Mathematische Modellierung bei Platon zwischen Thales und Euklid [1 ed.] 9783110613827, 9783110616491, 9783110615005, 2019933535


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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1. Einleitung
2. Original und Abbild: Eine modelltheoretische Perspektive
3. Mathematische Diagramme und die Praxis der Modellierung
4. Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon
5. Verdoppeln ohne Verdoppeln: Platon und das Delische Problem
6. Die Welt als Linie: Mathematische Modellierung im Liniengleichnis der Politeia
7. Die Welt als Linien: Mathematische Modelle im Timaios
8. Ergebnisse
Literaturverzeichnis
Indizes
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Mathematische Modellierung bei Platon zwischen Thales und Euklid [1 ed.]
 9783110613827, 9783110616491, 9783110615005, 2019933535

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Claas Lattmann Mathematische Modellierung bei Platon zwischen Thales und Euklid

Science, Technology, and Medicine in Ancient Cultures

Edited by Markus Asper Philip van der Eijk Mark Geller Heinrich von Staden Liba Taub

Volume 9

Claas Lattmann

Mathematische Modellierung bei Platon zwischen Thales und Euklid

ISBN 978-3-11-061382-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-061649-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-061500-5 ISSN 2194-976X Library of Congress Control Number: 2019933535 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Claas Lattmann Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Diese Monographie ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel im Sommersemester 2017 unter dem Titel „Vom Dreieck zu Pyramiden. Mathematische Modellierung bei Platon zwischen Thales und Euklid“ vorlag und im folgenden Wintersemester angenommen wurde. Das Buch hätte ohne die Unterstützung anderer nicht entstehen können. Mein erster, von Herzen kommender Dank gilt Lutz Käppel, der das Projekt angeregt und dann mit großem Sachverstand und beständigem Wohlwollen begleitet hat; sein kluger Ratschlag und seine engagierte Förderung waren von unschätzbarem Wert. Aufrichtiger Dank gilt auch Hans-Joachim Waschkies, der meinen Bemühungen trotz seiner schon schweren Krankheit gerade in ihrer frühen Phase großes Interesse entgegengebracht hat. Leider ist er viel zu früh von uns gegangen. Der letzte Abschnitt des Projekts verbindet sich mit einem wunderbaren dreijährigen Aufenthalt als Feodor Lynen-Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Emory University in Atlanta, Georgia, USA. Nicht nur bin ich meinem akademischen Gastgeber Peter Bing für tatkräftige Unterstützung und Offenheit von Herzen dankbar, sondern für vorbildliche Gastfreundschaft auch dem gesamten Department of Classics und hier ganz besonders Niall Slater. Der Forschungsaufenthalt hat mir nicht nur ermöglicht, konzentriert am Projekt zu arbeiten und Teilaspekte bei den Kolleginnen und Kollegen vor Ort (gedankt sei dem gesamten Program in Ancient Mediterranean Studies, speziell Richard Patterson, sowie außerdem Richard Parry) und auf zahlreichen Konferenzen zur Diskussion zu stellen; insbesondere hierbei haben auch drei sehr großzügige William Calder III. Fellowships der American Friends of the Alexander von Humboldt Foundation große Dienste geleistet. Ebenso wertvoll ist freilich auch, dass ich mit meiner Familie Zeit an einem Ort verbringen konnte, der uns zu einem zweiten Zuhause wurde. Für die Unterstützung bei der Bewerbung um das Feodor Lynen-Stipendium weiß ich daher Peter Bing, Christine Blättler, Bardo Gauly und Lutz Käppel aufrichtigen Dank. Der Humboldt-Stiftung bin ich nicht nur für überaus großzügige Förderung und professionelle Betreuung (speziell durch Kristina Fleck) während des gesamten Forschungsaufenthalts verpflichtet, sondern auch für die zusätzliche Gewährung einer Druckkostenbeihilfe, die bei der Publikation dieses Buches große Hilfe leistet. Der neben Platon zweite zentrale Aspekt dieser Studie ist die Modellierung, ein Gebiet der aktuellen Forschung, das ich insbesondere im Rahmen meines Engagements im International Institute for Theoretical Cardiology (IIfTC), Kiel-Schilksee näher kennenlernen konnte. Jochen und Brigitte Schaefer, Wolfgang Deppert, Claus Köhnlein, Björn Kralemann, Siegfried Munz, Klaus-Jürgen Nordmann, Bernhard Thalheim und Nicolaus Wilder sei für teils zwanzig Jahre Freundschaft und gemeinsame interdisziplinäre Bemühungen gedankt. Ich stehe in Michael Rahnfelds Schuld https://doi.org/10.1515/9783110616491-202

VI | Vorwort

dafür, dass er damals den Kontakt herstellte. Siegfried Munz und Klaus-Jürgen Nordmann konnten den Abschluss des Projekts leider nicht mehr erleben. Für die Übernahme schriftlicher Gutachten zu meiner Habilitationsschrift und hilfreiche Anmerkungen bin ich neben Lutz Käppel auch Christine Blättler, Thorsten Burkard und vor allem Markus Asper verpflichtet; den übrigen Mitgliedern des Habilitationsausschusses bin ich ebenfalls dankbar. Den Herausgebern und der Herausgeberin dieser Reihe danke ich herzlich dafür, dass das Buch seinen Platz an diesem interdisziplinären Ort finden durfte. Die Vorbereitung des Manuskripts für die Drucklegung fiel auch in die Zeit einer Vertretungsprofessur an der Ludwig-Maximilians-Universität München; ich danke den dortigen Kolleginnen und Kollegen für herzliche Aufnahme und angenehme Arbeitsatmosphäre. Es verbleibt, den letzten, wichtigsten Dank auszusprechen – meinen Eltern Klaus und Christa Lattmann dafür, dass sie meinen Weg stets mit großem Interesse begleitet haben, meiner Frau Katrin für immer hilfreichen Rat und beständige Unterstützung sowie unseren Kindern Lisa, Erik und Arvid dafür, dass es sie gibt. Kiel, im Februar 2019

C. L.

Inhalt 1 1.1 1.2 1.3 1.4

Einleitung | 1 Griechische Mathematik: Perspektiven auf ihre Entwicklung | 1 Ein möglicher Ausweg? Mathematik in der Zeit Platons | 16 Plan der Untersuchung | 33 Zusammenfassung | 41

2

Original und Abbild: Eine modelltheoretische Perspektive | 45

3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Mathematische Diagramme und die Praxis der Modellierung | 69 Einleitung | 69 Diagramme als diagrams | 76 Drei weitere Diagramme | 90 Generalität und Partikularität | 107 Fazit | 114

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon | 117 Einleitung | 117 Falsche Meinungen | 119 Aporie | 132 Wahre Meinungen | 141 Fazit | 145 Epilog: Inkommensurable Diagramme | 151

5 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.4 5.5

Verdoppeln ohne Verdoppeln: Platon und das Delische Problem | 177 Einleitung | 177 Zur Geschichte des Delischen Problems | 179 Die Perspektive des Mathematikers | 179 Die wissenschaftshistorische Perspektive | 187 Die archäologische und historische Perspektive | 199 Fazit | 206 Platons Würfelverdopplung und der mechanische Beweis | 212 Platons Lösung | 213 Mechanische Lösungen | 220 Platons Tadel | 231 Fazit | 242 Epilog: Inkommensurable Mathematik | 244

VIII | Inhalt

6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7

Die Welt als Linie: Mathematische Modellierung im Liniengleichnis der Politeia | 271 Einführung | 271 Das Liniengleichnis und seine Problematik | 272 Die Linie zwischen Sonne und Höhle | 280 Die Mathematik der Linie | 295 Die Linie zur Linie | 315 Fazit | 345 Epilog: Die Befreiung aus dem barbarischen Schlamm | 348

7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5

Die Welt als Linien: Mathematische Modelle im Timaios | 367 Einführung | 367 Die Elemente als Modelle | 368 Der Mensch in der Welt | 388 Fazit | 405 Epilog: Der Weg auf und ab | 408

8

Ergebnisse | 417

Literaturverzeichnis | 433 Indizes | 465

1 Einleitung 1.1 Griechische Mathematik: Perspektiven auf ihre Entwicklung Wissenschaftliche Mathematik dominiert die moderne Zivilisation. Sie ist eine der bedeutendsten Errungenschaften der antiken griechischen Kultur. Dort erlangte sie ihre klassische Form, in der sie in der frühen Neuzeit wiederaufgenommen und mutatis mutandis noch heute betrieben wird. Dies gilt insbesondere für die bahnbrechende, für keine andere Kultur unabhängig bezeugte methodologische Innovation, mathematisches Wissen in allgemeinen Sätzen auszudrücken und in dieser Form zu beweisen sowie diese Sätze logisch miteinander zu verbinden und zu konsistenten Systemen zusammenhängenden Wissens, ‚Theorien‘, zu vereinigen.1 Diese Theorien verbinden sich in der griechischen Mathematik mit drei spezifischen Merkmalen: erstens der Entdeckung genereller Sätze und idealer Objekte (wie Zahlen und Figuren), über die man generelle Sätze aufstellen kann; zweitens der Entdeckung von Beweistechniken, d. h. von empirie- und autoritätsunabhängigen Begründungsverfahren; drittens der Entdeckung eines Zusammenhangs solcher Sätze, der ein (deduktives) Satzsystem ermöglicht.2

Zu den ersten fassbaren Manifestationen dieses radikal neuen Ansatzes in der Mathematik gehören Aristoteles’ Wissenschaftstheorie in den Zweiten Analytiken und als praktische Gegenstücke die zwei astronomischen Traktate des Autolykos von Pitane sowie kurze Zeit später Euklids Elemente, Letztere bis weit in die Neuzeit hinein zugleich der paradigmatische Ausdruck von Mathematik und Wissenschaft und gewiss eines der meistgedruckten und -verbreiteten Bücher in der Menschheitsgeschichte überhaupt, übertroffen nur durch die Bibel.3 Angesichts der zeitlichen Zusammen|| 1 Zu dem in diesem Absatz ausgedrückten Gedanken siehe Mittelstraß 1965, 411 f. und Waschkies 2004, 3 (eindrücklich auch im inspirierenden persönlichen Gespräch); vgl. Asper 2007, 95 f. und 197. Speziell zur Mathematik siehe Waschkies’ 1998 und Aspers 2014 Überblicke; vgl. Netz 1999a und Asper 2007, speziell 94–212, zur Systematik Mueller 1981 und Asper 2016. Allgemein zur Geschichte der antiken Mathematik (auch anhand von Analysen zu konkreten Problemen) siehe exempli gratia Heath 1921, van der Waerden 1956, von Fritz 1961, Becker 1966, Klein 1968, Knorr 1975, Szabó 1978, Knorr 1986, Waschkies 1998, Fowler 1999, Cuomo 2001, Asper 2009, Hein 2012, Asper 2014 und Netz 2016. Für einen Überblick zur Forschung der letzten Jahrzehnte aus jüngerer Zeit siehe Berggren 2014, Saito 2014 und Sidoli 2014. 2 Asper 2007, 98. 3 Vgl. Heath 1921, 1, 357 f.: „This wonderful book, with all its imperfections, which indeed are slight enough when account is taken of the date at which it appeared, is and will doubtless remain the greatest mathematical text-book of all time. Scarcely any other book except the Bible can have circulated more widely the world over, or been more edited and studied.“ Einen knappen Überblick über die Rezeption bis in die Neuzeit gibt Heath 1921, 1, 354–370. Direkt fassbar schlägt sich dieser Sachverhalt ja nicht zuletzt darin nieder, „daß die moderne Formtradition der mathematisch-naturwissenschaftlichen Schriften sich letztlich von Euklid herleitet“, speziell das Merkmal der Unpersönlichkeit: https://doi.org/10.1515/9783110616491-001

2 | Einleitung

hänge ist die metatheoretische Struktur der griechischen Fachmathematik spätestens seit etwa der Mitte des 4. Jhs v. Chr. etabliert;4 seitdem ist sie im Prinzip dieselbe geblieben, und zwar bis weit in die Moderne hinein. Die Griechen können als die Erfinder von Mathematik und, insoweit Mathematik bzw. eine axiomatisch-deduktive Verfasstheit die Grundlage ist, Wissenschaft im Allgemeinen gelten.5 Während dieser Sachverhalt grundsätzlich, wenn auch nicht in Hinsicht auf die Details6 unstrittig ist, gilt dies von unserem Bild davon, wie diese spezifische Form || Asper 2007, 134 (insgesamt 125–135). Zur Rezeption der Person Euklid siehe De Brasi 2013. Zu Charakter und Kontext von Aristoteles’ Zweiten Analytiken und ihrem Verhältnis zu Euklids Elementen siehe Barnes 1969, aber auch Hoffmann 2004. 4 Aristoteles’ Todesjahr ist ein sicherer terminus ante quem. Euklid ist schwieriger zu datieren, da kaum verlässliche Testimonien vorliegen: Gemeinhin werden die Elemente um das Jahr 300 v. Chr. angesetzt, doch könnten neue Erkenntnisse der Archimedes-Forschung auch eine Spätdatierung um 200 v. Chr. nahelegen (zur Problematik siehe I. Bulmer-Thomas: Art. „Euclid“, in: Gillispie 4, 414– 437, hier 414 f.; vgl. Waschkies 1998, 367, doch siehe Asper 2007, 97 Anm. 28). Autolykos von Pitane und seine astronomischen Traktate werden meist im letzten Drittel des 4. Jhs. v. Chr. verortet, mithin vor Euklid, aber nach Aristoteles. Die einzige relevante Information gibt Diogenes Laertios 4, 29, der Autolykos als Lehrer des Arkesilaos von Pitane kennt, des Gründers der Mittleren Akademie; dessen Geburtsjahr war 316/5 v. Chr. (erschlossen aus Diogenes Laertios 4, 44); Aujac 2002, 10 (insgesamt 8– 10) setzt als Lebensdaten den Zeitraum von 360 bis 290 v. Chr. an (skeptisch Bowen & Goldstein 1991, 246 Anm. 29); zur gattungsgeschichtlichen Verortung von Autolykos’ Schriften siehe Berggren 1991. Insofern ist die Geometrie euklidischen Typs im Sinn der communis opinio eigentlich die aristotelische Geometrie; vgl. Netz 1999a, 275: „The solid starting-point for Euclidean-style geometry is neither Euclid nor Autolycus, but Aristotle.“ Dies führt freilich noch eindeutiger auf die Mitte des 4. Jhs. v. Chr. 5 Vgl. Rihll 1999, 39: „Mathematics probably ranks as the Greeks’ greatest achievement, in the eyes of many modern scientists“; und 54: „Geometry is arguably the Greeks’ greatest scientific achievement. Unlike, say, Aristotle’s physics or Galen’s medicine, Euclid’s theorems are still true and his methods are still admired. For millennia his books have been studied and referenced […].“ Dies soll selbstverständlich nicht implizieren, dass es seit der griechischen Antike keinen mathematischen (oder gar wissenschaftlichen) Fortschritt gegeben hätte. Ganz im Gegenteil: Die eindrucksvollen Erfolge in Mathematik und mathematischen Wissenschaften, insbesondere in der jüngsten Zeit, scheinen in gewissem Sinn ja überhaupt erst durch das sichere methodologische Fundament, das in der Antike gelegt wurde, möglich geworden zu sein. Auf der anderen Seite soll jedoch, denkt man etwa an Hilberts Grundlagen der Geometrie (Hilbert 1899) sowie Russells und Whiteheads Principia Mathematica (Russell & Whitehead 1910–1913), ebenso wenig impliziert sein, dass nicht auch Änderungen am axiomatischen Fundament selbst, auch und gerade in Hinsicht auf seine methodologische Stellung und Funktion, zu verzeichnen waren, speziell solche, die als wissenschaftliche Revolution im Sinn von Thomas Kuhns Theorie zu verstehen wären (siehe allgemein Kuhn 1996; vgl. speziell unten Anm. 122): An der grundlegenden und im vorliegenden Zusammenhang entscheidenden Eigenschaft von Mathematik und mathematischer Wissenschaft, seit der griechischen Antike eine Form von systematisch organisiertem allgemeinen Wissen im oben skizzierten Sinn zu sein, ändert dies nichts. 6 So wird insbesondere die Position vertreten, auch die in anderen antiken Kulturen betriebene Mathematik weise eine im Ergebnis mehr oder weniger äquivalente Form von Beweis auf: siehe Chemla 2012a mit Chemlas 2012b Einführung für eine Übersicht; speziell für die chinesische Tradition siehe Chemla 2012c und Chemla 2005, für die babylonische Tradition Høyrup 2012; siehe programmatisch Lloyd 2005; vgl. unten Anm. 29. Doch unabhängig davon, ob man dieser Ansicht zustimmt oder nicht,

Griechische Mathematik: Perspektiven auf ihre Entwicklung | 3

von Mathematik entstanden ist, wie also die Entwicklung von der voraristotelischvoreuklidischen Form der griechischen Mathematik hin zur aristotelisch-euklidischen Form verlaufen ist – ja: letztlich sogar, ob es eine derartige Entwicklung denn überhaupt gegeben hat –, unglücklicherweise nicht: Weder sind aus der Zeit vor Euklid und Autolykos fachmathematische Schriften überliefert noch aus der Zeit vor Aristoteles theoretische mathematik- und / oder wissenschaftsphilosophische Traktate. Alles, was auf uns gekommen ist, sind vereinzelte Fragmente und vor allem Testimonien, Letztere oftmals erst Jahrhunderte nach dem bezeugten Inhalt verfasst. Die Verfasstheit der frühesten griechischen Mathematik liegt im Dunkeln: The question of the origins of Greek mathematics has always been considered to be an extremely difficult one. […] But, as has been a continual source of regret ever since, there is an almost total lack of sources concerning the early phases of this process.7

Das Problem besteht aber nicht nur darin, dass die spärlichen Zeugnisse einen nur stark eingeschränkten Blick auf die frühe Entwicklung erlauben. Mindestens ebenso gravierend ist, dass die Zeugnisse die frühe griechische Mathematik fast ausschließlich aus der späteren, aristotelisch-euklidischen Perspektive beschreiben. Damit aber sind, wie man fürchten muss, gerade die entscheidenden Informationen zur historischen Entwicklung verlorengegangen: Griechische Wissenschaftsgeschichtsschreibung sieht bekanntlich kein Problem darin, die Vergangenheit als kontinuierlich-lineare Entwicklung hin auf den gegenwärtigen Zeitpunkt zu beschreiben, und zwar unkritisch aus der Perspektive des Jetzt heraus. Welche generellen Probleme hieraus entstehen, demonstriert eine instruktive Parallele im Bereich der Philosophie, nämlich Aristoteles’ notorisches Referat der ihm vorangehenden griechischen Philosophie im ersten Buch der Metaphysik: Nicht nur sieht Aristoteles in sich selbst ihr natürliches, teleologisch gedeutetes Ziel und führt entsprechend selektiv die Doktrinen früherer Philosophen an, sondern er expliziert diese auch dezidiert in den eigenen || man also die Erfindung des Beweises in der Mathematik kulturgeschichtlich nicht allein den Griechen zuspricht, ist diese Frage für die folgenden Ausführungen insofern unerheblich, als der Fokus allein auf den Umständen der historischen Etablierung der spezifisch griechischen Form von Mathematik liegt und diese als solche allem Anschein nach eben unabhängig von anderen Kulturen erfolgte. 7 So pointiert Waschkies 2004, 3. Der schlechte Überlieferungszustand der Zeugnisse hat auch mit dem stark esoterischen Charakter griechischer Mathematik zu tun: siehe allgemein Netz 2002, Asper 2003a und Asper 2007, 147–173. Entsprechend gibt es eine Vielzahl von Theorien zur Entstehung der spezifisch griechischen Form von Mathematik; sie dürfen aber angesichts des Überlieferungsbefundes bis auf Weiteres als mehr oder weniger spekulativ gelten und wurden kontrovers diskutiert: vgl. exempli gratia Becker 1936b, van der Waerden 1956, Seidenberg 1961 (ritueller Ursprung im Orient), Szabó 1956 und Szabó 1978 (eleatische Philosophie, also im frühen 5. Jh. v. Chr.), Mittelstraß 1965 (ionische Naturphilosophie, speziell Thales, also frühes 6. Jh. v. Chr., wenn auch Vollendung mit Hippokrates und Euklid), Knorr 1981 (Beginn zur Zeit des Theaitetos, also frühes 4. Jh. v. Chr.), Waschkies 1989, 302–326, Fowler 1999 (aus der Proportionentheorie, spät im 4. Jh. v. Chr.), Netz 2004b (Ende 5. Jh. v. Chr. oder Anfang 4. Jh. v. Chr.) und Zhmud 2012 (frühpythagoreischer Ursprung).

4 | Einleitung

Begrifflichkeiten.8 Mit ähnlichen Schwierigkeiten muss man entsprechend auch im Bereich von Mathematik und Wissenschaft rechnen, insbesondere in Angesicht des Umstands, dass ein Großteil der relevanten Zeugnisse mittel- oder unmittelbar auf den Peripatos zurückgeht, nicht zuletzt auf die von Eudemos von Rhodos verfasste (und selbst nur in Fragmenten erhaltene) Geschichte der Geometrie.9 Ein instruktives Beispiel macht die Problemlage deutlich: Zahlreiche Testimonien weisen dem frühen griechischen Philosophen Thales in der ersten Hälfte des 6. Jhs. v. Chr.10 mehrere konkrete mathematische Erkenntnisse zu, unter anderem ein Theorem zu ähnlichen Dreiecken und die Einsichten, dass ein Kreis durch den Durchmesser halbiert wird, dass die Winkel an der Basis eines gleichschenkligen Dreiecks gleich groß sind und dass Scheitelwinkel gleich groß sind:11 [157] τὸ μὲν οὖν διχοτομεῖσθαι τὸν κύκλον ὑπὸ τῆς διαμέτρου πρῶτον Θαλῆν ἐκεῖνον ἀποδεῖξαί φασιν. – [250 f.] Τῷ μὲν οὖν Θαλῇ τῷ παλαιῷ πολλῶν τε ἄλλων εὑρέσεως ἕνεκα καὶ τοῦδε τοῦ θεωρήματος χάρις. λέγεται γὰρ δὴ πρῶτος ἐκεῖνος ἐπιστῆσαι καὶ εἰπεῖν, ὡς ἄρα παντὸς ἰσοσκελοῦς αἱ πρὸς τῇ βάσει γωνίαι ἴσαι εἰσίν, ἀρχαϊκώτερον δὲ τὰς ἴσας ὁμοίας προσειρηκέναι. – [299] Τοῦτο τοίνυν τὸ θεώρημα δείκνυσιν, ὅτι δύο εὐθειῶν ἀλλήλας τεμνουσῶν αἱ κατὰ κορυφὴν γωνίαι ἴσαι εἰσίν, εὑρημένον μὲν ὡς φησὶν Εὔδημος ὑπὸ Θαλοῦ πρώτου, τῆς δὲ ἐπιστημονικῆς ἀποδείξεως ἠξιωμένον παρὰ τῷ στοιχειωτῇ. – [352] Εὔδημος δὲ ἐν ταῖς γεωμετρικαῖς ἱστορίαις εἰς Θαλῆν τοῦτο ἀνάγει τὸ θεώρημα. τὴν γὰρ τῶν ἐν θαλάττῃ πλοίων ἀπόστασιν δι’ οὗ τρόπου φασὶν αὐτὸν δεικνύναι τούτῳ προσχρῆσθαί φησιν ἀναγκαῖον. [157] Dass der Kreis durch den Diameter zweigeteilt wird [sc. Euklid, Elem. 1, def. 17], soll jener Thales als erster gezeigt haben. – [250 f.] Dank gilt dem alten Thales für viele Entdeckungen, speziell aber auch für dieses Theorem [sc. Euklid, Elem. 1, 5]. Man sagt, dass er als erster gewusst und gesagt habe, dass also die Winkel an der Basis eines jeden gleichschenkligen Dreiecks gleich groß sind, auch wenn er in etwas altertümlicher Weise die gleich großen Winkel als ‚ähnlich‘ bezeichnet hat. – [299] Dieses Theorem [sc. Euklid, Elem. 1, 15] zeigt, dass, wenn sich zwei gerade Linien schneiden, die Scheitelwinkel gleich groß sind; es wurde, wie Eudemos sagt, zwar zuerst von Thales entdeckt, aber erst beim Autor der Elemente [sc. Euklid] einer wissenschaftlichen Demonstration für würdig erachtet. – [352] Eudemos führt in der Geschichte der Geometrie dieses Theorem [sc. Euklid, Elem. 1, 26] auf Thales zurück, denn er sagt, dass für die Art und Weise, wie

|| 8 Siehe Aristoteles, Metaph. 983a24–993a27 (A 3–10). Für einen Einblick in die Probleme siehe in Hinblick auf die Vorsokratiker zum Beispiel Frede 2004 und Barney 2012; exemplarisch zu Empedokles Primavesi 1998. Die Schwierigkeiten erstrecken sich selbstverständlich auch auf (unser Verständnis von) Aristoteles’ Platon-Verständnis: vgl. Cherniss 1945 und jüngst Steel 2012b. 9 Siehe fr. 133–149 Wehrli (S. 54–69 mit 114–121); hierzu Zhmud 2002. Zu Eudemos’ Leben und Werk siehe Gottschalk 2002 (Geburt wohl um 350 v. Chr.). 10 Die Datierung gibt Diogenes Laertios 1, 37 f. (= Diels & Kranz 11 A1 = Th 237 Wöhrle): Geburt im Jahr 624/3 v. Chr. (= Th 67 Wöhrle), Tod mit 78 (oder 79) Jahren in der 58. Olympiade (548–545 v. Chr.: Th 66 Wöhrle). Eine umfassende (und kritische) Diskussion der Zeugnisse zu Thales bietet Dicks 1959. 11 Proklos, in Euc. p. 157, 10 f. / p. 250, 20–251, 2 / p. 299, 1–5 / p. 352, 14–18 (= Diels & Kranz 11 A20 = Th 381–384 Wöhrle). Für einen Überblick zu Thales als Mathematiker siehe Heath 1921, 1, 128–140 (mit weiteren Zeugnissen); außerdem wurde Thales die Kenntnis zugeschrieben, dass Dreiecke im Halbkreis rechtwinklig sind: Diogenes Laertios 1, 24 f. (= Th 237 Wöhrle = Diels & Kranz 11 A1).

Griechische Mathematik: Perspektiven auf ihre Entwicklung | 5

er den Abstand von Schiffen auf dem Meer gezeigt haben soll, die Benutzung dieses Theorems notwendig sei.

Angesichts von Testimonien wie diesen ergibt sich das in Antike wie Moderne verbreitete Bild von Thales als demjenigen, der die Geometrie in Griechenland eingeführt hat und also der erste Mathematiker oder sogar Wissenschaftler des Abendlandes war.12 Dabei wird Thales in einem ungebrochenen Kontinuum von Euklid bis zurück zu den Ägyptern gesehen, von denen wiederum die Geometrie ursprünglich erfunden worden sei (Entsprechendes gilt für die Arithmetik, die auf die Phönizier zurückgeführt wird):13 ὥσπερ οὖν παρὰ τοῖς Φοίνιξιν διὰ τὰς ἐμπορείας καὶ τὰ συναλλάγματα τὴν ἀρχὴν ἔλαβεν ἡ τῶν ἀριθμῶν ἀκριβὴς γνῶσις, οὕτω δὴ καὶ παρ’ Αἰγυπτίοις ἡ γεωμετρία διὰ τὴν εἰρημένην αἰτίαν εὕρηται. Θαλῆς δὲ πρῶτον εἰς Αἴγυπτον ἐλθὼν μετήγαγεν εἰς τὴν Ἑλλάδα τὴν θεωρίαν ταύτην καὶ πολλὰ μὲν αὐτὸς εὗρεν, πολλῶν δὲ τὰς ἀρχὰς τοῖς μετ’ αὐτὸν ὑφηγήσατο, τοῖς μὲν καθολικώτερον ἐπιβάλλων, τοῖς δὲ αἰσθητικώτερον. In derselben Weise, wie bei den Phöniziern die genaue Kenntnis der Zahlen ihren Anfang nahm aufgrund von Handel und Verträgen, wurde auch bei den Ägyptern die Geometrie aufgrund der genannten Ursache [sc. der regelmäßigen Neuvermessung des Landes aufgrund der Nilschwemme] gefunden. Zuerst hat Thales im Zuge seiner Reise nach Ägypten diese Wissenschaft nach Griechenland gebracht. Vieles hat er selbst herausgefunden, und in vielem hat er denen nach ihm die Anfänge gewiesen, wobei er die einen Dinge in einer eher allgemeinen Weise, die anderen in einer eher perzeptuellen Weise anging.

Wenngleich sich hieraus ein prima vista plausibles Bild der Entwicklung der Mathematik in der frühen Zeit ergibt – nicht zuletzt wird mit der praktischen Landvermessung ein hinreichender Grund für die Erfindung einer Technik wie der Geometrie geliefert, die einen solchen Zusammenhang ja schon im Namen konserviert –, ergeben sich bei einem zweiten Blick Zweifel und Fragen. Sie beginnen damit, dass die Informationen zu Thales’ mathematischen Erkenntnissen und damit auch die Grundlage || 12 Siehe etwa Mittelstraß 1965; er stellt 417 mit Bezug auf Thales fest: „Mit der Realisierung theoretischer Sätze und der Möglichkeit des Beweises sind damit am Anfang des griechischen Denkens jene Entdeckungen gemacht, die für den dann faktisch erfolgten Aufbau der Wissenschaft von eminenter Bedeutung sind […]“ (meine Hervorhebung). Gleichwohl nimmt er für Thales noch nicht an, dass ein System logisch voneinander abhängiger Sätze vorlag; vielmehr charakterisiert er Thales’ Geometrie als „ein Stück logikfreier Elementargeometrie“ (420), in klarem Gegensatz zur späteren, ab Hippokrates gegen Ende des 5. Jhs. v. Chr. realisierten und insbesondere in Euklids Elementen fassbaren Geometrie. 13 Proklos, in Euc. p. 65, 3–11 (= Diels & Kranz 11 A11 = Th 380 Wöhrle). Zur Erfindung der Geometrie durch die Ägypter siehe insgesamt p. 64, 16–65, 7. Diese Auffassung findet sich auch bei anderen Autoren: vgl. Diogenes Laertios 1, 24 und schon Herodot 2, 109; vgl. Phdr. 274c–275d sowie Heron, Metr. 1, praef. p. 2, 1–11 und Deff. 136, 1 (= Th 92 Wöhrle). Siehe hierzu freilich Waschkies 2004, 4. Die bekannte Aristoteles-Stelle Metaph. 981b23–25 erklärt die Erfindung der Mathematik in Ägypten vor diesem Hintergrund offenkundig um der Pointe willen damit, dass die Priester genügend Muße hatten.

6 | Einleitung

der Bewertung seiner Bedeutung für die Entwicklung der Mathematik insgesamt offensichtlich nicht aus erster Hand stammen. Vielmehr spiegeln sie die Perspektive einer späteren Zeit wider, frühestens diejenige des späten 4. Jhs. v. Chr.: Die angeführten Zeugnisse stammen aus einem Kommentar des spätantiken Philosophen Proklos (5. Jh. n. Chr.) zum ersten Buch von Euklids Elementen;14 Proklos seinerseits zitiert in Bezug auf Thales’ mathematische Entdeckungen die Geschichte der Geometrie des Aristoteles-Schülers Eudemos von Rhodos; und diese operiert wiederum im Rahmen des aristotelisch-euklidischen Theorienbestandes.15 Im Ergebnis wird Thales von Proklos exakt dasjenige mathematische Wissen zugesprochen, von dem er gerade in seinem Euklid-Kommentar handelt, und zwar in mehr oder weniger exakt derselben Form wie bei Euklid. Nur in den seltensten Fällen scheinen Unterschiede auf, etwa in den zitierten Testimonien in terminologischer Hinsicht bezüglich der Bezeichnung von Winkeln als ‚gleich groß‘ oder ‚ähnlich‘.16 Doch diese Ausnahme bestätigt gerade den ersten Eindruck: Derartige Unterschiede werden von Proklos (und offenkundig Eudemos) nicht als etwas betrachtet, was einen Unterschied in der theoretischen Dimension ausmacht, sondern sie werden als unerheblich erklärt. Ob dies jedoch tatsächlich der Fall ist, ist für ein Verständnis von Thales’ Mathematik die zentrale Frage. Sie kann anhand der vorliegenden Zeugnisse nicht beantwortet werden: Wir verfügen über kein Originalmaterial von Thales (oder anderen Autoren seiner Zeit), und insbesondere sind von ihm keine mathematischen Schriften überliefert (wenn er denn überhaupt etwas publiziert hat).17 Eine unbefangene, auf sicheren Zeugnissen beruhende Beschreibung der voraristotelisch-voreuklidischen Mathematik ist in diesem Sinn ohne Weiteres nicht möglich. Freilich gibt es andererseits indirekte Indizien dafür, dass Thales’ Mathematik einen dezidiert anderen Charakter als die klassische griechische Mathematik gehabt haben könnte, nämlich einen genuin praktischen, in Entsprechung zu dem, was wir sonst über Thales (zu) wissen (meinen): So bezeugt Proklos, dass Eudemos Thales die Kenntnis eines Theorems (Euklid, Elem. 1, 26) deshalb zuweist, weil manche gesagt || 14 Proklos lebte von 412 n. Chr. bis 485 n. Chr.: siehe Morrow 1992, xl Anm. 6, auch Wildberg 2017; das relevante Zeugnis ist Marinos’ Vita Procli. Einen Überblick zu Proklos’ Kommentar gibt Morrow 1992, xlviii–lxvii; vgl. Ian Muellers Vorwort zur Neuauflage von Morrows Übersetzung (ix–xxxi). 15 Vgl. die kritische Diskussion bei Dicks 1959, 301–304. 16 Siehe von Fritz 1959, 48–56, speziell zum semantischen Gehalt dieser Begriffe (ἴσος bzw. ὁμοῖος), sowie Panchenko 1994, insbesondere 37–40. 17 Die communis opinio ist, dass Thales kein Buch geschrieben hat: siehe für eine Diskussion und Bewertung der Zeugnisse Kirk & Raven & Schofield 1983, 86–88; vgl. Dicks 1959, 298 f. Schon in der Antike gab es verschiedene Meinungen hierzu: vgl. Diogenes Laertios 1, 23 (= Th 237 Wöhrle = Diels & Kranz 11 A1). Siehe jedoch Asper 2007, 34 Anm. 170 und 107 f., besonders zur oben angesprochenen terminologischen Frage (dann mit Herkunft aus Περὶ τροπῆς καὶ ἰσημερίας, also einer Schrift mit astronomischem Inhalt); skeptischer Dührsen 2005, 84. Siehe insgesamt auch Dührsen 2013 und ausführlich Dührsen 2005, speziell zu Thales’ Geometrie. Für die Frage, ob Thales ‚Mathematik‘ betrieben hat, ist es freilich unerheblich, ob er Prosa-Werke ‚geschrieben‘ hat, wie Netz 2004b, 246 anführt.

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hätten, dass er es für bestimmte praktische Berechnungen habe kennen und nutzen müssen, konkret dafür, den Abstand eines Schiffes von der Küste zu berechnen (in Euc. p. 352, 13–18: siehe oben). Dies aber ist eine gänzlich andere Problemstellung, als sie uns in Euklids Elementen entgegentritt. So lässt sich die Meinung vertreten, Thales sei eigentlich überhaupt kein ‚Mathematiker‘ gewesen, sondern habe lediglich ein Interesse gehabt an der Bewerkstelligung von „various far from straightforward empirical feats of mensuration, without necessarily stating the geometry that lay behind them“.18 Aus diesem Grund wird der Beginn der griechischen Mathematik Thales mitunter ab- und, da für spätere Mathematiker Ähnliches festgestellt werden kann, Hippokrates von Chios zugesprochen, also gewöhnlich auf etwa 430 v. Chr. datiert.19 Das Problem ist freilich nicht nur, dass Thales schon in Aristophanes’ Vögeln, also im Jahr 414 v. Chr., einer athenischen Zuschauerschaft als prototypischer Geometer gilt (Av. 992–1020, speziell 1009 = Th 18 Wöhrle),20 sondern auch, dass ihm von Proklos (und also Eudemos) an zumindest einer der zitierten Stellen ein ‚Beweis‘ (ἀπόδειξις, im Zitat das Verb ἀποδεῖξαι: in Euc. p. 157, 10 f.) eines allgemeingültigen mathematischen Zusammenhangs zugesprochen wird, und zwar der Einsicht, dass

|| 18 So Kirk & Raven & Schofield 1983, 86; vgl. Netz 1999a, 272–275; für eine mögliche Rekonstruktion der Messverfahren siehe Dührsen 2005, 86–88. Vgl. den parallelen Fall von Thales’ Beitrag zur Entwicklung der Astronomie: siehe Graham 2013, 46–58 (mit 16–18) mit detaillierter Analyse zu jeder einzelnen mutmaßlichen Erkenntnis. Zum praktischen Charakter vgl. Diels & Kranz 11 A20 (= Proklos, in Euc. p. 352, 13–18 = Th 384 Wöhrle) und A21 (= Plinius, HN 36, 82 = Th 107 Wöhrle und Plutarch, Septem sapientium convivium 147A = Th 119 Wöhrle), zu Thales’ ‚Weisheit‘ Diels & Kranz 11 A6 (= Herodot 1, 75 = Th 11 Wöhrle), A17 (= Derkyllides bei Theon von Smyrna p. 198, 14 = Th 167 Wöhrle) sowie A1 (= Diogenes Laertios 1, 23 = Th 237 Wöhrle), A10 (= Aristoteles, Pol. 1259a5–18 = Th 28 Wöhrle), A5 (= Herodot 1, 74 = Th 10 Wöhrle). Auch wenn die Halys-Anekdote (freilich eine der frühesten ThalesZeugnisse überhaupt) gegebenenfalls nicht historisch akkurat ist (Zweifel schon beim bezeugenden Herodot; vgl. McKirahan 1994, 23; anders Graham 2004, doch ebenfalls skeptisch, wenn auch ausschließlich wegen der politischen Zusammenhänge), bestätigt ihre bloße Existenz den vorgebrachten Eindruck. Vielleicht war Thales also doch nur ein typischer ‚Weiser‘ seiner Zeit, der sich vor allem durch praktische ‚Klugheit‘ auszeichnete? Vgl. R. 600a4–6 (= Th 22 Wöhrle), mit dem Äquivalent Anacharsis für den nichtgriechischen Kulturbereich; siehe Dicks’ 1959, 297 f. Fazit zum Thales-Bild vor ca. 320 v. Chr. Ähnlich Hahn 1987, insbesondere 115; vgl. Asper 2007, 170. Ein mutatis mutandis ähnlicher Fall könnte bei Hippias von Elis vorliegen: siehe unten Anm. 55. 19 Siehe Netz 1999a, 275; Netz 2004b datiert den eigentlichen Beginn der griechischen Fachmathematik sogar erst auf den Beginn des 4. Jhs. v. Chr. Asper 2007, speziell 98, verbindet die verschiedenen Datierungen dahingehend, dass entsprechend den anfangs zitierten drei Charakteristika der griechischen Mathematik der erste Schritt mit Thales, der zweite mit Hippokrates und der dritte zwischen Hippokrates und Platon realisiert worden sei. Zu Hippokrates siehe knapp M. Folkerts, Art. „Hippokrates [5]“, DNP 5, 587–590 und ausführlicher Björnbo 1913 sowie Netz 2004b, zur Datierung auch Asper 2007, 101 Anm. 51 (mit weiterer Literatur). Alternativ wird der Beginn (unter anderem) auf die erste Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. bestimmt, sei es auf die frühe Arithmetik (Becker 1936b) oder die eleatische Philosophie (Szabó 1978); bis Burkert 1962 galt auch Pythagoras als Begründer der Mathematik (neuerdings wieder Zhmud 2012; vgl. unten Anm. 52). Vgl. oben Anm. 7. 20 Zum Aufführungsjahr der Vögel siehe Dunbar 1995, 1.

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der Durchmesser den Kreis in zwei Hälften teilt.21 Thales wäre dann nicht nur an der Bewältigung praktischer Probleme interessiert gewesen, sondern auch am Aufzeigen der Richtigkeit seiner Lösungen, und diese hätten sich geometrischer Mittel bedient. So könnte Eudemos mit seiner Interpretation der Zusammenhänge doch das Richtige getroffen haben: Was wäre schließlich der hinreichende Grund, Thales Einsichten in allgemeine Eigenschaften von mathematischen Objekten wie Dreiecken und Kreisen abzusprechen, wenn er diese intersubjektiv nachvollziehbar argumentativ hergeleitet oder sogar ihre Richtigkeit plausibel aufgezeigt hätte, etwa mit der Hilfe von Kongruenz- und / oder Symmetriebetrachtungen?22 Und wäre ein solcher Beweis nicht auch ‚euklidisch‘, insofern es ja einerseits auch in Euklids Elementen um dieselben Objekte und Eigenschaften geht und insofern sich auch dort, wenn auch nur mehr in einigen wenigen Propositionen, noch dieselbe Methode des Kongruenzbeweises findet?23 Oder würde es andererseits vielleicht doch einen Unterschied machen, zu welchem Zweck Thales diese Überlegungen angestellt hätte? Hätte er denn überhaupt eine ‚euklidische‘ Einsicht gehabt, wenn er sie bloß en passant entwickelt hätte, um sein praktisches Vorgehen zu legitimieren; wenn es ihm also primär nur um die Entfernung des Schiffs gegangen wäre und nicht um das Dreieck selbst? Und dürfen wir in diesem Zusammenhang denn annehmen, er habe so etwas wie einen Begriff von einem ‚mathematischen‘ Dreieck oder Kreis gehabt? Schließlich ist denkbar, dass er sein Argument an einem beliebigen kreisförmigen Gegenstand wie einem Diskos entwickelt hat, möglicherweise mit dem alleinigen Zweck, eine Aussage über die Gleichheit von zwei Diskoshälften zu machen, wenn man den Diskos durch den Mittelpunkt teilt. Wäre dies ein ‚euklidischer‘ Beweis oder ein Äquivalent? Verfügte Thales damit schon über ‚mathematisches‘ Wissen – und war dies denn überhaupt sein Ziel? Und wie hätten wir uns in diesem Zusammenhang schließlich vorzustellen, dass Thales manche mathematischen Sachverhalte „in einer eher allgemeinen Weise“ und andere „in einer eher perzeptuellen Weise“ aufzeigte? Ohne authentisches und direktes Quellenmaterial lassen sich diese Fragen nicht beantworten. Die Situation ist aporetisch: Auch wenn unstrittig sein dürfte, dass Tha|| 21 Anders Dicks 1959, 301–304; siehe besonders zum zweiten Punkt Asper 2007, 107 f. Anm. 102. Im literarischen Bereich findet sich dieses mathematische Thales-Bild speziell bei Kallimachos: fr. 151, 52–63 Asper (= Diels & Kranz 11 A3a = Th 52 Wöhrle). 22 Vgl. Mittelstraß 1965: siehe oben Anm. 12. 23 So notorisch in Euklid, Elem. 1, 4 und 1, 8. Zum Bezug zu Thales siehe von Fritz 1955, 76–80, insbesondere 77 f., der alle für Thales bezeugten Sätze als durch die Kongruenzmethode bewiesen ausweist und zu dem Schluss kommt, dass die Methode „am ersten Anfang der griechischen Mathematik gestanden“ habe (77); vgl. ausführlich von Fritz 1959. Siehe speziell zu Thales auch Gladigow 1968 und Dührsen 2005, 88–91 (auch zum inneren Zusammenhang der Thales von Eudemos zugeschriebenen Einsichten in dieser Hinsicht). In der Tat erweist sich diese Methode noch in Euklids Elementen als grundlegend und unverzichtbar, und zwar in einem umfassenderen Sinn, als gemeinhin gesehen wird: siehe unten Anm. 340. Die (angewandte) Kongruenzmethode findet sich im Übrigen auch im Beweis in der chinesischen Mathematik: siehe Chemla 2003.

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les in irgendeiner Weise mit Mathematik verbunden war, ist der Versuch, sein genaues Verhältnis zu ihr und seinen konkreten Beitrag zu ihrer Entwicklung genauer bestimmen zu wollen, spekulativ und auf eine Vielzahl unbewiesener A-priori-Annahmen angewiesen.24 Ähnliches gilt mutatis mutandis für die gesamte frühe griechische Mathematik: Wie bei Thales liegen zwar (mehr oder weniger spärliche) Zeugnisse vor, diese Zeugnisse stammen aber fast ausnahmslos aus einer sehr viel späteren Zeit und sind in der Regel in den aristotelisch-euklidischen Begrifflichkeiten ihrer eigenen Zeit verfasst. Dies gilt unglücklicherweise nicht zuletzt für dasjenige Testimonium, das weithin als das allererste Zeugnis griechischer Mathematik überhaupt gilt, den Versuch des Hippokrates von Chios, den Kreis (tatsächlich nur „Möndchen“) zu quadrieren; auch dieses Zeugnis liegt nur in einer (wenn auch umfangreichen und abermals auf Eudemos zurückgehenden) Wiedergabe aus euklidischer Perspektive beim spätantiken Philosophen Simplikios (6. Jh. n. Chr.) vor, und die Originalform selbst kann nicht mehr rekonstruiert werden.25 In diesem Sinn ließen sich ferner auch die Lösungsversuche zu anderen zentralen Fragen der frühen griechischen Mathematik anführen, neben der Quadratur des Kreises etwa die Dreiteilung des Winkels oder die Verdoppelung des Würfels, das sogenannte Delische Problem.26 || 24 Vgl. Dührsen 2005, 91–93. 25 Die Passage ist überliefert bei Simplikios (in Ph. p. 53, 26–69, 34); zum Text und seinem (umstrittenen) Verständnis siehe Netz 2004b sowie Rudio 1907, Becker 1936a und Lloyd 1987; vgl. Asper 2007, 110 f., insbesondere 110 Anm. 117: Überliefert sei „eindeutig Eudemos’ Paraphrase, die κατὰ τὸν ἀρχαϊκὸν τρόπον abgefaßt sei und die Simplikius deshalb anreichert, nicht der Hippokratestext selbst“. Zur Vorsicht mahnt auch Waschkies 2000b, 38 Anm. 10: „Das umfangreiche ‚Möndchenfragment‘ […] ist […] eine späte Quelle, deren Überlieferungswert nicht diskussionslos als gegeben betrachtet werden darf, weil sie nur in einem Kommentar zur Physik des Aristoteles erhalten ist, den Simplikios bald nach 533 n. Chr. schrieb“. Dies entspricht dem Ergebnis von Netz’ 2004b, 269 eingehender Analyse: „[…] whatever the lettered [sc. ‚euklidische‘: siehe unten Kap. 3] layer of the text is, it is not a verbatim quotation from Hippocrates. Everything points in the other direction – that it [is] Eudemus’ own modernized version of Hippocrates’ proof (whatever that may have looked like).“ In diesem Sinn stellt Netz in Frage, ob man denn tatsächlich Hippokrates als ersten Fachmathematiker ansehen dürfe oder ob er nicht primär an kosmologischen Fragen interessiert gewesen sei, für deren Beantwortung (proto-) ‚mathematische‘ Probleme lediglich von einer gewissen, untergeordneten argumentativen Relevanz waren – welche dann wiederum zu späterer Zeit (etwa im Peripatos) rückwirkend als genuin ‚mathematisch‘ gedeutet wurden (vgl. unten Kap. 5.2.1). Gewöhnlich wird auf Hippokrates unkritisch der Zustand der späteren euklidischen Mathematik zurückprojiziert: vgl. van der Waerden 1978, der ihm die ersten vier Bücher von Euklids Elementen in eben dieser Gestalt und Formulierung zuweist. 26 Es handelt sich um die drei sogenannten ‚klassischen‘ Probleme der griechischen Mathematik; siehe Becker 1966, 74–102. Zur Quadratur des Kreises siehe den Überblick bei Heath 1921, 1, 220–235 sowie Knorr 1986, 25–39 und 76–86; zur Dreiteilung des Winkels siehe Heath 1921, 1, 235–244; zur Verdoppelung des Würfels siehe Heath 1921, 1, 244–270 und für weitere Literatur ausführlich unten Kap. 5, speziell die Einführung. An dieser Stelle hinzuweisen ist auf zwei weitere frühe Versuche der Quadratur des Kreises, zum einen die des Antiphon, eines Zeitgenossen des Hippokrates (Diels & Kranz 87 A13 = Aristoteles, Ph. 185a14–20 mit Simplikios, in Ph. p. 54, 20–55, 24; außerdem Themis-

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Insgesamt stellt sich die mathematikgeschichtliche Situation hinsichtlich der frühesten Zeit in Griechenland wie folgt dar: Zwar sind einerseits Zeugnisse verfügbar, und diese scheinen mittelbar einen Einblick in das fachmathematische Wissen liefern zu können (wenn auch nur in Hinblick auf wenige ausgewählte mathematische Erkenntnisse); andererseits sind aber alle diese Zeugnisse aufgrund ihrer spezifischen Beschaffenheit für die Beantwortung der hier aufgeworfenen methodologischen Frage weitgehend wertlos. Weil sie aus der Perspektive des (mit Thomas Kuhn gesprochen) wissenschaftlichen Paradigmas der euklidischen Mathematik verfasst sind, erlauben sie keine Antwort auf die Frage, wie sich die Entwicklung zu diesem Paradigma hin vollzogen hat und also wie man sich speziell den vorparadigmatischen Zustand (oder gegebenenfalls das vorangehende Paradigma) vorstellen muss.27 Im Gegenteil verleiten die Zeugnisse – und zwar, wie gesehen, gegebenenfalls schon zu einem Zeitpunkt kurz nach der Abfassungszeit der ersten verfügbaren Manifestationen des genuin wissenschaftlichen, das heißt ‚euklidischen‘ Paradigmas – dazu, den späteren Zustand auf die früheren Zeiten insgesamt zurückzuprojizieren,28 und es ist nicht möglich zu überprüfen, ob dies gerechtfertigt war oder nicht. Eine methodologisch abgesicherte Antwort ist jedoch erforderlich: Schenkt man in irgendeiner Hinsicht den Zeugnissen Glauben, Mathematik in Griechenland sei ursprünglich unter dem Einfluss der Ägypter entstanden (und sei es nur in dem Sinn, dass die Zeugnisse aus der subjektiven griechischen Perspektive eine sachliche Konvergenz zweier objektiv nicht genetisch verbundener Phänomene widerspiegeln), stellt sich die Frage, wann und wie genau die griechische Mathematik ihre von Euklids Elementen repräsentierte klassische axiomatisch-deduktive universal-empirieunabhängige Form aus einem Zustand heraus entwickelt haben könnte, der selbst offensichtlich weder axiomatisch noch deduktiv noch universal noch empirieunabhängig war, sondern auf der Grundlage praktischer Rezepte operierte, die in der Form einzelner Fallbeispiele Muster dafür an die Hand gaben, wie bestimmte mehr oder weniger einfache mathematische Probleme der Praxis gelöst werden konnten.29 Diese Frage lässt sich anhand des direkten Quellenmaterials selbst nicht beantworten. || tios, in Ph. p. 4, 2–8; Philoponos, in Ph. p. 31, 1–32, 3; siehe Heath 1949, 94–97), zum anderen die des eine Generation später zur Zeit des (wohlgemerkt) Aristoteles lebenden Bryson (Aristoteles, APo. 75b37–76a3 mit Themistios, in APo. p. 19, 11–20; Philoponos, in APo. p. 111, 19–114, 17; siehe Heath 1949, 47–50, auch Detel 1993, 2, 207–215); zu beiden Versuchen der Kreisquadratur siehe Wasserstein 1959. Zum Status des Delischen Problems als eines ‚klassischen‘ Problems vgl. jedoch unten Kap. 5. 27 Siehe Kuhn 1996, insbesondere 25–36; zur Frage einer Kuhnschen Perspektive auf die Mathematik vgl. unten mit Anm. 120 und Anm. 122. 28 Ganz im Sinn der generellen ahistorischen Perspektive der antiken Wissenschaft auf den ‚Fortschritt‘: siehe Asper 2013, besonders 415 f. zu Proklos’ Euklid-Kommentar („In the catalogue’s view, there are no revolutions, detours, or dead-ends in mathematics, nor periods of stagnation“ [416]). 29 Auch wenn der Befund stark darauf hindeutet, dass es in der Tat einen ägyptisch-babylonischen Ausgangspunkt der (insbesondere griechischen) Tradition von Mathematik (und Wissenschaft) gab (siehe Asper 2007, 377–381, auch Waschkies 1989, 302–326 sowie Neugebauer 1969, 145–190 in Ver-

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Klärend ist in dieser Hinsicht unglücklicherweise auch nicht die wichtige Information, dass die ersten ‚Elemente‘ – also der erste Vertreter derjenigen Gattung, in deren Tradition auch Euklids Elemente stehen – um das Jahr 430 v. Chr. von Hippokrates von Chios verfasst worden seien.30 Das relevante Zeugnis kommt abermals aus Proklos’ Euklid-Kommentar, und zwar aus dem sogenannten Mathematikerkatalog, einer knappen Skizze der Geschichte der Geometrie bis Euklid, die auf Eudemos von Rhodos zurückgeht und aus der auch das zuletzt angeführte Zitat zu Thales stammt:31 Nach dessen Nennung führt Proklos die Mathematiker Mamerkos (oder Ameristos; des Dichters Stesichoros Bruder), Pythagoras, Anaxagoras und Oinopides an,

|| bindung mit Rowe 2016), sind die tatsächlichen historischen genetischen Verhältnisse hier unerheblich: Grundsätzlich, so Asper 2007, 207 f., „handelt es sich bei der euklidischen Tradition […] um […] ein Differenzierungsprodukt […]. Neben dieser und unabhängig von ihr muß es lange, wahrscheinlich immer, eine Praktikertradition gegeben haben“ – und gerade diese ist es, die generisch in der ägyptischen oder babylonischen Mathematik fassbar wäre (siehe auch Asper 2003a, 1–5; vgl. Asper 2003b, 9–11). Die Frage ist also nicht, ob wir „Egyptian land measurement as the origin of Greek geometry“ fassen sollen (so Fowler 1999, 279–283 mit einer negativen Antwort aufgrund des aus transparenten Gründen fehlenden Materials und aus Plausibilitätserwägungen), sondern ob es in Griechenland eine ‚Landvermessung‘ gab, die der ägyptischen sachlich ähnlich war und im Nachhinein von den Griechen selbst als möglicherweise in einem genetischen Zusammenhang mit jener stehend gedeutet werden konnte. Genau dies ist aber der Fall (zum Vorhandensein einer solchen ‚Landvermessung‘ vgl. erneut exempli gratia Aristophanes, Av. 992–1020). Dieser Zusammenhang wird im Übrigen von Netz 2004b, 246–248 übersehen, wenn er feststellt, dass „there was no Greek pre-scientific mathematical techne“ (247), mit der (historisch willkürlichen) Folgerung, dass „whatever the first communication act containing Greek mathematical knowledge was, it included something worth communicating, something impressive and surprising“ (Netz 1999a, 273; siehe hierzu jedoch Asper 2003b, 9–11). Zum praktischen Charakter der ‚ägyptisch-babylonischen‘ Formen von Mathematik siehe van der Waerden 1956, 23–130, Waschkies 1989, Waschkies 1993, Høyrup 2002, Imhausen 2003 und Waschkies 2004, insbesondere 11: „Babylonian scribes knew how to use mathematical knowledge corresponding to general premises […] to justify their methods for solving sets of problems they solved in all generality by applying them to special configurations. However, they never stated these premises in the form of general propositions nor did they formulate the problems they solved in all generality by applying generally valid methods, as the Greeks later did.“ Dies wäre entsprechend das Kriterium für ‚Wissenschaftlichkeit‘: siehe oben Anm. 12; vgl. Asper 2007, 94–96 (mit Beispielen) und 377–381, speziell 96 Anm. 20 zum auch hier im Weiteren erfolgenden nicht genauer differenzierenden Bezug auf ‚ägyptisch-babylonische‘ Mathematik: Dies „meint […] nicht eine inhaltliche, d. h. mathematische, Identität beider Mathematiken oder eine Abstammungshypothese […], sondern einfach die frappierende Ähnlichkeit der Texte beider Mathematiken, die sie beide in einen gleichgearteten Gegensatz zur griechischen Mathematik bringt. Für sich genommen bestehen zwischen beiden deutliche Unterschiede“; zum letzten Punkt knapp Asper 2007, 208 Anm. 771. Der Unterschied zur griechischen Mathematik zeigt sich speziell auch in den verwendeten Diagrammen: siehe Waschkies 2004, 9–11 und allgemein De Young 2009; vgl. exempli gratia den Papyrus Rhind (siehe Robins & Shute 1987). 30 Eine Analyse zur Gattung der ‚Elemente‘ und ihrer Entwicklung gibt Asper 2007, 94–212; siehe 97 für einen Überblick über die erhaltenen Werke. Speziell zu Hippokrates siehe Netz 2004b. 31 Die Stelle zu Thales ist in Euc. p. 65, 3–11. Zu Eudemos als Quelle siehe Zhmud 1998, speziell 219– 234; alternativ wurde Philippos von Opus vorgeschlagen (Lasserre 1987, 613–615); vgl. unten Anm. 54.

