei meinem Mann. Das Einzige was ich erreicht habe, war, dass er Verständnis hatte für meinen Job und (.) auch Weiterbildungen unterstützt hat.« (Maler: 160ff) Frau Maler verweist hier auf die Relevanz der Geschlechtsattribution und der daran anknüpfenden geschlechtsspezifischen Sozialisation ihres Mannes. Weiterhin macht sie deutlich, dass es in der gesellschaftshistorischen Phase, in der sie und ihr Mann sich kennenlernten, bereits positiv konnotiert schien, wenn Männer vermeintlich weiblich kodierte Aufgaben übernahmen, um ihre potentiellen Partner*innen bei den reproduktiven Tätigkeiten zu unterstützen. Das Beispiel des Radieschen-Salats zeigt allerdings auch, dass die ausbleibende Umsetzung dieser Ankündigung im späteren Ehe- und Familienalltag nicht mit sozialen Sanktionen verbunden schien. Die Schilderung, auf der jährlichen Fahrt in den Urlaub nicht für die Reparatur des Autos zuständig gewesen sein zu müssen, wird von Frau Maler hierbei als Entschädigung des für sie im Alltag entstandenen Mehraufwandes konstruiert und fungiert als Legitimation für die mangelnde Unterstützung bei der Betreuung und Versorgung ihrer insgesamt fünf Kinder. Die Kritik der heranwachsenden Töchter an der fehlenden Unterstützung des Vaters im Haushalt blockt Frau Maler ab. Die Aussage ›Erzieht ihr eure Männer.‹ verweist dabei auf eine pauschal angenommene Notwendigkeit, als Ehefrau erzieherisch auf den eigenen Mann einwirken zu müssen, mit dem Ziel, eine nachhaltige Verhaltensänderung herbei zu führen (Krüger/Grunert 2006: 151). Und das Eingeständnis, dass ihr das nicht in ausreichendem Maße gelungen sei, legitimiert sie über die erneute Betonung seiner Geschichte und die damit einhergehende Relevantsetzung biografisch aufgeschichteten Geschlechterwissens,
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
welches – wenn erst einmal in der kindlichen Alltagspraxis eingeübt – im späteren Leben nicht mehr so einfach geändert werden könne. Mit der abschließenden Betonung, dass ihr Mann aber immerhin Verständnis für ihre Erwerbstätigkeit hatte, macht sie wiederum deutlich, dass das individuelle Geschlechterarrangement in ihrer Ehe dem sozialistischen Leitbild selbstverständlicher Doppelerwerbstätigkeit beider Partner*innen nicht gerecht wurde (vgl. Jurczyk et al. 2009: 49f). Diese Widersprüchlichkeit zwischen politisch-regulativen Konstruktionen gleichstellungsorientierter Handlungsleitbilder und den in der Alltagpraxis weiterhin wirksamen geschlechtshierarchischen Beziehungsstrukturen war in der ehemaligen DDR allerdings kein Einzelfall (vgl. Richter 2017: 39), sondern wird in der sozialwissenschaftlichen Debatte unter anderem im Zusammenhang mit der »patriarchalen Gleichberechtigung« (Nickel 1990) diskutiert. Anders als bei den männlichen Pflegenden wird die tradierte geschlechtsspezifische Aufgabenteilung innerhalb der Ehe bei Frau Maler, Frau Hahn und weiteren weiblichen Pflegenden des Samples demnach nicht als gemeinsamer Konsens erzählt, sondern eher als Tatsache der gesellschaftshistorischen Zeit, die sie nicht zu ändern vermochten. Für die Analysen der Praxis informeller Pflege sind diese Selbsterzählungen zu den Episoden vergeschlechtlichter Vergesellschaftung vor der Erkrankung ihrer Partner*innen wiederum aufschlussreich, weil sie verdeutlichen, dass die weiblichen Befragten in früheren Lebensphasen mit Familie, Haushalt und Erwerbstätigkeit verschiedenste Praxisfelder des Alltags »unter einen Hut« bringen mussten (vgl. Hahn: 218) und es dabei sowohl zeitlich als auch tätigkeitsbezogen kaum Grenzen gab. Demgegenüber schien es den männlichen Befragten mehrheitlich möglich, sich vorrangig auf ihre Erwerbsarbeit und nur wenige – eher technikbezogene – Tätigkeitsbereiche im privaten Bereich zu konzentrieren und sich dementsprechend erfolgreich vom Gros der alltäglich anfallenden Sorgearbeit abzugrenzen.
7.3.2
»Das bisschen Haushalt…«20 : Episoden vergeschlechtlichter Be- und Entgrenzung unterstützender Sorgearbeit
Am Anfang der informellen Demenzpflege steht in den allermeisten Fällen die bereits erwähnte Beobachtung, dass die Partner*innen sich zunehmend auf20
Bekanntes Zitat aus dem gleichnamigen Lied »Das bisschen Haushalt, sagt mein Mann«, welches in den 1970er Jahren von Johanna von Koczian veröffentlicht wurde.
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fällig verhalten und auf einmal Praktiken, die sie jahrzehntelang selbstständig durchgeführt haben, nicht mehr allein bewältigen können. Dabei enthalten die in den Narrationen verwendeten Beispiele aus dem Alltag in der Regel eine klare Geschlechtsspezifik, die in Zusammenhang mit der traditionellen Aufgabenteilung innerhalb der Partnerschaft steht. Denn während die weiblichen Pflegenden diese Veränderungen bei ihren Männern in der Regel am Beispiel des Autofahrens verdeutlichen, tendieren die männlichen Pflegenden eher dazu, den beobachteten Wandel an Beispielen aus dem häuslichen Praxisfeld festzumachen: »Aber es gab natürlich in der früheren Arbeitsteilung Dinge, die ich nur alleine gemacht habe. Zum Beispiel, wird ja in vielen Ehen so sein, dass der Mann mehr die technischen Sachen macht, ja, und die Frau die anderen Dinge, wie jetzt sich um Wäsche oder Kleidung und sowas kümmern […]. Waschen oder Wäsche waschen mach ich jetzt auch, aber doch 80 Prozent noch sie und nicht ich, als Beispiel. Wir kochen zusammen, schon immer, auch jetzt. Also es ist nicht so, dass […] ich auf einmal mehr Verlangen oder das Bedürfnis habe, jetzt mal etwas allein zu machen, bis auf die Dinge, die ich alleine machen muss und die jetzt auch ZUNEHMEN.« (Pohl: 723ff) Auch Herr Pohl legitimiert die von ihm und seiner Frau individuell praktizierte Aufgabenteilung hier zunächst einmal über die Annahme eines gesellschaftlich geteilten Konsenses bezüglich geschlechtsspezifischer Tätigkeitsbereiche innerhalb der Partnerschaft. Sich noch in der Anfangsphase der Demenzpflege befindend, beschreibt er den gegenwärtigen Wandel der bisherigen Arbeitsteilung. Hat seine Frau demnach zuvor noch 100 Prozent der Wäsche übernommen, sind es zum Zeitpunkt des Interviews nur noch 80 Prozent und er verzeichnet eine steigende Tendenz der Aufgaben, um die er sich aktuell und zukünftig allein kümmern muss. Dazu zählt für Herrn Pohl neben der Wäsche insbesondere die subjektive Erfahrung, seiner Frau zunehmend die Verantwortung für die im Haushalt anfallenden Arbeiten abnehmen zu müssen und sie stattdessen aktiv und kleinschrittig bei den Aufgaben anzuleiten. Für das gemeinsame Kochen und Backen bedeutet das beispielsweise, dass Herr Pohl und seine Frau nicht mehr nach und nach arbeitsteilig die einzelnen Zutaten aus dem Schrank holen und zusammenfügen, sondern dass er vorab sämtliche Zutaten abmisst und bereitstellt, weil seine Frau sonst durcheinanderbringt, wie viel von welcher Zutat sie bereits vermischt hat. Ganz ähnlich beschreibt rückblickend auch Herr Briese diese frühere Phase der Demenz bei seiner Frau:
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
»Ich meine, vieles konnte sie nicht mehr, aber sie wollte immer noch aktiv sein. ›Ich hab ja alles gekonnt, ich KANN alles.‹ Und ich hab sie dann/äh/im Haushalt helfen lassen jetzt nun und/äh/was sie nicht konnte, hab ich dann übernommen. Hab das Kochen dann übernommen, aber zum Beispiel Kartoffel schälen, Tisch decken und so weiter, das ging alles noch bei ihr.« (Briese: 379ff) Die Notwendigkeit der Verantwortungsübernahme für das Praxisfeld des Haushalts wird von den männlichen Pflegenden mehrheitlich als Herausforderung erzählt, die darin bestand, ihre Frauen aus den bis dato von ihnen verantworteten Tätigkeitsbereichen abzulösen, ohne ihnen dabei das Gefühl der Entmündigung zu geben oder sie in die Passivität zu drängen. Abgesehen von der interaktiven Hervorbringung von Geschlecht, die sich in diesen Aushandlungsprozessen gut erkennen lässt (vgl. Langehennig 2012: 10f), scheint die Besonderheit hier insbesondere auch darin zu liegen, dass die erkrankten Frauen – in der von mir untersuchten Pflegesituation – weiterhin in der häuslichen (Pflege-)Arena bleiben und damit sozialräumlich in dem ihnen biografisch zugewiesenen Zuständigkeitsbereich. Diese sozialräumlich verankerte Herausforderung sucht man demgegenüber bei den weiblichen Pflegenden vergeblich, da ihre Ehemänner das biografisch für sie traditionell relevante Praxisfeld der Erwerbstätigkeit bereits vor Beginn der Erkrankung verlassen haben. Stattdessen wird es von den weiblichen Pflegenden wiederholt als Herausforderung beschrieben, ihre Ehemänner davon abzuhalten, weiterhin der Praxis des Autofahrens nachzugehen. Im Vergleich zu den männlichen Pflegenden, die es als schwierig berichten, ihre Partner*innen aus ihren häuslichen Zuständigkeitsbereichen abzulösen, stellt es allerdings nur in den seltensten Fällen eine Option dar, dass die Frauen trotz vorhandenem Führerschein das Autofahren übernehmen.21 Frau Kleber versucht es daher mit dem Kompromiss, ihren Mann keine unbekannten Strecken mehr fahren zu lassen: »Und wir fahren nun mit dem Auto eigentlich nur noch zum Einkaufen oder rüber in den Garten.« (Kleber: 280f) Und im Fall von Frau Hahn liegt die Lösung dieses Problems trotz ländlicher Wohnlage schließlich in der Abschaffung des Autos: 21
Die Ausnahme bildet hier Frau Heinrich, die in der früheren Phase der Erkrankung ihres Mannes ihren Führerschein macht und sich ein eigenes kleines Auto kauft, um weiterhin mit ihrem Mann in den Garten fahren oder Ausflüge machen zu können. Allerdings hatte Herr Heinrich selbst keinen Führerschein und es bestand dementsprechend keine Ablöseproblematik von Praktiken, die zuvor in seinen Zuständigkeitsbereich fielen.
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»Jetzt haben wir es weggegeben. Ich will nicht, dass der Hermann ein Auto fährt. Ich habe zwar mal die Fahrerlaubnis noch gemacht, aber ich bin nie gefahren. Wenn das Auto dasteht, dann will er auch fahren. Und/also ich habe nicht erlebt, dass schon was passiert war, aber wir wollten auch nicht, dass es so weit kommt. […] Aber dieser Satz hat mir schon wehgetan: ›Die hat mein Auto verkauft.‹ Das hat mir schon manchmal wehgetan.« (Hahn: 47ff) Frau Hahn macht hier deutlich, dass es einen längeren Aushandlungsprozess zwischen ihr und ihrem Mann gab, an dessen Ende sie gegen den Willen ihres Mannes das Auto verkaufte und sich mit dieser Entscheidung den Unmut ihres Mannes zuzog. Während die vergeschlechtlichte Vergesellschaftung bei Frau Hahn und ihrem Mann demnach innerhalb der Pflegesituation dazu führt, dass die Praxis des Autofahrens generell aufgegeben und die sozialräumliche Mobilität dementsprechend deutlich begrenzt werden muss, stellt es im Falle der männlichen Pflegenden mit häuslicher Ablöseproblematik jedoch keine Option dar, die reproduktiven Praktiken der Haushaltsführung gänzlich aufzugeben. Damit ist nicht gemeint, dass sie diese nicht an andere – zumeist weibliche – Haushaltshilfen abgeben (könnten), sondern dass sie nicht umhinkommen, ihre Frauen zunächst einmal davon abzubringen, den Haushalt weiter fortführen zu wollen. Daher kennzeichnet sich die erste Phase der Demenzpflege bei den männlichen Pflegenden nicht selten zunächst einmal durch eine Entgrenzung ihrer Zuständigkeitsbereiche und die notwendige Ablösung ihrer Frauen im häuslichen Praxisfeld stellt sie dabei zudem ebenfalls nicht selten vor die Aufgabe, sich Sorgearbeiten wie das Kochen oder Waschen der Wäsche neu aneignen zu müssen, ohne dass ihre Partner*innen ihnen noch zeigen können, wie sie vorzugehen oder worauf sie zu achten haben: »Mittwoch muss ich also die Hausarbeit/mache ich ihr Essen. Mache ich ihr selbst. Was nun? Mache auch manchmal eine Büchse auf. Gibt es herrliche grüne Bohnen. […] Mache ich die Büchse auf, das reicht für uns vollkommen. […] Problem ist natürlich, ich bin der Hausmann geworden. Habe mich aber/Ich habe mich um NICHTS gekümmert. Hat alles sie gemacht. Staune ich, dass sie das alles im Griff hatte. So. Einkauf, Frühstück und Mittagessen bereitstellen. Natürlich gehen wir auch mal essen. Und da MUSS ich sagen: Wenn wir essen gehen, […], sie isst gerne Puffer, mit Messer und Gabel. Einwandfrei. Wird sie belohnt von mir. Kriegt sie ein Küsschen extra. Ja. […] Sie isst einwandfrei und fällt dort überhaupt nicht auf. Und aber ansonsten mache ich eingelegten Hering, Quark, Klöße und so. Diese Gerichte mache
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
ich selbst. Die essen wir dann Sonnabend, Sonntag. […] Und so kommen wir dann durch.« (Klopp: 627ff) Herr Klopp, der zum Zeitpunkt der Übernahme der Sorgearbeit bereits knapp 90 Jahre alt ist, problematisiert hier die subjektive Erfahrung, zum Hausmann geworden zu sein, ohne über das notwendige Wissen zu verfügen. Was nun? Herr Klopp erhält familiäre und professionelle Unterstützung. Sohn und Schwiegertochter übernehmen den Großteil der Einkäufe. Einmal pro Woche putzt eine Reinigungskraft die Wohnung. Das Frühstück bereitet Herr Klopp morgens zu, während eine professionelle Pflegekraft seine Frau wäscht und anzieht. An zwei Tagen die Woche geht seine Frau in die Tagespflege und isst dort zu Mittag, an zwei weiteren Tagen geht das Ehepaar Klopp in einer Seniorenbegegnungsstätte Mittagessen und so bleibt ihm noch die Essensverantwortung für den Mittwoch sowie das Wochenende. Herr Klopp hilft sich mit regelmäßigen Ausflügen ins Restaurant und unkomplizierten Gerichten, die entweder nur erwärmt werden müssen oder nur der Zubereitung gekochter Kartoffeln als Beilage bedürfen. Dabei deutet Herr Klopp wiederholt an, dass seine Praxis als Hausmann zwar nicht mit der biografisch bis dato gewohnten Haushaltsführung seiner Frau vergleichbar scheint, aber wenn man – wie er – seine Ansprüche ein wenig runterschraubt, dann reichen eben auch mal ein paar herrliche grüne Bohnen aus der Dose, um die Grundversorgung zu gewährleisten und sicherzustellen, dass beide durchkommen. Indem Herr Klopp sich hier von den fürsorglichen Fähigkeiten seiner Frau abgrenzt und sich als männlichen Pflegenden erzählt, demonstriert er einen Pflegestil, der nicht in Konflikt mit seiner Geschlechtsidentität gerät. Die von Herrn Klopp erwähnten Restaurantbesuche erweisen sich mit Blick auf das vorliegende Sample als eine Praxis, die ausschließlich von männlichen Pflegenden erzählt wird. Wie bereits in den Analysen zu den Arenen der Pflege ausgeführt, haben die Blicke der verallgemeinerten Anderen außerhalb der häuslichen Pflegearena eine normierende Wirkung auf die Pflegenden und ihre Partner*innen mit Demenz (vgl. Kap. 4.2). Dabei zeigt sich in der oben zitierten Textpassage, dass auch bei Herrn Klopp der Wunsch besteht, in der Öffentlichkeit mit seiner Frau nicht aufzufallen. Im Zweifelsfall nimmt er dies allerdings in Kauf, weil die Entlastung, die er erfährt, wenn er durch den Restaurantbesuch nicht für die Zubereitung des Mittagessens zuständig ist, größer zu sein scheint als die Belastung durch potentielle Blicke anderer Restaurantgäste. Umso mehr freut es ihn, wenn seine Frau es schafft, ihr Essen so zu sich zu nehmen, dass sie von den Blicken der anderen Restaurantgäs-
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te verschont bleiben. Bei den weiblichen Pflegenden des Samples wiederum scheint die durch das Essen gehen entstehende Entlastung vom Kochen nicht die Belastung durch die blickenden Anderen aufzuwiegen, was dazu führt, dass sich die weiblichen Pflegenden meines Samples mit zunehmender Auffälligkeit der Demenz ihrer Ehemänner stärker in die häusliche Pflegearena zurückziehen. Und so liegt es hier schließlich nahe, die sozialräumliche Begrenzung auf das Private in diesem Kontext als vergeschlechtlichte Praxis zu deuten. Nicht unbeachtet in der Textpassage von Herrn Klopp bleibt zudem auch das Staunen darüber, dass seine Frau die häusliche Sorgearbeit all die Jahre so gut im Griff hatte, denn diese Form später Anerkennung der Leistung ihrer Partner*innen ist kein Einzelfall in den Selbsterzählungen der männlichen Pflegenden. Zu einem späteren Zeitpunkt des Interviews erklärt Herr Klopp diesen Unterschied zwischen sich und seiner Frau unter Rückgriff auf tradiertes Geschlechterwissen: »[D]ie Frau ist ja häuslicher. Schon alleine den Haushalt, den ich mache. Wenn ich jetzt hier krank wäre, würde meine Frau den Haushalt mit links machen, wahrscheinlich. Und mir macht es große Schwierigkeiten.« (ebd: 1754f) Herr Klopp macht damit deutlich, dass ihm vor dem Hintergrund der Gesamtheit der täglich anfallenden Sorgearbeiten innerhalb der Pflege bereits die notwendigen reproduktiven Tätigkeiten im Haushalt Probleme bereiten und legitimiert die von ihm erfahrenen Schwierigkeiten über die Naturalisierung der sozial konstruierten Zuweisung der Sorgearbeit an das weibliche Geschlecht. Im Hinblick auf die vergeschlechtlichten Episoden in der Praxis unterstützender Sorgearbeit in der häuslichen Pflegearena steht dem männlichen Staunen im vorliegenden Sample ein weibliches Selbstverständnis gegenüber, welches dazu führt, das diese Formen der Sorgearbeit von den weiblichen Pflegenden nicht zur alltäglichen Pflegepraxis dazu gezählt oder generell gar nicht erst erwähnt werden. So erzählt sich Frau Moser, wie bereits im Fallportrait aufgezeigt wurde, als Hausfrau und die unterstützende Sorgearbeit dementsprechend als selbstverständlichen Teil ihrer Geschlechtsidentität und den damit im Alltag verbundenen Tätigkeitsanforderungen (vgl. Kap. 7.2). »Kochen, Waschen, Bügeln, Fenster putzen« (Moser: 232) werden im Alltag von Frau Moser daher eher als Auszeiten von der Pflege gerahmt als das gemeinsame Fernsehgucken an den Nachmittagen, »wenn man dann gespült hat und alles« (ebd.: 285f) und die Zeit bis zum Abendessen totgeschlagen werden muss (vgl. Kap. 6.3.3). Ähnlich scheint es auch Frau Heinrich zu gehen, die bei der Schilderung ihres Pflegealltags zunächst die nächtliche Sorgearbeit problemati-
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siert (vgl. Kap. 6.3.2), um anschließend zu berichten, dass sie insbesondere an den Vormittagen deutlich besser mit ihrem Mann klarkomme als nachts, weil: »Er ist anwesend und ich mach meine Hausarbeit.« (Heinrich: 283) Das von ihr verwendete Possessivpronomen verweist hierbei auf ihr Verständnis der Zugehörigkeit der Hausarbeit zu ihrer Person und die Praxis der Hausarbeit wird von ihr als Zeitfenster des Tages gerahmt, innerhalb dessen sie sich auf ihre Tätigkeiten – meine Hausarbeit – konzentrieren kann, während ihr Mann einfach nur anwesend ist und keine auf ihn bezogenen Pflegepraktiken erforderlich sind. Für die Selbsterzählungen zu den Episoden unterstützender Sorgearbeit kann daher festgehalten werden, dass die vergeschlechtlichte Vergesellschaftung vor der Pflege bei den untersuchten Personen zu unterschiedlichen Deutungen der mit der informellen Pflege verbundenen Aufgabenbereiche führt. Während also die männlichen Pflegenden Sorgearbeiten wie Kochen oder Wäsche waschen als Teil der informellen Pflegepraxis deuten, sind diese unterstützenden Sorgearbeiten für die weiblichen Pflegenden nicht neu, sondern mehrheitlich biografisch mit ihrer Geschlechtsidentität verknüpft. Das bedeutet, dass die männlichen Pflegenden insbesondere zu Beginn der informellen Pflege eine deutlichere Entgrenzung der mit der Pflege verknüpften Anforderungen berichten als die weiblichen Pflegenden. Und diese geschlechtsspezifische Wahrnehmung des Pflegeaufwands erscheint dann wiederum auch von Bedeutung für die erkennbaren Be- und Entgrenzungspraktiken im weiteren Verlauf der Pflege. Dazu bietet sich an dieser Stelle ein erneuter Blick in den »Überblick zur Inanspruchnahme von Unterstützung in der jeweiligen Phase der Demenzpflege« an (vgl. Kap. 6.3.2, Abb. 6). Denn aus dieser Abbildung wird ersichtlich, dass über die unterschiedlichen Phasen der Pflege hinweg keine der von mir interviewten weiblichen Pflegenden irgendeine Form von Hilfe für die unterstützenden Sorgearbeiten in Anspruch nimmt. Demgegenüber berichten die männlichen Pflegenden im Verlauf des Interviews mehrheitlich davon, mit zunehmender Schwere der Demenz ihrer Partner*innen irgendwann zusätzliche Hilfe für die unterstützenden Sorgearbeiten in Anspruch genommen zu haben. Und während im Fall von Herrn Dreher die Tochter Aufgaben wie das Waschen und Putzen übernimmt, erzählen Herr Steg, Herr Briese, Herr Klopp und Herr Thiel von weiblichen Haushaltshilfen, die sich mindestens einmal pro Woche um die Wäsche und die Sauberkeit in der häuslichen Pflegearena kümmern. Es bestätigt sich demnach die empirische Beobachtung, dass es – wie in der Abbildung ersichtlich – zu Beginn der Erkrankung bei den männlichen Pflegenden zur
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Ablösung und Übernahme der unterstützenden Sorgearbeiten kommt und demnach eine Art doppelte Entgrenzung der bis dato tradiert männlich vergesellschafteten Partner – erstens als Pflegende und zweitens als Hausmann (vgl. Klopp: 628) – konstruiert wird. Und während die männlichen Pflegenden diese doppelte Entgrenzung im Verlauf der Erkrankung durch externe Hilfen wieder begrenzen, zählt die unterstützende Sorgearbeit in den Narrationen der weiblichen Befragten eher nicht in den Bereich der Pflegepraxis und wird dementsprechend auch mit Anstieg der notwendigen direkten Sorgearbeit nicht abgegeben. Diese Beobachtung ist unter anderem deswegen von Relevanz, weil sie darauf verweist, dass es methodisch nicht ausreicht, die objektiv messbare zeitliche Belastung innerhalb der informellen Pflege zu erheben, der zufolge man zunächst einmal davon ausgehen würde, dass die von den pflegenden Angehörigen zu leistenden unterstützenden Sorgearbeiten für alle Geschlechter ähnlich ausfallen. Stattdessen zeigt sich, dass die in den Selbsterzählungen kommunizierten subjektiven Belastungen in Abhängigkeit von biografisch aufgeschichtetem Geschlechterwissen und den damit eng verknüpften Praktiken des Doing Gender je nach sozialem Geschlecht der Betroffenen sehr unterschiedlich erfahren werden und dementsprechend nicht ignoriert werden dürfen, wenn man die Situation der pflegenden Angehörigen in ihrer Komplexität abbilden und verstehen möchte.