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ἐφ’ οἷς Ἱπποκράτης ὁ Χῖος ὁ τὸν τοῦ μηνίσκου τετραγωνισμὸν εὑρών, καὶ Θεόδωρος ὁ Κυρηναῖος ἐγένοντο περὶ γεωμετρίαν ἐπιφανεῖς. πρῶτος γὰρ ὁ Ἱπποκράτης τῶν μνημονευομένων καὶ στοιχεῖα συνέγραψεν. nach denen Hippokrates von Chios, der Entdecker der Quadratur der Möndchen, und Theodoros von Kyrene in der Geometrie hervorgetreten sind. Zuerst nämlich hat Hippokrates von denjenigen, an die man sich erinnert, ‚Elemente‘ verfasst.32

In der Folge bezeugt Proklos für die Zeit vor Euklid weitere derartige ‚Elemente‘ für die (sonst nicht weiter bekannten) Autoren Leon, einen etwas älteren Zeitgenossen von Eudoxos und also geboren wohl um oder kurz nach 400 v. Chr., und Theoudios, nach den Eudoxos-Schülern Menaichmos und Deinostratos genannt und also angesichts der chronologischen Reihenfolge des Katalogs etwa auf die Mitte des 4. Jhs. v. Chr. anzusetzen.33 Gegebenenfalls ist auch ein Hermotimos in diese Liste aufzunehmen, auch wenn Proklos hier nicht ausdrücklich feststellt, dass er ‚Elemente‘ verfasst habe, sondern lediglich vermerkt, dass er „viele ‚Elemente‘ gefunden“ habe (in Euc. p. 67, 20 f.: τῶν στοιχείων πολλὰ ἀνεῦρε). Die letzte Formulierung weist darauf hin, dass das Wort ‚Elemente‘ für Eudemos (als Proklos’ Quelle) nicht nur eine Gattungsbezeichnung ist, sondern auch gleichbedeutend mit dem Terminus ‚Theoreme‘ (θεωρήματα) verwendet wurde, und zwar offensichtlich unabhängig von deren etwaiger Einbettung in eine deduktive Struktur.34 In diesem Sinn könnten also für Eudemos die ‚Elemente‘ (unabhängig von allen weiteren, auch objektiven Gattungsmerkmalen)35 primär lediglich Sammlungen von einzelnen mathematischen Theoremen gewesen sein.36 Wenn aber dies tatsächlich das entscheidende Kriterium für Eudemos dafür gewesen sein sollte, dass er die vorgefundenen frühen Schriften „so ähnlich fand, daß er sie im Rückblick selbstverständlich mit diesem Namen belegt“,37 könnte es zugleich der Fall sein, dass sich die im

|| 32 Proklos, in Euc. p. 66, 4–8, die anderen Mathematiker p. 65, 11–66, 4; der gesamte Mathematikerkatalog findet sich p. 64, 16–68, 23 (= Eudemos, fr. 133). 33 Zu Leon siehe Proklos, in Euc. p. 66, 20–22: ὥστε τὸν Λέοντα καὶ τὰ στοιχεῖα συνθεῖναι τῷ τε πλήθει καὶ τῇ χρείᾳ τῶν δεικνυμένων ἐπιμελέστερον („so dass Leon ‚Elemente‘ verfasst hat, und zwar in einer gründlicheren Weise hinsichtlich der Menge und der Nützlichkeit der bewiesenen Sachverhalte“); zu Eudoxos’ Lebensdaten siehe unten Anm. 547. Zu Theudios siehe Proklos, in Euc. p. 67, 14 f.: τὰ στοιχεῖα καλῶς συνέταξεν („er hat die ‚Elemente‘ in schöner Weise zusammengestellt“). 34 Dies entspräche der dann zu Hermotimos parallelen Beschreibung in Bezug auf Eudoxos (in Euc. p. 67, 4) sowie gleichfalls Leodamas, Archytas und Theaitetos (in Euc. p. 66, 14–18). Vgl. Proklos’ Diskussion des Wortes στοιχεῖον in in Euc. p. 72, 23–73, 14; er unterscheidet zwei Verwendungsweisen: das Theorem, das Grundlage eines anderen Theorems ist; und eine axiomatische Setzung, für die dasselbe gilt; insofern wäre eine andere Wortverwendung für Proklos und Eudemos festzustellen. Zu Leodamas und Archytas an dieser Stelle vgl. Asper 2007, 109 Anm. 116. 35 Siehe Asper 2007, 104–135. 36 Vgl. Asper 2007, 99. 37 Asper 2007, 109 mit Anm. 116.

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Mathematikerkatalog in eine chronologische Reihenfolge gebrachten Schriften zwar nicht hierin, aber eben doch in anderen Aspekten von Euklids Elementen und auch untereinander sehr wohl unterschieden. Insbesondere müsste die Möglichkeit eingeräumt werden, dass diese ‚Elemente‘ nicht in ein und derselben Form nach dem Muster von Euklids Elementen axiomatisch-deduktiv organisiert gewesen sein könnten.38 In der Tat legt ja gerade die Bezeichnung als ‚Elemente‘39 nicht nur wie hier durch Proklos und Eudemos, sondern auch in ihrem sprachlichen Ursprung – das Wort στοιχεῖον (‚Element‘) ist wohl „eine Metapher aus dem Ingenieurswesen […], die ursprünglich eine Reihe von Peilstöcken bezeichnet“ hat, und zumindest beinhaltet es den Aspekt des „Unableitbaren“40 – nahe, dass am Ursprung der Gattungsgeschichte eine Unabhängigkeit und fehlende Systemhaftigkeit der Einzelerkenntnis vorgelegen haben könnte, diese sich also erst zu einem späteren Zeitpunkt eingestellt hätte.41 In diesem Fall dürften wir jedoch nicht von vornherein annehmen, dass die späteren ‚Elemente‘ jeweils direkte ‚Überarbeitungen‘ älterer, einfacherer Fassungen von ‚Elementen‘ waren, mithin mit jedem Schritt eine umfassendere und sicherere Darstellung ein und desselben Propositionsbestandes erfolgte; dies wäre ja auch nur dann sinnvoll, wenn jeweils dasselbe, wenngleich immer weiter zu vervollständigende sachliche Ganze zugrunde läge.42 Und wichtiger noch: Für die frühe griechische || 38 Der deduktive Aufbau zeigt sich in Euklid Elementen prominent im ersten Buch, während sich die anderen Bücher mitunter weniger streng in diesem Sinn präsentieren; in jedem Fall ist ein mit der deduktiven Struktur konkurrierendes inhaltlich orientiertes Ordnungsprinzip am Wirken: siehe Asper 2007, 99 Anm. 37 (mit weiterer Literatur) und umfassend Mueller 1981; vgl. unten Anm. 42. Für eine Dokumentation der geschichtlichen Dimension der axiomatischen Fundierung (unter Absehung der Definitionen) von Euklids Elementen von der Antike bis in die Moderne siehe De Risi 2016; vgl. Mueller 1991c für Einblicke in die voraristotelisch-voreuklidische Zeit. 39 Die ja zumindest auf die Zeit der älteren Akademie zurückzugehen scheint: so Asper 2007, 100 f. anhand der zu Proklos ähnlichen pseudo-platonischen Definition (Def. 20, 411c11); er zeigt S. 103 f. mit Verweis auf Metaph. 1014a35–b2, dass die Bezeichnung voraristotelisch ist. Man beachte die Notiz bei Proklos (in Euc. p. 72, 23 f.), dass die Bedeutung des Wortes στοιχεῖον von Menaichmos diskutiert worden sei (und zwar in seinem eigenen Sinn): vgl. Asper 2007, 105 mit Anm. 90 sowie oben Anm. 34. 40 Asper 2007, 100 als Wiedergabe von Burkert 1982, 135 f.; noch anders Burkert 1959. Insgesamt zur Wortgeschichte siehe Asper 2007, 98–100 (mit alternativen Erklärungen zur Verwendung im mathematischen Kontext, speziell in Analogie zur Reihe von Buchstaben oder zu ‚chemischen‘ Elementen). 41 Dies wäre um so plausibler, wenn die mathematischen ‚Elemente‘ historisch ihren Anfang in Analogie zu diskreten Sammlungen von Gesetzen genommen haben; diesen Ursprung (oder zumindest Hintergrund) macht Asper 2007, 173–196 glaubhaft (man beachte die Diskussion von Proklos’ Mathematikerkatalog: 177 f.); vgl. schon Asper 2001. 42 Selbstverständlich ungeachtet des Umstands, dass es aufgrund des Materials selbst natürlich immer Überschneidungen zwischen verschiedenen ‚Elementen‘-Schriften gegeben haben wird; zu diesem Punkt siehe Asper 2007, 106 f. und 177 f. (Letzteres mit Verweis auf die aus Proklos’ Perspektive gegebene Diskretheit und Unabhängigkeit des Einzelsatzes in seinem Referat der Gattungsgeschichte der ‚Elemente‘). Das Vorhandensein von Überschneidungen an sich impliziert jedoch nicht, dass die einen ‚Elemente‘ Überarbeitungen der vorangehenden ‚Auflage‘ der ‚Elemente‘ waren. Eine solche Annahme ist oftmals implizit oder explizit in denjenigen Studien unterstellt, die den voreuklidischen

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Mathematik wäre dann evident ebenso noch nicht charakteristisch, eine ‚Theorie‘ im Sinn von Euklids Elementen zu sein, also ‚Satzsysteme‘ von „allgemeinen, d. h. beweisbaren, Sätzen“, sondern es handelte sich vielmehr um bloße ‚Satzsammlungen‘. Aus dieser Perspektive spräche nun freilich nichts dagegen, dass es sich konkret um Satzsammlungen von „fallbezogenen Rechenvorschrift[en]“43 gehandelt haben könnte, entsprechend der griechischen Perspektive auf die Herausbildung der eigenen Mathematik ganz so wie in der ägyptisch-babylonischen Mathematik. Einer solchen Annahme stehen weder (wie gesehen) das Material noch die chronologischen Parameter der geschichtlichen Entwicklung entgegen. Vielmehr zeigt sich eine gewisse sachliche Plausibilität: Könnte nicht auch die mathematische Einzelerkenntnis selbst, das ‚Element‘, gerade im Prozess der axiomatischen Begründung und Einbettung in eine deduktive Struktur – also durch die Erfindung der mathematischen ‚Theorie‘ im eigentlichen Sinn – nicht in einem genuinen Rückkopplungsprozess seine Gestalt substantiell geändert haben?44 Und wäre es dann nicht wahrscheinlich, dass sich ein solches Ereignis tatsächlich erst zu einem relativ späten Zeitpunkt vollzogen hätte? Zumindest lässt sich beobachten, dass sich Mathematik in Form authentischer Zeugnisse aus erster Hand bis spät ins 5. und sogar 4. Jh. v. Chr. hinein – und danach noch weiter in zahlreichen, auch schriftlichen Ausprägungen bis in die Kaiserzeit und || Theorienbestand zu rekonstruieren suchen, sei es mit Bezug auf die bekannten Einzeltheoreme, sei es mit Bezug auf die axiomatische Fundierung oder das deduktive Satzsystem; vgl. Waschkies 1995, 113: Es „geht aus dem Geometerverzeichnis des Proklos hervor, daß Hippokrates von Chios um 430 v. Chr. das erste mathematische Lehrbuch mit dem Titel ‚Elemente‘ schrieb, dessen überarbeitete Neuauflagen von Leon […], von Theudios aus Magnesia […] und schließlich von Euklid besorgt worden sind.“ Diese Annahme ist schon insoweit zweifelhaft, als speziell Euklids Elemente (also die einzig direkt fassbaren frühen ‚Elemente‘ überhaupt) nicht nur deduktiv aufgebaut sind, sondern im Großen und Ganzen auch einen spezifischen Zielpunkt haben, die regulären Körper (vgl. insgesamt Mueller 1981, insbesondere die Zusammenfassung 301 f.; siehe schon Proklos, in Euc. p. 68, 20–23). In jedem Fall sind nicht selten auch die einzelnen Bücher in ihrer Struktur auf den Beweis eines bestimmten Satz(gefüg)es ausgerichtet, etwa Buch 1 auf den sogenannten Satz des Pythagoras in Euklid, Elem. 1, 47 f. (sieht man von nebenbei bewiesenen Umkehrungen einzelner Sätze etc. ab). Nicht einmal für Euklids Elemente gilt also, dass „these works are sequential arguments predicated on the analysis of a subject-matter into its ultimate components“ (Bowen 1982, 87; meine Hervorhebung). Wie hätte man sich also a fortiori in dieser Hinsicht Hippokrates’ Elemente konkret vorzustellen? Auf den wichtigen Umstand, dass die Gattung ‚Elemente‘ ursprünglich (und nicht im neuplatonischen Kontext) keinen Lehrbuch-Charakter hatte, weist im Übrigen Asper 2007, 97 f. hin; vgl. 99: „Die geläufige Bezeichnung etwa der euklidischen Elemente als ‚Schulbuch‘ hat nur insofern Berechtigung, als sie der Abgrenzung gegen Normvorstellungen moderner mathematischer Forschungsliteratur dient“. 43 Zu dieser Unterscheidung siehe Asper 2007, 95 f. (die Zitate 96). 44 Siehe Mittelstraß 1965; exemplarisch sei Waschkies 1971, 325 angeführt, der unter Berufung auf Mittelstraß „in der Entwicklung der griechischen Geometrie zwei Phasen“ unterscheidet: „Im Verlauf der ersten, die ich ‚thaletisch‘ nenne, wurden nur einzelne Sätze formuliert und bewiesen, während sich die zweite Phase dadurch auszeichnete, daß die Griechen nunmehr dazu übergegangen waren, ganze mathematische Theorien auszuarbeiten.“ Die Erfindung des Beweises verortet bei Thales ebenfalls van der Waerden 1956, 143–148. Vgl. oben den Anfang dieses Kapitels.

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die Spätantike, vgl. etwa Heron oder Diophant – direkt fassbar nur in einer dezidiert praktischen und eben nicht ‚theoretischen‘ Form zeigt: Wir finden keine Proposition nach euklidischem Muster, sondern eine ausschließlich handwerklich orientierte Mathematik in der Architektur oder im Ingenieurwesen, und zwar in einer Tradition, die greifbar bis mindestens ins 6. Jh. v. Chr. zurückreicht; man denke exempli gratia an den Tunnel des Eupalinos auf Samos.45 Könnten nicht also, so ließe sich fragen, auch Hippokrates’ ‚Elemente‘ (oder die ‚Elemente‘ eines der anderen genannten Mathematiker) in gerade dieser Tradition einer praktischen Mathematik stehen, gegebenenfalls ohne explizite Universalität und axiomatisch-deduktive Systematizität der mathematischen Einsichten, sondern mehr oder weniger als unverbundene Sammlung praktischer mathematischer Rezepte nach ägyptisch-babylonischem Vorbild – oder irgendwo dazwischen? Könnten diese ‚Elemente‘ nicht auch einen anderen Zweck als den des Beweises allgemeiner mathematischer Sätze zu abstrakten mathematischen Objekten gehabt haben, etwa den der effektiven Nutzung mathematischer Zusammenhänge für nicht-mathematische, praktische Zwecke? Könnte hierfür nicht auch ein Indiz sein, dass sich in Bezug auf die Mathematik gesichert euklidischen Typs beobachten lässt, dass „in der mathematischen Terminologie […] jedenfalls eine ältere praktische Geometrie noch zu erahnen ist“, ein möglicher genetischer Zusammenhang sich also in der Sprache der Mathematik selbst konserviert hätte – und könnte dies nicht implizieren, dass sich der Differenzierungsprozess von praktischer und theoretischer Mathematik vielleicht noch nicht mit dem ersten greifbaren Vertreter der Gattung der ‚Elemente‘, sondern erst später vollzogen hätte?46 Und könnte dies nicht gegebenenfalls zur antiken, allem Anschein nach schon auf Aristoteles zurückführbaren biographischen Anekdote vom Kaufmann Hippokrates von Chios passen, der, von Piraten ausgeraubt, nach Athen

|| 45 Zum Tunnel des Eupalinos siehe Käppel 1999 und vgl. die oben angeführten Zeugnisse zu Thales; siehe auch unten Kap. 4.6. Vgl. im Übrigen Phlb. 56b4–c2 für die, jedenfalls angesichts dieses Zeugnisses zu urteilen, vergleichsweise starke Mathematisierung der Architektur und des Ingenieurwesens zur Zeit Platons; vgl. unten Kap. 6. Speziell Heron bringt beide Traditionen in gewisser Weise zusammen: siehe Tybjerg 2004, auch Høyrup 1997 mit dem Nachweis der Ähnlichkeit Herons zur babylonischen Mathematik und schon Neugebauer 1969, 146 f. Eine umfassende Dokumentation und Diskussion der Zeugnisse zur praktischen griechischen Mathematik gibt Asper 2007, 197–210 und Asper 2009; zur Verbindung zur theoretischen Mathematik siehe schon Asper 2003b, 9–11. Wie auch Asper 2007, 197 Anm. 696 betont, ist eine solche Unterscheidung nicht in einem wertenden Sinn zu verstehen, sondern zielt primär darauf ab, dass die Mathematik euklidischen Typs „empiriearme Strukturen, d. h. Beweise, als Bestätigung ihrer Sätze und Verfahren gebraucht“. 46 Siehe Asper 2007, 168 f. (mit dem Zitat); auch 207 f. Eine weitere relevante Beobachtung: Proklos spricht davon, dass zwei Mathematiker des Katalogs, konkret Leon (in Euc. p. 67, 4) und Theudios (in Euc. p. 67, 15), eine ‚allgemeinere Form‘ für zahlreiche Theoreme gefunden hätten. Dies könnte als Abkehr von einer partikularen, auf den konkreten praktischen Fall hin ausgerichteten Form hin zu einer universellen, auf den allgemeinen theoretischen Fall hin ausgerichteten Form von mathematischer Erkenntnis gedeutet werden. Vgl. unten mit Kap. 6.

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gegangen sei, um dort eine Klage einzureichen, und in der Wartezeit Philosophen besucht und begonnen habe, sich mit ‚mathematischen‘ Fragen zu beschäftigen?47 Je nach den Antworten, die wir auf diese Fragen geben, führt eine Rückprojektion des euklidischen Zustands auf die früheren Zeiten zu einer Verfälschung unseres Bildes von der voreuklidischen Mathematik insgesamt.48 Doch sichere Antworten sind aufgrund des Materials nicht möglich: Wir verfügen ja über kein authentisches, direktes Material aus der Zeit der Entstehung der Gattung ‚Elemente‘. Wir müssen also einen anderen Weg zur Beantwortung der Frage suchen, wie der entscheidende methodologische Baustein für die Herausbildung der spezifisch griechischen Mathematik gefunden wurde. Nur so können wir hoffen zu verstehen, wie Mathematik nicht etwa ein nützliches praktisches Hilfsmittel zur ‚Landvermessung‘ oder in der Architektur geblieben, sondern tatsächlich zu einem der wichtigsten Fundamente der menschlichen Zivilisation geworden ist.

1.2 Ein möglicher Ausweg? Mathematik in der Zeit Platons Insgesamt zeigt sich ein aporetisches Bild: Eine direkte Beantwortung der aufgeworfenen Fragen ist schwierig bis unmöglich. Dennoch gäbe es einen möglichen Ausweg: Anstatt den Blick direkt auf den in der Überlieferung obskuren absoluten Beginn der griechischen Mathematik zu lenken, um von hier aus die gesamte historische Entwicklung linear bis hin zu Euklid zu rekonstruieren, könnten wir erst einmal nur so weit in der Zeit zurückgehen, dass wir den letzten Zustand der Mathematik zu fassen bekommen, der einerseits in jedem Fall voraristotelisch-voreuklidisch, andererseits aber besser und vor allem noch authentisch bezeugt ist. Die Idee ist, die Entwicklung der Mathematik rückwärts zu verfolgen, und zwar in einem Sprung zu dem frühesten

|| 47 Aristoteles, EE 1247a17–20 (= Diels & Kranz 42 A2; in Verbindung mit Plutarch, Solon 2, 8 und Philoponos, in Ph. p. 31, 3–9). Für unhistorisch hält die Anekdote Netz 2004b, 244, aber ohne hinreichenden Grund; vgl. Asper 2007, 169 Anm. 511, Björnbo 1913, 1782 und Netz 1999a, 280. 48 Die Rekonstruktion voreuklidischer ‚Elemente‘ (oder ihrer Äquivalente) ist ein verbreiteter Ansatz, vor allem in der älteren Forschung. Ein instruktives Beispiel ist Heaths 1921 Geschichte der griechischen Mathematik, die diese als Geschichte der ‚Elemente‘ konzipiert, mithin die vorangehenden ‚Elemente‘-Traktate in den Inhalten von Euklids Elementen zu fassen und so zu rekonstruieren sucht. Vgl. exempli gratia Heaths Zusammenfassung seiner Ergebnisse für die vorplatonische Mathematik (1, 216 f.): „We are now in a position to form an idea of the scope of the Elements at the stage which they had reached in Plato’s time. The substance of Eucl. I–IV was practically complete. [Es folgen Ausführungen zu den einzelnen Büchern.] There is therefore probably little in the whole compass of the Elements of Euclid, except the new theory of proportion due to Eudoxus and its consequences, which was not in substance included in the recognized content of geometry and arithmetic by Plato’s time, although the form and arrangement of the subject-matter and the methods employed in particular cases were different from what we find in Euclid.“ Eine Übersicht zu diesen Ansätzen zu geben ist hier nicht nötig; vgl. exempli gratia Becker 1936b, van der Waerden 1978 und Artmann 1991.

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Zeitraum, für den sich noch ein einigermaßen zuverlässiges Bild gewinnen lässt: Wir würden einerseits über unverfälschtes direktes Material verfügen, und andererseits wäre die zeitliche Differenz zwischen der historischen Entwicklung und ihrer antiken wissenschaftsgeschichtlichen Beschreibung geringer als bei etwa Thales und Hippokrates, wo sie mehrere Jahrhunderte oder sogar bis zu einem ganzen Jahrtausend beträgt – ja: es könnte sogar die Möglichkeit bestehen, dass wir auf Aussagen von den involvierten wissenschaftlichen Akteuren selbst und / oder ihrem Umfeld stoßen. Der relevante Zeitraum ist zweifellos die erste Hälfte des 4. Jhs. v. Chr.:49 Er liegt einerseits vor der Beschreibung des theoretischen Fundaments der griechischen Mathematik durch Aristoteles und vor den ersten erhaltenen mathematischen Traktaten; andererseits besitzen wir aus dieser Zeit eine Vielzahl von direkten und indirekten Zeugnissen, die die historische Entwicklung der Mathematik in dieser Periode selbst beschreiben und / oder widerspiegeln. Dies ist vor allem auch deshalb interessant, weil es starke Indizien dafür gibt, dass gerade in dieser Zeit große Fortschritte in der Mathematik zu verzeichnen waren. Hierfür spricht ja schon der oben angeführte Mathematikerkatalog in Proklos’ Euklid-Kommentar, denn nicht nur weiß Proklos für die erste Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. zahlreiche Mathematiker mit Namen zu benennen, sondern abgesehen von Hippokrates von Chios bezeugt er auch erst für exakt diesen Zeitraum das Verfassen von ‚Elementen‘-Schriften.50 Er stellt einen solchen Fortschritt aber auch explizit fest, und diese Anmerkung weist auf das konkrete Material, dessen Analyse im Einzelnen für die vorgeschlagene Untersuchung zweckdienlich ist: Nachdem Proklos Thales, Mamerkos, Pythagoras, Anaxagoras, Oinopides von Chios, Hippokrates von Chios und Theodoros von Kyrene angeführt hat – also chronologisch mit nur einer Zwischenstation nach Hippokrates von Chios –, merkt er an:51 Πλάτων δ’ ἐπὶ τούτοις γενόμενος μεγίστην ἐποίησεν ἐπίδοσιν τά τε ἄλλα μαθήματα καὶ τὴν γεωμετρίαν λαβεῖν διὰ τὴν περὶ αὐτὰ σπουδήν, ὅς που δῆλός ἐστι καὶ τὰ συγγράμματα τοῖς μαθηματικοῖς λόγοις καταπυκνώσας καὶ πανταχοῦ τὸ περὶ αὐτὰ θαῦμα τῶν φιλοσοφίας ἀντεχομένων ἐπεγείρων.

|| 49 Eine ähnliche Idee liegt Fowler 1999 zugrunde; gleichwohl zeigen sich signifikante Unterschiede hinsichtlich der Ergebnisse, wie die folgende Diskussion deutlich macht: Schließlich datiert Fowler den Beginn der Mathematik euklidischen Typs auf Euklid selbst. Siehe speziell Fowler 1999, 356–401. 50 Proklos, in Euc. p. 66, 8–68, 6. Letztlich nicht entscheidend ist, ob Proklos nur Mathematiker anführt, die ‚Elemente‘ verfasst haben (und andere ungenannt lässt): vgl. Asper 2007, 109 mit Anm. 116. 51 Die genannten Mathematiker in Proklos, in Euc. p. 65, 7–66, 8. Das folgende Zeugnis findet sich in Proklos, in Euc. p. 66, 8–14; vgl. Philodemos, Acad. Ind. p. 152 f. sowie Aristoteles, Protreptikos fr. 5 und vor allem fr. 8: τοσοῦτον δὲ νῦν προεληλύθασιν ἐκ μικρῶν ἀφορμῶν ἐν ἐλαχίστῳ χρόνῳ ζητοῦντες οἵ τε περὶ τὴν γεωμετρίαν καὶ τοὺς λόγους καὶ τὰς ἄλλας παιδείας, ὅσον οὐδὲν ἕτερον γένος ἐν οὐδεμιᾷ τῶν τεχνῶν („Jetzt haben, beginnend bei kleinen Anfängen, die Forscher in der Geometrie, der Philosophie und den anderen Teilen der Bildung in kürzester Zeit so große Fortschritte gemacht wie in keinem anderen Feld in keiner der Künste“).

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Platon, der auf diese gefolgt ist, hat wegen seines Eifers in diesen Dingen bewirkt, dass die Geometrie und die übrigen mathematischen Disziplinen den größten Fortschritt machten, er, der ganz evident sowohl seine Schriften mit mathematischen Argumentationen angefüllt hat sowie überall darauf bedacht war, Bewunderung für diese Dinge bei denen zu wecken, die sich an das Studium der Philosophie machten.

Während einerseits für die Mathematiker in Proklos’ Katalog vor Hippokrates in der Tat wenig bis überhaupt keine mathematischen Entdeckungen glaubhaft gemacht werden können (etwa Pythagoras oder Anaxagoras) oder sie mit Entdeckungen verbunden sind, die eher in den Bereich der Astronomie fallen (etwa Oinopides),52 spricht Proklos Platon einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Fachmathematik zu, mithin einem Philosophen, dessen Wirken mehr oder weniger die gesamte erste Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. abdeckt und von dem sich ein umfangreiches Corpus von Schriften erhalten hat – ja: dessen Schriften für uns überhaupt die allerersten vollständig erhaltenen Schriften eines Autors darstellen, dem in einem wissenschaftshistorischen Zeugnis eine Rolle in der Entwicklung der griechischen Mathematik zugesprochen wird.53 Auf den ersten Blick ist damit ein wichtiger erster Schritt hin zu einem besseren Verständnis der Fachmathematik vor Aristoteles und Euklid im skizzierten Sinn gemacht, denn wir haben einerseits positiv einen wichtigen Abschnitt der historischen Entwicklung identifiziert, und wir verfügen andererseits über umfangreiches Material aus erster Hand, mit dessen Hilfe sich der von Proklos konstatierte Fortschritt in hinreichend abgesicherter Weise beschreiben lassen könnte. Allerdings ist der Zeugniswert von Proklos’ Bericht oft in Zweifel gezogen worden, und zwar sowohl in allgemeiner Hinsicht als auch speziell in Bezug auf Platon.54 || 52 Zu diesem Abschnitt des Katalogs und den Einzelerkenntnissen, die den jeweiligen Mathematikern zugesprochen werden, siehe Heath 1921, 1, 139 f. und 170–217. Speziell zu Pythagoras siehe Burkert 1962 (zur Stelle 368–386; sie sei ein späterer Zusatz; vgl. Gaiser 1968, 463); Netz 1999a, 272 fasst das Resultat pointiert wie folgt zusammen: „Pythagoras the mathematician perished finally AD 1962.“ Wie es sich andererseits mit den ‚Pythagoreern‘ im Allgemeinen und Philolaos und Archytas (der an späterer Stelle genannt wird) im Speziellen verhält, ist eine andere Frage; auf sie wird im Laufe dieser Studie passim an geeigneter Stelle eingegangen, vor allem in Kap. 5 und Kap. 6.7. Zu Philolaos siehe ansonsten Huffman 1993, 54–77, zu Archytas Huffman 2005, insbesondere 46–51 sowie 342–401 zum (wohlgemerkt) einzigen bezeugten mathematischen Beweis im Bereich der Geometrie, nämlich zur Würfelverdopplung. Anaxagoras ist in der Geometrie fassbar einzig mit der Quadratur des Kreises verbunden (Plutarch, De exilio 607F; siehe Knorr 1986, 29); freilich ist er auch im Zusammenhang mit ‚mathematischer‘ Astronomie und insbesondere Oinopides genannt: siehe etwa Ps.-Platon, Amat. 132a5–b3 (= Diels & Kranz 41 A2), auch Graham 2013. Zu Oinopides siehe unten Anm. 5185. Zu Mamerkos vgl. Asper 2007, 108; in Heron, Deff. 136, 1 ist sein Name Mamertios. 53 Vgl. Waschkies 2000b, 38. Für einen knappen Überblick siehe Erler 2007, 513–518. 54 Zur Quelle der Information siehe die Diskussion bei Zhmud 1998, insbesondere 219–234 (Lasserre 1987, 613–615 sieht den Platonschüler Philippos von Opus als Urheber; Gaiser 1968, 463 Geminos). Zhmud arbeitet plausibel heraus, dass der gesamte Mathematikerkatalog auf Eudemos zurückgehen müsse (vgl. 222 Anm. 39). Allerdings sieht er Porphyrios als Zwischenstation, der den Verweis auf Platon ergänzt habe (ausführlicher Zhmud 2002, 277–288). Nicht nur, weil sich ein Verweis auf Platon

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So hat Proklos, wie kritisch angemerkt wurde, einerseits Mathematiker wie Hippias von Elis und Demokrit vergessen;55 andererseits gibt es kaum unabhängige objektive Belege für eine Bedeutung Platons für die Entwicklung der Fachmathematik, speziell nicht in Hinsicht auf besondere Entdeckungen.56 Einzig die ‚platonischen‘ Körper verbinden sich mit Platons Namen – doch dies nur deshalb, weil Platon sie im Timaios verwendet: Ihre erste mathematische Untersuchung wurde ja nicht ihm, sondern den Pythagoreern und / oder Theaitetos zugeschrieben.57 Der Neuplatoniker Proklos, so || auch schon in Heron, Deff. 136, 1 findet (anscheinend zurückgehend auf Eudemos, zumindest auf dieselbe Quelle wie Proklos’ Referat), sondern auch prinzipiell sind Zhmuds Gründe für diese Annahme aber nicht zwingend, ebenso wie exempli gratia van der Waerdens 1961, 91 Einschätzung: „What is said about Plato […] obviously does not come from the shop of Eudemus, the pupil of Aristotle, who was not as fervent an admirer of Plato as the Neo-Platonist Proclus.“ Hier liegt ein non sequitur vor: Wenn das Berichtete der Wirklichkeit entspräche, wäre Eudemos’ (und Aristoteles’) Einstellung irrelevant, und aus ihr könnte sich prinzipiell nicht ergeben, dass das Berichtete nicht der Wirklichkeit entspräche. Dass im Übrigen der Verweis auf Platon bei Proklos deshalb nicht auf Eudemos (oder Philippos) zurückgehen könne, sondern ein neuplatonischer Zusatz sei, weil auch Euklid in die platonische Tradition eingeordnet wird (so Zhmud 1998, 233 f.; siehe Proklos, in Euc. p. 68, 20–23), überzeugt auch aus einem weiteren Grund nicht: Bevor Proklos auf Euklid eingeht, stellt er ausdrücklich fest, dass die Verfasser von antiken Mathematikgeschichten die ‚Vervollkommnung‘ der Disziplin bis zu diesem Punkt behandelt hätten (Proklos, in Euc. p. 68, 4–6). Entsprechend ist impliziert, dass einerseits der Verweis auf Platon Bestandteil von Proklos’ Quellenmaterial war und also auf das 4. Jh. v. Chr. zurückgeht und dass andererseits die Qualifikation von Euklid als Platoniker eine andere, spätere Quelle hat (und das heißt möglicherweise auch Proklos selbst). Zur Berechtigung der sachlich nicht von vornherein abwegigen Einschätzung von Euklid als Platoniker vgl. Mueller 1981, 302 f. 55 Zu Demokrit als Mathematiker siehe Heath 1921, 1, 176–181 (zu seinem Fehlen hier vgl. van der Waerden 1961, 91), auch Asper 2007, 107 f.; vgl. unten Kap. 4.6; zu Hippias von Elis siehe Heath 1921, 1, 182 und umfassend Kerferd & Flashar 1998, 64–68. Hippias ist bekanntlich ein prominenter Gesprächspartner des Sokrates bei Platon und wird im Hippias Minor sogar als fähiger Mathematiker, insbesondere in Arithmetik bzw. Logistik, Geometrie und vor allem Astronomie beschrieben (366c5– 369a2, speziell 366c5 f. bzw. 367d6 bzw. 367e8–368a1 sowie 368d2–4). Knorr 1986, 80–84 argumentiert dafür, dass die mit Abstand wichtigste der ihm zugeschriebenen mathematischen Entdeckungen, die sogenannte ‚Quadratrix‘, von einem anderen Mathematiker Hippias gemacht wurde und erst ins 3. oder 2. Jh. v. Chr. zu datieren ist. Freilich könnte ein ähnlicher Fall wie bei Thales oder Theodoros und Theaitetos vorliegen: vgl. die weitere Diskussion, zu Letzteren speziell unten Kap. 4.6. 56 Vgl. Neugebauer 1969, 152: „I think that it is evident that Plato’s role has been widely exaggerated. His own direct contributions to mathematic knowledge were obviously nil. […] The exceedingly elementary character of the examples of mathematical procedures quoted by Plato and Aristotle gives no support to the hypothesis that Theaetetus or Eudoxus had anything to learn from Plato.“ Zur kontroversen Forschungsdiskussion (für die in diesem Rahmen keine auch nur annähernd repräsentative Zusammenstellung gegeben werden kann) siehe unter anderem Zeuthen 1913, Töplitz 1925, Solmsen 1931, Cherniss 1945, Mugler 1948, Cherniss 1950/1, Szabó 1960, 99–104, Gaiser 1968, Klein 1968, Zhmud 1998, Fowler 1999, Zhmud 2006 und M. White 2006b. Vgl. für Einzelnes exempli gratia Waschkies 2000b und Waschkies 2001, für die Akademie die Testimonien bei Lasserre 1987. 57 Vgl. Ti. 53c–55c. Zum letzten Punkt siehe etwa Heath 1921, 1, 162 und 212; in den Euklid-Scholien werden der Würfel, das Tetraeder (= ‚Pyramide‘) und das Dodekaeder den Pythagoreern, das Oktaeder und das Ikosaeder Theaitetos zugeschrieben (Σ Euklid, Elem. 10,62). Proklos selbst weist die Ent-

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scheint es, hat ohne sachliche Berechtigung den Eindruck erwecken wollen, Platon habe eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Mathematik gespielt.58 Beide Einwände sind hier nicht relevant: Einerseits macht ein etwaiges Weglassen von Informationen Proklos’ Zeugnis zunächst einmal nur unvollständig und berührt nicht die Geeignetheit von Platons Werk als Material. Andererseits zeigen sich für beide von Proklos angeführten Indizien für die Bedeutung Platons – die Verwendung von Mathematik und die Protreptik zur Mathematik – zahlreiche Belege, sowohl unmittelbar in Platons Werk als auch in den Testimonien zur Akademie. Insofern diese Belege aber die ersten fassbaren direkten und authentischen Zeugnisse zur Fachmathematik überhaupt darstellen, haben sie unabhängig von Platons tatsächlicher Rolle in deren Entwicklung einen hohen wissenschaftshistorischen Wert. Eine, wenn auch an dieser Stelle notwendig unvollständige und provisorische, Sichtung dieser Zeugnisse erlaubt ein erstes Urteil dazu, welche Einblicke sie vermitteln können – und vor allem, wie man sie zu diesem Zweck nutzbar machen kann: (1) Platons Schriften beinhalten zahlreiche Verweise auf die Mathematik. Diese sprechen sowohl generelle, auch methodologische Fragen an als auch mathematische Einzelprobleme. Die umfangreichste Passage steht im siebenten Buch der Politeia und behandelt ausführlich die fünf mathematischen Disziplinen Arithmetik / Logistik, Geometrie und Stereometrie (das heißt zwei- bzw. dreidimensionale Geometrie), Astronomie und mathematische Harmonielehre; bekannt ist sie vor allem deshalb, weil der Mathematik hier eine zentrale Funktion im Rahmen des erzieherischen Curriculums der Wächter von Kallipolis zugewiesen wird.59 Diese Passage ist zwar nicht wegen ihrer Länge, aber doch insofern repräsentativ, als sich eine spezifische Verknüpfung von philosophischen und fachmathematischen Thematiken zeigt. Hierfür sind weitere Beispiele die zahlreichen Stellen, an denen Platon mathematische Methoden zur Lösung genuin philosophischer Probleme nutzt, etwa im Menon das sogenannte ‚Hypothesis‘-Verfahren oder den allgegenwärtigen Widerspruchsbeweis (reductio ad absurdum).60 Daneben gibt es aber auch viele Stellen, an denen spezifi|| deckung Pythagoras zu: siehe in Euc. p. 65, 15–21; dies gilt jedoch seit Sachs 1917 als inkorrekt. Siehe insgesamt Waterhouse 1972 und vgl. unten mit Anm. 98. 58 So etwa Zhmud 1998, 219–234. Nichtsdestoweniger finden sich ähnliche Information in der unten angeführten Philodemos-Passage, die wohl in jedem Fall auf die frühe Akademie zurückgeht (Acad. Ind. p. 152 f.). 59 Siehe R. 522c–531d; vgl. Lg. 747b; Lg. 817e–822b; Epin. 981c–992a. 60 Vgl. Men. 82a–85b und Men. 86e–87b; auch Phd. 96e–97e; R. 509d–511e; Lg. 817e–822b passim. Für wissenschaftshistorisch grundsätzlich problematisch hält exempli gratia Cuomo 2001, 24–31 den Umstand, dass die mathematischen Verweise in einem philosophischen Kontext stehen. Allerdings ist dies ein non sequitur: Wenn etwa Aristoteles in einem philosophischen Argumentationszusammenhang auf den logischen Satz vom Widerspruch verweist, hat dies keine negativen Konsequenzen für unser Verständnis von diesem Satz selbst und seiner Geschichte. Zudem ist fraglich, ob der vermeintliche Gegensatz von Philosophie und Mathematik für die Antike so überhaupt aufrechterhalten werden kann (vgl. unten Anm. 123); er scheint, zumindest in seiner Schärfe, eher auf den Gegensatz

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sche mathematische Probleme angesprochen werden; sie gehören unter anderem den folgenden Themenkomplexen an (wobei die Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt):61 runde und gerade Linie;62 ebene und Raumwinkel;63 geometrische Figuren wie Kreis, Dreieck und Quadrat;64 platonische Körper;65 Flächenanlegung;66 Analogie, Mittelwerte und Gleichheit;67 Kommensurabilität und Inkommensurabilität;68 mathematische Dimensionen;69 Zahlentheorie;70 perfekte Zahlen;71 und Winkelgeschwindigkeit.72 Auch diese Passagen stehen oftmals in direktem Kontext von philosophischen Problemen, instruktiv etwa die notorischen Stellen zur Inkommensurabilität im Theaitetos (147d–148b) oder zur Quadratverdopplung im Menon (82a–85b). Unabhängig vom konkreten Inhalt dieser Stellen bestätigt allein ihre Fülle und das breite Spektrum an Themen Proklos’ Notiz: In der Tat scheint Platon Mathematik für wichtig gehalten und, in welcher Form auch immer, in die Diskussion philosophischer Probleme integriert zu haben. Hierfür ist ja auch schon die konkrete Ausgestaltung des Bildungsprogramms in Politeia VII ein relevantes Indiz: Schließlich sollen die Wächter volle zehn Jahre Mathematik und nur fünf Jahre Dialektik (das heißt die eigentliche Philosophie) betreiben (R. 537b8–c8).

|| von moderner Philosophie- und Mathematikgeschichtsschreibung zurückzuführen zu sein und insofern die Erkenntnis der wirklichen historischen Zusammenhänge eher zu erschweren (siehe unten und vgl. exempli gratia den Disput zwischen Knorr und Burnyeat: Knorr 1979). 61 Die Liste ließe sich insbesondere um eine Vielzahl von kurzen und unscheinbaren Stellen erweitern, die nur beiläufig auf mathematische Sachverhalte verweisen. Für Sammlungen von relevanten Stellen und eine Diskussion ihrer Problematik siehe unten mit Anm. 124. Einige Stellen sind entsprechend dem umfassenden Inhalt mehrfach genannt. 62 Vgl. Prm. 137e; Prm. 145b; Phlb. 51c; Smp. 189e; Men. 73e–74b; R. 509d–511e; Ep. 7, 342b–343c. 63 Vgl. Phlb. 51b–d; Men. 82a–85b; R. 510c–d; Ti. 55a–b. 64 Vgl. Ti. 53a–57d. 65 Vgl. Euthphr. 12d; Prm. 137e; Prm. 145b; Phlb. 51c; Men. 82a–85b; R. 546a–d; Ti. 53a–57d; Ep. 7, 342b–343c. 66 Vgl. Men. 86e–87b; R. 527a. 67 Vgl. Phd. 74a–75d; Plt. 283c–285c; Grg. 508a; R. 509d–511e; R. 522c–531d; R. 587d–588a; Ti. 29b– c; Ti. 31b–32c; Ti. 35a–36d; Ti. 43c–d; Ti. 69b; Ti. 87c–d; Epin. 990c–992a. 68 Vgl. Tht. 147d–148b; Sph. 235d–236a; Plt. 266a–b; Plt. 283c–285c; Prm. 140b–d; Phlb. 25a–e; Men. 82a–85b; Hp. Ma. 303b–c; R. 504c; R. 534d; R. 546a–d; Lg. 817e–822b; Epin. 990c–992a; vgl. die vorangehende Anm. 67. 69 Vgl. Tht. 148a–b; Sph. 235d–236a; Plt. 283c–285c; Ti. 31b–32c; Men. 75b–76e; R. 522c–531d; R. 546a–d; Ti. 35a–36d; Lg. 817e–822b; Lg. 896d; Lg. 893e–894b; Epin. 990c–992a; vgl. Diogenes Laertios 3, 24. 70 Vgl. Euthphr. 12d; Phd. 96d–97b; Phd. 101b–102a; Phd. 103e–104b; Tht. 147d–148b; Tht. 185c–d; Tht. 198a–199c; Plt. 262c–263a; Prm. 143d–144a; Prm. 151a–e; Prm. 158b–d; Chrm. 165e–166b; Prt. 356e–357b; Grg. 451a–c; Grg. 453e; R. 509d–511e; R. 525d–526b; R. 546a–d; Epin. 981c; Epin. 990c– 992a; vgl. Diogenes Laertios 3, 24. 71 Vgl. Tht. 204b–c, die erste Bezeugung von perfekten Zahlen überhaupt: siehe Acerbi 2005 und vgl. Euklid, Elem. 9, 36. 72 Vgl. Lg. 893b–d.

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(2) Ein ähnliches Bild ergibt sich aus den Testimonien bei anderen Autoren, von Platons eigener Lebenszeit bis in die Spätantike. Anzuführen ist nicht nur Platons Vortrag Über das Gute, in dem er laut Aristoteles, einem Zeugen erster Hand, in einem mathematischen Rahmen das ‚Gute‘ als das mathematisch ‚Eine‘ (und / oder vice versa) bestimmt hat;73 oder Aristoteles’ umfangreiche Erörterungen zu der von Platon und anderen Mitgliedern der Akademie vertretenen Philosophie der Mathematik, speziell im Kontrast zu den ‚Pythagoreern‘;74 oder Aristoteles’ auf Platon und die Akademie bezogene Notiz, dass die Philosophie zur Mathematik geworden sei.75 Wir finden auch zahlreiche biographische Anekdoten bei anderen Autoren in eben diesem Sinn, etwa vom Geometriestudium am Hof des Dionysios von Syrakus unter Platon;76 dass Platon der Ansicht gewesen sei, Mathematik sei der Weg zur Glückseligkeit;77 dass Zählen und Geometrie menschliche Spezifika seien,78 dass (der) „Gott immer Geometrie betreibt“;79 und dass die Entwicklung des Kosmos ein geometrisches Problem sei80 – ganz zu schweigen davon, dass am Eingang der Akademie eine Inschrift das Gebot aufgestellt haben soll, dass „niemand ohne Kenntnis der Geometrie eintrete“.81 Zwar ist umstritten, ob nicht all diese Zeugnisse Projektionen späterer Zeiten auf Platon sind, ausgehend von spezifischen, aber falsch gedeuteten Verweisen in Platons überliefertem Werk und gegebenenfalls, wie möglicherweise auch bei Proklos, vor dem Hintergrund einer neuplatonischen Ontologie und Epistemologie.82 Doch unabhängig davon, ob diese Skepsis begründet ist oder nicht, ist die Fülle an derartigem Material in der indirekten Tradition ein klares Indiz für die Bedeutung der unter (1) angeführten Passagen für die vorliegende Frage: Gerade insofern sich insbesondere die neuplatonische Philosophie weitgehend als bloße Exegetin der in den Dialogen ausgedrückten Philosophie Platons verstand,83 liegt der Schluss nahe, dass die starke || 73 So Aristoxenos, Harm. p. 39, 8–40, 4; vgl. Gaiser 1980. 74 So insbesondere in Metaph. 987a29–990a32 (A 6–8) und den Büchern M und N; zu diesen siehe speziell Annas 1976. Zu Platons Verhältnis zu den Pythagoreern siehe Horky 2013. 75 Aristoteles, Metaph. 992a32 f.: γέγονε τὰ μαθήματα τοῖς νῦν ἡ φιλοσοφία. 76 Plutarch, De adulatore et amico 52D–E; Dion 13, 4; Olympiodoros, in Grg. 41, 8 p. 214, 6 f. 77 Plutarch, Dion 14, 2. 78 Aristoteles, Pr. 956a11–14; Cicero, De re publica 1, 17, 29. 79 Plutarch, Quaestiones convivales 718B–C. 80 Plutarch, Quaestiones convivales 719F–720C. 81 Unter anderem Iulian, Contra Heraclium 237D, 2, 1, p. 87 f.: ΑΓΕΩΜΕΤΡΗΤΟΣ ΜΗΔΕΙΣ ΕΙΣΙΤΩ. Siehe Saffrey 1968 und Fowler 1999, 199–204. 82 So umfassend Riginos 1976 mit einer ausführlichen Diskussion zu den biographischen Testimonien; in jedem einzelnen Fall werden Stellen aus Platons Dialogen angeführt, aus denen die Anekdoten herausgesponnen worden sein könnten (vgl. jüngst Kouremenos 2015). Dennoch gilt methodisch: Dass die Ableitung möglich ist, beweist nicht, dass die indirekten von den direkten Zeugnissen kausal abhängen; die direkten Zeugnisse könnten auch korrekt einen (historischen, philosophischen etc.) Umstand widerspiegeln, der sich dann sekundär in der indirekten Tradition niedergeschlagen hätte. 83 Vgl. Gerson 2013; bekannt ist Proklos’ Charakterisierung von Plotin als einem „der Deuter der platonischen Offenbarung“ (τοὺς τῆς Πλατωνικῆς ἐποπτείας ἐξηγητάς; so in Theol. Plat. 1, 6 f.). Speziell

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Präsenz von Mathematik in den Dialogen in der Tat ein reales Charakteristikum von Platons Philosophie widerspiegelt und also für Platon wichtig gewesen sein muss. Und wenn andererseits die Nachrichten sogar auf die frühe Akademie zurückgehen sollten, kommt dies einem Beleg für die Relevanz von Mathematik für die platonische Philosophie auch in einem praktischen Rahmen gleich und liefert seinerseits eindeutig voraristotelisch-voreuklidisches Material aus der Mitte des 4. Jhs. v. Chr. Der letzte Punkt ist auch insofern relevant, als Platons Beitrag zur Fortentwicklung der Mathematik bei Proklos – also in der indirekten Tradition – nicht nur auf die Verwendung von und die Protreptik zur Mathematik eingeschränkt ist, sondern sich auch konkret darin äußert, dass ihm eine aktive wissenschaftsorganisatorische Rolle zugesprochen wird, und zwar allem Anschein nach als Haupt der Akademie als eines institutionalisierten Orts der Forschung und Bildung.84 So benennt Proklos eine Vielzahl von Mathematikern, die zur Zeit Platons gewirkt haben, und bringt sie zum Teil unmittelbar mit Platon und der Akademie in Verbindung.85 Wir hören von den (zum Teil nicht weiter bekannten) Mathematikern Leodamas, Archytas, Theaitetos, Leon, Eudoxos, Amyklas, Menaichmos, Deinostratos, Theoudios, Athenaios, Hermippos und Philippos von Opus, und von ihnen werden ausdrücklich Eudoxos und Menaichmos als Platons Gefährten sowie Amyklas und Philippos als seine Schüler bezeichnet;86 zudem heißt es, dass alle zusammen in der Akademie für eine längere Zeit gemeinsame Forschungen betrieben hätten, wobei Platon einige Mathematiker wie Eudoxos und Leodamas auch mit speziellen (von ihm erfundenen?) mathematischen Methoden wie der Lehre vom ‚Schnitt‘ bzw. der ‚Analysis‘ vertraut gemacht habe.87 || zu Proklos’ (platonischer) Philosophie der Mathematik siehe Morrow 1992, lvi–lxvii sowie Schmitz 1997 und Cleary 2000. 84 Dass griechische Mathematik im Gegensatz zur ägyptischen und babylonischen Mathematik insbesondere in der frühen Zeit keinen institutionalisierten Ort hatte, zeigt Asper 2007, 151–156. 85 Proklos, in Euc. p. 66, 14–68, 5. Skeptisch in dieser Hinsicht zeigt sich Zhmud 1998, insbesondere 223–234 mit einer eingehenden Diskussion zu den einzelnen Mathematikern. 86 Eudoxos: Proklos, in Euc. p. 67, 3 (ἑταῖρος δὲ τῶν περὶ Πλάτωνα γενόμενος: „als ein Gefährte derjenigen um Platon“); Amyklas: Proklos, in Euc. p. 67, 9 (εἷς τῶν Πλάτωνος ἑταίρων: „einer der Gefährten Platons“); Menaichmos: Proklos, in Euc. p. 67, 9 f. (ἀκροατὴς ὢν Εὐδόξου καὶ Πλάτωνι δὲ συγγεγονώς: „als Eudoxos’ Schüler und als er Teil der Gefolgschaft Platons geworden war“); Philippos von Opus: Proklos, in Euc. p. 67, 24–68, 1 (Πλάτωνος ὢν μαθητὴς καὶ ὑπ’ ἐκείνου προτραπεὶς εἰς τὰ μαθήματα: „als Schüler Platons und ermuntert von diesem zum Studium der mathematischen Wissenschaften“). Proklos bezeugt im Übrigen eine Diskussion zwischen Menaichmos und Speusipp zum Verständnis des Terminus ‚Problem‘: vgl. unten Anm. 5178. Angesichts der mutmaßlich neuplatonisch-tendenziösen Darstellung fällt auf, dass entsprechende, gegebenenfalls naheliegende Hinweise in Hinsicht auf Theaitetos und Archytas nicht zu verzeichnen sind (Proklos, in Euc. p. 66, 14–18). 87 Zur gemeinsamen Forschung siehe Proklos, in Euc. p. 67, 19 f.: διῆγον οὖν οὗτοι μετ’ ἀλλήλων ἐν Ἀκαδημίᾳ κοινὰς ποιούμενοι τὰς ζητήσεις („Diese stellten nun durchgängig miteinander in der Akademie gemeinsame Forschungen an“). Platon macht Proklos zufolge Leodamas und wohl auch Eudoxos mit der Methode der ‚Analysis‘ (ἀνάλυσις) vertraut, Letzteren auch mit dem ‚Schnitt‘ (τομή); siehe zu Eudoxos Proklos, in Euc. p. 67, 2–8: Εὔδοξος δὲ ὁ Κνίδιος […] τὰ περὶ τὴν τομὴν ἀρχὴν λαβόν-

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Insbesondere in der chronologischen Perspektive, die Proklos’ Mathematikerkatalog mit dem deutlichen Unterschied zwischen vor- und nachplatonischer Zeit aufwirft – und dies nicht nur, wie gesehen, in Hinsicht auf die Zahl der Mathematiker, sondern auch auf die Qualität und den Umfang der Forschung, wofür nicht zuletzt der explizit festgestellte Fortschritt in den ‚Elementen‘ symptomatisch ist –, erscheint Platon als ‚Architekt‘ der Wissenschaften, und zwar in einer Zeit des rasanten Fortschritts in der Mathematik. Entsprechendes lesen wir auch bei Philodemos in einem primär unabhängigen und möglicherweise sogar ursprünglich auf den Platon-Schüler Philippos von Opus (oder abermals auf Eudemos) zurückgehenden Zeugnis:88 „κα[τε]ν̣ενόη̣το δέ̣“, φη[σ]ί, „καὶ τῶν μαθημάτων ἐπίδοσις πολλὴ κατ’ ἐκεῖν[ο̣ν̣] τὸν χρόνον ἀρχιτεκτονοῦντο[ς] μ[ὲ]ν̣ καὶ προβλήματ[α] διδόντος τοῦ Π[λ]άτωνος, ζητούντων δὲ μετὰ σπου[δῆ]ς αὐτὰ τῶν μαθηματικῶν. τοιγὰρ [ταύ]τη(ι) [τὰ] π̣ερὶ μετρολογίαν ἦλθεν [ἐπὶ κορυ]φὴν τότε πρῶτον καὶ τὰ περὶ [τοὺς ὁρι]σ̣μοὺς προβλήματα τῶν περὶ Ε[ὔδο]ξ̣ον μεταστησάντων τὸν ἀ[φ’ Ἱπ]πο[κρά]τους ἀρ̣χ̣αϊσμόν. ἔλαβε [δὲ καὶ] ἡ γε[ωμ]ετρία πολ̣λὴν ἐπίδοσιν̣· ἐ̣γ̣ε̣[ν]νήθ[η] γὰρ καὶ ἡ ἀνάλυσις καὶ τὸ περὶ διορισμοὺς λ̣ῆ̣μ̣[(μ)α], καὶ ὅλω[ς] τ̣ὰ π̣[ερὶ] [τ]ὴν γεωμετρίαν ἐπὶ πολὺ π̣[ρο]ήν[εγ]κ̣[ον· οὐ]δέν τε [ὀπ]τ[ικ]ὴ καὶ μη[χ]α̣ν̣ικ[ή] [γ’ ἦσα]ν̣ [ἀ]μ[ε]λ̣ε̣ῖς. τὴν ἅπ̣α[σαν δὲ] σ̣[υλ]λ[ο]γὴν τῶν το[ιού]τω[ν, ἐξ ἧς ἔσχον ὀ]-

|| τα παρὰ Πλάτωνος εἰς πλῆθος προήγαγεν καὶ ταῖς ἀναλύσεσιν ἐπ’ αὐτῶν χρησάμενος („Eudoxos aus Knidos hat die Forschungen zum ‚Schnitt‘, die ihren Beginn bei Platon genommen hatten, in die Breite vorangetrieben und hierfür die Methode der Analysis verwendet“); und zu Leodamas Proklos, in Euc. p. 211, 19–23: καλλίστη μὲν ἡ διὰ τῆς ἀναλύσεως ἐπ’ ἀρχὴν ὁμολογουμένην ἀνάγουσα τὸ ζητούμενον, ἣν καὶ ὁ Πλάτων ὡς φασὶν Λεωδάμαντι παραδέδωκεν, ἀφ’ ἧς καὶ ἐκεῖνος πολλῶν κατὰ γεωμετρίαν εὑρετὴς ἱστόρηται γενέσθαι („Die schönste Methode ist diejenige, die mittels der ‚Analysis‘ das Gesuchte bis zu einem allseits akzeptierten Anfang hinaufführt, welche, wie man sagt, Platon Leodamas übergeben habe, durch welche auch jener der Entdecker vieler Einsichten in der Geometrie geworden sein soll“). Letzteres auch Diogenes Laertios 3, 24. Vgl. unten Anm. 733. 88 Philodemos, Acad. Ind. p. 152 f.; die Übersetzung ist Gaisers 1988, 152 f.; für einen Kommentar siehe Gaiser 1988, 341–353. Zur Unabhängigkeit dieses Zeugnisses vom Mathematikerkatalog bei Proklos siehe Zhmud 1998, 219–223. Als Quelle sieht er Philippos von Opus, unter anderem unter Berufung auf Burkert 1993, 94: „Die Uebereinstimmungen mit der Geschichte der Geometrie bei Proklos müßten nach der communis opinio auf Eudemos führen; ihm aber, dem Peripatetiker, möchte man die ungeschminkte Verherrlichung Platons wiederum nicht ganz zutrauen.“ Es gilt aber dasselbe, was oben in Anm. 54 gesagt wurde; und umgekehrt müsste Eudemos in diesem Fall gerade als besonders glaubhafte Quelle gelten. Gaiser 1988, 347 sieht Eudemos als Quelle Dikaiarchs.

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[ν]ήσιμα συχνοὶ [τῶν σπε]ρμολόγων, αὐτῶν ἕνε[κ’ ἐποίησ]α̣ν· σχεδὸν γὰ̣[ρ] ἦν φοιτη̣τ̣ῶ[ν γένος] ἄλλο, καὶ τῶ[ν] [γ]ε̣ θερῶν τὸ ἰδ̣[ιωτικὸν] ἀνέλ̣αβον. […]“ „Wirklich zu erkennen war“, so sagte er (= Dikaiarch), „in jener Zeit auch ein großer Fortschritt der mathematischen Wissenschaften, wobei Platon die baumeisterliche Leistung hatte und Aufgaben stellte, die dann die Mathematiker mit Eifer erforschten. Daher erreichten auf diese Weise damals zuerst die (allgemeine) Maßtheorie und die Probleme der Definitionen einen Höhepunkt, indem Eudoxos und seine Schüler die ursprünglichen (altertümlichen) Ansätze des Hippokrates (von Chios) vollständig erneuerten. Es machte aber (im besonderen) auch die Geometrie einen großen Fortschritt. Denn man schuf sowohl die (Methode der) Analysis als auch die Hilfsannahme der Möglichkeitsbestimmungen (Dihorismoí); und insgesamt brachten sie die Geometrie ein großes Stück voran. Dabei waren die Optik und die Mechanik keineswegs vernachlässigt. Die ganze Sammlung (Ernte) der so erzielten Ergebnisse, aus der sehr viele körneraufpickende Nutznießer ihren Profit zogen, brachten sie (= die eigentlichen Philosophen) um dieser Dinge selbst willen ein. Denn es gab noch eine andere Art von Schulbesuchern, und sie nahmen sozusagen von jener Ernte ihren ‚Privatanteil‘ (= das in ihrem eigenen Interesse Liegende) auf. […]“

Dieses Zeugnis bestätigt die Informationen bei Proklos und ergänzt weitere Aspekte; unter ihnen ist die wichtige (wenn auch fürs Erste unklare) Notiz, dass die ‚altertümlichen‘ Ansätze des Hippokrates von Chios unter Eudoxos und seinen Schülern eine grundlegende Erneuerung erfuhren; und dass in der Akademie nicht nur ‚Platoniker‘ mathematische Forschungen betrieben, was die Umstände der Einbindung von Eudoxos und seinen Schülern insofern transparenter machen könnte, als eine Zusammenarbeit mit Platon nicht zwangsläufig mit einem Eintritt in die Akademie verbunden gewesen wäre. Trotz der Konvergenz der beiden Zeugnisse wurde die Zuverlässigkeit der Information, dass Platon als Wissenschaftsorganisator gewirkt habe, oftmals bezweifelt.89 Gleichwohl ist unbestreitbar, dass nicht nur bei Proklos zahlreiche bedeutende Mathematiker mit Platon und der Akademie in Verbindung stehen – es drängt sich ja in der Tat die Frage auf, „why should this galaxy of mathematical stars cluster around Plato?“ –,90 sondern auch, dass – in markantem Unterschied im Vergleich mit den Verhältnissen im 5. Jh. v. Chr. oder mit den späteren Philosophenschulen, einschließlich des Peripatos – zahlreiche Schüler Platons eine (wie auch immer geartete und

|| 89 Besonders vehement in jüngster Zeit von Zhmud 1998. 90 Das Zitat Morrow 1968, 18. Erst einmal nicht entscheidend ist in dieser Hinsicht, ob irgendeine Abhängigkeit von Platon bestand oder nicht: siehe zu dieser Frage Asper 2007, 154 (mit Anm. 416 für weitere Literatur) und ausführlicher aus einer allgemeinen Perspektive Asper 2003a. Festzuhalten ist jedoch (gegebenenfalls unter Absehung von den Mathematikergruppen des 4. Jhs. v. Chr., doch ließen sich auch diese in dieses Bild integrieren): „Das wenige, was über theoretische mathematische Wissensvermittlung in Klassik und oft sogar noch in der Kaiserzeit bekannt ist, deutet auf Einzelgespräche, wenn nicht sogar apprenticeship“ (Asper 2007, 151; vgl. 154 f.).

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wie tief auch immer gehende) Ausbildung in Mathematik genossen zu haben scheinen; man muss nicht nur an Aristoteles denken, bei dem sich ja eine äußerst hohe Vertrautheit mit Mathematik und der Philosophie der Mathematik zeigt, sondern auch an Speusippos, Xenokrates, Herakleides oder Philippos.91 Das Bild von Platon als Wissenschaftsorganisator (und Mathematiker) wird weiter dadurch gestützt, dass wir über zahlreiche unabhängige explizite Hinweise auf Platons Beteiligung an der Lösung einzelner mathematischer Fragen und Probleme verfügen. So wird Platon unter anderem in Verbindung gebracht mit der Theorie der Proportion und speziell der arithmetischen, geometrischen und harmonischen Mitte;92 mit dem Problem der Würfelverdopplung (‚Delisches Problem‘), das im Rahmen einer Gemeinschaftsanstrengung in der Akademie angegangen worden sei,93 wobei wir insbesondere von einem eigenen Lösungsvorschlag Platons auf ‚mechanischer‘ Basis hören94 sowie von einer grundsätzlichen methodologischen Diskussionen zur Zulässigkeit mechanischer Lösungen im Allgemeinen zwischen Platon einerseits sowie Archytas, Eudoxos und Menaichmos andererseits95; mit den Methoden von Dihorismos und Analysis;96 mit einer Methode zum Auffinden rechtwinkliger rationaler Dreiecke, das heißt pythagoreischer Tripel;97 und mit der Theorie (wenn auch nicht || 91 Zur Mathematik speziell bei Aristoteles siehe Heath 1949; zur Philosophie der Mathematik siehe Metaph. M–N, wo Aristoteles ja auch umfänglich die (wohlgemerkt verschiedenen) akademischen Positionen diskutiert (siehe Annas 1976); vgl. unten Anm. 663. Die Verbindung der philosophischen Platon-Schüler zur Mathematik zeigt sich deutlich in Zhmuds 1998, 237 komprimierter Zusammenstellung. Dieser Sachverhalt wäre auch dann stark erklärungsbedürftig, wenn es tatsächlich richtig sein sollte, dass „strictly speaking, none of Plato’s immediate students achieved anything remarkable in mathematics“ (Zhmud 1998, 237): Auch in diesem Fall muss geklärt werden, warum für diese Gruppe von Philosophen Mathematik eine derart herausgehobene Stellung hatte. Gerade im Vergleich mit dem kulturgeschichtlichen Kontext des 4. Jhs. v. Chr. (siehe hierzu unten, speziell Kap. 6.7) liegt es im Übrigen fern, mit Zhmud jegliche mathematische Ausbildung für die Akademie ausschließen zu wollen. Kein beweiskräftiges Argument ist, dass Platons Schüler bei seinem Tod schon älter gewesen seien und „at this age they were more suited to teaching than to learning mathematics“ – und zudem sei es ja überhaupt „difficult to imagine Plato himself teaching mathematics“ (Zhmud 1998, 236). Für eine umfassende Perspektive auf die Akademie als Unterrichtsort siehe Müller 1994. 92 Pappos, Coll. 3, p. 86, 19–88, 4; Pappos, in Euc. X p. 1, 1–2 und 1, 9, 13; Ps.-Plutarch, De musica 1139B–1140B; vgl. Porphyrios, in Harm. p. 113, 27–115, 24. Eventuell ist hier die Lehre vom ‚Schnitt‘ (τομή) einzuordnen (Proklos, in Euc. p. 67, 6–8; siehe oben mit Anm. 87). 93 Plutarch, De genio Socratis 579A–D; De E apud Delphos 386D–E; Theon von Smyrna, De utilitate mathematicae p. 2, 3–12; Asklepios von Tralleis, in Nicom. Ar. p. 61; Vitruv, De architectura 9, praef. 13 f.; Anonymus, Prolegomena in Platonis philosophiam 5, 13–24; Philoponos, in APo. p. 102, 12–23; Valerius Maximus, Factorum et dictorum memorabilia 8, 12, ext. 1. Siehe zum gesamten Problemkomplex ausführlich unten Kap. 5. 94 Zu Platons eigener (mechanischer) Lösung siehe Eutokios, in Archim. Sph. Cyl. p. 56, 13–58, 14. 95 Plutarch, Quaestiones convivales 718E–F; Marc. 14, 8–12. 96 Diogenes Laertios 3, 24; Proklos, in Euc. p. 211, 18–212, 4; Philodemos, Acad. Ind. p. 152 f. Siehe hierzu Menn 2002. 97 Proklos, in Euc. p. 428, 7–429, 8; Heron, Geom. p. 57 f.; Σ Euklid, Elem. 1, 149.

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Entdeckung) der regulären (‚platonischen‘) Körper.98 Schließlich sollen einige der genannten Mathematiker wichtige Entdeckungen in Verbindung mit ihren Forschungen an der Akademie gemacht haben, sowohl der angeführten Proklos-Stelle zufolge als auch gemäß anderen Zeugnissen: Nicht nur ist der temporäre Aufenthalt von Eudoxos und seinen Schülern an der Akademie zu nennen99 oder das schon erwähnte Überlassen von mathematischen Fragestellungen und Methoden an Eudoxos und Leodamas, sondern auch die Beschäftigung mit dem Problem der Würfelverdopplung, im Zuge deren Eudoxos und Archytas ihre wichtigsten geometrischen Erfolge feierten und Menaichmos sogar allem Anschein nach die Grundlage der späteren Theorie der Kegelschnitte legte.100 Nimmt man diese direkten und indirekten Zeugnisse zusammen, ist das Bild eindeutig: Einerseits hatte Mathematik eine eminente Funktion und Bedeutung im Rahmen von Platons Philosophie, und andererseits leistete Platon einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der Mathematik als Fachwissenschaft.101 Insofern bestätigt sich die Information, die Proklos im Mathematikerkatalog zu Platon und der ersten Hälfte des 4. Jh. v. Chr. gibt. Eine genaue Erforschung der reichhaltigen authentischen Zeugnisse bei und zu Platon verspricht wichtige Aufschlüsse über die ansonsten dunkle frühe Zeit von Mathematik in Griechenland vor Aristoteles und Euklid. Allerdings wurde der wissenschaftshistorische Wert dieser Zeugnisse insgesamt grundsätzlich in Zweifel gezogen. So ist durchaus offen, ob wir sie überhaupt zum vorgeschlagenen Zweck nutzen können. Grundlage der Skepsis ist das sich aus den Zeugnissen selbst ergebende, traditionelle Platon-Bild, denn es scheine die historischen Verhältnisse so sehr zu verfälschen, dass die Zeugnisse für eine Rekonstruktion nicht brauchbar sind, ja: diese sogar in eine grundsätzlich falsche Richtung lenken und also in der Konsequenz am besten zu ignorieren seien: The ‚Plato-centric‘ view of ancient philosophy is honoured because of its antiquity (it comes from the Neoplatonic school) and because of the number of people who shared it; however the major-

|| 98 Ti. 53c–55c; Σ Euklid, Elem. 10, 62. Vgl. das ‚Tessareskaidekaeder‘: Heron, Deff. 104; siehe Waterhouse 1972, 219–221; vgl. Gaiser 1968, 468 f. Vgl. oben mit Anm. 57. 99 Siehe unten Kap. 5.2.2 mit einer ausführlichen Diskussion der Zeugnisse. 100 Zumindest gilt Menaichmos’ Lösung als erster fassbarer (Proto-) Beleg für die Theorie der Kegelschnitte; vgl. speziell Eutokios, in Archim. Sph. Cyl. p. 56, 1–106, 24; die zweite mathematische MenonStelle (86e–87b) wird in diesem Zusammenhang gewöhnlich ignoriert: vgl. unten Kap. 6.5. Speziell zur Würfelverdopplung siehe Heath 1921, 1, 251–258 und ferner Knorr 1986, 49–99, Knorr 1989, 11–153 und Netz 2003b. Zur Bedeutung der Lösungen der Würfelverdopplung für Archytas und Eudoxos siehe unten Kap. 5.2.1. Die mathematischen Entdeckungen von Platons Schülern bzw. den Mitgliedern der Akademie sind weitestgehend gesammelt in Lasserre 1987; vgl. Riginos 1976. 101 Zum ersten Punkt siehe etwa Cornford 1932, Frajese 1963, Burkert 1982, Mittelstraß 1985, Gaiser 1986, Burnyeat 1987, Mueller 1991a, Mueller 1991b, Mueller 1992 und Burnyeat 2000; zum zweiten Punkt vgl. insbesondere unten mit Anm. 108. Zur Rezeptionsgeschichte des ‚Mathematikers Platon‘ siehe zum Beispiel Napolitano 1988, Schmitt 2001, Radke 2003 und Schmitt 2008.

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ity of experts for a long time now has not shared this view, and it has brought nothing except misunderstanding to the history of Greek science.102

Zwar wird nicht bestritten, dass Platon ein großes Interesse an Mathematik hatte – dies ergibt sich transparent ja aus dem überlieferten Werk selbst –, wohl aber, dass er einerseits über die notwendige fachliche Kompetenz verfügt oder an deren Besitz überhaupt interessiert gewesen sei und dass er andererseits irgendeine Bedeutung für die Entwicklung der Fachwissenschaft gehabt habe.103 Hierin spiegelt sich, dass Platons Beziehung zur und Einfluss auf die Fachmathematik eine der strittigsten Fragen der Platonforschung überhaupt ist: Während Platon vornehmlich in der älteren Forschung, ganz in Entsprechung zum so weit aus den Zeugnissen selbst gewonnenen Bild, als „Architekt der Wissenschaften“ gesehen wird,104 gilt er vor allem in der jüngeren Forschung als Mathematik-Dilettant mit höherem Anspruch als Können,105 dessen mathematikhistorische Zeugnisse zudem durch die philosophische Einbettung kontaminiert seien.106 Dies gilt auch und gerade für einen hier noch nicht angesprochenen Aspekt von Platons mutmaßlicher Rolle in der Entwicklung der Mathematik, nämlich als jemand, der im Sinn der im Liniengleichnis der Politeia (R. 509d– 511e) ausgedrückten Gedanken gegebenenfalls nach einer ‚Grundlagenkrise‘ infolge der Entdeckung der Inkommensurabilität107 eine Reform der Mathematik auf dem Weg einer strengen Axiomatisierung einforderte und selbst betrieb, mithin die letzte Stufe der Herausbildung der ‚Elemente‘ initiierte108 – welche Position ja allein schon deshalb fragwürdig ist, weil es eine derartige Grundlagenkrise überhaupt nicht gege-

|| 102 Zhmud 1998, 234. 103 Vgl. Zhmud 1998, 235: „Certainly, Plato knew and valued mathematics and often used mathematical examples in his reasoning. But was this love mutual? To judge from the Elements of Euclid, whom Proclus or his source enlisted as a Platonist, this was not the case.“ Vgl. oben mit Anm. 56. 104 Vgl. Zeuthen 1913, Solmsen 1931 und Gaiser 1986, 119–122. 105 Vgl. Zhmud 1998, Zhmud 2006, Cherniss 1945 und Cherniss 1950/1; siehe auch M. White 2006b. 106 Für eine solche Einschätzung vgl. zum Beispiel Cuomo 2001, 25 f., die „Plato the philosopher“ von „Plato the historian of science“ unterscheidet und die vom Letzteren gegebenen Informationen kategorisch für weniger problematisch hält. Instruktiv Cuomo 2001, 5: „no strictly mathematical text has survived from the fifth or fourth century BC. I say ‚strictly‘ mathematical because we do have a good number of texts which have a lot to say about mathematics, written by people like Plato or Aristotle, who can be more properly called philosophers. They were less interested in providing an accurate depiction of contemporary mathematicians and mathematics than they were in making philosophical points – what they say cannot be taken as ‚neutral‘ information.“ Vgl. oben mit Anm. 60. 107 Siehe R. 509d–511e, insbesondere R. 510c1–d3; so Becker 1966, 14. 108 Für eine wichtige Rolle zum Beispiel Zeuthen 1913, Solmsen 1931 und Gaiser 1986, 119–122; dagegen zum Beispiel Szabó 1978, 322–328 und Waschkies 1995, 116; vgl. von Fritz 1961, 618: Platon habe sich als Philosoph nur für die Mathematik interessieren können, „weil sie ihm als eine solche Wissenschaft schon vorlag“, nämlich als „eine nach strengen logischen Gesetzmäßigkeiten fortschreitende und zugleich im eminenten Sinne eine Strukturen aufhellende Wissenschaft“. In diesem Sinn auch Burkert 1982, insbesondere 138 f.

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ben zu haben scheint, sondern es sich bei dieser wohl nur um eine Projektion der Grundlagenkrise der modernen Mathematik um 1900 in die Vergangenheit handeln dürfte.109 Zumal grundsätzlich in Frage gestellt wurde, ob eine solche Axiomatisierung überhaupt von signifikanter Relevanz für die mathematische Forschung selbst war und nicht sowieso eher ein sekundärer Aspekt der Systematisierung des mathematischen Wissens zu dieser Zeit und / oder nicht sogar schon immer ein essentielles Charakteristikum griechischer Mathematik war.110 Die mathematischen Stellen in Platons Werk scheinen den Eindruck der mangelnden Kompetenz bei einem genaueren Blick zu bestätigen; oftmals erscheint Platon gewissermaßen nur mehr als Wiedergänger des Philolaos, der sich in Zahlenmystik übt.111 Um nur die Politeia heranzuziehen, legt dies zum Beispiel die sogenannte Hochzeitszahl (R. 546a–d) nahe (welche auch immer sie ist) oder die Berechnung, um welchen Faktor unglücklicher die Seele eines Tyrannen im Vergleich mit derjenigen eines Königs sei (R. 587b–588a) – nämlich (3²)³ = (3⋅3)⋅(3⋅3)⋅(3⋅3) = 729.112 Ebenso scheint Platon oftmals nicht gerade sachkundig Gebrauch von mathematischen Sachverhalten zu machen; so sagt er etwa im Timaios, die von ihm zur Beschreibung der Welt genutzten vier Elemente seien qua reguläre Körper durch eine geometrische Proportion verbunden, wofür sich jedoch trotz zahlreicher Versuche mathematisch kein passender geometrischer Parameter hat identifizieren lassen (Ti. 31b–32c);113 oder es ist ihm im Liniengleichnis (R. 509d–511e) nicht wichtig, dass eine zentrale mathematische Eigenschaft der in vier Teile geteilten Linie – die essentielle Aspekte der philosophischen Lehre wiedergeben soll –, allem Anschein nach einer zentralen Aussage seiner Philosophie widerspricht, nämlich insofern einerseits die beiden mittleren Segmente gleich lang sind und es andererseits doch ein stetig zunehmendes Maß von Wahrheit und Wirklichkeit hin zu den Formen geben sollte.114 Und wie sehr konnte Platon überhaupt allgemein an Mathematik um ihrer selbst willen interessiert sein, wenn er sich in Politeia VI–VII dezidiert und ausführlich gegen die Mathematik wen-

|| 109 Siehe Fowler 1999, 356–369 und Knorr 1986, 86–88; vgl. oben Anm. 5 und unten Anm. 122. 110 Siehe zum Beispiel Zhmud 1998, 235; in diesem Sinn ausführlicher Waschkies 1995, 112–116: Die Benutzung von Definitionen lasse sich bis an den Anfang des 5. Jhs. v. Chr. zurückverfolgen. 111 Zu Philolaos als ‚Mathematiker‘ siehe neben Burkert 1962 auch Huffman 1993, 54–77; siehe 55 und 76 zur vermeintlichen Ähnlichkeit mit Platon. Siehe ebenso McKirahan 2013 und Huffman 2013. 112 Die rätselhafte Hochzeitszahl wurde in der Forschung kontrovers und viel diskutiert, bisher freilich ohne allgemein akzeptiertes Ergebnis. Eine Übersicht über die Literatur kann hier nicht gegeben werden; siehe aber exempli gratia Barton 1908, Brumbaugh 1954, 107–150, Ehrenfels 1962, Kayas 1972, Gaiser 1974, Ehrhardt 1986 und Blössner 1999. Die Identität der Zahl wurde schon in der Antike diskutiert: vgl. McNamee & Jacovides 2003. Die Zahl des Tyrannen wird schon seit Langem für eine bloße Spielerei gehalten: vgl. Laird 1916; siehe aber Brumbaugh 1954, 151–160; zum gesamten Hintergrund siehe Parry 2007. Zu beiden Zahlen siehe jetzt auch Huffman 2015. 113 Siehe etwa Vitrac 2006 für eine ausführliche Diskussion. 114 Siehe insgesamt unten Kap. 6; vgl. das dort in Anm. 610 angeführte Zitat.

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det und sie im Ergebnis vehement gegenüber der Philosophie abwertet?115 Kann also, zusammengefasst, die Annahme überhaupt plausibel sein, dass Platon als jemand ernstzunehmen sein könnte, der hinreichend Einblick in die mathematischen Kenntnisse seiner Zeit hatte – und diese entsprechend auch für uns liefern könnte? Angesichts der schwerwiegenden Probleme und Fragen ist durchaus offen, ob wir die Zeugnisse bei und zu Platon für die Erforschung der voreuklidischen Fachmathematik überhaupt nutzen können – ja: es ist sogar der Fall, dass sich die Forschung zur Mathematik bei Platon in einer Aporie zu befinden scheint, mitverursacht freilich durch das auch dieser Studie zugrunde liegende zentrale Problem, unsere spärliche Kenntnis der voreuklidischen Mathematik selbst. Ist der oben aufgezeigte Ausweg über Platon also methodologisch eine Sackgasse? Könnte der Versuch denn tatsächlich erfolgversprechend sein, mittels der Erforschung von Platons Beziehung zur Fachmathematik und ihrer Nutzung für philosophische Zwecke Einblicke in ihren voreuklidischen Zustand zu gewinnen? Ich denke ja. Denn es besteht die Möglichkeit, dass die skizzierten Probleme der Forschung darauf beruhen, dass noch nicht die richtige Perspektive gefunden wurde, von der aus das Material adäquat genutzt werden kann. Um zu prüfen, ob dies der Fall ist, müssen wir verstehen, wie es zum aporetischen Zustand der Forschung gekommen ist. Hier lassen sich insbesondere (A) zwei material- und (B) zwei wissenschaftsbezogene Defizite benennen. Ihre Offenlegung ist die Grundlage dafür, in einem folgenden Schritt eine neue, zielführende Perspektive auf das Material entwickeln zu können. (A) (i) In Hinsicht auf das Material ist erstens festzustellen, dass die meisten mathematischen Stellen in Platons Dialogen die mathematischen Sachverhalte nur sehr knapp und / oder nebenbei und / oder verrätselt erwähnen; Platon hat ja bekanntlich keinen mathematischen Traktat oder auch nur einen Dialog zu mathematischen Fragen verfasst.116 Entsprechend ist die Mathematik bis auf wenige Ausnahmen nicht in direkter Weise und so gut wie niemals um ihrer selbst willen thematisiert. Letzteres gilt auch für die angeführten umfangreicheren Passagen, denn hier wird Mathematik durchgängig dazu genutzt, genuin philosophische Probleme zu lösen, und / oder wird als etwas dargestellt, das auf Philosophie vorbereitet.117 Insofern erweist sich für Platon die philosophische Perspektive als primär gegenüber der mathematischen.

|| 115 Siehe unter anderem R. 510b2–511e5 und R. 533c8–e2. 116 Vgl. Waschkies 1995, 101 f.: Platons „Dialoge [sind] weder Mathematikbücher noch wissenschaftstheoretische Schriften […]. In seinen Werken, die zur Literatur im engeren Sinne gehören, findet man zwar immer wieder mathematische Beispiele, doch dabei handelt es sich häufig nur um mit dichterischer Freiheit formulierte Anspielungen, die oft so rätselhaft sind, daß sie seit der Antike das Erscheinen einer nicht minder rätselhaften Kommentarflut induziert haben.“ 117 Beispiele für den ersten Aspekt sind: Tht. 147d–148b zur Inkommensurabilität dient dem Auffinden von Formen; Men. 82a–85b zur Quadratverdopplung dient der Demonstration der AnamnesisLehre; Men. 86e–87b zum ‚Hypothesis‘-Verfahren dient der Erforschung der Tugend (ἀρετή). Ein Bei-

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(A) (ii) Zweitens stammen die einschlägigen Sekundärzeugnisse aus einem Zeitraum von über 1000 Jahren und zeigen demgemäß ein zutiefst heterogenes Bild; dies entspricht freilich mutatis mutandis der Situation hinsichtlich der Fachmathematik selbst. So müssen die in den Zeugnissen enthaltenen Informationen zur Mathematikgeschichte oftmals erst quellenkritisch kohärent freigelegt werden, insbesondere unter Berücksichtigung des Platonbildes und der Intention des jeweiligen Autors und im Kontext eines stimmigen Gesamtbildes von Platons Philosophie selbst.118 Betroffen hiervon ist speziell die diachrone Evolution der mathematischen Terminologie, denn hier ist offenbar, dass spätere Theoriezustände die Tendenz haben, frühere zu überlagern – die aber freizulegen gerade ein wichtiger Teil der eigentlichen Aufgabe ist.119 Zumal auch im Falle gleichbleibender Terminologie immer die Möglichkeit besteht, dass sich unterhalb der Decke der Kontinuität ein revolutionärer Paradigmenwechsel im Sinne Thomas Kuhns verstecken könnte.120 (B) (i) Wissenschaftsbezogen ist erstens festzustellen, dass der Problemkomplex bisher im Großen und Ganzen aus zwei zutiefst getrennten Perspektiven untersucht wurde: einerseits derjenigen der Literarhistorie und der Geschichte der Philosophie, oftmals jedoch ohne hinreichende Berücksichtigung des historischen fachwissenschaftlichen Kontextes; andererseits derjenigen der Geschichte der Mathematik, oftmals jedoch als ahistorische systematische Rekonstruktion im Rahmen und auf der Basis der modernen Mathematik und ohne hinreichende Beachtung der literarischphilosophischen Dimension.121 Erschwerend tritt hinzu, dass in der Regel die (bisher ungeschriebene) Geschichte der Geschichte der Mathematik nicht hinreichend berücksichtigt wurde, mithin insbesondere nicht die impliziten Voraussetzungen der || spiel für den zweiten Aspekt ist Politeia VII speziell in R. 522c–531d mit dem mathematischen Bildungsprogramm für die Wächter, das der Vorbereitung für die Dialektik dient. 118 Dieses Problem betrifft schon die Testimonien im Corpus Aristotelicum (und hat entsprechend zu kontroversen Diskussionen geführt): vgl. Cherniss 1945 und Annas 1976. 119 Die Mühseligkeit eines solchen Unterfangens zeigt exemplarisch die eingehende Diskussion einiger weniger ausgewählter Phänomene in Waschkies 2000a, Waschkies 2000b und Waschkies 2001. Ein wichtiges Hilfsmittel zu (nicht nur) diesem Zweck ist Muglers 1958 terminologisches Lexikon zur griechischen Mathematik. Ein Beispiel zu Thales wurde oben angeführt. 120 Siehe allgemein Kuhn 1996. Zudem ist (gerade für die Anfangszeit) für die Frage der Geltung von Ergebnissen mathematischer Forschung die Existenz und Wirkung von ‚Denkkollektiven‘ im Sinn von Fleck 1994 in Rechnung zu stellen; man denke etwa an ‚pythagoreische‘ und (gegebenenfalls) ‚platonische‘ Mathematik (siehe Burkert 1962 und Zhmud 1997). Zu den ersten Arbeiten, die eine Kuhnsche Perspektive in die Historiographie der antiken Fachmathematik eingeführt haben, sind die Analysen von Unguru (speziell Unguru 1975 und Unguru 1979 zur sogenannten ‚geometrischen Algebra‘: vgl. unten Anm. 122 sowie Anm. 36 für weitere Literatur) und Netz (speziell Netz 1999a zum Diagramm) anzuführen. Vgl. jüngst Sialaros 2018a, besonders mit Ungurus 2018 Plädoyer für das Einräumen der Möglichkeit von wissenschaftlichen Revolutionen im Sinne Kuhns auch in der Mathematik. 121 Vgl. zur ersten Perspektive Cornford 1932 und Annas 1981, 242–293; zur zweiten Perspektive Heath 1921, 1, 284–315, von Fritz 1969, Mugler 1948, Becker 1965, Becker 1966, Fowler 1999 (vgl. Artmann 1988) und Artmann & Mueller 1997.

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modernen (wie antiken) Rekonstruktion(en) der griechischen Mathematik und ihrer Entwicklung systematisch einbezogen wurden.122 Im Ergebnis liegen zwei oftmals unvereinbare Forschungsperspektiven vor, deren Vertreter sich gegenseitig oftmals mit starker Skepsis gegenüberstehen.123 (B) (ii) Schließlich fehlt, nicht zuletzt resultierend aus dem ersten materialbezogenen Defizit, noch immer eine umfassende kritische Edition mitsamt Kommentar aller relevanten Textpassagen und Testimonien zum Problemkomplex.124 Gerade dieser Umstand ist freilich angesichts der besonderen Natur des Materials einer der Hauptgründe für die festgestellte Aporie.

|| 122 Was offensichtlich ein schwerwiegendes Problem ist: So finden sich etwa in der Geschichtsschreibung der Mathematik in der Regel keine Spuren des Paradigmenwechsels in der Folge von Hilberts (et al.) Begründung der modernsten Mathematik (sieht man von der unbewussten Projektion der Grundlagenkrise um 1900 in die griechische Vergangenheit ab: siehe oben); vgl. zu diesem Problemkomplex Mueller 1969, Waschkies 1995, Waschkies 1998, speziell 370 f. und Asper 2007, 98 Anm. 36; vgl. Lattmann 2011, speziell 484 Anm. 1 f. (vor dem Hintergrund der Nicht-Beachtung dieser Zusammenhänge in Tóth 2010); siehe für eine allgemeine Perspektive Grattan-Guinness 2004; vgl. unten Anm. 6151. Ein instruktives Beispiel ist das Problemfeld der ‚geometrischen Algebra‘: siehe jüngst Sialaros & Christianidis 2016 (mit Überblick über die umfangreiche Literatur; vgl. Anm. 36); für weitere Beispiele siehe Beckmann 1967 mit einer modern axiomatisierten Reformulierung der Proportionenlehre in Euklid, Elem. 5 und Mueller 1981 (vgl. speziell 1–41 zu Hilberts Ansatz und Euklid, Elem. 1). In jüngster Zeit ist die Geschichte der Geschichte der griechischen Mathematik freilich stärker ins Blickfeld geraten; vgl. exempli gratia die Einzelstudien in Remmert & Schneider & Sørensen 2016. 123 So ist es insbesondere in der Mathematikgeschichte verbreitet, jeglichen substantiellen Einfluss der Philosophie auf die Entwicklung der Fachmathematik strikt zurückzuweisen: vgl. exempli gratia Knorr 1986, 86–88, Zhmud 1998, insbesondere 211–215 und Waschkies 2004, insbesondere 16. 124 Für das Corpus Platonicum existiert keine Zusammenstellung wie die von Thomas Heath für das Corpus Aristotelicum (Heath 1949). Die einzige kommentierte Edition ist Frajese 1963; sie ist aber zu selektiv und konzentriert sich nur auf ausgesuchte, besonders schwierige und oftmals kryptische Passagen, ohne die Testimonien und die bei Weitem zahlreicheren unauffälligen Stellen mit einzubeziehen, an denen Platon mathematische Terminologie nur nebenbei verwendet; zudem fehlt eine eingehende Diskussion der früheren Forschung. Ähnliches ließe sich zu Mugler 1948, Brumbaugh 1954, Böhme 2000 und Gregory 2000 sagen, und auch das Corpus (und die Interpretation) bei Gaiser 1968 ist weit davon entfernt, umfassend (und unproblematisch) zu sein, zumal hier primär die philosophischen Zusammenhänge im Vordergrund stehen. Vor diesem Hintergrund sind auch bisherige Rekonstruktionen von Platons Philosophie der Mathematik fragwürdig: vgl. etwa Wedberg 1955 und Pritchard 1995. Vgl. zum Problemkomplex auch Radke 2003. Daneben gibt es zahlreiche Untersuchungen zu einzelnen Problemfeldern und also auch zu den unscheinbaren Stellen, etwa aus jüngerer Zeit (nur exempli gratia: eine auch nur annähernd repräsentative Bibliographie würde den Rahmen dieser Fußnote sprengen): Waschkies 2000a, Waschkies 2000b, Waschkies 2001 und Berger 2003. Wichtig ist Muglers 1958 terminologisches Lexikon, das die unscheinbaren Stellen auch und gerade in der historischen Dimension zu erschließen hilft.

Plan der Untersuchung | 33

1.3 Plan der Untersuchung Der vorangehende Abschnitt hat zweierlei gezeigt: Einerseits ist Platon der früheste Autor, für den wir über authentisches Material aus erster Hand zur voreuklidischen Mathematik verfügen, und dieses reichhaltige Material deckt, ergänzt durch zahlreiche indirekte Zeugnisse, mit der ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. gerade diejenige Zeit ab, die signifikante Fortschritte in der Mathematik gezeitigt zu haben scheint. Andererseits verbinden sich mit diesem Material so schwerwiegende Probleme, dass es nötig ist, methodisch differenziert vorzugehen. Aus diesem Grund schlage ich vor, die Zeugnisse von und zu Platon in der Tat zu nutzen, die primären Erkenntnisziele zunächst einmal aber bescheidener zu stecken und den Blick weg von den komplexen Einzelheiten von Platons Verhältnis zur Fachmathematik zu wenden: Diese ließen sich nur in ihrer Gesamtheit und auf der Grundlage einer umfassenden Neu-Kommentierung des Materials hinreichend verstehen und in den wissenschaftshistorischen Kontext einordnen. Stattdessen werde ich versuchen, auf philologischem Weg den generellen Charakter von Platons Verhältnis zur Mathematik zu erschließen, und zwar sowohl in Hinsicht auf die allgemeinen Parameter der Rolle, die er im Rahmen ihrer Entwicklung gehabt haben könnte, als auch, offenkundig in enger Verbundenheit, in Hinsicht auf die grundsätzliche Bedeutung von Mathematik für sein philosophisches Projekt.125 Konkret frage ich nicht danach, was im Detail Platon von der Fachmathematik seiner Zeit wusste, sondern, wie Platon wusste, und zwar im Kontext einer Bestimmung davon, wozu er dieses Wissen meinte besitzen zu müssen. Der Fokus liegt nicht auf den konkreten Inhalten von Platons mathematischem Wissen – worüber sich die Forschung ja im Einzelnen anhaltend kontrovers streitet –, sondern auf der Methode in Hinblick auf den Zweck; oder mit anderen Worten: auf Platons mathematischer Praxis, und zwar sowohl in angewandter praktischer als auch in selbstreflexiver theoretischer Hinsicht unter Berücksichtigung der pragmatischen Dimension.126 Hiermit

|| 125 Ohne dabei jedoch, insoweit möglich, die metaphysische Dimension von Mathematik in den Fokus zu stellen, wie es etwa Gaiser 1968 tut; entsprechend wird der Problemkomplex der sogenannten ‚ungeschriebenen Lehre‘ hier weitestgehend ausgespart, insbesondere in Hinblick auf die etwaige Bedeutung von Mathematik im eigentlichen Bereich der Formen. Siehe hierzu auch Halper 2005. 126 Gerade die Praxis ist in den letzten Jahren in den Fokus der wissenschaftshistorischen Forschung zur griechischen Mathematik getreten: vgl. die programmatischen Anmerkungen von Netz 2003c, 275 f.: „The fundamental data available to us lack the robustness of solid evidence: we have many isolated pieces of text, but they do not, by themselves, form a solid pattern […]. And as a consequence, early mathematics has traditionally been a field where speculation was difficult to disentangle from fact. Over the last thirty years, this has been especially evident. We can note a move away from extrapolation, based on the philosophical sources in Plato and Aristotle, and into an analysis of the practices of the extant mathematical texts themselves […]. From the study of concepts, research has moved to the study of practice.“ Die Pointe der vorliegenden Studie ist dann freilich, dass es gerade Platons mathematische Praxis ist, die im Mittelpunkt steht.

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einher geht in der Tendenz eine Konzentration auf sicher authentisches Material und eine Abkehr von vergleichsweise unsicheren Zeugnissen in der indirekten Tradition und / oder ohne Einbettung in einen hinreichend rekonstruierbaren primären Sinnzusammenhang.127 In der Abkehr vom konkreten Inhalt von Platons mathematischem Wissen und unter dem gleichzeitigen Verzicht auf die Rekonstruktion eines Zeitstrahls der Entdeckung mathematischer Theoreme im Ausgang von Euklids Elementen kann der Schlüssel dazu liegen, verlässliche Einsichten in die voreuklidische Mathematik in der ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. zu gewinnen: Wie sich oben an Thales gezeigt hat, ist es einerseits vornehmlich die methodologische Dimension, die den spezifischen Charakter der Form von Mathematik bestimmt, zugleich aber aufgrund des fehlenden Materials unter den gegebenen Umständen nicht sicher rekonstruierbar ist; und andererseits verfügen wir bei Platon über ein reichhaltiges Material in dieser Hinsicht und können unser Verständnis durch interne Vergleiche und eine externe Kontrastierung mit der Methode der aristotelisch-euklidischen Mathematik hinreichend absichern.128 Offensichtlich ist jedoch, dass zu diesem Zweck eine Perspektive eingenommen werden muss, die zum einen eine Abkehr weg von einer rein positivistisch-historistischen Perspektive hin zu einer Perspektive vollzieht, die sich im weiteren Sinn allgemein im Feld der historischen Epistemologie verortet und insbesondere die Möglichkeit wissenschaftlicher Revolutionen im Sinne von Thomas Kuhn einräumt, die Wissenschaft also nicht als inhärent linear-kontinuierlichen Prozess versteht;129 und die zum anderen integrativ die bisherigen Paradigmen der Forschung zu Platons Mathematik zu verbinden vermag, also sowohl hermeneutisch der textlichen Ausgestaltung der Zeugnisse und ihrer Geschichtlichkeit gerecht wird, zugleich aber an dem wissenschaftlichen Inhalt und seiner historischen Verankerung interessiert ist und mithin

|| 127 Dieses Vorgehen folgt mutatis mutandis und mit engem Fokus sinngemäß der bei Waschkies 2000b, 37 f. formulierten Regel, „nach der alle Quellen, die in eine historische Rekonstruktion eingehen, primär in der chronologischen Reihenfolge der Autoren analysiert werden sollten, von denen diese Texte geschrieben sind und nicht in der Reihenfolge der Wissenschaftler, die in diesen Texten zitiert oder gar nur erwähnt werden; denn andernfalls läuft man Gefahr, die Rekonstruktionsversuche eines antiken Autors mit historischen Interessen für verläßliche Berichte über eine Zeit zu halten, von der er selber auch schon keine verläßlichen Nachrichten mehr hatte.“ 128 Eine enge Anbindung an den fachmathematischen Kontext wird dabei auch ein Kriterium dafür liefern, zu entscheiden, welche der zahlreichen divergierenden Rekonstruktionen von Platons ‚Philosophie der Mathematik‘ nicht nur potentiell, sondern aktual möglich sind. Traditionell ist primär eine Bestimmung der ontologischen Dimension von Platons Position das Ziel: vgl. Wedberg 1955, Pritchard 1995 und Gregory 2000. 129 Siehe Rheinberger 2007; vgl. Reichenbach 1938 und speziell Blättler 2015 für eine Anwendung auf Modelle; siehe Kuhn 1996 zur Theorie wissenschaftlicher Revolutionen, in Verbindung mit Fleck 1994 zum ‚Denkkollektiv‘. Zur Anwendung von Kuhns Theorie auf die antike Mathematik vgl. jüngst Sialaros 2018a, speziell Sialaros 2018b; vgl. oben Anm. 120.

Plan der Untersuchung | 35

den Charakter von Mathematik zu Platons Zeit an sich und im dynamischen Kontrast zu vorangehenden und nachfolgenden Zuständen rekonstruieren kann. Solch eine integrative philologische Rekonstruktion der literar-, mathematikund philosophiegeschichtlichen Zusammenhänge kann nur dann die genannten Früchte tragen und die skizzierte Perspektive auf die geschichtliche mathematische Praxis eröffnen, wenn sie von einem theoretischen Konzept getragen wird, das die entwicklungshistorischen Kategorien phänomenologisch beschreibbar macht. Eine solche Theorie ist die Modelltheorie: Sie vermag, grundsätzlich den Kern von Wissenschaftlichkeit zu beschreiben und macht so a fortiori auch die jeweils spezifischen Charakteristika der verschiedenen Stufen antiker griechischer Mathematik zugänglich. Denn die Verwendung von Modellen ist für Wissenschaft im Allgemeinen prinzipiell konstitutiv.130 Dies lässt sich dezidiert auch für die griechische Wissenschaft feststellen:131 Für sie gilt nicht nur, dass sie seit frühester Zeit in einer prägnanten Weise modellbasiert ist, sondern auch, dass sie, zumindest in der abendländischen Tradition, überhaupt die allererste Form von Naturbetrachtung ist, die systematisch abstrakte Modelle zum Zweck des Verständnisses und der Erklärung nutzt. Ein instruktiver Beleg ist Anaxagoras’ methodologisches Diktum, die Phänomene seien eine „Schau des Verborgenen“ (Diels & Kranz 59 B21a: ὄψις ἀδήλων τὰ φαινόμενα): Hier wird das Sichtbare und allgemeiner Wahrnehmbare als Modell für das noch Verborgene, auf diese Weise aber konkret Erschließbare interpretiert und nutzbar gemacht.132 Ein signifikantes Beispiel ist aber auch die aristotelisch-euklidische Mathematik selbst, denn für sie ist nicht nur die obligatorische Verwendung von Diagrammen, einer Sonderform von Modellen, charakteristisch, sondern diese werden hierdurch ja auch ein unabdingbarer Bestandteil der ersten wissenschaftlichen Theorien im engeren Sinn überhaupt.133 Mit den zwei Beispielen sind nicht nur repräsentative Verwendungen von Modellen in der griechischen Naturphilosophie und Wissenschaft benannt. Sie geben auch die zwei Grundtypen der hier vornehmlich zu beobachtenden und relevanten Modellbildung zu erkennen, nämlich eine ‚metaphorische‘ und eine ‚diagrammatische‘:134 || 130 Für einen Überblick über Modelle in der Naturwissenschaft und die diversen Ansätze der Modelltheorie siehe zum Beispiel Frigg & Hartmann 2017 sowie Hartmann 2010, Bailer-Jones 2010 und Frigg & Nguyen 2017; vgl. Morgan & Morrison 1999. 131 Für eine ausführlichere Entfaltung der Zusammenhänge siehe Lattmann 2015. 132 Siehe Regenbogen 1961, 141–194 und Diller 1971, 119–143; vgl. Lattmann 2010, 54–57. 133 Zum Diagramm als für die griechische Mathematik grundlegenden methodologischen Sachverhalt siehe Netz 1999a und vgl. unten Kap. 3 sowie (weniger ausführlich) Lattmann 2018; siehe unten Anm. 147 für weitere Literatur. Zur axiomatisch-deduktiven Struktur der antiken Mathematik siehe oben Kap. 1.1 und siehe speziell Mueller 1981 und Asper 2007, 94–212; zur Frage der Systematik im Kontext antiker Wissenschaft siehe Asper 2016. 134 Für den Hintergrund siehe Kralemann & Lattmann 2013a sowie Kralemann & Lattmann 2013b; eine genaue Explikation erfolgt unten in Kap. 2. Um den Begriff des Modells für die weiteren Ausführungen in der Einleitung terminologisch zu fixieren, sei hier nur so viel vorausgeschickt, dass sich

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Während eine primär metaphorische Modellbildung vor allem für die Frühzeit griechischer Naturphilosophie charakteristisch ist (man denke etwa an Empedokles),135 gewann die zweite, ‚diagrammatische‘ im Laufe der Zeit mehr und mehr an Bedeutung. Modelle, die auf der Basis rein semantischer Relationen operierten, wurden abgelöst von Modellen, die auf der Basis quantitativer Relationen operierten, und diese Relationen wurden als Abbildung ‚real‘ existierender Relationen konzipiert und interpretiert. Im Ergebnis wurde der griechische modellbasierte Zugriff auf die Welt nach und nach immer ‚mathematischer‘ und mithin (auch und gerade im modernen Sinn) ‚wissenschaftlicher‘.136 Wenngleich sich schon in den frühesten Zeugnissen Modelle finden, mit deren Hilfe die Natur erklärt werden soll – so beschreibt etwa Hesiods gesamte Theogonie ein relativ einfaches biologisches metaphorisches Modell, das alle Naturphänomene auf der Grundlage einer Identifizierung mit (den) Göttern mittels einer systematischen Eingliederung in die göttliche Genealogie, also anhand von Verwandtschaftsrelationen zu beschreiben sucht137 – und wenngleich sich beinahe ebenso früh mathematische Modelle finden, die mittels einer direkten quantitativen Repräsentation (eines wohlbegrenzten Ausschnitts) der Welt bei der Bewältigung einzelner praktischer Probleme helfen sollen – ein Beispiel sind die Diagramme im Tunnel des Eupalinos auf Samos oder auf den Ziegeln des Artemis-Tempels in Ephesos, mithin aus der Mitte des 6. Jh. v. Chr. bzw. sogar aus dem 7. Jh. v. Chr.138 –, treten mathematische Modelle mit vollem Nachdruck sowohl als systematisch verwendetes Werkzeug als auch als Objekt abstrakter theoretischer Reflexion authentisch und aus erster Hand fassbar tatsächlich erst mit Platon in den Fokus – dann aber mit um so größerer Dringlichkeit, freilich nicht verwunderlich angesichts von Platons oben entfalteter Hochschätzung der Mathematik.139 Auch insofern ist Platon ein geeigneter Einstiegspunkt, um die voraristotelisch-voreuklidische Mathematik zu erforschen.

|| Modelle als icons im Sinne von Charles S. Peirce’ Zeichentheorie (und vice versa) bestimmen lassen: Modelle sind Zeichen, deren Repräsentationalität mit Bezug auf eine monadische (einfach-relationale) Qualität besteht. Insofern diese Qualität drei spezifische Ausformungen haben kann, ergeben sich (erschöpfend) ‚bildliche‘ (images), ‚diagrammatische‘ (diagrams) und ‚metaphorische‘ (metaphors) icons, sc. Modelle. Zu den diagrammatischen Modellen gehören speziell ‚mathematische‘ Modelle. Vgl. im Übrigen Lattmann 2012 mit einem Fokus speziell auf metaphorischen icons (sc. Metaphern), für eine Anwendung Lattmann 2010. 135 Vgl. Aristoteles’ Kritik hieran etwa in Mete. 357a24–28; Top. 139b32–140a2; APo. 97b31–39; siehe Lattmann 2010, 44–59 (mit weiterer Literatur). 136 Siehe Lattmann 2015. 137 Siehe Lattmann 2016. 138 Speziell zu den Diagrammen siehe Käppel 1999 bzw. Schädler 2001; vgl. Hahn 2017, insbesondere die Einleitung. Erinnert sei daran, dass die früheste Bezeugung des Wortes (und Begriffs) παράδειγμα im Sinne von ‚Modell‘ für den Tunnel des Eupalinos zu verzeichnen ist (siehe Käppel 1999). Zur Charakteristik dieses Modells siehe unten Kap. 4.6. 139 Vgl. die oben angeführten Stellen und siehe für einen knappen Überblick M. White 2006b.

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Ein instruktives Beispiel ist das Liniengleichnis (R. 509d–511e): Hier dient Platon eine mathematische Linie als Modell dafür, die spezifische (im modelltheoretischen Sinn) ‚diagrammatische‘ Relationalität von Denken und Wahrnehmung, sowohl separat als auch als System, in ihrer interdependenten Komplementarität bildlich zu repräsentieren – und zwar mit rekursivem Meta-Bezug zur Mathematik selbst, macht Platon doch anhand dieses mathematischen Modells in Verbindung mit den Ausführungen zum Bildungsprogramm in Politeia VII (R. 522c–531d) umfangreiche und eingehende Ausführungen in Bezug darauf, was Mathematik überhaupt ist und was sie epistemisch leistet. Insoweit diese Anmerkungen in Politeia VI–VII inmitten der Kette Sonnengleichnis – Liniengleichnis – Höhlengleichnis stehen, also eines der zentralen Ausdrücke der platonischen Philosophie, wird die Bedeutung von Mathematik für Platon prominent hervorgehoben – und, wichtiger noch, zugleich auch mathematische Modellierung als Inbegriff der mathematischen Praxis für Platon bestimmt.140 Ein ebenso instruktives Beispiel ist der Timaios: In diesem Dialog nutzt Platon bekanntermaßen die vier regulären mathematischen Körper Tetraeder (‚Pyramide‘), Oktaeder, Ikosaeder und Würfel (das Dodekaeder ist ausgespart), um sie mit den traditionellen Elementen Feuer, Luft, Wasser und Erde gleichzusetzen und so die gesamte stoffliche Welt vom Allerkleinsten bis zum Allergrößten auf mathematische Körper zurückzuführen; er geht dabei sogar so weit, dass er einerseits den mathematischen Aufbau dieser regulären Körper und ihre an die moderne Chemie erinnernden quantitativen Transformationsrelationen beschreibt und andererseits die größten Strukturen im Kosmos einschließlich des Planetensystems mathematisch modelliert.141 Im Ergebnis liegt ein Gegenstück zum Liniengleichnis (R. 509d–511e) und der mathematischen Passage in Politeia VII (R. 522c–531d) vor, nämlich die praktische Umsetzung der dort anhand des Modells programmatisch entwickelten Theorie der mathematischen Modellierung, und zwar augenscheinlich als ‚Rettung der Phänomene‘, die die Wahrnehmung umfassend beschreibt und mit der philosophischen Erklärung der Welt kompatibel macht.142 Angesichts dieser Sachlage ist es zum gegebenen Zweck erfolgversprechend, sowohl Platons Theorie der mathematischen Modellierung im Liniengleichnis als auch

|| 140 Hiermit ist an sich noch kein Urteil in der kontrovers diskutierten Frage der Zusammengehörigkeit der Gleichnisse gesprochen (um nur jeweils einen Vertreter anzuführen: pro Szlezák 1997, 211– 213, contra Robinson 1953, 181–190); für einen Gesamtüberblick siehe Annas 1981, 242–271. 141 Für einen Überblick siehe unter anderem Cornford 1937, Vlastos 2005, Mohr 1985, Calvo & Brisson 1997, Johansen 2004 und Broadie 2012 (speziell 7–83 für modelltheoretisch relevante Aspekte). 142 Das Wissenschaftsprogramm der ‚Rettung der Phänomene‘ wurde in der Antike mit Platon verbunden: vgl. Simplikios, in Cael. p. 488, 14–24. Die communis opinio sieht nicht Platon, sondern zum Beispiel Eudoxos oder die Pythagoreer als Urheber dieses Prinzips; unbestritten ist jedoch, dass es der mathematisch-astronomischen Wissenschaft seiner (und mithin der voreuklidischen) Zeit entstammt. In diesem Zusammenhang sei auf die Arbeiten von Mittelstraß 1962, Lloyd 1978 und Zhmud 2006, 86–89 verwiesen; siehe auch Vlastos 2005, 110–112, der sich jedoch weniger skeptisch zeigt.

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Platons komplementäre Praxis mathematischer Modellierung im Timaios im Detail zu analysieren: Einerseits werden wir, wenn wir das programmatische mathematische Modell ‚Liniengleichnis‘ verstehen, Platons theoretische Position zur mathematischen Modellierung und mithin zur mathematischen Praxis verstehen; und andererseits werden wir beurteilen können, inwiefern Mathematik in der Form von mathematischer Modellierung eine praktische Relevanz im Rahmen von Platons philosophischem Gesamtprojekt hatte. In diesem Sinn ist mit Liniengleichnis und Timaios der Kern der aufgeworfenen Fragestellung berührt.143 Gleichwohl sind diese Passagen bekanntlich so komplex und schwierig,144 dass eine jede plausible Deutung auf einem stabilen und sicheren wissenschaftsphilosophischen und -geschichtlichen Fundament aufruhen muss. Daher ist in einem ersten Schritt der Begriff des Modells zu klären. Dies ist auch insofern angezeigt, als Modelle erst seit Kurzem das vertiefte Interesse der Wissenschaftsphilosophie gefunden haben und man erst langsam beginnt, Modelle als Entitäten sui generis ernstzunehmen: Zentrale Fragen speziell zur ontologischen und epistemologischen Dimension sind bisher noch nicht geklärt. So kann diese Untersuchung nicht auf allgemein verfügbares Wissen zurückgreifen. Vielmehr muss die spezifische Natur des Untersuchungsgegenstandes für die Analyse erst noch zugänglich gemacht werden.145 Zu diesem Zweck werde ich einen spezifischen modelltheoretischen Ansatz zugrunde legen, der geeignet ist, sowohl theoretisch als auch historisch das Material hinreichend adäquat zu analysieren. Diese Modelltheorie operiert im Rahmen der allgemeinen Zeichentheorie des Philosophen Charles S. Peirce. Sie macht sich eben diese Verankerung in einem umfassenden theoretischen Rahmen zunutze und kann, insofern sie prinzipiell alle Arten von Zeichen zugänglich macht, die Brücke zu einer

|| 143 In diesem Sinn erhebt die Analyse in Bezug auf Platon primär nur den Anspruch auf Gültigkeit für den von Politeia und Timaios aufgespannten Rahmen, das heißt eine Position, die insbesondere die Gegenstände der physikalischen Welt als ‚Kopien‘ der ‚Formen‘ konzipiert (vgl. knapp Zeyl 2000, xviii–xix). Die Analyse wird daher insbesondere nicht eine etwaige historische Entwicklung Platons und seiner Philosophie in den Blick nehmen (für einen knappen Überblick zum Corpus und zur anhaltenden Diskussion zur Chronologie siehe Irwin 2011, auch Cooper 1997, xii–xviii; vgl. Brandwood 1992 für einen systematischen Überblick und Brandwood 1990 für eine umfassende Aufarbeitung einzelner Ansätze) noch die (vermeintliche) (Selbst-) Kritik Platons an der Formenlehre im Sinn des Dritter-Mann-Arguments im Parmenides (insbesondere 132d–133a) diskutieren (und also a fortiori auch nicht hinsichtlich ihrer Berechtigung bewerten): vgl. zum letzten Punkt die Studie von Vlastos 1954 und auch Patterson 1985, aber andererseits Meinwald 1991 und Meinwald 1992. Siehe im Übrigen Gill 2006 und Shields 2011. Zum heuristischen Wert des Konzepts der Entwicklung siehe für einen ähnlichen Fall (Aristoteles) die Anmerkungen von Rapp 2006. 144 Diese Texte stehen seit jeher im Fokus der Forschung; ihr Verständnis ist teils hoch umstritten. Um nur das Liniengleichnis anzuführen: Die Bibliographie von Lafrance 1987 verzeichnet mehr als 150 Arbeiten zum Gleichnis selbst und mehr als 700 weitere zu seinem unmittelbaren und mittelbaren sachlichen Kontext, ohne auch nur annähernd den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. 145 Siehe hierzu und auch als Einführung zum Modell die oben Anm. 130 angeführte Literatur.

Plan der Untersuchung | 39

hermeneutischen Philologie und historischen Epistemologie schlagen.146 Insgesamt besteht die Aussicht, Platons mathematische Modelle und hierdurch Platons mathematische Praxis sowohl in der theoretischen als auch in der praktischen und sowohl in der fachwissenschaftlichen als auch in der philosophischen Dimension zu erschließen: In all diesen Bereichen ermöglicht die gewählte Theorie auf der Basis eines zeitgenössischen wissenschaftsphilosophisch fundierten Standpunkts eine integrative Synthese auf dem neuesten theoretischen Stand, die im Rahmen der aktuellen Forschungsdebatten im historischen Kontext das besondere Profil von Theorie und Praxis mathematischer Modellierung bei Platon und damit den Kern seiner mathematischen Praxis transparent macht. Nach der Explikation des modelltheoretischen Ansatzes erfolgt eine erste Prüfung seiner Geeignetheit dadurch, dass ich mit seiner Hilfe den modus operandi der Mathematik euklidischen Typs erschließe, nämlich den Inbegriff der mathematischen Modellierungspraxis, das Diagramm, und zwar anhand von Euklids Elementen selbst. Eine solche wissenschaftsphilosophisch und -historische Rekonstruktion liefert einerseits einen Fixpunkt für die Untersuchung von Platons mathematischer Praxis und erlaubt, diese im Kontext ihrer eigenen Zeit und der historischen Entwicklung zu verorten,147 andererseits aber natürlich auch einen Fixpunkt für das Verständnis dessen, was die Mathematik euklidischen Typs selbst überhaupt auszeichnet, und damit von demjenigen Zustand, auf den hin sich die voreuklidische Mathematik entwickelt hat. Dieser Schritt der Untersuchung wird einen grundsätzlichen Beitrag zur allgemeinen mathematikhistorischen Forschung leisten, und zwar speziell durch die (bisher nur rudimentär bestehende) Anbindung der Analyse des antiken mathematischen Diagramms an die aktuellen Debatten in der Modelltheorie.148

|| 146 Siehe Kralemann & Lattmann 2013a und Kralemann & Lattmann 2013b. Diese Theorie integriert als besondere Aspekte sowohl die Modelltheorie der modernen Logik als auch (im mathematischen Sinn) abbildungsbasierte Modelltheorien (siehe zum Beispiel Balzer 1997 bzw. Stachowiak 1973) und gibt so ein erweitertes analytisches Instrumentarium an die Hand, das erlaubt, die spezifische Art und Weise der von Modellen geleisteten Repräsentation zu verstehen. 147 Zum in der jüngeren Forschung immer reger untersuchten antiken mathematischen Diagramm siehe unter anderem Manders 1995/2008b, Netz 1999a, Netz 2004b, 8–10, Norman 2006, Mumma 2006, Saito 2006, N. Miller 2007, Mumma 2008a, Mumma 2008b, Avigad et al. 2009, Mahr & Robering 2009, Macbeth 2010, Mumma 2010, Mumma & Panza 2012 (Einführung zu einem zweibändigen Sonderband der Zeitschrift Synthese zum Thema „Diagrams in mathematics: history and philosophy“), Coliva 2012, Catton & Montelle 2012, De Young 2012, Mumma 2012 und Humphreys 2017. All diese Arbeiten untersuchen das Diagramm nicht von einem modelltheoretischen Standpunkt aus (eine Ausnahme ist Mahr & Robering 2009; vgl. Coliva 2012), sondern entweder aus einer traditionell wissenschaftshistorischen Perspektive oder ahistorisch aus einer Perspektive der modernen Mathematik; hiervon eine Ausnahme machen die Arbeiten von Netz, die die historische mit der theoretischen Perspektive zu vereinen suchen (vgl. speziell Netz 1999a, Netz 2004c und Netz 2009). 148 Mit anderer und eingeschränkter Zielsetzung lege ich eine derartige Analyse in Lattmann 2018 vor; sie bildet die Grundlage der Explikation im Rahmen dieser Studie in Kap. 3.

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Auf dieser Grundlage werde ich den Gebrauch von mathematischen Diagrammen bei Platon selbst untersuchen und einen ersten Blick auf Platons mathematische Praxis werfen. Besonders geeignet hierfür ist die Stelle zur Verdoppelung des Quadrats im Menon (82a–85b): Nicht nur beinhaltet diese umfangreiche Passage die detaillierteste Konstruktion eines mathematischen Diagramms im platonischen Werk, es handelt sich sogar um das allererste fassbare authentische griechische mathematische Diagramm in der literarischen Tradition überhaupt – ja: die gesamte Passage „is our first direct, explicit, extended piece of evidence about Greek mathematics“.149 Zudem wurde dieses Diagramm, anders als etwa die Diagramme in Euklids Elementen,150 durch die Überlieferung nicht verfälscht, ‚modernisiert‘ oder sonstwie verändert – und zwar aus dem einfachen Grund, dass es nur textlich kodiert vorliegt und nicht als Bild. Dieser Umstand bedingt, dass das Diagramm nicht in seiner unmittelbar ‚diagrammatischen‘, das heißt ikonischen Form überliefert ist, und so stellt sich als Hauptaufgabe, das Diagramm aus dem Text heraus hermeneutisch adäquat in seiner bildlichen Gestalt zu rekonstruieren.151 Gerade dies wird den Blick auf die relevanten abstrakten semantischen Merkmale des Diagramms freimachen, und zwar in derjenigen Form, die Platon selbst ihnen gegeben hat und die ihm als signifikant erschienen. Im Ergebnis werden sich detaillierte Erkenntnisse dazu ergeben, ob und gegebenenfalls wie sich Platons mathematische Modellierung von der mathematischen Modellierung in der Fachwissenschaft unterscheidet, und mithin Einsichten in eine etwaige historische Entwicklung der Mathematik im Laufe des 4. Jhs. v. Chr. liefern. Wir verfügen freilich nicht nur über Zeugnisse für die praktische Seite von Platons mathematischer Praxis, sondern auch über Zeugnisse, die deren theoretische Dimension beleuchten. Unter ihnen betrifft ein umfangreicher und notorischer Zeugniskomplex die Anstrengungen zum Finden einer Lösung zum Problem der Würfelverdopplung, dem sogenannten ‚Delischen Problem‘.152 Hier soll Platon mit den her-

|| 149 So zu Recht Fowler 1999, 7; vgl. Waschkies 2000b, 38. Gewöhnlich wird dies in der mathematikhistorischen Forschung nicht beachtet: vgl. exempli gratia Cuomo 2001, 27–29, wo jeglicher Hinweis auf diesen Umstand fehlt. 150 Zu diesem grundsätzlichen Problem siehe knapp Netz 2004a, 8–10 und vgl. ausführlicher unten mit Anm. 310. Eine der Hauptfragen der gegenwärtigen Forschung zum antiken mathematischen Diagramm ist entsprechend seine historisch akkurate Rekonstruktion im Sinn einer kritischen Edition auf der Grundlage der Manuskriptvarianten, das heißt die Wiederherstellung des ‚originalen‘ Diagramms: vgl. hierzu die oben in Anm. 147 angeführten Arbeiten. Man beachte allerdings die Anmerkungen unten in Anm. 379. 151 Dies ist in entscheidenden Teilen noch nicht hinreichend gelungen, auch wenn vereinzelt eine Interpretation der Stelle vor dem Hintergrund der Mathematik euklidischen Typs erfolgt ist: vgl. Patterson 2007 (mit weiterer Literatur). Die explizite Beschreibung der Konstruktion des Diagramms in Men. 82a–85b lässt dies einen kategorial anderen Status haben als diejenigen Diagramme, die mehr oder weniger spekulativ in Brumbaughs 1954 Studie zum Zweck einer „recovery of new primary source material for the study of Plato“ (3) konstruiert werden. 152 Siehe Heath 1921, 1, 251–258, Knorr 1986, 49–99, Knorr 1989, 11–153 und Netz 2004a.