7.3.3
Wenn Pflege körperlich wird: Episoden vergeschlechtlichter Be- und Entgrenzung direkter Sorgearbeit
Während in der informellen Demenzpflege die Praktiken der unterstützenden sowie der indirekten Sorgearbeit bereits ab der frühen Phase der Demenz zum Alltag der pflegenden Partner*innen gehören, erlangt die direkte Sorgearbeit, wie bereits erwähnt, in der Regel erst ab der mittelschweren Phase der Demenz zunehmend an Bedeutung und ist im schweren Stadium der Erkrankung dann unumgänglich. Die in den Interviews erfragte Rekonstruktion des Pflegealltags generiert dabei einen hilfreichen Überblick zu den typischen Formen direkter Sorgearbeit innerhalb der informellen Demenzpflege. So berichten einige der Befragten beispielsweise davon, ihren Partner*innen jeden Morgen beim Anziehen behilflich zu sein, wobei es in manchen Fällen noch ausreicht, die einzelnen Kleidungsstücke rauszuzulegen, um zu verhindern, dass die Partner*innen sich »drei Paar Socken« übereinander ziehen oder aussehen wie ein »Bajazzo« (vgl. Kleber: 395; Franz: 385). In anderen Fäl-
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le ist es bereits nötig, die anzuziehenden Kleidungsstücke einzeln hinzugeben (vgl. Briese: 485ff; Steg: 264ff). Weiterhin ist es in den allermeisten Fällen ab der mittelschweren Phase der Demenz notwendig, Schritt für Schritt das Zähneputzen anzuleiten. Das bedeutet: »Ihr die Zahnbürste in die Hand drücken/äh/drauf mit Zahnpasta und ›Nun komm, putz dir die Zähne.‹ Ja/äh/wenn ich Glück hab, macht sie‘s gleich, wenn ich Pech hab,/äh/klopft sie erst mal die ganze Zahnpasta runter wieder und so. Also, das nur als Beispiel.« (Steg: 88ff) Verantwortlich für den steigenden Anteil direkter Sorgearbeit sind demnach in der Regel zunächst kognitive Einschränkungen, wie das Vergessen der Funktion einzelner Artefakte des täglichen Lebens, und erst im weiteren Verlauf kommen dann vermehrt physische Beschwerden hinzu (vgl. Kap. 2.2). Und so entsteht zum Beispiel bei Herrn Steg, Herrn Dreher, Frau Werner, Frau Moser oder Herrn Klopp an manchen Tagen die Notwendigkeit, ihren Partner*innen Nahrung anzureichen, weil das selbstständige Essen mit Besteck nicht mehr klappt und Herr Klopp sowie auch Frau Maler begleiten oder begleiteten ihre Partner*innen zeitweilig beim Toilettengang, um sicherzustellen, dass die Toilette rechtzeitig gefunden und die Handtücher im Bad nicht zweckentfremdet werden. Diese Beispiele verweisen darauf, dass sich in der Empirie zunächst einmal verschiedenste direkte Sorgearbeiten im Alltag der informellen Demenzpflege finden lassen, die unabhängig vom sozialen Geschlecht von allen pflegenden Angehörigen durchgeführt und in den Rekonstruktionen des Pflegealltags unter Verzicht auf die Relevantsetzung von Geschlecht erzählt werden. Diese episodische Irrelevanz von Geschlecht verschwindet jedoch – insbesondere bei den männlichen Pflegenden des Samples –, wenn es um spezifische Praktiken der reinigenden Körperpflege geht. Angefangen beim Fallkontrast von Frau Moser und Herrn Franz, in dem die potentielle Notwendigkeit, seine Frau in Zukunft körperlich pflegen zu müssen, für Herrn Franz der Auslöser wäre, seine Frau in ein Pflegeheim zu geben, zieht sich die gegenwartsbezogene Abgabe oder aber zukunftsbezogene Ablehnung spezifischer körperlicher Pflegepraktiken immer wieder durch die Narrationen der männlichen Pflegenden. Und während Herr Franz davon berichtet, dass er nur annehmen kann, dass seine Frau sich wäscht, weil sie nach wie vor allein ins Bad gehe (vgl. Franz: 381ff), fordert die Frau von Herrn Klopp im Badezimmer bereits zunehmend seine Hilfe ein: »Ach nein, erst noch mal ein bisschen waschen. Macht sie nicht gerne. Das macht sie nicht gerne. Aber ich muss sie ja dazu/Hier, gestern zum Beispiel. ›Du könntest
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mal unter meinen Armen waschen.‹ Ich sage: ›Aber das hast du doch immer selbst gemacht.‹ Ich wasche nur ein bisschen über den Rücken. Na weil die eventuell geschwitzt hat. ›Aber vorne musst du selbst machen.‹ Sie weiß auch nicht, welcher Waschlappen wofür ist. Das weiß sie nicht.« (Klopp: 287ff) Herr Klopp, der bis dato eigentlich hauptsächlich beim Baden dabei war, um sicherzustellen, dass auch der Rücken seiner Frau sauber wurde und sie den richtigen Waschlappen für die entsprechenden Zonen ihres Körpers nutzt, steht zum Zeitpunkt des Interviews vor der Herausforderung, dass seine Frau sich nicht mehr verlässlich selbst wäscht und er eigentlich gefordert wäre, ihre Körperwäsche zu übernehmen. Der Bitte seiner Frau, sie auch unter den Armen zu waschen, kommt er nur zögerlich nach und stellt klar, dass er zwar die Arme mitwaschen kann, sie sich vorne – womit er auf ihren Intimbereich anspielt – aber weiterhin selbst waschen muss. Damit markiert er eine Grenze, deren Aufrechterhaltung er etwas später im Gespräch darüber legitimiert, dass die Mitarbeiterin des Pflegedienstes, die an drei Tagen in der Woche seine Frau wäscht und versorgt, besser für diesen speziellen Bereich der Pflege qualifiziert sei als er: »Und SIE macht das einfach gründlicher. Die zieht dann ihre Handschuhe an und dann kann sie die richtig/Aber das mache ich ja nicht. WOAH. (schüttelt sich) […] Nein, das ist/Obwohl wir früher, wo wir jung waren/Haben wir das ja immer/War eine andere Zeit. Jetzt kann man nicht vergleichen, ja? […] Das ist doch nicht mein Ding, jetzt meine Frau hier so zu waschen.« (Klopp: 933ff) Das Sprechen über die Option, seine Frau in ihrer Intimzone zu waschen, wird an dieser Stelle des Gespräches begleitet vom Affekt des Ekels, für dessen Deutung hier erneut an das Affektparadigma erinnert sei, welches die praxistheoretische Perspektive der vorliegenden Untersuchung maßgeblich mitbestimmt (vgl. Kap. 2.4). Dieser Perspektive entsprechend verstehe ich den in dieser Situation bei Herrn Klopp sichtbaren Affekt nicht als biologisch-körperliche Reaktion, sondern als wichtigen Bestandteil des Sozialen und dessen Produkt: »Affekte sind nicht subjektiv, sondern sozial. Sie sind keine Eigenschaft, sondern eine Aktivität. Sie bezeichnen körperliche LustUnlust-Erregungen, die auf Bestimmtes (Subjekte, Objekte, Vorstellungen) gerichtet sind.« (Reckwitz 2016: 170) Doch wie lässt sich dies konkret auf die Situation von Herrn Klopp übertragen? Angefangen beim dritten der drei – von Reckwitz formulierten – Grundsätze affektiver Praxis ist relativ problemlos erkennbar, dass der von Herrn Klopp geäußerte Ekel einer Unlust-
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Erregung entspricht, die auf die Vorstellung gerichtet ist, seine Frau im Intimbereich waschen zu müssen. Darüber hinaus ist es im Hinblick auf den zweiten Grundsatz zudem naheliegend, den über den Ausruf »WOAH« und das Schütteln seines Oberkörpers gezeigten Ekel als Sprechhandlung sowie körperliche Praxis und dementsprechend als Aktivität statt als individuelle Eigenschaft zu deuten. Doch wie kommt es zu dieser Aktivität? Und wie lässt sich der Ekel in dieser Situation erklären? Die an dieser Stelle im Gespräch erkennbare affektive Aktivität von Herrn Klopp entspricht situativen Leiberfahrungen, die nicht subjektiv sind, sondern entsprechend dem ersten Grundsatz von Reckwitz als soziales Produkt vorangegangener Praktiken und inkorporierter Wissensbestände verstanden werden können. Das bedeutet, Herr Klopp hat besagten Ekel und dessen Ausrichtung sozial erlernt (vgl. Hillebrandt 2014: 65). Indem er sich als früherer Sexualpartner seiner Frau erzählt, weist er darauf hin, dass es ihm nicht um einen grundsätzlichen Ekel vor der Berührung des Intimbereiches seiner Frau geht. Stattdessen macht er deutlich, dass die Vorstellung, seine Frau nun an dieser – für ihn als Ehemann traditionell mit dem Sexualkontakt zwischen seiner Frau und ihm verknüpften – Zone ihres Körpers zu waschen, nicht vereinbar mit seiner Geschlechtsidentität erscheint. Während SIE – hier ist demnach auch das soziale Geschlecht der professionellen Pflegekraft von Relevanz – sich unter Zuhilfenahme von Gummihandschuhen gegen den potentiellen Ekel schützen und den Intimbereich seiner Frau gründlich waschen kann, kann er sich mit diesem spezifischen Bereich direkter Sorgearbeit nicht arrangieren – nicht sein Ding. Unterstrichen von der affektiven Praxis des Ekels markiert Herr Klopp hier demnach eine Grenze der Pflege, die er über den Rückgriff auf seine männliche Geschlechtsidentität legitimiert. In diesem Punkt gibt es interessanterweise eine große Ähnlichkeit zwischen dem Fall von Herrn Klopp und dem von Herrn Franz. Denn wie bereits erwähnt, benennt Herr Franz die zukünftige Notwendigkeit der körperlichen Pflege seiner Frau als potentiellen Auslöser für die Beendigung der häuslichen Pflege und die Abgabe seiner Frau in ein Pflegeheim. Dabei ist auch in seiner Selbsterzählung der Affekt des Ekels von Bedeutung, der sich in seinem Fall allerdings auf die Vorstellung bezieht, sich im Rahmen der zunehmenden Pflegebedürftigkeit irgendwann auch um die Beseitigung der Notdurft seiner Frau kümmern zu müssen, was er über seine männliche Biografie begründet, innerhalb derer er es auch ablehnen konnte, seine Tochter zu wickeln, ohne dafür soziale Sanktionen fürchten zu müssen (vgl. Kap. 7.2).
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Im Fall von Herrn Steg sind es wiederum weniger die im Rahmen vergeschlechtlichter Vergesellschaftung sozial erlernten Affekte, die die Grenzen der für ihn vorstellbaren Pflege vorgeben, aber genauso wie Herr Franz und Herr Klopp beruft auch er sich auf seine männliche Geschlechtsidentität, um die Ablehnung bestimmter körperbezogener Sorgearbeiten zu legitimieren: »Der Computer ist kaputt, die Mechanik geht noch. Wenn die Mechanik überhaupt nicht mehr gehen würde, dann wüsste ich mir nicht zu helfen. Dann müsste ich irgendwas tun. Ich/äh/das kriege ich wahrscheinlich nicht hin und/ähm/ja, das hab ich auch/äh/Wir gehören ja auch noch zu der Generation/äh/wo`s also eine ganz klare Teilung gab. Die Frau ist für den Haushalt da und der Mann ist für`s Geld verdienen da. Ich hab meinen Lebtag nie gekocht oder sowas gemacht. Musste ich mich da rein/äh/finden. Ich wüsste auch nicht, wie man nun jemanden versorgen würde, der also dort liegen muss und sich wundgelegen hat und so`n Zeug. Also wenn diese Dinge kämen, dann wüsste ich/äh/nicht, ob ich sie dabehalten könnte. Wenn da so, also wenn da so eine, so eine Aufgabe dann noch drauf käme.« (Steg: 445ff) Aus dem technischem Berufsfeld kommend, vergleicht Herr Steg den Verlauf der Demenz bei seiner Frau mit einer defekten Maschine. Dabei bezieht sich der kaputte Computer auf die zunehmenden kognitiven Einschränkungen und die Mechanik auf die physischen Beschwerden, die insbesondere in der Phase der schweren Demenz vermehrt auftreten. Indem er hier spezifische Deutungsmuster aus seiner beruflichen Profession heranzieht, um sich bestimmte Aspekte der Erkrankung zu erklären, gelingt es Herrn Steg, einen Zugang zu der für ihn ansonsten so fremden Welt der Sorgearbeit zu finden und so hat er sich im Hinblick auf die Bedürfnisse seiner Frau angewöhnt, wie »vom Beruf her vorprogrammiert, […] hineinzuhorchen. […] Die sagt mir nicht, wo’s Problem ist, sondern hineinzuhorchen.« (ebd.: 384ff) Über den Bezug auf seinen Beruf erklärt Herr Steg demnach einerseits, warum es ihm gelingt, die indirekte und direkte Sorgearbeit zu übernehmen, die in Zusammenhang mit den kognitiven Einschränkungen seiner Frau steht. Schließlich macht er über die Ablehnung der körperlichen Pflege im Falle von Bettlägerigkeit aber andererseits auch deutlich, dass diese Aufgabe die Grenze dessen überschreiten würde, was er als männlicher Pflegender zu übernehmen bereit ist. Einmal mehr verweist er auf die traditionelle Aufgabenteilung, die er an anderer Stelle im Interview bereits als Leben »nach der alten Regel« (vgl. ebd.: 701) beschrieben hat und macht damit deutlich, dass er sich seit Beginn der Erkrankung seiner Frau im häuslichen Aufgabenbereich schon in so viele
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neue Praktiken hineinfinden musste und dementsprechend nicht weiß, ob er noch mehr zusätzliche Aufgaben zu leisten imstande ist. Ähnlich wie bereits Herr Klopp deutet Herr Steg hier zudem implizit an, dass die weiblichen Pflegenden mit den anfallenden Aufgaben in der Pflege weniger Probleme haben müssten, weil sie – im Falle traditioneller Aufgabenteilung – biografisch spätestens seit der Familiengründung damit vertraut sind, einen Großteil der anfallenden Sorgearbeit zu übernehmen. Einmal mehr zeigt sich an diesem Beispiel die bereits in Bezug auf die unterstützende Sorgearbeit formulierte Tendenz, dass die Übernahme der Pflegeverantwortung für die Partner*innen beim Großteil der männlichen Pflegenden des vorliegenden Samples einen Konflikt mit ihrer männlichen Geschlechtsidentität zu erzeugen scheint, vor deren Hintergrund spezifische Grenzen der Pflege begründet werden. Diese wirken auf den ersten Blick individuell gesteckt, auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass die nicht vorhandene Selbstverständlichkeit der Übernahme der Pflegeverantwortung innerhalb der Pflegepraxis wiederum in die Selbstverständlichkeit mündet, bestimmte, vorrangig körperbezogene, Pflegepraktiken auszulagern. Diese Annahme bestätigt sich zum einen, wenn man erneut in den tabellarischen Überblick zur Inanspruchnahme von Unterstützung in der jeweiligen Phase der Demenzpflege zurückblättert (vgl. Kap. 6.3.2) und zum anderen aber insbesondere über den Kontrast, der entsteht, wenn man sich die Selbsterzählungen der weiblichen Pflegenden im Hinblick auf potentielle Grenzen direkter Sorgearbeit näher anschaut. Bei den weiblichen Pflegenden im vorliegenden Sample fällt generell zunächst einmal auf, dass sie deutlich seltener und erst relativ spät im Verlauf der Demenzpflege professionelle oder familiäre Hilfen in Anspruch nehmen (vgl. Kap. 6.3.2, Abb. 6). Während in der Phase der mittelschweren Demenz bereits alle interviewten männlichen Pflegenden externe Hilfe erhalten, sind es bei den weiblichen Pflegenden nur Frau Hahn und Frau Zapf. Bei Frau Hahn ergibt sich diese Unterstützung darüber, dass zwei ihrer Töchter in unmittelbarer Nachbarschaft leben. Frau Zapf hingegen schickt ihren Mann seit kurzem zweimal die Woche zur Tagespflege. Die Unterstützung, die Frau Hahn und Frau Zapf erhalten, bezieht sich demnach eher auf indirekte Sorgearbeiten, die der zeitlichen Entlastung der beiden dienen. Und auch bei den weiblichen Pflegenden, deren Ehemänner zum Zeitpunkt des Interviews bereits im Stadium der schweren Demenz angekommen sind, werden die direkten Sorgearbeiten weitestgehend selbst übernommen und nur bei Frau
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Werner und Frau Maler findet sich Unterstützung durch professionelle Pflegekräfte. Der Fall von Frau Maler ist dabei insofern besonders, als sie die einzige Person im Sample ist, die ihren Mann zwischenzeitlich bereits in ein Pflegeheim gegeben hatte und ihn nach ein paar Monaten aber wieder zu sich holte, weil sie nicht mit ansehen konnte, wie schnell er im Pflegeheim kognitiv und physisch abbaute. Die ursprüngliche Entscheidung, ihn in ein Pflegeheim geben zu müssen, traf Frau Maler, nachdem sie sich in der direkten Sorgearbeit, beim Abstützen ihres Mannes auf dem Toilettenstuhl, eine Rippe brach: »Jetzt sagt dir dein Körper, du kannst das nicht. Gib es doch endlich zu.« (ebd.: 369f) Den Rippenbruch deutet Frau Maler als Signal ihres Körpers, die eigene Belastbarkeit überschritten zu haben.22 Dabei beschreibt sie sich selbst als pflegende Angehörige, die bis zu diesem Zeitpunkt alles selbst übernommen hat und sich so mit der Pflegeverantwortung für ihren Mann identifizierte, dass sie sich lange Zeit weder ihr bereits vorhandenes Bedürfnis nach Auszeiten von der Pflege zugestand, noch auf die vor dem Rippenbruch zunehmenden Überlastungs- und Erschöpfungssignale ihres Körpers einging. Die Selbstanklage – »Gib es doch endlich zu.« – lässt sich dabei so deuten, dass der Rippenbruch nicht den Initiator für die Auseinandersetzung mit den persönlichen Grenzen der Pflege darstellte, sondern den Höhepunkt eines bereits länger andauernden Konfliktes von Frau Maler mit sich selbst markiert, den sie schließlich zum Anlass nimmt, etwas an ihrer Pflegepraxis zu ändern. Nachdem die Abgabe der Pflegeverantwortung an ein Pflegeheim für sie zwar körperlich entlastend war, sie letztlich aber »beide eigentlich nicht klarkamen damit« (ebd.: 376f), nahm Frau Maler ihren Mann nach Abheilen ihres Rippenbruchs wieder zu sich nach Hause und achtet seitdem verstärkt darauf, sich insbesondere bei den direkten Sorgearbeiten professionelle Unterstützung einzufordern: »Einmal am Tag kommt vom Hauspflegedienst jemand und zwar früh gleich. Und das ist mir sehr wichtig, einerseits die Entlastung, ich meine, das, was die machen, kann ich auch, aber es hilft mir ja trotzdem, wenn sie es mir abnehmen.« (Maler: 398ff) Wichtig ist in ihrer Selbsterzählung hier insbesondere der Einschub, dass sie selbst diese morgendlich anfallenden Sorgearbeiten auch erledigen könnte, sie aber dankbar für die Entlastung ist. Das bedeutet, anders als bei Herrn 22
Die Bedeutung von körperlichen Grenzen, wie dem hier geschilderten Rippenbruch, wird in einem späteren Abschnitt der Untersuchung noch genauer erläutert (vgl. Kap. 8.1).
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Klopp, Herrn Steg oder Herrn Franz geht es ihr nicht darum, dass sie bestimmte Formen der direkten Sorgearbeit ablehnt oder sich nur sehr ungern aneignen möchte. Stattdessen erzählt sie sich nicht minder qualifiziert als die professionellen Pflegekräfte, weiß aber die körperliche Entlastung zu schätzen, die für sie entsteht, wenn sie die körperlich anspruchsvollen Pflegepraktiken, wie das Aufrichten im Bett, das Aufstehen beziehungsweise Umlagern mit dem Patient*innenlifter, das Ankleiden, die Morgenwäsche oder den morgendlichen Toilettengang, nicht oder zumindest nicht allein durchführen muss. Das bedeutet, Frau Maler befindet sich nach einer Phase starker Entgrenzung der Pflege zum Zeitpunkt des Interviews nun in einer Pflegesituation, in der es ihr besser gelingt, einerseits ihrer gesellschaftshistorisch zugeschriebenen und biografisch internalisierten geschlechtsspezifischen Zuständigkeit für die Sorgearbeit innerhalb der Familie weiterhin gerecht zu werden und dabei andererseits aber nicht mehr den Anspruch zu haben, alles allein bewältigen zu müssen, sondern externe Hilfen anzunehmen. Frau Maler identifiziert sich demnach auch weiterhin stark mit der Pflegeverantwortung für ihren Mann, aber die durch den Rippenbruch erfahrene körperliche Schwäche legitimiert die Begrenzung der Pflege. Im Fall von Frau Heinrich hingegen scheint diese Form der Legitimation (noch) zu fehlen. Wie bereits in den Analysen zu den Praktiken zeitlicher Be- und Entgrenzung der Pflege beschrieben, hat Frau Heinrich den Pflegedienst nach einer Weile wieder abbestellt, weil die zeitlichen Abläufe bei der morgendlichen Tour des Pflegedienstes sich nicht gut genug mit der morgendlichen Aufwachzeit ihres Mannes abstimmen ließen (vgl. Kap. 6.2). Um ihrem Mann zur gewohnten und gewünschten Zeit das Aufstehen ermöglichen zu können, übernimmt sie die Pflege daher trotz starker Pflegebedürftigkeit komplett allein und begründet dies wie folgt: »Und ich will mal sagen, […] das kann ich nun auch selber machen […] Ist ja nicht so, dass ich’s nicht kann. Ich finde, Pflege, also ambulante Pflege, ist gut für Leute, die niemanden haben.« (Heinrich: 528ff) Ähnlich wie bei Frau Maler, traut auch Frau Heinrich sich die anfallenden direkten Sorgearbeiten bei ihrem Mann selbst zu und es gibt für sie in ihrer aktuellen Situation keinen Grund, die Pflege auszulagern, obwohl sie an anderer Stelle im Interview angibt, neben der Pflege ihres Mannes keine Zeit zu haben und eigene Interessen oder Hobbys daher zurückstellen zu müssen (vgl. ebd.: 453). Interessant daran ist, dass das, was hier zunächst unabhängig vom Geschlecht Gültigkeit zu haben scheint, sich im weiteren Gesprächsverlauf als weibliche Norm herausstellt. Denn als wir auf Männer in der Pflege zu
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sprechen kommen, macht sie deutlich, dass die Konstellation Mann-pflegtFrau von ihr als Ausnahme gedeutet wird und sie es bewundernswert findet, wenn Männer sich dafür entscheiden, die Pflege ihrer kranken Frau zu übernehmen. Dass sie selbst sich Jahre zuvor dafür entschieden hat, die Pflege ihres Mannes zu übernehmen, erzählt sie wiederum nicht als bewundernswert, sondern eben als soziale Norm: »Es ist kein Muss, aber es gehört sich einfach so.« (ebd.: 1669) Anders als bei Frau Maler gibt es demnach bei Frau Heinrich zum Zeitpunkt des Interviews keinen ausreichend guten Grund, um von der tradierten Norm weiblicher Fürsorge abzuweichen und trotz fehlender Eigenzeit zieht sie es vor, externe Hilfen abzulehnen und stattdessen alle anfallenden Aufgaben der Sorgearbeit, inklusive Körperpflege, allein zu übernehmen. In diesem Fall bedingt demnach das Geschlecht die beobachtete Tendenz zur zeitlichen Entgrenzung der Pflege. Weiterhin fällt auf, dass unabhängig davon, ob externe Hilfe in Anspruch genommen wird oder nicht, in beiden Fällen betont wird, dass die anfallenden Praktiken der Körperpflege problemlos selbst durchgeführt werden können. Frau Maler und Frau Heinrich deuten damit eine Selbstverständlichkeit an, die sich mit der Legitimationspraxis der männlichen Pflegenden deckt, welche dem weiblichen Geschlecht zuschreiben, weniger Schwierigkeiten mit direkten Sorgearbeiten zu haben, da ihnen diese in der Regel biografisch nicht neu seien. Dementsprechend liegt es nahe, an dieser Stelle genauer auf die erzählte Praxis der Körperpflege zu schauen und sensibel dafür zu sein, wie die weiblichen Pflegenden diese Praktiken erzählen: »Und nach dem Abendbrot sag ich zu ihm: ›So, jetzt fangen wir wieder an.‹ Und da geht’s wieder mit dem Beutelwechsel los und dann auch dreimal in der Woche in die Badewanne/mit dem Badelift. Dann werden die Verbände gewechselt, von diesem Magensondenverband. Und das dauert, also eine Stunde brauch ich da, wenn das Baden angesagt ist, brauche ich eine Stunde. Und manchmal früh ist auch Rasieren angesagt, wie das so ist. Ja, also jeden Tag eigentlich. Ja, das kommt auch noch dazu, schon klar. So, und dann sind wir so, bis zur Tagesschau möchten wir immer fertig sein. Ja.« (Heinrich: 392ff) Frau Heinrich erzählt in dieser Episode die allabendliche Pflegeroutine mit ihrem Mann, bevor beide zusammen vor dem Fernseher den Tag ausklingen lassen. Dabei wird deutlich, dass es bei diesen Pflegepraktiken längst nicht nur um Sorgearbeiten geht, die Frau Heinrich bereits von der Phase kennt, in der die Kinder noch klein waren. Denn über das Waschen hinaus beschreibt sie Aufgaben, wie den täglichen Verbandswechsel, die Versorgung
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des künstlichen Blasen- und Darmausgangs, das regelmäßige Baden mithilfe des Badewannenlifters oder auch das Rasieren, was insgesamt alles Praktiken sind, die Frau Heinrich aus ihrem Leben vor der Pflege nicht kannte und sich dementsprechend neu aneignen musste. In ihrem Selbstverständnis als Pflegeverantwortliche erzählt sie diese Praktiken allerdings – »wie das so ist« – als tägliche Notwendigkeit, die ganz einfach zum Ablauf dazugehört. Ähnlich selbstverständlich erzählt auch Frau Werner ihren gestrigen Tagesablauf mit den darin typischen Pflegeaufgaben: »Da habe ich ihn gespritzt, gefüttert, dann habe ich das Brötchen gegessen. Dann habe ich mich hingesetzt, habe die Zeitung gelesen, das bisschen vorher abgewaschen und dann war es kurz vor dreiviertel Zwei, da habe ich gedacht, da musst du nochmal gucken wegen Windeln, weil ich um Zwei bei meiner Freundin zum Rummikub wollte. Dann (lacht) hat er aber so eingeschissen, da war das Deckbett/und da habe ich ihn gewindelt, Deckbett weg, neues eingezogen und bin dann weg.« (Werner: 471ff) Während bei Herrn Franz demnach bereits die Vorstellung genügt, irgendwann die Notdurft seiner Frau beseitigen zu müssen, um bei ihm Ekel auszulösen und zu betonen, dass er sich übergeben müsste, gehört diese Pflegepraxis längst zum Alltag von Frau Werner. Mit fatalistischem Unterton und kurzem Auflachen erzählt sie diese Situation als eine von vielen, die neben den anderen direkten Sorgearbeiten oder Auszeiten für die eigene Nahrungsaufnahme eben anfallen und erledigt werden, um sich dann wieder anderen Sorgearbeiten – oder im besten Fall, wie hier, sogar der Selbstsorge – zuwenden zu können. Und schließlich findet sich diese Pragmatik mit Blick auf die sich im Verlauf der Demenz wandelnden Anforderungen an die Pflege auch bei Frau Maler: »Was ich überhaupt nicht mehr in Angriff nehme, sind irgendwelche Krankenhausaufenthalte, Untersuchungen für meinen Mann, weil, das ist ausgereizt, da können die nichts mehr machen, sagen das auch, medikamentös ist da nichts mehr zu verändern. Und Darmgeschichten, was unser Hauptproblem ist, der Darm arbeitet nicht richtig durch das Parkinson, das machen die dort eh nicht. Also in der Notaufnahme nicht, sondern auf der Station, ehe der Darm leergeräumt wird, da vergehen noch mal eineinhalb Tage und dann mache ich das jetzt hier, ein bis zweimal in der Woche.« (Maler: 403ff) Während es bei anderen Formen der Demenz in der letzten Phase des Krankheitsverlaufs bei den Betroffenen insbesondere zum Verlust der Kontrolle
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über die Blasen- und Darmentleerung kommt, ist die gestörte Magen-DarmFunktion von Herrn Maler ein typisches Krankheitssymptom von Personen mit Parkinson beziehungsweise Parkinson-Demenz. Die Behandlung dieser Symptomatik begleitet Frau Maler dementsprechend schon länger im Krankheitsverlauf und die medizinischen Möglichkeiten, die gestörte Magen- und Darmentleerung medikamentös zu regulieren, lassen ab einer bestimmten Schwere der Erkrankung nach. Die in der Vergangenheit daraufhin gemachten Erfahrungen des (zeitlichen) Aufwandes für die professionelle Darmentleerung mündeten für Frau Maler schließlich in der Entscheidung, sich den wiederkehrend hohen zeitlichen Aufwand für die medizinisch begleitete Darmentleerung zu sparen und diese stattdessen selbst durchzuführen. Dabei erzählt Frau Maler diese Entscheidung als pragmatische Konsequenz und Erweiterung der direkten Sorgearbeit, wobei ungeklärt bleibt, warum die Darmentleerung nicht vom Pflegedienst durchgeführt werden kann. Schließlich bleibt auch bei Frau Maler nicht unbemerkt, dass Affekte wie Ekel oder Unmut in Bezug auf den Umgang mit den Ausscheidungen ihres Mannes keine Rolle zu spielen scheinen oder zumindest nicht aktiv in die Sprechhandlung mit eingebracht werden. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich bei den weiblichen Pflegenden keine negativen Affekte in den Selbsterzählungen finden lassen, denn wie bereits erläutert, ist Affektivität ein wichtiger Bestandteil sozialer Praxis (vgl. Kap. 2.4). In Bezug auf die direkten Sorgearbeiten zeigt sich allerdings eine gewisse Geschlechtsspezifik der erkennbaren Affekte. Denn während die männlichen Pflegenden insbesondere den Ekel vor einer bestimmten Praxis der Körperpflege als Grund für deren Ablehnung erzählen, scheint Ekel bei den weiblichen Interviewten nicht relevant, stattdessen werden aber negative Affekte wie Wut oder andere »defensive Unlustvermeidungsreize« (Reckwitz 2016: 172) thematisiert. Dabei liegt der entscheidende Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Pflegenden des Samples darin, dass die sozial – und damit auch im Zuge der vergeschlechtlichten Vergesellschaftung – erlernten Affekte bei den männlichen Pflegenden mit Blick auf die Pflege tendenziell begrenzend wirken. Demgegenüber münden die von den weiblichen Pflegenden kommunizierten Affekte wie Wut auf den Partner, weil er beispielsweise nachts
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immer aufsteht23 , nach ihr ruft24 oder angekleidet duschen geht und dabei das Badezimmer unter Wasser setzt25 , nicht in der Begrenzung der Pflege, sondern werden in den Selbsterzählungen eher als Auslöser für schlechtes Gewissen und eine weitere Entgrenzung der Pflege angeführt, um diese Form von Affektivität in Zukunft zu vermeiden: »[M]anchmal wird man da auch ungerecht. Und da muss ich mich entschuldigen. Ich will, im Grunde will ich immer gut zu ihm sein.« (Heinrich: 823f) Abgesehen von der geschlechtsspezifischen Affektivität in Bezug auf die Pflege, lässt sich aus den beispielhaften Episoden des Pflegealltags von Frau Heinrich, Frau Maler und Frau Werner außerdem schlussfolgern, dass insbesondere in der direkten Sorgearbeit in der Phase schwerer Demenz eine Reihe von Pflegepraktiken notwendig werden, die deutlich über die typischen direkten Sorgearbeiten hinaus gehen, die die weiblichen Pflegenden des Samples im Rahmen ihrer vergeschlechtlichten Vergesellschaftung bereits in der Phase der Familiengründung eingeübt haben. Dennoch findet sich bei den weiblichen Pflegenden im Sample – im Gegensatz zu den männlichen Interviewten – kein Fall, in dem die Aneignung neuer Praktiken des Pflegens problematisiert wird. Diese Beobachtung steht am Ende eines längeren Analyseprozesses, auf den ich ohne die Kontrastierung mit den männlichen Pflegenden nicht aufmerksam geworden wäre. Denn der Selbstverständlichkeit bestimmter Handlungen ist das Merkmal immanent, dass diese Handlung nicht näher ausgeführt oder begründet werden muss. Darüber hinaus erscheint es zudem sinnvoll, an dieser Stelle die Bedeutung meiner Identität als Forscherin mit zu reflektieren und damit die Prozesse des Doing Gender in der Interviewsituation (vgl. Scholz 2004:
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»Und um ein Uhr, zwei Uhr setzt er sich schon wieder auf und steht dann auf und geht in die Küche und das Geschirr oder was er in die Hand/und dann kracht es, ja. Dann stehe ich auf, hole ihn wieder herein ins Bett. Dann schläft er wieder. Das geht so und manchmal vergehen die Nächte, dass ich nicht zum Schlafen komme, zwei, drei Stunden, weil er immer wieder aufsteht.« (Moser: 249ff) »Oder dieses, nachts, das Rufen, er ruft mich ständig. Ja, das, also das find ich, ist schon belastend.« (Heinrich: 178ff) »Bloß, wenn der eigene Mann angezogen unter die Dusche geht und den Hahn aufdreht, kann man nicht sagen: ›Ach schön, wolltest du wohl deine Sachen gleich waschen.‹ Gibt so verschiedene Erlebnisse, wo man erst mal sagt: ›Scheiße, jetzt schwimmt das Bad, die Schiebetür nicht zugemacht, er nass, wo fange ich jetzt an?‹« (Maler: 53ff)
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240ff).26 Denn der Logik des Ausweiszwanges am Anfang von Interaktionsprozessen folgend, habe ich mich bereits beim Nennen meines Namens am Telefon dem weiblichen Geschlecht zugeordnet und diese Zuordnung beim persönlichen Interviewtermin mittels Körperhaltung, Kleidung sowie Gestik oder auch Stimme erneut bestätigt (vgl. ebd.). Je nach Geschlechtsverkörperung meiner Interviewpartner*innen wurde ich damit entweder zur fremdoder gleichgeschlechtlichen Interaktionspartnerin. Und gerade im Hinblick auf die Thematik der Selbstverständlichkeit bestimmter Praktiken in der Pflege muss hier rückblickend auch die erhöhte Wahrscheinlichkeit mit berücksichtigt werden, dass sich einerseits die weiblichen Pflegenden aufgrund der geteilten Geschlechtsidentität seltener dazu aufgefordert fühlten, ihr (vergeschlechtlichtes) Handeln genauer zu begründen und andererseits ich selbst als Interviewerin bestimmte Themen auch als eher selbstverständlich eingeordnet und dementsprechend in der Interviewsituation nicht nachgehakt habe. Demgegenüber zeigt sich in den Interviews mit den männlichen Pflegenden häufiger, dass diese ihr Geschlecht in der Interviewsituation gegenüber mir als fremdgeschlechtlicher Interviewerin aktualisieren und sich, wie zum Beispiel Herr Steg, auf bestimmtes gesellschaftshistorisch geteiltes Geschlechterwissen und daraus resultierende Praktiken des Doing Gender berufen, um ihr vermeintlich fremdes Handeln vor mir als junger weiblicher Interviewerin zu legitimieren. Das bedeutet, erst nachdem ich im fortgeschrittenen Auswertungsprozess27 auf die fehlende Selbstverständlichkeit der Übernahme spezifischer Praktiken der direkten Sorgearbeit bei den männlichen Pflegenden und der daraus abgeleiteten Legitimation spezifischer Grenzen der Pflege aufmerksam wurde, fiel mir in der Kontrastierung
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Ich habe bereits im Methodenkapitel die Wechselwirkung zwischen den Interviewten und mir beleuchtet (vgl. Kap. 3.1). Dabei habe ich allerdings bewusst darauf verzichtet, die Bedeutung meiner Geschlechtsidentität zu thematisieren, weil es mir theoretischkonzeptionell passender erschien, dies innerhalb der Geschlechteranalyse und daher erst an dieser Stelle meiner Ausführungen mit zu reflektieren. Der Methodologie der Grounded Theory folgend, könnte man hier das Argument anführen, dass ich an dieser Stelle die angenommene theoretische Sättigung des Samples hätte hinterfragen und den Prozess des theoretischen Samplings wieder aufnehmen müssen. Dies wäre im vorliegenden Fall allerdings zum einen aus forschungspragmatischen Gründen nicht unproblematisch gewesen und zum anderen verstehe ich die kritische Reflexion jener Bedingungen, die zur Konstruktion von Selbstverständlichkeit beigetragen haben, als ein wichtiges Teilergebnis der vorliegenden Untersuchung.