Zusammenfassung | 41

ausragenden Mathematikern seiner Zeit, unter anderem Archytas und Eudoxos, die methodologischen Grundlagen der Mathematik diskutiert haben, unter anderem in Hinblick auf die Frage, ob mechanische Lösungen für mathematische Fragen zulässig sind, mithin ob mathematische Sachverhalte mit mechanischen Mitteln modelliert werden dürfen. Mein Ziel ist, die methodologischen Parameter dieser Debatte zur mathematischen Praxis in der ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. zu rekonstruieren. Als Hauptproblem dieser Analyse erweist sich, dass die relevanten Zeugnisse der indirekten und späten Überlieferung entstammen und ihre Historizität umstritten ist, ja: einhellig negativ bewertet wird.153 Gleichwohl ist eine Untersuchung zum gegebenen Zweck sachdienlich: In jedem Fall erlauben die Zeugnisse Rückschlüsse zum späteren Bild Platons im Kontext mathematischer Modellierung, gegebenenfalls kontrastiv in Beziehung zu seinem überlieferten Werk – sollen die späteren Notizen doch auf falsch gedeuteten Stellen in Platons Schriften zurückführbar sein.154 So ist zumindest im Spiegel des Negativen eine Schärfung unseres Bildes von Platons modelltheoretischem Profil zu erwarten – und wenn andererseits doch ein positives Ergebnis zu verzeichnen ist, also zumindest partiell die Historizität der Zeugnisse erwiesen werden könnte, werden wir außerdem wichtige positive Erkenntnisse zu Platons Modellierungstheorie und -praxis im Kontext ihrer Zeit und im direkten Kontrast zur zeitgleichen Fachmathematik gewinnen. Relevant ist dies auch deshalb, weil die Zeugnisse nicht nur von einer Beteiligung Platons an den methodologischen Diskussionen berichten, sondern auch davon, dass es sich um eine großangelegte Gemeinschaftsunternehmung unter Leitung der Akademie gehandelt haben soll. So verspricht die Analyse auch genauere Einsichten zur mutmaßlichen Rolle der Akademie als eines Orts der mathematischen Forschung und damit zu Platons Rolle als ‚Architekt‘ der Wissenschaften in der ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr.

1.4 Zusammenfassung Um die bisherigen Überlegungen zusammenzufassen: Unser Wissen vom besonderen Profil der voraristotelisch-voreuklidischen Mathematik ist aufgrund der Überlieferungslage stark begrenzt. Eine Analyse der mathematikgeschichtlichen Zeugnisse hat sich aufgrund ihres spezifischen, euklidisch überformten Charakters als nicht zielführend erwiesen, zumindest insofern auf diesem Wege nicht ergründet werden kann, wie sich die frühe griechische Mathematik von ihrem klassischen Stadium in Methode und Zielsetzung gegebenenfalls unterschied. Als Ausweg aus der Aporie habe ich vorgeschlagen, nicht die gesamte voraristotelisch-voreuklidische Mathematik im Ausgang von Euklid zu rekonstruieren, sondern lediglich einen neuen Blick auf

|| 153 Siehe exempli gratia Zhmud 1998 und die oben in Anm. 56 angeführten Studien. 154 Siehe exempli gratia Riginos 1976, 141–146 und Kouremenos 2011 sowie Kouremenos 2015.

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denjenigen Zeitraum zu werfen, für den wir noch über sicher authentisches Material aus erster Hand verfügen. Dies ist die erste Hälfte des 4. Jh. v. Chr., und hierbei handelt es sich gerade um eine Zeit, in der sich allem Anschein nach die fachmathematische Forschung stark intensivierte. Als geeignetes Material habe ich die Zeugnisse bei und zu Platon identifiziert. Hier zeigt sich eine rege Verwendung von und Reflexion zu Mathematik, und zwar im direkten Austausch mit der Fachmathematik seiner eigenen Zeit. Zugleich handelt es sich um die allerersten direkten authentischen Zeugnisse zur Fachmathematik überhaupt: Wenn wir die frühe, voreuklidische Mathematik auf der Grundlage sicheren Materials untersuchen wollen, führt kein Weg an Platon vorbei. Freilich gilt dieses Material als nicht unproblematisch. So habe ich vorgeschlagen, zu seiner Nutzbarmachung eine Perspektive zu wählen, die den aporetischen Zustand der Forschung überwinden kann: Diese Perspektive legt nicht den Fokus darauf, was Platon im Einzelnen wusste, sondern wie er wusste und wozu: Die Fragen nach Methode und Zweck sind zentral dafür, die voreuklidische Mathematik in ihrer Differenz zur euklidischen Mathematik zu erschließen, zumal diese Aspekte aufgrund des Zuschnitts des verfügbaren Materials der blinde Fleck der Forschung sind. Zumindest für Platon verspricht die Natur der Zeugnisse aussagekräftige Antworten in dieser Hinsicht. Insofern allgemein und speziell auch im antiken wissenschaftshistorischen Kontext Modelle für Mathematik zentral sind und andererseits die Zeugnisse bei Platon eindeutig auf eine Theorie und Praxis der mathematischen Modellierung verweisen, habe ich als theoretische Grundlage der Analyse die zeitgenössische Modelltheorie gewählt. Diese Perspektive verspricht außerdem, den aporetischen Zustand der bisherigen Forschung zur Mathematik bei Platon überwinden zu helfen, denn sie ermöglicht angesichts ihres grundsätzlichen, der philologischen Erschließung des Materials einen sachlichen Halt gebenden Charakters einen integrativen Zugang. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Zielsetzung der vorliegenden Studie wie folgt: Als Beitrag zu einem besseren Verständnis der historischen Entwicklung der frühen griechischen Fachmathematik, aber aus evidenten Gründen zugleich auch von Platon als philosophischem Schriftsteller und schreibendem Philosophen, werde ich den frühesten in der Form authentischer Zeugnisse fassbaren Zeitraum der Mathematik euklidischen Typs, nämlich die erste Hälfte des 4. Jhs. v. Chr., mittels einer philologischen Analyse der Zeugnisse zur mathematischen Modellierung bei und zu Platon als Inbegriff der mathematischen Praxis erschließen, und zwar sowohl in der theoretischen als auch in der praktischen Dimension sowie hinsichtlich ihres Zwecks unter Einbezug philosophischer Aspekte und, wenn möglich, im direkten Vergleich mit verlässlichen Zeugnissen der eigentlichen Fachmathematik. Die Stationen der Analyse sind im Einzelnen wie folgt: (1) Ein erster Schritt entwickelt die methodische Grundlage und stellt den zugrunde gelegten modelltheoretischen Ansatz im Rahmen von Charles S. Peirces Zeichentheorie vor (Kap. 2). Dies wird erlauben, die mathematische Modellierungspraxis sowohl in der Fachmathematik als auch bei Platon sachlich adäquat zu bestimmen.

Zusammenfassung | 43

(2) Um einen festen Bezugspunkt zu gewinnen, in Hinsicht auf den die Charakteristik und die Entwicklung der frühen Mathematik bestimmt werden können, werde ich mittels des explizierten modelltheoretischen Ansatzes die sich insbesondere im mathematischen Diagramm zeigende Modellierungstätigkeit in der Mathematik euklidischen Typs erschließen und ihr spezifisches Profil herausarbeiten, auch und gerade in der Wechselwirkung mit dem eigentlichen mathematischen Text (Kap. 3). (3) Von diesem sicheren Standpunkt aus werde ich sodann das Diagramm zur Verdoppelung des Quadrats im Menon rekonstruieren und analysieren, mithin das allererste authentisch literarisch überlieferte Diagramm der griechischen Mathematik überhaupt (Kap. 4). Dies wird erlauben, Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Diagrammgebrauch in der Mathematik euklidischen Typs zu bestimmen. (4) Die historische Tiefendimension der mathematischen Praxis wird in einem weiteren und dezidiert theoretischen Rahmen anhand einer Untersuchung des Problemkomplexes der Würfelverdopplung (‚Delisches Problem‘) erschlossen. Ein besonderer Fokus liegt auf einer möglichen Rolle Platons in wissenschaftsorganisatorischer Hinsicht und einer etwaigen Methodenpluralität im Vorfeld der Herausbildung des wissenschaftlichen Paradigmas ‚Mathematik euklidischen Typs‘ (Kap. 5). (5) Was mathematische Modelle für Platon konkret leisten sollen, wird vor dem Hintergrund der so weit erzielten Ergebnisse anhand des Liniengleichnisses im Kontext von Sonnen- und Höhlengleichnis herausgearbeitet, also anhand eines Modells, das in seiner Verbindung von konkreter mathematischer Verfasstheit und expliziter Deutung durch Platon selbst den Kern von Platons theoretischer Position zur mathematischen Modellierung ausdrückt. In diesem Zusammenhang werde ich auch die Passage zur Funktion von Mathematik im Rahmen der Ausbildung der Wächter in Politeia VII analysieren und so Platons Sicht auf den Nutzen von mathematischer Modellierung im Allgemeinen beleuchten (Kap. 6). (6) Den Abschluss der Untersuchung bildet, vor dem Hintergrund einer Integration der theoretischen Position Platons zur mathematischen Modellierung und im Vergleich mit der Modellierung in der zeitgleichen und späteren Fachmathematik, die praktische Modellierung der Welt im Großen und Kleinen im Timaios (Kap. 7). Insgesamt wird die vorgeschlagene Untersuchung zu einem hinreichend vollständigen Bild von Platons Verhältnis zur mathematischen Modellierung und, durch dieses Prisma, von der voreuklidischen Fachmathematik im 4. Jh. v. Chr. führen. Dies verspricht einen Erkenntnisgewinn in mehrfacher, komplementärer Hinsicht, und zwar in einer (1) wissenschaftshistorischen, (2) philosophiehistorischen, (3) literarhistorischen und schließlich (4) wissenschaftsphilosophisch transdisziplinären Dimension: (1) Die fachmathematischen Praktiken und methodologischen Diskussionen der ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. werden wissenschaftshistorisch besser greifbar werden, und zwar auf der Grundlage sicheren authentischen Materials. So oder so wird dies unser Bild von einer entscheidenden Phase der griechischen Mathematik erhellen und insgesamt Licht auf ihre Entwicklung werfen.

44 | Einleitung

(2) Mit der mathematischen Modellierung in theoretischer wie in praktischer Dimension wird ein wichtiger Aspekt der Philosophie Platons besser erschlossen werden. Dies wird auch genauere Einsichten in Bedeutung und Funktion der Mathematik für Platon bringen und helfen, Platon im Entwicklungsprozess der Fachmathematik von Thales bis Euklid besser verorten zu können. (3) Die ersten beiden Punkte werden erlauben, zentrale Passagen des platonischen Werks in ihrem Sinngehalt besser zu verstehen, und zwar in dezidiert literarischer Hinsicht im Zuge einer historisch adäquaten hermeneutischen Deutung, die vor dem relevanten sachlichen Hintergrund den kulturgeschichtlichen Kontext sowie speziell die besondere Form der von Platon verfassten Texte berücksichtigt und zugleich weiter erschließen hilft, auch und gerade in ihrer Wechselwirkung. (4) Allgemein wissenschaftsphilosophisch ist eine Erweiterung der Kenntnis historischer Modelltheorien und -praktiken sowie eine Prüfung der Anwendbarkeit moderner Modelltheorien auf diesen Gegenstandsbereich zu erwarten, und zwar als genuiner Beitrag zur zeitgenössischen Diskussion zum Modell.

2 Original und Abbild: Eine modelltheoretische Perspektive Die vorliegende Untersuchung verfolgt das Ziel, mittels einer Analyse von Platons Theorie und Praxis der mathematischen Modellierung Licht auf die voreuklidische Fachmathematik zu werfen. Entsprechend ist in einem ersten Schritt der Begriff des Modells zu klären. In der Einleitung wurde als geeigneter Ansatz eine semiotische Modelltheorie identifiziert, die auf der Grundlage der Zeichentheorie des amerikanischen Philosophen Charles S. Peirce operiert.1 Dieser Ansatz verspricht, theoretisch und historisch das Material adäquat zu beschreiben und zugleich eine Brücke zu einer hermeneutischen Philologie zu schlagen. In diesem Abschnitt werde ich diesen Ansatz vorstellen und für die weitere Analyse nutzbar machen. Was also ist ein Modell? Gemeinhin wird eine disparate Vielzahl von Dingen als ‚Modell‘ bezeichnet, von zum Beispiel ‚Modell‘-Häusern und ‚Modellen‘ in der Mode über das ‚Modell‘ der Doppel-Helix, des Planetensystems und des Kosmos bis hin zu abstrakten mathematischen und Computer-‚Modellen‘. All diese Dinge verfügen auf den ersten Blick über keine Eigenschaft, die ihnen allen gemeinsam ist. Doch dieser Eindruck täuscht: Alle ‚Modelle‘ eint, dass sie ‚Abbildungen‘ und als solche eine spezifische Form von ‚Zeichen‘ sind.2 Zum Beispiel bildet das ‚Modell‘ eines Hauses ein Haus ab, und die Doppel-Helix als ‚Modell‘ einen spezifischen Bestandteil der Zelle. Wichtig ist dabei – und erklärt die Beobachtung, dass Modelle ‚an sich‘ keine Eigenschaften zu teilen scheinen –, dass etwas nur dann ein Modell ist, wenn es als ein solches gebraucht wird. Die Invariante liegt also nicht im Modell-Gegenstand an sich, || 1 Hier kann nicht die komplexe Geschichte der theoretischen Beschäftigung mit dem Begriff des Modells referiert werden; ebenso wenig kann näher auf die kontroverse Debatte zum Modell in der Wissenschaftsphilosophie eingegangen werden. Für einen Überblick und für alternative Modelltheorien siehe Frigg & Hartmann 2017 sowie Bailer-Jones 2009, Hartmann 2010 und Frigg & Nguyen 2017; vgl. Morgan & Morrison 1999. Siehe jüngst auch Thalheim & Nissen 2015a mit zahlreichen Fallstudien sowie eingehenden Analysen zum Modellbegriff, speziell Nissen & Thalheim 2015a, Nissen & Thalheim 2015b, Nissen & Thalheim 2015c, Thalheim & Nissen 2015b und Thalheim & Nissen 2015c. Vgl. die Bemerkungen oben in Kap. 1.3, speziell Anm. 1130; vgl. die folgende Anm. 2. 2 Diese Theorie wurde ausführlich in Kralemann & Lattmann 2013a und Kralemann & Lattmann 2013b entwickelt; vgl. Kralemann 2002 und Lattmann 2012; für eine Einordnung in den wissenschaftsphilosophischen Kontext vgl. Frigg & Nguyen 2017; siehe auch Gallegos 2018 und vgl. Nöth 2018. In diesem Kapitel werde ich die für die vorliegende Frage relevanten Grundzüge dieses Ansatzes referieren. Zwar kann ich nicht die Begründungszusammenhänge im Detail replizieren, ich werde aber insbesondere den semiotischen Hintergrund einschließlich der allgemeineren zeichentheoretischen Zusammenhänge ausführlicher als in den genannten Studien entfalten sowie zur Illustration im gegebenen sachlichen Kontext instruktive Beispiele aus der griechischen (Natur-) Philosophie und Wissenschaft vorstellen und in aller Kürze als ‚Modelle‘ explizieren. Vgl. die Skizzen des hier vorgestellten Ansatzes in Lattmann 2015, Lattmann 2016, Lattmann 2018; siehe zur gesamten Zeichentheorie die Übersichten von Atkins 2013, Short 2007 und Kappner 2004; zu Peirce Oehler 1993. https://doi.org/10.1515/9783110616491-002

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sondern in seiner Verwendung, mithin in der pragmatischen Dimension. Die Verwendung zielt darauf ab, dass der Gegenstand als ‚Modell‘ etwas anderes ‚abbildet‘. Damit sind Modelle in einer genuinen Weise eine Form von Zeichen: Wenn und insofern sie das von ihnen Modellierte nicht abbilden (und das heißt, als etwas solches aufgefasst werden), sind sie zwar der Gegenstand, der sie an sich sind, aber kein Modell. Zwei miteinander verflochtene, gewundene Stränge zum Beispiel sind erst einmal nur zwei miteinander verflochtene, gewundene Stränge; zu einem Modell für die DNA werden sie erst dann, wenn sie als ein solches interpretiert werden, und zwar so, dass sie als deren ‚Abbildung‘ und also als ‚Zeichen‘ für die DNA erscheinen. Dies führt zur grundsätzlichen Frage, was ein ‚Zeichen‘ ist: Ein Zeichen (sign) oder ‚Repräsentamen‘ (representamen) ist mit Peirce definiert als „something which stands to somebody for something in some respect or capacity“.3 Dabei sind die Wörter ‚something‘ und ‚somebody‘ in einem weitestmöglichen Sinne aufzufassen, mithin nicht nur im Sinn eines raumzeitlichen, physikalischen Gegenstandes bzw. einer aktual existierenden Person, sondern allgemein als alles, worauf sich in irgendeiner Weise verweisen lässt bzw. was einen solchen Gegenstand im definierten Sinne verwenden kann. So fungiert das Wort ‚Einhorn‘ als (primär) nicht-physikalischer Gegenstand als Zeichen für das nicht in der Form eines raumzeitlich existierenden Wesens gegebene ‚Einhorn‘; als Zeichen kann aber auch eine Marmorstatue des Augustus dienen, und zwar für Augustus; oder glühende Asche in einem Kreis aus Steinen kann ein Zeichen dafür sein, dass gerade zuvor Menschen anwesend waren. Zeichen sind mithin nicht eingeschränkt auf ‚linguistische‘ Zeichen, sprich: Wörter. Allen Zeichen ist dabei gemein, dass sie in der subjektiven Perspektive eines Zeichenbenutzers einen anderen Gegenstand als ‚Objekt‘ repräsentieren, und zwar so, dass dies in Hinsicht auf einen gewissen (gegebenenfalls komplexen) Aspekt erfolgt und (mehr oder weniger im Sinne einer ‚Bedeutung‘, verstanden als praktische ‚Wirkung‘ in einem umfassenden Sinn) als Folge ein weiteres Zeichen, das ‚Interpretant‘ (interpretant), erzeugt wird:4 Ein Zeichen, so die grundlegende, diesen in der obigen Definition gegebenen Zusammenhang zusammenfassende Explikation durch Peirce, addresses somebody, that is, creates in the mind of that person an equivalent sign, or perhaps a more developed sign. That sign which it creates I call the interpretant of the first sign. The sign stands for something, its object. It stands for that object, not in all respects, but in reference to a sort of idea, which I have sometimes called the ground of the representamen.5 A representation is that character of a thing by virtue of which, for the production of a certain mental effect, it may stand in place of another thing. The thing having this character I term a

|| 3 Peirce CP 2.228. 4 Peirce MS 318 (1907): „In its general nature, the interpretant is much more readily intelligible than the object, since it includes all that the sign of itself expresses or signifies“ (zitiert nach Pape 1990, 392). 5 Peirce CP 2.228.

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representamen, the mental effect, or thought, its interpretant, the thing for which it stands, its object.6

Jede Zeichenverwendung impliziert eine dreistellige Relation zwischen dem Zeichen, seinem Objekt und dem interpretant. Die Verbindung zwischen Zeichen und Objekt sowie zwischen Zeichen und interpretant ist direkt, die zwischen Objekt und interpretant indirekt: Das Objekt geht dem Zeichen als dasjenige, worauf es sich bezieht, voran; das interpretant als dasjenige, was das Zeichen erzeugt, folgt diesem nach.7 Das Zeichen ist als per Definition vermittelndes Drittes zwischen Objekt und interpretant ein unabdingbarer Bestandteil der Zeichenrelation; diese ist genuin triadisch: Keines der drei Elemente kann fehlen, ohne dass ein Zeichen als Zeichen fungieren könnte, und eine ‚Zeichen‘-Relation liegt nur dann vor, wenn dieser Zusammenhang gegeben ist und also in der Zeichenverwendung von ‚jemandem‘ (im Sinn einer zeichenverwendenden Instanz) erzeugt wird; andernfalls wären die involvierten Gegenstände nur diejenigen Gegenstände selbst, die sie an sich und unabhängig voneinander sind.8 Insofern das Zeichen das vermittelnde Dritte ist, wird durch den Akt seiner Verwendung als Zeichen die gesamte Zeichenrelation konstituiert. Wichtig ist dabei, dass insofern die Zeichenrelation für jemanden besteht, zuerst einmal nur Zeichen (Repräsentationen) der benutzten Gegenstände in sie eingehen:9 In Hinsicht auf das Objekt ist ein ‚unmittelbares‘ Objekt (das Zeichen) und ein ‚reales‘ Objekt (der vom Zeichen repräsentierte Gegenstand ‚an sich‘) zu unterscheiden.10 Abbildung 1 zeigt den Zusammenhang zwischen den direkten Elementen der Relation.

|| 6 Peirce CP 1.564. 7 Peirce MS 318 (1907): „The object and the interpretant are thus merely the two correlates of the sign; the one being antecedent, the other consequent of the sign“ (zitiert nach Pape 1990, 393). Dies gilt primär in logischer Hinsicht, in der konkreten Zeichenverwendung aber oftmals auch zeitlich. 8 Vgl. Peirce CP 2.242: „A Representamen is the First Correlate of a triadic relation, the Second Correlate being termed its Object, and the possible Third Correlate being termed its Interpretant, by which triadic relation the possible Interpretant is determined to be the First Correlate of the same triadic relation to the same Object, and for some possible Interpretant.“ 9 Vgl. die (zur obigen Definition äquivalente) Definition des Zeichens in Peirce CP 2.303: „Anything which determines something else (its interpretant) to refer to an object to which itself refers (its object) in the same way, the interpretant becoming in turn a sign, and so on ad infinitum.“ Zum zweiten Aspekt vgl. Peirce CP 1.339: „The meaning of a representation can be nothing but a representation. In fact, it is nothing but the representation itself conceived as stripped of irrelevant clothing. But this clothing never can be completely stripped off; it is only changed for something more diaphanous. So there is an infinite regression here. Finally, the interpretant is nothing but another representation to which the torch of truth is handed along; and as representation, it has its interpretant again. Lo, another infinite series.“ Dies ist derselbe Gedanke, der oben in Anm. 8 ausgedrückt ist. 10 Vgl. Peirce MS 318 (1907): „If there be anything real (that is, anything whose characters are true of it independently of whether you or I, or any man, or any number of men think them as being characters of it, or not,) that sufficiently corresponds with the immediate object (which, [since it is] an apprehension, is not real,) then whether this be identifiable with the Object strictly so-called or not,

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Interpretant

Zeichenrelation

Zeichen

Objekt Abb. 1: Die dreistellige Zeichenrelation

Gemäß dieser Definition und Explikation des Zeichens ist ein ‚Abbild‘ ein Zeichen für das abgebildete Objekt, das ‚Original‘. Gleichwohl ist evident, dass ein Abbild nicht in derselben Weise ein Zeichen ist, wie ein Wort wie ‚Wort‘ für die mit diesem Wort verbundene Bedeutung ‚Wort‘ steht; denn für gewöhnlich wird das Zeichen ‚Wort‘ nicht als Abbild einer als Original gefassten Bedeutung ‚Wort‘ verwendet. Ein ‚Abbild‘ ist folglich zwar ein Zeichen, aber gewiss nicht simpliciter. Vielmehr handelt es sich um eine spezifische Form von Zeichen. In der Tat ist es, wie ja schon die Bezeichnung ‚Abbild‘ selbst nahelegt, der Fall, dass die Repräsentationsfunktion eines Abbilds für ein Original speziell auf der Eigenschaft beruht, diesem ‚ähnlich‘ zu sein, in welcher Weise auch immer.11 Um die angeführten Beispiele aufzugreifen: Eine Modell-Haus ist insofern ein Modell (‚Abbild‘) für ein Haus (‚Original‘), als es jemandem als diesem || it ought to be called, and usually is called, the ‚real object‘ of the sign. By some kind of causation or influence it must have determined the significant character of the sign“ (zitiert nach Pape 1990, 392). Allerdings meint ‚real‘ nur, dass es eine ‚reale‘ (und das heißt: in irgendeiner Weise sich manifestierende) Wirkung hat, nicht, dass es sich um einen raumzeitlichen, physikalischen Gegenstand handelt; vgl. die klärende Anmerkung in Peirce MS 339 (Tagebuchnotiz vom 3. April 1906), zitiert in Übersetzung nach Kloesel & Pape 2000, 3, 218: „Es ist irreführend, es reales Objekt zu nennen, denn es kann irreal sein. Dies ist das Objekt, das das Zeichen wahrhaft bestimmt. Doch es wäre falsch anzunehmen, ein fiktives Objekt könne keine reale Wirkung hervorrufen. Es gibt keinen Grund zu sagen, daß das unmöglich ist. Ein solches Wirken setzt natürlich eine Annäherung an die Realität voraus, doch setzt es nicht vollkommene Realität voraus und noch nicht einmal Realität im Hauptsächlichen.“ In Hinsicht auf das interpretant sind drei Formen zu unterscheiden: das ‚unmittelbare‘ oder ‚emotionale‘; das ‚energetische‘ oder ‚dynamische‘; und das ‚logische‘; dabei korreliert das unmittelbare oder emotionale interpretant mit dem unmittelbaren Objekt und das energetische oder dynamische interpretant mit dem realen Objekt; für das logische interpretant gibt es keine Entsprechung. Diese Zusammenhänge müssen nicht im Detail expliziert werden; siehe Peirce MS 318 (1907) und Peirce MS 339 (Tagebuchnotiz zum 23. Oktober 1906); vgl. Jappy 2016. Die Unterscheidung der Formen des interpretant und die Zusammenhänge mit dem Objekt gehen direkt aus Peirces Kategorienlehre hervor, so dass die sogleich erfolgende Klärung auch hier Transparenz herbeiführen wird. 11 Auch das Konzept der ‚Ähnlichkeit‘ ist in einem weitestmöglichen Sinn anzuwenden; den Rahmen gibt auch hier die Peircesche Kategorienlehre: siehe unten.

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ähnlich erscheint, etwa in Hinsicht auf die Form; ebenso ist die Doppel-Helix ein Modell (‚Abbild‘) für die DNA (‚Original‘), insofern sie dieser als ähnlich erscheint, etwa in Hinsicht auf die räumliche (freilich am Original selbst nicht direkt, zumindest nicht ohne Hilfsmittel wahrnehmbare, sondern als solche unterstellte) Struktur. Abbildungen zeichnen sich dadurch aus, dass zwischen Zeichen und Objekt eine Ähnlichkeitsrelation besteht. Dies macht sie im Rahmen einer erschöpfenden Klassifizierung aller Zeichen zu einer von drei grundlegenden Klassen von Zeichen. Die Unterscheidung erfolgt nach der spezifischen Art der Relation zwischen Zeichen und Objekt, das heißt danach, ob „the relation of the sign to its object consists in the sign’s having some character in itself, or in some existential relation to that object, or in its relation to an interpretant“.12 Resultat sind die drei Klassen icon, index und symbol:13 There are three kinds of signs which are all indispensable in all reasoning; the first is the diagrammatic sign or icon, which exhibits a similarity or analogy to the subject of discourse; the second is the index, which like a pronoun demonstrative or relative, forces the attention to the particular object intended without describing it; the third [or symbol] is the general name or description which signifies its object by means of an association of ideas or habitual connection between the name and the character signified.14

Im Einzelnen gilt das Folgende: (a) Ein symbol ist ein Zeichen, das primär aufgrund einer habituellen (gegebenenfalls im Ursprung arbiträren) Gewohnheit oder Konvention den ihm zugeordneten Gegenstand bezeichnet, nicht hingegen aufgrund einer Ähnlichkeit oder weil eine faktische, existentielle direkte Beziehung zwischen beiden besteht. Ein Beispiel sind die gewöhnlichen Wörter einer natürlichen Sprache, denn sie bezeichnen etwas, insofern sie gewöhnlich so gebraucht werden (dies gilt auch für lautmalerische Wörter, denn ihr Ursprung ist in dieser Hinsicht irrelevant). (b) Ein index ist ein Zeichen, das primär aufgrund einer existentiellen, das heißt (auf den konkreten Fall bezogenen) faktisch-empirischen Beziehung zu seinem Objekt dieses repräsentiert, ohne (zumindest als eigentliche Grundlage seiner Bezeichnungsfunktion als index) ihm ähnlich zu sein oder seine Repräsentationsfunktion habituell zu erfüllen; ein Beispiel ist der Wetterhahn für die Windrichtung an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit oder das oben angeführte Asche-Beispiel. (c) Ein icon ist ein Zeichen, das den Gegenstand, für den es steht, aufgrund einer Ähnlichkeit zwischen seinen eigenen Eigenschaften und denjenigen des repräsen-

|| 12 Peirce CP 2.243. 13 Zu dieser grundlegenden Klassifizierung siehe unter anderem Peirce CP 2.247–249. Sie ist lediglich eine (wenngleich wichtige) unter mehreren (wobei zu beachten ist, dass diese Klassifizierungen parallel und nicht komplementäre Unterklassifizierungen aller Zeichen sind, und zwar in verschiedenen Hinsichten): vgl. für Einzelheiten unter anderem Jappy 2016 und Jappy 2017. 14 Peirce CP 1.369; vgl. Peirce CP 2.247–249 und 4.447–448. Der Text in eckigen Klammern ist (wie generell in den hier gegebenen Peirce-Zitaten, soweit nicht anders vermerkt) Teil des Originaltextes.

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tierten Gegenstands bezeichnet. Ein Beispiel sind Photographien, denn diese sind, insoweit sie für jemanden als Photographien gelten und von jemandem als solche Zeichen benutzt werden, dem Photographierten ähnlich – und sie sind ihrem Objekt gerade deshalb ähnlich, weil sie selbst als eigenständig existierende Gegenstände über spezifische Eigenschaften verfügen, die von jemandem als hinreichend ähnlich zu entsprechenden Eigenschaften des repräsentierten Objekts interpretiert werden: An Icon is a Representamen whose Representative Quality is a Firstness of it as a First. That is, a quality that it has qua thing renders it fit to be a representamen. Thus, anything is fit to be a Substitute for anything that it is like.15

Transparent ist, dass im Rahmen dieser erschöpfenden Klassifizierung aller Zeichen in icons, indices und symbols ‚Abbildungen‘, insoweit sie tatsächlich Abbildungen sind, als icons gelten müssen: Einerseits repräsentieren sie ihr Original primär weder durch Gewohnheit (symbol) noch auf der Grundlage einer existentiellen Beziehung (index); und andererseits zeigen sie eine Ähnlichkeit zu ihrem Original, für das sie eben dadurch als Zeichen verwendet werden. Gemäß der spezifischen Natur dieser Unterscheidung sind weiter Abbildungen nicht nur eine Unterklasse von icons, sondern beide Klassen sind deckungsgleich: Abbildungen sind icons, und icons sind Abbildungen; und insofern Modelle Abbildungen (und vice versa) sind, gilt gleichfalls, dass Modelle icons und icons Modelle sind.16 Auf dieser Grundlage lassen sich Abbildungen qua icons in einer erneuten erschöpfenden dreiteiligen Klassifikation weiter differenzieren, und zwar in die Klassen images, diagrams und metaphors; sie werden als Formen und mithin Unterklassen des icon von Peirce als hypoicons bezeichnet: Hypoicons may roughly [be] divided according to the mode of Firstness which they partake. Those which partake the simple qualities, or First Firstnesses, are images; those which represent

|| 15 Peirce CP 2.276. 16 Zumindest in Hinsicht auf ihre repräsentationale Qualität. Eine relevante Frage ist freilich, ob man von diesem allgemeinen Modellbegriff einen speziellen Modellbegriff unterscheiden könnte, der Modelle in einem engeren Sinn als icons bestimmt, welche erst in einem expliziten Akt der Modellierung intentional zu einem ‚Modell‘ gemacht werden (und diese also unterscheidet von icons, die nur implizit in der Nutzung als solche verwendet werden). Ein solch engerer Modellbegriff würde einerseits der spezifischen Natur der Modellierung als aktiver Tätigkeit Rechnung tragen; andererseits könnte er aber den Blick darauf verstellen, dass auch primär nicht-intentionale Tätigkeiten wie die Sinneswahrnehmung als Modellierung verstanden werden können (nämlich insoweit sie in der Tat Modelle der physikalischen Welt herstellt). Insofern klärt sich Nöths 2018 skeptischer Einwand, dass, obwohl „all models involve iconicity“ (20; man beachte die weitere Diskussion), Modelle und icons nicht gleichgesetzt werden könnten, denn „pictures, drawings, mirror images, or imitative gestures are icons, but hardly models“ (abgesehen davon, dass diese Begründung anscheinend von einer reifizierenden Perspektive auf Modelle und icons herrührt). Dass Modelle ihren Gegenständen essentiell ähnlich sind, wurde im Übrigen mitunter bezweifelt; vgl. Suárez 2003; doch siehe Poznic 2016.

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the relations, mainly dyadic, or so regarded, of the parts of one thing by analogous relations in their own parts, are diagrams; those which represent the representative character of a representamen by representing a parallelism in something else, are metaphors.17

Das Verständnis dieses voraussetzungsreichen Satzes wurde kontrovers diskutiert. An anderer Stelle habe ich eine detaillierte Explikation vorgelegt, mit dem folgenden, für das Weitere grundlegenden, da den Kern des Modellbegriffs direkt berührenden Ergebnis:18 (a) Ein image repräsentiert das Objekt aufgrund seiner Qualität, die eine direkte, nicht analytisch differenzierte Ähnlichkeit zu der Qualität des repräsentierten Objekts aufweist (genauer: die Qualität hat eine monadisch-relationale Qualität); (b) ein diagram repräsentiert sein Objekt aufgrund seiner Qualität, die eine Ähnlichkeit zu dem bezeichneten Objekt hinsichtlich der inneren relationalen Struktur aufweist (genauer: die Qualität hat eine dyadisch-relationale Qualität); (c) eine metaphor repräsentiert sein Objekt aufgrund einer Qualität, die eine Ähnlichkeit zu dem bezeichneten Objekt hinsichtlich einer semiotischen Zeichenqualität aufweist (genauer: die Qualität hat eine triadisch-relationale Relationalität). Diese abstrakten Zusammenhänge erfordern eine genauere Erklärung: Eine ‚Abbildung‘ (= icon = Modell) steht für ihr Objekt per Definition aufgrund einer Ähnlichkeit; diese Ähnlichkeit manifestiert sich in der Beschaffenheit des als Abbildung genutzten Gegenstandes, seiner ‚Qualität‘. Diese Qualität kann exakt drei Formen haben, und zwar in Abhängigkeit von ihrer eigenen spezifischen Qualität. Diese wird nach der Peirceschen Kategorienlehre differenziert, die auf dem Begriff der Relation beruht: Grundsätzlich (und erschöpfend) gibt es einstellige, zweistellige und dreistellige Relationen, welche entsprechend als ‚Firstness‘ (‚Erstheit‘), ‚Secondness‘ (‚Zweitheit‘) und ‚Thirdness‘ (‚Drittheit‘) bezeichnet sind. Diese Kategorien sind für Peirce die „most universal categories of elements of all experience, natural or poetical“, und entsprechend lässt sich ihm zufolge ausnahmslos alles mit ihrer Hilfe klassifizieren und beschreiben, gegebenenfalls in ineinander verschachtelter Anwendung.19 Für ein Verständnis der Differenzierung der drei Formen der Abbildung und mithin des Modells ist es zweckdienlich, diese Kategorien genauer in den Blick zu nehmen, zuerst ‚Firstness‘, die Kategorie der einstelligen Relation: Firstness is the mode or element of being by which any subject is such as it is, positively and regardless of everything else; or rather, the category is not bound down to this particular conception but is the element which is characteristic and peculiar in this definition and is a prominent

|| 17 Peirce CP 2.277, zitiert nach Peirce EP 2.274 (der kursiv gesetzte Einschub in eckigen Klammern kennzeichnet eine Ergänzung der Herausgeber). 18 Siehe Lattmann 2012, speziell zur dritten Form des icon, der metaphor (mit weiterer Literatur). 19 Peirce CP 1.417; siehe Peirce CP 1.300–353; 1.417–520; 1.545–567; 7.327–332; vgl. Oehler 1993, 41– 60 und die Einführung zu Band 2 von Kloesel & Pape 2000; die drei Kategorien sind gewonnen aus einer Reduktion der Kantschen Kategorien. Alle höherstelligen Relationen sind reduzierbar auf diese drei Relationen, speziell auf die dreistellige und gegebenenfalls in komplexen Relationengefügen.

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ingredient in the ideas of quality, qualitativeness, absoluteness, originality, variety, chance, possibility, form, essence, feeling, etc.20

‚Secondness‘ ist die Kategorie der zweistelligen Relation: Secondness is that mode or element of being by which any subject is such as it is in a second subject regardless of any third; or rather, the category is the leading and characteristic element in this definition, which is prominent in the ideas of dyadic relativity or relation, action, effort, existence, individuality, opposition, negation, dependence, blind force.21

‚Thirdness‘ schließlich ist die Kategorie der dreistelligen Relation: Thirdness is that mode or element of being whereby a subject is such as it is to a second and for a third; or rather, it is the characteristic ingredient of this definition, which is prominent in the ideas of instrument, organon, method, means, mediation, betweenness, representation, communication, community, composition, generality, regularity, continuity, totality, system, understanding, cognition, abstraction, etc. […] All genuine thirdness has a mental character.22

Die Differenzierung von image, diagram und metaphor beruht darauf, dass die für die Zeichenverwendung qualitative Beschaffenheit der Abbildung (= Modell) – ein icon ist schließlich nichts anderes als ein Zeichen der Qualität oder ‚Firstness‘23 – sekundär in einem weiteren Schritt nach einer monadisch-potentiellen, dyadisch-faktischen oder triadisch-semiotischen Qualität differenziert wird, also nach der spezifischen Art der Relationalität der Ähnlichkeitsbeziehung.24 Die von Peirce gewählten Bezeichnungen für die Klassen sind also nicht als implizite Definition zu verstehen – das heißt dahingehend, dass die Klasse der images nur ‚Bilder‘ in einem gewöhnlichen Sinn umfasste –, sondern erfolgen metonymisch, und zwar auf der sachlichen Grundlage, dass die entsprechend im Sinne der gewöhnlichen Verwendung gebrauchten Wörter eine repräsentative Manifestation dieser Art von (eben über die Kategorien technisch-abstrakt definiertem) Zeichen im Allgemeinen exemplarisch vertreten können.25

|| 20 Peirce L 107 (1904), zitiert nach Ketner 1983, 72. 21 Peirce L 107 (1904), zitiert nach Ketner 1983, 72. Anders, aber äquivalent formuliert: „The second category that I find […] is the element of struggle. […] By struggle I must explain that I mean mutual action between two things regardless of any sort of third or medium, and in particular regardless of any law of action“ (Peirce CP 1.322). 22 Peirce L 107 (1904), zitiert nach Ketner 1983, 72 f. 23 Vgl. Peirce CP 1.422–426, speziell 1.423: „We see that the idea of a quality is the idea of a phenomenon or partial phenomenon considered as a monad, without reference to its parts or components and without reference to anything else.“ Vgl. 1.426: „Quality is the monadic element of the world.“ 24 Zum Verständnis der monadischen Qualität als Potentialität siehe Peirce CP 1.422–426. 25 Ein gebräuchliches Vorgehen bei Peirce, das nicht selten ein erstes Verständnis der theoretischen Zusammenhänge behindert. Deshalb belasse ich es oftmals bei den englischen Originalbezeichnungen, um den spezifischen Charakter der Konzepte anzudeuten, die eben nicht dem Alltagsgebrauch

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Der Charakter der jeweils vorliegenden Relation bemisst sich nicht nach der Summe aller involvierten Objekte, sondern danach, mit welcher minimalen Anzahl von Elementen die einzelne Relation als solche in ihren konstitutiven Bestandteilen ausgedrückt werden kann: So ist eine monadische Relation diese spezifische Relation, wenn das involvierte Element unabhängig von irgendeinem zweiten Element ist. Etwas Rotes ist (lässt man die physikalischen Zusammenhänge außer Betracht und berücksichtigt zum Zweck des Beispiels nur den Sinneseindruck selbst) rot, weil es rot ist; damit dieser Gegenstand diese Eigenschaft hat, bedarf er keines anderen Gegenstandes. ‚Monadisch‘ meint also nicht, dass die Qualität ‚einfach‘ sein muss: Auch ein buntes Muster ist ein buntes Muster, ohne dass das Muster für diese Qualität irgendeines anderen Gegenstands bedürfte. Alle Gegenstände der physikalischen Welt hingegen stehen als solche immer (auch) in einer dyadischen Relation, nämlich insofern sie prinzipiell mit anderen Gegenständen wechselwirken; diese Wechselwirkung erfolgt in direkter, unvermittelter Weise und ist also ausdrückbar als dyadische Relation: Die Sonne wechselwirkt mit der Erde (und vice versa), und sie tut dies, ohne dass der Mond qua Mond ein unabdingbares Element dieser Wechselwirkung ist und also zu ihrer Beschreibung notwendig wäre; dies heißt freilich nicht, dass der Mond seinerseits mit Sonne und Erde (und jeweils vice versa) nicht wechselwirkte, doch auch diese Wechselwirkungen als solche finden statt, ohne dass Erde oder Sonne notwendig beteiligt wäre; sie kann und würde als solche auch ohne diese stattfinden. Gleichwohl ergibt sich aus dem Gesamtgeflecht der Wechselwirkungen, an denen ein physikalischer Körper beteiligt ist, ein hochkomplexes System dyadischer Relation (das dann empirisch zu erforschen wäre). Dieser Umstand ändert aber nichts daran, dass der primäre relationale Charakter dieser Wechselwirkungen ‚dyadisch‘ ist. Eine triadische Relation schließlich verbindet zwei Gegenstände, und zwar vermittels eines dritten. Dies ist, wie gesehen, der Fall bei der Zeichenrelation, der für Peirce triadischen Relation par excellence: Hier ist jedes einzelne Relatum ein unabdingbarer Bestandteil der gesamten Relation, und diese existiert schlicht nicht, wenn eines dieser Relata fehlt. Insbesondere kann ja die vermittelnde Funktion des Zeichens per Definition auch nur dann gegeben sein, wenn Objekt und interpretant vorhanden sind, aber auch diese selbst fungieren nur dann als solche, wenn das Zeichen sie verbindet. Insgesamt ergibt sich für die einstellige Relation die Qualität der Potentialität, für die zweistellige Relation die Qualität des Faktischen und für die dreistellige Relation die Qualität des Gesetzes. Von dieser theoretischen Grundlage aus lässt sich die Differenzierung der Qualität verstehen, die für die Differenzierung der Formen der Abbildung (= icon = Modell) in image, diagram und metaphor verantwortlich ist: (1) Images: Abbildungen (= icons = Modelle) können ihr Objekt direkt abbilden, das heißt, es in seiner äußeren, der Wahrnehmung zugänglichen Beschaffenheit un-

|| entsprechen, sondern diesen nur metonymisch aufnehmen und auf oftmals auf die Zusammenhänge der Peirceschen Kategorienlehre zurückgehenden, technischen Definitionen beruhen.

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mittelbar replizieren und hierfür primär einen unanalysierten Sinneseindruck repräsentieren, und zwar durch eine spezifische wahrnehmbare Qualität, die sie selbst besitzen und die im Akt der Zeichenverwendung dahingehend gedeutet wird, dass sie einer Qualität des Originals entspricht. In diesem Fall handelt es sich um images. Die repräsentierte (und repräsentierende) Qualität ist monadisch, das heißt ist Teil einer einstelligen Relation; das heißt, sie ist diese spezifische Qualität unabhängig von etwas anderem, Zweitem (oder Drittem). Aus diesem Grund ist die dargestellte Qualität eine Qualität, die keine Interaktion ihrer konstitutiven Aspekte miteinander aufweist; in der Repräsentation liegt die (gegebenenfalls kompositionale) Qualität selbst vor, und das, was jeder einzelne ihrer Aspekte ist, ist er unabhängig von allen anderen Aspekten. Diese Klasse von icons ist diejenige, die gemeinhin als ‚ikonisch‘ aufgefasst wird. Tatsächlich ist Peirces Begriff des icon jedoch weit umfassender. Ein Beispiel für images ist eine Porträt-Photographie, insofern auf ihr etwa ein Mensch in seiner äußeren, wahrnehmbaren Erscheinung dargestellt ist und die wahrnehmbare Qualität als gesamte sowie in Bezug auf die sie in der Komposition ausmachenden Einzelqualitäten nichts anderes ist als die Qualität selbst, ohne dass es in der Darstellung auf irgendeine Wechselwirkung der einzelnen Aspekte dieser Qualität ankommt, weder in Hinsicht auf die Gesamtqualität noch in Hinsicht auf die kompositionalen Einzelqualitäten. Welche Farbe ein Auge auf der Photographie hat, bedeutet nicht mehr, als dass einer bestimmten Stelle der Photographie eine derartige Farbe (oder ein als ähnlich gedeutetes Äquivalent) zugewiesen ist; eine Änderung der Farbe an dieser Stelle hat keine weiteren Konsequenzen, als dass sich dieser Aspekt der Qualität selbst ändert; andere partielle Qualitäten der Photographie sind hiervon prinzipiell nicht betroffen. Entsprechendes gilt für die gesamte Photographie: Eine Änderung der wahrnehmbaren Beschaffenheit hat keine anderen Konsequenzen, als dass die äußere Beschaffenheit in spezifischer Hinsicht anders ist; so gilt gewöhnlich eine Schwarz-Weiß-Photographie als äquivalent zu einer Farb-Photographie. Aus dem letzten Beispiel ergibt sich eine wichtige Einsicht, die für das Verständnis von Modellen entscheidend ist: Die Eigenschaft von etwas, auf etwas anderes zu verweisen, beruht nicht auf einer ‚objektiven‘, unabhängig von der Zeichenverwendung gegebenen Abbildungsrelation, insbesondere nicht im Fall des icon als eines Zeichens der Potentialität. Die Einschätzung, was als repräsentational (Zeichen) für etwas anderes (Objekt) aufgefasst wird, ist subjektiv und Teil einer im Grundsatz intentionalen Handlung (des Zeichenverwenders), und zwar trotz des Umstands, dass sie oftmals insofern eingeengt ist, als sie (subjektiv, speziell in Hinsicht auf die intersubjektive Kommunikation) als hinreichend dafür empfunden werden muss, passend für die Repräsentation zu sein, und das wiederum heißt im Fall von icons (Modellen), ‚ähnlich‘ zu sein. Diese Ähnlichkeit muss also eine (gewisse) objektive Grundlage in einer spezifischen Qualität von Zeichen und Objekt haben. Hieraus folgt aber nicht, dass objektiv eine globale oder partielle Identität zwischen Zeichen und Objekt bestünde. Dies demonstriert das Beispiel der Schwarz-Weiß-Photographie: Nicht nur als separate und unabhängige Gegenstände sind Zeichen und Objekt nicht identisch,

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sondern dies gilt (zum Beispiel) auch hinsichtlich der Farbe (außer gegebenenfalls akzidentell). Vielmehr werden in der Zeichenverwendung die Farbtöne auf der einen Seite (Original) den Grautönen auf der anderen Seite (Abbildung) in einer spezifischen Weise zugeordnet, und diese Zuordnung wird als ‚Ähnlichkeit‘ gedeutet – welche aber wiederum in der Zeicheninterpretation selbst zu dem Urteil führt, dass Zeichen und Objekt ‚identisch‘ seien: Was ein Foto zeigt, ‚ist‘ eben in gewisser Hinsicht gerade der abgebildete Gegenstand. Diese Identität ist allerdings nur in der Zeichenverwendung gegeben, mithin subjektiv; objektiv steht ihr eine bloße (erneut auf einem subjektiven Urteil beruhende) Ähnlichkeit und also Nicht-Identität zugrunde. Ein weiteres Beispiel ist die Beschreibung von Achilles’ Schild in Homers Ilias (18, 478–608); sie zeigt eines der ersten bildhaften Modelle der griechischen Literatur:26 ποίει δὲ πρώτιστα σάκος μέγα τε στιβαρόν τε πάντοσε δαιδάλλων, περὶ δ’ ἄντυγα βάλλε φαεινήν τρίπλακα μαρμαρέην, ἐκ δ’ ἀργύρεον τελαμῶνα. πέντε δ’ ἄρ’ αὐτοῦ ἔσαν σάκεος πτύχες· αὐτὰρ ἐν αὐτῷ ποίει δαίδαλα πολλὰ ἰδυίηισι πραπίδεσσιν. ἐν μὲν γαῖαν ἔτευξ’, ἐν δ’ οὐρανόν, ἐν δὲ θάλασσαν, ἠέλιόν τ’ ἀκάμαντα σελήνην τε πλήθουσαν, ἐν δὲ τὰ τείρεα πάντα, τά τ’ οὐρανὸς ἐστεφάνωται, Πληϊάδας θ’ Ὑάδας τε τό τε σθένος Ὠρίωνος Ἄρκτον θ’, ἣν καὶ Ἄμαξαν ἐπίκλησιν καλέουσιν, ἥ τ’ αὐτοῦ στρέφεται καί τ’ Ὠρίωνα δοκεύει, οἴη δ’ ἄμμορός ἐστι λοετρῶν Ὠκεανοῖο. ἐν δὲ δύω ποίησε πόλις μερόπων ἀνθρώπων καλάς· ἐν τῆι μέν ῥα γάμοι τ’ ἔσαν εἰλαπίναι τε, νύμφας δ’ ἐκ θαλάμων δαΐδων ὕπο λαμπομενάων ἠγίνεον ἀνὰ ἄστυ, πολὺς δ’ ὑμέναιος ὀρώρει· […] ἐν δ’ ἐτίθει ποταμοῖο μέγα σθένος Ὠκεανοῖο ἄντυγα πὰρ πυμάτην σάκεος πύκα ποιητοῖο. Erst nun formte der Meister [sc. Hephaistos] den Schild, den großen und starken, Ganz ihn verzierend, und legte darum einen schimmernden Reifen, Dreifach und blank, verbunden mit silbernem Tragegehänge. Schichten zählte man fünf an dem Schild, und oben auf diesem Schuf er zierliche Bilder viel mit erfindsamem Geiste; Obenauf formte der Gott die Erde, das Meer und den Himmel, Ferner den vollen Mond und die unermüdliche Sonne, Dann auch alle die Sterne dazu, die den Himmel umkränzen, Oben, das Siebengestirn, die Hyaden, die Kraft des Orion, Und die Bärin, die auch mit Namen den Wagen sie nennen, Die auf der Stelle sich dreht und stets den Orion belauert Und der einzig verwehrt das Bad in Okeanos’ Fluten.

|| 26 Die Übersetzung ist Rupés 1994.

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Ferner schuf er darauf zwei Städte von sterblichen Menschen, Schöne; die eine von Hochzeitsfesten erfüllt und Gelagen. Bräute führten sie fort aus den Kammern beim Scheine von Fackeln, Rings durch die Stadt; aus vielen Kehlen ertönte das Brautlied. [Es folgen über 100 Verse mit einer Beschreibung dieser Städte und des Lebens dort, endend in:] Endlich schuf er darauf die Gewalt des Okeanosstromes Rings um den äußersten Rand des festgebildeten Schildes.

Hier müssen nicht die interpretatorischen Schwierigkeiten interessieren, die diese umfängliche Beschreibung im Kontext der Ilias aufwirft.27 Wichtig ist vielmehr, dass es sich um die Darstellung eines image-Modells handelt: Hephaistos bildet auf diesem Schild nicht nur eine bestimmte Szenerie ab, die mit dem troianischen Krieg in (mittelbarer, metaphorischer) Verbindung steht, sondern diese Szenerie ist in eine bildliche Darstellung der gesamten Welt eingebettet, unter Einschluss des Himmels zu Beginn und des Okeanos am Schluss: „The shield presents, that is, a kind of microcosm or epitome of the world.“28 Insbesondere in Bezug auf den Himmel operiert diese Beschreibung (die Details sind hier ebenfalls nicht weiter relevant) in der Form einer direkten Wiedergabe des visuellen Sinneseindrucks; sie antwortet auf die Frage danach, welche signifikanten Objekte sich am Himmel zeigen, und geht allenfalls in allgemeinen Begriffen darauf ein, wie sie sich typischerweise bewegen, dies aber nur in der Form einer auf den Mythos verweisenden Beschreibung und nur in Form eines Verweises, also ohne bildliche Darstellung der Dynamik. Der Charakter dieser Objekte besteht darin, als „the cosmic constants and the markers of the passage of time“ zu fungieren;29 darüber hinaus sind sie nicht interessant. Insgesamt handelt es sich um eine Repräsentation einer monadisch-relationalen Qualität, das heißt eines (wenn auch verallgemeinerten und stilisierten) Sinneseindrucks: Die Darstellung richtet sich zwar auf durch physikalische und also selbst durch dyadische Relationalität bestimmte Zusammenhänge, sie stellt diese aber nicht durch ihre eigene dyadische Relationalität dar und impliziert also als Modell primär auch nicht eine solche dyadische Relationalität für diese Zusammenhänge. Schließlich zeigt sich eine weitere modelltheoretisch wichtige Einsicht: Modelle müssen, auch wenn sie Ähnlichkeiten abbilden, nicht selbst in ‚bildhafter‘ Form vorliegen. Zwar ist die Schildbeschreibung selbst evident kein ‚Modell‘, weil sie nicht über eine Ähnlichkeit zum Dargestellten verfügt. Wohl aber haben wir, wenn wir diese Passage lesen, ein solches bildhaftes Modell vor Augen. Modelle können also auch in einer sprachlichen, nicht-ikonischen (mit Peirce ‚symbolischen‘) Beschreibung vollständig sinnerhaltend repräsentiert sein. In diesem Sinn ist es legitim, derartige

|| 27 Siehe zum Beispiel Taplin 2001, Hardie 1985, Hubbard 1992 und de Jong 2011 (alle mit weiterer Literatur zur kontroversen Debatte); vgl. Lattmann 2016, 224. 28 Taplin 2001, 356. 29 Taplin 2001, 348.

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Beschreibungen – wenn denn durch sie tatsächlich ein ‚Modell‘ im eigentlichen Sinn erzeugt wird – in einem abgeleiteten Sinn ebenfalls als ‚Modell‘ zu bezeichnen. (2) Diagrams: Abbildungen (= icons = Modelle) können ihr Objekt derart abbilden, dass sie mittels ihrer eigenen dyadischen Qualität eine als entsprechend interpretierte dyadische Qualität des Objekts abbilden. In diesem Fall handelt es sich um diagrams. Die dyadische Qualität ist nach der Peirceschen Kategorienlehre eine Qualität, die als tatsächlich existierend qualifiziert wird, und zwar als Qualität, die als durch eine Wechselwirkung gegeben faktisch ursächlich und konstitutiv (etc.) für den entsprechenden Gegenstand ist. Derartige Modelle zeigen folglich insbesondere die innere Struktur des Objekts. Ein Beispiel für diese Klasse sind Diagramme. Sie repräsentieren ihr Objekt nicht durch undifferenziert ‚abbild‘-hafte Ikonizität (also als image), sondern durch das Besitzen einer relationalen, oftmals eben gerade nicht in naivem Sinne gegebenen ‚ikonischen‘ Struktur, die hierdurch als für das Objekt in äquivalenter Weise gegeben postuliert wird: Many diagrams resemble their objects not at all in looks; it is only in respect to the relations of their parts that their likeness consists. Thus, we may show the relation between the different kinds of signs by a brace, thus:

Signs:

{

Icons, Indices, Symbols.

This is an icon. But the only respect in which it resembles its object is that the brace shows the classes of icons, indices, and symbols to be related to one another and to the general class of signs, as they really are, in a general way.30

Die Repräsentationalität von diagrams beruht also ebenfalls auf einer Ähnlichkeit. Diese Ähnlichkeit verweist auf etwas, das (im Urteil des Zeichenverwenders) tatsächlich im Objekt ‚real‘ vorhanden ist. Doch nicht nur solche Diagramme sind icons, sondern auch mathematische Formeln (oder Computersimulationen etc.): When, in algebra, we write equations one another in a regular array, especially when we put resembling letters for corresponding coefficients, the array is an icon. Here is an example: a₁x + b₁y = n₁, a₂x + b₂y = n₂. This is an icon, in that it makes quantities look alike which are in analogous relations to the problem. In fact, every algebraical equation is an icon, in so far as it exhibits, by means of the algebraical signs (which are not themselves icons), the relations of the quantities concerned.31

|| 30 Peirce CP 2.282. 31 Peirce CP 2.282.

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Eine mathematische Formel beinhaltet zwar auf Konvention beruhende mathematische Symbole, deren Verwendung oftmals auf expliziter Setzung beruht (welche also als symbols zu klassifizieren sind) und die aus diesem Grund als solche primär eben gerade nicht in einer Ähnlichkeitsbeziehung zu den repräsentierten Objekten stehen, doch ist die mathematische Form etwa einer Gleichung selbst derart beschaffen, dass sie (mittels der Relation ihrer konstitutiven Bestandteile) ikonisch die involvierte(n) dyadischen Relation(en) direkt zugänglich macht, und zwar, da es sich um ein icon handelt, der direkten Wahrnehmung. Ein nicht-wahrnehmbarer Sachverhalt wird also derart repräsentiert, dass er wahrnehmbar wird. Ein anderes Beispiel, das Peirce gibt, führt diesen Sachverhalt im Detail aus und diskutiert in diesem Sinne, was das eigentliche semiotische Objekt eines diagram ist, nämlich die ‚Form‘ und also die wahrnehmbare (monadische) Qualität der involvierten (dyadischen) Relation: For what is there the Object of Investigation? It is the form of a relation. Now this Form of Relation is the very form of the relation between the two corresponding parts of the diagram. For example, let f₁ and f₂ be the two distances of the two foci of a lens from the lens. Then, 1 1 1 + = f1 f2 f0 This equation is a diagram of the form of the relation between the two focal distances and the principal focal distance; and the conventions of algebra (and all diagrams, nay all pictures, depend upon conventions) in conjunction with the writing of the equation, establish a relation between the very letters f₁, f₂, f₀ regardless of their significance, the form of which relation is the Very Same as the form of the relation between the three focal distances that these letters denote. This is a truth quite beyond dispute. Thus, this algebraic Diagram presents to our observation the very, identical object of mathematical research, that is, the Form of the harmonic mean, which the equation aids one to study.32

Im Ergebnis repräsentiert ein diagrammatisches icon sein Objekt in Hinblick auf eine dyadische (oder als solche betrachtete) relationale Qualität, und zwar gerade dadurch, dass es diese Qualität selbst in Form seiner (als Qualität verstandenen) ‚Form‘ aufweist. Dies impliziert im Akt der ikonischen Zeichenverwendung, dass diese Qualität ebenfalls im Objekt des Zeichens vorhanden ist: Die Form des icon bildet die Form des (‚realen‘) Gegenstandes ab, und zwar in Hinsicht auf als tatsächlich (‚real‘) vorhanden qualifizierte Eigenschaften. Insofern diagrams dabei gegebenenfalls nicht unmittelbar wahrnehmbare Aspekte der Qualität eines Gegenstandes direkt wahrnehmbar machen, macht sie dies (wie mutatis mutandis alle icons) zu der Grundlage genuin neuer Erkenntnis, im Gegensatz zu symbols, die letztlich nur analytisches Wissen generieren können (dasselbe gilt mutatis mutandis für indices):

|| 32 Peirce CP 4.530.

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It may seem at first glance that it is an arbitrary classification to call an algebraic expression an icon; that it might as well, or better, be regarded as a compound conventional sign. But it is not so. For a great distinguishing property of the icon is that by the direct observation of it other truths concerning its object can be discovered than those which suffice to determine its construction. […] Given a conventional or other general sign of an object, to deduce any other truth than that which it explicitly signifies, it is necessary, in all cases, to replace that sign by an icon. This capacity of revealing unexpected truth is precisely that wherein the utility of algebraical formulae consists, so that the iconic character is the prevailing one.33

Wichtig ist, dass es sich nicht nur bei mathematischen Formeln und den namengebenden Diagrammen um diagrams handelt, sondern bei allen Zeichen, die etwas anderes zum einen ikonisch repräsentieren, also auf der Grundlage ihrer qualitativen Beschaffenheit in Hinsicht auf eine Ähnlichkeit, und zum anderen durch dyadische Relationen, also durch Relationen, die zur essentiellen Konstitution des Gegenstands selbst gerechnet werden. Die Konsequenz ist, dass eine Änderung eines einzelnen Aspekts einer solchen dyadischen Qualität Auswirkungen nicht nur wie bei images auf den jeweils betroffenen Aspekt selbst hat, sondern auch auf die mit ihm gegebene dyadisch-relationale Qualität und mithin eine Veränderung des relationalen Gesamtgefüges bewirkt, das das icon repräsentiert. In diesem Sinn liegt in einem diagrammatischen icon ein System mit einer Struktur vor, in der alle kompositionalen Einzelteile eine spezifische relationale Funktion besitzen. Entfernt man etwa in den obigen Gleichungen einen Term, ändert die gesamte Gleichung ihren Charakter, und zwar in Hinsicht auf ihre dyadisch-relationale Qualität: Die durch sie repräsentierte Wechselwirkung ist mit einem Schlag eine andere geworden, und damit auch das, was wir über die entsprechenden physikalischen Beziehungen herausfinden könnten: 1 1 +f = f1 2 f 0 All diese Eigenschaften machen das diagram zum Modell der Wissenschaft par excellence. Sie sind (interpretierbar als) die ikonische Abbildung realer Wechselwirkung: Diagramme zielen darauf ab, Eigenschaften ihrer Objekte abzubilden, die in einer faktischen Beziehung zu deren innerer Verfasstheit und mithin ihrer (empirisch erfahrbaren) ‚Natur‘ stehen; insofern es sich um eine faktische und mithin hierdurch (wie auch immer) determinierte Beziehung handelt, ist diese im Prinzip auch einer ‚objektivierenden‘ Beschreibung zugänglich, insbesondere einer mathematischen. Schließlich steht diese ‚faktische‘ Relationalität im Fokus des Diagramms, ist also ein essentielles Charakteristikum dieser Art von Zeichen, anders als im Fall von images: Auch wenn diese gegebenenfalls tatsächlich dyadische, sich aus Wechselwirkung ergebende, ‚faktische‘ Relationen abbilden sollten – wie die Beschreibungen der Sternenkonstellationen bei Homer –, geschieht dies nur akzidentell, denn primär hängt || 33 Peirce CP 2.279.

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die Abbildungsfunktion von images für ihr Objekt in ihrem Kern nicht von dieser Wechselwirkung ab noch zielt sie auf deren Darstellung; es würde in dieser Hinsicht erst einmal keinen Unterschied machen, wenn der Große Wagen am Südpol abgebildet würde. Diagramme erlauben aufgrund ihrer Konstitution und spezifischen Repräsentationalität den Zugriff auf die ‚Realität‘.34 Trotzdem ‚sind‘ Diagramme nicht die Dinge ‚selbst‘: Konstitutiv für sie ist, da es sich um icons handelt, eine Ähnlichkeits- und nicht eine Identitätsrelation, und das Vorliegen einer solchen Ähnlichkeit beruht auf dem subjektiven Urteil der (aktiven oder gegebenenfalls passiven) Zeichenverwenderin. Insofern machen Diagramme eine Überprüfung der Richtigkeit der durch sie gewonnenen Aussagen über die Realität nötig; eine Darstellung der DNA durch das Modell einer Doppel-Helix war (und ist) erst einmal nur eine mögliche Darstellung der ‚Realität‘, die der faktischen, empirischen und gegebenenfalls experimentellen Bestätigung bedurfte. Die Ursache ist, dass icons und speziell diagrams weder wahrheitsfähige Zeichen (dicisigns und arguments) sind noch speziell Zeichen, die eigenständig ihre Richtigkeit belegen (arguments). Vielmehr handelt es sich im Rahmen einer erneuten erschöpfende dreiteiligen Klassifikation aller Zeichen (diesmal nach der spezifischen Relation zwischen Zeichen und interpretant) um rhemes, die als solche Zeichen der Potentialität sind und mithin nicht direkt einen faktischen oder rationalen Zusammenhang repräsentieren wie dicisign bzw. argument: A Rheme is a Sign which, for its Interpretant, is a Sign of qualitative Possibility, that is, is understood as representing such and such a kind of possible Object.35

|| 34 Dies gilt auch für die Geisteswissenschaften: siehe Bod 2013, der deren Geschichte als Suche nach ‚Mustern‘ beschreibt (welche sich eben als relationale Abbilder der repräsentierten Objekte verstehen lassen, mithin als ‚diagrammatische Modelle‘). Vgl. die Diskussion zu den kognitiven Aspekten des Diagramms in der Semiotik: siehe exempli gratia Stjernfelt 2007, Queiroz & Stjernfelt 2011 und Krämer & Ljungberg 2016; vgl. die Übersicht zum Diagramm aus philosophischer Perspektive bei Shin et al. 2018. Oftmals werden ‚Diagramme‘ traditionell im engen Sinn einer (visuell zugänglichen) ‚Zeichnung‘ aufgefasst; dies gilt insbesondere für wissenschaftsphilosophische Studien aus jüngerer Zeit, die die Bedeutung von Diagrammen in einem naturwissenschaftlichen Modellierungskontext herausstellen: vgl. zum Beispiel Bechtel 2017, Abrahamsen & Bechtel 2015 und Sheredos & Bechtel 2017. Angesichts der umfangreichen Diskussion würde ein Forschungsüberblick zum Diagramm im Allgemeinen den Rahmen dieser Fußnote sprengen. Es sei aber daran erinnert, dass insbesondere Peirce selbst den (diagrammatischen) existential graphs eine wichtige epistemische Funktion zugewiesen hat: siehe Peirce MS 514 (1909) und vgl. Sowa 2000 mit einer Fortentwicklung in einem zeitgenössischen logischen Kontext. Der Grund für die Wichtigkeit von Diagrammen für Peirce ist insbesondere die Möglichkeit von ‚Experimenten‘: vgl. Stjernfelt 2011 sowie unten Kap. 4 und auch Anm. 379. 35 Peirce CP 2.250; ein icon ist immer ein rheme: Peirce CP 2.255. Vgl. Peirce CP 2.314: „Our definition forbids an Icon to be a Dicisign, since the proper Interpretant of an Icon cannot represent it to be an Index, the Index being essentially more complicated than the Icon.“ Zum hiermit verbundenen Phänomen der (wahrheitsfähigen) Proposition siehe Peirce CP 2.309–388. Das Kriterium der Klassifizie-

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Ursächlich ist, dass die Ähnlichkeit, die der Benutzung eines Gegenstands als icon unterliegt, primär nur in diesem Gegenstand gegeben ist, unabhängig davon, ob sie im abgebildeten Gegenstand tatsächlich existiert – ja: sie wird durch den Akt der Zeichenverwendung von dem als Modell genutzten Gegenstand in dessen Objekt als existierend effektiv ‚erschaffen‘: An Icon is a sign which refers to the Object that it denotes merely by virtue of characters of its own, and which it possesses, just the same, whether any such Object actually exists or not.36

Ein illustratives Beispiel ist eine Karte. Wir müssen nur an das Konzept von Längenund Breitengraden denken, die als solche ja erst einmal nur im diagrammatischen icon und eben nicht real im dargestellten Objekt an sich, der Erde selbst, gegeben sind, wenn auch dann sekundär durch die Zeichenverwendung Teil des als Zeichens gefassten semiotischen Objekts ‚Erde‘ werden. Die Nutzung derartiger Modelle ist freilich schon für die Antike festzustellen, etwa für die von Eudoxos von Knidos verfasste (fragmentarisch erhaltene) Schrift Phainomena (oder Enoptron) aus der Mitte des 4. Jh. v. Chr., ja: Auf diese Schrift geht sogar überhaupt das moderne Konzept der Längen- und Breitengrade mittelbar zurück. Für Eudoxos ist nämlich bezeugt, dass er als erster den Himmel dadurch einer genauen Lokalisierung der sich in und an ihm zeigenden Himmelskörper zugänglich gemacht hat, dass er ein festes Bezugssystem eingeführt hat (vgl. fr. 1–3). Konkret wurde der Himmel als Kugel modelliert, die eine Achse und zwei Pole hat (fr. 10) und durch mehrere Kreise unterteilt ist, konkret einen immer sichtbaren Kreis (fr. 16; fr. 64), den Kreis, an dem die Sommersonnenwende stattfindet (fr. 65 f.), den Kreis der Tag-und-Nacht-Gleiche, den Äquator (fr. 69), den Kreis, auf dem die Wintersonnenwende stattfindet (fr. 72 f.), einen immer unsichtbaren Kreis (fr. 74) und neben zwei senkrecht aufeinander stehenden Großkreisen, die durch die Pole gehen (fr. 76–78), den Tierkreis (fr. 79).37 Indem Eudoxos ein solches gedankliches diagrammatisches Modell der (derart konzipierten) Himmelskugel entwirft, wurde es möglich, den Himmel zu kartographieren (und hiervon ausgehend sekundär auch die Erde, denn dieses himmlische Koordinatensystem wurde, und zwar schon in der Antike, zurück auf die Erdoberfläche projiziert und dort als grundlegender Bezugsrahmen genutzt).38 Einen instruktiven Eindruck geben zwei Fragmente (fr. 69 und fr. 78): || rung gibt Peirce CP 2.243: „Signs are divisible by three trichotomies; […] thirdly, according as its Interpretant represents it as a sign of possibility [sc. rheme] or as a sign of fact [sc. dicisign] or a sign of reason [sc. argument].“ Zum dicisign (oder dicent sign) siehe Peirce CP 2.251 und 2.310 und vgl. Stjernfelt 2015; zur gesamten Unterscheidung in rheme, dicisign und argument siehe Peirce CP 2.250–253. 36 Peirce CP 2.247. 37 Siehe Lasserre 1966, 180–198; die Schrift ist fragmentarisch erhalten: siehe fr. 1–120. Insgesamt zu Eudoxos siehe auch Krämer 1983, 73–87 und vgl. unten Kap. 5.5. 38 Siehe Strabon 2, 5, 3; vgl. schon Aristoteles, Mete. 362a32–b16. Zum Zusammenhang siehe Goldstein & Bowen 1983, 334–336 (dort auch dazu, dass dieses Modell auf Eudoxos zurückgeht).

62 | Original und Abbild: Eine modelltheoretische Perspektive Τρίτος δ’ ἔστι κύκλος, ἐν ᾧ αἱ ἰσημερίαι γίνονται· ἔστι δ’ ἐν τούτῳ τά τε τοῦ Κριοῦ μέσα καὶ τὰ τῶν Χηλῶν. Der dritte ist derjenige Kreis, an dem die Tag-und-Nacht-Gleichen stattfinden. Auf ihm liegt die Mitte des Widders und der Scheren. Ἐν δὲ τῷ ἑτέρῳ κολούρῳ φησὶ κεῖσθαι πρῶτον μὲν τὴν ἀριστερὰν χεῖρα τοῦ Ἀρκτοφύλακος καὶ μέσα αὐτοῦ κατὰ μῆκος· εἶτα τὰ μέσα τῶν Χηλῶν κατὰ πλάτος καὶ τοῦ Κενταύρου τὴν δεξιὰν χεῖρα καὶ τὰ ἐμπρόσθια γόνατα· μετὰ δὲ τὸν ἀφανῆ πόλον καμπήν τε τοῦ Ποταμοῦ καὶ Κήτους τὴν κεφαλὴν καὶ τοῦ Κριοῦ τὰ νῶτα κατὰ πλάτος καὶ τοῦ Περσέως τὴν κεφαλὴν καὶ τὴν δεξιὰν χεῖρα. Auf dem anderen Stutzschwanzkreis [sc. ein Kreis orthogonal zum Äquator: vgl. unten Kap. 5.5], sagt er, liege zuerst die linke Hand des Bärenwächters und seine Mitte der Länge nach, dann die Mitte der Scheren der Breite nach, die rechte Hand des Kentauren und die vorderen Knie. Danach kommen nach dem unsichtbaren Pol die Biegung des Flusses, der Kopf des Seeungeheuers, der Rücken des Widders der Breite nach, der Kopf des Perseus und seine rechte Hand.

Durch eine genaue Bestimmung der Lage der Sternbilder in diesem – durch die senkrecht oder in einem anderen Winkel aufeinander stehenden Kreise konstituierten, wenn auch nicht wie in der modernen Geometrie ein cartesisches Koordinatensystem aufspannenden – zweidimensionalen Bezugssystem wird die Grundlage für weitere Erkenntnisse bezüglich des Himmels und vor allem, als eigentlichen Zweck des Unterfangens, ein exakteres Kalenderwesen gelegt: Die Verortung der Sterne und Sternbilder in einem wohldefinierten Bezugssystem erlaubt, die Zeitverhältnisse genauer als zuvor zu bestimmen. Dies war relevant für Eudoxos’ Schrift Octaeteris, einen detaillierten Kalender auf der Basis astronomischer Ereignisse (fr. 129–269).39 Dieser Nutzen war allerdings nur aufgrund des diagrammatischen Modells möglich: Die Kreise selbst sind nicht im Himmel selbst gegeben, sondern nur im Modell. Doch indem sie dort als dyadisch-relationale Qualität des als Zeichen dienenden (abstrakten) Gegenstands (der vermittelt für diesen Gegenstand an sich steht) ‚modelliert‘ werden – und das heißt effektiv in einem intentionalen Akt erzeugt werden –, werden sie als eine äquivalente Qualität des Objekts des Modells postuliert und also als ‚reale‘ dyadisch-relationale Eigenschaft des Himmels aufgefasst. Insofern sie sich dort als zweckdienlich erweisen und zugleich die (so weit bekannte und als relevant erachtete) ‚reale‘ Konstitution des ‚Himmels‘ der Zuweisung derartiger Attribute nicht offen widerspricht, erscheint eine derartige Zuweisung als gerechtfertigt und nützlich. So erhält der Himmel aufgrund des Modells (wohlgemerkt kontrafaktisch) eine Kugelform mit zwei Polen und Kreisen wie dem Äquator. (3) Metaphors: Während diagrams ikonische Abbildungen von realer Wechselwirkung sind, sind metaphors ikonische Abbildungen neuen Denkens: Abbildungen || 39 Eudoxos’ Phainomena standen nicht im Kontext der mathematischen Erforschung der Geometrie der Kugel: siehe Berggren & Thomas 1996, 6 f. und vgl. unten Kap. 5.5.

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(= icons = Modelle) können ihr Objekt derart abbilden, dass sie eine ungebräuchliche semiotische Qualität eines zweiten Zeichens für ein durch ein drittes Zeichen repräsentiertes Objekt repräsentieren, und zwar auf der Grundlage einer Ähnlichkeit zwischen den Objekten des zweiten und dritten Zeichens. Mit anderen, einfacheren Worten: Modelle, die durch ihre spezifische Qualität implizieren, dass eine Verbindung zwischen zwei Zeichen mitsamt ihren Objekten besteht und also das eine als Repräsentamen für das Objekt des anderen verwendet werden kann, mithin eine semiotische Verbindung herstellen, die gewöhnlich nicht besteht (denn andernfalls läge ein symbol vor). Diese Art von icon bezeichnet Peirce als metaphor. Insofern ein solches metaphorisches icon auf einer Ähnlichkeit zwischen zwei anderen Dingen beruht (das heißt eben denjenigen, die durch die Metapher in ungebräuchlicher Weise zusammengebracht werden), impliziert es prinzipiell eine zweite ikonische Zeichenrelation, mithin ein eingebettet-untergeordnetes icon, sei es ein image, sei es ein diagram, sei es eine metaphor.40 Die Metapher ist per definitionem also ein komplexes Zeichen. Zum Beispiel ist in dem metaphorischen icon ‚Achilles ist ein Löwe‘ impliziert, dass das Objekt des Wortes ‚Löwe‘ ein Abbild und konkret image desjenigen Gegenstandes ist, der gewöhnlich vom Wort ‚Achilles‘ repräsentiert wird – oder vice versa. Dieser letzte Aspekt deutet darauf hin, dass es allgemein nicht immer von vornherein klar ist, welches der beiden in der metaphorisch-ikonischen Relation involvierten Zeichen das metaphorische Zeichen (Abbild) und das metaphorische Objekt (Original) ist, insbesondere dann nicht, wenn wie in einer metaphorischen Zeichenrelation indirekt mit den jeweiligen Zeichen selbst hantiert wird. Dieser Sachverhalt beruht jedoch transparent darauf, dass in ikonischen Relationen eine ‚Ähnlichkeit‘ vorliegt und diese Relation an sich nicht hierarchischer Natur ist. Insofern ein Gegenstand nämlich einem zweiten Gegenstand ähnlich ist, ist dieser zweite Gegenstand analytisch notwendig auch dem ersten ähnlich. Die (in der Beispiel-Metapher sprachliche) Form des metaphorischen icon erlaubt per se keine Entscheidung, erst die Umstände der Zeichenverwendung einschließlich des Kontextes erlauben es (gegebenenfalls), das eine als Abbild und das andere als Original zu interpretieren. Dabei ist ‚Kontext‘ in einem weitestmöglichen Sinne zu verstehen, und er umfasst auch die Kriterien für die jeweils vorgenommene Interpretation auf Seiten der Zeichenverwenderin. Hierzu können auch allgemeine theoretische Erwägungen oder die Gegebenheiten der natürlichen Sprache mitsamt ihren semantischen Verhältnissen etc. gehören. Metaphorische Modelle sind in der frühen griechischen Philosophie allgegenwärtig, und sie umfassen insbesondere sowohl images als auch diagrams.41 Am verbreitetsten ist der metaphorische Gebrauch von images. Zu erinnern ist exempli gratia an Empedokles, der einer Notiz bei Aristoteles zufolge das „Meer als Schweiß der Erde“

|| 40 Für die erste und die letzte Form ist das Höhlengleichnis ein Beispiel, für die zweite in gewisser Hinsicht das Liniengleichnis: siehe unten Kap. 6 und Kap. 7.5. 41 Siehe für einen umfangreicheren Überblick Lattmann 2010, 44–59 und Lattmann 2016.

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bestimmte,42 aber auch an Anaximander, für den bei der Entstehung des Kosmos um die Luft, die die Erde umgibt, eine Kugel aus Feuer gewachsen sei wie die Rinde um einen Baumstamm:43 φησὶ δὲ τὸ ἐκ τοῦ ἀϊδίου γόνιμον θερμοῦ τε καὶ ψυχροῦ κατὰ τὴν γένεσιν τοῦδε τοῦ κόσμου ἀποκριθῆναι, καί τινα ἐκ τούτου φλογὸς σφαῖραν περιφυῆναι τῷ περὶ τὴν γῆν ἀέρι ὡς τῷ δένδρῳ φλοιόν, ἧς ἀπορραγείσης καὶ εἴς τινας ἀποκλεισθείσης κύκλους ὑποστῆναι τὸν ἥλιον καὶ τὴν σελήνην καὶ τοὺς ἀστέρας. Er sagt, dass das aus dem ewig Warmen und Kalten Produzierende zur Zeit der Entstehung dieses Kosmos abgeschieden wurde und aus diesem eine Kugel aus Feuer um die Luft um die Erde herumgewachsen sei wie Rinde um den Baum; und als diese zerrissen und sozusagen in Kreise eingeschlossen wurden, wurden die Sonne, der Mond und die Sterne geformt.

Daneben finden sich aber auch Metaphern, die diagrams umfassen, und zwar ebenfalls schon bei Anaximander, hier abermals gemischt mit images:44 Ἀναξίμανδρος κύκλον εἶναι ὀκτωκαιεικοσαπλασίονα τῆς γῆς, ἁρματίου τροχῷ , τὴν ἁψῖδα [παραπλήσιον] ἔχοντα κοίλην, πλήρη πυρός, [ἧς] κατά τι μέρος ἐκφαίνουσαν διὰ στομίου τὸ πῦρ ὥσπερ διὰ πρηστῆρος αὐλοῦ· καὶ τοῦτ’ εἶναι τὸν ἥλιον. Anaximander [sagt, die Sonne] sei eine kreisförmige Scheibe achtundzwanzigmal so groß wie die Erde, sehr ähnlich einem Wagenrad, mit einer vertieften Nabe45 voller Feuer, und in einem bestimmten Bereich scheine durch eine Öffnung ein Feuer wie durch eine Glutwindröhre.46 Dies sei die Sonne.

Anaximander beschreibt eine Metapher, die im Rahmen der Benutzung eines Wagenrads zugleich durch die Qualität einer numerischen Relation bestimmt ist; es liegt ein metaphorischer Gebrauch eines diagram vor; etwas Ähnliches findet sich auch in Hinsicht auf den Mond (neunzehnmal so großes kreisförmiges Wagenrad im Vergleich zur Erde) und die Erde (zylinderförmig mit einem Verhältnis von Tiefe zu Breite

|| 42 Aristoteles, Mete. 357a24–28 (= Diels & Kranz 31 B55), insbesondere 24–26: ὁμοίως δὲ γελοῖον κἂν εἴ τις εἰπὼν ἱδρῶτα τῆς γῆς εἶναι τὴν θάλατταν οἴεταί τι σαφὲς εἰρηκέναι, καθάπερ Ἐμπεδοκλῆς („und gleichermaßen ist es lächerlich, wenn jemand glaubt, etwas Klares gesagt zu haben, wenn man sagt, das Meer sei der Schweiß der Erde, wie Empedokles es getan hat“); zu Aristoteles’ Kritik am weit verbreiteten Gebrauch von Metaphern vgl. Top. 139b32–140a2 und APo. 97b31–39; zum Verhältnis zu seinem eigenen Metapherngebrauch siehe Vega 2017. Die Metapher findet sich (erweitert?) auch bei Antiphon (Diels & Kranz 87 B32). 43 Diels & Kranz 12 A10 (= Ar 101 Wöhrle); zum ersten Teil des Satzes siehe Kirk & Raven & Schofield 1983, 131 f. Zum Metapherngebrauch bei Anaximander vgl. Lattmann 2016, 234 f. mit Anm. 36 f. 44 Diels & Kranz 12 A21 (= Ar 57 Wöhrle, auch Ar 58 Wöhrle); vgl. A19 (= Ar 185 Wöhrle = Eudemos, fr. 146), wo eine solche Quantifizierung ausdrücklich für Anaximander als ersten belegt ist. 45 Oder „hohlen Felge“: siehe Wöhrle 2012, 53 mit Anm. 5 (dort auch weitere Literatur). 46 Die Übersetzung des letzten Wortes nach Wöhrle 2012, 53; siehe dort Anm. 6 für weitere Literatur; siehe auch Couprie 2001 und Thibodeau 2017b, 109 f.

Original und Abbild: Eine modelltheoretische Perspektive | 65

von 1:3).47 Deutlich wird grundsätzlich, dass Metaphern und allgemein icons keineswegs an ein spezifisches Medium, etwa die natürliche Sprache, gebunden sind: Als Zeichen können sie vielmehr in jedem Medium realisiert sein, und selbstverständlich sind auch gemischt-mediale Zeichen möglich. Das einzige notwendige Kriterium ist, dass icons aufgrund einer Ähnlichkeit als repräsentational für etwas anderes angesehen werden; dies gilt speziell für Metaphern, sei es, dass sie auf images, diagrams oder metaphors beruhen.

Zeichen (Sign) (nach Relation von Zeichen / Objekt)

Icon

Index

Symbol

(potentielle, Ähnlichkeits-Relation)

(faktische, direkte Relation)

(habituelle, vermittelte Relation)

Image

Diagram

Metaphor

(einfache Qualität an sich)

(Qualität direkter Wechselwirkung)

(semiotische Qualität)

Abb. 2: Differenzierung des Zeichens (sign oder representamen) nach der Beziehung zwischen Zeichen und Objekt sowie des icon (Modells) nach der als ähnlich dargestellten relationalen Qualität

Um die Ergebnisse so weit zusammenzufassen: Modelle sind Abbildungen; diese sind icons im Sinn der Peirceschen Zeichentheorie, das heißt Zeichen – verstanden allgemein als irgendetwas, das für irgendjemanden irgendetwas anderes in irgendeiner bestimmten Hinsicht repräsentiert –, die irgendetwas anderes, ihr Original (als ihr semiotisches ‚Objekt‘), mittels ihrer eigenen monadischen, dyadischen oder triadischen Qualität (die kompositionaler oder komplexer Natur sein kann) hinsichtlich einer entsprechenden monadischen, dyadischen oder triadischen Qualität repräsentieren, das heißt von irgendjemandem als etwas aufgefasst werden, das für dieses Objekt in dieser Hinsicht und das heißt konkret aufgrund dieser spezifischen Qualität stehen und es vertreten kann. Anhand der prinzipiell relational bestimmten Qualität || 47 Zum Mond siehe Diels & Kranz 12 A22 (= Ar 60 Wöhrle), zur Erde A10 (= Ar 101 Wöhrle). Die Einzelheiten sind hier nicht relevant; vgl. unten mit Anm. 5179. Zu einem neuen Ansatz zur Relation von Erde einerseits und Mond und Sonne andererseits siehe jüngst Thibodeau 2017b; für den gegebenen Zusammenhang ergibt sich kein signifikanter sachlicher Unterschied.

66 | Original und Abbild: Eine modelltheoretische Perspektive

der der Zeichenverwendung zugrunde liegenden Qualität lassen sich grundlegend genau drei Formen von icon unterscheiden, nämlich bildliche, diagrammatische und metaphorische icons (images, diagrams bzw. metaphors), das heißt ikonische Abbildung erstens von (monadischer) wahrnehmbarer Eigenschaft an sich (images), zweitens von faktisch-realer, im Zusammenspiel von paarweise (dyadisch) aufeinander beziehbaren Relata sich vollziehender Wechselwirkung (diagrams) und drittens von neuem (als genuin triadischer Relation konstituierten) Denken (metaphors). Den systematischen semiotischen Sachverhalt zeigt diagrammatisch Abbildung 2. Abschließend sind mehrere Eigenschaften von Modellen festzuhalten, die aus den erzielten Ergebnissen folgen (und teils schon im Lauf der Diskussion beiläufig benannt wurden) und, insofern sie wichtig zum Verständnis von deren ontologischer und epistemologischer Natur sind, relevant für die weiteren Ausführungen sind: (1) Abbildungen (= icons = Modelle) haben qua Zeichen grundsätzlich folgende Eigenschaften: Sie sind abhängig von dem subjektiven Urteil des (aktiven oder passiven) Zeichenverwenders, der über das Vorliegen einer Ähnlichkeit entscheidet; sie sind nicht-identisch mit ihrem Objekt (ein Porträt ist nicht der dargestellte Mensch); und sie stehen nicht in allen Hinsichten für ihr Objekt (ein Porträt zeigt den dargestellten Menschen nur etwa von einer Seite und nur in Hinsicht auf den Sinneseindruck, zum Beispiel bezogen auf Farbe und Form). Modelle sind immer subjektiv, zweckhaft, partiell und selektiv abbildhaft. Zugleich sind sie, da sie nicht faktisch mit ihrem Objekt verbunden sind noch selbst einen rationalen expliziten Grund für ihr Verständnis liefern, mehr als andere Zeichen auf Interpretation angewiesen. (2) Modelle sind immer Modelle einer Theorie.48 Dabei ist ‚Theorie‘ in einem allgemeinen Sinne zu verstehen, und zwar als konzeptueller Rahmen, der mehr oder weniger stark systematisiert und abstrakt sein kann. In diesem Verständnis ist auch die natürliche Sprache eine (wenn auch nicht formalisierte) Form der ‚Theorie‘. Der spezifische theoretische Rahmen determiniert, was wir als Modell auffassen und welche Attribute wir ihm zuschreiben – ja: zuschreiben können. Im Fall der Beispiele bei Anaximander muss eine (zumindest Proto- oder implizite) ‚Theorie‘ vorhanden sein, die es erlaubt, von kreisförmigen (runden) Gegenständen zu sprechen und relative Messungen vorzunehmen zu können. Oder im Fall von Eudoxos’ Himmelskarte muss eine Theorie vorhanden sein, die den Himmel als Kugel beschreibt, die mit Kreisen oder Winkeln operieren kann, die einzelne Himmelskörper zu benennen vermag, die Messungen der Abstände zwischen den Sternen vorzunehmen und die Beschreibung ihrer Verbindung zu Sternbildern zu geben erlaubt etc. (3) Zwischen Modell und Objekt besteht nicht nur eine globale Ähnlichkeit, sondern es werden auch einzelne Eigenschaften als deren konstitutive Elemente direkt

|| 48 Diese Einsicht integriert die Erkenntnisse der Modelltheorie der modernen Logik: siehe für einen Überblick systematisch Balzer 1997 und knapp Hodges 2013 sowie eher historisch orientiert Chang 1979 und Vaught 1979; vgl. in diesem Zusammenhang Schubring 2017.

Original und Abbild: Eine modelltheoretische Perspektive | 67

aufeinander bezogen und also ‚abgebildet‘.49 Dies geschieht im Prozess der Zeichenverwendung im Sinn einer mathematischen Abbildungsfunktion, ebenfalls in Abhängigkeit von und beruhend auf der zugrunde liegenden ‚Theorie‘. Dabei lassen sich die Attribute auf der Seite des Originals als ‚Modellattribute‘ bezeichnen (nämlich als diejenigen Attribute, die vom Modell repräsentiert werden sollen) und die auf der Seite des Modells als ‚syntaktische Attribute‘ (nämlich als diejenigen Attribute, die der als Modell fungierende Gegenstand aufgrund seiner eigenen vorgängigen Konstitution besitzt und die dazu dienen, die Modellattribute des Originals zu repräsentieren, und zwar im Sinne einer ‚Syntax‘, die die möglichen Formen des semiotischen Ausdrucks bestimmt). Die charakteristische Verbindung von Modell- und syntaktischen Attributen ist für die jeweils konkret vorliegende Modellrelation spezifisch. Als Beispiel kann erneut Eudoxos’ Himmelskartierung dienen: Die Karte selbst hat, wie gesehen, qua Gegenstand spezifische Attribute – etwa die kreisförmigen Linien und die hierdurch abgegrenzten flächigen Bereiche als Teil der Himmelskugel –, und diese werden im Rahmen der Zeichenbenutzung dazu genutzt, bestimmte als relevant erachtete Attribute des Originals abzubilden, und zwar gerade diejenigen, die als ‚ähnlich‘ postuliert werden. Diese Attribute besitzt der Originalgegenstand als solcher aber gerade nicht selbst als direkt wahrnehmbare Attribute, sondern werden ihm erst durch den Akt der Modellverwendung effektiv zugesprochen, sind greifbar also nur im Modell. Gerade dieser Umstand bedingt, dass icons (= Modelle) genuin neues Wissen generieren können: Indem wir Eudoxos’ Karte und die durch deren relational-qualitative Beschaffenheit konstituierten Bereiche nutzen, können wir überhaupt erst von Bereichen am Himmel selbst sprechen. Diesem positiven Aspekt steht andererseits gegenüber, dass sich zugleich immer die Frage stellt, welche Attribute des Modells welche Entsprechung im abgebildeten Gegenstand haben – und ob sie denn überhaupt eine reale Entsprechung haben. Das Modell postuliert schließlich in einem abduktiven, hypothesenbasierten Schritt lediglich potentielle Eigenschaften des abgebildeten Gegenstandes. Ob diese faktisch vorliegen, muss sich in einem Prozess aus ‚Deduktion‘ der aus der Modellverwendung folgenden Implikationen und ‚Induktion‘ einer empirischen Überprüfung dieser Implikationen (semiotisch äquivalent zu einem Experiment) anhand des Modells erweisen, gegebenenfalls gefolgt von einem neuen abduktiven Schritt der Modifikation oder Rekonzipierung des Modells.50 So lässt sich gewiss eine Kugelform des Himmels mittels des Modells postulieren – doch, wie wir heute wissen, hat diese Kugel keine direkte ‚reale‘ Entsprechung im Sinn einer unabhängig von unserer Perspektive existierenden objektiven Eigenschaft des || 49 Dieser Aspekt integriert die Erkenntnisse abbildungsbasierter Modelltheorien: siehe Stachowiak 1973. Vgl. Giere 1999, Giere 2004, Suárez 2003, Suárez 2004, Frigg 2006, Frigg 2010a und 2010b sowie für einen Überblick Frigg & Nguyen 2017. Eine Anwendung beider Einsichten auf die frühgriechische Philosophie und Wissenschaft findet sich zum Beispiel in Lattmann 2016. 50 Zu diesem Zusammenhang zwischen Abduktion, Deduktion und Induktion (für Peirce der allgemeine Mechanismus des Wissenserwerbs) vgl. Peirce CP 2.773–778 und 2.641–644.

68 | Original und Abbild: Eine modelltheoretische Perspektive

Kosmos selbst, und infolge unserer neuen Einsichten in die physikalische Konstitution des Universums haben wir mittlerweile die Vorstellung einer Himmelskugel aufgegeben und durch ein adäquateres Modell ersetzt.

3 Mathematische Diagramme und die Praxis der Modellierung 3.1 Einleitung Als essentielles Charakteristikum antiker griechischer Mathematik gilt die axiomatisch-deduktive Methode: Auf der Grundlage einer axiomatisch gesetzten Basis werden deduktive logische Schlüsse zum Beweis mathematischer Sachverhalte gezogen, aus denen sich nach und nach vom Einfachen bis zum Komplexen systematisch das Gebäude der Mathematik aufbaut. Mathematik ist in dieser Hinsicht aus der Perspektive der Logik beschrieben und also eine Form deduktiven Schließens. In diesem Sinne beginnt mit der griechischen Mathematik, paradigmatisch repräsentiert durch Euklids Elemente, die Geschichte der eigentlichen wissenschaftlichen Theorienbildung.1 Ein in der Forschung lange wenig beachtetes Charakteristikum der griechischen Mathematik ist gleichwohl mindestens ebenso prominent, und es hat einen direkten Bezug zu mathematischer Modellierung: Griechische Mathematik operiert fast ausnahmslos auf der Grundlage von bildlichen Diagrammen geometrischer Objekte, mithin allem Anschein nach diagrammatischen icons und also Modellen im Sinne der Ausführungen im vorangehenden Kapitel. So findet sich in Euklids Elementen kein einziger mathematischer Satz ohne Diagramm, und die Sätze selbst beziehen sich im Akt des Beweisens durchgängig auf ein Diagramm. Das Diagramm scheint der zentrale Bestandteil mathematischer Praxis zu sein. In jedem Fall gilt dies für Euklid, denn in den Elementen ist die Verwendung von Diagrammen nicht nur in den geometrischen Sätzen, sondern prima vista überraschend auch in den arithmetischen und proportionentheoretischen Sätze obligatorisch: That diagrams were considered essential for mathematics is proved by books V, VII–IX of Euclid’s Elements. There, all the propositions are accompanied by diagrams, as individual—and as far as the situations allow—as elaborate as any geometrical diagram. Yet, in a sense, they are redundant, for they no longer represent the situations discussed.2

Da im Kontext moderner Mathematik und insbesondere Geometrie die Verwendung visueller Diagramme grundsätzlich (und zu Recht) als entbehrlich gilt, insbesondere

|| 1 Vgl. Mittelstraß 1965 sowie oben Kap. 1. Die im Folgenden entwickelte modelltheoretische Deutung des griechischen mathematischen Diagramms greift zurück auf und ist eine substantielle Erweiterung von Lattmann 2018; Übereinstimmungen zwischen beiden Darstellungen sind nicht gesondert gekennzeichnet. Hier erfolgt im Rahmen einer engeren theoretischen Anbindung an die semiotischen Hintergründe zusätzlich insbesondere eine Diskussion des Theorems, eine Erörterung der reductio ad absurdum, und ebenso wird vergleichend Autolykos von Pitane einbezogen. 2 Siehe Netz 1999a, 40–43, das Zitat 42. Entsprechend wurde das ‚Diagramm‘ in der Antike metonymisch für den gesamten mathematischen Beweis verwendet: siehe Netz 1999a, 35–43. https://doi.org/10.1515/9783110616491-003

70 | Mathematische Diagramme und die Praxis der Modellierung

in beweisrelevanter Hinsicht,3 sind die Diagramme in der antiken griechischen Mathematik von der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung lange Zeit als mehr oder weniger unwesentliches Beiwerk betrachtet und nicht weiter beachtet, ja: sogar als der Strenge und Konsistenz der mathematischen Argumentation abträglich beurteilt worden. Aus moderner Sicht dienen Diagramme schließlich lediglich der Visualisierung eines mathematischen Sachverhalts und können bestenfalls zur Plausibilität einer mathematischen Argumentation beitragen, haben jedoch nicht den Charakter eines ‚Beweises‘ – und könnten dies aufgrund ihrer lediglich visuellen und nicht mathematisch (und speziell algebraisch) operierenden Zurschaustellung eines bestimmten Sachverhalts auch überhaupt nicht, ja: nicht einmal in der Geometrie.4 Symptomatisch für die Vernachlässigung des mathematischen Diagramms in der wissenschaftshistorischen Forschung ist, um ein einschlägiges Beispiel anzuführen, die im Großen und Ganzen fehlende Berücksichtigung in Thomas Heaths History of Greek Mathematics aus dem Jahr 1921. Der Regelfall ist, dass die mathematischen Inhalte unter Verzicht auf das Diagramm im Rahmen der Konventionen der modernen Mathematik in algebraisch-symbolischer Notation wiedergegeben werden, das heißt, ihr ‚mathematischer Gehalt‘ wird in einer abstrahiert-objektivierten, vermeintlich in dieser Form allgemeingültigen und -anwendbaren Formelsprache gefasst.5 Gleichwohl ist aus einer wissenschaftshistorischen Perspektive transparent, dass Diagramme in der griechischen Mathematik kein bloßes Werkzeug der Visualisierung waren, sondern eine methodisch zentrale Funktion besaßen. Ferner besteht die Vermutung, dass sich diese Funktion nicht in dem erschöpft, was gemeinhin mit Hilfe || 3 Man denke an Hilbert 1899 und Tarski 1959. Der sachliche Grund ist, dass die moderne Geometrie als analytische Geometrie auf ein algebraisches Fundament zurückgeführt ist, ausgehend von der Axiomatisierung durch speziell Hilbert, die sich von der aus der Anschauung gegebenen Interpretation der geometrischen Objekte gelöst hat; siehe Weyl 1966, 34–46. Hiermit zusammen hängt, dass der Charakter der axiomatischen Grundlegung in antiker und moderner Mathematik trotz der scheinbaren Kontinuität grundlegend anders ist: siehe Weyl 1966, 34 f. und vgl. in Hinsicht auf einen anderen Aspekt knapp Lattmann 2011; vgl. oben Anm. 1122 und unten Anm. 6 sowie Anm. 6151. Man beachte auch Descartes’ und Viètes Beitrag; siehe Panza 2011 bzw. Oaks 2018. Einen instruktiven Überblick zum Diagramm im Rahmen der modernen Mathematik gibt Giaquinto 2008. 4 Zur grundsätzlichen Kritik am Diagrammgebrauch im mathematischen Kontext siehe knapp Manders 2008a, 65–68; vgl. Patterson 2007. Ein weniger strenger Blick auf das antike mathematische Diagramm als Beweis findet sich bei Chemla 2012b und letztlich auch Netz 1999a, der die epistemische Valenz des Diagramms im primären wissenschaftlichen Kontext auf die „repeatability of necessity“ im Sinne eines in der Praxis gründenden Formalismus zurückführt (siehe unten); aus wissenschaftsphilosophischer Sicht vgl. zu dieser Frage Legg & Franklin 2017. Vgl. oben Anm. 16. 5 Vgl. Netz 1999a, 12: „That diagrams play a crucial role in Greek mathematics is a fact often alluded to in the modern literature, but little discussed. The focus of the literature is on the verbal aspect of mathematics.“ Vgl. auch Heaths 1926 Übersetzung von und Kommentar zu Euklids Elementen, wo sich bezeichnenderweise im Index kein Eintrag „diagram“ (oder „figure“) findet. Ein extremes Beispiel für diesen Zugriff ist Mueller 1981; instruktiv ist Heaths 1926, 372–374 Wiedergabe des zweiten Buchs von Euklids Elementen als ‚geometrischer Algebra‘ (vgl. die folgende Anm. 6).

Einleitung | 71

der modernen Beschreibungssprache ausgedrückt wird.6 In diesem Sinn sind die Diagramme jüngst verstärkt in den Fokus der Forschung gerückt, und es wurde versucht, ihre Relevanz in ihrem primären historischen Kontext zu ergründen. Spätestens seit Reviel Netz’ wichtiger Arbeit The Shaping of Deduction in Greek Mathematics aus dem Jahre 1999 hat sich eine rege Debatte zur Thematik entwickelt.7 Zwei evident interdependente Aspekte, die das Interesse der Forschung gefunden haben, sind der ontologische Status und die epistemische Valenz der Diagramme: Was genau ‚sind‘ antike mathematische Diagramme und welche Funktion kommt ihnen im Rahmen der mathematischen Erkenntnis zu, insbesondere im Verhältnis zum Text der Proposition? Antworten auf diese Fragen sind zentral für ein Verständnis des Diagramms in der antiken griechischen Mathematik – und angesichts der Wichtigkeit von Diagrammen mithin für das von ‚euklidischer‘ Mathematik insgesamt. Sie stehen im Sinne von Leitfragen im Fokus der folgenden Analyse, die auf der Grundlage der im letzten Abschnitt gewonnenen Einsichten auf das Diagramm als icon und mithin Modell blickt. Prima vista steht ja außer Frage, dass Diagramme als Zeichen aufgefasst werden können, die abbilden und mithin ‚modellhaft‘ repräsentieren. Für die vorliegende Untersuchung ist eine derartige Analyse von zentraler Bedeutung: Der wissenschaftsphilosophische Blick auf das mathematische Diagramm legt den Kern der wissenschaftlichen Praxis der euklidischen Mathematik offen und erschließt eines ihrer essentiellen Werkzeuge und Ausdrucksweisen. Schließlich handelt es sich beim Diagramm um einen unabdingbaren Bestandteil einer jeden Handlung in der euklidischen Mathematik, und dieser scheint in noch höherem Maße charakteristisch zu sein als ihre axiomatisch-deduktive Verfasstheit, ergibt sich Letztere doch erst sekundär aus der Kombination von einzelnen basalen, im Zusammenhang || 6 Beide Ansätze zur Beschreibung des Materials haben sich in der Geschichtsschreibung der griechischen Mathematik oft unversöhnlich gegenübergestanden. Paradigmatisch für den Dissens ist die Diskussion um die sogenannte ‚geometrische Algebra‘, die von Ungurus 1975 Studie ausgelöst wurde; er wandte sich pointiert gegen die gängige Deutung des zweiten Buches von Euklids Elementen als (Proto-) Algebra zur Lösung spezifischer Gleichungen (vgl. etwa Zeuthen 1886, Neugebauer 1936 sowie oben Anm. 5, Anm. 1120 und Anm. 1122; schon vor Unguru wurde die Existenz einer ‚geometrischen Algebra‘ in der griechischen Antike angezweifelt: vgl. Szabó 1978, 352 f. [ursprünglich 1969]); an einschlägigen Beiträgen zur Debatte sind anzuführen unter anderem van der Waerden 1975, Freudenthal 1977, Unguru 1979, Unguru & Rowe 1981, Unguru & Rowe 1982, Grattan-Guinness 1996 und Saito 2004. Dass die paradigmatisch zentrale Fragen der Historiographie antiker Mathematik berührende Diskussion noch immer nicht abgeschlossen ist, belegen die Studien von Corry 2013, Blåsjö 2014, Fried 2014, Sialaros & Christianidis 2016 und Blåsjö 2016 (speziell die letzten beiden mit einem Überblick über die Geschichte der Kontroverse und mit weiterer Literatur; siehe auch Schneider 2016); vgl. jüngst Unguru 2018. Siehe auch unten Anm. 79 und vgl. Klein 1968 und Oaks 2018. 7 Für das wachsende Interesse an einer wissenschaftshistorischen und -philosophischen Analyse des Diagramms in der griechischen Mathematik seien beispielhaft unter anderem folgende Studien angeführt: Manders 2008b, Norman 2006, N. Miller 2007, Mumma 2006, Mumma 2008a, Mumma 2008b, Avigad et al. 2009, Mahr & Robering 2009, Macbeth 2010, Mumma 2010, Mumma & Panza 2012, Mumma 2012, Catton & Montelle 2012, Coliva 2012 und Humphreys 2017.

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mit Diagrammen ausgeführten mathematischen Handlungen in einem Gesamtsystem. Insofern ist die zentrale Stellung des Diagramms in Entsprechung zur grundlegenden ‚Diskretheit‘ mathematischer ‚Elemente‘ zu verstehen.8 Insgesamt besteht die Aussicht darauf, auf der Grundlage einer Analyse des Diagramms, die integrativ-philologisch dessen Sinn im Kontext der mathematischen Proposition hermeneutisch ergründet, etwaige essentielle Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der voraristotelisch-voreuklidischen und der bei Platon fassbaren mathematischen Praxis theoretisch klar und exakt zu bestimmen – und zwar unter Umgehung der gravierenden methodischen Schwierigkeit, dass wir über das (axiomatisch-deduktive) System von Mathematik vor Euklid (und Autolykos) praktisch eben gerade nicht verfügen.9 Freilich wird der Gebrauch von Diagrammen in der antiken Mathematik in der Forschung oft als grundsätzlich problematisch eingeschätzt, und zwar in genuin mathematischer Hinsicht. Eine Lösung der Probleme legt Wesen und Funktion des Diagramms offen. Daher werde ich die relevanten Probleme als Startpunkt der Analyse

|| 8 Zur Diskretheit siehe Asper 2007, 114–116. Dies passt zu dem, was sich speziell schon an Hippokrates’ ‚Möndchen‘-Quadratur beobachten lässt: vgl. Asper 2007, 110–112. 9 Eine derartige modelltheoretische Analyse des Diagramms in der antiken Fachmathematik liegt bisher nicht vor. Die einzige Ausnahme ist Mahr & Robering 2009, doch zeigen sich signifikante Unterschiede zur hier vorgenommenen Analyse (siehe unten, speziell Anm. 37). Dasselbe gilt für Macbeth 2010 (vgl. Catton & Montelle 2012) und Netz 1999a: Während auch Macbeth das Diagramm aus einer semiotischen Perspektive diskutiert und als icon bestimmt, nutzt sie nicht alle Einsichten, die ein Peircescher Blickwinkel bietet (zu den Unterschieden siehe unten Anm. 80); Netz andererseits verwendet zwar den Peirceschen Begriff des index zur Erklärung der Buchstaben im Diagramm (zur Problematik dieses Versuchs siehe allerdings unten, speziell Anm. 20), erklärt dieses selbst jedoch gerade nicht in semiotischem Sinn als Zeichen: Für ihn ist das Diagramm das konkrete, partikulare, physikalische Objekt, über das im Modus des ‚make-believe‘ gesprochen werde (198; siehe insgesamt 51–57). Dabei gelte: Das Diagramm „is similar to the intended object; it is functionally identical to it; what is perhaps most important, it is never questioned“ (56). Wie dies zu verstehen ist, macht eine ausführliche Zusammenfassung deutlich: „The Greek mathematical diagram is not some kind of explanatory illustration […]. Rather, it forms the very subject of the claim. What Greek mathematicians do is to enact operations on a diagram, virtually constructing it and then making claims surrounding it. The physical limitations of the diagram as a perfect instantiation of the object under discussion are well understood, but the subject matter is not some abstract object external to the diagram. Rather, it is the diagram taken in through a make-believe perception which takes it as if it did perfectly instantiate the object at hand: the diagram as imagined“; dabei sei es der Fall, dass „the space […] of Greek mathematics is that of geometrical space as executed on the surface of papyrus“ (beide Zitate Netz 2013, 241; meine Hervorhebungen). Diese Interpretation deutet das Diagramm jedoch als black box (vgl. Netz 1999a, 56 f.), mit der Folge, dass gerade unerklärt bleibt, wie sich das wahrgenommene Diagramm im Einzelnen zum ‚intended object‘ verhält, also zu seiner ‚mathematischen‘ Bedeutung, insbesondere angesichts des Umstands, dass Netz offenkundig ‚Ähnlichkeit‘ mit ‚Identität‘ identifiziert (freilich abzüglich der raumzeitlichen Attribute) und das gezeichnete Diagramm als ontologisch und epistemologisch primär bestimmt. Vgl. im Übrigen Bogen 2013 für eine Analyse des antiken Diagramms in der mechanischen Tradition aus einer Peirceschen Perspektive.

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anhand einer exemplarischen Proposition skizzieren, zur Vereinfachung der deduktiven Situation des ersten Satzes aus dem ersten Buch von Euklids Elementen: Ἐπὶ τῆς δοθείσης εὐθείας πεπερασμένης τρίγωνον ἰσόπλευρον συστήσασθαι. Ἔστω ἡ δοθεῖσα εὐθεῖα πεπερασμένη ἡ ΑΒ. Γ Δεῖ δὴ ἐπὶ τῆς ΑΒ εὐθείας τρίγωνον ἰσόπλευρον συστήσασθαι. Κέντρῳ μὲν τῷ Α διαστήματι δὲ τῷ ΑΒ κύκλος γεγράφθω ὁ ΒΓΔ, καὶ πάλιν κέντρῳ μὲν τῷ Β διαστήματι δὲ τῷ ΒΑ Δ Α Β Ε κύκλος γεγράφθω ὁ ΑΓΕ, καὶ ἀπὸ τοῦ Γ σημείου, καθ’ ὃ τέμνουσιν ἀλλήλους οἱ κύκλοι, ἐπὶ τὰ Α, Β σημεῖα ἐπεζεύχθωσαν εὐθεῖαι αἱ ΓΑ, ΓΒ. Καὶ ἐπεὶ τὸ Α σημεῖον κέντρον ἐστὶ τοῦ ΓΔΒ κύκλου, ἴση ἐστὶν ἡ ΑΓ τῇ ΑΒ· πάλιν, ἐπεὶ τὸ Β σημεῖον κέντρον ἐστὶ τοῦ ΓΑΕ κύκλου, ἴση ἐστὶν ἡ ΒΓ τῇ ΒΑ. ἐδείχθη δὲ καὶ ἡ ΓΑ τῇ ΑΒ ἴση· ἑκατέρα ἄρα τῶν ΓΑ, ΓΒ τῇ ΑΒ ἐστὶν ἴση. τὰ δὲ τῷ αὐτῷ ἴσα καὶ ἀλλήλοις ἐστὶν ἴσα· καὶ ἡ ΓΑ ἄρα τῇ ΓΒ ἐστὶν ἴση· αἱ τρεῖς ἄρα αἱ ΓΑ, ΑΒ, ΒΓ ἴσαι ἀλλήλαις εἰσίν. Ἰσόπλευρον ἄρα ἐστὶ τὸ ΑΒΓ τρίγωνον, καὶ συνέσταται ἐπὶ τῆς δοθείσης εὐθείας πεπερασμένης τῆς ΑΒ. [Ἐπὶ τῆς δοθείσης ἄρα εὐθείας πεπερασμένης τρίγωνον ἰσόπλευρον συνέσταται]· ὅπερ ἔδει ποιῆσαι. Auf der gegebenen geraden begrenzten Linie ein gleichseitiges Dreieck konstruieren. Es sei die gegebene gerade begrenzte Linie AB. C Auf der geraden Linie AB soll ein gleichseitiges Dreieck konstruiert werden. Mit einem Zentrum A und einem Radius AB sei ein Kreis BCD gezeichnet; und wiederum mit einem Zentrum B D A B E und einem Radius BA ein Kreis ACE; und vom Punkt C, in dem sich die Kreise schneiden, seien zu den Punkten A und B gerade Linien CA und CB als Verbindungslinien gezogen. Da der Punkt A Zentrum des Kreises CDB ist, hat AC die gleiche Länge wie AB; andererseits, da der Punkt B Zentrum des Kreises CAE ist, hat die gerade Linie BC die gleiche Länge wie die gerade Linie BA. Gezeigt wurde aber auch, dass die gerade Linie CA die gleiche Länge wie AB hat. Jede einzelne der geraden Linien CA und CB hat also die gleiche Länge wie die gerade Linie AB. Dinge aber, die demselben gleich sind, sind auch einander gleich. Auch die gerade Linie CA ist also der geraden Linie CB gleich. Die drei geraden Linien CA, AB und BC sind also einander gleich. Folglich ist das Dreieck ABC gleichseitig, und es ist auf der gegebenen begrenzten geraden Linie AB konstruiert worden. […] Was zu tun war.

Auch wenn das gezeigte Diagramm der Version in der Edition von Heiberg & Stamatis entspricht und diese hinsichtlich der Diagramme (wie alle anderen Euklid-Ausgaben) nicht als kritische Edition gelten kann,10 werden anhand dieses Beispiels dennoch

|| 10 Siehe grundsätzlich zu dieser Problematik Netz 2004a, 8–10 am Beispiel von Archimedes und ausführlicher Netz 2012, 164–176; umfassend Saito 2006 und De Young 2012 speziell zu den Diagrammen in der arabischen Manuskripttradition zu Euklid; vgl. Saito 2009 und Saito & Sidoli 2012. Wäh-

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zwei wissenschaftsphilosophisch grundlegende Probleme transparent, die der obligatorische Gebrauch von Diagrammen in der euklidischen Mathematik aufwirft, und zwar unabhängig von der Übereinstimmung von antikem Originaldiagramm und moderner Wiedergabe im Detail (also der Frage der kritischen Edition des Diagramms): (1) Während der mathematische Satz allgemein formuliert ist, scheint der eigentliche Beweis im Mittelteil der Proposition nicht allgemein zu erfolgen – wie wir ausgehend von der modernen Mathematik erwarten sollten –, sondern anhand eines konkreten Diagramms mit partikularen Eigenschaften. Damit stellt sich die Frage, ob und wie die Allgemeinheit der mathematischen Erkenntnis und mithin ihre epistemische Valenz methodisch gesichert ist, ja: gesichert sein könnte.11 Diese Frage hat eine objektive und eine subjektive Seite, letztere im Sinne der Frage danach, was aus der Perspektive der antiken Mathematiker die Valenz gewährleistete.12 In diesem Kapitel konzentriere ich mich primär auf den objektiven Begründungszusammenhang, und zwar in dem Sinn, dass ich die in der griechischen Mathematik gegebenen sachlichen Zusammenhänge expliziere, die aus einer modelltheoretischen Perspektive für den Beweis relevant sind.13 Hieraus ergibt sich allerdings implizit eine Antwort auf die Frage des subjektiven Begründungszusammenhangs, und dieser steht auch in der Analyse von Platons Praxis der mathematischen Modellierung in den folgenden Kapiteln im Hintergrund. (2) Für den Beweis des allgemeinen Satzes sind sowohl Text als auch Diagramm relevant. Beides scheint in gegenseitiger Abhängigkeit zu stehen, insofern (a) das Diagramm auf den Text und (b) der Text auf das Diagramm angewiesen ist:14 (a) Das Diagramm selbst kann allein prinzipiell keinen Beweis konstituieren, und dies gilt ausdrücklich auch trotz des Umstandes, dass etwa in Euklid, Elem. 1, 1 das Diagramm die im Rahmen der Proposition zu beweisende Gleichseitigkeit des Dreiecks tatsächlich visuell nahelegt.15 Der Grund ist, dass das Diagramm nicht in direkter Weise lo-

|| rend in den modernen Editionen griechischer mathematischer Texte oftmals die Diagramme neu gezeichnet wurden, reproduziert Aujacs 2002 Edition von Autolykos die Diagramme der mittelalterlichen Manuskripttradition (diese werden als mehr oder weniger authentisch eingeschätzt: S. 38), gibt der französischen Übersetzung allerdings in der Regel eine modern(isiert)e, dreidimensionale Variante bei; vgl. die unten angeführten Propositionen Sph. 8 bzw. Sph. 3. Für Anmerkungen zu den Konsequenzen der explizierten Deutung für die kritische Edition der Diagramme siehe unten mit Anm. 79. 11 Siehe zum Problem unter anderem Mueller 1981, 12–14 und Netz 1999a, 240–270. 12 Siehe insbesondere zum letzten Aspekt Netz 1999a, 142. 13 Ob diese objektive Seite des Begründungszusammenhangs auch aus der Perspektive der modernen Mathematik und Logik die Validität der Lösung garantiert, ist wiederum eine andere Frage (das heißt dann, wenn man die antike Mathematik als direkte Vorstufe der modernen Mathematik auffasst): vgl. hierzu unten Anm. 71. 14 Siehe unter anderem Netz 1999a, 12–88. 15 In anderer Form wäre (im Rahmen entsprechender mathematischer Konventionen) ein rein diagrammatischer ‚Beweis‘ (eher) möglich: vgl. N. Miller 2007 (hierzu Mahr & Robering 2009, 292–294 und Coliva 2012) sowie die oben in Anm. 7 genannten Arbeiten.