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
der Interviews mit den weiblichen Pflegenden auf, dass ich diese Grenzen vergeblich suche, weil die als weiblich kodierte Pflege und die damit verbundenen Praktiken von den weiblichen Pflegenden als selbstverständlich erzählt wurden und ich in der Interviewsituation diese Selbstverständlichkeit nicht hinterfragt habe.28 In den Analysen gibt es demzufolge Stellen, an denen ich im Nachhinein womöglich nachhaken würde, dies aber in der Interviewsituation verpasst habe. Ein Beispiel dafür ist die Erzählung von Frau Maler zur Darmentleerung ihres Mannes, die ich als selbstverständlich hinnehme, ohne zu fragen, warum der Pflegedienst diese Aufgabe nicht übernimmt. Hier ergibt sich demnach eine ambiguine Situation, denn gerade die spezifisch weibliche Selbstverständlichkeit im Kontrast zur fehlenden männlichen Selbstverständlichkeit stellt ein wichtiges Ergebnis meiner Analysen dar und ist von Relevanz, wenn man die Situation der pflegenden Angehörigen in der informellen Demenzpflege und die in diesem Kontext sehr unterschiedlichen Praktiken der Be- und Entgrenzung von Pflege aufzeigen und verstehen möchte. Dennoch erscheint es wichtig, auf die hier erkennbare Auswirkung von Geschlecht auf die Interviewsituation zu verweisen und zu reflektieren, welche Bedeutung meine Geschlechtsidentität als Interviewerin für die Reproduktion von Geschlecht und vergeschlechtlichten Sprechhandlungen in der Interviewsituation hat. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen und dem Wissen um bereits vorhandene Reflexionen zu dieser Thematik (vgl. Scholz 2004) kann an dieser Stelle davon ausgegangen werden, dass die Aktualisierung von Geschlecht in der Interviewsituation anders verlaufen wäre, wenn neben mir auch ein männlicher Interviewer ein Paar der pflegenden Partner*innen interviewt hätte, aber da zum damaligen Zeitpunkt der Erhebungen diese Möglichkeit nicht gegeben war, kann dies hier nur als Anregung für zukünftige Forschungen zur Bedeutung von Geschlecht in der Pflege formuliert werden. 28
Dieses vergeschlechtlichte Ausbleiben meiner Reaktion als Interviewerin im Gespräch mit weiblichen Pflegenden erinnert stark an eine Beobachtung aus der interkulturellen Sozialforschung. Im Rahmen eines internationalen Forschungsprojektes führte ich gemeinsam mit Kolleg*innen aus anderen Ländern qualitative Interviews, bei deren Auswertung wir insofern über die kulturell geteilte Identität zwischen den Interviewer*innen und ihren Interviewpartner*innen stolperten, als dass im Gesprächsverlauf bestimmte, vermeintlich kulturell geteilte, Selbstverständlichkeiten erst durch die Forscher*innen der anderen Nationen hinterfragt wurden, während die jeweiligen Interviewer*innen diese Erzählungen in der Interviewsituation als »Non-Event« erlebt hatten und dementsprechend nicht weiter nachhakten (vgl. Lessenich et al. 2018).
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7.3.4
Episoden von Undoing Gender in der Pflegepraxis: Der Fall Briese
»Can we ever not do gender?« (West/Zimmerman 1987: 137) – Anders als Candace West und Don H. Zimmerman bejaht Stefan Hirschauer diese Frage und verweist mit seinem Konzept des Undoing Gender auf die Episodenhaftigkeit der Konstruktion von Geschlecht und die Möglichkeit des temporären sozialen Vergessens von Geschlecht vor dem Hintergrund anderer Kategorien wie Klasse, Alter oder Religion (vgl. Kap. 7.1.1). Dieses episodenhafte Vergessen von Geschlecht begegnete mir im Verlauf der empirischen Analysen in verschiedenen Interviews. Besonders eindrücklich erschien es allerdings in den Selbsterzählungen von Herrn Briese, weswegen ich mich entschlossen habe, die Episoden des Undoing Gender in der häuslichen Pflege anhand seines Falles exemplarisch aufzuzeigen. Herr Briese ist zum Zeitpunkt des Interviews 95 Jahre alt und wohnt gemeinsam mit seiner 93-jährigen Frau in einer Drei-Zimmer-Wohnung etwas außerhalb des Zentrums einer Großstadt in Süddeutschland. Die Wohnung befindet sich im Erdgeschoss eines Mietshauses und ist nicht barrierefrei, sondern nur über einen Treppenabsatz zu erreichen. Herr Briese läuft an Krücken und kann sich nur noch sehr gebeugt und langsam fortbewegen. Er ist mit 62 Jahren aus dem Staatsdienst ausgeschieden und in den Ruhestand gegangen. Die ersten zwanzig Jahre seines Ruhestands erzählt Herr Briese als Lebensphase mit vielen gemeinsamen Reisen ins Ausland und sozialen Aktivitäten innerhalb ihrer Stadt und Region. In den darauf folgenden etwa zehn Jahren nehmen die gesundheitlichen Beschwerden des Paares langsam zu, weswegen die bisherigen Aktivitäten weitestgehend eingestellt werden. Zum Zeitpunkt des Interviews liegt die Demenzdiagnose bei seiner Frau rund drei Jahre zurück und seit etwa zwei Jahren erhält Herr Briese professionelle Unterstützung in der Pflege. Die traditionelle innereheliche Aufgabenverteilung von seiner Frau und ihm erzählt Herr Briese als Ergebnis der gesellschaftshistorischen Zeit, in der die beiden sich kennenlernten. Beide hatten studiert und seine Frau arbeitete bereits als Beamtin. Zum Zeitpunkt der Eheschließung galt allerdings in Deutschland noch die Zölibatsklausel für Beamtinnen29 und Frau Briese wur-
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Das Zölibat für weibliche Beamt*innen ist eine rechtliche Regelung aus dem Deutschen Reich, welche 1880 in Kraft trat und 1919 in der Weimarer Republik zunächst abgeschafft wurde (vgl. Möller-Dreischer 2012: 51). Aus arbeitsmarktpolitischen Gründen erfolgte 1923 jedoch die Wiedereinführung dieser Regelung im Rahmen des Perso-
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de aus dem Staatsdienst entlassen und übernahm fortan unentgeltlich die thematischen Zuarbeiten für ihren Mann, zog die drei gemeinsamen Kinder groß und kümmerte sich um die anfallenden häuslichen Sorgearbeiten. Herr Briese reflektiert diese gesellschaftshistorische Benachteiligung der Frauen vorrangig mit Blick auf die finanziellen Einbußen, die seiner Frau und ihm dadurch insbesondere in den ersten Jahren der Ehe entstanden. Die Tatsache, dass seine Frau aufgrund dieser gesetzlichen Regelung ihren erlernten Beruf nicht länger ausüben durfte, erzählt er wiederum als unproblematisch: »Also sie war voll ausgelastet und dann hat sie ja schließlich bald Kinder bekommen.« (ebd.: 85f) Was sich hier bereits durch seine Wortwahl andeutet, bestätigt sich im weiteren Verlauf der Erzählung, denn da er täglich bis zu zwölf Stunden gearbeitet hat, war er für seine Kinder nur wenig präsent: »Unser Jüngster hat mal seine Mutter gefragt: ›Wer ist der freundliche Herr, der gelegentlich mit uns zu Abend isst?‹« (ebd.: 160f) Seine ständige Abwesenheit in der privaten Sphäre schätzt er rückblickend zwar als unvorteilhaft für die Beziehung zu seinen Kindern ein, aber die damaligen gesellschaftlichen Umbrüche im Rahmen der 68er-Bewegung erforderten von ihm einen sehr hohen beruflichen Einsatz für den Erhalt bestehender – und dementsprechend traditioneller – Strukturen und damit die »Notwendigkeit«30 der Entgrenzung seiner Arbeitszeiten und Begrenzung der Familienzeit. Im Rahmen der biografischen Narrationen aus seiner mittleren Lebensphase konstruiert Herr Briese demnach zunächst einmal eine tradierte männliche Geschlechtsidentität mit Fokus auf die Erwerbsarbeit, klarer Machtverteilung innerhalb der Beziehung zu seiner Frau und seinen Kindern sowie kritischer Distanzierung von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen. Diese anfängliche Omnirelevanz der Legitimation seines Handelns über den Verweis auf seine tradierte männliche Geschlechtsidentität ist allerdings
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nalabbaugesetzes. Dieses Gesetz diente der Herabminderung der Personalausgaben im öffentlichen Dienst und bestimmte, dass weibliche Beamt*innen entlassen werden, sofern ihre wirtschaftliche Versorgung, zum Beispiel durch Heirat, anderweitig gewährleistet ist (vgl. ebd.). Die Zölibatsklausel für weibliche Beamt*innen wurde bis Anfang der 1950er Jahre im Bundespersonalgesetz weitergeführt und erst 1953 mithilfe von Art. 3 und Art. 117 des Grundgesetzes rechtlich außer Kraft gesetzt (vgl. KohlerGehrig 2007: 23). »Es war insofern schwierig, weil natürlich meine Frau die größere Last der Erziehung tragen musste und wir hatten dann auch ein großes Haus mit Garten, also gemietet. Und aber es war eben diese Notwendigkeit und es stand damals [im Beruf] einige Jahre sehr kritisch […]. Und es mussten die Kollegen […] einfach unterstützt werden.« (ebd.: 196ff)
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diskontinuierlich und wird im Verlauf des Interviews in seinen Selbsterzählungen zum Pflegealltag nicht fortgesetzt: »Ich hab ja zunächst einmal gemeint, ich könnte alles selber machen, aber ich war einfach am Zusammenbrechen. Da hat sich meine Tochter eingeschaltet, weil ich einfach am Ende der Kräfte war, ich konnte nicht mehr. […] Und dann haben wir uns nach einer Hilfe umgeschaut. Hatten wir zunächst mal eine Polin31 , aber die musste dann wieder zurück, […] bis wir dann eben diese Frau A. gefunden haben, die wirklich unseren Haushalt führt als ob`s ihr eigener wäre.« (ebd.: 602ff) Genauso wie die anderen männlichen Pflegenden thematisiert Herr Briese in diesem Abschnitt die Phase, in der er sich in die Praxis unterstützender Sorgearbeit einarbeiten musste. Dabei verzichtet er jedoch darauf, die Übernahme dieser Tätigkeiten zu problematisieren, was er später im Interview darüber begründet, dass er Praktiken wie Kochen oder Putzen bereits aus seiner Kindheit kenne, in der er seiner Mutter stets helfen musste und früh auf sich allein gestellt gewesen sei (vgl. ebd.: 786ff). Dennoch benötigt Herr Briese nach dem ersten Jahr der Pflege seiner zunehmend pflegebedürftigen Frau Unterstützung durch eine Haushaltshilfe, was er aber ausschließlich über seinen Gesundheitszustand begründet. Ähnlich verhält es sich mit Blick auf die direkten Sorgearbeiten. Als ich mich danach erkundige, inwieweit seine Frau sich noch selbstständig wäscht, weiß er zu berichten: »Ja nein, es kommen schon Augenblicke, wo sie sich steif macht, wo’s manchmal schon schwierig wird. Also ich hab sie zuerst auch mal geduscht, aber die Duschkabine ist sehr ungünstig. Da ist es dann die Frau B., die zweimal in der Woche sie duscht, weil ich nicht die Kraft habe. Ich hab auch, meine ganzen Gelenke sind
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Die Beschäftigung osteuropäischer Arbeitsmigrant*innen als Haushaltshilfen wird innerhalb des vorliegenden Samples abgesehen von Herrn Briese außerdem noch von Herrn Steg praktiziert. Da es nicht dem Fokus meines Forschungsanliegens entsprach, habe ich in den Interviews darauf verzichtet, Nachfragen zu den beschäftigten Osteuropäer*innen zu stellen. Für die kritische Auseinandersetzung mit der im häuslichen Pflegesektor beobachtbaren Ausbeutung osteuropäischer Arbeitsmigrant*innen sei an dieser Stelle allerdings die Lektüre von Tine Haubners Analysen zu den »Osteureopäischen Pflegekräften in deutschen Pflegehaushalten« (vgl. Haubner 2017: 370ff) sowie »Die ganze Welt zu Hause. Cosmobile Putzfrauen in privaten Haushalten« (2006) von Maria Rerrich empfohlen.
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krank. Und ich hab eben auch manchmal ziemliche Schmerzen, dass ich manchmal ein Glas nicht mehr halten kann.« (ebd.: 634ff) Dieser Interviewausschnitt steht exemplarisch dafür, dass man bei Herrn Briese – in Kontrast zu Selbsterzählungen anderer männlicher Pflegender wie denen von Herrn Klopp oder Herrn Franz – vergeblich nach vergeschlechtlicht legitimierten Begrenzungen spezifischer Pflegepraktiken sucht. Stattdessen tritt in seinem Fall die soziale Kategorie des (hohen) Alters in den Vordergrund. So scheitert die Pflegepraxis des Duschens seiner Frau nicht daran, dass er sich davor ekelt oder dies nicht als seine Aufgabe erachtet (vgl. Klopp; Kap. 7.3.3), sondern daran, dass ihm die Kraft fehlt, seine Frau in der nicht barrierefreien Duschkabine zu waschen. Herr Briese erhält demnach von Montag bis Freitag Unterstützung durch eine Haushaltshilfe, seine Frau geht an drei Tagen unter der Woche tagsüber in die Tagespflege und an zwei Tagen die Woche kommt eine professionelle Pflegekraft, die ihm direkte Sorgearbeiten wie das Duschen seiner Frau abnimmt. Dennoch bleiben ihm neben der indirekten Sorgearbeit verschiedene unterstützende und direkte Sorgearbeiten, die seinen körperlichen Einsatz erfordern, und um diese Aufgaben zu bewältigen, liegt die Lösung für ihn darin, in den Morgenund Abendstunden auf Schlaf zu verzichten, um das Frühstück ohne »Panik und Stress«32 vorzubereiten oder die Wohnung noch aufzuräumen, bevor er ins Bett geht.33 Dabei macht er deutlich, dass es ihm bei der benötigten Hilfe nicht darum geht, Zeit zur Umsetzung eigener Interessen zu erhalten, sondern um Selbstsorge in Form von Ruhezeiten, die dazu beitragen, dass er auch zukünftig noch in der Lage ist, die Demenzpflege seiner Frau innerhalb der häuslichen Pflegearena gewährleisten zu können. Und so nutzt er die ersten Stunden, nachdem seine Frau morgens für die Tagespflege abgeholt wurde, in der Regel, um sich zu erholen: »Wenn es geht, muss ich dann meine schriftlichen Arbeiten machen. Aber es ist so, dass ich eben durch meine Herzerkrankung oft richtig einfach dann schlafen muss.« (ebd.: 577f).
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Interviewerin: »[A]lso das heißt, Sie stellen sich dann auch den Wecker auf fünf Uhr?« – Briese: »Ja ja. Ja, weil ich nicht, ich kann nicht schnell arbeiten. Ja, das, Panik oder Stress, das ist (lacht) geht nicht mehr.« (ebd.: 655ff) »Und so dauert es eine/um zehn Uhr liegt sie dann meistens im Bett. Und dann muss ich eben nachräumen, die Wohnung noch in Ordnung bringen. Oder wenn es geht gut, komm ich dann um elf ins Bett. Das ist mein Tageslauf.« (ebd.: 548ff)
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Die mit seiner Hochaltrigkeit korrelierende Multimorbidität erzeugt bei Herrn Briese körperliche Grenzen34 der Belastbarkeit, die professionelle Hilfen, wie die Betreuung seiner Frau in der Tagespflege, dringend notwendig machen.35 Für ihn ist dabei die eigene Multimorbidität so präsent, dass sie das Geschlecht als soziale Ordnungskategorie zur Legitimation spezifischer Praktiken der Be- oder Entgrenzung von Pflege in seinen Selbsterzählungen irrelevant erscheinen lässt. Und ebenjenes Vergessen von Geschlecht im Kontext der Selbsterzählungen zum Pflegealltag ist im Fall von Herrn Briese so interessant, weil es in deutlichem Kontrast zu seinen biografischen Narrationen über die mittlere Lebensphase und der darin vorgenommenen Relevantsetzung von Geschlecht steht. Denn genau darüber lässt sich schließlich die von Hirschauer konstatierte Episodenhaftigkeit der Konstruktionsprozesse von Geschlecht im Sinne des Undoing Gender exemplarisch so gut erkennen.
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Hier sei erneut auf die noch folgenden Ausführungen zum Pflegen am Limit verwiesen (vgl. Kap. 8.1). Unter Gerontolog*innen gibt es anhaltende Diskussionen um die Frage, unter welchen Bedingungen eine Person als hochaltrig gilt (vgl. Rott/Jopp 2012). Für die vorliegende Untersuchung schließe ich mich der Berliner Altersstudie an, welche bei Frauen und Männern ab einem Alter von 85 Jahren von Hochaltrigkeit spricht (vgl. Lindenberger et al. 2010). Der Zusammenhang zur Multimorbidität erklärt sich dabei darüber, dass mit zunehmender Hochaltrigkeit von einem kumulierenden Funktionsverlust verschiedener Bereiche des menschlichen Körpers und einer deutlich ansteigenden Prävalenz für multiple Erkrankungen ausgegangen wird (vgl. Rott/Jopp 2012: 475).
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
7.3.5
Zur Verwobenheit von Sorge und Dominanz in der untersuchten Pflegesituation
Die Frage nach der Bedeutung von Dominanz36 innerhalb der von mir untersuchten Sorgebeziehung war Teil der geschlechtertheoretischen Sensibilisierung und lief in den empirischen Analysen stets als Hintergrundfrage mit. Ausschlaggebend dafür war insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Konzept der Caring Masculinities. Wie bereits erläutert, halte ich die von Karla Elliott als zentrales Merkmal männlicher Fürsorglichkeit formulierte Ablehnung von Dominanz in der Pflegebeziehung für eine Engführung des Konzeptes und teile stattdessen die Annahme, dass Sorgebeziehungen auf einem strukturellen Abhängigkeitsverhältnis zwischen hilfsbedürftiger und fürsorgender Person basieren und darüber hinaus die Praxis des Pflegens unabhängig vom Geschlecht eben nicht nur positiv erfahren wird und in vielen Pflegebeziehungen eine enge Verwobenheit von Sorge und Dominanz beobachtet werden kann (vgl. Lengersdorf/Meuser 2019: 106f; Laufenberg 2017: 362). Doch wie lässt sich diese Annahme empirisch untermauern? Elliott leitet ihr Begriffsverständnis von Dominanz vom Konzept der Dominanz-Macht (dominating power) ab (vgl. Sharp et al. 2000: 7) und definiert – Sharp und Kolleg*innen zitierend – Dominanz als Versuch, andere zu kontrollieren oder zu nötigen sowie anderen den eigenen Willen aufzuzwingen oder ihre Zustimmung durch Manipulation zu erwirken (vgl. Elliott 2019: 204). Setzt man sich allerdings – wie in der vorliegenden Untersuchung geschehen – empirisch mit den Anforderungen an die (informelle) Pflege von Menschen mit Demenz, dem Krankheitsbild der Demenz und den alltäglich notwendigen Praktiken der Demenzpflege auseinander, dann
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Ich verstehe Dominanz in der vorliegenden Untersuchung als soziale Praxis einzelner oder mehrerer Akteur*innen, sich gegenüber schwächeren Akteur*innen durchzusetzen (vgl. Hillmann 2007: 159), und schließe mich zur Abgrenzung zwischen den häufig gleichrangig verwendeten Begriffen Macht und Dominanz den Ausführungen Elliotts an, die in Orientierung an Foucault dafür plädiert, Dominanz als ein allgemeines Strukturmerkmal der Macht zu verstehen (vgl. Elliott 2019: 202f). Indem ich den Fokus in diesem Abschnitt der Arbeit also auf die soziale Praxis der Dominanz lege, beschäftige ich mich ausschließlich mit einem Teilbereich der komplexen Machtbeziehungen innerhalb der Pflege. Ich verweise an dieser Stelle der Arbeit explizit darauf, um Missverständnissen beim Lesen vorzubeugen und weil ich zu dem Schluss gekommen bin, dass eine detaillierte Analyse der Machtbeziehungen in der von mir untersuchten Pflegesituation den thematischen Fokus zu stark verschieben würde.