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gische Abhängigkeiten als solche kodiert, mithin seine (potentielle) Wahrheit nicht argumentativ(-logisch) in hinreichender Weise sicherstellt: Das Diagramm ist mit Peirce kein argument, determiniert mithin nicht aus sich selbst heraus das interpretant in seiner spezifischen rationalen, das heißt hier logischen Konstitution (vgl. oben Kap. 2). Das Diagramm ist sogar evident nicht einmal ein wahrheitsfähiges Zeichen (also alternativ zum argument ein dicisign), was für die Konstitution eines ‚Beweises‘ im strikten Sinn notwendig der Fall sein müsste. (b) Dass der Text auf das Diagramm angewiesen ist, zeigt sich in Euklid, Elem. 1, 1 exemplarisch am Dreieck ΑΒΓ, das als solches nur mittels des Diagramms identifizierbar ist: Im Text wird es nicht explizit eingeführt. So entsteht oftmals der Eindruck, „that the diagram is not directly recoverable from the text“.16 Damit aber wäre es von diesem im Prinzip logisch unabhängig. Aus beiden Punkten ergeben sich gravierende Konsequenzen hinsichtlich Gültigkeit und Folgerichtigkeit antiker mathematischer Argumentation, aus der Perspektive moderner Theorienbildung sogar ein dezidiert negatives Urteil. Dieses wiegt um so schwerer, als es sich um ein inhärentes und – insofern für die Antike eine Diskussion dieses Problemfeldes nur bedingt und im fachmathematischen Kontext überhaupt nicht bezeugt ist17 – methodisch nicht reflektiertes Charakteristikum eines zentralen Aspekts mathematischer Methodik zu handeln scheint. Im Folgenden werde ich herausarbeiten, dass diese Einschätzung auf einem wissenschaftshistorisch und -philosophisch inadäquaten Verständnis des antiken mathematischen Diagramms beruht. Zu diesem Zweck werde ich in einem ersten Schritt das Diagramm anhand des soeben gegebenen Fallbeispiels aus einer semiotisch-wissenschaftsphilosophischen Perspektive neu betrachten und als Ausdruck der Praxis mathematischer Modellierung erweisen.18 Ein zweiter Schritt festigt die Ergebnisse mittels einer Analyse dreier weiterer Fallbeispiele; hierbei beziehe ich die neben ‚Problemen‘ zweite grundlegende Form einer mathematischen Proposition, das Theorem,

|| 16 Netz 1999a, 19. Erschwert wird diese Situation dadurch, dass etwa bei Euklid im Text fast nirgends explizit auf das Diagramm als ‚Diagramm‘ verwiesen wird: siehe Asper 2007, 129. Dies ist auch ein Phänomen der gattungsspezifischen Unpersönlichkeit: siehe insgesamt Asper 2007, 125–135. 17 Ein wichtiges Zeugnis auch in diesem Zusammenhang ist das Liniengleichnis: vgl. unten Kap. 6. Erinnert sei an Protagoras’ Kritik an ‚mathematischen‘ Gegenständen und ihrer Exaktheit: vgl. Diels & Kranz 80 B7 (doch vgl. Anm. 4125); Reflexe der Diskussion finden sich bei Aristoteles (etwa Metaph. 997b34–998a6, dort auch das Protagoras-Zeugnis) und Aristoxenos (etwa Harm. p. 42, 13–21). 18 Allgemein methodologisch sei angemerkt, dass eine derartige Analyse mit einem modernen wissenschaftsphilosophischen Instrumentarium an sich keineswegs prinzipiell problematisch ist: Wenn Diagramme tatsächlich icons und mithin Zeichen sind, ist es auch statthaft, sie mit einer modernen, zeitgenössischen Zeichentheorie zu beschreiben, unabhängig davon, ob diese Form der Beschreibung auch schon in der Antike möglich gewesen wäre, ebenso nämlich wie sich die griechische Sprache mit dem Instrumentarium moderner linguistischer Theorie beschreiben lässt. Eine andere (und sachlich nur bedingt relevante) Frage ist dann, ob die Ergebnisse einer solchen Analyse mit der Binnenperspektive der antiken Mathematiker und Mathematiktheoretiker in Konvergenz gebracht werden können. Wie die weitere Analyse zeigen wird, ist dies jedoch partiell tatsächlich der Fall.

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vor dem Hintergrund der Verwendung der Methode der reductio ad absurdum sowie den Diagrammgebrauch bei Autolykos von Pitane ein. In einem dritten und letzten Schritt widme ich mich dem Problem der universellen Validität des mathematischen Beweises mit einem Fokus auf der epistemischen Funktion des Diagramms.

3.2 Diagramme als diagrams Jedes mathematische und insbesondere geometrische Diagramm ist evident eine Abbildung.19 Jede Abbildung ist als Abbildung ein Zeichen im Sinne des vorangehenden Kapitels. Damit ist jedes mathematische Diagramm ein Zeichen. Weiter gilt, dass mathematische Diagramme als Abbildungen icons und also Modelle sind, spezifisch hinsichtlich ihrer Repräsentationsfunktion in mathematischer Hinsicht. Hieraus folgt eine erste Einsicht: Was ein mathematisches Diagramm bedeutet, ist primär durch seine ikonische Dimension gegeben. Zwar spielen auch habituellkonventionelle oder existentielle Aspekte eine Rolle (so dass ein konkretes Diagram in gewisser Weise, wenn auch in jeweils anderer Hinsicht immer auch ein index und vor allem symbol ist), doch sind all diese Aspekte hinsichtlich des spezifischen Abbildungscharakters eines mathematischen Diagramms sekundär: Die relevanten mathematischen Eigenschaften sind ausschließlich in der ikonischen Dimension kodiert, und die Symbolhaftigkeit erstreckt sich lediglich auf die jeweilige Ausführung der konkreten Form der Darstellung. Diese ist dem ikonisch abgebildeten Inhalt nachrangig, welcher, wie bei jedem Zeichen, durch eine ‚Theorie‘ bestimmt ist. Diese Theorie ist hier evident die Theorie der ‚euklidischen‘ Mathematik. So sind etwa die (die Dimension des index und symbol berührende) absolute Größe, die Monochromie und die Umrisshaftigkeit des Diagramms für die vom icon dargestellten mathematischen Verhältnisse irrelevant. Weiter gilt, dass antike mathematische Diagramme als icons im Rahmen der dreiteiligen Klassifizierung aller icons in images, diagrams und metaphors in der Tat – wie schon die Bezeichnung nahelegt – diagrams sein müssen: Offenkundig weisen sie als sachliche Grundlage ihrer repräsentationalen Qualität der Ähnlichkeit in ihrer eigenen qualitativen Beschaffenheit eine spezifische mathematisch interpretierbare Qualität auf, und diese besteht darin, dass spezifische mathematische Eigenschaften in einer Relation zueinander stehen. All diese Relationen lassen sich paarweise als direkte Relationen beschreiben, das heißt, die mathematisch interpretierbare Qualität des Diagramms hat einen dyadisch-relationalen Charakter: Weder besitzt ein Diagramm seine repräsentationale Qualität dadurch, dass es eine bloße Qualität als solche zeigt (‚rot‘, ‚lang‘ etc.), noch dadurch, dass seine Qualität in ungewöhnlicher Wei-

|| 19 Soweit nicht anders vermerkt, ist im Folgenden mit ‚(mathematischem) Diagramm‘ das antike mathematische Diagramm im Sinn der ‚euklidischen‘ Form von Mathematik gemeint.

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se eine andere Zeichenrelation impliziert. Vielmehr zeigt es das direkte Zusammenspiel von mathematischen Relationen, die zusammen eine aus dyadisch-relationalen Komponenten gebildete Struktur bilden. Die vom Diagramm repräsentierte Struktur ist entsprechend der holistische und kompositionale Ausdruck der gesamten dyadischen Qualität des mathematischen Diagramms; diese macht den Kern von dessen Repräsentationalität für sein Objekt aus. Insofern das Diagramm dabei aufgrund einer (in Form einer Abbildungsfunktion realisierten) Ähnlichkeitsrelation für sein Objekt steht, ist impliziert, dass auch dieses Objekt, insoweit es als mathematisch konstituiert konzipiert wird, essentiell durch eine ebensolche, äquivalente relationale Qualität charakterisiert ist, und zwar gerade insoweit es sich um eine Modellrelation im Rahmen der Theorie der Mathematik handelt. Die relationale Qualität des Objekts ist am entgegentretenden Diagramm als notwendig (zumindest potentiell) wahrnehmbare Qualität ablesbar. Drei Einsichten folgen: (1) Das antike mathematische Diagramm hat als diagrammatisches icon und mithin Zeichen per Definition ein Objekt mit einer spezifischen, durch eben diese Zeichenrelation postulierten dyadisch-relationalen Qualität. Als ein solches Objekt fungiert es als der eigentliche Gegenstand der mathematischen Betrachtung, und zwar als dasjenige, wofür das representamen ‚Diagramm‘ per Definition des Zeichens ‚steht‘ und das es ‚repräsentiert‘.20 Für dieses Objekt gilt generell, dass keine Identität mit dem Zeichen vorliegt, weder global noch zwangsläufig in partieller Hinsicht.

|| 20 Dass antike mathematische Diagramme überhaupt ein ‚Objekt‘ haben, ist oft bezweifelt worden: vgl. oben Anm. 9. Aus semiotischer Perspektive ist dies jedoch eine per Definition gegebene Notwendigkeit. Hierin besteht einer der wesentlichen Unterschiede zu Netz’ 1999a Analyse: „I have argued that letters are primarily indices, so that representations employing them cannot but refer to the concrete diagram“ (51), mit der Folge, dass „the option that the diagram points towards an ideal mathematical object can be disposed of“ (51). Es handelt sich um ein non sequitur, zumal deshalb, weil nach Peirce (auf den sich Netz hier beruft) selbstverständlich auch indices einen allgemeinen Charakter haben können (wie das von Peirce oftmals angeführte Pronomen „this“). Außerdem gilt, dass der Umstand, dass die Buchstaben im Diagramm in gewisser Hinsicht tatsächlich als indices fungieren, semiotisch keineswegs ausschließt, dass es sich zugleich um symbols handeln kann. Im Gegenteil ist es angesichts der im mathematischen Text selbst explizit in der Zuweisung eines Bezeichners zu den einzelnen Objekten Ausdruck findenden Konventionalität der Beziehung von representamen und Objekt erforderlich, sie zumindest in dieser Hinsicht als symbols zu interpretieren. Die semiotische Situation stellt sich vielmehr dezidiert anders und zugleich komplexer dar als von Netz unterstellt: Im Diagramm fungieren die Buchstaben als (in das icon) integrierter index, vergleichbar dem Titel eines Portraits, der den Namen des oder der Abgebildeten repräsentiert und also als index in einer aktualen Beziehung zum Inhalt des icon (und zugleich zu dessen semiotischem Objekt) steht; in Hinsicht auf seine konkrete Bedeutung fungiert dieser Buchstabe jedoch als symbol, dessen Zeichenrelation im Textteil der Proposition (implizit oder explizit) definiert wird, vergleichbar dem Namen des oder der im Portrait Abgebildeten, der ja als solcher (und also auch in seiner Bezeichnungsfunktion, wenn er als index in das icon integriert ist) in transparenter Weise auf Konvention und / oder Habituation (etc.) beruht; dabei geht die Definition dieser Repräsentationsrelation dem Gebrauch als index logisch vor-

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(2) Hieraus ergibt sich die Konsequenz, dass zwischen dem gezeichneten (oder gedruckten, das heißt allgemein wahrnehmbaren)21 Diagramm und also dem Zeichen oder representamen einerseits und dem eigentlichen, abstrakten Diagramm und also dem semiotischen Objekt, das das Zeichen ‚Diagramm‘ repräsentiert, unterschieden werden muss. Beide sind ferner nicht identisch, sondern ähnlich. Sie sind semiotisch verbunden durch eine Abbildungsfunktion zwischen dem gesamten Zeichen und dem gesamten Objekt sowie untergeordnet zwischen den jeweils (insbesondere per mathematische Theorie und Darstellungskonvention) als entsprechend gedeuteten relationalen Aspekten ihrer Qualität. (3) Schließlich ist das abstrakte Diagramm durch mathematische Relationen im eigentlichen, strikten Sinn charakterisiert, denn das mathematische Diagramm ist ein mathematisches Diagramm einzig als Modell der Theorie der Mathematik, und diese Mathematik ist im Fall von Euklid die ‚euklidische‘ Mathematik. Die vom gezeichneten Diagramm repräsentierten qualitativen Eigenschaften können folglich einzig (das heißt per durch die Zeichenverwendung implizit gegebene Definition) genuin mathematischen Qualitäten auf Seiten des Objekts entsprechen. Ein konkretes Beispiel macht die semiotischen Zusammenhänge transparent: Das Diagramm in Euklid, Elem. 1, 1 ist insoweit ein diagram, als es die Relationen zwischen den Punkten Α, Β, den Linien ΑΒ, ΑΓ, ΒΓ, den Kreisen ΑΓΕ und ΒΓΔ sowie dem Dreieck ΑΒΓ bildlich (ikonisch) repräsentiert, und zwar nicht argumentativ, sondern als direkt wahrnehmbare relationale Qualität des Zeichens ‚Diagramm‘ (das heißt, um mit dem in Kap. 2 angeführten, von Peirce diskutierten Beispiel zu sprechen, als ‚Form‘). Die im Einzelnen repräsentierten mathematischen Attribute (der involvierten mathematischen Objekte) werden einerseits direkt-unvermittelt paarweise auf die anderen im Einzelnen repräsentierten Attribute (der Objekte) bezogen – womit sich ‚dyadische‘, unmittelbare, das heißt weder aus sich selbst heraus in Isolation bestehende noch durch etwas Drittes vermittelte Relationen ergeben –, und als solche bilden sie andererseits eine abgeschlossene und finite, in Form des gesamten Diagramms entgegentretende holistische Struktur. Während das gezeichnete Diagramm diese Re|| aus. Insbesondere die letzte Einsicht erweist den textlichen Teil der Proposition als das Vorgängige; vgl. hierzu die weitere Diskussion. Die Sachlage ist parallel zu den oben in Kap. 2 angeführten, von Peirce diskutierten algebraisch-mathematischen Beispielen für diagrams. 21 Wenn ich in der Folge vom ‚gezeichneten‘, ‚gedruckten‘ oder in äquivalenter Weise realisierten Diagramm spreche, ist in der Regel metonymisch allgemein das ‚wahrnehmbare‘ Diagramm gemeint, entsprechend der generellen Definition des icon als eines in seiner qualitativen Beschaffenheit direkt zugänglichen Zeichens, dessen konkreter Modus der Realisierung jedoch keine (oder genauer: eine vernachlässigbare, da per mathematische Theorie als unerheblich gesetzte) Auswirkung auf den semantischen Gehalt hat (natürlich in Abhängigkeit vom jeweils zugrunde liegenden Kontext). Wenn hier in der Tendenz eher auf das Gezeichnet-Sein verwiesen wird, geschieht dies in Hinblick auf den ursprünglichen Produktionskontext der Diagramme. Es erübrigt sich, explizit darauf hinzuweisen, dass die hier zum ‚gezeichneten‘ Diagramm erzielten Erkenntnisse für das in den modernen Ausgaben ‚gedruckte‘ Diagramm in der Regel aus genanntem Grund selbstverständlich identisch sind.

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lationen mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten im Rahmen der dazugehörigen Konventionen repräsentiert – zum Beispiel ist die Linie AB im wahrnehmbaren Diagramm eine Linie, die nicht ‚gerade‘ ist, eine Breite aufweist und zusätzliche Attribute wie eine Farbe besitzt –, mithin als physikalisch realisierter Gegenstand eine primär nicht-mathematische, aber dennoch relational strukturierte Qualität aufweist, wird diese Qualität im Akt der Zeicheninterpretation so gedeutet, dass sie einer als äquivalent verstandenen relationalen, aber eben genuin mathematischen Qualität auf Seiten des abstrakten mathematischen Diagramms entspricht und diese aufgrund der (eben hierdurch postulierten) Ähnlichkeit repräsentiert. Insofern also die Linie AB im gezeichneten Diagramm eine Länge bei im Vergleich geringer Breite aufweist, wird sie als demjenigen mathematischen Objekt ‚ähnlich‘ interpretiert, das als „Länge ohne Breite“ definiert ist (Euklid, Elem. 1, def. 2: μῆκος ἀπλατές); entsprechend wird das physikalische Attribut des Schmal-Seins auf das mathematische Attribut des Breitenlos-lang-Seins abgebildet (vgl. unten Anm. 22). Während transparent ist, dass das Diagramm ein semiotisches Objekt hat, welcher Natur dieses Objekt ist und wie sich Zeichen und Objekt zueinander verhalten, ist noch nicht geklärt, was dieses Objekt in Begriffen der ihm zugehörigen mathematischen Proposition ist. Eine Antwort ergibt sich auf der Grundlage einer semiotischen Bestimmung der Elemente des Diagramms: Angesichts von dessen kompositionaler Natur – es repräsentiert eine dyadische Relationalität zwischen mathematischen Attributen, welche ihrerseits an mathematische Objekte gebunden sind, so dass das Diagramm notwendig aus mehreren, zumindest zwei Elementen bestehen oder diese implizieren muss, und zwar aufgrund der jeweils relevanten expliziten oder impliziten mathematischen Definitionen – lassen sich die einzelnen Diagrammelemente aus der holistischen Struktur, das heißt dem Gesamtdiagramm, separieren und als eigenständige Abbildung, mithin icon und also Modell betrachten, und zwar offensichtlich ebenfalls in der icon-Form des diagram (zumindest virtuell, denn eine aktuale Separation würde das spezifische Gesamtdiagramm als solches zerstören). Wie sich an der Beispielproposition Euklid, Elem. 1, 1 zeigt, ist dies problemlos zu bewerkstelligen – ja: die Möglichkeit dazu beruht natürlich auf der dyadischen Relationalität des Diagramms. Im Zuge des Beweises ist ein solches Vorgehen sogar sachlich unverzichtbar: Hier erscheint etwa der Kreis ΒΓΔ als separater Kreis oder die gerade Linie ΑΒ als separate gerade Linie, wird also bei der Betrachtung des Gesamtdiagramms virtuell aus diesem gleich separiert, und zwar ohne negative Konsequenzen hinsichtlich der spezifischen (intrinsischen) Charakteristika der Subdiagramme selbst. Folglich lässt sich als das, wofür die separaten Diagrammelemente als ikonische diagrams stehen (also ihr semiotisches Objekt), als das entsprechende allgemeine mathematische Objekt identifizieren, im Beispiel der mathematische Kreis bzw. die mathematische Linie – freilich angesichts der definitorischen ‚bildlichen‘ Ähnlichkeit des icon zu seinem Objekt nicht als abstrakter Begriff, sondern in konkret-ikonischer Weise hinsichtlich einer essentiellen Qualität, welche wiederum genuin dyadischer, also direkt-relationaler Natur ist. Dieses mathematische Objekt ist der Inhalt

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des eigentlichen mathematischen Begriffs, dessen konventionelles, sprachliches Zeichen (symbol) ein Wort wie κύκλος (oder eben ‚Kreis‘) ist. Die charakteristische mathematische Relationalität eines mathematischen Gegenstands wiederum ist bei Euklid speziell durch die expliziten wie impliziten Definitionen bestimmt.22 Schließlich ergibt sich als weitere Verkomplizierung, dass das direkt wahrnehmbare icon nicht unmittelbar die mathematischen Objekte selbst repräsentiert, sondern dass deren primäre Repräsentation das (dann sekundär vom gezeichneten Diagramm repräsentierte) gedankliche Modell ist. Streng genommen liegen semiotisch somit zwei getrennte diagrammatisch-ikonische Zeichenrelationen vor: Erstens bildet das abstrakte Diagramm als diagrammatisches Modell und also Zeichen (representamen) einen mathematischen Gegenstand in Hinsicht auf seine Relationen als Objekt (object) ab und zweitens das gezeichnete ‚Diagramm‘ als ebenfalls diagrammatisches Modell und also Zeichen (representamen) das abstrakte Diagramm selbst als Objekt (object). Der Einfachheit halber lässt sich dies semiotisch freilich auch äquivalent dahingehend beschreiben, dass es sich bei dem einen Gegenstand um das ‚unmittelbare‘ Objekt und bei dem anderen um das ‚reale‘ Objekt handelt. Die Diagrammelemente bezeichnen dann den Schlusspunkt der Zergliederung des Gesamt-Diagramms; es handelt sich sozusagen um Diagramm-‚Atome‘.23 So ergibt || 22 Vgl. die Definition des Kreises in Euklid, Elem. 1, def. 15: „Der Kreis ist eine ebene Figur, die von einer einzigen Linie umfasst wird [die Umfang genannt wird], in Bezug auf welche alle Linien gleich lang sind, die von einem der Punkte, die innerhalb der Figur liegen, auf sie [den Umfang des Kreises] fallen“ (Κύκλος ἐστὶ σχῆμα ἐπίπεδον ὑπὸ μιᾶς γραμμῆς περιεχόμενον [ἣ καλεῖται περιφέρεια], πρὸς ἣν ἀφ’ ἑνὸς σημείου τῶν ἐντὸς τοῦ σχήματος κειμένων πᾶσαι αἱ προσπίπτουσαι εὐθεῖαι [πρὸς τὴν τοῦ κύκλου περιφέρειαν] ἴσαι ἀλλήλαις εἰσίν). Auch in diesem Bereich der Axiomatik zeigt sich ein komplexer, ‚deduktiver‘ Aufbau: So ist die Linie explizit definiert als „Länge ohne Breite“ (Euklid, Elem. 1, def. 2: Γραμμὴ δὲ μῆκος ἀπλατές), wir benötigen aber auf jeden Fall auch die darauf folgende Definition „die Begrenzungen einer Strecke sind Punkte“ (Euklid, Elem. 1, def. 3: Γραμμῆς δὲ πέρατα σημεῖα), um zu einer arbeitsfähigen Definition der geradlinigen Strecke zu gelangen (Euklid, Elem. 1, def. 4, εὐθεῖα γραμμή; die Übersetzung des Terminus ins Deutsche ist notorisch schwierig); vgl. unten Anm. 476. Im Allgemeinen ist offenkundig, dass die Definitionen in Euklids Elementen oft nur partiell und, zumindest nach den Maßstäben moderner Mathematik, in der Regel logisch nicht hinreichend sind: Mit Patterson 2007, 18 gilt, dass Euklids Propositionen „appear more full of holes than a Swiss cheese“ (vgl. Mumma 2010, Neuenschwander 1973, speziell 326 und Mueller 1981, 27–41, speziell 38– 41; siehe auch Weyl 1966, 35 f.). Entsprechend gab es Bemühungen, die Erkenntnisse der antiken Mathematik aus moderner theoretischen Perspektive neu zu formulieren: vgl. Beckmann 1967 und Mueller 1981. Das Problemfeld verweist auf den kategorialen Unterschied in der axiomatischen Grundlegung von antiker und moderner Mathematik: vgl. oben Anm. 3 sowie Kap. 1, speziell mit Anm. 1122. Freilich gilt andererseits, dass es speziell die Diagramme sind, die die nicht axiomatisch gesetzten Relationen, die für die einzelnen mathematischen Objekte spezifisch sind, implizit erzeugen und über die Wahrnehmung verfügbar machen (vgl. gleichfalls Patterson 2007, 14–18); dieser Aspekt wird sich (wenn auch aus einer anderen Perspektive) für die hier entwickelte Deutung als relevant erweisen. 23 In diesem Zusammenhang wäre es lohnend, eine intrinsische und eine extrinsische dyadische Relationalität zu unterscheiden: Während die erste Form auf definitorische mathematische Relationen der mathematischen Objekte (also explizit bestimmte Relationen) verwiese, bezöge sich die zwei-

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sich die folgende rekursive Bestimmung der Konstitution des Diagramms und der Natur seines semiotischen Objekts: Entweder repräsentiert ein antikes mathematisches Diagramm zur Gänze ein Objekt der antiken mathematischen Theorie, oder es setzt sich aus Subdiagrammen zusammen, für die dasselbe gilt.24 Dieses Ergebnis lässt sich erweitern, wenn die gesamte Proposition und ihr Aufbau in den Blick genommen wird, speziell in Hinblick auf die Interaktion von Text und Diagramm, wie gesehen eines der Hauptprobleme der Forschung. Ausgangspunkt ist die sogenannte ‚Ekthesis‘, in der oben zitierten Beispielproposition Euklid, Elem. 1, 1 der Satz Ἔστω ἡ δοθεῖσα εὐθεῖα πεπερασμένη ἡ ΑΒ. In ihm wird, wie Reviel Netz zu Recht hervorgehoben hat, primär keine „relation between a symbol and an object“ im Sinne von „Let AB be a straight line“ konstituiert; es wird aber andererseits primär auch nicht (nur) der Zweck verfolgt, „[to] assert an action […] – […] the taking for granted of a certain line“ und im Weiteren „to localise that action in the diagram, on the basis of an independently established reference of the letters“.25 Zwar weist diese Beschreibung in die richtige Richtung. Doch ist der Satz vielmehr im Sinn von ‚es sei die gegebene gerade begrenzte Linie, nämlich AB‘26 zu verstehen, und zwar nicht nur dahingehend, dass diese Linie von nun an als gegeben angesehen werden darf, sondern zugleich (und primär: gerade), dass diese Linie erstens effektiv erzeugt und zweitens als Linie mit dem Bezeichner ‚AB‘ belegt wird; sprachlich fungiert das Prädikat ἔστω nicht als Kopula, sondern als Vollverb mit dem Subjekt „die gegebene gerade begrenzte Linie“, dem explikativ-appositiv die Bezeichnung „AB“ hinzugefügt wird.27 || te Form auf den spezifischen relationalen Kontext der Objekte im Gesamtdiagramm (also zumeist latente Relationen). Ein antikes mathematisches Diagramm, wie es Propositionen begleitet, läge in diesem Sinn nur dann vor, wenn sich in der Repräsentation in beweisrelevanter Sicht auch eine extrinsische Relationalität zeigte, also Relationen zwischen zwei separaten mathematischen Subdiagrammen (oder zwischen zwei separaten Teilen desselben Subdiagramms, sprich: mathematischen Objektes, etwa den beiden Begrenzungspunkten einer Linie). Die Erforschung der so verstandenen extrinsischen Relationalität in Hinsicht auf implizit (und nicht explizit per Definition) gegebene Relationen scheint der Zweck von Traktaten wie Euklids Data gewesen zu sein; vgl. unten mit Anm. 36. 24 Insgesamt ist nicht ausgeschlossen, dass manche Elemente des Gesamtsystems je nach interpretatorischer Notwendigkeit als Teil des einen oder als Teil eines anderen Submodells gedeutet werden können – oder sich gegebenenfalls im Nachhinein pointiert als Bestandteil des in der Proposition erzeugten gesuchten mathematischen Objekts erweisen (siehe unten). Insofern sprechen solche „pop up objects“ (Macbeth 2010, 253 f.) nicht gegen die Interpretation des Diagramms (und / oder seiner Elemente) als „simple icon“ – denn per definitionem (siehe oben Kap. 2) ist es ja gerade nicht der Fall, dass seine „significance was fixed independent of any perspective taken on it“ (Macbeth a. a. O.). 25 Netz 1999a, 43 f. (alle Zitate), insgesamt 43–56. 26 Siehe schon Federspiel 1992, 15–17. 27 Sprachlich wird dies in Euklid, Elem. 1, 1 dadurch verdunkelt, dass sowohl der Ausdruck δοθεῖσα εὐθεῖα πεπερασμένη als auch der Ausdruck ΑΒ artikuliert ist; dies ist aber insofern potentiell irreführend, als der Artikel beim ersten Ausdruck lediglich die durch δοθεῖσα bedingte relative Determination anzeigt. Abgesehen davon findet in analogen Situationen keine Artikulierung statt. Vielmehr ist

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Die Situation in der Ekthesis stellt sich dahingehend dar, dass sie einen Akt der Modellierung darstellt. Einerseits wird ein konkretes Modell erzeugt, hier das Modell einer geraden Linie, konkret derjenigen Linie, auf die die Protasis ἐπὶ τῆς δοθείσης εὐθείας πεπερασμένης τρίγωνον ἰσόπλευρον συστήσασθαι explizit verweist. Insofern diese Linie andererseits als Ausgangspunkt des folgenden Beweises dient und in der Ekthesis kein weiteres Modell erzeugt wird, ist der offenkundige Zweck der Modellierung, in Form von Modellen die materielle Grundlage für den gesamten Beweis bereitzustellen, ausgehend von denjenigen mathematischen Größen, die in der Protasis genannt sind. Eine Bestätigung erfährt diese Deutung durch eine Explikation der Charakteristik der übrigen (maximal) vier Bestandteile einer mathematischen Proposition im modelltheoretischen Rahmen, nämlich, auf Protasis (‚Behauptung‘) und Ekthesis (‚Exposition‘) folgend, (1) Dihorismos (‚Spezifikation‘), (2) Kataskeue (‚Vorbereitung‘),

|| die sprachliche Situation so wie in Kühner & Gerth § 461 Anm. 4 beschrieben; vgl. schon die weitgehend ähnliche Analyse bei Federspiel 1992, 15–17. Im Falle der fehlenden Artikulierung beim ersten Wort – also etwa Ἔστω δύο τρίγωνα τὰ ΑΒΓ, ΔΕΖ (Euklid, Elem. 1, 4: „Es seien zwei Dreiecke, und zwar die Dreiecke ABC und DEZ“) – stellt sich die sprachliche Situation gemäß Kühner & Gerth § 463, 3 A dar. Für ein eindeutiges Beispiel in einem anderen Kontext, der die sprachlichen Verhältnisse deutlicher als in der hier analysierten Beispielproposition hervortreten lässt, vgl. Euklid, Elem. 1, 21: τριγώνου γὰρ τοῦ ΑΒΓ ἐπὶ μιᾶς τῶν πλευρῶν τῆς ΒΓ ἀπὸ τῶν περάτων τῶν Β, Γ δύο εὐθεῖαι ἐντὸς συνεστάτωσαν αἱ ΒΔ, ΔΓ („Denn auf einer der Seiten des Dreiecks ABC, nämlich BC, seien von den Enden B und C zwei Strecken BD und DC innerhalb des Dreiecks konstruiert“). Zwar werden hier die einzelnen Objekte bis auf die entscheidenden zwei Strecken nicht wie in Euklid, Elem. 1, 1 explizit erzeugt, in exakter Parallele findet sich aber zuerst die Angabe der jeweiligen Art des Objekts (die implizit die Erzeugung des Objekts bewirkt), und ihr wird ebenso appositiv mit Hilfe eines Artikels ein Bezeichner zugeordnet. Sprachlich und sachlich mehr oder weniger äquivalent (bis auf das Attribut der Determination) ist die Kombination von Artikel, Bezeichner und Substantiv; sie findet sich des Öfteren, nicht nur beim Verweis auf schon vorher eingeführte Objekte (wie in Euklid, Elem. 1, 10 im Dihorismos: τὴν ΑΒ εὐθείαν [„die Strecke AB“]), sondern auch bei neu eingeführten Objekten, meist jedoch naturgemäß dann, wenn sie implizit durch eine andere Konstruktion gegeben sind (wie in Euklid, Elem. 3, 6 in der Ekthesis: κατὰ τὸ Γ σημεῖον [„im Punkt C“], impliziert durch die direkt zuvor angesprochene Berührung zweier Kreise). Die (fehlende) Artikulation impliziert sprachlich nicht, dass eben hierdurch das entsprechend bezeichnete Objekt in essentieller Hinsicht partikular wäre (vgl. die Diskussion bei Acerbi 2011, 125–128); sprachlich wird es lediglich determiniert, doch ist dies ein hiervon unabhängiger Parameter, insbesondere weil er potentiell auch im rein sprachlichen Rahmen zum Zweck des Verweises operiert. Sachlich erfolgt die Determination in den Problemen in Euklids Elementen freilich deshalb, weil das jeweilige Objekt den spezifischen Ausgangspunkt der Konstruktion bildet und insofern eben ‚determiniert‘ ist (vgl. Acerbi 2011, 127 f.; der 126 angegebene grammatikalische Grund ist hingegen nicht zutreffend: Die benannte attributive Stellung von Ergänzungen zu Attributen zu den jeweiligen Substantiven kommt ja nur durch die Setzung des Artikels zustande, so dass die ohne Artikel unterstellte Wortstellung ohne Artikel gar nicht anzutreffen wäre). Dies ist sachlich in den Theoremen in Euklids Data (in denen durchgängig keine Artikulation erfolgt) nicht der Fall, und insofern besteht in Hinsicht auf die Partikularität der so bezeichneten ‚gegebenen‘ Objekte kein Unterschied aufgrund der Artikulation.

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(3) Apodeixis (‚Demonstration‘) und (4) Symperasma (‚Schlussfolgerung‘).28 Für die Beispielproposition ergeben sich die folgenden Ergebnisse:29 (1) Der Dihorismos ist, wie schon die Formulierung Δεῖ δὴ ἐπὶ τῆς ΑΒ εὐθείας τρίγωνον ἰσόπλευρον συστήσασθαι nahelegt, die Reformulierung oder ‚Spezifikation‘ der Protasis (hier Ἐπὶ τῆς δοθείσης εὐθείας πεπερασμένης τρίγωνον ἰσόπλευρον συστήσασθαι) in den Begriffen des bis zu diesem Punkt, das heißt in der Ekthesis, erzeugten Modells. Insofern der Dihorismos gemäß der Protasis als im Rest der Proposi|| 28 Diese Gliederung der mathematischen Proposition in sechs Teile ist zwar antik, im Großen und Ganzen vollständig aber erst spät bezeugt, am prominentesten bei Proklos im Euklid-Kommentar: siehe in Euc. p. 203, 1–205, 12 und in Euc. p. 205, 13–210, 16 für die direkte Anwendung auf die vorliegende Beispielproposition Euklid, Elem. 1, 1. Vor Proklos findet sich das Schema allerdings schon in Heron, Deff. 137, 1, und es unterliegt, wie sich zeigen wird, sachlich auch den Propositionen bei Autolykos von Pitane, lässt sich also in jedem Fall bis in die zweite Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. zurückverfolgen. Zu den von Proklos verwendeten Termini und ihrer (fassbaren) Bedeutung und Geschichte siehe Netz 1999b, 294–304; die Übersetzungen orientieren sich an diesen Ausführungen (mit leichten Modifikationen insbesondere in Hinsicht auf Dihorismos und Kataskeue, die sich sachlich aus der hier gegebenen abweichenden Bestimmung der Funktion dieser Teile ergeben); speziell zur Ekthesis siehe unten Anm. 494. Zu mutmaßlichen grundsätzlich mit dieser Gliederung der Proposition verbundenen Problemen siehe Netz 1999a, 253 und vor allem Netz 1999b. Sie betreffen insbesondere den Umstand, dass das Schema nicht so starr sei wie von Proklos implizit unterstellt. Dieses Problem löst sich, wenn man das Schema nicht als äußere Form (gegebenenfalls im Sinne einer „explicit codification“ [Netz 1999a, 253]), sondern als inneren Ausdruck eines für die Proposition charakteristischen Systems von Funktionen auffasst, also im hier explizierten Sinne. Insbesondere dieses (Schein-) Problem wird von Netz 1999b, 289 angeführt, um die Beispielproposition Euklid, Elem. 1, 1 als ungeeignet zur Analyse der Gliederung einer Proposition im Allgemeinen zu qualifizieren; vgl. unten Anm. 41. Für die Adäquatheit der Anwendung des Schemas auf Propositionen bei Euklid ist es aus den angeführten Gründen nicht relevant, ob die verwendeten Termini selbst bis in diese Zeit zurückverfolgt werden können (diese Frage untersucht Netz 1999b, 294–302; vgl. die folgende Anm. 29). 29 Sie entsprechen im Ergebnis im Großen und Ganzen der Beschreibung bei Proklos (siehe die vorangehende Anm. 28), wenn auch diese selbstverständlich nicht aus einer semiotisch-modelltheoretischen Perspektive erfolgt. Obwohl es etwa speziell in Bezug auf die Ekthesis im Detail signifikante Abweichungen gibt (siehe unten, insbesondere Anm. 41), werden die bei Proklos benutzten Termini der Einfachheit und der im Prinzip gegebenen sachlichen Adäquatheit wegen beibehalten. Für die weiteren Anmerkungen vgl. insbesondere Proklos, in Euc. p. 203, 5–17: τούτων δὲ ἡ μὲν πρότασις λέγει, τίνος δεδομένου τί τὸ ζητούμενόν ἐστιν. […] ἡ δ’ ἔκθεσις αὐτὸ καθ’ αὑτὸ τὸ δεδομένον ἀποδιαλαβοῦσα προευτρεπίζει τῇ ζητήσει. ὁ δὲ διορισμὸς χωρὶς τὸ ζητούμενον, ὅτι ποτέ ἐστιν, διασαφεῖ. ἡ δὲ κατασκευὴ τὰ ἐλλείποντα τῷ δεδομένῳ πρὸς τὴν τοῦ ζητουμένου θήραν προστίθησιν. ἡ δὲ ἀπόδειξις ἐπιστημονικῶς ἀπὸ τῶν ὁμολογηθέντων συνάγει τὸ προκείμενον. τὸ δὲ συμπέρασμα πάλιν ἐπὶ τὴν πρότασιν ἀναστρέφει βεβαιοῦν τὸ δεδειγμένον. καὶ τὰ μὲν σύμπαντα μέρη τῶν τε προβλημάτων καὶ τῶν θεωρημάτων ἐστὶ τοσαῦτα („Von diesen [sc. sechs Teilen der Proposition] stellt die Protasis fest, was gegeben ist und was unter diesen Umständen das Gesuchte ist. […] Die Ekthesis zieht das Gegebene im Einzelnen heran und bereitet es für die Untersuchung vor. Der Dihorismos macht getrennt hiervon transparent, was genau das Gesuchte ist. Die Kataskeue fügt dem Gegebenen hinzu, was für die Jagd auf das Gesuchte fehlt. Die Apodeixis vollzieht den vorliegenden Schluss auf der Grundlage von akzeptierten Aussagen. Das Symperasma kehrt wieder zur Protasis zurück, um das Aufgezeigte zu bestätigen. So viele Teile insgesamt haben sowohl Theoreme als auch Probleme“).

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tion zu lösende Aufgabe gegeben ist, wird der Weg der Modifikation der DiagrammAusgangskonfiguration (die eben die Erzeugung des gesuchten mathematischen Objekts impliziert) beschreibend vorweggenommen, und zwar dahingehend, dass die zu erzeugende Ziel-Konfiguration des Modells benannt wird, hier konkret eine Konfiguration, in der neben der geraden Linie ΑΒ ein (an dieser Stelle noch nicht konkret mit einem Bezeichner belegtes) gleichseitiges Dreieck enthalten ist. (2) Die auf den Dihorismos folgende Kataskeue erweist sich wie die Ekthesis als Beschreibung der Erzeugung von allgemeinen Modellen – hier speziell der Kreise ΒΓΔ und ΑΓΕ sowie der Verbindungslinien ΓΑ und ΓΒ –, und zwar augenscheinlich mit dem Ziel, die bisherigen Modelle in Hinsicht auf den folgenden Schritt, die Apodeixis, das heißt den eigentlichen Beweis, durch weitere Modelle zu ergänzen. Dabei besteht insofern ein signifikanter Unterschied zur Ekthesis, als alle in der Kataskeue erzeugten Objekte nicht in der Protasis explizit und / oder implizit enthalten sind, also aufgrund der spezifischen Formulierung der Aufgabe ‚gegeben‘ sind (was freilich nicht im engen Sinne dahingehend zu verstehen ist, dass ein Objekt wie in der Beispielproposition als ausdrücklich ‚gegeben‘ qualifiziert sein müsste). Die Kataskeue dient also angesichts der ursprünglichen, für den vorliegenden Zweck augenscheinlich nicht hinreichenden Diagrammkonfiguration der ‚Vorbereitung‘ des gesamten kompositionalen Modells für den effektiven Vollzug des Beweises. In dieser Hinsicht erweisen sich Ekthesis und Kataskeue als komplementär; zusammen erzeugen sie die notwendige und hinreichende Ausgangskonfiguration zur Durchführung des Beweises.30 Diese muss im Übrigen nicht nur wie in Euklid, Elem. 1, 1 aus den Objekten selbst bestehen, sondern es kommt auch vor, dass lediglich relevante Eigenschaften schon generierter Objekte spezifiziert und mithin effektiv ebenfalls erzeugt werden (was im Ergebnis freilich der Erzeugung eines spezifischen Objekts gleichkommt).31 (3) Die Apodeixis, der eigentliche Beweis, greift sodann auf spezifische Attribute des abstrakten, im gezeichneten Diagramm abgebildeten Gesamtmodells zurück und setzt sie zueinander in Beziehung. Sie erreicht ihr Ziel, indem sie die im gesamten Modell gegebene dyadische mathematische Relationalität in Bezug auf die Submodelle aufgreift und deren Attribute und Relationen zueinander zielgerichtet in eine zweckdienliche Beziehung setzt. Die Apodeixis ist folglich der Beweis des allgemein

|| 30 Zur auf den Beweiszweck abgestimmten Zielgerichtetheit vgl. Patterson 2007, 9 aus anderer Perspektive: „The reader of Euclid will in fact often have just this sort of experience: the drawing of the diagram prior to the portion of the proof labeled ‚Demonstration‘ (apodeixis) can make it immediately obvious that a theorem must be true and even suggest a proof strategy; the apodeixis then presents the worked-out proof.“ 31 Vgl. Euklid, Elem. 1, 25: βάσις δὲ ἡ ΒΓ βάσεως τῆς ΕΖ μείζων ἔστω („Die Basis BC sei länger als die Basis EZ“); eine solche Zuweisung einer bestimmten Eigenschaft erfolgt oft durch ein Partizip des Verbs ἔχειν; vgl. unten Euklid, Elem. 1, 4 und auch 1, 6: Ἔστω τρίγωνον τὸ ΑΒΓ ἴσην ἔχον τὴν ὑπὸ ΑΒΓ γωνίαν τῇ ὑπὸ ΑΓΒ γωνίᾳ („Es sei ein Dreieck ABC mit einem Winkel ABC von derselben Größe wie der Winkel ACB“).

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in der Protasis formulierten mathematischen Satzes an demjenigen abstrakten Modell, das in Ekthesis und Kataskeue erzeugt wurde. Hieraus folgt die Einsicht, dass der antike mathematische Beweis nicht ausschließlich durch ‚logisches Schließen‘ im modernen Sinne gewonnen wird – also semiotisch gesprochen allein durch eine abstrakte logische Operation mittels symbols –, sondern durch das ‚Aufzeigen‘ von ikonisch präsentierten Attributen und Relationen, über die die holistische Struktur des Gesamtmodells infolge seiner spezifischen Generierung verfügt.32 So erklärt sich die aus moderner Perspektive überraschende Verwendung des Verbes (ἀπο-) δεικνύναι für die Tätigkeit mathematischen ‚Beweisens‘, nämlich als ‚Aufzeigen‘ oder ‚Zeigen‘ im eigentlichen Wortsinn: Der antike mathematische Beweis expliziert im Modus des direkten Verweises die bildlich kodierten, so weit bisher noch nicht identifizierten (dyadisch-) relationalen Eigenschaften des verwendeten Modells.33 (4) Das Symperasma schließlich, der auf die Apodeixis folgende letzte Teil einer antiken mathematischen Proposition, reformuliert die allgemeine Protasis mit Bezug

|| 32 Aus einer anderen Perspektive lenkt Mueller 1974 den Blick auf das weitgehende Fehlen logischen Schließens in der griechischen Mathematik; vgl. unten Kap. 3.4. Macbeth 2010 bringt in die Analyse von Euklids Diagrammgebrauch zwar ebenfalls icons ein (und beschreibt den logischen Status ähnlich wie hier vorgeschlagen), identifiziert als diese jedoch nur die im Diagramm hierarchisch untergeordneten Submodelle, das heißt die einzelnen ikonisch repräsentierten mathematischen Objekte (wie den Kreis ΑΓΕ); dadurch bleibt ihr jedoch methodisch der Zugriff auf die Attribute und Relationen der (zwar von ihr als wichtig erkannten, aber aufgrund des Ansatzes theoretisch nicht fassbaren) Gesamtstruktur verwehrt (siehe insbesondere 255–258), mit evidenten Folgen für das Verständnis des gesamten Diagramms und insbesondere der „pop up objects“ wie das als Ziel des Beweises fungierende Dreieck in Euklid, Elem. 1, 1 (siehe unten). Diese werden in ihrer Existenz hinreichend erst als Teil der kompositionalen Gesamtstruktur des Diagramms verständlich. 33 Zum Wort siehe die Diskussion bei Szabó 1969, 247–263, allerdings mit einer Erklärung dahingehend, dass sich in ihm eine ältere, voreuklidische, rein auf das „konkrete Sichtbarmachen“ (259) des zu ‚zeigenden‘ mathematischen Sachverhalts ausgerichtete Stufe der griechischen Mathematik zeige. Dies ändert nichts daran, dass der Beweis allein im Text vollzogen wird, denn nur dieser kann als wahrheitsfähiges argument die beweisrelevanten Attribute und Relationen benennen und ist zugleich einer rationalen Bewertung zugänglich, erzeugt also als komplexes symbolisches Zeichen aus sich selbst heraus die ‚Wahrheit‘ des interpretant, der mathematischen Einsicht selbst (vgl. Aristoteles, Top. 100a27–b23). Das Modell (das Diagramm) ist lediglich das zwar (qua Existenz, zumindest wenn korrekt konstruiert) ‚wahre‘, aber stumme Bild, das keine Reflexion über seine Wahrheit anstellen noch hinreichende Gründe für ihr Vorhandensein präsentieren kann. Im Ergebnis ist es damit nicht korrekt, dass „it is the diagram that is the site of reasoning in Euclid, not the text. The text, on this account, is merely a script to guide one’s words, and thereby one’s thoughts, as one walks oneself through the demonstration“ (Macbeth 2010, 260). Dieses Missverständnis könnte jedoch daraus resultieren, dass Macbeth 2010, 259–265 (am Beispiel von Euklid, Elem. 1, 31 und 3, 1) das in Euklids Elementen ausnahmslos statische Diagramm ahistorisch in eine zur Apodeixis äquivalente, modernen Darstellungskonventionen gehorchende Diagramm-Sequenz transformiert (für die eine derartige Aussage schon eher zuträfe, wenn auch die argument-spezifische Präsentation des Wahrheits-Status erst durch eine genaue und speziell logische Spezifizierung weiterer Darstellungskonventionen sichergestellt werden müsste).

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auf das in der gesamten bisherigen Proposition erzeugte Modell – und benennt im Zuge dessen das gemäß der Protasis erzeugte mathematische Submodell in den Begriffen eben dieses Gesamtmodells. In Euklid, Elem. 1, 1 etwa stellt das Symperasma in direkter Aufnahme der Protasis fest, dass das Dreieck ΑΒΓ gleichseitig ist und auf der gegebenen begrenzten geraden Linie ΑΒ steht. Damit wird einerseits auf das in der Ekthesis erzeugte Modell Bezug genommen, andererseits ein Submodell als aktual erzeugt aufgezeigt, nämlich das Dreieck ΑΒΓ – das jedoch bisher nirgendwo in der Proposition und insbesondere nicht in der Apodeixis erzeugt oder benannt wurde. Vielmehr ist das gesuchte Dreieck das indirekte Produkt aus dem komplementären Zusammenspiel von Ekthesis und Kataskeue, und zwar im Sinne einer mathematisch notwendigen Konsequenz der dort vollzogenen Generierung von Einzelmodellen aufgrund der Interaktion von hiermit gegebenen dyadischen Relationen im holistischen Gesamtmodell. Gerade dies ist freilich die tiefere Ursache dafür, dass keine explizite Generierung und / oder Benennung des gesuchten Objekts in Ekthesis und Kataskeue selbst erfolgt, sondern dieses ausschließlich erst im Nachhinein im Symperasma als im Rahmen der vollzogenen Modellbildung aktual erzeugt ‚aufgezeigt‘ wird. So erweist sich konkret an diesem Beispiel die Richtigkeit von Peirce’ Anmerkung und erlaubt zugleich die Erkenntnis des dem antiken Diagrammgebrauch zugrunde liegenden epistemischen Mechanismus, dass „a great distinguishing property of the icon is that by the direct observation of it other truths concerning its object can be discovered than those which suffice to determine its construction“:34 Obwohl das gesuchte Dreieck in Euklid, Elem. 1, 1 nicht explizit erzeugt wurde, können wir durch die bloße Betrachtung des zur Proposition gehörigen Diagramms – und eben nur hierdurch und nicht durch irgendeine Form logischen Schließens – erkennen, dass es in der Tat möglich ist, ein solches Objekt in der gewünschten Weise zu erzeugen. Hierfür ist das Diagramm in seiner ikonischen Form unersetzlich – doch zugleich ist ebenso der Fall, dass der Text der Proposition selbst hinreichend ist, das derartige Diagramm in beweisrelevanter Hinsicht vollständig zu erzeugen und das Aufzeigen des Erreichens des Beweisziels zu vollbringen.35 || 34 Peirce CP 1.179 (siehe oben Kap. 2); vgl. aus anderer Perspektive Coliva 2012 und Catton & Montelle 2012. Genau dies ist die Pointe von Aristoteles, Metaph. 1051a21–33, nämlich dass sich die potentiell vorhandenen Relationen der mathematischen Objekte durch das Zeichnen des (wohlgemerkt) richtigen Diagramms manifestieren und also sofort und einfach an diesem ablesbar sind; vgl. zu dieser Stelle Makin 2006, 232–240 (mit geometrischer Explikation der Beispiele; vgl. Hasper 2011). 35 Evident gilt dies auch dann, wenn die entsprechenden Objekte nur en passant im Beweis selbst angesprochen werden: Insofern nur Submodelle im Diagramm benannt sind, die auch im textlichen Teil der Proposition genutzt werden und eine spezifische Funktion haben, mithin relevante mathematische Relationalität repräsentieren, lässt sich auf jeden Fall aufgrund ihrer (expliziten wie impliziten) Definition (etwa insofern eine Strecke zwei Endpunkte hat etc.) sowie Nutzung im Beweiszusammenhang auf ihre relationale Eingebettetheit im Diagramm zurückschließen, und zwar in prinzipiell hinreichender Weise. Andernfalls wäre der im textlichen Teil der Proposition explizierte relationale Zusammenhang und mithin der Beweis selbst defizient (was natürlich für den konkreten Einzel-

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Im Ergebnis zeigt sich das folgende Zwischenfazit in Hinsicht auf die sich im Aufbau der Proposition spiegelnde Modellierungspraxis in der euklidischen Mathematik: (1) Die Protasis formuliert in allgemeiner Weise eine mathematische Aufgabe, deren Möglichkeit der Ausführung anhand eines eigens hierzu konstruierten mathematischen Modells bewiesen wird. Speziell wird an diesem Modell aufgezeigt, dass die zu dieser Aufgabe gehörigen mathematischen Relationen mit den Mitteln der Mathematik selbst effektiv produziert werden können; die gegebene Aufgabe ist also garantiert vollständig ‚mathematisch‘ lösbar. (2) Das dem Beweis zugrunde liegende Gesamtmodell wird in Ekthesis und Kataskeue generiert, einerseits in der Ekthesis, insofern in der Protasis auf die für die Umsetzung der Aufgabe relevanten mathematischen Objekte bezuggenommen wird oder sie speziell als gegeben explizit qualifiziert werden, andererseits in der Kataskeue, insofern die Protasis zwar nicht auf sie direkt oder indirekt verweist, sie aber sachlich für notwendig erachtet werden, um die in der Protasis gestellte Aufgabe mit genuin mathematischen Mitteln durchzuführen. Zusammen erzeugen Ekthesis und Kataskeue ein für den Beweis hinreichendes mathematisches Modell, bestehend aus Submodellen, die ihrerseits die basalen Objekte der mathematischen Theorie diagrammatisch-ikonisch repräsentieren. Durch die derart konstruierten Modelle können aufgrund der Charakteristika der mathematischen Objekte selbst weitere mathematische Modelle und / oder mathematische Eigenschaften implizit gegeben sein, wie zum Beispiel im Falle der Linie die beiden Endpunkte einer Strecke. Entsprechend ist es eine zentrale Frage der antiken Mathematik, was wann als ‚gegeben‘ gelten kann, und die Aufgabe einer systematischen Beantwortung dieser Frage wurde separat in Schriften wie Euklids Data angegangen.36 Insofern erweist es sich sachlich in der Tat als wichtig und als für die Gül-

|| fall nicht auszuschließen ist; dies wäre aber offenkundig eine kategorial andere Form von Defizienz). Die Schlussfolgerung hieraus ist, dass es der Fall sein muss, dass das Diagramm im Prinzip aus dem Text ableitbar ist, wenn auch möglicherweise nicht immer in einfacher Weise und nicht unbedingt in der in der Manuskripttradition gegebenen Form, aber allenfalls derart, dass das so gewonnene Diagramm in hinreichender Weise dieselbe beweisrelevante relationale Struktur aufwiese, also, und dies ist der entscheidende Punkt, auf der Grundlage einer Ähnlichkeitsrelation auf dieselbe semantische Struktur verwiese, möglicherweise deutbar im Sinne einer type-token-Relation oder eines Beispiels (Letzteres vor anderem Hintergrund Patterson 2007, 11–13) (dies alles pace Netz 1999a, insbesondere 12–88; vgl. oben, insbesondere mit Anm. 14). Für ein Beispiel einer solchen Rekonstruktion vgl. das folgende Kap. 4 zur Quadratverdoppelung im Menon (82a7–85b7). 36 Vgl. die Protaseis von Euklid, Dat. 26 (Ἐὰν εὐθείας γραμμῆς τὰ πέρατα ᾖ δεδομένα τῇ θέσει, δέδοται ἡ εὐθεῖα τῇ θέσει καὶ τῷ μεγέθει: „Wenn die Enden einer Strecke in Position gegeben sind, ist die Strecke in Position und Größe gegeben“) und Dat. 25 (Ἐὰν δύο γραμμαὶ τῇ θέσει δεδομέναι τέμνωσιν ἀλλήλας, δέδοται τὸ σημεῖον, καθ’ ὃ τέμνουσιν ἀλλήλας, τῇ θέσει: „Wenn sich zwei Linien, die in Position gegeben sind, schneiden, ist derjenige Punkt in Position gegeben, an dem sie sich schneiden“). Siehe zur (nicht genug beachteten) Schrift Taisbak 1991; er drückt ihre Idee instruktiv wie folgt aus (171): „The Data makes geometry into a play enacted on a stage we may call The Geometrical

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tigkeit der Beweise unabdingbar, das (in antikem Sinn) ‚axiomatische‘ Fundament der Mathematik in systematischer Weise zu erforschen: Die exakte Bestimmung der relationalen Charakteristika der einzelnen mathematischen Objekte bestimmt wesentlich darüber, welche ihrer relationalen (und das heißt mathematischen) Eigenschaften in der Analyse in einer gesicherten und zuverlässigen Weise zugänglich sind, und also auch darüber, welche Beweise überhaupt möglich sind. Wir dürfen aber andererseits ebenso erwarten, dass dieses Projekt der Definition der mathematischen Objekte nur bis zu gerade diesem Grad vorangetrieben wurde und also das Interesse nicht in einer im modernen Sinne verstandenen vollständigen (Ergründung der) ‚Axiomatisierung‘ der Mathematik bestand (vgl. oben Anm. 3). (3) Der eigentliche Beweis (Apodeixis) operiert mit denjenigen mathematischen Attributen und Relationen, die sich mit den als kompositionalen Elementen gefassten Modellen in ihrer Kombination zu einer holistischen Struktur (dem Gesamtmodell) ergeben. Dies umfasst sowohl die Relationen, die sie als mathematische Objekte an sich besitzen, als auch diejenigen, die sie erst in der Interaktion mit anderen mathematischen Objekten aufweisen, die an sich also gegebenenfalls nur latent vorhanden sind. Die Apodeixis hat dann das Ziel, emergente Eigenschaften des Gesamtmodells zu identifizieren (entweder in der Form von zusätzlichen Submodellen wie in Euklid, Elem. 1, 1 oder als Eigenschaften von explizit erzeugten Submodellen), die nicht explizit und direkt in die Konstruktion des Diagramms eingeflossen sind, die also das mathematische Wissen im Prinzip substantiell erweitern. (4) Bezüglich des Verhältnisses von Text und Diagramm einer Proposition ergibt sich, dass der Text zum einen explizit ein allgemein-abstraktes Modell erzeugt, das aus einzelnen Submodellen besteht, und es sodann in Hinsicht auf das in der Protasis aufgeworfene mathematische Problem in logisch zugänglicher Weise analysiert; und dass dieses Gesamtmodell selbst zum anderen eine statische Abbildung im (gezeichneten) ‚Diagramm‘ findet, das seinerseits als direkt wahrnehmbares Modell des abstrakten Modells fungiert (oder als ‚unmittelbares‘ Objekt zum ‚realen‘ Objekt). Während das (speziell in dem Aspekt seiner Wahrnehmbarkeit relevante) Diagramm unersetzlich dafür ist, die emergenten Eigenschaften des Modells und also die mittels der Proposition gesuchten Relationen zu identifizieren, ist das Diagramm seinerseits hinreichend in seiner relevanten mathematischen Relationalität durch den Text der Proposition determiniert. Die Folge ist, dass für den mathematischen Gehalt die konkrete Ausführung des Diagramms im Prinzip irrelevant ist und als mathematisch un|| Plane. When the curtain rises to each act (theorem), some actors (geometrical objects) are on the scene, a few of which are presented to us in a certain fashion: they are said to be given. As the play goes on, it reveals that there are more given actors on the scene than we believed at first sight, which revelation turns out to be the point of the play. The important feature of this play is that there are more things given than meet the eye.“ Zu den Data siehe Taisbaks 2003 Übersetzung und Kommentar sowie Asper 2007, 140 f.; vgl. Acerbi 2011 mit umfassender Analyse zum ‚Gegeben-Sein‘ mathematischer Objekte, ergänzt durch Sidoli 2018a und Sidoli 2018b aus der Sicht der mathematischen Praxis.