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Häusliche Pflege am Limit
erscheint die von Karla Elliott geforderte Notwendigkeit der Abwesenheit von Dominanz, um von fürsorglicher Männlichkeit sprechen zu können, geradezu irritierend. Denn – und das sollte in den vorangegangenen Abschnitten meiner Untersuchung bereits deutlich geworden sein – die Demenzpflege kommt insbesondere aufgrund der kognitiven Veränderungen der betroffenen Personen nicht ohne Dominanz aus – und das unabhängig vom sozialen Geschlecht der an der Pflege beteiligten Personen. Nehmen wir das Beispiel von Frau Kleber, deren Mann – die bei Demenz als typisch beschriebenen – Hinlauftendenzen zeigt, was es notwendig macht, dass Frau Kleber kontrolliert, wohin ihr Mann geht oder sie ihn in bestimmten Situationen und je nach Wetterlage aktiv – und damit dominant – daran hindern muss, das Haus zu verlassen (vgl. Kleber: 396ff). Oder Frau Moser, die ihren Mann in der Nacht davon abhalten muss, dass er in der Küche umherräumt und dabei das Geschirr zerbricht. Also steht sie mit auf, kontrolliert, wo er hingeht und bringt ihn dazu, wieder ins Bett zu gehen, indem sie ihn an der Hand nimmt und wieder aus der Küche ins Schlafzimmer führt.37 Oder aber Herr Franz und Herr Steg, deren Frauen die freiwillige Einnahme ihrer Medikamente verweigern, weswegen nach Absprache mit den behandelnden Ärzt*innen die Manipulation des morgendlichen Müslis mit untergemischten Medikamenten erfolgt.38 Und nicht zuletzt lässt sich auch das Beispiel von Herrn Pohl anführen, der festgestellt hat, dass seine Frau sich bei Entweder-Oder-Fragen stets für das Oder entscheidet, weswegen er dazu übergeht, die Formulierung von Entweder-Oder-Fragen so zu gestalten, dass am Ende der Frage stets die Handlungsoption angeboten wird, die sowieso gerade notwendig wäre. Mithilfe dieser Manipulation vermittelt er seiner Frau das Gefühl, dass sie nach wie vor mit entscheiden darf, erhöht ihre zuvor deutlich gesunkene Bereitschaft zur Kooperation und damit die Harmonie im Pflegealltag (vgl. Pohl: 322ff). Die Liste der Beispiele könnte hier beliebig fortgesetzt werden, was aber nicht nötig ist, weil bereits deutlich geworden sein dürfte, dass 37
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»Und um ein Uhr, zwei Uhr setzt er sich schon wieder auf und steht dann auf und geht in die Küche und das Geschirr oder was er in die Hand und dann kracht es, ja. Dann stehe ich auf, hole ihn wieder herein ins Bett. Dann schläft er wieder.« (Moser: 249ff) »Das Einzige, was sie macht, ist sich dagegen wehren. Und das will sie nicht und so weiter. So und dann an den Tisch und dann gibt’s hier das Müsli/äh/das untermischt ist mit den ganzen Medikamenten, die sie nehmen soll, weil sie normalerweise, also früher schon, war das schon immer ein Theater, eine Pille zu schlucken, das ging schon immer nicht. Deswegen zerbrösle ich das alles und ins Müsli rein und dann isst sie das. Und dann geht’s ab in die Tagespflege.« (Steg: 268ff)
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
die Demenzpflege nicht ohne spezifische Praktiken der Kontrolle, Nötigung und Manipulation auskommt und Dominanz dementsprechend unabhängig vom Geschlecht stets auf mehr oder weniger subtile und respektvolle Weise die Demenzpflege durchdringt und dabei durchaus mit der von Elliott geforderten Verinnerlichung fürsorglicher Werte einhergehen kann (vgl. Elliott 2016: 240). Abgesehen davon sorgt schließlich die Tatsache, dass sich in der vorliegenden Untersuchung die Frage nach den Grenzen der Pflege als Schlüsselkategorie für die Analyse der Pflegesituation erwiesen hat, für eine zusätzliche Verstärkung der Irritation über die – von Elliott postulierte – Notwendigkeit der Abwesenheit von Dominanz. Denn zur Durchsetzung spezifischer Grenzen der Pflege – seien sie nun vergeschlechtlicht oder nicht – bedarf es Dominanz.39 Es bestätigt sich demnach in der Empirie, dass es bei der Untersuchung der Pflegebeziehung sinnvoller ist, die spezifische Verwobenheit zwischen Sorge und Dominanz in den Blick zu nehmen. Und so ist es schließlich auch genau diese Verwobenheit, die – im Sinne einer implizit stets mitlaufenden Hintergrundpraxis – als zentral für die verschiedenen Aushandlungsprozesse zur Be- oder Entgrenzung der von mir untersuchten Pflegepraxis verstanden werden kann. Dabei steht die Sorge um die hilfsbedürftigen Partner*innen insbesondere für die Bereitschaft und Praxis der Entgrenzung der Pflege, während demgegenüber die empirisch beobachtbaren Episoden der Dominanz maßgeblich von Bedeutung für die Praktiken der Begrenzung von Pflege erscheinen. Entscheidend für den Ausgang der jeweiligen Situation ist 39
Im Nachdenken über die Verwobenheit von Dominanz und Sorge stellte sich auch die Frage, ob es bei der Durchsetzung von Grenzen nicht auch um Autorität anstelle von Dominanz gehen könnte. Dies trifft gewiss auf eine Vielzahl von Grenzpraktiken in anderen Pflegesituationen und -konstellationen zu. Für die hier interessierende Situation informeller Demenzpflege erscheint der Begriff der Autorität allerdings nicht weiterführend. Denn anders als bei Dominanz geht es bei Autorität nicht darum, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen, im Zweifel auch gegen das Widerstreben des Gegenübers, durchzusetzen (vgl. Landweer/Newmark 2017: 508). Stattdessen könne man Autorität eher als eine Form »selbstverständlicher Gefolgschaft« (ebd.) verstehen, die das Ergebnis einer sozialen Zuschreibungspraxis darstellt und deswegen insbesondere über die Anerkennung derer, die sie zuschreiben, funktioniere (vgl. ebd.: 509). Aber eben genau die dafür notwendige Fähigkeit zur Zuschreibung von Autorität scheint auf Seiten der Partner*innen mit Demenz im Krankheitsverlauf früher oder später verlustig zu gehen, weswegen ich hier die Position vertrete, dass die potentielle Durchsetzung von Grenzen durch die Pflegenden der Fähigkeit zur Dominanz bedarf und Autorität in den hier erfolgten Analysen eher wenig Bedeutung zukommt.
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Häusliche Pflege am Limit
es schließlich, ob Sorge oder aber Dominanz überwiegen. Ein gutes Beispiel für die Situativität dieser Verwobenheit stellt der Fall von Herrn Franz dar. Dieser beruft sich, wie ich in den vorangegangenen Analysen bereits aufgezeigt habe, an verschiedenen Stellen seines Pflegealltags auf seine tradierte männliche Geschlechtsidentität, um spezifische Grenzen der Pflege zu legitimieren. Entsprechend dem hier vorliegenden Verständnis von Dominanz als sozialer Praxis einzelner oder mehrerer Akteur*innen, sich gegenüber schwächeren Akteur*innen durchzusetzen (vgl. Hillmann 2007: 159), kann beispielweise sein wöchentliches Treffen mit Freunden als Akt der Dominanz über den Willen seiner Frau gedeutet werden. Denn in dieser Zeit lässt Herr Franz seine Frau allein zu Hause, obwohl er weiß, dass es ihr lieber wäre, wenn er jeden Abend bei ihr bliebe. Hier zieht Herr Franz demnach situativ eine Grenze und sein Bedürfnis nach Eigenzeit dominiert seine – an anderer Stelle im Gespräch formulierte – Sorge, dass seine Frau in seiner Abwesenheit beispielsweise die Couchkissen im Ofen erwärmt. Einen Kontrast dazu bildet dann aber wiederum die Erzählung, dass er gern mal wieder allein in den Urlaub fahren würde: »Der Drang ist da, wegzugehen, für ein paar Tage. Aber dann am Schluss tut es mir wieder leid.« (ebd.: 580f) Um in den Urlaub fahren zu können, müsste er seine Frau mithilfe von Verhinderungspflege in einer institutionellen Pflegeeinrichtung betreuen lassen, was er als eine erhebliche Umstellung und Belastung für sie antizipiert. Im Hinblick auf die Durchsetzung seines Bedürfnisses nach Urlaub überwiegt demnach im Fall von Herrn Franz – trotz seiner ansonsten ausgeprägt männlich dominanten Selbstdarstellung40 – die Sorge um seine Frau und er verzichtet auf den Urlaub. Demgegenüber ist es im Fall von Frau Maler wiederum so, dass sie die bereits gezogene – vermeintlich ultimative – Grenze häuslicher Pflege zwar erneut einreißt, indem sie ihren Mann nach ein paar Monaten aus dem Pflegeheim zurück zu sich in die Wohnung holt, weil sie aus Sorge um ihn die Verantwortung für seine Pflege – trotz der körperlichen und psychischen Belastung – lieber wieder selbst übernehmen möchte. Allerdings achtet sie nun darauf, die ihr rechtlich zustehenden Tage Verhinderungspflege bewusst in
40
Hier sei unter anderem noch einmal daran erinnert, dass Herr Franz nicht nur mehrfach betont, dass er sich früher im Haushalt um nichts kümmern musste, sondern direkt zu Beginn auch eine affektiv dominante Distanzierung von seiner Frau vornimmt, indem er ausschließlich von »der« Frau spricht, die er aufgrund der kognitiven Veränderungen im Verlauf der Demenz nicht mehr als seine Frau ansieht, sondern als betreute Person (vgl. ebd.: 232f).
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
Anspruch zu nehmen, auch wenn ihr Mann nicht damit einverstanden ist, in dieser Zeit von seinen Töchtern und dem ambulanten Pflegedienst betreut zu werden. Und auch Frau Werner schöpft ihren Anspruch auf Verhinderungspflege voll aus und äußert sich im Interview sehr positiv darüber, auf diese Weise die Chance zu erhalten, ein paar Tage Auszeit von der Pflege zu machen. An diesen beispielhaften Episoden zeigt sich recht deutlich die komplexe Verwobenheit von Sorge und Dominanz in der untersuchten Pflegesituation, die sich sowohl bei den männlichen als auch den weiblichen Pflegenden beobachten lässt. Das bedeutet, dass sich zwar – wie aus den vorangegangenen Abschnitten der Arbeit hervorgegangen sein sollte – im Hinblick auf die verschiedenen Sorgearbeiten durchaus erkennen lässt, dass die weiblichen Pflegenden aufgrund der geschlechtsspezifischen Identifikation mit der Aufgabe der Pflege stärker zur Entgrenzung der Pflege neigen, während demgegenüber die männlichen Pflegenden ihre Bereitschaft zur Pflege unter Rückgriff auf ihre männliche Geschlechtsidentität als begrenzter konstruieren. Es bedeutet aber eben bei weitem nicht, dass bei den männlichen Pflegenden trotz männlich dominanter Selbstkonzeptualisierung, die Sorge um die zu pflegenden Partner*innen eine untergeordnete Rolle spielt. Darüber hinaus lässt sich mit Blick auf die weiblichen Pflegenden auch beobachten, dass die Pflegebedürftigkeit des Ehemannes zuweilen die Möglichkeit eröffnet, sich gegenüber dem Partner dominanter zu positionieren, als dies in früheren Phasen der Beziehung möglich schien. So finden sich im Sample mit Frau Heinrich und Frau Werner beispielsweise zwei weibliche Interviewte, die ihre Ehe rückblickend eher kritisch bilanzieren. Frau Heinrich möchte ihr Leben lieber nicht nochmal zurückdrehen und resümiert ihre Ehe als durchschnittlich sowie dahingehend, dass es keine Höhepunkte gab, man sich aber gemeinsam daran erfreut habe, wie die Kinder groß werden (vgl. ebd.: 1124ff). Vor dem Hintergrund dessen, was sie bereits in jüngeren Jahren mit der familiären Fürsorge und später mit der Pflege ihrer Mutter leisten musste, empfindet sie es allerdings als ungerecht, mit der Pflege ihres Mannes nach wie vor so rangenommen zu werden.41 Und dennoch kommt sie zu dem Schluss:
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»Ja, doch, […], aber ich will mal sagen, so/so, dass ich so rangenommen/ich meine, Arbeiten, das müssen ja viele Frauen, die meisten oder fast alle. Nur, dass ich jetzt in DEM Alter, wo man sich ausruhen könnte, so arbeiten muss/äh/das finde ich, das finde ich manchmal schlimm.« (ebd.: 1128ff)
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»Nee, ich/im Grunde will ich ihn auch noch nicht verlieren. Er ist ja eigentlich mein nächster Partner, ja. Und wir haben eine gemeinsame Vergangenheit, ja. Ja, und ich finde, […] wir verstehen uns jetzt von der/von der Psyche her besser wie früher. Also, man ist zusammengewachsen. Er ist dankbar, wenn er nicht gerade durcheinander ist. Er ist dankbar und ich/äh/hab ihn wahrscheinlich doch noch gerne. So muss es sein. Ja.« (Heinrich: 1355ff) Frau Heinrich deutet hier an, dass die Situation der zunehmenden Hilflosigkeit ihres Mannes dazu führt, dass sie mit ihrem Mann in der aktuellen Situation subjektiv in einem harmonischeren Verhältnis lebt als vor seiner Erkrankung. Damit spielt sie – wie sich im weiteren Interviewverlauf bestätigt – auf wiederkehrende Meinungsverschiedenheiten an, in denen sie sich nicht als den dominanten Part erlebt hat. Das von ihr in der Pflegebeziehung wahrgenommene Zusammenwachsen mit ihrem Mann legt demnach in Frau Heinrichs Fall zum einen die Vermutung nahe, dass er ihr mit der beschriebenen Dankbarkeit eine Wertschätzung entgegenbringt, die sie zuvor nicht in der Form von ihm erhalten hat. Zum anderen gelangt sie durch die Hilflosigkeit ihres Mannes nun zunehmend in eine Situation, in der sie – zumindest subjektiv – bestimmen kann, während er einfach nur (körperlich) anwesend ist.42 So richtig erklären kann sie es sich nach der gemeinsamen Vergangenheit aber scheinbar dennoch nicht, dass sie ihn nach wie vor gern hat. Vergleichsweise deutlich formuliert demgegenüber Frau Werner ihre Einschätzung der Situation: »Ich musste immer mich nach ihm richten. […] Und da habe ich gedacht: ›Du bist so angehangen gewesen und so ein guter Mann war er auch nicht und jetzt musst du ihn pflegen.‹« (Werner: 1011ff) Diese subjektive Ungerechtigkeit mündet in den Erzählungen von Frau Werner zunächst einmal in verschiedenen kleineren Episoden der Widerständigkeit, in denen sie ihren Mann beispielsweise warten lässt und darüber ihre situative Dominanz signalisiert, ohne dabei jedoch ihre Sorgeverantwortung zu gefährden: »Also, ich stehe/früh um Acht klingelt der Wecker. Ich würde ja gerne länger schlafen. ABER, er muss ja fertig sein mit dem Essen, ne, dann/als erstes (.) windele ich ihn von der Nacht her. So. Dann mache/ziehe ich mich an, dann wird das Frühstück vorbereitet, erst kriegen die Katzen, dann kriegt er. So. (lacht)« (ebd.: 450ff) In diesem kurzen Abschnitt zeigt sich einmal mehr sehr deutlich die Verwobenheit von Sorge und Dominanz in der Pflegebeziehung, aber zugleich auch die Komplexität der Machtbeziehung zwischen Frau Werner und ihrem
42
»Er ist anwesend und ich mach meine Hausarbeit.« (ebd.: 283)
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
multimorbiden Ehemann, der zu festen Zeiten seine Nahrung und seine Medikamente einnehmen muss. Das bedeutet, einerseits unterliegt sie qua Fürsorgeverantwortung dem Diktat der Uhrzeit und hat keine Möglichkeit, so lange zu schlafen, wie sie möchte. Hier dominieren also weiterhin die Bedürfnisse ihres Mannes ihr Leben. Andererseits schafft sie sich aber über die von ihr erzählten Momente der Widerständigkeit gegen das Diktat seiner Pflegebedürfnisse eine affektive Dominanz, innerhalb derer es bereits als befriedigend erlebt werden kann, morgens zuerst die Katzen zu füttern und erst im Anschluss ihrem pflegebedürftigen Mann das Frühstück anzureichen. Dabei wird unter anderem über ihr »So.« und das anschließende Lachen deutlich, dass es hierbei mehr um die Symbolik geht, die sie über die Reihenfolge der Nahrungsverteilung erzeugt und weniger darum, dass diese Form der Dominanz tatsächlich praktische Konsequenzen für ihren Mann nach sich zieht. Und dennoch konstruiert Frau Werner damit eine Grenze der Pflege, die aufgrund ihrer subjektiven Bedeutung für sie als Pflegende nicht ignoriert werden darf. Abgesehen von dieser symbolischen Dominanz kann die von Frau Werner thematisierte Ungerechtigkeit ihrer Situation zudem als maßgeblich ausschlaggebend dafür verstanden werden, dass es ihr – anders als beispielsweise Herrn Franz – nicht schwerfällt, gegen den Willen ihres Mannes die Verhinderungspflege in Anspruch zu nehmen: »Ja, ich wollte mal machen, was ICH wollte. Und nicht immer mich nach einem MANN richten. Aber, ich habe dann, seitdem er liegt, (.) dann habe ich ja auch gemerkt, du kriegst 28 Tage Verhinderungspflege und da habe ich gedacht, so, nein, das machst du.« (ebd.: 91ff) Frau Werner beschreibt hier den inneren Konflikt, vor dem sie stand, als sie feststellte, dass sie nun auch im vermeintlich entpflichteten Ruhestand nicht die versprochene »späte Freiheit« (Rosenmayr 1983) leben konnte, sondern ihre eigenen Bedürfnisse infolge der Erkrankung ihres Mannes weiterhin oder wieder zurückstellen musste. Über ihre Betonung in den ersten beiden Sätzen des obigen Abschnittes macht sie deutlich, dass sie sich biografisch rückblickend bis dato immer als von irgendeinem Mann in ihrer Handlungspraxis dominiert erlebt hat. Auf welche Männer sie sich dabei, abgesehen von ihrem eigenen Ehemann, bezieht, lässt sie offen und generiert darüber eine verallgemeinerte Verortung der Dominanz auf Seiten jeglicher Männer, mit denen sie im Verlauf ihres Lebens in Kontakt stand oder steht – seien es nun Männer aus vorangegangenen Beziehungen, ihr Sohn oder aber ihr ehemaliger Chef. Zu dem Zeitpunkt, an dem ihr Mann dauerhaft bettlägerig wird, beschließt sie, sich durchzusetzen und im Rahmen der 28
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Tage Verhinderungspflege nur das zu machen, worauf sie Lust hat. Der besagte Zeitpunkt ist dabei in mehrfacher Hinsicht interessant, weil er die Frage danach aufwirft, was ausschlaggebend für die – von ihr biografisch als Premiere erzählte – Durchsetzung ihrer eigenen Bedürfnisse war. Diesbezüglich habe ich in den Analysen zu den zeitlichen Grenzen der Pflege bereits darauf verwiesen, dass die biografische Dauer der bereits erfolgten Pflege die Bereitschaft zur Begrenzung selbiger erhöht. Darüber hinaus lässt sich dennoch fragen, welchen Anteil an dieser Entscheidung die Umverteilung der Dominanz hat und inwiefern es von Relevanz war, dass ihr Mann erst das Stadium der schweren Demenz, mit starker kognitiver wie körperlicher Einschränkung, erreichen musste, bevor sie sich als stark genug erlebt hat, um ihren Willen durchzusetzen. Eine konkrete Antwort darauf bleibt uns Frau Werner schuldig. Für ihre weitere Praxis der Be- und Entgrenzung ist die konkrete Benennung des Grundes für die Entscheidung zur dominanten Begrenzung der Pflege aber auch weniger relevant als die Tatsache, dass sie die erste genommene Auszeit von der Pflege so positiv erlebt, dass sie seitdem keinen der ihr zustehenden Tage Verhinderungspflege verfallen lässt. Mit Blick auf die weiteren Diskussionen um die Konzeptualisierung fürsorglicher Männlichkeiten erscheint es vor dem Hintergrund der hier vorliegenden Analysen daher ein wichtiger Schritt, die postulierte Notwendigkeit der Ablehnung von Dominanz in der Pflegebeziehung noch einmal zu überdenken und in diesem Zuge auch das vorliegende Verständnis von Dominanz innerhalb der Pflege noch einmal genauer zu differenzieren.43 Dabei könnte es eine Option sein, zwischen jenen Praktiken der Dominanz zu unterscheiden, die mit fürsorglichen Werthaltungen einhergehen und jenen Praktiken der Dominanz, die die von Elliott geforderten Werte, wie positive Emotionen, gegenseitiges Angewiesensein oder eine respektvolle soziale Beziehung zwischen der pflegenden Person und den Empfänger*innen der Pflege, verhindern (vgl. Elliott 2016: 240). Darüber hinaus bestärken die vorliegenden Analysen die von Lengersdorf und Meuser formulierte Kritik an der von Elliott vorgenommenen normativen Aufladung und Engführung des Konzepts der Caring Masculinities. Diese
43
Aus dem zuletzt erschienenen Sammelband zu »Caring Masculinities?« von Sylka Scholz und Andreas Heilmann wird diesbezüglich bereits ersichtlich, dass sich die Herausgeber*innen des Sammelbandes – im Gegensatz zu Karla Elliott – in den laufenden Debatten mittlerweile von der ursprünglichen Ablehnung von Dominanz distanzieren (vgl. Scholz/Heilmann 2019).
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
entstehe darüber, dass das Potenzial für die Transformation von Männlichkeiten insbesondere darin gesehen werde, dass sich fürsorgliche Männlichkeiten normativ gegen hegemoniale Männlichkeiten und damit verbundene tradierte männliche Geschlechtsidentitäten und Herrschaftsansprüche wenden (vgl. Heilmann/Scholz 2017: 352; vgl. Lengersdorf/Meuser 2019: 100f). Denn auf diese Weise bleibt die Prozesskategorie der Caring Masculinities all jenen männlichen Pflegenden verschlossen, die zwar pflegen, aber deswegen nicht notwendigerweise ihr biografisch aufgeschichtetes traditionelles Geschlechterwissen mit den daraus resultierenden vergeschlechtlichten Praktiken hinterfragen. Dies träfe dann nicht nur auf die von Lengersdorf und Meuser untersuchten Gruppen männlicher Handwerker und Orchestermusiker zu (vgl. ebd.), sondern auch auf sämtliche, der von mir interviewten älteren männlichen Pflegenden. Sie alle pflegen mit ausgeprägter Sorgeorientierung und erzählen verschiedenste Episoden der Sorge um und für ihre Partner*innen mit Demenz, die von Care-Werten wie emotionaler Zugewandtheit, Verletzbarkeit, Solidarität oder auch gegenseitiges Angewiesensein geprägt sind (vgl. ebd.: 106). Und dennoch habe ich zugleich auch deutlich gemacht, dass keiner von ihnen tradierte Werte, wie den der männlichen Dominanz innerhalb der Paarbeziehung, oder die Attribution von Pflege als weiblich hinterfragt oder gar ablehnt. Doch warum wird dieser Gruppe von männlichen Pflegenden ihr Potential für die Transformation von Männlichkeit abgesprochen? Wird Wandel ausschließlich von jenen Gesellschaftsmitgliedern vollzogen, die diesen auch aktiv reflektieren? Natürlich nicht. Und ist es dementsprechend nicht vielmehr so, dass die männlichen Pflegenden meines Samples über die geleistete informelle Demenzpflege bereits einen praktischen Beitrag zum Wandel von Männlichkeit leisten? Diese Frage würde ich wiederum bejahen und argumentieren, dass zunächst einmal die Tatsache zählt, dass sie pflegen. Denn es darf mit Blick auf das vorliegende Sample pflegender Angehöriger auch nicht ignoriert werden, dass damit eine Untersuchungsgruppe abgebildet wird, deren Mitglieder sich allesamt dafür entschieden haben, ihre Partner*innen mit Demenz in der häuslichen Pflegearena zu pflegen. Dabei wäre es insbesondere für die männlichen Pflegenden in der Mehrzahl der Fälle finanziell möglich gewesen, die Partner*innen in einer Pflegeeinrichtung unterzubringen und dort pflegen zu lassen. Genau dies taten sie aber nicht und fragt man die männlichen Pflegenden nach den Gründen für die Entscheidung zur Übernahme der Pflegeverantwortung, dann stehen letztlich tradierte Werte wie das Festhalten am Eheversprechen im Vordergrund, in deren Kontext Soli-
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Häusliche Pflege am Limit
darität, Dankbarkeit, Reziprozität, aber auch gegenseitiges Angewiesensein eine wichtige Rolle für die Entscheidung spielen: »Bis dass der Tod uns scheidet. Was anderes geht nicht.« (Steg: 465f) Oder: »Ich meine, sie war jahrzehntelang für mich da. Den kurzen Weg, den wir da noch vor uns haben, will ich halt für Sie da sein.« (Briese: 452ff) Hierbei zeigt sich zum einen, dass es für die weitere Diskussion um die Transformation von Männlichkeit auch zu hinterfragen gilt, inwiefern insbesondere die Sorgeorientierung für die eigenen Partner*innen nicht bereits in tradiert männlichen Geschlechtsidentitäten angelegt ist und sich das Festhalten an traditionellem Geschlechterwissen bei gleichzeitigem Vorhandensein der von Elliott geforderten fürsorglichen Werthaltung (vgl. Elliott 2016: 240) womöglich gar nicht ausschließen, sondern gegenseitig durchdringen. Darüber hinaus bestätigt die Aussage von Herrn Briese zum anderen aber auch, was die Forschung zu Männern in der Pflege schon längst weiß, nämlich dass »[…] Männer ihre Pflegeproduktivität erst in den späteren Lebensjahren in der Nacherwerbsphase entwickeln.« (Dosch 2016: 679) Die Pflege der eigenen Lebenspartner*innen steht dabei quantitativ an erster Stelle (vgl. ebd.; Deutscher Bundestag 2016: 212). Als ausschlaggebend dafür kann unter anderem der Umstand angesehen werden, dass sich die Betroffenen in der nachberuflichen Lebensphase nicht mehr zwischen Fürsorge und Beruf entscheiden müssen. Aus kritischer Perspektive schmälert diese Bedingung an die Bereitschaft zur Übernahme der Pflegeverantwortung zwar das in der Debatte gesuchte Potential zur Transformation von Männlichkeiten, bei denen sich die Sorgeorientierung wünschenswerterweise nicht auf die nachberufliche Lebensphase beschränkt. Aber dennoch plädiere ich weiterhin dafür, die Frage, »ob Caring Masculinities nicht auch mit einem traditionellen Männlichkeitskeitsverständnis (unbewältigt) einhergehen können« (Lengersdorf/Meuser 2019: 101), zu bejahen. Dementsprechend erscheint es angebracht, die aktuellen Konzeptualisierungen fürsorglicher Männlichkeiten kritisch zu überdenken, um sie beispielsweise auch für die von mir untersuchten Generationen44 männlicher Pflegender zu öffnen, obschon – oder vielleicht
44
Mit der Verwendung des Begriffs der Generation möchte ich hier noch einmal an die Notwendigkeit der differenzierten Reflexion des gesellschaftshistorischen Kontexts erinnern, in den die vergeschlechtlichte Vergesellschaftung der jeweils im Fokus stehenden Personengruppen eingebettet war, ist und zukünftig sein wird. Die Verwendung des Begriffes im Plural erklärt sich hier darüber, dass mein Sample aufgrund der breiten Altersspanne mehr als eine Generation umfasst, die tradierte vergeschlecht-
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auch gerade weil – deren Beitrag zu einer pragmatischen Modernisierung der Geschlechterverhältnisse (vgl. Behnke/Scholz 2015: 171) eben vielmehr in der Praxis des Pflegens als in der kritischen Reflexion dieser Praxis für die eigene Geschlechtsidentität zu verorten ist. Allerdings sei diesbezüglich auch darauf verwiesen, dass sich das Potential dieser pragmatischen Modernisierung für einen Wandel im Handlungsfeld der informellen Pflege nicht allein im praktisch-pragmatischen Tun erschöpft, sondern von einer Diskursivierung der untersuchten Pflegepraxis profitiert. Denn im öffentlichen Diskurs steigt die gesellschaftliche Wahrnehmung einer spezifischen Handlungspraxis und damit auch ihr Beitrag zur Transformation von – in diesem Falle – Männlichkeit (vgl. ebd.). Dies zu leisten, ist schließlich aber weniger dem Aufgabenfeld der praktisch Pflegenden zuzurechnen, als vielmehr Zuständigkeitsbereich einer kritisch über die Praxis reflektierenden Sozialforschung.