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erhebliche Variation anzusehen ist – wenngleich natürlich, wie es bei Modellen im Allgemeinen festzustellen ist, die Form in anderen Hinsichten von Bedeutung sein kann, sicherlich hier auch in Hinsicht darauf, wie einfach die relevanten Relationen entdeckt und abgelesen werden können. Die Grenze der Variation besteht evident darin, dass die Diagramme zumindest in irgendeiner Form die relevanten Relationen der ‚euklidischen‘ Mathematik repräsentieren (können) müssen. (5) Alle in der Proposition involvierten Modelle sind diagrams im Sinn der Peirceschen Zeichentheorie, das heißt icons, die als Zeichen auf der Grundlage einer Ähnlichkeit zwischen Zeichen und Objekt hinsichtlich ihrer dyadisch-relationalen Qualität operieren. Dies gilt sowohl für das kompositionale Gesamtmodell als auch für die dieses konstituierenden Submodelle. Dabei ist das gezeichnete Diagramm gleichfalls ein diagram des (in der Proposition primär erzeugten) abstrakten Modells. (6) Auf dieser Grundlage ist transparent, wovon das Gesamtmodell als diagrammatisch-ikonisches Zeichen ein Modell ist: Insofern dieses Modell eine integrale Komposition von Einzelmodellen ist und diese in ihrer gegenseitigen Relationalität in Hinblick auf die durch sie gegebene Konstitution der Struktur des Gesamtsystems zeigt, andererseits aber diese Einzelmodelle das gemäß der Protasis Gegebene sowie das zum Beweis notwendige und hinreichende Modellmaterial sind, ist das gesamte Modell nichts anderes als ein Modell der in der Protasis bezeichneten gesamten mathematischen Handlung, und zwar in Hinsicht auf ihr Ergebnis und unter Berücksichtigung ihrer mathematischen Folgerichtigkeit, im Falle von Euklid, Elem. 1, 1 der Konstruktion eines gleichseitigen Dreiecks auf einer gegebenen Strecke. Diese Handlung ist auf die in Ekthesis und Kataskeue erzeugte Gesamtstruktur des Modells unabdingbar angewiesen, nämlich insofern sich prinzipiell erst in diesem materialen Rahmen die beweisrelevanten Attribute und Relationen zeigen, nicht hingegen in den hierarchisch untergeordneten Modellen der einzelnen mathematischen Objekte. Unmittelbar wahrnehmbares Bild dieses Sachverhalts ist das gezeichnete Diagramm,37 doch ist dies selbst evident nicht der Kern der mathematischen Methode. Dieser besteht in dem durch dieses abgebildeten abstrakten Diagramm, und zwar in exakt derjenigen Form, die ihm durch den Text in Ekthesis und Kataskeue gegeben wird, sei es explizit, sei es implizit, und zwar als Folge der spezifischen Relationalität der im Modellierungsprozess involvierten mathematischen Objekte an sich und in Kombination.

|| 37 In diesem Sinn zeigen sich Konvergenzen zum Ergebnis von Mahr & Robering 2009, die unter dem Titel „Diagramme als Bilder, die Modelle repräsentieren“ insbesondere auf Euklids Diagramme eingehen. Allerdings unterscheiden sich die hier erzielten Ergebnisse grundlegend: Zum einen erfolgt die Analyse auf der Grundlage von signifikant verschiedenen modelltheoretischen Ansätzen (dort Mahr 2009). Zum anderen wird hier (auch als Folge aus dem ersten Punkt) ein spezifischeres Ergebnis erzielt als die allgemeine Aussage „Alle Diagramme veranschaulichen den Beweisgang einer Proposition“; nicht zuletzt konnte schließlich die exakte Art und Weise dieser ‚Veranschaulichung‘ expliziert werden, unter anderem hinsichtlich der einzelnen Teile einer mathematischen Proposition und einer Differenzierung von gezeichnetem und abstraktem, eigentlichem Diagramm.

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3.3 Drei weitere Diagramme Die Analyse im vorangehenden Abschnitt hat das mathematische Diagramm als diagrammatisches icon und also relationales Modell erschlossen und auf dieser Grundlage mathematische Modellierung als methodisch zentrales, integrales und unentbehrliches Werkzeug der mathematischen Praxis bei Euklid erwiesen. Ziel dieses darauf aufbauenden Abschnitts ist es, diese Erkenntnisse zu festigen und zu erweitern. Hierzu werde ich erstens die andere Form von Proposition in Euklids Elementen, das sogenannte Theorem, sowie zweitens die mathematische Praxis bei Autolykos von Pitane untersuchen, dem ersten Fachmathematiker der griechischen Tradition, von dem vollständige authentische Schriften aus erster Hand erhalten sind. In der Terminologie der späteren griechischen Mathematiktheorie (die sich etwa in Proklos, in Euc. p. 77, 7–81, 22 spiegelt) ist die im letzten Abschnitt exemplarisch analysierte Proposition Euklid, Elem. 1, 1 ein ‚Problem‘ (πρόβλημα), mehr oder weniger der Beweis der Möglichkeit der Konstruktion eines mathematischen Objekts. Hier ist eine modelltheoretische Deutung sachlich naheliegend, ist das Ziel doch die Erzeugung eines Modells eines spezifischen Objekts. Emblematisch hierfür ist die für Probleme typische Schlussformel ὅπερ ἔδει ποιῆσαι, in der das Verb ποιῆσαι auf die Tätigkeit der charakteristischen ‚Erschaffung‘ des gesuchten Modells verweist. Probleme sind aber nicht die einzige Form einer antiken mathematischen Proposition. Daneben gibt es das Theorem (θεώρημα), das nicht auf eine Konstruktion, sondern auf den Beweis eines spezifischen mathematischen Sachverhalts abzielt.38 Zu prüfen ist, ob auch hier ein modelltheoretisches Verständnis die Verhältnisse adäquat beschreiben kann. Zu diesem Zweck werde ich kontrastiv Euklid, Elem. 1, 4 analysieren, das erste Theorem der Elemente:39 Ἐὰν δύο τρίγωνα τὰς δύο πλευρὰς [ταῖς] δυσὶ πλευραῖς ἴσας ἔχῃ ἑκατέραν ἑκατέρᾳ καὶ τὴν γωνίαν τῇ γωνίᾳ ἴσην ἔχῃ τὴν ὑπὸ τῶν ἴσων εὐθειῶν περιεχομένην, καὶ τὴν βάσιν τῇ βάσει ἴσην ἕξει, καὶ τὸ τρίγωνον τῷ τριγώνῳ ἴσον ἔσται, καὶ αἱ λοιπαὶ γωνίαι ταῖς λοιπαῖς γωνίαις Α ἴσαι ἔσονται ἑκατέρα ἑκατέρᾳ, ὑφ’ ἃς αἱ ἴσαι πλευραὶ ὑποτείνουσιν. Ἔστω δύο τρίγωνα τὰ ΑΒΓ, ΔΕΖ τὰς δύο πλευρὰς τὰς ΑΒ, ΑΓ ταῖς δυσὶ πλευραῖς ταῖς ΔΕ, ΔΖ ἴσας ἔχοντα ἑκατέραν ἑκατέρᾳ τὴν μὲν ΑΒ τῇ ΔΕ τὴν δὲ ΑΓ τῇ ΔΖ καὶ γωνίαν τὴν ὑπὸ ΒΑΓ γωνίᾳ τῇ ὑπὸ ΕΔΖ ἴσην. λέγω, ὅτι καὶ βάσις ἡ Β Γ ΒΓ βάσει τῇ ΕΖ ἴση ἐστίν, καὶ τὸ ΑΒΓ τρίγωνον τῷ ΔΕΖ τριγώνῳ ἴσον ἔσται, Δ καὶ αἱ λοιπαὶ γωνίαι ταῖς λοιπαῖς γωνίαις ἴσαι ἔσονται ἑκατέρα ἑκατέρᾳ, ὑφ’ ἃς αἱ ἴσαι πλευραὶ ὑποτείνουσιν, ἡ μὲν ὑπὸ ΑΒΓ τῇ ὑπὸ ΔΕΖ, ἡ δὲ ὑπὸ ΑΓΒ τῇ ὑπὸ ΔΖΕ. Ἐφαρμοζομένου γὰρ τοῦ ΑΒΓ τριγώνου ἐπὶ τὸ ΔΕΖ τρίγωνον καὶ τιθεμένου τοῦ μὲν Α σημείου ἐπὶ τὸ Δ σημεῖον τῆς δὲ ΑΒ εὐθείας ἐπὶ τὴν ΔΕ, ἐφαρμόσει

Ε

Ζ

|| 38 Zur Unterscheidung von Problem und Theorem siehe knapp Heath 1926, 1, 124–129; für eine kritischere Diskussion siehe Knorr 1986, 339–381. Weitere Aufschlüsse gibt die hier erfolgende Analyse. 39 Entsprechend den obigen Ergebnissen sind in der Übersetzung zusätzlich die konstitutiven Teile der Proposition benannt; die Diagramme folgen erneut der Ausgabe von Heiberg & Stamatis.

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καὶ τὸ Β σημεῖον ἐπὶ τὸ Ε διὰ τὸ ἴσην εἶναι τὴν ΑΒ τῇ ΔΕ· ἐφαρμοσάσης δὴ τῆς ΑΒ ἐπὶ τὴν ΔΕ ἐφαρμόσει καὶ ἡ ΑΓ εὐθεῖα ἐπὶ τὴν ΔΖ διὰ τὸ ἴσην εἶναι τὴν ὑπὸ ΒΑΓ γωνίαν τῇ ὑπὸ ΕΔΖ· ὥστε καὶ τὸ Γ σημεῖον ἐπὶ τὸ Ζ σημεῖον ἐφαρμόσει διὰ τὸ ἴσην πάλιν εἶναι τὴν ΑΓ τῇ ΔΖ. ἀλλὰ μὴν καὶ τὸ Β ἐπὶ τὸ Ε ἐφηρμόκει· ὥστε βάσις ἡ ΒΓ ἐπὶ βάσιν τὴν ΕΖ ἐφαρμόσει. εἰ γὰρ τοῦ μὲν Β ἐπὶ τὸ Ε ἐφαρμόσαντος τοῦ δὲ Γ ἐπὶ τὸ Ζ ἡ ΒΓ βάσις ἐπὶ τὴν ΕΖ οὐκ ἐφαρμόσει, δύο εὐθεῖαι χωρίον περιέξουσιν, ὅπερ ἐστὶν ἀδύνατον. ἐφαρμόσει ἄρα ἡ ΒΓ βάσις ἐπὶ τὴν ΕΖ καὶ ἴση αὐτῇ ἔσται· ὥστε καὶ ὅλον τὸ ΑΒΓ τρίγωνον ἐπὶ ὅλον τὸ ΔΕΖ τρίγωνον ἐφαρμόσει καὶ ἴσον αὐτῷ ἔσται, καὶ αἱ λοιπαὶ γωνίαι ἐπὶ τὰς λοιπὰς γωνίας ἐφαρμόσουσι καὶ ἴσαι αὐταῖς ἔσονται, ἡ μὲν ὑπὸ ΑΒΓ τῇ ὑπὸ ΔΕΖ ἡ δὲ ὑπὸ ΑΓΒ τῇ ὑπὸ ΔΖΕ. Ἐὰν ἄρα δύο τρίγωνα τὰς δύο πλευρὰς [ταῖς] δύο πλευραῖς ἴσας ἔχῃ ἑκατέραν ἑκατέρᾳ καὶ τὴν γωνίαν τῇ γωνίᾳ ἴσην ἔχῃ τὴν ὑπὸ τῶν ἴσων εὐθειῶν περιεχομένην, καὶ τὴν βάσιν τῇ βάσει ἴσην ἕξει, καὶ τὸ τρίγωνον τῷ τριγώνῳ ἴσον ἔσται, καὶ αἱ λοιπαὶ γωνίαι ταῖς λοιπαῖς γωνίαις ἴσαι ἔσονται ἑκατέρα ἑκατέρᾳ, ὑφ’ ἃς αἱ ἴσαι πλευραὶ ὑποτείνουσιν, ὅπερ ἔδει δεῖξαι. [Protasis:] Wenn zwei Dreiecke zwei Seiten von derselben Länge wie die entsprechenden zwei Seiten besitzen, und zwar jeweils paarweise, sowie den von den gleich langen Strecken umfassten Winkel von derselben Größe wie den anderen Winkel besitzen, haben sie A auch eine Basis von derselben Länge wie die andere Basis, ist das Dreieck von derselben Größe wie das andere Dreieck und haben auch die übrigen Winkel, unter denen sich die gleich langen Seiten erstrecken, jeweils paarweise dieselbe Größe wie die übrigen Winkel. B C [Ekthesis:] Es seien zwei Dreiecke ABC und DEZ, die die beiden Seiten AB und D AC von derselben Länge wie die beiden anderen Seiten DE und DZ besitzen, und zwar jeweils paarweise AB und DE sowie AC und DZ, und die den Winkel BAC von derselben Größe wie den entsprechenden Winkel EDZ besitzen. [Dihorismos:] Ich behaupte, dass auch die Basis BC dieselbe Länge wie die Basis Z E EZ hat, dass das Dreieck ABC dieselbe Größe wie das Dreieck DEZ hat und dass ebenso die übrigen Winkel jeweils paarweise dieselbe Größe wie die übrigen Winkel haben, unter denen sich die gleich langen Seiten erstrecken, einerseits der Winkel ABC und der Winkel DEZ, andererseits der Winkel ACB und der Winkel DZE. [Apodeixis:] Wenn nämlich das Dreieck ABC mit dem Dreieck DEZ zur Deckung gebracht wird und der Punkt A auf den Punkt D gelegt wird sowie die Strecke AB auf die Strecke DE, fällt der Punkt B mit dem Punkt E zusammen wegen des Gleichlang-Seins der Strecke AB und der Strecke DE. Wenn nun AB mit DE zusammenfällt, fällt auch die Strecke AC mit der Strecke DZ zusammen wegen des Gleichgroß-Seins des Winkels BAC und des Winkels EDZ, so dass auch der Punkt C mit dem Punkt Z zusammenfällt wegen des seinerseitigen Gleichlang-Seins der Strecke AC und der Strecke DZ. Aber auch der Punkt B fällt mit dem Punkt E zusammen, so dass die Basis BC mit der Basis EZ zusammenfällt. Denn wenn beim Zusammenfallen vom Punkt B und vom Punkt E sowie vom Punkt C und vom Punkt Z die Basis BC nicht mit der Basis EZ zusammenfällt, umfassen zwei gerade Linien eine Fläche, was unmöglich ist. Es fällt also die Basis BC mit der Basis EZ zusammen, und beide sind gleich lang, so dass auch das gesamte Dreieck ABC mit dem gesamten Dreieck DEZ zusammenfällt und gleich groß wie dieses ist und die übrigen Winkel mit den übrigen Winkeln zusammenfallen und gleich groß wie diese sind, der Winkel ABC und der Winkel DEZ sowie der Winkel ACB und der Winkel DZE. [Symperasma:] Wenn also zwei Dreiecke zwei Seiten von derselben Länge wie die entsprechenden zwei Seiten besitzen, und zwar jeweils paarweise, sowie den von den gleich langen Strecken begrenzten Winkel von derselben Größe wie den anderen Winkel besitzen, haben sie auch eine Basis von derselben Länge wie die andere Basis, ist das Dreieck von derselben Größe wie das andere Dreieck und haben auch die übrigen Winkel, unter denen sich die gleich langen Seiten

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erstrecken, jeweils paarweise dieselbe Größe wie die übrigen Winkel, was gerade zu zeigen war.40

Schon ein flüchtiger Blick zeigt, dass sich Problem und Theorem stark ähneln. Insbesondere weist auch diese Proposition Protasis, Ekthesis, Dihorismos, Apodeixis und Symperasma auf. Zwar fehlt die Kataskeue, doch ist der Grund transparent: Alle beweisrelevanten Modelle sind in der Ekthesis erzeugt worden. Generell wäre es auch nicht problematisch, wenn nur Protasis, Ekthesis und Apodeixis (sowie Symperasma) vorhanden wären oder sogar die Modellerzeugung nicht in einem separaten Teil, sondern in der Apodeixis selbst stattfände. Entscheidend ist schließlich, ob sich ein Akt der Modellierung ausmachen lässt, der ein Modell aus basalen mathematischen Modellen erzeugt, das dazu genutzt wird, bisher unbekannte mathematische Relationen zu identifizieren, die die Kenntnis der mathematischen Objekte selbst erweitert; hier-

|| 40 In der Forschung ist die Verwendung der in Euklid, Elem. 1, ax. 4 fundierten (oder hier implizit zugrunde gelegten: zum Text des Axioms siehe Heath 1926, 1, 224 f.) Kongruenzmethode im Rahmen des Beweises von Euklid, Elem. 1, 4 (sowie 1, 8) kritisiert und für ein Überbleibsel einer älteren, weniger entwickelten Form der griechischen Mathematik gehalten worden, beginnend spätestens mit dem 17. Jh.: siehe für einen knappen Überblick Heath 1926, 224–231 und 242; eine ausführliche Diskussion findet sich bei von Fritz 1959 und von Fritz 1955). Der Grund für Euklids Vorgehen ist im modelltheoretischen Rahmen transparent: Wenn, wie noch genauer zu erörtern ist, nur qualitativ-quantitative Relationen relevante mathematische Relationen sind, besteht mathematisch keine Möglichkeit, Winkel numerisch-metrisch exakt zu quantifizieren. Der einzige (oder zumindest der von Euklid gegangene) Weg, um allgemein – und auch hier wiederum qualitativ-quantitativ – Winkelgleichheit festzustellen, ist, die Winkel (vom rechten Winkel oder einem Vielfachen abgesehen) nachweislich zur Kongruenz zu bringen. Nur so lässt sich vermeiden, dass die Winkel metrisch-quantitativ bestimmt werden müssen, mithin sich also einerseits eine unbestimmte Anzahl von möglichen Winkelgrößen ergäbe und andererseits nach den Maßstäben der euklidischen Geometrie nicht-mathematische Relationen eine Rolle spielten, und kann andererseits die Entscheidung über die Winkelgleichheit auf eine rein binäre und als solche effektiv durchführbare Entscheidung zurückgeführt werden. In diesem Sinne scheint die Kongruenzmethode im gegebenen theoretischen Kontext erforderlich zu sein, um überhaupt von verschiedenen Winkelgrößen mathematisch sprechen und sie im Rahmen von mathematischen Beweisen nutzen zu können. Ein instruktives Indiz ist, dass das Ergebnis von Euklid, Elem. 1, 4 für Euklids Elemente grundlegend relevant ist und indirekt in zahlreiche andere Propositionen eingeht, nicht zuletzt in fast alle Propositionen der ersten zwei Bücher der Elemente, welche also in vermittelter Weise in der Tat auf dem Kongruenzaxiom beruhen. Als Frage stellt sich dann allerdings, warum die Gleichheit von speziell rechten Winkeln separat in Form eines Postulats gefordert wird, denn auch diese Gleichheit könnte ja über Kongruenz aufgezeigt werden (Euklid, Elem. 1, post. 4; vgl. Mueller 1981, 29 f.). Hier kann keine detaillierte Klärung erfolgen; es sei nur darauf hingewiesen, dass der rechte Winkel als ausgezeichneter Winkel eine wichtige Rolle in den Definitionen spielt, also für die Bestimmung wesentlicher relationaler Eigenschaften anderer mathematischer Objekte relevant ist, einschließlich derjenigen von (den Klassen von) stumpfen und spitzen Winkeln, deren relative qualitativ-quantitative Qualität mithin indirekt über die Gleichheit von rechten Winkeln definiert ist (Euklid, Elem. 1, def. 8–12). Im Ergebnis erweist sich die Kongruenzmethode bei Euklid kaum (allein) als Residuum einer empiriebasierten Mathematik: vgl. die Wiedergabe bei von Fritz 1959, 8–10 sowie 39–41 zum Zusammenhang von Kongruenzmethode und Euklids Winkelbegriff.

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für ist es aber sachlich nicht erheblich, ob die Erzeugung explizit oder implizit erfolgt oder ob in einem gesonderten Dihorismos eine explizite ‚Spezifizierung‘ der Protasis in den Begrifflichkeiten des erzeugten Modells stattfindet.41 Für die mathematische Praxis ist weniger der abstrakte mathematische Formalismus charakteristisch (denn dieser stellt letztlich als Modus der Präsentation ein äußeres Merkmal dar), sondern die spezifische Funktion der einzelnen Dimensionen der Modellgenerierung einerseits und -explikation andererseits.42 Entscheidend ist, ob die sachlich unabdingbaren funktionalen Äquivalente der konstitutiven Teile der Proposition vorhanden sind. Neben den Ähnlichkeiten zeigen sich freilich auch auffällige formale Unterschiede. Sie beruhen nicht nur auf den Besonderheiten des spezifischen mathematischen Falls, sondern haben ihre Grundlage im Charakter der zwei Propositionstypen. Ein detaillierter Durchgang durch die Teile der Proposition zeigt anhand des Beispiels, um welche Unterschiede es sich handelt und wie sie im modelltheoretischen Rahmen zu erklären sind: (1) Protasis: Der zentrale Unterschied zwischen Problem und Theorem ist, dass die Protasis in einem Problem die Aufgabe der Konstruktion eines mathematischen Objekts aufwirft, sprachlich ausgedrückt in einer indefiniten Infinitivkonstruktion, in einem Theorem hingegen einen in der Regel konditionierten mathematischen Sachverhalt benennt, sprachlich oftmals wie hier in Form eines ἐάν-Konditionalgefüges.43 Folglich ist das Diagramm in einem Theorem nicht wie im Problem ein Modell

|| 41 Insofern ist die Variabilität des Propositionsschemas mathematisch nicht relevant; anders Netz 1999b (siehe oben Anm. 28). Zur Konstruktion von Modellen in der Apodeixis (hier bei Autolykos) siehe unten Anm. 54. Zum Fehlen von Teilen der Proposition vgl. schon Proklos, in Euc. p. 203, 17– 205, 12: Proklos zufolge seien Protasis, Apodeixis und Symperasma unabdingbar, der Rest könne je nach Umständen fehlen. Dies betrifft insbesondere die Ekthesis, die Proklos nur dann als vorhanden ansieht, wenn Euklid in der Protasis ein Objekt als explizit ‚gegeben‘ qualifiziert, also als etwas, von dem aus (etc.) etwas konstruiert werden müsse (vgl. die Protasis in Euklid, Elem. 1, 1: ἐπὶ τῆς δοθείσης εὐθείας πεπερασμένης τρίγωνον ἰσόπλευρον συστήσασθαι); Proklos zufolge sei dies etwa in Euklid, Elem. 4, 10 nicht der Fall. Ein Blick auf diese Proposition macht jedoch klar, dass Proklos im Vergleich mit der hier entwickelten Perspektive ein engeres Verständnis davon hat, dass etwas ‚gegeben‘ ist. Schließlich ist im oben definierten Sinn auch in Euklid, Elem. 4, 10 eine ‚Ekthesis‘ vorhanden, in der eine Strecke AB und weitere Modelle erzeugt werden (ἐκκείσθω τις εὐθεῖα ἡ ΑΒ […]); freilich fehlt ein Dihorismos, was aber evident nicht problematisch ist. Zum ‚Gegeben-Sein‘ mathematischer Objekte im Beweis siehe oben mit Anm. 36. 42 Dieser Gedanke verweist auf einen weiteren Unterschied zu den Ergebnissen von Netz 1999a. 43 Siehe allgemein Netz 1999a, 259 f. Es gibt freilich alternative Weisen des sprachlichen Ausdrucks desselben Sachverhalts: vgl. für Euklid, Elem. 1 die Theoreme 5; 7; 16–20; 29 f.; 32–40; 43; 47; die ἐάνForm haben die Theoreme 4; 6; 8; 13–15; 21; 24–28; 41; 48. Doch auch im ersten Fall liegt grundsätzlich ein einer Bedingung äquivalenter Ausgangszustand vor, in der Regel in der Form eines spezifisch gegebenen Objekts mit spezifischen Eigenschaften. Vgl. die Protasis von Euklid, Elem. 1, 5: Τῶν ἰσοσκελῶν τριγώνων αἱ πρὸς τῇ βάσει γωνίαι ἴσαι ἀλλήλαις εἰσίν, καὶ προσεκβληθεισῶν τῶν ἴσων εὐθειῶν αἱ ὑπὸ τὴν βάσιν γωνίαι ἴσαι ἀλλήλαις ἔσονται („Bei gleichschenkligen Dreiecken sind die Winkel an der Basis einander gleich, und bei einer Verlängerung der gleichen geraden Linien sind die Winkel

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einer in einem mathematischen Begründungszusammenhang stehenden Konstruktion eines mathematischen Objekts, sondern ein Modell des in der Protasis bezeichneten gesamten mathematischen Sachverhalts unter spezifischen Randbedingungen (das heißt, seinem intentional erzeugten mathematischen Kontext) und unter Wahrung einer mathematisch folgerichtigen Begründung. Dieser Unterschied ist in transparenter Weise im allgemeinen Unterschied von Theorem und Problem begründet. (2) Ekthesis: Sowohl in einem Problem als auch in einem Theorem werden alle in der Protasis genannten (und also im weiteren Sinn ‚gegebenen‘) mathematischen Objekte mitsamt ihren beweisrelevanten Attributen als konkrete Modelle erzeugt und mit einem Bezeichner belegt; insofern besteht kein Unterschied. Allerdings benennt Euklid in Problemen in der Regel die Ausgangselemente für die Konstruktion explizit als „gegeben“ (δοθεῖσα etc.), während er dies in Theoremen nicht tut (vgl. die Sätze in Euklid, Elem. 1).44 Im modelltheoretischen Rahmen ist der Grund transparent: Die Eigenschaft, gegeben zu sein, ist nur in Problemen relevant, nämlich insofern das zu erzeugende mathematische Objekt im Kontrast zu den dieser Erzeugung als Grundlage dienenden Objekten hervorgehoben werden muss und es in Hinsicht auf die zentrale Modellanalyse (auch in hierauf aufbauenden Propositionen) gerade darauf ankommt, nicht nur den mathematischen Gegenstand selbst zu konstruieren, sondern diesen als zusätzlichen Teil desselben zusammenhängenden Gesamtmodells zu erzeugen; andernfalls wäre der relationale Zusammenhang mit den anderen Submodellen nicht hinreichend determiniert und also für den Beweis unbrauchbar. Die explizit angeführte Eigenschaft, in Hinsicht auf ein bereits gegebenes Objekt erzeugt zu werden, gewährleistet also, dass jedes im Beweis in Euklids Elementen genutzte Diagramm (also sowohl im Problem wie im Theorem) trotz seiner Kompositionalität eine einzige, zusammenhängende Struktur ist. Dies schließt eine lückenlose Anbindung an das axiomatische Fundament ein, das heißt in Euklid, Elem. 1 speziell post. 1–3. Die deduktive Struktur der Elemente hat also eine enge konkrete Entsprechung im Charakter der Konstruktion der Schritt für Schritt erzeugten Modelle. (3) Dihorismos: Auch beim Dihorismos zeigt sich eine weitestgehende Entsprechung von Problem und Theorem. Allerdings besteht (neben der sich mehr oder weniger aus der Sache selbst ergebenden Verwendung des handlungsbezogenen δεῖ [„es soll …“] im Problem und des feststellenden λέγω ὅτι [„ich sage, dass …“] im Theorem) ein wichtiger Unterschied: Während im Problem das Ziel der Konstruktion nicht mittels eines Bezeichners, sondern eines generischen Begriffs (‚gleichseitiges Dreieck‘) benannt wird, sind im Theorem alle mathematischen Objekte explizit erzeugte und

|| unter der Basis einander gleich“). Diese Einsicht ist auch in Hinsicht auf Platons Philosophie der Mathematik relevant: siehe unten Kap. 6.5. 44 Die folgenden Propositionen in Euklid, Elem. 1 sind Probleme (zu den Theoremen siehe die vorangehende Anm. 43): 1–3; 9–12; 22 f.; 31; 42; 44–46. In all diesen Sätzen findet sich ein Partizip Passiv (in der Regel des Aorists) von διδόναι.

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mit Namen versehene Modelle. Der Grund hierfür ist erneut, dass sich im Problem das gesuchte Objekt erst im Zuge des Beweises zeigt; zuvor liegt es nur implizit vor und kann entsprechend nicht als konkretes Objekt benannt werden, sondern nur generisch als gesuchtes Objekt bestimmter Art. (4) Kataskeue: Zwar fehlt speziell in Euklid, Elem. 1, 4 eine Kataskeue; sie ist aus den oben ausgeführten Gründen verzichtbar, insofern keine zusätzlichen mathematischen Modelle für die Durchführung des Beweises erforderlich sind. Doch ein Blick auf das Theorem Euklid, Elem. 1, 5, wo in der Kataskeue Liniensegmente abgetrennt und zusätzliche Linien gezogen werden und also diese als zusätzliche Modelle konstruiert werden,45 erweist ebenfalls eine grundsätzliche Gleichheit von Problem und Theorem. Damit gilt das oben Gesagte. (5) Apodeixis: Auch hinsichtlich der Apodeixis besteht zwischen Problem und Theorem kein wesentlicher noch nicht behandelter Unterschied. (6) Symperasma: Im Symperasma liegt insofern ein signifikanter Unterschied vor, als im Problem explizit auf die Submodelle des Diagramms Bezug genommen wird, mithin also die in Ekthesis und Kataskeue eingeführten Bezeichner verwendet werden, im Theorem hingegen wie in der Protasis auf der Ebene der mathematischen Objekte selbst operiert wird, mit der Folge, dass das Symperasma hier mehr oder weniger der allgemein formulierten Protasis auf das Wort gleicht, freilich unter Ergänzung eines zusammenfassend-folgernden ἄρα. Dieser Unterschied hat jedoch seine Ursache in demjenigen Sachverhalt, der bezüglich des Dihorismos festgestellt worden ist: Ziel ist die Erzeugung des konkreten mathematischen Objekts unter bestimmten konstruktiven Bedingungen, und diese sind primär einzig in Form des erzeugten Gesamtmodells gegeben. Insofern ist dieses der primäre Referenzrahmen für die Feststellung des Erfolgs des Konstruktionsbeweises, der aufgrund der semiotischen Situation selbstverständlich auch in Hinsicht auf das mathematische Objekt selbst gilt. Dieser Unterschied führt zu einer wichtigen Einsicht: Im Theorem dient das kompositionale Gesamtmodell Diagramm faktisch als materiale Bedingung der mathematischen Erkenntnis. Dies spiegelt sich direkt in der Formulierung der Protasis, die als konditionales Wenn-dann-Gefüge konstruiert ist, und in diesem repräsentiert die konditionale Protasis das zum Beweis erzeugte Modell, die Apodosis hingegen das Ergebnis der analytischen Inspektion dieses Modells.46 Es ergibt sich eine direkte Zuordnung zu den Teilen der Proposition derart, dass die konditionale Protasis Ekthesis, Dihorismos und (implizit) Kataskeue abbildet und die Apodosis Apodeixis und || 45 Euklid, Elem. 1, 5: Εἰλήφθω γὰρ ἐπὶ τῆς ΒΔ τυχὸν σημεῖον τὸ Ζ, καὶ ἀφῃρήσθω ἀπὸ τῆς μείζονος τῆς ΑΕ τῇ ἐλάσσονι τῇ ΑΖ ἴση ἡ ΑΗ [Euklid, Elem. 1, 3], καὶ ἐπεζεύχθωσαν αἱ ΖΓ, ΗΒ εὐθεῖαι [Euklid, Elem. 1, post. 1] („Es werde nämlich auf der Strecke BD ein beliebiger Punkt Z genommen, und es werde von der längeren Strecke AE eine Strecke AH weggenommen, die dieselbe Länge wie die kürzere Strecke AZ hat“). 46 Mutatis mutandis gilt Entsprechendes für den Fall, dass die Bedingung nicht explizit in einem ἐάν-Satz formuliert ist, sondern in einer sachlich äquivalenten Weise: vgl. oben mit Anm. 43.

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Symperasma. Damit fungiert ein Problem faktisch als die effektive Erzeugung einer materialen mathematischen Bedingung eines Beweises, und zwar aufgrund der deduktiven Gesamtstruktur konkret als Spezifizierung einer schon vorhandenen Bedingung, das heißt als (potentielle) Erweiterung eines schon vorhandenen Modells (ausgehend von den Ursprungsmodellen, die in Euklid, Elem. 1, post. 1–3 konstruktiv gesetzt sind). Diese Konstruktion ist jedoch nicht in derselben Weise bedingt wie die Erkenntnis im Theorem, und dieser Unterschied zeigt sich in der sprachlichen Formulierung der Protasis im Problem, einer einfachen unbedingten Infinitivkonstruktion; im finiten Satz entspräche diese (einem einem kompositionalen Teil des Gesamtmodells entsprechenden Teil) der Protasis, also (einem Teil) der materialen Bedingung der Erkenntnis zu den gesuchten spezifisch mathematischen Relationen.47 Um die Ergebnisse so weit zusammenzufassen: Zwar zeigen sich Unterschiede zwischen Theorem und Problem, doch erklären sich diese im modelltheoretischen Rahmen derart, dass zugleich die spezifischen Charakteristika von Problem und Theorem aufscheinen: Ein Problem ist verbunden mit dem Modell eines konstruktiven Sachverhalts, das heißt eines Sachverhalts, der die generische Erzeugung eines bisher nicht erzeugten Modells eines mathematischen Objekts zum Ziel hat, letztlich als Erweiterung einer schon konstruierbaren Diagrammstruktur, speziell in Hinsicht auf ihre relationale Qualität; ein Theorem ist verbunden mit dem Modell eines rein theoretischen, nicht-konstruktiven Sachverhalts, das heißt eines Sachverhalts, der allein an der Explikation der mathematischen Relationen der involvierten mathematischen Gegenstände interessiert ist. Die im Theorem genutzten Modelle sind ausschließlich einerseits die, die in einem vorangehenden Schritt in einem Problem erzeugt wurden, wie in Euklids Elementen zum Beispiel das gleichseitige Dreieck, eine zu einer anderen Strecke gleich lange Strecke und eine Strecke, die aus Subtraktion einer Strecke von einer anderen entsteht (Euklid, Elem. 1, 1–3); oder andererseits die, deren Möglichkeit der Erzeugung axiomatisch gesetzt wurde, wie in Euklids Elementen zum Beispiel die einfache und erweiterte Linie sowie der Kreis (Euklid, Elem. 1, post. 1–3). Der axiomatisch-deduktive Aufbau der Elemente dient nicht nur dem lückenlosen Aufbau eines Werkzeugkastens der praktischen Modellierung mathematischer Objekte, sondern auch dazu, zu gewährleisten, dass alle zum Zweck des Beweises generierten Modelle nachvollziehbar auf rein mathematischem Weg erzeugt werden, und zwar im Rahmen eines räumlich zusammenhängenden Gesamtmodells, das seinerseits garantiert, dass alle relevanten latenten Attribute der mathematischen Ob|| 47 Diese Deutung ist ähnlich zu, unterscheidet sich aber signifikant von der Auffassung, dass Probleme Existenzbeweise seien: vgl. Zeuthen 1896; sie geht mutatis mutandis auf Proklos zurück (in Euc. p. 77, 7–79, 2). Andererseits ist mit Knorr 1986, 348–360 und Knorr 1985 eine solche Deutung selbstverständlich nicht dahingehend zu verstehen, „that the ancient geometers subscribed to a constructivist view of mathematical existence“ (Knorr 1985, 133; vgl. 137–140). Ebenfalls ist richtig, dass die Konstruktionsbeweise von mathematischen Objekten im Kontext der mathematischen Aktivität der Problemlösung standen (speziell Knorr 1985, 141). Vgl. Schmitz 1997, 100–108 und Sidoli 2018b.

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jekte in der Kombination mit anderen mathematischen Objekten in einer dyadischen relationalen Struktur aktualisiert werden. Mathematische Modellierung ist nicht nur auf der Ebene der Einzelproposition das Herz von Euklids Mathematik, sondern auch auf der strukturellen Ebene des Gesamtwerks: Jeder Proposition liegt als normatives Prinzip die Forderung zugrunde, dass der von ihr bezeichnete Sachverhalt in vollständiger und hinreichender Weise als aktuales mathematisches Modell konstruierbar sein muss. Der Grund ist transparent: Nur so ist im Prinzip gewährleistet, dass Modelle erzeugt werden, die die gesuchten und bisher unbekannten mathematischen Relationen als mathematische Relationen konstruieren und zugleich der Beobachtung zugänglich machen; nur so ist gewährleistet, dass man sichere Erkenntnisse zu den mathematischen Objekten selbst gewinnt, die diese Modelle repräsentieren. Bevor das nächste Fallbeispiel in den Blick genommen werden kann, ist auf eine relevante Eigenschaft der Proposition Euklid, Elem. 1, 4 hinzuweisen, die den Charakter des mathematischen Diagramms weiter erschließt. Die Proposition operiert mit einer reductio ad absurdum, mithin mittels eines eigentlich unmöglichen mathematischen Sachverhalts. In der Apodeixis wird nämlich die Gleichheit der Dreiecke ΑΒΓ und ΔΕΖ mittels einer Kongruenzbetrachtung bewiesen, die zeigt, dass alle Elemente des einen Dreiecks mit den entsprechenden Elementen des anderen Dreiecks zusammenfallen, insbesondere die Basen ΒΓ und ΕΖ – denn wenn Β auf Ε und Γ auf Ζ läge, ohne dass auch die Basen aufeinanderlägen, umschlössen zwei gerade Linien eine Fläche (δύο εὐθεῖαι χωρίον περιέξουσιν). Dies ist jedoch durch axiomatische Setzung in Form der neunten κοινὴ ἔννοια48 von vornherein als mathematisch unmöglich ausgeschlossen, wie das auf die Explikation dieser Konsequenz folgende ὅπερ ἐστὶν ἀδύνατον explizit macht. Im Rahmen einer zweiwertigen Logik folgt der indirekte Beweis des Gegenteils, konkret die Gleichheit und also Kongruenz der Basen. Überraschenderweise ist nicht nur die Gleichheit im Diagramm bildlich gezeigt, sondern auch der mathematisch unmögliche Sachverhalt. Es stellt sich die Frage, ob und wie dieser im abstrakten mathematischen Modell repräsentiert sein könnte: „reductio contexts serve precisely to assemble a body of assertions which patently could not together be true; hence no genuine geometrical situation could in a serious sense be pictured in which they were“.49 Eine Antwort eröffnet signifikante Eigenschaften der ikonischen Abbildungsrelation in der euklidischen Mathematik. Im gezeichneten Diagramm findet die mathematische Absurdität ihre bildliche Repräsentation in Form der gebogenen Verbindungslinie zwischen den Punkten Ε und Ζ in Verbindung mit der geraden Verbindungslinie zwischen denselben Punkten.

|| 48 In der Manuskripttradition alternativ post. 6. Wenn dieses Axiom bzw. Postulat ein unechter Zusatz ist, gilt der Sachverhalt dennoch aufgrund der Evidenz von und / oder als Implikation aus Euklid, Elem. 1, post. 1: siehe hierzu und zum Text Heath 1926, 1, 195 und 232; vgl. Mueller 1981, 31 f. und De Risi 2016, insbesondere 605. 49 Manders 2008b, 84.

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Dabei geht aus dem Diagramm selbst nicht hervor, dass es sich um eine Absurdität handelt. Dies ruft zwei Einsichten in Erinnerung, die oben gemacht worden sind: (1) Auch in einem reductio-Kontext ist das gezeichnete Diagramm in Hinsicht auf den mathematischen Begründungscharakter gegenüber dem Text der Proposition defizitär, zumindest sekundär; nur der Text des Beweises als wahrheitsfähiges Zeichen stellt fest, dass die besagten Linien Dreiecksbasen sind, denen als eine ihrer grundlegenden Eigenschaften die Eigenschaft der Geradlinigkeit zukommt. Die Feststellung des Widerspruchs ist auf den Text angewiesen. (2) Hiermit verbunden ist, dass das gezeichnete Diagramm in einer Ähnlichkeitsund nicht in einer Identitätsrelation zum abstrakten mathematischen Diagramm steht. Das gezeichnete Diagramm kann die mathematische Absurdität in transparenter Weise nicht direkt abbilden. Gleichwohl kann es auf der Grundlage der im Text den Submodellen zugewiesenen Relationen darauf verweisen, dass das abstrakte Diagramm das Modell eines nicht-mathematischen Sachverhalts enthält, der durch kontradiktorische Attribute gekennzeichnet ist und also in dieser Hinsicht kein Modell der Theorie der Mathematik repräsentiert. Das gezeichnete Diagramm als selbständiger Gegenstand verfügt also über andere Eigenschaften als das abstrakte Diagramm. Es besitzt seine eigenen Attribute – die ja semiotisch gemäß der Definition des icon die sachliche Grundlage dafür sind, als geeignet zur Verwendung als ikonisches Zeichen zu erscheinen – unabhängig von und vorgängig zur Modell-Zeichenrelation. Auf dieser Grundlage wird die Unmöglichkeit, dass ein physikalisch realisiertes Gebilde wie das gezeichnete Diagramm nicht die simultane Koinzidenz kontradiktorischer Eigenschaften darstellen kann, dadurch umgangen, dass das Attribut der Unmöglichkeit auf eine der beiden geraden Linien transferiert wird und diese in Entsprechung zu ihrer Definition im Text eine (ebenfalls per definitionem unmögliche, aber diagrammatisch darstellbare) Koinzidenz kontradiktorischer Attribute aufweist und also hierdurch zu einer ‚nicht-geraden geraden Linie‘ wird und als solche mit der ‚geraden geraden Linie‘ eine Fläche umfasst, also relational im Gesamtmodell das eigentliche mathematische Adynaton repräsentiert. Im Ergebnis weisen das gezeichnete und das abstrakte Diagramm nicht nur nicht-identische relationale Eigenschaften auf, sondern an sich dezidiert verschiedene. Diese werden jedoch in der Zeichenverwendung mittels der hierdurch instituierten ikonischen Abbildungsrelation als äquivalent und mithin ‚ähnlich‘ gedeutet – zumindest insoweit und insofern sich im Rahmen der Theorie der Mathematik eine derartige Abbildungsrelation sinnvoll etablieren lässt. Der entscheidende Schluss ist, dass das gezeichnete Diagramm nicht den eigentlichen mathematischen Sachverhalt direkt repräsentiert; dies kann einzig das abstrakte Diagramm, und zwar in einer aufgrund des Mediums notwendig kategorial anderen Weise. Damit ist das abstrakte Diagramm aber im Prinzip keine (naiv) abstrahierte, gedankliche Form des gezeichneten Diagramms: Mit diesem ist es nicht identisch, sondern nur ‚ähnlich‘, und zwar auf der Grundlage einer spezifischen Abbildungsbeziehung nicht-identischer und nicht einmal (im naiven Sinne) ‚ähnlicher‘ Attribute. Die Nicht-Identität von abstraktem und gezeichnetem Diagramm beruht also

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primär nicht (wie man im Ausgang von Protagoras’ mutmaßlicher Kritik meinen könnte) auf einer inhärenten Ungenauigkeit des gezeichneten Diagramms.50 Insgesamt zeigt sich eine transparente Erklärung des Phänomens der reductio ad absurdum in der euklidischen Mathematik, die die Leistungsfähigkeit der semiotischmodelltheoretischen Beschreibung des Diagramms erweist: Der Schlüssel zum Verständnis ist die Erkenntnis des Unterschieds zwischen abstraktem und gezeichnetem Diagramm, der Natur der zwischen ihnen bestehenden Abbildungsbeziehung sowie des Vorrangs des Textes vor dem Diagramm in semantischer Hinsicht. Im Rest dieses Abschnittes werde ich die mathematische Modellierungspraxis bei Autolykos von Pitane anhand zweier weiterer instruktiver Fallbeispiele untersuchen. Dies wird nicht nur die erzielten Einsichten durch den Einbezug einer breiteren Materialbasis festigen und erweitern, sondern auch einen ersten Schritt von Euklid zurück in die Frühzeit der griechischen Mathematik machen: Zwar sind die genauen Lebensdaten von Autolykos unbekannt, seine beiden erhaltenen Schriften Über die rotierende Kugel und Über Auf- und Untergänge werden jedoch allgemein auf eine Zeit vor Euklid und speziell in die zweite Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. datiert (siehe oben Kap. 1 mit Anm. 14). Diese Schriften aus dem Bereich der mathematischen Astronomie sind – wie oftmals nicht hinreichend berücksichtigt wird – die ersten vollständig erhaltenen Traktate der griechischen Fachmathematik überhaupt.51 Autolykos’ Schriften sind im Großen und Ganzen ähnlich wie Euklids Elemente aufgebaut und stellen sich als Sammlung einzelner Propositionen dar; insofern sie mehr oder weniger auch dieselben darüber hinausgehenden Charakteristika aufweisen, gehören sie ebenfalls der Gattung der ‚Elemente‘ an.52 Um etwaige Unterschiede zu und Gemeinsamkeiten mit der euklidischen Mathematik erkennen zu können, werde ich eine repräsentative Proposition in den Blick nehmen, des im gegebenen Zusammenhang interessanten Diagramms wegen die achte Proposition der Schrift Über die rotierende Kugel:53

|| 50 Diese Explikation des Sachverhalts weist weitreichende Unterschiede zu Netz’ 1999a Deutung auf: vgl. oben Anm. 9. Zu Protagoras (Diels & Kranz 80 B7) vgl. oben mit Anm. 17. 51 Autolykos’ Schriften werden in der Regel nicht der ‚eigentlichen‘, sondern der ‚angewandten‘ Mathematik zugerechnet und aus diesem Grund nicht hinreichend für die Rekonstruktion der Praxis der frühen griechischen Mathematik berücksichtigt. So fehlt zum Beispiel eine Diskussion dieser Texte in Netz 1999a, und auch Cuomo 2001, 79 belässt es in ihrer Geschichte der griechischen Mathematik lediglich bei knappsten Anmerkungen. 52 Für eine knappe Charakterisierung seines Werkes im Kontext antiker Mathematik siehe Cuomo 2001, 79; ausführlicher Heath 1921, 1, 348–353 und vor allem Aujac 2002, 16–27, insbesondere 25–27 (mit Anmerkungen zur mathematischen Methodik). Zu den Gattungscharakteristika und einer Einordnung dieser Schriften in die Gattungstradition der ‚Elemente‘ siehe Asper 2007, 94–98. 53 Das Diagramm zum griechischen Text entspricht demjenigen in Aujacs 2002, 59 Ausgabe; das zur deutschen Übersetzung ist Hultschs 1885, 31 Ausgabe entnommen. Auch Aujac fügt eine ähnlich modernisierte Fassung des (kritisch edierten) originalen Diagramms der französischen Übersetzung bei. Siehe auch oben Anm. 10.

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Οἱ τῶν αὐτῶν ἐφαπτόμενοι μέγιστοι κύκλοι ὧν καὶ ὁ ὁρίζων ἅπτεται, στρεφομένης τῆς σφαίρας ἐφαρμόσουσιν ἐπὶ τὸν ὁρίζοντα. Ἔστω ἐν σφαίρᾳ ὁρίζων ὁ ΑΒΓ, μέγιστος δὲ τῶν μὲν ἀεὶ ἀφανῶν ἔστω ὁ ΛΕ, τῶν δὲ αἰεὶ φανερῶν ἔστω ὁ ΑΔ, ὧν ἐφάπτεται ὁ ΑΒΓ ὁρίζων, καὶ γεγράφθω τις μέγιστος κύκλος ἐφαπτόμενος τῶν ΑΔ ΛΕ ὁ ΔΒΕΓ. Λέγω ὅτι στρεφομένης τῆς σφαίρας ὁ ΔΒΕΓ κύκλος Α ἐφαρμόσει ἐπὶ τὸν ΑΒΓ ὁρίζοντα. Γεγράφθω γάρ τις τῷ ΑΔ παράλληλος κύκλος ὁ ΗΖΘ· ἀσύμπτωτον δή ἐστιν τὸ ἀπὸ τοῦ Δ ἡμικύκλιον ὡς ἐπὶ τὰ Δ Ζ Γ Ε μέρη τῷ ἀπὸ τοῦ Α ἡμικυκλίῳ ὡς ἐπὶ τὰ Α Η Β Λ μέρη. Ἐπεὶ οὖν παράλληΗ Κ λοί εἰσιν κύκλοι οἱ ΑΔ ΖΗΘ, καὶ γεγραμμένοι εἰσὶν κύκλοι μέγιστοι οἱ ΑΒΓ ΔΒΕΓ ἑνὸς μὲν αὐτῶν ἐφαπτόμενοι τοῦ ΑΔ, τὸν δὲ ΗΖΘ Δ Ζ τέμνοντες, καὶ εἰσὶν μεταξὺ τῶν ἀσυμπτώτων ἡμικυκλίων αἱ ΔΚΑ Β ΖΘ ΕΛ περιφέρειαι, ὁμοία ἄρα ἐστὶν ἡ ΔΚΑ περιφέρεια τῇ ΖΗ καὶ τῇ ΕΛ περιφερείᾳ· Ἐν ἴσῳ ἄρα χρόνῳ τὸ Δ τὴν ΔΚΑ περιφέρειαν Λ διελθὸν ἐπὶ τὸ Α παραγίγνεται, καὶ τὸ Ζ τὴν ΖΗ διελθὸν ἐπὶ τὸ Η παραγίγνεται, καὶ ἔτι τὸ Ε τὴν ΕΛ περιφέρειαν διελθὸν ἐπὶ τὸ Λ παραγίγνεται. Ὥστε ἐν τῇ περιφορᾷ τῆς σφαίρας, ὅταν τὸ Δ ἐπὶ τὸ Α παραγένηται, τότε καὶ τὸ Ζ ἐπὶ τὸ Η παρέσται καὶ τὸ Ε ἐπὶ τὸ Λ, καὶ ἐφαρμόσει ἡ ΔΖΕ περιφέρεια ἐπὶ τὴν ΑΗΛ. Ὥστε καὶ ὅλος Ε ὁ ΔΒΕΓ κύκλος ἐφ’ ὅλον τὸν ΑΒΓ κύκλον ἐφαρμόσει· εἰ γὰρ οὐκ ἐφαρμόσει, δύο κύκλοι τεμοῦσιν ἀλλήλους κατὰ πλείονα σημεῖα ἢ δύο, ὅπερ ἐστὶν ἄτοπον. Στρεφομένης ἄρα τῆς σφαίρας ἐφαρμόσει ὁ ΔΒΕ κύκλος ἐπὶ τὸν ΑΒΓ κύκλον.

Θ

Γ

Die Großkreise, die dieselben Kreise berühren, die auch der Horizont berührt, fallen bei einer Drehung der Kugel mit dem Horizont zusammen. Es sei in einer Kugel ein Horizont ΑΒΓ, ein größter Kreis ΛΕ aus der Menge der immer unsichtbaren Kreise sowie ein größter Kreis ΑΔ aus der Menge der immer sichtbaren Kreise, welche beide der Horizont ΑΒΓ berührt, und es werde ein Großkreis ΔΒΕΓ gezeichnet, der die Kreise ΑΔ und ΛΕ berührt. Ich sage, dass bei einer Drehung der Kugel der Kreis ΔΒΕΓ mit dem Horizont ΑΒΓ zusammenfällt. Es werde nämlich ein Kreis ΗΖΘ parallel zum Kreis ΑΔ gezeichnet; der Halbkreis ausgehend vom Punkt Δ in Richtung Δ Ζ Γ Ε schneidet sich nicht mit dem Halbkreis ausgehend vom Punkt Α in Richtung Α Η Β Λ. Da nun die Kreise ΑΔ und ΖΗΘ parallele Kreise sind und die Großkreise ΑΒΓ und ΔΒΕΓ gezeichnet worden sind als Kreise, die den einen Kreis von ihnen, den Kreis ΑΔ, berühren und den anderen Kreis, den Kreis ΗΖΘ, schneiden und da die Umfangssegmente ΔΚΑ, ΖΘ und ΕΛ zwischen den sich nicht schneidenden Halbkreisen liegen, ist also das Umfangssegment ΔΚΑ ähnlich zum Umfangssegment ΖΗ und zum Umfangssegment ΕΛ. In derselben Zeit also durchschreitet der Punkt Δ das Umfangssegment ΔΚΑ und gelangt zum Punkt Α, durchschreitet der Punkt Ζ das Umfangssegment ΖΗ und gelangt zum Punkt Η und durchschreitet ferner der Punkt Ε das Umfangssegment ΕΛ und gelangt zum Punkt Λ. So ist in der Drehung der Kugel genau dann, wenn der Punkt Δ zum Punkt Α gelangt, auch der Punkt Ζ beim Punkt Η und der Punkt Ε beim Punkt Λ, und es fällt das Umfangssegment ΔΖΕ mit dem Umfangssegment ΑΗΛ zusammen. So fällt auch der gesamte Kreis ΔΒΕΓ mit dem gesamten Kreis ΑΒΓ zusammen. Wenn er nämlich nicht mit ihm zusammenfällt, schneiden sich zwei Kreise in mehr als zwei Punkten, was unmöglich ist. Bei einer Drehung der Kugel fällt also der Kreis ΔΒΕ mit dem Kreis ΑΒΓ zusammen.

Für den gegebenen Zusammenhang sind die folgenden Punkte festzuhalten:

Drei weitere Diagramme | 101

(1) Bei Autolykos findet sich im Wesentlichen dasselbe Schema der Proposition, wie es in Euklids Elementen Anwendung findet: Eine Protasis formuliert die allgemeine Erkenntnis, die in dieser Proposition zu beweisen ist (erster Absatz), woraufhin eine Ekthesis ein diagrammatisches Modell eines zum Beweis zweckdienlichen, implizit durch die Protasis gegebenen mathematischen Sachverhalts generiert (zweiter Absatz, erster Satz), in Bezug auf welches die Protasis in Form eines Dihorismos spezifiziert wird (zweiter Absatz, zweiter Satz). Es folgt eine, wenn auch knappe, Kataskeue, in der ein weiteres Submodell erzeugt wird (dritter Absatz, erster Satz), die zu dem eigentlichen Beweis, der Apodeixis, führt (dritter Absatz, Rest), und zum Abschluss fasst ein Symperasma als Schlussfolgerung das Ergebnis zusammen. (2) Es finden sich nur insignifikante Abweichungen zu Euklid, unter anderem die folgenden: Erstens werden bereits in der Ekthesis Submodelle erzeugt, die sich nicht unmittelbar in der Protasis finden, und bereits in der Kataskeue werden analytische Verweise auf relationale Eigenschaften des Gesamtmodells vorgenommen (alternativ ließe sich der dritte Absatz anders gliedern und die ‚Kataskeue‘ als Beginn der Apodeixis interpretieren). Zweitens spiegelt das Symperasma nicht die Protasis, sondern eher (wenn auch variiert) den Dihorismos, operiert mithin mit einem Verweis auf das in der Proposition erzeugte Modell. Beide Abweichungen haben jedoch keine Auswirkungen auf die grundsätzliche Gleichheit des Vorgehens bei Euklid und Autolykos: Auch bei Autolykos wird ein Modell eines holistischen mathematischen Sachverhalts erzeugt, das in einem zweiten Schritt in der Apodeixis analysiert wird, gefolgt von der Feststellung des Erfolgs des angestrebten Beweises am Schluss der Proposition.54 (3) Autolykos generiert das mathematische Modell sprachlich in paralleler Weise zu Euklid, insofern nämlich die Submodelle durch Imperative der dritten Person erzeugt und sogleich mit einem Bezeichner belegt werden. Wenn auch die Imperative des Verbs εἶναι eine Deutung im Sinn des oben zurückgewiesenen traditionellen Verständnisses der Ekthesis zuzulassen scheinen, zeigt der Imperativ γεγράφθω, dass dies nicht der Fall sein kann: Das Verb γράφειν impliziert einen Akt der Modellierung. In der Ekthesis geht es also wie bei Euklid nicht um die Zuweisung von Namen an Objekte, sondern um die Generierung eben dieser Objekte selbst.55 Weiter ist bemer-

|| 54 Wie oben mit Anm. 41 angemerkt, ist die Variabilität an sich nicht problematisch; sie findet sich schon bei Euklid: siehe Netz 1999a, 253 und vor allem Netz 1999b, insbesondere 290–294 zur (hier relevanten) Konstruktion von Objekten in der Apodeixis. 55 Dasselbe ergibt sich aus γεγραμμένοι εἰσίν, worin ein expliziter Bezug auf die eigene Modellierungstätigkeit vorliegt. Letztlich wäre der Befund derselbe, wenn man das Verb εἶναι etwa im ersten Satz der Ekthesis als Kopula fassen wollte, denn Subjekt wäre ὁ ΑΒΓ und Prädikatsnomen ὁρίζων. Sachlich wäre impliziert, dass ein mathematisches Objekt als spezifisches Attribut der Kugel interpretiert würde, und dies implizierte seinerseits, dass dieses mathematische Objekt vorher erzeugt worden sein müsste, und zwar in derselben Weise als diagrammatisches Modell. Der Unterschied zur oben explizierten Deutung bestünde folglich nur dahingehend, dass kein expliziter, sondern lediglich ein impliziter Akt der Modellierung vorläge. Gegen diese Auffassung spricht jedoch andererseits

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kenswert, dass die Apodeixis wie bei Euklid dadurch operiert, dass sie sich analytisch auf die relationalen Eigenschaften des Gesamtmodells bezieht, die sich aus den relationalen Eigenschaften der Submodelle sowie aus den sich aus ihrer Kombination im Gesamtmodell ergebenden relationalen Eigenschaften additiv zusammensetzen. (4) Die in der Proposition genutzten relationalen Eigenschaften haben einen universellen Charakter und beziehen sich auf die von allen entsprechenden mathematischen Objekten geteilten Eigenschaften: Zum Beispiel ist nur bestimmt, dass es einen Schnittpunkt gibt, nicht hingegen, wo. Hierfür ursächlich ist ein Umstand, der bisher nur angedeutet wurde: Wie generell auch bei Euklid sind die relevanten mathematischen Relationen niemals exakt im Sinne von numerisch metrisch bestimmt und können also potentiell eine unbestimmte Anzahl von numerischen Werten repräsentieren. Die Relationen sind, mit einem anderen Wort, in einer qualitativen Weise quantitativ. Als Parameter nehmen sie aktual nur wenige ausgewählte Werte an, und diese sind in der Regel binär und damit (natürlich in Abhängigkeit von der Natur des Parameters) wahrheitsfähig konstituiert; Beispiele sind ‚Gleichheit‘, ‚Kongruenz‘, ‚SichSchneiden‘, ‚Größer-als‘ und ‚Kleiner-als‘. So ist etwa beim Sich-Schneiden ein auffälliges Merkmal, dass nicht der Schnittpunkt selbst wie in der modernen analytischen Geometrie in einem (etwa) auf der Menge der reellen Zahlen basierenden Koordinatensystem exakt lokalisiert wird; und dass die Größer-als- und Kleiner-als-Relation in den Beweisen in der Regel nicht mit einem konkreten Wert im Sinn eines Verhältnisses (etc.) verbunden ist, etwa ‚dreimal so groß wie‘. Dies überrascht um so mehr, als bestimmte Größen, etwa Längen und (bestimmte) Winkel messbar und also in ein Verhältnis zueinander zu setzen gewesen wären.56 Diese Beobachtung wird sich im weiteren Verlauf der Analyse als signifikant erweisen, unter anderem in Hinsicht auf die im nächsten Abschnitt behandelte Frage der Generalität und Partikularität des antiken mathematischen Beweises, aber auch für ein Verständnis der frühen griechischen Mathematik überhaupt, auch und gerade bei Platon. Was die bei Autolykos (und Euklid) verwendeten Relationen angeht, überrascht ein zweiter, oft nicht genug beachteter Umstand, der sich besonders in einem Bereich || die sachlich exakte Parallelität der Imperative ἔστω und γεγράφθω. Eindeutig ist der Fall der sogleich angeführten Proposition Autolykos, Sph. 3; hier wird im ersten Satz der Ekthesis durch Ἔστω σφαῖρα ἧς ἄξων ὁ ΑΒ […] eine Kugel konstruiert, aber nicht benannt. 56 Manders beschreibt diese Eigenschaften (etwas irreführend) als ‚ko-exakte Eigenschaften‘, das heißt Eigenschaften, „that are insensitive to the effects of a range of variation in diagram entries“, von denen man also sagen könne, dass „they express the topology of the diagram“ (die Zitate: Manders 2008a, 69 bzw. 2008b, 93; siehe auch insgesamt Manders 2008b, insbesondere 91–94); gleichwohl stellt er (zu Recht) heraus, dass bei Euklid mit Bezug auf das Diagramm niemals ‚exakte‘ (im Sinn von numerisch exakte) Eigenschaften von Relevanz sind. Dies fordert allerdings die methodologische Frage heraus, ob es zielführend ist, Parameter, die essentiell nicht exakt-numerisch konstituiert sind, als defizitär numerisch-exakte Parameter zu beschreiben. Vgl. die weitere Diskussion, insbesondere Anm. 71 mit weiterführender Literatur zu den zahlreichen Ansätzen aus jüngerer Zeit zum Verständnis des euklidischen Diagramms aus topologischer Perspektive.