7.4
Zwischenfazit
Für die übergeordnete Frage nach der Bedeutung von Geschlecht im Zusammenhang mit spezifischen Praktiken der Be- und Entgrenzung häuslicher Demenzpflege können an dieser Stelle sechs Einsichten festgehalten werden: Als erste Einsicht aus der Empirie gilt es hier zu resümieren, dass die vergeschlechtlichte Vergesellschaftung in Kindheit, Jugend, aber insbesondere der mittleren Lebensphase von allen pflegenden Angehörigen des Samples als traditionell beschrieben und in den meisten Fällen über die zu dieser gesellschaftshistorischen Zeit geltenden Normen und Werte begründet wird. Dabei stellte sich heraus, dass die männlichen Pflegenden die innerehelich praktizierte Aufgabenteilung mit der Zuweisung der häuslichen Sphäre an das weibliche Geschlecht – im Sinne einer gesellschaftshistorischen Selbstverständlichkeit – als unproblematisch und gelungen resümieren. Demgegenüber problematisieren die weiblichen Interviewten mehrheitlich ebenjenes Geschlechterwissen und die mit der für sie nicht selten doppelten Vergesellschaftung einhergehenden Belastungen. Allerdings erzählen sie sich selbst – unabhängig von ihrer Herkunft – rückblickend als nicht handlungsmächtig im Hinblick auf die Durchsetzung von Unterstützung durch ihre Ehemänner.
lichte Vergesellschaftung aber innerhalb beider Generationen als charakteristisch verstanden kann.
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Häusliche Pflege am Limit
Aus diesen biografisch praktizierten und routinierten Praktiken des Doing Gender ergibt sich für die von mir untersuchten pflegenden Angehörigen eine unterschiedliche Ausgangssituation für die Übernahme der Pflege und den damit einhergehenden Praktiken der Sorgearbeit. Dabei stellt es zweitens zunächst einmal eine wichtige Einsicht dar, dass die von allen pflegenden Angehörigen des Samples als selbstverständlich konstruierte Übernahme der Pflege sich bei genauerem Hinschauen deutlich komplexer darstellt, als es die Einheitlichkeit dieser Antwort zunächst vermuten lässt. Denn auf Seiten der weiblichen Pflegenden wird an verschiedenen Stellen der Narrationen deutlich, dass das Selbstverständnis der Pflegeübernahme eng mit ihrer Geschlechtsidentität und der Internalisierung sozial konstruierter Zuschreibungen, wie der, dass Pflege weiblich ist, verknüpft scheint, denn: »Es ist kein Muss, aber es gehört sich so.« (Heinrich: 1669) Die Übernahme der auf sie als weiblich attribuierte Personen gerichteten Haltungen und Erwartungen beeinflusst dementsprechend die Ausbildung des Selbst und mündet in sozial erlernte Selbstverständlichkeiten, deren Ablehnung nicht selten an soziale Sanktionen geknüpft ist. Für die männlichen Pflegenden wiederum ist die Übernahme der Pflege eben gerade nicht Teil ihrer männlichen Geschlechtsidentität, sondern die erzählte Selbstverständlichkeit ihrer Entscheidung für die häusliche Pflege wird stattdessen stärker an tradierte Werte, wie das Eheversprechen, geknüpft. Diese unterschiedlichen Kontextbedingungen der Selbstverständlichkeit sind sodann drittens von erheblicher Bedeutung für jene Be- und Entgrenzungen der Pflegepraxis, die von den pflegenden Angehörigen – sowohl explizit, als auch implizit – in Bezug zu ihrer Geschlechtsidentität gesetzt werden. Denn die männliche Selbstverständlichkeit der Pflegeübernahme endet innerhalb des vorliegenden Samples in der Regel in dem Moment, in dem die Pflegeverantwortung in den Alltag unterstützender Sorgearbeit mündet. In dieser Situation lässt sich in den Selbsterzählungen eine spezifisch männliche Entgrenzungsnarration beobachten, deren subjektive Erfahrung auf der Notwendigkeit der Aneignung eines neuen Praxisfeldes beruht. Ebenjene Entgrenzungserfahrung bleibt bei den weiblichen Pflegenden mit Blick auf die unterstützenden Sorgearbeiten aus. Stattdessen wird diese Form der Sorgearbeit in den Selbsterzählungen der weiblichen Pflegenden häufig gar nicht als Teil der Pflege gedeutet, sondern als Rückzugsmöglichkeit und biografisch vertraute Ablenkung von Praktiken indirekter und direkter Sorgearbeit. Den, objektiv betrachtet, für alle Geschlechter relativ ähnlich ausfallenden Anforderungen unterstützender Sorgearbeit in der häuslichen Demenzpflege steht
7. Vergeschlechtlichte Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege
demnach eine subjektiv und geschlechtsspezifisch sehr unterschiedliche Deutung dieser Arbeiten gegenüber, die in der Gesamtbewertung des Pflegealltags auf Seiten der männlichen Pflegenden eher als belastende Entgrenzung des Alltags erzählt werden, während auf Seiten der weiblichen Pflegenden in diesem Kontext eher das Narrativ der entlastenden Begrenzung zu finden ist. Mit Fortschreiten der Demenz und Zunahme der indirekten und direkten Sorgearbeiten mündet die männlich erzählte Entgrenzung der Pflege allerdings insbesondere dann in eine vergeschlechtlichte Begrenzung selbiger, wenn es um Pflegepraktiken mit mehr oder weniger direktem intimen Körperbezug geht. Das bedeutet, um zu begründen, warum Sorgearbeiten, wie das Duschen ihrer pflegebedürftigen Partner*innen oder die Assistenz beim Toilettengang, abgelehnt werden, erfolgt bei den männlichen Pflegenden in mehreren Fällen der Rückgriff auf die eigene männliche Geschlechtsidentität, mit der sich diese Praktiken der Pflege nicht vereinbaren lassen. Darüber hinaus konstruieren sie die Notwendigkeit der Körperpflege als einen Aspekt am Ende einer langen Kette von neu angeeigneten Sorgearbeiten und verstärken die Legitimität ihrer Ablehnung spezifischer direkter Sorgearbeiten darüber, dass sie zuvor eine ganze Reihe von Aufgaben übernommen haben, die vermeintlich ebenfalls bereits nicht zu ihrem traditionell männlichen Aufgabenbereich gehören. Zugespitzt könnte man also sagen: Die (grundsätzliche) Bereitschaft zur Pflege ist da, aber sie hat auch klare Grenzen. Demgegenüber kann bei den weiblichen Pflegenden mehrheitlich eine Tendenz zur vergeschlechtlichten Entgrenzung beobachtet werden. Das bedeutet, dass spezifische Praktiken der Entgrenzung des Pflegealltags auf die im vorliegenden Sample ausgeprägte weibliche Identifikation mit der Pflege zurückgeführt werden können und die sozial vermittelte Norm weiblicher Fürsorglichkeit in dem sowohl Selbst- als auch Fremdanspruch45 mündet, die häusliche Pflege vielfach komplett ohne externe Hilfen zu bewältigen. Die vierte Einsicht steht in Zusammenhang mit den sozial erlernten Affekten, denn für diese zeigt sich in der Pflegesituation interessanterweise eine Geschlechtsspezifik in Bezug auf die Art und Funktion der erzählten Affekte. So wird bei den männlichen Pflegenden insbesondere der Affekt des Ekels vor bestimmten Praktiken der Körperpflege in die Selbsterzählungen eingeflochten und hat dabei die Funktion, die in diesem Kontext praktizierte 45
Hier sei noch einmal an den Fall von Frau Moser erinnert, die sich professionelle Hilfe wünscht, diese aber immer wieder verwehrt bekommt, weil ihr Mann und darauf basierend auch ihre Tochter diese externen Hilfen ablehnen.
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Begrenzung der Pflege zu legitimieren. Demgegenüber erzählen die weiblichen Pflegenden vermehrt von Situationen, in denen insbesondere der Affekt der Wut ihrem Bedürfnis nach Abgrenzung temporär Ausdruck verleiht, schlussendlich aber meist doch in eine erneute Entgrenzung der Pflegepraxis mündet, weil die in der Wut-Situation begonnene Abgrenzungspraxis nicht über den Affekt hinaus aufrechterhalten wird und im Anschluss an die Wut wieder die Sorge(-pflicht) überwiegt. Fälle wie der von Frau Maler, die ihren Mann bereits in ein Pflegeheim gab, ihn aus Sorge wieder zurück in die häusliche Pflegearena geholt hat und seitdem um ein ausgewogenes Verhältnis von Pflege und deren Begrenzung bemüht ist und aktiv Pflegeauszeiten praktiziert, stellen innerhalb des vorliegenden Samples zwar einerseits eine Ausnahme dar, aber stehen andererseits dennoch auch exemplarisch für die starke Identifikation mit der Fürsorgeverantwortung. Eine weitere Ausnahme innerhalb des Samples bildet wiederum fünftens das soziale Vergessen von Geschlecht in der Pflegesituation. Dabei gilt es zu beachten, dass bereits die Analysen zu den zeitlichen Be- und Entgrenzungen von Pflege darauf verweisen, dass Geschlecht nur von episodischer Relevanz ist. Das Besondere am Fall von Herrn Briese ist daher vielmehr, dass er zunächst eine klar tradierte männliche Geschlechtsidentität entfaltet, als es darum geht, seine fehlende familiäre Präsenz und Involviertheit innerhalb der mittleren Lebensphase zu begründen. In der Begründung der verschiedenen Grenzen der häuslichen Pflege scheint er dann aber wiederum seine tradierte Geschlechtsidentität zu vergessen oder zumindest hinter andere Aspekte, wie die der Hochaltrigkeit und Multimorbidität, zurückzustellen. Der Kontrast zu den anderen männlichen Pflegenden des Samples entsteht also darüber, dass sich zwar die erzählten Grenzen der Pflege ähneln, aber Herr Briese sie über die mit seinem hohen Alter einhergehenden gesundheitlichen Einschränkungen begründet. Die aus diesem Einzelfall ableitbare Frage danach, ob Hochaltrigkeit und die korrelierenden gesundheitlichen Einschränkungen generell das Potential haben, die Relevanz von Geschlecht zurückzustellen, kann hier allerdings nicht ohne erneutes Sampling beantwortet werden. Denn es ist zwar zu vermuten, dass sich die vielen gemeinsamen Jahre im Ruhestand, mit der Möglichkeit, diesen die ersten mindestens zwei Jahrzehnte vorstellungsgemäß zu gestalten, positiv auf die Bereitschaft zur (entgrenzten) Pflege in den verbleibenden letzten Lebensjahren auswirken, aber Rückschlüsse auf eine potentiell abnehmende Relevantsetzung von Geschlecht lassen sich daraus noch nicht ziehen. Zudem stünde im vorliegenden Sample dem hochaltrigen Herrn Briese zumindest der ebenfalls über 90-jährige Herr Klopp
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gegenüber, der sich angesichts verschiedener gesundheitlicher Probleme mit den Augen und Knien zwar ebenfalls als körperlich sehr eingeschränkt und weniger fit als seine Frau beschreibt, aber dennoch aktiv auf seine tradierte männliche Geschlechtsidentität zurückgreift, um zu begründen, warum er es beispielsweise ablehnt, seine Frau im Intimbereich zu waschen. Es bedürfte demnach eines erweiterten theoretischen Samplings mit verstärktem Fokus auf die Hochaltrigkeit pflegender Angehöriger, um die Bedeutung von Hochaltrigkeit und Multimorbidität für Episoden des Doing Gender in der Pflegesituation besser zu durchleuchten. Und schließlich konnte sechstens mithilfe der empirischen Analysen aufgezeigt werden, dass die bisherigen Konzeptualisierungsbestrebungen innerhalb der Debatte um fürsorgliche Männlichkeiten einen gravierenden strukturellen Denkfehler beinhalten, der Dominanz aus fürsorglichen Pflegebeziehungen ausklammert und dabei verkennt, dass sich Sorge und Dominanz innerhalb der Pflege nicht ausschließen, sondern eng miteinander verwoben sind. Dabei ist es bezeichnend, dass sich ausgerechnet die Grenze als Schlüsselkategorie der vorliegenden Analysen erwiesen hat und jegliche Praktiken der Be- und Entgrenzung von Pflege maßgeblich mit dem Durchsetzen oder Ausbleiben von Dominanz in der pflegebezogenen Interaktionspraxis verknüpft sind. Die Möglichkeit, in diesem Kontext empirisch sowohl auf die Selbsterzählungen von männlichen als auch weiblichen Pflegenden zurückgreifen zu können, hat dabei zudem dazu beigetragen, die vermeintliche Vergeschlechtlichung von Dominanz innerhalb der Pflegebeziehung zu relativieren und stattdessen eine geschlechtsunabhängige Verwobenheit von Sorge und Dominanz nachzuweisen. Darüber hinaus idealisiert die aktuelle Konzeptualisierung von Caring Masculinities die Idee fürsorglicher Männlichkeiten, indem sie die reflexive Ablehnung traditioneller Werte von Männlichkeit als Bedingung voraussetzt. Auf diese Weise wird fürsorgliche Männlichkeit allerdings nicht nur zu einem exklusiven Transformationsprojekt für eine kleine Gruppe vermeintlich junger, reflektierter Bildungsbürger, sondern es wird vor allem auch die individuelle Leistung all jener männlichen Pflegenden verkannt, die pflegen, ohne deswegen ihre bisherige Geschlechtsidentität in Frage zu stellen. Und so läuft die aktuelle Debatte schließlich Gefahr, dieser weitaus größeren und vor allem im Hinblick auf die Demenzpflege im Ruhestand zukünftig noch weiter wachsenden Gruppe männlicher Pflegender ihr transformatives Potential abzusprechen.
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8. Und daraus folgt? − »Es geht eben immer am Limit lang.«
Zu Beginn meiner Arbeit habe ich die Frage danach, was es bedeutet, im Ruhestand seine*n Partner*in mit Demenz zu pflegen als forschungsleitendes Interesse der vorliegenden Untersuchung gekennzeichnet. Die im Anschluss daran aufgeworfenen Fragen nach der Funktion individueller Grenzen in der Pflege, der Bedeutung von Zeit im Pflegealltag oder potentiellen Unterschieden in der Pflegepraxis weiblicher und männlicher Pflegender stellten dabei eine Spezifizierung des Forschungsinteresses dar, dessen induktive Genese im Abschnitt zur methodologischen Konzeption meiner Untersuchung genauer hergeleitet wurde. Ziel dieses letzten Abschnittes meiner Arbeit ist es nun, diese im Verlauf der Analysen herausgearbeiteten Antworten auf die anfänglichen Fragen und die dabei gewonnenen Einblicke in die Situation der pflegenden Partner*innen hier noch einmal überblicksartig zu bündeln und dabei letzte noch offene Fragen zu beantworten. Daran anschließend werden die aus der Empirie ableitbaren Konsequenzen für die alltägliche Pflegepraxis der pflegenden Angehörigen formuliert. Und am Schluss gilt es, die praktische Relevanz der vorliegenden Untersuchung noch einmal mithilfe einer abschließenden Kritik der Bedingungen in der informellen Demenzpflege zu unterstreichen.
8.1
Die Situation der pflegenden Partner*innen skizzieren
Für den zusammenfassenden Überblick über die empirisch untersuchte Situation der informellen Demenzpflege bietet es sich an dieser Stelle an, das Kodierparadigma zu nutzen, welches im Verlauf der Analysen konzipiert wurde und mit dessen Hilfe die einzelnen Stationen der Analyse noch einmal nachvollzogen werden können. Dabei gilt es zu beachten, dass das Kodier-
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paradigma (nach Strauss) an dieser Stelle meiner Arbeit selbstverständlich nicht mehr dazu dient, die empirischen Analysen voranzutreiben (vgl. Strübing 2014: 24f). Stattdessen orientiere ich mich hier erneut an der Situationsanalyse, innerhalb derer spezifische Karten oder Schemata aus der Analyse am Schluss der Untersuchung in eine finale Projektskizze münden (können), deren Aufgabe es ist, die wichtigsten Aspekte noch einmal zusammenzufassen (vgl. Clarke 2012: 177).
Abbildung 7: Projektskizze zur Situation informeller Pflege von Menschen mit Demenz
Im Zentrum der Projektskizze beginnend entspricht die individuelle Situation in der informellen Pflege von Menschen mit Demenz dem sogenannten Phänomen und damit jenem übergreifenden Thema, welches sich in der Empirie als konzeptuell relevant erwies (vgl. Strübing 2014: 24f; vgl. Abb. 7). Als Ursache für die untersuchte Situation kann diesbezüglich zunächst einmal die Feststellung der Demenz bei den Partner*innen festgehalten werden sowie die daran anschließende Entscheidung zur Übernahme der Hauptpflegeverantwortung. Diese ursächlich vorausgehenden Situationen im Leben der
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Befragten werden getrennt voneinander skizziert, weil sie eine Besonderheit und zugleich Gemeinsamkeit der Untersuchungsgruppe markieren. Denn im Anschluss an die Demenzdiagnose gäbe es für die betroffenen Partner*innen sowohl die Option, die Pflege zu übernehmen, als auch die Möglichkeit, selbige aus unterschiedlichen Gründen abzulehnen und stattdessen an professionelle Pflegeinstitutionen zu übergeben. Die hier vorliegende Untersuchungsgruppe eint dementsprechend die – von sämtlichen Mitgliedern des Samples – als selbstverständlich gerahmte Entscheidung zur Übernahme der Pflegeverpflichtung für ihre Partner*innen mit Demenz. Die Forschungsrelevanz hinsichtlich dieser speziellen Gruppe von Pflegenden wurde dabei bereits zu Beginn meiner Arbeit zum einen darüber begründet, dass die älteren und alten Lebenspartner*innen zwar die Hauptlast der informellen Demenzpflege tragen, in der wissenschaftlichen Pflegedebatte bis dato aber zu wenig Beachtung finden (vgl. Berlin-Institut 2011; Deutscher Bundestag 2016). Zum anderen ergab sich das initiale Interesse an dieser Untersuchungsgruppe über die Annahme, dass die Demenzdiagnose und die daran geknüpfte Pflegeverantwortung im Kontrast zu den verbreiteten gesellschaftlichen Bildern vom Ruhestand als später Freiheit (Rosenmayr 1983) steht und ich dementsprechend mit ambivalenten subjektiven Erfahrungsberichten zu dieser individuellen Situation rechnete. Die vermutete Ambivalenz hat sich im Verlauf der Analysen nicht nur relativ schnell bestätigt, sondern insgesamt auch als komplexer erwiesen als anfänglich angenommen. Um die Komplexität der untersuchten Situation zu strukturieren, ermöglichte die Analyse der Arenen und Akteur*innen der informellen Demenzpflege zunächst einmal einen sozialräumlichen Überblick über die wichtigsten Orte der Pflege sowie über sämtliche Akteur*innen und Institutionen, die neben der Person mit Demenz und ihren pflegenden Partner*innen in irgendeiner Form an der Pflege beteiligt sind (vgl. Abb. 4). Dabei kennzeichnen die häusliche Pflegearena und die daran anknüpfende Arena der Öffentlichkeit zentrale Räume der informellen Demenzpflege, welche sich unter anderem im Verlauf der Analysen zu den individuellen Handlungspraktiken immer wieder als relevant erwiesen haben (vgl. Kap. 4). Die Arena der Öffentlichkeit steht hierbei insbesondere für die Herausforderung, mit den normierenden Blicken der verallgemeinerten Anderen konfrontiert zu werden. Die häusliche Pflegearena stellt demgegenüber den Hauptschauplatz der Pflege dar, dessen sozialräumliche Abgeschlossenheit je nach Situation sowohl Entlastung als auch Belastung sein kann. Die in diesem Zusammenhang außerdem erfolgte Vorstellung der unterschiedlichen – in die Pflegesituati-
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on involvierten – Akteur*innen ermöglicht schließlich einen Einblick in die Bandbreite an Hilfen, aber auch Herausforderungen und individuellen Konflikten mit denen sich die pflegenden Angehörigen in ihren Selbsterzählungen konfrontiert sehen. Mit den jeweils verhandelten Themen und Diskursen bilden sie den situativen Kontext der jeweiligen Pflegesituation, der zusammen mit den intervenierenden Bedingungen Auskunft darüber gibt, welche (Vor-)Bedingungen die Handlungspraxis der informellen Demenzpflege beeinflussen (vgl. Strübing 2014: 24ff). Die intervenierenden Bedingungen umfassen Aspekte wie den sozioökonomischen Status, das Wohnumfeld, das soziale Netzwerk, das chronologische Alter oder auch die Geschlechtsidentität und verweisen als Teilergebnis der Analysen darauf, dass es von Fall zu Fall verschiedene Kombinationen von Faktoren gibt, welche die Handlungspraxis auf unterschiedlichste Weise beeinflussen können (vgl. Abb. 7). So kann z.B. ein vergleichsweise hohes chronologisches Alter der Pflegeperson zwar durchaus die Inanspruchnahme von Hilfen in der Pflege begünstigen, allerdings in Abhängigkeit von der individuellen Geschlechtsidentität oder dem sozioökonomischen Status. Ebenso lassen die geografische Verortung und das rurale oder urbane Wohnumfeld gegebenenfalls Rückschlüsse auf vorhandene Hilfsangebote für die pflegenden Angehörigen zu, jedoch ohne dass dies dann auch zwangsläufig die Handlungspraxis beeinflusst. Das kann unter anderem an Faktoren wie dem sozialen Netzwerk und darüber erhaltene Unterstützung oder Motivation zur Inanspruchnahme von Hilfen liegen. Die intervenierenden Bedingungen gilt es in der Auseinandersetzung mit der Situation der Pflegenden demnach stets von Fall zu Fall mit zu reflektieren, ohne dabei jedoch feste kausale Zusammenhänge vorauszusetzen. Mit Blick auf die Handlungspraxis der Pflegenden konnte die Grenze als entscheidende Schlüsselkategorie herausgearbeitet werden, vor deren Hintergrund es möglich wurde, »die eigentliche Geschichte« (Strauss 1991: 66) der Interviews umfassend zu erzählen. Den Kern dieser Geschichte kennzeichnet das stetige Verhandeln und Verschieben subjektiver Grenzen im Sinne spezifischer Praktiken der Be- und Entgrenzung von Pflege. Diesbezüglich wurde in den Selbsterzählungen der Befragten zwischen zeitlichen und vergeschlechtlichten Grenzen der Pflege unterschieden. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Formen der Grenzziehung basiert dabei überwiegend auf der induktiven Erkenntnis, dass in den Selbsterzählungen immer wieder auch Grenzen formuliert wurden, die nicht – oder zumindest nicht primär – zeitlich kodiert werden konnten, sondern von den Pflegenden unter Be-
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zugnahme auf die eigene Geschlechtsidentität legitimiert wurden. Über diese Differenzierung konnten zwei Handlungsstränge identifiziert werden, mit deren Hilfe es möglich wurde, einerseits die zeitlichen Herausforderungen der informellen Pflege im Verlauf der einzelnen Phasen der Demenz nachzuvollziehen und andererseits auch jene Be- und Entgrenzungen von Pflege in den Blick zu bekommen, die maßgeblich auf der vergeschlechtlichten Vergesellschaftung innerhalb einer tradierten binären Geschlechterordnung und den damit verknüpften Handlungsanforderungen an die Subjekte basieren. Doch was genau trennt diese beiden Grenzziehungen und inwieweit können die zeitlichen und vergeschlechtlichten Grenzen auch zusammen gedacht werden? Diese Frage gilt es hier noch etwas ausführlicher zu beantworten: Im Verlauf der Analysen zu Zeit und Geschlecht hat sich an verschiedenen Stellen angedeutet, dass die zeitlichen Be- und Entgrenzungen zum Teil geschlechtsbezogen kodiert sind und dementsprechend auch die vergeschlechtlichten Grenzen nicht frei von zeitlichen Bezügen sind. Diese gegenseitigen Bezüge ergeben sich insbesondere über das hier vertretene Verständnis von Geschlecht als grundlegende Identitätskategorie, über die das Subjekt sein Verhältnis zu sich und seiner (sozialen) Umwelt sowie den damit verknüpften Praktiken der Alltags- und Lebensgestaltung definiert (vgl. Winker/Degele 2009: 20). So wurde in den Zeitanalysen unter anderem das Beispiel von Herrn Steg besprochen, der sich direkt zu Beginn der Demenzpflege auf Empfehlung des behandelnden Arztes dazu entschließt, seine Frau – zunächst einmal und später dann mehrmals wöchentlich – in der Tagespflege betreuen zu lassen. In diesem Fall können Zeit und Geschlecht insofern zusammengedacht werden, als dass sich in der anschließenden Geschlechteranalyse gezeigt hat, dass Herr Steg sich in anderen Bereichen der Begrenzung seiner Pflegeverpflichtung explizit auf seine tradierte männliche Geschlechtsidentität bezieht und dementsprechend die Vermutung naheliegt, dass es ihm aufgrund der fehlenden Identifikation mit der – von ihm als weiblich kodierten – Pflegepraxis nicht schwer gefallen ist, sich bereits in dieser vergleichsweise frühen Phase der Demenzpflege professionelle Unterstützung zu holen. Weiterhin hat sich in den Geschlechteranalysen bei den weiblichen Pflegenden gezeigt, dass eine ausgeprägte geschlechtsspezifisch kodierte Identifikation mit der Pflegeverantwortung nicht selten auch in eine ebenfalls ausgeprägte zeitliche Entgrenzung der Pflege mündet. Beispielhaft sei dazu noch einmal an den Fall von Frau Heinrich erinnert, welche zwar einen akuten Mangel an Eigenzeit feststellt, aber dennoch die Unterstützung durch professionelle Pflegefachkräfte ablehnt, weil diese nicht nur zeitlich weniger
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flexibel auf die Bedürfnisse ihres Mannes eingehen können, sondern vor allem auch, weil sie findet, dass es sich als Ehefrau so gehört, die Pflege selbst zu übernehmen, solange man dazu noch allein in der Lage ist (vgl. Kap. 7.3.3). Dementsprechend repräsentieren die in den Zeitanalysen als maximaler Kontrast gegenüber gestellten Fälle von Frau Heinrich und Herrn Steg nicht nur zwei Fälle, deren zeitliche Pflegepraktiken unterschiedlicher kaum sein könnten, sondern verweisen auch in eindrücklicher Weise auf den Einfluss, den die vergeschlechtlichte Vergesellschaftung auf die zeitlichen Praktiken der Pflege haben kann (vgl. Kap. 6.2). Dennoch lässt sich diese exemplarische Bedeutung von Geschlecht nicht für sämtliche Formen zeitlicher Be- und Entgrenzung bestätigen, was auf die in der Empirie aufgezeigte Epidsodenhaftigkeit der Relevanz von Geschlecht zurückgeführt werden kann (vgl. Kap. 7.1.1; 7.3.4). So zeigt sich beispielsweise im Hinblick auf zeitliche Be- und Entgrenzungen, wie das Zeitstehlen, die Zeitverschwendung oder das Zeittotschlagen, dass diese als charakteristische Formen zeitlicher Herausforderungen innerhalb der jeweiligen Phasen der Demenzpflege konstruiert werden und sich unabhängig von der jeweiligen Geschlechtsidentität im gesamten Sample wiederfinden (vgl. Kap. 6.3.2; 6.3.3). Darüber hinaus erscheint es sinnvoll, sich noch einmal den grundlegend unterschiedlichen Fokus der zeitlichen und vergeschlechtlichten Be- und Entgrenzungspraktiken zu vergegenwärtigen, den es insbesondere für den Umgang mit der jeweiligen Grenze beziehungsweise die Bearbeitung selbiger zu beachten gilt. Denn während die zeitlichen Be- und Entgrenzungen naheliegender Weise die zeitlichen Herausforderungen im Zusammenhang mit der informellen Demenzpflege adressieren, sind die vergeschlechtlichten Grenzen demgegenüber vorrangig tätigkeitsbezogen. Das bedeutet für Letztere, dass es insbesondere um die Be- oder Entgrenzung spezifischer Aufgabenbereiche der Pflege geht, deren Begründung in den Selbsterzählungen über die Bezugnahme auf die jeweilige männliche oder weibliche Geschlechtsidentität erfolgt. So legitimieren beispielsweise Herr Franz oder Herr Klopp die Ablehnung spezifischer Praktiken der Körperpflege nicht etwa über den dadurch entstehenden höheren Zeitaufwand, sondern darüber, dass diese direkten Sorgearbeiten nicht vereinbar mit ihrer männlichen Geschlechtsidentität seien. Entscheidet für die (primäre) Kodierung als zeitliche oder vergeschlechtlichte Grenze ist demnach die Argumentationsstruktur, die der Konstruktion oder Dekonstruktion der jeweils interessierenden Grenzpraktiken zu Grunde gelegt wird, auch wenn sowohl Zeit als auch Geschlecht in der jeweils betrachteten Grenzpraxis eine Rolle spielen können.
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Diese Differenzierung ist schließlich auch von Relevanz für die hier noch offene Frage danach, in welche Konsequenz die induktiv entwickelten Grenzpraktiken münden. Die grundlegende Konsequenz, die sich aus der Vielfalt subjektiver Be- und Entgrenzungserfahrungen der Interviewten ableiten lässt, wird von einer der Pflegenden, Frau Maler, sehr treffend auf den Punkt gebracht: »Es geht uns nicht gut. Aber […] wir kommen klar. Es geht eben immer am Limit lang.« (ebd.: 352ff) Die Pflegenden bewegen sich demnach über den gesamten Verlauf der Pflege ihrer Partner*innen stets an den Grenzen ihrer individuellen Belastbarkeit entlang. Und während die verschiedenen beobachtbaren Praktiken der Entgrenzung tendenziell dazu beitragen, dass individuelle Grenzen als überschritten erfahren werden, können die Begrenzungspraktiken als Versuch gedeutet werden, die erfolgten oder antizipierten Grenzüberschreitungen immer wieder – zumindest ein Stück weit – zurück zu verschieben oder eben von vornherein zu verhindern. Das als dauerhaft beschriebene Pflegen am Limit ergibt sich dabei aus den demenzspezifischen Herausforderungen, deren stetige Veränderungen über die Phasen der Demenz hinweg ein Etablieren entlastender Routinen innerhalb des Pflegealltags erschweren. Der differenzierte Blick auf die zeitlichen und vergeschlechtlichten Grenzen erlaubt dabei wiederum die Identifikation von drei Hauptthemen, die als charakteristisch für das Pflegen am Limit entlang aus den Selbsterzählungen der Pflegenden hervorgehen: Erstens erfolgt die von mir untersuchte Situation der informellen Demenzpflege in der Regel entlang körperlicher Grenzen der Belastbarkeit. Zweitens wird ein Ungleichgewicht von Nähe und Distanz deutlich, welches von den pflegenden Partner*innen nur schwer behoben werden kann. Und drittens erhält die Institution des Pflegeheims die Funktion einer Reißleine, die zu ziehen allerdings nur in den wenigsten Fällen tatsächlich ein Option scheint. Diese drei Themen gilt es nun final noch etwas näher zu erläutern.
8.2
Pflegen entlang körperlicher Grenzen der Belastbarkeit
Im Verlauf der empirischen Analysen hat sich insbesondere in Zusammenhang mit den vergeschlechtlicht kodierten Grenzen der Pflege bereits angedeutet, dass auch körperliche Grenzen immer wieder eine Rolle spielen. Für die fortwährend an meine Interviewdaten gestellte Frage nach der Bedeutung körperlicher Grenzen legten die Selbsterzählungen allerdings irgend-
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wann nahe, dass die körperlichen Grenzen nicht mit den zeitlichen und vergeschlechtlichten Grenzen gleichgesetzt werden können. Denn während die vergeschlechtlichten und zeitlichen Be- und Entgrenzungen eine aktive Handlungspraxis der Pflegenden abbilden und von ihnen auch als diese legitimiert werden, stellen die körperlichen Grenzen etwas dar, was die Pflegenden subjektiv erfahren. Dementsprechend erzählen die Pflegenden diese körperlichen Grenzen in der Regel auch eher als unintendierte situative Leiberfahrung im Sinne einer körperlichen Reaktion oder Konsequenz, die insbesondere in jenen Phasen der Pflege auftrat, die rückblickend sowohl körperlich, als auch psychisch als sehr belastend reflektiert werden.1 So berichtet beispielsweise Frau Kleber davon, in einer sehr stressigen Phase einen Schwächeanfall gehabt zu haben, bei dem sie stürzte, aber trotz starker Schmerzen keine ärztliche Hilfe erbat, weil sie so spontan niemanden finden konnte, der die Beaufsichtigung und Pflege ihres Mannes übernahm. Die erst am Folgetag bei ihr diagnostizierten Fissuren an der Halswirbelsäule machten schließlich eine Operation und einen längeren Krankenhausaufenthalt unumgänglich. Ähnlich verhält es sich im Fall von Frau Maler, die ihren Mann solange allein aus dem Bett auf den Toilettenstuhl hob, bis sie sich dabei eine Rippe brach und diesen Rippenbruch subjektiv als körperliche Belastungsgrenze einordnet, die ihr signalisierte, ihr Limit deutlich überschritten zu haben, weswegen sie sich zumindest temporär zum Begrenzen der Pflege zwang. Hierbei besteht insofern ein Zusammenhang mit dem Geschlecht, als dass die bei den weiblichen Pflegenden ausgeprägtere Tendenz zur Entgrenzung der Pflege dazu führt, dass sich die Erfahrungsberichte von pflegebedingten körperlichen Belastungsgrenzen innerhalb des Samples häufiger bei den weiblichen als bei den männlichen Pflegenden finden. Dennoch wird insbesondere bei den hochaltrigen männlichen Pflegenden ebenfalls deutlich, dass sie die Pflege ihrer an Demenz erkrankten Frauen entlang den Grenzen ihrer eigenen körperlichen Belastbarkeit praktizieren. So gelangt zum Beispiel Herr Klopp trotz der Unterstützung durch seine Familie immer mal wieder »an den Rande der Möglichkeiten« (Klopp: 583f) und meint, eigentlich mehr Ruhe zu brauchen und Herr Briese berichtet davon, seine Belastungsgrenze in der alltäglichen
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Hier sei noch einmal an das zu Beginn meiner Arbeit formulierte Körperparadigma erinnert, innerhalb dessen Körper und Leib nicht einander entgegengesetzt werden, sondern sich gegenseitig bedingen (vgl. Kap. 2.4). Leiberfahrungen wie Weinen, Schwächeanfälle oder gar Knochenbrüche sind demzufolge immer auch an körperliche Praktiken geknüpft und Bestandteil der sozialen Situation.
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Sorgearbeit regelmäßig so weit auszureizen, bis er an einem »Tiefpunkt« (Briese: 650) ist, der ihn zum Innehalten und Ausruhen zwingt.2 Hier bedarf es demnach zeitlicher Begrenzungen der Sorgearbeit durch Inanspruchnahme von professioneller und familiärer Hilfe, um körperlich zumindest so weit zu regenerieren, dass die alltägliche Pflege fortgesetzt werden kann.
8.3
Informelle Demenzpflege im Ungleichgewicht von Nähe und Distanz
Neben der subjektiven Erfahrung körperlicher Belastungsgrenzen charakterisiert sich die übergreifende Konsequenz der Pflege am Limit zudem über das vorhandene Ungleichgewicht von Nähe und Distanz (vgl. Abb. 7). Dieses Ungleichgewicht entsteht einerseits über die besonderen Anforderungen an die Pflege von Menschen mit Demenz und andererseits über die Struktur der gegebenen Sozialbeziehung. Besagte Demenzspezifik der Pflege setzt sich dabei im Wesentlichen aus zwei Aspekten zusammen. Denn zum einen stehen die Pflegenden vor der Aufgabe, ihre erkrankten Partner*innen insbesondere in den Phasen der mittelschweren bis schweren Demenz zunehmend beaufsichtigen zu müssen. Verlässt der oder die Partner*in die Wohnung, wenn sie allein gelassen wird? Findet die Person mit Demenz noch allein zur Toilette, wenn die pflegenden Partner*innen sie nicht begleiten? Was macht die Person mit Demenz allein in der Küche? Nimmt sie zum Backen Salz statt Zucker? Und schließt sie die Tür der Duschkabine bevor sie das Wasser andreht? Diese und andere Fragen gilt es für die Pflegenden täglich zu beachten und die Unsicherheit, ob eine bis dato routinierte Handlungspraxis weiterhin erinnert werden kann, führt in der Regel zur Notwendigkeit, die Partner*innen mit Demenz in ihrem Handeln stetig zu begleiten und zu beaufsichtigen, um zu verhindern, dass jemand oder etwas beschädigt wird. Zum anderen berichten die Pflegenden davon, dass ihre Partner*innen sich durch die zunehmende Orientierungslosigkeit häufig sehr stark an sie binden und ständig ihre Nähe suchen. In den Selbsterzählungen der Befragten finden sich diese Feststellungen eines subjektiv zu hohen Maßes an Nähe
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»Es ist eben, […], dass ich da am Morgen, jetzt nun wenn ich mich selber fertig mach, meine Frau versorg, da kommt ein richtiger auch Tiefpunkt, da muss ich manchmal einfach anhalten, vor allen Dingen bücken geht nicht. Das sind/und dann lieg ich manchmal eine Stunde oder eineinhalb Stunden am Vormittag im Sessel oder so.« (Briese: 648ff)
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insbesondere in Zusammenhang mit den Konstruktionen zeitlicher Entgrenzung der Pflege. Die in den Zeitanalysen bereits als Klammern beschriebene zeitliche Herausforderung, sich beispielsweise zumindest in den Abendstunden noch ein paar Stunden Eigenzeit zu erhalten, hat demnach immer auch eine räumliche Komponente, da praktizierte Pflegeauszeiten nicht selten auch mit dem Bedürfnis der Herstellung einer temporären räumlichen Distanz einhergehen. Aus diesem Bedürfnis nach nicht nur zeitlicher, sondern einstweilen auch räumlicher Distanz auf der einen Seite und der zunehmenden Notwendigkeit zur Beobachtung sämtlicher Handlungen der Partner*innen auf der anderen Seite entsteht jedoch eine Konfliktsituation für die Pflegenden. Beispielhaft sei die Situation von Frau Kleber angeführt, die in manchen Nächten zum Luftholen3 aus dem engen, überheizten Schlafzimmer auszieht und in einem anderen Raum des Hauses schläft. Erst über die Anschaffung eines Babyphones schaffte sie es allerdings, in diesen Nächten dann auch tatsächlich zur Ruhe zu kommen, weil sie mithilfe dieses Artefakts trotz räumlicher Distanz die subjektive Kontrolle über ihren Mann und sein Handeln behielt. Und im Fall von Herrn Briese ist das demenz- und pflegebedingte Ungleichgewicht von Nähe und Distanz schließlich der Grund, warum er sich dankbar über die Auszeiten während der Tagespflege äußert und einen gemeinsamen Umzug in ein Pflegeheim so lange wie möglich hinauszögern möchte: »Ist der letzte Ausweg, wenn`s gar nicht mehr gehen sollte. Aber ich bekomme keinen Pflegeplatz. […] Ich müsste dann auf engem Raum eng mit meiner Frau zusammenleben. Das würde bedeuten, dass sie mich völlig auffrisst. […] Also dieses Verhältnis von Distanz und Nähe, das heißt, Nähe bedeutet, dass ich einfach beschlagnahmt werde. […] Das das das kann man, das geht begrenzte Zeit, aber den ganzen Tag ist es nicht auszuhalten.« (Briese: 681ff)
3
»Dass man also manchmal möchte ich alles von mir schmeißen und sagen: ›Lass mich endlich mal in Ruhe, ich muss auch mal Luft holen.‹ Weil dann fängt er an, im Schlafzimmer/Der Raum ist so groß wie die Küche hier, neun Quadratmeter. Fenster zu. Heizung auf 5. Und da soll man schlafen. Und wenn ich dann murre, dann: ›Nee, das brauche ich.‹ Da bin ich jetzt schon ein paar Mal ausgezogen. Habe ich gesagt: ›Das halte ich nicht aus, da kriege ich Zustände.‹ […] Bloß dann bin ich eine Etage höher und höre ihn nicht. Ich habe mir jetzt ein Babyphone gekauft. Damit ich dann beruhigt da oben sein kann. Ich weiß ja nicht, was er inzwischen unten macht.« (ebd.: 791ff)
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Pflegen am Limit bedeutet in manchen Fällen dementsprechend auch, lieber die täglich erreichten Grenzen körperlicher Belastbarkeit in Kauf zu nehmen, als durch den Umzug in ein Pflegeheim zwar ganztägig Unterstützung in der Pflege zu erhalten, aber dafür von den Partner*innen mit Demenz ganztags sowohl zeitlich, als räumlich beschlagnahmt zu werden. Zusätzlich zu der beschriebenen Demenzspezifik besteht schließlich auch ein grundlegender Strukturunterschied zwischen informeller und professioneller Pflege im Hinblick die Beziehungsebene. Denn für die pflegenden Angehörigen ist es ungleich schwerer, zu ihren Partner*innen ein zufriedenstellendes oder zumindest nicht dauerhaft belastendes Verhältnis von Nähe und Distanz herzustellen. Immer wieder berichten die Interviewten davon, auf der Schulung für pflegende Angehörige, bei behandelnden Ärzt*innen oder von Pflegefachkräften und Bekannten den Ratschlag erhalten zu haben, das Gesagte und Getane der Partner*innen mit Demenz nicht so nah an sich heran zu lassen und eine affektive Distanz zu den normabweichenden Handlungen einzunehmen. So soll es ihnen möglich werden, ruhig auf das zuweilen verwirrende oder auch (selbst)gefährdende Verhalten ihrer Partner*innen zu reagieren, um diese nicht noch mehr zu verunsichern.4 Diese Ratschläge werden von sämtlichen Befragten als theoretisch sehr hilfreich, in der Praxis für sie aber nicht oder nur sehr schwer umsetzbar erzählt. Die Gründe dafür reflektieren die Pflegenden in den allermeisten Fällen selbst, indem sie erstens darauf hinweisen, zeitlich deutlich entgrenzter für die von Demenz betroffene Person sorgen zu müssen, als das ambulant oder institutionell gebunden arbeitende Pflegepersonal.5 Und darüber hinaus wird zweitens immer wieder betont, dass berufliche Pflege und die Pflege der eigenen Partner*innen eben nicht vergleichbar seien. Mit diesem Einwand verweisen die Befragten auf den besagten strukturellen Unterschied der Sozialbeziehung, die zwischen den in die Pflege involvierten Personen besteht. Denn während die Beziehung zwischen der Person mit Demenz und der professionellen Pflegefachkraft als spezifische Sozialbeziehung verstanden werden kann, ist die Verbindung zwischen den Menschen mit Demenz und den sie informell pflegenden Part-
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»Sie müssen eine Distanz finden.« (Maler: 1381) »Das ist die häusliche Pflege, die ich also machen muss. Wo ich immer für meine Frau rund um die Uhr da sein MUSS. Im Gegensatz zu der Pflege, die kommt, ist das eine ganz andere Kategorie. Kann man nicht vergleichen. Erstens bin ich nicht qualifiziert, so wie die Leute, die kommen. Und zweitens gehen die nach einer Stunde wieder weg. ICH bin aber da. Ich muss sie ständig bekramen.« (Klopp: 603ff)
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ner*innen als diffuse Sozialbeziehung zu charakterisieren (vgl. Oevermann 1996: 110f). Kennzeichnend für die hier vorliegende spezifische Sozialbeziehung ist es dabei, dass die Beziehung auf den formal geregelten Themenbereich der Pflege beschränkt ist (vgl. ebd.). In diesem Kontext greifen beispielsweise die zuständigen Pflegefachkräfte auf eine erlernte Form distanzierter Nähe zurück, weil diese zur Umsetzung einer funktionierenden Pflegebeziehung zu den pflegebedürftigen Personen beiträgt und eine konfliktfreie Umsetzung ihrer pflegerischen Aufgaben erleichtert.6 Innerhalb der diffusen Sozialbeziehung gibt es allerdings keine formal geregelten Themenbereiche, sondern die Beteiligten treten stets als ganze Personen – und nicht lediglich als informell Pflegende und Person mit Demenz – innerhalb dieser Beziehung auf (vgl. ebd.). Wie die Analysen gezeigt haben, gibt es immer auch eine gemeinsame Biografie des Paares, es gibt spezifische Geschlechtsidentitäten, subjektive Erfahrungen und weitere intervenierende Bedingungen, die mit der Diagnose der Demenz und der Übernahme der informellen Pflege nicht einfach aus der bestehenden und personengebunden Sozialbeziehung ausgeklammert werden können. Beispielhaft dafür sei hier noch einmal auf den Fall von Herrn Franz verwiesen, der in den Selbsterzählungen eine affektive Distanzierung von seiner Frau konstruiert und angibt, sich nicht mehr als Ehemann, sondern nur noch als Betreuenden der Demenzkranken zu verstehen. Im Verlauf des Interviews zeigt sich allerdings, dass dieser vermeintliche Wechsel von der diffusen in eine spezifische Sozialbeziehung und die damit verbundene Fähigkeit zur Einnahme einer professionellen Distanz in der Pflegepraxis nicht gelingt – nämlich spätestens dann, wenn er davon spricht, auf den ersehnten Urlaub zu verzichten. Denn als Grund für diese Entscheidung führt Herr Franz Mitleid mit seiner Frau an, die er dann allein gelassen hätte. Die hier vorliegende Empirie legt demnach den Schluss nahe, dass der Ratschlag zur Einnahme einer Art professioneller pflegerischer Distanz gegenüber den Partner*innen mit Demenz die strukturellen Bedingungen der hier untersuchten Sozialbeziehung verkennt:
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»Und ich sage: ›Warte doch noch so lange, bis die Frau [vom Pflegedienst; AM] kommt. Die will dich doch waschen und anziehen.‹ NEIN, sie fängt schon an sich anzuziehen. Da kann ich verrückt werden. Das habe ich also noch nicht gelernt. Wenn die Frau [vom Pflegedienst; AM] dann kommt dann sagt sie: ›Ach Frau Klopp, sie haben sich ja schon angezogen. Frieren Sie denn? Sie haben wohl gefroren. Ach kommen Sie mal. Jetzt ziehen wir uns mal ganz schnell wieder aus.‹« (Klopp: 206ff)
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»Also bei dem Lehrgang […] habe ich widersprochen. Habe gesagt, es kann sein, wenn man beruflich mit Demenzkranken umgeht, dass man sich da zurücknimmt und sagt ja, natürlich. Bloß, wenn der eigene Mann angezogen unter die Dusche geht und den Hahn aufdreht, kann man nicht sagen: ›Ach schön, wolltest du wohl deine Sachen gleich waschen.‹ Gibt so verschiedene Erlebnisse, wo man erst mal sagt: ›Scheiße, jetzt schwimmt das Bad, Dings nicht, die Schiebetür nicht zugemacht, er nass, wo fange ich jetzt an?‹« (Maler: 50ff) Und so trägt schließlich die im Austausch mit pflegerischem Fachpersonal suggerierte Notwendigkeit der – unter anderem affektiven – Distanzierung von den Partner*innen mit Demenz im Zweifel eher dazu bei, die subjektive Unzufriedenheit der pflegenden Angehörigen zu fördern, als den intendierten Beitrag zur Entlastung der pflegenden Angehörigen zu leisten.
8.4
Das Pflegeheim als Reißleine
Schließlich ist es neben der körperlichen Belastung und dem Ungleichgewicht von Nähe und Distanz die Institution des Pflegeheims, welche in den Narrationen eine Art Reißleine symbolisiert, die dazu beiträgt, eine dauerhafte Praxis des Pflegens am Limit aufrecht zu erhalten. Denn unabhängig vom Geschlecht der Pflegenden fungiert das Pflegeheim bei allen Befragten als potentieller Weg aus der häuslichen Pflegesituation, den die Pflegenden ab einem gewissen Punkt der Pflegebedürftigkeit zu gehen bereit scheinen. Die empirischen Analysen haben dabei gezeigt, dass die formulierten Grenzen, die einen Umzug der Partner*innen mit Demenz in ein Pflegeheim notwendig machen würden, von den Pflegenden selbst zwar grundsätzlich ganz individuell verortet werden, sich aber eine gewisse Geschlechtsspezifik aus den Daten ableiten lässt. Denn während von den weiblichen Pflegenden tendenziell am ehesten die Bettlägerigkeit des Partners und der damit verbundene Kraftakt des täglichen Umbettens und Umlagerns als Grund angeführt wird, die häusliche Pflege nicht länger fortzuführen, ist es – wie insbesondere in den Analysen zu den vergeschlechtlicht kodierten Grenzen deutlich geworden sein sollte – bei den männlichen Pflegenden eher die Antizipation der Intimpflege und anderen körpernahen Sorgearbeiten, die als ultimative Grenze die Übernahme der informellen Pflege beenden würde. Die vermeintlich ultimativen Grenzen der häuslichen Pflege sind demzufolge vorrangig tätigkeitsbezogen und das Erreichen oder Überschreiten spezifischer zeitlicher Grenzen
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wird demgegenüber nur in einem Fall des Samples als ausschlaggebend für das potentielle Ziehen der Reißleine konzipiert.7 Interessanterweise entsteht mit Blick auf den Verlauf der Pflege und die zum Teil in sehr unterschiedlichen Phasen der Demenz allerdings der Eindruck, dass selbst die als vermeintlich ultimativ formulierten Grenzen der Pflege zum Teil immer wieder verschoben und neu ausgehandelt werden. So thematisiert beispielsweise Herr Thiel die bereits gemachte Erfahrung der Bettlägerigkeit seiner Frau als Grenze, an der er nicht mehr in der Lage war, seine Frau allein aus dem Bett zu heben und daher ihr Umzug in ein Pflegeheim kurz bevor stand. Hier war es schließlich die hausärztliche Empfehlung zur Beantragung eines Patient*innenlifters, dessen Bewilligung es möglich machte, seine Frau weiterhin in der häuslichen Pflegearena zu versorgen. Oder Frau Maler, die ihren Mann für mehrere Monate in ein Pflegeheim gab, weil sie den Rippenbruch als Signal deutete, der häuslichen Pflege ihres Mannes nicht mehr gewachsen zu sein. In ihrem Fall führte die für sie ultimative Grenze körperlicher Belastbarkeit demnach bereits zum Ziehen der Reißleine. Dennoch machte sie ihre Entscheidung nach Abheilen des Bruchs wieder rückgängig und holte ihren Mann zurück in die häusliche Pflegearena. Selbstverständlich ist insbesondere der Fall von Frau Maler nicht als prototypisch zu verstehen und dennoch zeigt sich an diesen und weiteren Beispielen aus der Empirie, dass die Institution des Pflegeheims eine Art Rettungsring symbolisiert, den die Pflegenden im Verlauf der informellen Pflege stets mit an Bord wissen, ohne ihn allerdings tatsächlich nutzen zu wollen. Und so verweisen die Umschreibungen der Funktion des Pflegeheimes in den Selbsterzählungen schließlich erneut auf die Verwobenheit von Sorge und Dominanz. Denn indem die Pflegenden die Option des Pflegeheims in Betracht ziehen, signalisieren sie die Möglichkeit, an einem selbst gesetzten Punkt der Pflege dominant – weil entgegen dem Willen der Partner*innen – über dessen räumliche Verlegung in ein Pflegeheim und damit auch über die Beendigung der informellen Pflegesituation entscheiden zu können. Auf diese Weise erfahren sich die Pflegenden trotz unterschiedlicher Entgrenzungen und damit verbundener subjektiver Belastungserfahrungen weiterhin als handlungsmäch-
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Gemeint ist der Fall von Herrn Franz, der einerseits ankündigt, seine Frau in ein Pflegeheim abgeben zu müssen, wenn er das wöchentliche Treffen mit seinen Freunden nicht mehr wahrnehmen könne. Und andererseits auch ablehnt, seine Frau beim Toilettengang zu unterstützen, falls dies im Verlauf der Demenzerkrankung irgendwann nötig werden sollte.
8. Und daraus folgt?
tig, verschieben die praktische Ausübung dieser Form von Dominanz allerdings aus Sorge um ihre Partner*innen am Limit entlang. Dabei kann für das vorliegende Sample an dieser Stelle nicht geklärt werden, ob die Reißleine des Pflegeheims im weiteren Verlauf der Pflege jemals tatsächlich gezogen wird und wie stark im Falle einer gezogenen Reißleine – wie sich im Fall von Frau Moser angedeutet hat8 – nicht doch noch andere Akteur*innen und Kontextbedingungen mitentscheiden. Doch dazu hätte es die Möglichkeit geben müssen, die Pflegenden über einen mehrjährigen Zeitraum zu begleiten und wiederholt zu befragen, weswegen dies hier vorerst nur als offene Frage an zukünftige Untersuchungen weitergegeben werden kann.
8.5
Schluss
Den Schluss der vorliegenden Untersuchung möchte ich nutzen, um die erfolgten empirischen Analysen noch einmal in einer Kritik der bestehenden Verhältnisse zu bündeln. Die Forschungsrelevanz zu den Themen Pflege und Demenz liegt auf der Hand – und das nicht erst, seit ich in der Einleitung meiner Arbeit darauf hingewiesen habe. Denn diese Themen und deren Dringlichkeit begegnen in einer Gesellschaft des langen Lebens einer immer weiter wachsenden Bevölkerungsgruppe Tag für Tag auf den verschiedensten Wegen – beruflich, privat, in der Familie, bei Freunden, Bekannten oder in Form medialer Berichterstattung. Erfreuliche Geschichten finden sich in den jeweils anzutreffenden Erzählungen vermutlich eher selten bis nie. Pflege belastet. Dabei ist die vorliegende Untersuchung zwar nicht die erste Forschungsarbeit, die auf die Herausforderungen in der informellen Pflege aufmerksam macht. Aber sie ist die erste Untersuchung, die sich mit mikrosoziologischem Fokus und vermittelt über die Heuristik der Grenze der Situation älterer und alter Menschen in der informellen Demenzpflege widmet. Darüber wird es möglich, in den laufenden Care-Debatten neben den jüngeren Pflegenden auch jene Bevölkerungsgruppe (empirisch) zu Wort kommen zu lassen, die in der öffentlichen Debatte um die Bedingungen in der Pflege bisher in der
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Zur Erinnerung: Frau Moser ist der einzige Fall des Samples, der zum Zeitpunkt des Interviews davon berichtet, ihren Mann aufgrund der Schwere seiner Pflegebedürftigkeit gern in ein Pflegeheim geben zu wollen, wird aber von Tochter und Pflegedienst dazu überredet, es mit noch mehr Unterstützung weiterhin innerhalb der häuslichen Pflegearena zu versuchen.
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großen Masse von Pflegenden eher unterzugehen scheinen und mehr oder weniger ungehört und ungesehen in den häuslichen Pflegearenen vor sich hin pflegen. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass die älteren – nicht mehr berufstätigen – Pflegenden in den unterschiedlichen Initiativen, die auf die Krise in der Pflege aufmerksam machen, bis dato an keiner Stelle als spezifische, unterstützungsbedürftige Personengruppe mit benannt werden.9 Stattdessen scheint der Fokus im Hinblick auf die pflegenden Angehörigen vorrangig auf der Interessenvertretung jener Gruppe zu liegen, die versucht, Pflege und Erwerbstätigkeit miteinander zu vereinen. Hier bedarf es einer erhöhten Aufmerksamkeit, um die Sichtbarkeit dieser wachsenden Gruppe älterer und alter Pflegender nicht nur in der Arena der Öffentlichkeit, sondern insbesondere auch in der politischen Arena zu verbessern. Im Hinblick auf die Sichtbarkeit haben die vorliegenden Analysen zudem gezeigt, dass sich mit Fortschreiten der Demenz insbesondere bei den weiblichen Pflegenden ein sozialräumlicher Rückzug ins Private beobachten lässt, der unter anderem als Reaktion auf die subjektiv erfahrenen abwertenden Blicke der Öffentlichkeit erzählt wird. Dieser weiblichen Erzählung steht bei den männlichen Pflegenden wiederum die Erzählung gegenüber, in der Öffentlichkeit eher positive und wertschätzende Reaktionen erfahren zu haben. Die machtvollen Blicke der anderen sorgen hier demnach auf der einen Seite für eine fortgesetzte Zuweisung des Privaten an das weibliche Geschlecht und auf der anderen Seite für eine fortgesetzte Akzeptanz des männlichen Geschlechts in der Öffentlichkeit. Auf diese Wiese bestätigt sich hier einmal mehr die gesellschaftliche Reproduktion einer asymmetrischen dualistischen Geschlechterordnung von Mann/Frau, öffentlich/privat, Erwerbsarbeit/Sorgearbeit (vgl. Beckmann 2016: 9), innerhalb derer den männlichen Pflegenden vor allem darum weiterhin Anerkennung zuzukommen scheint, weil sie eine vermeintlich weiblich kodierte und gesellschaftlich eigentlich abgewertete Form von Arbeit übernehmen. Abgesehen davon leistet die Analyse der Be- und Entgrenzungspraktiken in der untersuchten Pflegesituation auch insofern einen wichtigen Beitrag zur Pflegedebatte, als dass darüber verdeutlicht werden konnte, das die jeweilige Gestaltung der informellen Pflege maßgeblich mit der biografisch an-
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Beispielhaft aufgeführt seien hier bundesweite Organisationen und Initiativen wie Care Revolution (https://care-revolution.org), Pflege in Bewegung e.V. (https://www.pfle geinbewegung.de), Pflege am Boden (www.pflege-am-boden.de) oder auch der Care Slam (https://www.careslam.org).
8. Und daraus folgt?
geeigneten Geschlechtsidentität und internalisierten Handlungsanforderungen verknüpft ist. Dementsprechend erscheint es im Zweifelsfall zu einfach gedacht, lediglich die Angebotsstrukturen zur Entlastung pflegender Angehöriger zu verbessern (vgl. Deutscher Bundestag 2016: 291; BMFSFJ 2019: 76ff), weil dies unter Umständen nicht ausreichen dürfte, um die betreffenden – insbesondere weiblichen – Pflegepersonen auch tatsächlich zur Inanspruchnahme dieser Entlastungsangebote und Pflegeauszeiten zu bewegen. Es bedarf neben dem wohlfahrtsstaatlichen Ausbau (zeitlicher) Unterstützungsstrukturen in der häuslichen Pflege sowie der bereits thematisierten Notwendigkeit des (fortgesetzten) Wandels von Männlichkeit insbesondere auch einer gesellschaftlichen Transformation von Weiblichkeit, innerhalb derer die Selbstsorge einen zentraleren Stellenwert erlangt, als dies bisher vor allem in tradierten Weiblichkeitskonzepten der Fall ist. An diese Forderung schließt sich wiederum die Frage danach an, was passiert, wenn die heute jüngeren Generationen irgendwann in ein Alter kommen, in dem die Demenz wahrscheinlicher und damit gegebenenfalls auch die Pflege der von Demenz betroffenen Partner*innen notwendig wird. Pflegen sie anders? Oder bleiben die Grenzen und deren Aushandlungspraktiken letztlich doch ähnlich? Diese Fragen können in der vorliegenden Untersuchung selbstverständlich nicht beantwortet werden. Es kann nur vermutet werden, dass sie anders pflegen, beziehungsweise die Hoffnung formuliert werden, dass sich bis dahin die Situation für pflegende Angehörige inklusive wohlfahrtsstaatlicher Rahmenbedingungen so verändert hat, dass die Betroffenen bei Bedarf die Möglichkeit haben, anders zu pflegen als die vorliegende Untersuchungsgruppe. Nichtsdestotrotz kann aber auch vermutet werden, dass einige der empirisch aufgezeigten zeitlichen und auch vergeschlechtlichten Be- und Entgrenzungen weiterhin die Pflegepraxis durchziehen könnten und aktuelle Forschungen zu vermeintlich gleichberechtigten (heterosexuellen) Paarbeziehungen legen nahe, dass tradierte Praktiken ungleich verteilter Sorgearbeiten auch in den kommenden Generationen informeller Demenzpflege noch wirkmächtig bleiben könnten (vgl. u.a. Beckmann 2016; Koppetsch 2015; Gephart 2011). Denn diese Studien verweisen zwar auf grundsätzliche Veränderungen im Erwerbsbereich, die Neuorganisation der Sorgearbeit werde in der Paarbeziehung aber bis dato weitestgehend vernachlässigt (vgl. Beckmann 2016: 17f).10 10
»Erwerbsarbeit, aber insbesondere auch haus- und familienbezogene Arbeiten bleiben geschlechtlich strukturiert. So sind es nach wie vor Frauen, die hauptsächlich von
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Im Siebten Altenbericht der Bundesregierung, der das Thema der Sorge und Mitverantwortung mit Fokus auf den Aufbau zukunftsfähiger Gemeinschaften verhandelt, ist unter anderem die Rede davon, dass die Verantwortung staatlicher Akteur*innen bei gleichzeitiger Förderung einer informellen Sorgekultur nicht vernachlässigt werden dürfe (vgl. Deutscher Bundestag 2016: 23). Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung legen nahe, dass es sowohl im Hinblick auf die von den staatlichen Akteur*innen übernommene Verantwortung für die Pflegebedürftigen und deren Angehörige als auch hinsichtlich einer Kultur des Sorgens innerhalb der Arena der Öffentlichkeit noch erheblichen Entwicklungsbedarf gibt. Denn der vorliegende Entwurf einer substanziellen gegenstandbezogenen Situationsanalyse in der informellen partnerschaftlichen Demenzpflege belegt nicht nur, dass Demenz innerhalb der Gesellschaft gegenwärtig nach wie vor eher tabuisiert, als akzeptiert scheint, sondern auch, dass akuter sozialpolitischer Handlungsbedarf besteht, um die Situation der pflegenden Angehörigen zu verbessern. Die Pflegestärkungsgesetze wie auch die nationale Demenzstrategie11 deuten darauf hin, dass das Thema Demenz es in den letzten Jahren zunächst einmal grundsätzlich auf die politische Agenda geschafft hat. Wenn allerdings, entsprechend der übergeordneten Demografiestrategie der Bundesregierung, tatsächlich »Jedes Alter zählt« (BMI 2017) und mehr Lebensqualität für alle Generationen angestrebt wird (vgl. ebd.), dann sollte dies eben insbesondere auch für jene Älteren und Alten gelten, die keine Hilfe empfangen, sondern zum Teil bis ins hohe Alter Hilfe leisten. Denn die vorliegende Untersuchung endet einstweilen leider eher mit dem Eindruck der willkommenen wohlfahrtsstaatlichen Nutzung des – unter anderem zeitlichen – Potenzials der bis dato weitestgehend unsichtbaren pflegenden Angehörigen, um den gesellschaftlich anfallenden Pflegebedarf – insbesondere im Hinblick auf die Demenzpflege – bewältigt zu bekommen (vgl. Lessenich 2013: 76). Mit dieser Form des vermeintlichen »Frackings« (ebd.) der pflegenden Partner*innen scheint der Wohlfahrtsstaat im Zweifel allerdings mehr oder weniger billigend in Kauf zu nehmen, dass die Pflegenden aufgrund der dauerhaften Pflege am Limit ihren Ruhestand alles andere als frei gestalten oder gar (zeitlich) selbstbestimmt genießen können (vgl. Münch 2014) und nicht selten früher oder später selbst zum Pflegefall werden.
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der Vereinbarkeitsproblematik zwischen den Bereichen Familie und Beruf betroffen sind und Sorgearbeit übernehmen.« (Beckmann 2016: 17) https://www.nationale-demenzstrategie.de/
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Ungeordnete Situations-Karte vom Fall Frau Kleber mit beispielhaften Relationierungen, 59 Abbildung 2: Der Fall von Frau Kleber in der geordneten Situations-Karte nach Clarke, 61 Abbildung 3: Positions-Karte zu Erfahrungen mit Reaktion signifikanter Anderer, 62 Abbildung 4: Karte von den Arenen und Akteur*innen der sozialen Welt der Demenzflege, 66 Abbildung 5: Lineare und zyklische Zeiten in der Demenzpflege, 117 Abbildung 6: Inanspruchnahme von Unterstützung in der jeweiligen Phase der Demenzpflege, 128 Abbildung 7: Projektskizze zur Situation informeller Demenzpflege, 226
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Auszug aus dem Interviewleitfaden, 52 Tabelle 2: Phasen der Demenzpflege zum Zeitpunkt des Interviews, 126
Anhang
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Anhang I: Interviewleitfaden
Erzählgenerierende Fragen
Verständnisgenerierende und Ad-hoc-Fragen
Sondierungs-
Was verbinden Sie mit Ruhestand? Seit wann sind Sie in Rente sind? Wie ist der Übergang damals abgelaufen? Können Sie mir davon ein bisschen erzählen?
In der Narration nachhaken bei: - Bedeutung der Arbeit - Diskontinuitäten/Arbeitsstellen - Umfang, Taktung Arbeitszeit - Phase vor der Rente - Verhältnis Arbeit – Freizeit - Haben Sie auch Zeit für sich gehabt damals?
Und können Sie mir ein bisschen erzählen wann und wie sich das mit der Demenz bei ihrer/ihrem Partner*in dann angedeutet hat?
Diagnose: Wann? Welche genau? Tabuthema oder nicht? Bedeutung für Beziehung?
Können Sie mir erzählen, wie sich ihr Alltag so seit Beginn der Erkrankung entwickelt/verändert hat? Würden Sie mir mal Ihren gestrigen Tag so vom Ablauf her erzählen?
Zeit für sich? Früher? Heute? Hilfe durch andere? Wer? Seit wann? Typischer Tag oder nicht?
Hat die Pflege ihren Blick auf das eigene Alter und potentielle Pflegebedürftigkeit verändert? Hätten Sie gern mehr Zeit? Sie sind ja jetzt X Jahre alt. Fühlen Sie sich auch so?
Gedanken an Begrenztheit des Lebens/Tod/Endlichkeit? (positiv/negativ?)
Was wünschen Sie sich so von Ihrem weiteren Leben?/Was verbinden Sie mit Zukunft?
Gibt es da bestimmte Pläne? Wie weit/lange denken Sie so voraus?
Anhang
Anhang II: Transkriptionsregeln
(.)
kurzes Pausieren
NEIN
Betonung
›Nein‹
Zitat im Zitat
Da habe/
Satzabbruch
(lacht)
Auflachen
[…]
Auslassungen aus der zitierten Interviewpassage
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Anhang III: Fallportraits Fallportrait 1: Herr Franz Herr Franz bewohnt gemeinsam mit seiner Frau eine Drei-Zimmer-Wohnung in einer ehemaligen Arbeitersiedlung etwas außerhalb des Zentrums einer süddeutschen Großstadt. Zum Zeitpunkt des Interviews ist der ehemalige Verwaltungsangestellte 83 Jahre alt, hat eine Tochter und keine Enkelkinder. Das Haushaltseinkommen beläuft sich auf knapp 3000€ im Monat. Nach seinem Ruhestandseintritt mit 64 Jahren beginnt Herr Franz zunächst, seinen Plan vom Altersruhesitz im Süden in Angriff zu nehmen und die beiden sind viel auf ihrem Grundstück im Ausland und bauen das darauf gelegene Haus aus. Nach etwa fünf Jahren erkrankt seine Frau allerdings an Krebs und erleidet im Laufe der langwierigen Behandlung mehrere kleine Gehirnschläge, in deren Anschluss Herr Franz bei seiner Frau bald erste Anzeichen von Demenz wahrnimmt. Obwohl Frau Franz relativ zeitig auf Antidementiva eingestellt wird, verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand in den folgenden Jahren so sehr, dass Herr Franz die Auswanderungspläne verwirft und das Haus im Süden wieder verkauft. Seit anderthalb Jahren wird die Betreuung und Pflege seiner Frau stetig anspruchsvoller, weil der Sprachverlust stark voranschreitet, alltägliche Handlungsabläufe immer seltener selbstständig realisiert werden können und gefährdende Handlungen, wie das Erhitzen von Einrichtungsgegenständen im Ofen, zunehmen. Zum Zeitpunkt des Interviews kann sich Frau Franz noch selbstständig waschen und Nahrung aufnehmen, kommuniziert aber nur noch bruchstückhaft mit einzelnen Worten ihrer Muttersprache. Herr Franz hilft ihr beim Anziehen und überwacht die Medikamenteneinnahme. Davon abgesehen hat er alle notwendigen Haushaltsaufgaben übernommen und stellt sicher, dass seine Frau sich und ihre Umwelt nicht in Gefahr bringt. Wenn sie vor dem Fernseher sitzt oder abends im Bett liegt, dann kann Herr Franz das Haus aber auch ohne sie verlassen und Besorgungen machen oder sich mit Freunden treffen. Da im sozialen Umfeld alle über seine Situation und die seiner Frau Bescheid wissen, nimmt er sie aber weiterhin auch häufig mit zu gemeinsamen Aktivitäten im Freundeskreis. Wenn Herr Franz längerfristige Termine hat oder kürzere Urlaube plant, dann springt seine Tochter ein oder er fordert Verhinderungspflege an. Ansonsten pflegt er seine Frau komplett allein und habe sich »halt jetzt in das Leben des Betreuenden der Demenzkranken hineingefunden.« (ebd.: 231f)
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Fallportrait 2: Frau Moser Frau Moser ist zum Zeitpunkt des Interviews 86 Jahre alt und wohnt zusammen mit ihrem Mann in einer Zwei-Zimmer-Wohnung am Stadtrand einer Großstadt in Süddeutschland. Das Haushaltseinkommen der beiden beschränkt sich auf rund 900€ pro Monat. Die Mosers haben zwei Kinder, drei Enkel und Migrationshintergrund. Gemeinsam arbeiten sie bis weit über das übliche Rentenalter hinaus als Reinigungskräfte, aber mit 75 Jahren habe es ihnen dann doch langsam gereicht und sie wollten mal frei haben. Etwa in diesem Zeitraum wird Frau Moser auch auf die gesundheitlichen Veränderungen bei ihrem Mann aufmerksam, der Arzt diagnostiziert wenig später die Demenz und Herr Moser muss seinen Führerschein abgeben. Unabhängig davon sind beide in den folgenden Jahren noch sehr mobil, schließen sich einer kirchlichen Gemeinde an und nehmen in diesem Kontext an ein paar Kurzreisen, Tagesfahrten und Veranstaltungen teil, was insbesondere Frau Moser sehr viel Freude bereitet. Mit dem Fortschreiten der Krankheit ihres Mannes und dem damit einhergehenden körperlichen Abbau, verkleinert sich der Mobilitätsradius der Mosers über die Jahre allerdings mehr und mehr. Zum Zeitpunkt des Interviews wartet Frau Moser gerade auf den Arzt, da ihr Mann seit zwei Tagen nicht mehr allein aufstehen kann und über starke Schmerzen klage. Im Pflegealltag kommt morgens immer die Tochter und hilft dem Vater beim Aufstehen und Anziehen, weil Frau Moser ihren Mann nicht mehr allein stützen und absichern kann. Zweimal die Woche geht Herr Moser nach dem Frühstück in die Tagespflege und sie nutzt die Zeit für eigene Arzttermine und Einkäufe. Den Rest der Woche ist Frau Moser weitestgehend mit ihrem Mann an die Wohnung gebunden, erledigt die anfallenden Aufgaben im Haushalt und hat ansonsten aber nicht viel zu tun, weil ihr Mann hauptsächlich in seinem Sessel sitzt, nur noch mit einzelnen Wörtern kommunizieren und sie selbst aufgrund von Augenproblemen nur noch schlecht lesen kann. Bekannte und andere Verwandte sieht Frau Moser nur noch sehr selten, da durch die Größe ihrer Stadt relativ weite Wege zurückgelegt werden müssen, um sich gegenseitig zu besuchen. Es bleibt also häufig nur der Fernseher als Ablenkung und alle zwei Wochen das Treffen mit einer Gruppe Angehöriger von Demenzkranken. Sie findet es traurig, dass sie die vielen Jahre nicht haben anders leben können, aber »wenn es nicht geht, geht es nicht.« (ebd.: 707)
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Fallportrait 3: Frau Heinrich Frau Heinrich ist verheiratet, hat zwei Kinder und ist zum Zeitpunkt des Interviews 71 Jahre alt. Das monatliche Haushaltseinkommen beläuft sich auf rund 2500€. Sie lebt in einer Kleinstadt in einer sich infrastrukturell eher rückläufig entwickelnden ländlichen Region in Mitteldeutschland. Als die Verwaltungsangestellte mit 60 Jahren in den Ruhestand geht, hat ihr Mann bereits eine beginnende Parkinson-Demenz und ihre Mutter ist aufgrund ihres hohen Alters pflegebedürftig. Nachdem Frau Heinrich zunächst versucht, beide Familienmitglieder allein zu pflegen, muss sie sich mit steigendem Pflegeaufwand eingestehen, dass sie sich nicht um beide kümmern kann, woraufhin ihre Mutter zustimmt, in ein Pflegeheim zu ziehen. Zum Zeitpunkt des Interviews ist die Mutter seit anderthalb Jahren tot und Frau Heinrich konzentriert sich ausschließlich auf die Pflege ihres Mannes mit schwerer ParkinsonDemenz Mannes. Dieser hat Pflegestufe 2, obwohl er laut Frau Heinrich längst Stufe 3 bräuchte und wird von ihr ohne Inanspruchnahme ambulanter Pflegehilfen vollkommen allein gepflegt. Das bedeutet in ihrem Fall, dass sie ihn zweimal am Tag am ganzen Körper wäscht und mindestens zweimal – generell aber nach Bedarf – den Blasenkatheter sowie den Beutel vom künstlichen Darmausgang wechselt. Ihr Mann muss mit Häppchen gefüttert werden, benötigt ihre Hilfe beim Aufstehen und Hinlegen, kann sich tagsüber aber auf einem Stuhl mit Rollen allein durch die kleine Zwei-Zimmer-Wohnung bewegen. Neben den Hauptpflegezeiten am Morgen und Abend ist Frau Heinrich tagsüber hauptsächlich mit dem Haushalt beschäftigt und damit, jeden Tag rechtzeitig das Essen auf dem Tisch zu haben. Problematisch empfindet sie ihre Situation v.a. in der Nacht, denn da ist ihr Mann häufig wach, halluziniert, schreit und verlangt nach ihr. Tagsüber komme sie gut klar. Unterstützung bekommt sie in Notfällen von ihrer Tochter, die einspringt und nach dem Vater schaut, wenn Frau Heinrich mal eigene Arzttermine hat oder sich einmal im Monat mit ihrer Freundin zum Kaffeetrinken trifft. Den gemeinsamen Garten musste sie vor kurzem abgeben, da ihr weder die nötige Zeit zur Pflege des Gartens blieb, noch die Möglichkeit, diesen weiterhin zusammen mit ihrem Mann als Naherholungsort aufzusuchen. Frau Heinrich hat seit ein paar Jahren einen Führerschein und nutzt das Auto nun fast täglich für Einkäufe, Ausflüge und Arztbesuche. Ihre Situation beschreibt sie selbst als sehr belastend und außergewöhnlich im Vergleich zu anderen Ruheständler*innen, aber ambulante Pflege oder Heim sind weder für sie, noch ihren Mann eine Option, drum will sie es einfach »durchstehen« (ebd.: 1148).
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Fallportrait 4: Frau Hahn Frau Hahn wohnt gemeinsam mit ihrem Mann in einem Einfamilienhaus mit Nebengelass und großem Grundstück in einer ländlichen Region von Mitteldeutschland. Das Ehepaar hat drei Kinder und vier Enkelkinder, die alle in der Nähe wohnen und mindestens einmal pro Woche, wenn nicht sogar täglich vorbeischauen. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Frau Hahn 68 Jahre alt und seit 13 Jahren im Ruhestand. Zusammen mit ihrem Mann verfügt die ehemalige Angestellte über ein monatliches Haushaltseinkommen von rund 1900€. Frau Hahn ging mit 55 Jahren in den vorgezogenen Ruhestand, weil ihr Arbeitgeber nach der Wende den Standort, an dem sie über mehrere Jahrzehnte gearbeitet hatte, schloss und sie einen deutlich längeren Arbeitsweg zu einem anderen Standort hätte auf sich nehmen müssen. In den ersten Jahren ihres Ruhestandes konzentrierte sie sich vor allem darauf, ihre Kinder zu unterstützen und half bei der Enkelkinderbetreuung, in deren Haushalten und arbeitete stundenweise im Geschäft ihrer Tochter. Als ihr Mann schließlich ebenfalls in den Ruhestand ging, kündigten sich wenig später die ersten Anzeichen der Demenz bei ihm an. Die für den Ruhestand geplanten Reisen, konnte das Ehepaar aufgrund dieser und weiterer gesundheitlicher Einschränkungen nicht mehr verwirklichen. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Herr Hahn in der Phase der mittelschweren Demenz und die zunehmenden kognitiven Einschränkungen fordern von Frau Hahn insbesondere eine verstärkte Beaufsichtigung und Begleitung seiner Alltagspraxis. Abgesehen davon ist Herr Hahn noch relativ selbstständig und kann nach wie vor kleinere Aufgaben auf dem Grundstück und in der Nachbarschaft übernehmen, was Frau Hahn auch explizit befördert, um ihn zu beschäftigen. Gegen den Willen ihres Mannes hat Frau Hahn vor etwa einem Jahr das gemeinsame Auto verkauft, um ihn vom Fahren abzuhalten und niemanden zu gefährden. Durch die nachbarschaftliche Wohnsituation mit ihren Kindern, erhält sie von diesen bei Bedarf jederzeit Unterstützung und kann auch mal ohne ihren Mann außer Haus, ohne sich Sorgen um seinen Verbleib machen zu müssen. Das familiäre Helfernetzwerk reflektiert sie daher auch als sehr hilfreich für ihre Situation, in der ihr eine professionelle Unterstützung bei der Pflege vor allem aufgrund der ländlichen Wohnlage, aber auch aus finanziellen Gründen nur schwer realisierbar erscheint.
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Fallportrait 5: Herr Klopp Der 93-jährige Herr Klopp lebt in einer Großstadt in Mitteldeutschland. Zusammen seiner Frau bewohnt er eine Drei-Zimmer-Wohnung in der obersten Etage eines zwölfgeschossigen Plattenbaus, die durch den Fahrstuhl barrierefrei zugänglich ist. Herr Klopp hat einen Sohn und zwei Enkelkinder, die alle in derselben Stadt wohnen. Bis zu seiner Verrentung im Alter von 62 Jahren hat Herr Klopp im öffentlichen Dienst in leitender Funktion gearbeitet. Seine Frau war ebenfalls in reduziertem Umfang berufstätig. Das monatliche Haushaltseinkommen des Ehepaares wird mit rund 2800€ angegeben. Da die Demenzdiagnose bei seiner Frau zum Zeitpunkt des Interviews erst rund zwei Jahre zurückliegt, ist Herr Klopp einer der wenigen Befragten des Samples, der erst nach fast drei Jahrzehnten im Ruhestand mit der Übernahme der Pflegeverantwortung konfrontiert wird. Dementsprechend werden die ersten Jahrzehnte seines Ruhestands von ihm als weitestgehend selbstbestimmt und sehr zufriedenstellend gestaltete Lebensphase erzählt. Die Demenz seiner Frau wurde eher zufällig im Rahmen einer ärztlichen Untersuchung nach einem Sturz mit diagnostiziert. Der Krankheitsverlauf scheint seit der Diagnosestellung relativ schnell voranzuschreiten. Frau Klopp benötigt im Alltag bereits Hilfe bei sämtlichen reproduktiven Tätigkeiten wie dem Ankleiden, der Körperpflege oder dem Toilettengang. Weiterhin ist es ihr nicht mehr möglich, biografisch routinierte Aufgaben wie das Kochen oder Tischdecken ohne die Unterstützung von Herrn Klopp durchzuführen, ihr Wortschatz ist bereits rückläufig und Herr Klopp kann seine Frau nicht mehr allein zuhause lassen. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Frau Klopp gerade in der Tagespflege, die sie grundsätzlich an zwei Tagen die Woche besucht. Zudem gibt es einen Pflegedienst, der Herrn Klopp an mehreren Tagen die Woche insbesondere bei der Körperpflege seiner Frau unterstützt. Darüber hinaus kommen der Sohn und die Schwiegertochter fast täglich vorbei, um nach den Eltern zu sehen und Herrn Klopp mit Wäsche waschen, Einkäufen oder Aufräumen vor allem im Haushalt zu helfen. Da Herr Klopp selbst auch gesundheitliche Einschränkungen hat, wäre es dem Ehepaar Klopp ohne die Unterstützung durch professionelle Pflegekräfte und seine Familie nicht mehr möglich, weiterhin in der eigenen Wohnung zu verbleiben. In dem Wissen um die Fragilität der eigenen aktuellen Lebenssituation plant Herr Klopp daher auch nicht mehr weit im Voraus und rechnet damit, in dem kommenden Monaten mit seiner Frau in ein Pflegeheim umziehen zu müssen.
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Fallportrait 6: Frau Maler Frau Maler ist zum Zeitpunkt des Interviews 66 Jahre alt und lebt mit ihrem schwer von Demenz betroffenen Ehemann in einer Großstadt in Mitteldeutschland. Das Ehepaar bewohnt eine barrierefreie Wohnung in einem Servicewohnkomplex für Senioren, in die sie rund drei Jahre zuvor eingezogen sind, als der Gesundheitszustand von Herrn Maler sich so deutlich verschlechterte. Frau Maler hat fünf Kinder und zehn Enkel, die im gesamten Bundesgebiet verteilt leben, aber regelmäßig zu Besuch kommen. Biografisch rückblickend betont die ehemalige Physiotherapeutin, dass es ihr trotz der vielen Kinder stets wichtig gewesen sei, weiterhin ihren Beruf auszuüben. Ihr Mann sei zudem in leitender Funktion tätig gewesen. Das monatliche Haushaltseinkommen des Ehepaares beläuft sich inklusive des Pflegegeldes auf rund 3800€. Als sich bei ihrem Mann die ersten Symptome der Parkinson-Demenz bemerkbar machten, entschied Frau Maler, bereits mit 58 Jahren in den vorgezogenen Ruhestand zu gehen, um mehr Zeit für ihren Mann und ihre zu dem Zeitpunkt ebenfalls pflegebedürftige Mutter zu haben. In den ersten Jahren ihres Ruhestands pflegte Frau Maler dementsprechend sowohl ihre krebskranke Mutter, als auch ihren zunehmend pflegebedürftiger werdenden Mann und legte zusätzlich Wert darauf, möglichst viel Zeit mit ihren Enkelkindern zu verbringen. Zum Zeitpunkt des Interviews ist ihre Mutter bereits seit acht Jahren tot und ihr Mann ist so schwer dement, dass er bettlägerig ist und sich nur noch über einzelne Worte mitteilen kann. Frau Maler ist die einzige Person im Sample, die ihren Partner nach einem Pflegeunfall zwischenzeitlich bereits in ein Pflegeheim gegeben hat und ihn aber nach Ausheilen der Verletzung wieder in den eigenen vier Wänden weiterpflegte. In ihrem Fall bedeutet das, dass sie ihren Mann mehrmals täglich mithilfe eines Patient*innenlifters aus dem Bett und wieder rein hebt, ihn wäscht, wickelt, füttert und etwa einmal wöchentlich eine Darmentleerung vornimmt. Seit dem Unfall und der Entscheidung zur Fortsetzung der häuslichen Pflege, achtet Frau Maler allerdings darauf, sich professionelle und familiäre Unterstützung zu holen und Auszeiten von der Pflege zu nehmen. In Anbetracht dessen empfindet Frau Maler ihre Situation deutlich besser, als in den Jahren zuvor: »Es geht uns nicht gut. Aber […] wir kommen klar.« (ebd.: 352f).
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Fallportrait 7: Herr Thiel Herr Thiel wohnt in einer geräumigen Zwei-Zimmer-Wohnung etwas außerhalb des Zentrums einer Großstadt in Mitteldeutschland. Die Wohnung der Thiels ist nicht barrierefrei. Herr Thiel hat zwei Töchter, von denen eine samt Mann und Kind in der Wohnung über den Thiels lebt. Bis vor ein paar Jahren wohnten Herr und Frau Thiel in einem Einfamilienhaus in einer ländlichen Region und zogen nur auf Drängen der Tochter in die frei gewordene Wohnung im selben Haus. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Herr Thiel 83 Jahre alt. Der ehemalige Produktionsleiter ist zwei Jahre nach der Wende mit 59 Jahren etwa zeitgleich mit seiner Frau in den vorgezogenen Ruhestand gegangen, weil der Betrieb, in dem die beiden tätig waren, abgewickelt wurde. Das gemeinsame Haushaltseinkommen verortet Herr Thiel zwischen 2700€ bis 3000€. Die ersten zehn Jahre im Ruhestand charakterisiert er insbesondere über die ausgeprägte Reisetätigkeit des Paares und viel Zeit im gemeinsamen Garten. Die nach dieser Phase einsetzenden gesundheitlichen Beschwerden bei seiner Frau kennzeichnet Herr Thiel sodann als ausschlaggebend für die Reduzierung der Aktivitäten, das Einstellen der Reisen sowie für die Entscheidung zum Umzug in die unmittelbare Nähe der Tochter. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Frau Thiel bereits schwer dement, bettlägerig und spricht nur noch einzelne Sätze. Die Diagnose der Parkinson-Demenz liegt etwas mehr als zehn Jahre zurück und ergab sich als Nebendiagnose bei der Behandlung einer anderen Erkrankung. Bei der täglichen Pflege seiner Frau erhält Herr Thiel Unterstützung von einer professionellen Pflegekraft, einer Haushaltshilfe und seiner Tochter. Das Mittagessen bezieht er über einen Lieferdienst und seit ein paar Monaten kommt wöchentlich eine ehrenamtliche Helferin, die sich ein paar Stunden mit Frau Thiel beschäftigt. Seit seine Frau bettlägerig ist, hat Herr Thiel zudem einen Patient*innenlifter, wodurch es ihm möglich ist, seine Frau weiterhin zuhause zu pflegen. Frau Thiel wird morgens und abends vom Pflegedienst versorgt, was insbesondere das aus dem Bett geholt beziehungsweise Hinlegen mithilfe des Lifters beinhaltet sowie die Körperpflege, den Toilettengang und das An- und Auskleiden. Die unterstützenden Sorgearbeiten teilen sich vorrangig die Haushaltshilfe und die Tochter, sodass Herr Thiel seine Zuständigkeit vor allem im Bereich der zeitintensiven indirekten Sorgearbeiten verortet. Herr Thiel äußert sich dankbar über die verschiedenen Hilfen und Hilfsmittel, denn nur dadurch sei es in ihrem Fall noch so, »dass eine häusliche Pflege möglich ist.« (ebd.: 674f).
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Fallportrait 8: Frau Kleber Frau Kleber wohnt in einem kleinen Einfamilienhaus einer ehemaligen Arbeitersiedlung am Rand einer kleineren Großstadt in Mitteldeutschland. Zum Zeitpunkt des Interviews ist sie 75 Jahre alt, hat zwei Kinder und vier Enkel. Als die Angestellte eines städtischen Großunternehmens mit 55 Jahren etwa zeitgleich mit ihrem Mann in den Ruhestand geht, ist dieser noch gesund. Zusammen haben sie ein monatliches Haushaltseinkommen von rund 2000€. Um möglichst viel unternehmen zu können, kaufen sich die Klebers ein Wohnmobil, mit dem sie in der darauffolgenden Zeit mindestens drei Monate pro Jahr unterwegs sind. Abgesehen davon verbringen sie viel Zeit auf ihrem Gartengrundstück und Frau Kleber resümiert diese Phase ihres Ruhestands als »sehr schöne Sache« (ebd.: 20f). Etwa 10 Jahre nach Ruhestandseintritt erkrankt ihr Mann an Prostatakrebs. Zwar kann der Krebs operativ entfernt werden, aber noch im selben Jahr nimmt Frau Kleber erste Anzeichen von Demenz an ihrem Mann wahr. Die ärztliche Demenz-Diagnose folgt erst vier Jahre später. Zum Zeitpunkt des Interviews fährt Herr Kleber seit zwei Jahren nicht mehr Auto und befindet sich gerade in der Phase der Demenz, in der er motorisch noch recht selbstständig ist, aber es durch den akuten kognitiven Abbau zu vielen Diskussionen zwischen dem Ehepaar kommt. Die Pflegeaufgaben von Frau Kleber umfassen insbesondere die Unterstützung ihres Mannes bei den reproduktiven Tätigkeiten und die Überwachung seines Tuns. Er verlässt häufiger allein das Haus, findet aber bisher immer wieder zurück. Frau Kleber kann nicht mehr allein aus dem Haus, weil ihr Mann nach kurzer Zeit anfängt, sie verzweifelt zu suchen. Als Frau Kleber vor zwei Jahren stürzt und in die Klinik muss, versorgt ihre Tochter den Vater. Zudem erhält Frau Kleber einmal die Woche Unterstützung von einer*m ehrenamtlichen Demenzbegleiter*in. Ein erster Versuch, ihren Mann ein bis zwei Tage die Woche in die Tagespflege zu geben ist gescheitert, weil er dort wiederholt weglief. Ein zweiter Versuch ist aber bereits geplant. Die Erkrankung ihres Mannes habe zur deutlichen Reduzierung der Sozialkontakte geführt. Frau Kleber fühlt sich in ihrer derzeitigen Situation v.a. durch die ständige Anwesenheit ihres Mannes eingeengt und reagiert in der Interviewsituation sehr emotional auf Themen, in denen es um ihre eigenen Bedürfnisse geht, denn darüber nachzudenken habe sie sich abgewöhnt.
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Fallportrait 9: Herr Dreher Herr Dreher lebt in einem kleinen Kurort in Mitteldeutschland. Zusammen mit seiner Frau und der ältesten Tochter wohnt er in einem schmalen Reihenmittelhaus, das nur über eine Treppe erreicht werden kann und auch innen nicht barrierefrei ist. Im Dachgeschoss des Hauses wohnt die ledige Tochter, er selbst hat sein Schlafzimmer in der ersten Etage und seit seine von Demenz betroffene Ehefrau nicht mehr Treppensteigen kann, schläft sie im Erdgeschoss. Der 85-jährige Herr Dreher hat insgesamt drei Kinder und drei Enkel. Das monatliche Haushaltseinkommen der Drehers beläuft sich auf rund 2200€. Bis kurz nach der Wende war Herr Dreher als Ingenieur in einem Betrieb tätig und ging mit dessen Stilllegung dann im Alter von 60 Jahren in den vorgezogenen Ruhestand. Da er nicht »den ganzen Tag auf’m Kanapee liegen und Fernsehen gucken« (ebd.: 112f) wollte, habe er noch viele Jahre in einem Baumarkt gearbeitet und ansonsten am und im Haus immer irgendwas zu tun gehabt oder Nachbarn und Bekannten geholfen. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Frau Dreher bereits in der Phase der schweren Demenz und erste Symptome der Demenz liegen mehr als zehn Jahre zurück. Herr Dreher gibt mir persönliche Mitschriften aus der Anfangsphase der Demenzerkrankung mit, die darauf verweisen, dass er zunächst große Probleme hatte, mit der Erkrankung seiner Frau umzugehen. Im Kontrast dazu äußert er sich ihr gegenüber im Interview sehr verständnisvoll und macht deutlich, dass es mehrere Jahre gedauert habe, bis er seine Situation so annehmen konnte, wie sie jetzt ist. Der Pflegealltag von Herrn Dreher sieht so aus, dass er die Hauptverantwortung für die indirekten Sorgearbeiten trägt und in der direkten und unterstützenden Sorgearbeit Hilfe von professionellen Pflegekräften und seiner Tochter erhält. Zum Erhebungszeitpunkt ist die Demenz bei seiner Frau so weit vorangeschritten, dass sie an der Schwelle zur Bettlägerigkeit zu sein scheint. Er äußert daher die Annahme, dass sich die Pflegesituation und sein Pflegealltag in den kommenden Wochen und Monaten vermutlich erneut ändern werde und auch mit einer Einschränkung seiner Mobilität verbunden sein könnte. Als größte Sorge formuliert er allerdings das potentielle schwarze Loch, in das er sich im Falle des Ablebens seiner Frau und dem damit einhergehenden Verlust der Pflegeverantwortung fallen sieht.
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Fallportrait 10: Herr Steg Herr Steg bewohnt mit seiner Ehefrau ein großzügig geschnittenes Einfamilienhaus mit weitläufigem Garten in einem Vorort einer süddeutschen Großstadt. Er hat eine Tochter, einen bereits verstorbenen Sohn und drei Enkelkinder. Das monatliche Haushaltseinkommen des Ehepaares beläuft sich auf knapp 4000€. Zum Zeitpunkt des Interviews ist der ehemalige Ingenieur 82 Jahre alt und seit 18 Jahren im Ruhestand. Nach dem Austritt aus dem Erwerbsleben sucht sich Herr Steg neue Aufgaben, wird in den Vorstand eines Vereins gewählt und kümmert sich um die Immobilien der Familie. Aus diesen Engagements möchte er sich jedoch in naher Zukunft zurückziehen. Die Demenz wurde bei seiner Ehefrau vor rund 13 Jahren in einem sehr frühen Stadium diagnostiziert und über viele Jahre durch verschiedene medizinischtherapeutische Maßnahmen in ihrem Krankheitsverlauf deutlich verzögert. Seit dem Tod des gemeinsamen Sohnes vor rund vier Jahren hat Frau Steg jedoch physisch und kognitiv stark abgebaut und ist zum Zeitpunkt des Interviews schwer dement. Das bedeutet, dass sie sich immer schlechter verständigen kann und zunehmend immobil wird. Zudem muss Herr Steg seine Frau im Alltag bei sämtlichen Tätigkeiten anleiten, weil sie nicht mehr weiß, wozu Artefakte, wie die Zahnbürste oder Kleidungsstücke genutzt werden. Aufgrund ihrer Inkontinenz trägt Frau Steg Windeln, die allerdings insbesondere nachts regelmäßig auslaufen. Herr Steg fährt seine Frau an vier Tagen die Woche morgens zur Tagespflege in die nahegelegene Stadt und lässt sie am Nachmittag durch den Shuttle-Service dieser Institution wieder Nachhause bringen. Darüber hinaus macht er etwa sieben Mal im Jahr für ein verlängertes Wochenende oder eine Woche Urlaub und lässt während seiner Abwesenheit Pflegekräfte aus Osteuropa bei seiner Frau mit Demenz wohnen und die Pflege übernehmen. Hilfe bei der Hausarbeit erhält Herr Steg einmal wöchentlich von einer Reinigungsfrau. Die Tochter kommt an den Wochenenden regelmäßig zu Besuch und entlastet Herrn Steg, indem sie sich um ihre Mutter kümmert, mit ihr spazieren geht oder sie zuhause beschäftigt. Die zum Teil bereits erwachsenen Enkelkinder meiden den Kontakt zu den Großeltern zunehmend, seitdem die Symptome der Demenz die Großmutter häufig verwirrt und geistig abwesend erscheinen lassen.
Fallportrait 11: Herr Briese Herr Briese ist zum Zeitpunkt des Interviews 95 Jahre alt und wohnt gemeinsam mit seiner Frau in einer Drei-Zimmer-Wohnung etwas außerhalb des
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Zentrums einer Großstadt in Süddeutschland. Die Wohnung befindet sich im Erdgeschoss eines Mietshauses und ist nicht barrierefrei, sondern nur über einen Treppenabsatz zu erreichen. Herr Briese läuft an Krücken und kann sich nur noch sehr gebeugt und langsam fortbewegen. Er ist mit 62 Jahren aus dem Staatsdienst ausgeschieden und in den Ruhestand gegangen. Sein monatliches Haushaltseinkommen verortet Herr Briese knapp unter 4000€. Die ersten zwanzig Jahre seines Ruhestands erzählt er als Lebensphase mit vielen gemeinsamen Reisen ins Ausland und sozialen Aktivitäten innerhalb ihrer Stadt und Region. In den darauf folgenden etwa zehn Jahren nehmen die gesundheitlichen Beschwerden des Paares langsam zu, weswegen die bisherigen Aktivitäten weitestgehend eingestellt werden. Zum Zeitpunkt des Interviews liegt die Demenzdiagnose bei seiner Frau rund drei Jahre zurück und Frau Briese befindet sich in der Phase der mittelschweren Demenz. Seit etwa zwei Jahren erhält Herr Briese professionelle Unterstützung in der Pflege. Die unterstützenden Sorgearbeiten werden von Montag bis Freitag von einer Haushaltshilfe übernommen. Seine Frau geht an drei Tagen unter der Woche tagsüber in die Tagespflege und an zwei Tagen die Woche kommt eine professionelle Pflegekraft, die ihm direkte Sorgearbeiten, wie das Duschen seiner Frau abnimmt. Dennoch bleiben ihm neben der indirekten Sorgearbeit verschiedene unterstützende und direkte Sorgearbeiten, die von ihm körperlichen Einsatz erfordern, der ihm aufgrund eigener gesundheitlicher Einschränkungen sehr schwer fallen. Er steht daher unter anderem morgens extra früher auf, um die anfallenden Aufgaben ohne Stress und in Ruhe erledigen zu können und nutzt dann wiederum die Zeit, in der seine Frau tagsüber bei der Tagespflege ist, um sich zu erholen und den fehlenden Schlaf nachzuholen. Trotz der Belastung und Fragilität seiner aktuellen häuslichen Pflegesituation möchte er diese jedoch so lange wie möglich aufrechterhalten, weil er den Umzug in ein Pflegeheim wenn möglich vermeiden möchte.
Fallportrait 12: Frau Zapf Frau Zapf bewohnt zusammen mit ihrem Mann eine Drei-Zimmer-Wohnung in der zweiten Etage eines Plattenbaus etwas außerhalb des Zentrums einer mitteldeutschen Großstadt. Zum Zeitpunkt des Interviews ist sie 76 Jahre alt und das gemeinsame Haushaltseinkommen beläuft sich auf 2500€ pro Monat. Die ehemalige Lehrerin hat einen Sohn sowie drei Enkelkinder, zu denen ein sehr regelmäßiger Kontakt gepflegt wird. Als sie mit 65 Jahren in den Ruhestand geht, ist ihr Mann schon ein paar Jahre lang nicht mehr erwerbs-
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tätig. Frau Zapf selbst nimmt die in diesem Zeitraum einsetzenden ersten Symptome der Demenz zunächst gar nicht wahr, wird aber von zwei Sprechstundenhilfen auf die zunehmende Vergesslichkeit ihres Mann angesprochen und geht daraufhin mit ihm zum Arzt. Dieser diagnostiziert einen Hirnschlag und die dadurch ausgelöste vaskuläre Demenz. In den ersten Jahren nach der Diagnose fahren beide weiterhin in den Urlaub und die Demenz scheint kaum Einfluss auf ihre alltägliche Lebensführung im Ruhestand zu haben. Zu nennenswerten Einschränkungen im Alltag kommt es für Frau Zapf erst vor knapp zwei Jahren, als ihr Mann zusätzlich inkontinent wird. Seitdem vermeidet sie jegliche Art gemeinsamer Reisen. Nach mehreren Anläufen erhält ihr Mann in diesem Zeitraum auch seine erste Pflegestufe und Frau Zapf Zugang zu verschiedenen Hilfsangeboten für pflegende Angehörige. Zum Zeitpunkt des Interviews besteht ihre pflegerische Aufgabe innerhalb eines typischen Tages vor allem darin, ihren Mann immer im Auge zu behalten, zu kontrollieren, ob er bei reproduktiven Tätigkeiten wie der Morgentoilette nicht bspw. das Zähneputzen vergisst und ihm im Verlauf des Tages immer wieder konkrete Aufgaben, wie Kartoffeln schälen oder Zeitunglesen zu geben, damit er etwas zu tun hat. Vor wenigen Wochen hat Frau Zapf begonnen, ihren Mann einmal wöchentlich zur Tagespflege zu geben und darüber hinaus kommt einmal die Woche am Nachmittag eine Mitarbeiterin eines großen Wohlfahrtsverbandes und macht Gedächtnisübungen mit Herrn Zapf. Allein unterwegs ist Frau Zapf nur innerhalb dieser Zeitfenster, ansonsten nimmt sie ihren Mann überall mit hin und traut sich nicht mehr, ihn allein zuhause zu lassen. Sozialkontakte bestehen hauptsächlich zum Sohn, der zusammen mit Frau und Kindern mehrmals im Monat zu Besuch kommt oder zu sich einlädt. Ihre Situation markiert Frau Zapf nicht als besonders im Vergleich zu anderen Älteren, da habe jeder so dies und jenes, »das ist ganz einfach so.« (ebd.:357)
Fallportrait 13: Herr Pohl Herr Pohl ist zum Zeitpunkt des Interviews 76 Jahre alt und lebt gemeinsam mit seiner Frau in einer Plattenbausiedlung am Stadtrand einer mitteldeutschen Großstadt. Frau Pohl hat eine Demenz im Anfangsstadium. Die beiden haben einen Sohn und zwei Enkelkinder, die in der gleichen Stadt wohnen und zu denen Herr Pohl regelmäßigen Kontakt pflegt. Der ehemalige Ingenieur musste sich nach der Wende beruflich umorientieren und war die rest-
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lichen knapp zehn Jahre bis zur Verrentung im Personalbereich tätig. Das monatliche Haushaltseinkommen gibt Herr Pohl mit rund 2200€ an. Die ersten Jahre seines Ruhestandes beschreibt Herr Pohl wie so viele als erfüllt von verschiedenen Reisen und als angenehm selbstbestimmte Lebensphase, die er gemeinsam mit seiner Frau gestalten konnte. Zum Zeitpunkt des Interviews liegt die Demenzdiagnose bei seiner Frau erst rund ein Jahr zurück und Herr Pohl scheint sich in einer Phase der aktiven Auseinandersetzung mit der neuen Lebenssituation zu befinden. Die täglich anfallenden Sorgearbeiten beziehen sich vorrangig auf die allmähliche zunehmende Unterstützung seiner Frau im Alltag und die von ihm als relevant markierte Beschäftigung mit dem Krankheitsbild der Demenz. Dabei beschäftigt ihn insbesondere die Frage danach, wie er sich als pflegender Partner seiner demenzkranken Frau so verhalten kann, dass der Umgang mit seiner Frau und die notwendig werdende Pflege möglichst harmonisch und wertschätzend ihr gegenüber gestaltet werden kann. Seine eigene Situation beschreibt er dementsprechend als »Lernprozess […], um in ihre eigene Welt einzusteigen, in der sie ist.« (ebd.: 328ff).
Fallportrait 14: Frau Werner Frau Werner wohnt in einer Zwei-Raum-Wohnung eines sanierten Plattenbaus im Zentrum einer mittelgroßen Stadt in Mitteldeutschland. Sie ist zum Zeitpunkt des Interviews 64 Jahre alt, verheiratet, hat einen Sohn und ein Enkelkind. Das monatliche Haushaltskommen der ehemaligen Verkäuferin liegt knapp unter 1500€. Offiziell im Ruhestand ist Frau Werner erst seit Kurzem, davor waren sie und ihr Mann bereits seit Anfang der 2000er Jahre arbeitslos, nachdem ihre Anstellungen im Niedriglohnsektor gekündigt wurden. Bereits wenig später hat ihr Mann mehrere Schlaganfälle, von denen er sich zwar zunächst physisch erholt, die von Frau Werner aber als Auslöser der einsetzenden vaskulären Demenz erzählt werden. Zu einer ärztlichen Diagnose kommt es erst vor wenigen Jahren, als Frau Werner ihren Mann mit Verdacht auf erneuten Schlaganfall ins Krankhaus einweisen lässt und sich herausstellt, dass es kein Schlaganfall, sondern eine bereits sehr schwere Form der Demenz ist. Zum Zeitpunkt des Interviews ist ihr Mann seit anderthalb Jahren komplett bettlägerig, muss gefüttert werden und die verbale Kommunikationsfähigkeit beschränkt sich auf einzelne Worte oder Geräusche. Seitdem ihr Mann Pflegestufe 3 hat, kann Frau Werner zweimal täglich professionelle Hilfe bei der Pflege in Anspruch nehmen. Obwohl sie eigentlich gern lange schläft, klingelt morgens um 8 Uhr der Wecker, weil ihr Mann eine neue Windel, Frühstück
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und seine Insulinspritze benötigt, bevor die Pflegeschwester kommt. Mittags kocht Frau Werner täglich warm und wechselt bei Bedarf die Windel. Am Abend kommt erneut eine der Pflegerinnen und Frau Werner ist hauptsächlich für das Abendessen und eine erneute Insulinspritze vor dem Schlafengehen zuständig. Zwischen den Mahlzeiten und den notwenigen Pflegeaufgaben verbringt sie nur selten Zeit mit ihrem Mann, sondern kümmert sich um die Einkäufe, trifft Freunde und Nachbarn oder zieht sich auf die Couch zurück und liest. Weiterhin nimmt sie die 28 Tage Verhinderungspflege in Anspruch, die ihr jährlich zustehen und besucht dann Freundinnen, die weiter weg wohnen. Ihren Mann dauerhaft in ein Pflegheim zu geben, ist für sie finanziell nicht möglich, weshalb sie die zur Verfügung stehenden Entlastungsangebote für pflegende Angehörige so gut wie möglich ausschöpft. Begründet wird diese Einstellung darüber, dass ihr Mann rückblickend kein guter Mann gewesen sei, aber jetzt müsse sie ihn nun einmal pflegen und habe sich mit ihrer Situation arrangiert – »(I)ch mache es gerne. Nein, gerne nicht. Es muss sein.« (ebd.: 1018)
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Kulturwissenschaft Gabriele Dietze
Sexueller Exzeptionalismus Überlegenheitsnarrative in Migrationsabwehr und Rechtspopulismus 2019, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 32 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4708-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4708-6
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Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan
Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung Februar 2020, 384 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5218-5 E-Book: 22,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5218-9
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 9, 2/2020) Oktober 2020, 178 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4937-6 E-Book: PDF: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4937-0
Karin Harrasser, Insa Härtel, Karl-Josef Pazzini, Sonja Witte (Hg.)
Heil versprechen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2020 Juli 2020, 184 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4953-6 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4953-0
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