Drei weitere Diagramme | 103

wie der sphärischen Geometrie zeigt, der die angeführte Proposition angehört. Es lohnt sich, in diesem Sinn eine weitere instruktive und repräsentative Proposition in den Blick zu nehmen, die dritte Proposition in Über die rotierende Kugel:57 Α Ἐὰν σφαῖρα στρέφηται ὁμαλῶς περὶ τὸν ἑαυτῆς ἄξονα, ἃς ἐν ἴσῳ χρόνῳ περιφερείας διεξέρχεται σημεῖά τινα τῶν παραλλήλων κύκλων καθ’ ὧν φέρεται, αὗται ὅμοιαί εἰσιν. Ε Γ Ἔστω σφαῖρα ἧς ἄξων ὁ ΑΒ, πόλοι δὲ τὰ Α Β σημεῖα, καὶ εἰλήφθω τινὰ σημεῖα ἐπὶ τῆς ἐπιφανείας τῆς σφαίρας τὰ Γ Δ, καὶ ἔστωσαν παράλληλοι κύκλοι καθ’ ὧν φέρεται τὰ Γ Δ σημεῖα οἱ ΓΕ ΔΖ, καὶ ἐν ἴσῳ χρόνῳ τὸ Γ Ζ σημεῖον τὴν ΓΕ περιφέρειαν διαπορευέσθω καὶ τὸ Δ σημεῖον τὴν ΔΖ πε- Δ Η ριφέρειαν. Λέγω ὅτι ὁμοία ἐστὶν ἡ ΓΕ περιφέρεια τῇ ΔΖ περιφερείᾳ. Εἰ γὰρ μὴ ἔστιν ὁμοία ἡ ΓΕ περιφέρεια τῇ ΔΖ, ἔστω ὁμοία ἡ ΓΕ τῇ ΔΗ. Β Ἐν ἴσῳ ἄρα χρόνῳ τὸ Γ σημεῖον τὴν ΓΕ περιφέρειαν διαπορεύεται καὶ τὸ Δ τὴν ΔΗ. Ἀλλὰ καὶ ἐν ἴσῳ χρόνῳ τὸ Γ τὴν ΓΕ διαπορεύεται καὶ τὸ Δ τὴν ΔΖ. Ἐν ἴσῳ ἄρα χρόνῳ τὸ Δ τὴν ΔΖ διαπορεύεται καὶ τὸ Δ τὴν ΔΗ. Καὶ εἰσὶν τοῦ αὐτοῦ κύκλου· ἴση ἄρα ἐστὶν ἡ ΔΗ τῇ ΔΖ, ἡ ἐλάσσων τῇ μείζονι, ὅπερ ἐστὶν ἀδύνατον. Οὐκ ἄρα ὁμοία ἐστὶν ἡ ΓΕ τῇ ΔΗ. Ὁμοίως δὴ δείξομεν ὅτι οὐδὲ ἄλλῃ τινὶ πλὴν τῇ ΔΖ. Ὁμοία ἄρα ἐστὶν ἡ ΓΕ περιφέρεια τῇ ΔΖ περιφερείᾳ. Wenn eine Kugel sich gleichförmig um ihre eigene Achse dreht, sind diejenigen Umfangssegmente ähnlich, die irgendwelche Punkte in derselben Zeit auf denjenigen parallelen Kreisen durchschreiten, denen entlang sie sich bewegen. Sei eine Kugel, die eine Achse ΑΒ habe und als Pole die Punkte Α und Β; werden irgendwelche Punkte Γ und Δ auf der Oberfläche der Kugel genommen; werden parallele Kreise ΓΕ und ΔΖ konstruiert, denen entlang sich die Punkte Γ und Δ bewegen; und durchschreite in derselben Zeit der Punkt Γ das Umfangssegment ΓΕ wie der Punkt Δ das Umfangssegment ΔΖ. Ich sage, dass das Umfangssegment ΓΕ ähnlich dem Umfangssegment ΔΖ ist. Wenn nämlich das Umfangssegment ΓΕ nicht dem Umfangssegment ΔΖ ähnlich ist, sei das Umfangssegment ΓΕ dem Umfangssegment ΔΗ ähnlich. In derselben Zeit also durchschreitet der Punkt Γ das Umfangssegment ΓΕ wie der Punkt Δ das Umfangssegment ΔΗ. Aber ebenfalls in derselben Zeit durchschreitet der Punkt Γ das Umfangssegment ΓΕ wie der Punkt Δ das Umfangssegment ΔΖ. In derselben Zeit durchschreitet also der Punkt Δ das Umfangssegment ΔΖ wie der Punkt Δ das Umfangssegment ΔΗ, und beide gehören zu demselben Kreis. Gleich groß sind also die Umfangssegmente ΔΗ und ΔΖ, das kleinere und das größere, was unmöglich ist. Nicht also ist das Umfangssegment ΓΕ dem Umfangssegment ΔΗ ähnlich. In gleicher Weise werden wir zeigen, dass es auch nicht einem anderen Umfangssegment ähnlich ist außer ΔΖ. Ähnlich also ist das Umfangssegment ΓΕ dem Umfangssegment ΔΖ.

Das in dieser (in Form und Ausführung evident ‚euklidischen‘) Proposition behandelte Problem involviert Bewegung, und es wird im textlichen Teil der Proposition auch tatsächlich eine Bewegung beschrieben. Gleichwohl ist die Bewegung als solche für || 57 Das Diagramm zum griechischen Text entspricht demjenigen in Aujacs 2002, 48 Ausgabe; das zur deutschen Übersetzung ist Hultschs 1885, 11 Ausgabe entnommen; vgl. oben Anm. 53.

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den Beweis irrelevant; betrachtet werden nur ihr Anfangs- und Endpunkt. Dies legt einen wesentlichen Charakter der für die antike Mathematik relevanten Relationen und hierüber eine grundlegende Eigenschaft des mathematischen Diagramms im Allgemeinen offen: Wie in dieser Proposition werden nur Relationen behandelt und modellhaft dargestellt, die sich in Form einer statischen Struktur ausdrücken lassen. Wenn Bewegung involviert ist, wird sie virtuell in zwei statische ‚Diagramme‘ (= Modelle) überführt, die separat den Anfangs- bzw. Endzustand repräsentieren – und von ihnen ist in der Regel nur einer im gezeichneten Diagramm abgebildet. In jedem Fall ist die Mitte, also die eigentliche Bewegung, nicht berücksichtigt – und mithin als solche der antiken mathematischen Beschreibung prinzipiell unzugänglich: Antike Mathematik hat einen statischen Charakter, einschließlich der von ihr genutzten Modelle, und zwar auch dann, wenn es um die Modellierung genuin dynamischer Prozesse geht. Dies ist ein grundlegender Unterschied zur modernen Mathematik, für die, gerade in ihrer Anwendung in der Physik, (als Differentialgleichungen ausgedrückte) Funktionen zentral sind, welchen eine inhärente Dynamik zu eigen ist.58 (5) Hinsichtlich der konkreten Gestaltung des gezeichneten diagrammatischen Modells ist auffällig, dass es die mathematischen Sachverhalte in überraschender Weise abbildet: Nicht nur wird eine dreidimensionale Situation der sphärischen Geometrie in eine zweidimensionale Darstellung überführt, sondern dies geschieht derart, dass die resultierende Abbildung nicht der direkten Wahrnehmung entsprechen könnte: Kreise, die von oben betrachtet ineinander oder die von der Seite betrachtet untereinander liegen müssten, sind in kontraintuitiver Weise so miteinander verbunden, wie man sie niemals betrachten könnte.

|| 58 Siehe zu diesem Unterschied knapp Lattmann 2016, 247 f. Ein instruktives Beispiel ist Archimedes’ Sandrechner (zu diesem Traktat insgesamt siehe Netz 2005): Der Umstand, dass antike Mathematik und mithin mathematische Astronomie mit statischen Diagrammen operierte, lässt es Archimedes als interessante Frage erscheinen, die Zahl der Sandkörner im Universum zu berechnen, welches also metaphorisch entsprechend als festes Gefäß konzipiert wird. So sehr diese Idee einerseits auf den mathematischen Ansatz der Analyse von Struktur zurückgeführt werden kann, ist andererseits evident, dass im Rahmen moderner Physik eine derartige Frage gerade nicht interessant wäre; anstatt dessen würde mit zum Beispiel Newton oder Einstein danach gefragt werden, wie sich die (mechanische etc.) Dynamik des Universums, die Bewegung und Interaktion von ‚Materie‘ erklären ließe. Zwei weitere instruktive Beispiele sind Aristarchs erhaltene Schrift Über die Größen und Abstände von Sonne und Mond, in denen die Propositionen ebenfalls das Ziel der Analyse der Relationalität von statischen Strukturen haben, und Eratosthenes’ Berechnung des Umfangs der Erde, wie sie bei Kleomedes überliefert ist (De motu circ. 1, 10, 52). Dieser grundlegende Unterschied spiegelt sich auch in modernen Analysen des euklidischen Diagramms, etwa an Millers 2007 Versuch, die Konsistenz mathematischen Schließens bei Euklid mittels eines topologischen Ansatzes zu beweisen: Im Ergebnis steht einem einzigen originalen Diagramm bei Euklid eine Reihe hypothetisch erschlossener einzelner Diagramme gegenüber, die die inferentiellen Schritte repräsentieren (vgl. Macbeth 2010). Ein solcher Ansatz ist jedoch angesichts des prinzipiell statischen Charakters antiker Mathematik ahistorisch und als Erklärung der antiken Praxis weniger geeignet.

Drei weitere Diagramme | 105

Zwei relevante Punkte folgen: Erstens dienen antike mathematische Diagramme primär nicht der naiven Visualisierung, sondern der diagrammatisch-ikonischen Repräsentation von beweisrelevanten mathematischen Relationen. In der Tat wird dies durch die gewählte Form der Abbildung auch erreicht, im Vergleich mit der modernisierten (quasi-) dreidimensionalen Darstellung durch Hultsch vielleicht sogar in klarerer Weise, insofern nämlich die in der Apodeixis verwendeten Relationen in transparenter Weise vom Diagramm abgelesen werden können, nicht zuletzt deshalb, weil das Diagramm eben gerade keinen Aufwand zur Erzeugung eines dreidimensionalen Kontextes betreibt, sondern auf die beweisrelevanten Relationen reduziert ist. Zweitens erweist sich auch aus diesem Blickwinkel, dass das Diagramm in der antiken Mathematik nicht nur akzidentell, sondern intendiert als eigenständiger Gegenstand mit spezifischen Attributen und Relationen konzipiert ist, auf den die Attribute und Relationen des semiotischen Objekts mit Hilfe einer für den spezifischen Fall eigens etablierten Abbildungsfunktion abgebildet werden, und dass, solange diese nicht mit der mathematischen Theorie in unauflöslichem Widerspruch steht, das gezeigte Modell als adäquates Modell des modellierten Objekts gelten muss. Insgesamt ergibt sich ein eindeutiges Fazit: Zwischen Euklids und Autolykos’ mathematischer Modellierungspraxis gibt es keine signifikanten Unterschiede. Vielmehr festigen und erweitern die festgestellten Unterschiede im Detail die zu Euklid erzielten Ergebnisse. Bei beiden Autoren zeigt sich als grundlegende mathematische Methode, zum Zweck des Beweises einer spezifischen mathematischen Tatsache (oder der Möglichkeit der effektiven Konstruktion eines mathematischen Objektes) intentional ein kompositionales mathematisches Modell aus Submodellen, welche die basalen mathematischen Objekte repräsentieren, zu konstruieren, das dann in Hinsicht auf die mit den Submodellen an sich und in ihrer spezifischen Kombination gegebenen mathematischen Relationen zielgerichtet analysiert wird, wobei diese Relationen sowohl universell als auch basal qualitativ-quantitativer Natur sind. Diese Methode findet ihren Niederschlag in einer im Einzelnen gleichförmigen und im Großen und Ganzen identischen Form der Präsentation, nämlich im Schema ‚Behauptung‘ – ‚Modellgenerierung‘ – ‚Modellanalyse‘ – ‚Schlussfolgerung‘. Das primäre Modell ist in beiden Fällen abstrakt, tritt aber als nachrangiges visuelles Modell in einer raumzeitlich konkretisierten (‚gezeichneten‘ oder ‚gedruckten‘) Form entgegen. Angesichts dieses Ergebnisses beginnt die ‚euklidische‘ Mathematik spätestens mit Autolykos. Die hier und bei Euklid anzutreffende Methodik repräsentiert offenkundig die Methodik der klassischen griechischen Fachmathematik ab spätestens etwa der Mitte der zweiten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. Diese scheint in jedem Fall weiter in die Vergangenheit zurückzureichen, nicht nur weil wir andernfalls von Autolykos als bedeutendem Erneuerer der Mathematik wüssten, sondern auch deshalb, weil sich in seinen Schriften wie in Euklids Elementen Verweise auf mathematische Erkenntnisse finden, die zumindest für ihn denselben methodischen Stellenwert wie seine eigenen Propositionen haben, wie etwa am Ende der Apodeixis von Autolykos, Sph. 1. Autolykos bezieht sich also auf von anderen Mathematikern bewiesene Propo-

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sitionen, so dass diese ihm vorgelegen haben müssen, und zwar in der von ihm angeführten Form und mithin gewonnen mittels derselben modellierungsbasierten Methode.59 Konkret mit Bezug auf den Inhalt von Autolykos’ Schriften lässt sich speziell an eine Tradition denken, die mit Eudoxos begonnen zu haben scheint: Zumindest expliziert Autolykos in mathematischer Weise die Eigenschaften der Kugel, wie sie im Rahmen einer Beschreibung des Sternenhimmels relevant sind, die Eudoxos in dieser Form als erster vorgelegt hat (vgl. oben Kap. 2 sowie unten Kap. 5.5). Ein Indiz hierfür ist, dass er im gegebenen Beispiel etwa die geometrischen Eigenschaften der allem Anschein nach erstmals von Eudoxos eingeführten ‚immer sichtbaren Kreise‘ und ‚immer unsichtbaren Kreise‘ voraussetzt und untersucht.60 Gleichwohl zeigt sich ein signifikanter Unterschied zwischen Euklid und Autolykos: In Autolykos’ Schriften fehlt eine axiomatische Grundlegung zu Beginn, und die Propositionen sind, trotz der Verweise auf Propositionen bei anderen Autoren, nicht wie bei Euklid in eine im Großen und Ganzen streng deduktive, aufeinander aufbauende Abfolge gebracht.61 Ihnen fehlt die explizite und dezidierte axiomatisch-deduktive Verfasstheit, die ja oft für das eigentliche Charakteristikum griechischer Mathematik gehalten wird. Wenn wir die gleichzeitige Identität der modellbasierten Methode bei Autolykos und Euklid aber andererseits als Indiz dafür interpretieren, dass diese Methode ein in höherem Maße essentielles, zumindest älteres Charakteristikum darstellt, erwiesen sich Schriften wie Autolykos’ Traktate als mehr oder weniger um-

|| 59 Diese Ergebnisse decken sich im Grundsatz mit der communis opinio zu Autolykos: vgl. Heath 1921, 1, 348 f. Sie gehen aber insofern darüber hinaus, als auch die spezifische Art des Modells mitsamt den von ihm repräsentierten Relationen und seiner Erzeugung als identisch zu Euklid erwiesen werden konnte. Dass der Aufbau der Proposition identisch mit derjenigen bei Euklid ist und sich Autolykos auf andere Mathematiker bezieht, impliziert allerdings noch nicht, dass all dies „était déjà depuis longtemps en usage en Grèce […]“, so dass „nous ne pouvons douter que ce soit là la résultat d’une longue tradition qui se perpétuera durant des siècles“ (Aujac 2002, 25; meine Hervorhebungen). 60 Vgl. Lasserre 1966, 179 f. zur Frage, ob Eudoxos eine ‚Sphärik‘ vorgelegt hatte (mit Literatur). Zumindest gibt es für solche Werke vor Eudoxos keinen einzigen Beleg. Zwar ist dies strenggenommen auch für Eudoxos der Fall, doch sind die sachlichen Zusammenhänge in seinem Modell der Himmels‚Kugel‘ vorausgesetzt und also in jedem Fall implizit gegeben; und andererseits zeigen sich dieselben Beschreibungskategorien nach Eudoxos bei Autolykos und Arat sowie in Euklids Phainomena. Zu Eudoxos’ in dieser Hinsicht relevanter und die Frage eigentlich hinreichend klärender Erfindung der Himmelskreise (fr. 62–80) siehe Lasserre 1966, 193–195 und vgl. oben Kap. 2 sowie unten Kap. 5.5. 61 Der Traktat Über die rotierende Kugel beginnt sogleich mit der ersten Proposition. Am Anfang von Über Auf- und Untergänge finden sich zwar Definitionen, diese betreffen aber nicht die mathematischen Objekte, sondern die astronomischen Sachverhalte, die im Traktat behandelt werden. So finden sich etwa Anmerkungen dazu, dass es „wahre“ und „erscheinende“ Auf- und Untergänge gebe etc., aber keine mathematischen Definitionen, Postulate oder Axiome, die unmittelbar die mathematischen (und speziell geometrischen) Sachverhalte und damit die relationale Konstitution der Modelle betreffen. Die (astronomischen) Definitionen dienen vielmehr einzig dazu, die Interpretation und Anwendung der mathematischen Modelle in Hinblick auf die im Traktat behandelten astronomischen Phänomene zu determinieren, sind also strenggenommen außermathematisch.

Generalität und Partikularität | 107

fangreiche Darstellungen von in der Gesamtheit für wichtig gehaltenen Modellierungen mathematischer Sachverhalte in einem bestimmten mathematisch-relational repräsentierbaren Gegenstandsbereich zum Zweck des Gewinnens und Beweisens allgemeiner mathematischer Erkenntnis. Primär handelt es sich bei solchen Elementenschriften dann um Kompilationen einzelner, an sich unverbundener Propositionen – oder, mit einem anderen Wort, um ‚Elemente‘ mathematisch interessanten Wissens.

3.4 Generalität und Partikularität Auf der Grundlage der so weit explizierten und anhand der Analyse von Fallbeispielen abgesicherten modelltheoretischen Deutung des antiken mathematischen Diagramms diskutiert dieses Kapitel ein zentrales Problem, das der Gebrauch von Diagrammen in der ‚euklidischen‘ Mathematik aufwirft, nämlich die epistemische Valenz des antiken mathematischen Beweises. Ich werde eine Möglichkeit aufzeigen, wieso ihm das Attribut der Allgemeingültigkeit zugesprochen werden konnte, obwohl er im Gegensatz zur allgemein formulierten Protasis allem Anschein nach ohne explizite Verallgemeinerung am konkreten Einzelfall, dem Diagramm, operiert.62 In der Forschung wurde die plausibelste Lösung des Problems in der Annahme gesehen, dass „to prove a particular case is to count as proving a general proposition“, wobei „generality is the repeatability of necessity“.63 Wenngleich also die antiken Mathematiker in diesem Sinn der in der Proposition mittels des Diagramms gewonnenen mathematischen Einsicht eine Allgemeingültigkeit zugesprochen hätten, besäße sie diese objektiv nicht, zumindest nicht in einem eigentlichen, strengen Sinn. Jede mathematische Proposition hätte epistemologisch lediglich den Status einer Behauptung. Der antike mathematische ‚Beweis‘ hätte damit einen prekären Status, insbesondere aus der Perspektive der modernen Logik: How can one move from an argument based upon a particular example to a general conclusion, from an argument about the straight line AB to a conclusion about any straight line? I do not believe that the Greeks ever answered this question satisfactorily […]. […]. [T]here is no reason to suppose the Greeks to have had anything like modern logic to represent actual mathematical argument, and the Euclidean style makes it look as though a proof is thought of as being carried out with respect to a particular object, but in a way assumed to be generalizable. In the absence of something like the rules of logic there is no uniform procedure for checking the correctness of this assumption in individual cases. Rather one must rely on general mathematical intelligence.64

|| 62 Vgl. oben Kap. 3.1. Siehe zum Problem Mueller 1981, 12–14, Netz 1999a, 240–270 und Manders 2008a, 72–75. Raymond 2011 gibt, wenn auch aus einer anderen Perspektive, eine ähnliche Erklärung. 63 Mueller 1981, 13 bzw. Netz 1999a, 270. 64 Mueller 1981, 13 bzw. 14.

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So gravierend das Problem zu sein scheint, erweist der modelltheoretische Ansatz es als Scheinproblem. Der Status des antiken mathematischen Beweises ist nur dann prekär, wenn man einen verdeckten, aber gravierenden Unterschied zwischen euklidischer und moderner Mathematik nicht hinreichend beachtet:65 Gewöhnlich wird das Vorgehen bei Euklid in einer dem modernen Vorgehen entsprechenden Weise so verstanden, dass ein konkreter, partikularer Kreis (und nicht ‚der‘ Kreis) für den Beweis herangezogen wird – etwa im Sinne der Aussage ‚BCD sei ein Element aus der Menge der Kreise‘, in konzeptueller Entsprechung zu der oben angeführten traditionellen Übersetzung der Ekthesis in Euklid, Elem. 1, 166 – und dass sodann einzig an diesem Einzelfall der Beweis vollzogen wird. Damit wird implizit erstens unterstellt, dass das im Beweis diskutierte Objekt ein partikulares Objekt der Klasse eines bestimmten mathematischen Objekts, mithin ein Element einer Menge gleichartiger Objekte ist; und zweitens, dass ein solches partikulares Objekt in beweisrelevanter Hinsicht über Eigenschaften verfügt, die es von allen anderen gleichartigen partikularen Elementen dieser Menge unterscheidet. Dies ist mutatis mutandis äquivalent dazu, dieses Element als Variable aufzufassen, äquivalent zu etwa n ε N, wobei zugleich im Rahmen moderner Mathematik aufgrund der axiomatischen Grundlage per Definition gilt, dass n ≠ n+1.67 Euklidische Mathematik hätte in diesem Sinn am Beispiel ‚eines‘ Kreises operiert, der stellvertretend für die Klasse von potentiell unendlich vielen herangezogen worden wäre. Dann aber wäre in der Tat der Schritt vom partikularen Objekt zur allgemeinen Erkenntnis zu allen gleichartigen Objekten (also zu allen Kreisen) virulent. Epistemologisch ist schließlich die Allgemeingültigkeit einer am Einzelfall gewonnenen Erkenntnis prekär. Entsprechend hat die moderne Mathematik ja auch ein methodisches Instrumentarium entwickelt, das den Zweck hat, den Beweis eines Einzelfalls valide und verlässlich zu verallgemeinern, etwa mittels des Werkzeugs der vollständigen Induktion.

|| 65 Zur wissenschaftshistorischen Problematik allgemein siehe konzise Klein 1968, 117–125. 66 Vgl. Muellers 1974, 40 Darstellung und exemplarisch Heaths 1926 Übersetzung von Euklid, Elem. 1, 1: „Let AB be the given finite straight line.“ Dasselbe gilt für seine in den Anmerkungen (242) gegebene „strictly literal“ Übersetzung „let the given finite straight line be the (straight line) AB“. 67 Aus der Perspektive der antiken (und speziell platonischen) Mathematik erinnert White 1975 umgekehrt daran, dass die Pointe von speziell Hilberts Geometrie ja gerade darin besteht, die in den Axiomen verwendeten Begriffe nicht als Referenzen auf die physikalische Welt, sondern als Variablen zu verstehen, für die die Axiome der Theorie wahr sind – oder, wie sie sich hier beschreiben lassen, als ‚Modelle‘ der Theorie der Geometrie. Siehe grundlegend Weyl 1966, 34–46; vgl. Hoffmann 2004. Die Interpretation der antiken Geometrie in diesem Sinn liegt natürlich aus der Perspektive der modernen Mathematik nahe, insbesondere deshalb, weil sie eine wichtige Dimension des Projekts ihrer Axiomatisierung erfüllt: „Die Widerspruchslosigkeit der euklidischen Geometrie aber kann, unabhängig von dem Glauben an ihre Wahrheit und ihren nur in der Raumanschauung aufzuweisenden Grundbegriffen, durch ein arithmetisches Modell erhärtet werden“ (Weyl 1966, 38). Damit aber wird aus der empirisch-fundierten Geometrie Euklids die auf arbiträr gesetzten Axiomen basierte und allein aus ihnen abgeleitete Geometrie Hilberts.

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Gleichwohl ist dieses Problem primär nur ein Problem der modernen, nicht der euklidischen Mathematik. Im Rahmen der euklidischen Mathematik besteht vielmehr keine Veranlassung, Methoden wie die vollständige Induktion zu entwickeln,68 denn tatsächlich operiert sie keineswegs mit ‚Variablen‘ (oder einem Äquivalent dazu). Der Beweis erfolgt nämlich nicht in Hinsicht auf die Eigenschaften des partikularen Objekts (als eines Elements einer Menge),69 sondern der Gegenstand des Beweises ist ein in der Proposition erzeugtes abstraktes Modell, das wiederum nicht ein partikulares Objekt repräsentiert, sondern das (trotz seiner in gewisser Hinsicht sekundär gegebenen eigenen Partikularität, insoweit es sich nämlich um ein Modell handelt) effektiv für das mathematische Objekt als solches mitsamt seinen Attributen und Relationen steht, welche wiederum einzig die allgemeinen Attribute und Relationen der mathematischen Theorie repräsentieren. Zu ihnen gehört es aber gerade nicht, dass sich ein Element des gleichen Typs in beweisrelevanter Hinsicht von einem anderen unterscheidet. Gewährleistet wird dies dadurch – und dies ist die entscheidende Pointe –, dass als ‚beweisrelevant‘ in der mathematischen Praxis allem Anschein nach nur diejenigen Attribute und Relationen galten, in Hinsicht auf die sich die jeweiligen mathematischen Modelle gerade nicht voneinander unterscheiden; sie ergeben sich (direkt und indirekt) insbesondere aus den Definitionen, die sich etwa bei Euklid finden.70 Eine Folge hieraus ist, dass eben nicht metrisch oder numerisch exakt quanti-

|| 68 Vgl. Unguru 1991, Fowler 1994 und Netz 1999a, 269. Siehe schon Freudenthal 1953. 69 Vgl. Klein 1968 sowie Oaks 2018. Siehe auch Netz 1999a, 50; dessen Lösung besteht jedoch gerade darin, als Objekt des Beweises das partikulare und physisch gegebene Diagramm zu bestimmen. 70 Zum letzten Punkt siehe auch Raymond 2011, freilich aus einer von Aristoteles inspirierten Perspektive. Vgl. die Beschreibung des Sachverhalts bei Proklos, in Euc. p. 207, 4–25: Da die Mathematiker „die Partikularität der zugrunde liegenden Objekte nicht nutzen, sondern dies beim Zeichnen des Winkels oder der Strecke vor die Augen stellen, meinen sie, das hierzu Geschlussfolgerte sei auch für alle ähnlichen Objekte bewiesen worden“ (οὐ προσχρῶνται τῇ ἰδιότητι τῶν ὑποκειμένων, ἀλλὰ πρὸ ὀμμάτων ποιούμενοι τὸ δεδομένον γράφουσι τὴν γωνίαν ἢ τὴν εὐθεῖαν, ταὐτὸν ἡγοῦνται τὸ ἐπὶ ταύτης συναγόμενον καὶ ἐπὶ τοῦ ὁμοίου συμπεπεράνθαι παντός); dies sei richtig, weil „sie für den Beweis die produzierten Objekte nicht als diese, sondern als den anderen Objekten ähnliche Objekte nutzen“ (ἐπειδὴ τοῖς ἐκτεθεῖσιν, οὐχ ᾗ ταῦτά ἐστιν, ἀλλ’ ᾗ τοῖς ἄλλοις ὅμοια, χρῶνται πρὸς τὴν ἀπόδειξιν). Dies klingt zwar prima vista nach einer naiven Verallgemeinerung des Einzelfalls, die Fortführung zeigt aber, dass Proklos’ Beschreibung eine andere Pointe hat: „Denn nicht insofern der produzierte Winkel so-und-so groß ist, teile ich ihn entzwei, sondern allein insofern er aus geraden Linien zusammengesetzt ist“ (οὐ γὰρ ᾗ τοσήδε ἐστὶν ἡ ἐκκειμένη γωνία, ταύτῃ τὴν διχοτομίαν ποιοῦμαι, ἀλλ’ ᾗ μόνον εὐθύγραμμος); „das So-und-so-Groß ist ein Spezifikum des produzierten Winkels, das Aus-geradenLinien-zusammengesetzt-Sein aber ist allem Aus-geraden-Linien-Zusammengesetztem gemeinsam“ (ἔστι δὲ τὸ μὲν τοσόνδε τῆς ἐκκειμένης ἴδιον, τὸ δὲ εὐθύγραμμον πασῶν τῶν εὐθυγράμμων κοινόν). Aus moderner Perspektive lässt sich Proklos’ Beschreibung dahingehend wiedergeben, dass im mathematischen Beweis eine generelle Aussage zu allen Elementen einer Klasse von mathematischen Objekten gemacht wird, und zwar qua deren Eigenschaft, ein Modell (der Theorie) des derartigen Objekts zu sein. In den Worten der Modelltheorie der modernen Logik (die in den hier vorgestellten modelltheoretischen Ansatz integrierbar ist: siehe oben): „a model is a structure that makes all sen-

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fizierte Relationen relevant sind, sondern in der Regel nur binäre (oder ternäre) Relationen – oder allgemeiner ausgedrückt: qualitativ-quantitative (-relationale) Relationen. Diese sind im Kontext antiker Mathematik und Logik wahrheitsfähig. Um ein Beispiel zu geben: Der Kreis ΒΓΔ aus Euklid, Elem. 1, 1 stellt im Rahmen des Beweises weder explizit noch implizit einen Kreis mit einem Durchmesser von etwa 1 Fuß dar, sondern ‚den Kreis‘, das heißt einen Kreis, der hinsichtlich seines Radius weder aktual noch potentiell determiniert ist. Dies schließt jedoch aus, dass es sich in mathematisch relevanter Hinsicht um einen beliebigen Kreis handelt, das heißt um ein beliebiges Element der Menge aller möglichen Kreise; ein solcher hätte nämlich als eines seiner Attribute eine determinierte, wenn auch beliebige Größe. Aus moderner Perspektive ist also das partikulare im ‚euklidischen‘ Diagramm erzeugte mathematische Modell eines mathematischen Objekts hinsichtlich derjenigen Qualitäten nicht-spezifiziert, die es potentiell von allen anderen gleichartigen Modellen unterscheiden könnte. In der Konsequenz repräsentiert etwa das Diagramm eines Kreises als Modell der ‚euklidischen‘ Mathematik ‚den‘ Kreis, nicht ‚einen‘ Kreis – und dies trotz der Tatsache, dass es als konkretes gezeichnetes Diagramm in der Tat ein Kreis mit spezifischer Größe (etc.) ist.71 Auch hier erweist sich das gezeichnete Diagramm als semiotisch sekundär zum abstrakten Diagramm, und zwar speziell in Hinsicht darauf, dass es zusätzliche, durch die materiale Aktualisierung bedingte Attribute besitzt. Diese sind aber mathematisch per Definition kategorial nicht relevant. Freilich erweckt der euklidische Diagrammgebrauch aus der Perspektive der modernen Mathematik den Eindruck, dass eine Spielart der modernen Methodik Anwendung finde, dass also ihre Objekte quasi variablenartige partikulare Objekte seien. Ursächlich hierfür sind die zusätzlichen Attribute des gezeichneten Diagramms, wel-

|| tences of a theory true, where a theory is taken to be a (usually deductively closed) set of sentences in a formal language […]. The structure is a ‚model‘ in the sense that it is what the theory represents“ (Frigg & Hartmann 2017, Kap. 1.3; für Details siehe Balzer 1997, insbesondere 89–97). 71 Aus der Sicht der modernen Mathematik sind die topologischen Ansätze von unter anderem Manders 2008b, N. Miller 2007 und Mumma 2006 (weiter ausgeführt und insbesondere mit Millers Ansatz verglichen in Mumma 2008a, Mumma 2008b, Mumma 2010 und Mumma 2012; siehe auch Avigad et al. 2009) vielversprechend, das grundsätzliche Begründungsproblem zu lösen. Allerdings unterliegt auch ihnen die (durch den Kontext moderner mathematischer Konzepte geprägte) Annahme, dass Euklid von Elementen einer Menge partikularer mathematischer Objekte ausgehe. So kommen sie zwar zu ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich der Validität euklidischen Schließens wie die hier vorgelegte Analyse, doch können sie wissenschaftshistorisch das Problem nicht adäquat erfassen (zumal sie nicht das gezeichnete Diagramm von seinem semiotischen Objekt, dem allgemeinen Modell, das heißt dem eigentlichen Diagramm, trennen). Humphreys 2017, insbesondere 212–219, verbindet Manders 2008b topologischen Ansatz mit einer aristotelischen Perspektive; die Ergebnisse hinsichtlich der Frage der Universalität sind den hier entwickelten ähnlich. In einem weiteren Schritt ließen sich diese topologischen Ansätze in den hier aufgespannten wissenschaftsphilosophisch-semiotischen Rahmen integrieren, nämlich insofern dieser auch die Modelltheorie der modernen Logik und also auch die Modellierung (in) der modernen Mathematik als Spezialfall umfasst.

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che in der Abbildungsbeziehung der Modellnutzung fälschlich als Indiz für partikulare Modellattribute des abstrakten Diagramms gedeutet werden: (1) Der individuelle Name in Form eines Bezeichners (etwa ΑΒ)72 und speziell die Form der Zuweisung dieses Bezeichners zum einzelnen Objekt erweckt den Eindruck, dass eine Spezifikation eines mathematischen Objekts als Element einer Menge im Sinn von ‚Sei x aus Ν‘ vorläge (vgl. oben zur Ekthesis in Euklid, Elem. 1, 1). Dies ist eine inadäquate Deutung: Nicht nur ist sie sprachlich nicht angezeigt, sondern auch aus semiotischer Perspektive ist die Annahme nicht korrekt, dass das Vorhandensein eines Namens an sich schon eine Partikularität im Sinne der modernen Mathematik implizierte. Vielmehr dient der Name im Kontext antiker Mathematik vor allem zwei Zwecken: Erstens verschafft er die Möglichkeit eines Zugriffs auf die kompositionalen Submodelle des Gesamtmodells. In der Tat erfolgt auch nur insoweit eine Bezeichnung, als ein solcher Zugriff für den Beweis notwendig ist. So findet sich zum Beispiel keine Zuweisung eines Namens an ein Objekt, wenn nicht dieses selbst, sondern nur einzelne seiner Attribute beweisrelevant sind; ein Beispiel ist die oben angeführte Proposition Autolykos, Sph. 3, deren Ekthesis mit Ἔστω σφαῖρα ἧς ἄξων ὁ ΑΒ beginnt („Gebe es eine Kugel, die eine Achse AB habe“). Folglich sind Bezeichner im Allgemeinen kein unabdingbarer Bestandteil des Diagramms; alternativ wären je nach Kontext äquivalente Weisen des Verweisens möglich, etwa Zeigegesten.73 Zweitens verschafft der Name die Möglichkeit der Erzeugung verschiedener gleichartiger Modelle – welche aber, und dies ist der Unterschied zur modernen Mathematik, in Hinsicht auf ihre essentiellen mathematischen Eigenschaften exakt identisch sind: Alle diese Modelle stehen bezüglich ihrer Attribute und Relationen für das jeweilige mathematische Objekt an sich, und ihre außerhalb der mathematischen Modellrelation zwar vorhandenen, sich aus der konkreten Generierung im Rahmen des Diagramms ergebenden Unterschiede sind per definitionem irrelevant. (2) Durch die Einfügung in das Gesamtmodell erwirbt das einzelne Submodell spezifische Eigenschaften, die nicht in der allgemeinen Definition des abstrakten mathematischen Objekts explizit enthalten sind; insofern scheinen sich die einzelnen Submodelle von gleichen anderen Submodellen zu unterscheiden. Zum Beispiel gibt es drei Strecken in Euklid, Elem. 1, 1 mit jeweils zwei spezifischen und als solchen benannten Begrenzungspunkten (nämlich Α und Β, Β und Γ bzw. Α und Γ). Hieraus folgt aber keine mathematisch relevante Partikularität des im Diagramm abgebildeten mathematischen Gegenstands. Vielmehr werden im Rahmen der Konstruktion des Gesamtmodells spezifische Randbedingungen erschaffen, wie sie sich aus der || 72 Dieser lässt sich in gewisser Hinsicht als index im Sinne von Peirce fassen: so Netz 1999a, 47–49. Siehe jedoch oben Anm. 20 zu einer semiotisch vollständigeren Beschreibung des Sachverhalts. 73 Das entscheidende Charakteristikum des antiken mathematischen Diagramms ist also nicht, ein ‚lettered diagram‘ zu sein (pace Netz 1999a; vgl. Aspers 2003b, 10 Vorbehalt) – wenn es denn überhaupt ein essentielles Charakteristikum ist: Vgl. die Analyse zum Diagramm in Men. 82a7–85b7 unten in Kap. 4.

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Protasis ergeben und konkret in Ekthesis und Kataskeue generiert werden. Diese Randbedingungen haben ebenfalls allgemeinen relationalen Charakter, denn es handelt sich um Aktualisierungen latenter Eigenschaften der mathematischen Objekte, mit dem Zweck, sie für die Analyse zugänglich und nutzbar zu machen. (3) Die syntaktischen Attribute des gezeichneten Diagramms verleiten dazu, eine Partikularität der involvierten mathematischen Objekte anzunehmen, etwa die spezifische Größe, Materialität, Farbe etc. Doch sind diese Attribute als solche mathematisch irrelevant, unter anderem insofern sie nicht als per definitionem essentielle Attribute gelten. In ihnen unterscheiden sich das abstrakte und das konkrete Modell, und zwar aus gutem Grund: Das abstrakte mathematische Modell ist allgemein und existiert nur im Gedanklichen. Die raumzeitlichen Attribute des gezeichneten Diagramms sind hingegen implizit als nicht-signifikant in Hinsicht auf die Repräsentationsrelation definiert; andernfalls gälte das Diagramm schließlich nicht als Modell desjenigen mathematischen Sachverhalts, den es repräsentieren soll. Insgesamt, so das Fazit, stellen Propositionen der ‚euklidischen‘ Mathematik nicht das Problem der Generalisierbarkeit. Sie beziehen sich prinzipiell nicht auf einen partikularen Einzelfall. Eine solche Interpretation erweist sich als ahistorische Projektion moderner mathematischer Methodik auf die durch einen grundlegenden Paradigmenwechsel getrennte Methodik der antiken Mathematik: Diese ist nicht am Element einer Menge von Instanzen eines mathematischen Objekts interessiert, sondern am allgemeinen mathematischen Objekt, und zwar vermittels eines allgemeinen diagrammatisch-ikonischen Modells, in dessen Rahmen nur diejenigen Relationen als beweisrelevant gelten, in denen es sich prinzipiell nicht von gleichartigen anderen Modellen unterscheidet; diese Relationen haben im Allgemeinen eine qualitativquantitative Qualität. Folglich unterliegt die Allgemeinheit der in der Proposition erschaffenen mathematischen Modelle keiner Einschränkung in Hinsicht auf ihre Repräsentationalität für die allgemeinen mathematischen Objekte in Hinsicht auf deren universelle Eigenschaften, und ein Schluss vom Einzelnen auf das Allgemeine ist methodisch nicht erforderlich, ja: nicht einmal möglich: Die im Beweis explizierten Relationen sind die Relationen des universellen mathematischen Objekts. Die so herbeigeführte Allgemeingültigkeit des Beweises ist freilich mit einer radikalen Einschränkung der verfügbaren mathematischen Attribute und Relationen und in noch weit höherem Maße der dazugehörigen Parameterräume verbunden: Euklidische Mathematik handelt nicht von numerisch-exakt quantifizierten Relationen, ja: scheint mit Blick auf die epistemischen Vorzüge sogar bewusst hierauf zu verzichten. Damit erweist sich zweierlei: Erstens operiert euklidische Mathematik im Allgemeinen nicht auf der Grundlage von impliziter (und / oder gescheiterter) mathematischer Induktion.74 Zweitens ist ein mathematischer Beweis bei Euklid primär nicht als

|| 74 Sieht man von den (zumindest bei Euklid sehr seltenen, bei Autolykos häufigeren) Fällen ab, wo mathematische Objekte mit Ausdrücken wie τις oder τυχών qualifiziert werden und die Allgemein-

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„an example for any future proofs“ zu verstehen,75 zumindest nicht in wesentlicher Hinsicht: Vielmehr operiert er auf der Basis eines mathematischen Modells, das durch seine spezifische allgemeine Konstituierung selbst die Allgemeinheit der mathematischen Erkenntnis garantiert – was freilich sekundär (und unter Annahme des entsprechenden ontologischen und epistemologischen Rahmens) die Anwendbarkeit auf alle partikularen (auch praktischen) Einzelfälle prinzipiell gewährleistet. Insgesamt darf das Problem der Allgemeingültigkeit mathematischer Beweise in der euklidischen Mathematik als gelöst gelten, sowohl in der objektiven als auch in der subjektiven Dimension. Der explizierte Vorschlag konvergiert im Übrigen mit Aristoteles’ Einschätzung, wie er sie in einer notorischen Stelle in den Analytica posteriora (73b25–74a3) vorbringt.76 Aristoteles versteht hier nämlich den Gegensatz von Allgemeinheit und Konkretheit nicht extensional hinsichtlich der Instanz eines mathematischen Objekts im Sinne eines Elements einer Menge, sondern intensional hinsichtlich des Begriffsinhalts.77 Zugleich spricht Aristoteles ein grundsätzliches methodisches Problem der antiken griechischen Mathematik an, das mit der modellbasierten Methode einhergeht; es wird in der direkt folgenden Passage Analytica posteriora 74a4–b4 detailliert diskutiert:78 Die Richtigkeit eines mathematischen Beweises, so die (verkürzende, aber sinnerhaltende) Wiedergabe im hier explizierten Rahmen, hängt entscheidend von der richtigen Wahl des beliebigen (τυχών) sowie ersten (πρῶτος) Modells ab, denn nur wenn diese Wahl richtig erfolgt, konvergiert die allgemeine mathematische Richtigkeit mit der Richtigkeit, die sich auf das dem Beweis unterliegende (und in diesem konstruierte) Modell bezieht. Methodisch gibt es folglich in der euklidisch-aristotelischen Mathematik, zumindest aus der Binnenperspektive, keinen Weg zu von vornherein sicherer Erkenntnis, sondern diese hängt von Entscheidungen ab, die außerhalb des mathematischen Beweises selbst liegen, das heißt konkret der Wahl (oder ‚Zugrundelegung‘ = ‚Hypothesis‘: siehe unten Kap. 6.5) des richtigen Modells. Dies ist ein Unterschied zur modernen Mathematik, die primär anhand von Einzelelementen operiert und die Allgemeinheit mittels eines methodisch sicheren Formalismus, etwa durch Anwendung vollständiger Induktion, valide und intersubjektiv überprüfbar gewährleisten kann. Damit besteht die Problematik der Validität mathematischer Erkenntnis in der Antike in gänzlich anderer Hinsicht als heute. Dies erweist beide Formen von Mathematik, zumindest in diesem Aspekt, als grundlegend verschieden. || gültigkeit möglicherweise aus diesem Grund in der Tat fraglich ist. Siehe die Zusammenstellung bei Netz 1999a, 246–252; ein Beispiel ist Euklid, Elem. 1, 5. 75 Siehe Unguru 1991, das Zitat 278. 76 Diese Stelle wurde oftmals zu Unrecht als Zeugnis für die Verwendung von vollständiger Induktion in der antiken Mathematik angeführt (siehe Unguru 1991). Für einen konzisen Überblick zur Stelle siehe Barnes 1993, 118–122. 77 Vgl. Humphreys 2017, insbesondere 212–219. 78 Einen knappen Überblick gibt Barnes 1993, 122–125. Vgl. instruktiv Cra. 436d2–4.

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3.5 Fazit Der vorangehende Abschnitt hatte das Ziel, die Modellierungspraxis in der euklidischen Mathematik zu untersuchen, um eine sichere Grundlage für die Analyse der mathematischen Modellierung bei Platon zu gewinnen. Er nahm seinen Ausgang von der Beobachtung, dass die Verwendung von Diagrammen ein zentrales, wenn nicht sogar das zentrale Charakteristikum der Praxis der euklidischen Mathematik darstellt, gleichwohl aber zahlreiche gravierende Probleme aufzuwerfen scheint. Eine modelltheoretische Analyse hat anhand der textnahen Lektüre von vier relevanten Fallbeispielen aus Euklids Elementen und Autolykos’ Traktat Über die rotierende Kugel den ersten Eindruck der methodologischen Relevanz von Diagrammen bestätigt. Sie konnte die folgenden Aspekte erhellen: (a) den Zusammenhang von Text und Diagramm, speziell differenziert nach Theorem und Problem; (b) den ontologischen und epistemologischen Status des Diagramms; (c) die spezifische Natur der im Diagramm repräsentierten und abgebildeten Relationalität; und (d) die Frage von Allgemeinheit und Gültigkeit des mathematischen Beweises. Der Schlüssel zum Verständnis des mathematischen Diagramms war die Einsicht, dass es sich um ein diagrammatisches icon und mithin Modell handelt, mithin ein Zeichen, das sein Objekt auf der Basis einer dyadisch-relationalen Ähnlichkeit hinsichtlich seiner äußeren qualitativen Beschaffenheit repräsentiert. Grundsätzlich folgt, dass die Modellbildung auf zwei miteinander verbundenen Ebenen erfolgt, einer abstrakten und einer konkreten. Das wahrnehmbare Diagramm gehört der letzteren zu, und zwar als representamen des im abstrakten Modell gegebenen semiotischen Objekts, des eigentlichen Gegenstands des mathematischen Beweises. Dieses wird im textlichen Teil der Proposition konstruiert und analysiert, und zwar in einem konventionalisierten (wenn auch allgemein nicht vollständig und je nach Autor gegebenenfalls abweichend formalisierten) funktionalen Schema. Das Diagramm bildet, als genuin kompositionale Struktur aus einzelnen ebenfalls diagrammatischen icons, die als diagrammatische Atome die basalen Objekte der mathematischen Theorie repräsentieren, die Relationalität dieser Objekte an sich und in Kombination in einer statischen Struktur ab und macht sie so dem mathematischen Denken zugänglich, und zwar durch eine analytische Inspektion des Diagramms vermittelt durch das wahrnehmbare Diagramm.79 Dies repräsentiert einen mathematischen Sachverhalt,

|| 79 Dass das in der Manuskripttradition entgegentretende gezeichnete Diagramm konventionalisiert ist und dass es eine Frage eigenen Rechts ist, die Parameter dieser Konvention genau zu bestimmen, ist evident. Dennoch ist die konkrete Ausführung in mathematischer Hinsicht im Prinzip irrelevant, jedenfalls insoweit die spezifische beweisrelevante mathematische Relationalität erhalten bleibt. Diesem Umstand sollten auch die Versuche, die Diagramme der Handschriftentradition zu rekonstruieren, derart Rechnung tragen (vgl. oben Anm. 10), dass das primäre Ziel in der Rekonstruktion der semantischen Relationalität bestehen sollte (mutatis mutandis analog zu dem Vorgehen, wie es beim Text selbst praktiziert wird). Instruktiv ist in dieser Hinsicht auch der Vergleich von überliefertem und

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der für einen Beweis der Möglichkeit der Umsetzung einer mathematischen Aufgabe (Problem) oder eines mathematischen Sachverhalts (Theorem) zweckdienlich ist. Das Diagramm ist zu diesem Zweck in hinreichender Weise durch den Text determiniert und hierdurch zugleich effektiv konstruiert. Es ist jedoch in seiner erkenntnisbringenden Funktion andererseits nicht auf diesen reduzierbar: Vielmehr ist es insofern ein unersetzliches methodisches Hilfsmittel, als in diesem Kontext allein der Modus der Ikonizität die Entdeckung neuer, unbekannter mathematischer Relationen auf der Grundlage der direkten Betrachtung erlaubt, sei es als gezeichnetes, sei es äquivalent als vorgestelltes Diagramm. Das Ziel ist, hierdurch eine allgemeine Erkenntnis zu gewinnen, und zwar zu den universellen, relational ausdrückbaren Eigenschaften der mathematischen Objekte selbst. Diese sind, vermittelt über die Repräsentation als diagrammatisches Modell, der eigentliche Gegenstand der euklidischen Mathematik. Anders als die moderne Mathematik, die vom partikularen Einzelfall ausgeht, operiert sie mittels der Analyse des allgemeinen, abstrakten mathematischen Objekts, und zwar auf der Grundlage einer hierzu erfolgenden radikalen Reduktion der beweisrelevanten Relationen auf diejenigen, in Hinsicht auf die sich die einzelnen universellen Objekte der mathematischen Theorie gerade nicht unterscheiden; diese Relationen sind grundsätzlich qualitativ-quantitative Relationen mit oftmals binärem (oder ternärem) Merkmalsraum mit wahrheitsfähigen Parametern.80

|| sich aus den Anweisungen in der Proposition ergebendem Diagramm in Euklid, Elem. 2, 1 durch Catton & Montelle 2012, 31–38, mit dem Ergebnis: „The construction brings to mind better the ‚how-todo-it‘ aspects, the provided diagram brings to mind better what the proposition embodies. The construction finds the point that was sought; the diagram helps us call to mind the demonstration, and still more importantly, helps us better intuit the proposition, that is to say, better intuit what it is, practically, that is proposed to be done“ (38); vgl. Sidoli 2018b. Andererseits besteht selbstverständlich die Gefahr – und dies gilt speziell für modernisierende Wiedergaben: vgl. die Diagramme zur Übersetzung in Aujacs 2002 Autolykos-Ausgabe und siehe oben Kap. 3.3 –, dass zusätzliche Relationen in das Diagramm eingefügt werden, die zu falschen oder irreführenden Deutungen führen, sprich: ihrerseits mathematische Relationen des dargestellten Objekts implizieren, die nicht durch das ursprüngliche Modell selbst gegeben waren. Im Ergebnis entspräche eine derartige Modernisierung einem (ahistorischen) Experiment mit dem Diagramm, zu dessen Gefahren Peirce CP 4.530 allgemein anmerkt: „One can make exact experiments upon uniform diagrams; and when one does so, one must keep a bright lookout for unintended and unexpected changes thereby brought about in the relations of different significant parts of the diagram to one another.“ Dies gilt speziell für die oben angeführten topologischen Ansätze (vgl. oben Anm. 71). Ein analoger Fall liegt bei der ‚geometrischen Algebra‘ vor (vgl. oben Anm. 6): Wenn wir die Propositionen in Buch 2 von Euklids Elementen mit Hilfe der modernen Algebra modellieren, werden die Relationen wohl (mehr oder weniger) korrekt abgebildet; schließlich sind beide Bereiche aus der Sicht der modernen Mathematik isomorph und also Modelle derselben Theorie. Zugleich laufen wir aber Gefahr, zusätzliche Relationen hypothetisch zu unterstellen, die mit dem ursprünglichen Sachverhalt nicht kompatibel sind – und eben diese Relationen aufgrund der semiotischen Natur des icon (= Modells) unbemerkt zurückzuprojizieren. 80 Trotz der partiellen Ähnlichkeit der Ergebnisse zu denen von Macbeths 2010 Studie bestehen wesentliche Unterschiede. Deutlich zeigt dies ihr Fazit (265 f.): „First, a Euclidean demonstration […] is

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Im Ergebnis basiert euklidische Mathematik im Kern auf einem spezifischen Akt der Modellierung, der sich, ikonisch vollständig repräsentiert im Diagramm, in der einzelnen Proposition als ‚Element‘ der mathematischen Erkenntnis manifestiert; dieses ‚Element‘ ruht auf einem explizit oder implizit axiomatischen, die relevanten universellen Relationen determinierenden Fundament und wird gegebenenfalls als solches Teil der deduktiven Gesamtstruktur der einzelnen ‚Elementen‘-Schrift und mithin sekundär des Gebäudes der Fachmathematik insgesamt. Doch ungeachtet der axiomatisch-deduktiven Einbettung ist das Herz der mathematischen Praxis euklidischen Typs die spezifische, auf die einzelne Proposition fokussierte Nutzung eines mathematisch-relationalen Modells bestehend aus Modellgenerierung und -analyse. Mit dieser Einsicht liegt ein fester Bezugspunkt vor, von dem aus sich etwaige Unterschiede in den Vorstufen der euklidischen Mathematik aufspüren und benennen lassen. Dies wird insofern auf einer sichereren Basis als ausgehend von einer in der Forschung üblichen bloßen Rekonstruktion des axiomatisch-deduktiven Systems voreuklidischer ‚Elemente‘ erfolgen können, als zum einen angesichts der Beobachtungen zu Autolykos fraglich ist, inwieweit diese tatsächlich schon (streng) axiomatisch-deduktiv strukturiert waren, und wir zum anderen ja eben faktisch keinen Zugriff mehr auf dieses System in seinem originalen Zustand haben, mit verursacht gerade durch den ‚Elementen‘-Charakter der antiken Mathematik. Auf der anderen Seite besteht jedoch ein realistischer Ausblick darauf, in jedem Fall einen Zugriff auf die mit dem Diagramm verbundenen mathematischen Modellierungszusammenhänge oder gegebenenfalls ihre methodischen Vorläufer zu haben, denn ohne diese wäre den Ergebnissen dieses Kapitels zufolge im antiken Kontext überhaupt gar keine mathematische Erkenntnis möglich gewesen: Das Diagramm ist eine vollständige Repräsentation der Proposition und damit des ‚Elements‘. In diesem Sinn werde ich im nächsten Kapitel die Stelle zur Quadratverdopplung im Menon untersuchen, nicht nur als eines der ersten authentischen Zeugnisse der griechischen Mathematik überhaupt, sondern auch als eine Stelle, die sich der Modellierung eines mathematischen Sachverhalts in Form eines Diagramms widmet.

|| not a proof in the standard sense at all […]. Indeed, the demonstration lies not in sentences at all. It lies […] in a course of reasoning focused directly on a diagram. […] But if so, then Euclid’s geometry is not an axiomatic system […]; and it is not merely diagram-based. It is instead […] a mathematical practice that uses diagrams to explore the myriad discoverable necessary relationships that obtain among geometrical concepts […].“ Grundlage ist das (in die richtige Richtung weisende) Verständnis, dass „diagrams in Euclid are not merely images or instances of geometrical figures but are instead icons with Gricean non-natural meaning. As such, they are inherently general“ (265). Dabei bezieht sich Macbeth jedoch insbesondere nicht auf das Gesamtdiagramm, sondern auf dessen einzelne Teile (wie einen Kreis ΑΓΕ), mit der Folge, dass gerade dessen Natur als diagram nicht erfasst wird, einschließlich der Differenzierung von abstrakter und konkreter Modellbildung, der spezifischen Funktionen der einzelnen Propositionsteile und der Unterschiede zwischen den Propositionsarten.

4 Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon 4.1 Einleitung Der Menon beinhaltet nicht nur eine der umfangreichsten Passagen in Platons Werk mit mathematischem Inhalt, sondern auch eine der ältesten authentischen in der literarischen Tradition überlieferten Stücke griechischer Mathematik überhaupt: Im Rahmen eines in den Dialog eingebetteten Gesprächs zwischen Sokrates und einem der Sklaven des eigentlichen Gesprächspartners Menon wird in detaillierter Beschreibung und Diskussion mathematischer Handlungen anhand eines in diesem Prozess Schritt für Schritt gezeichneten Diagramms die Verdoppelung eines Quadrats vollzogen (Men. 82a7–85b7), im Kontext des Gesamtdialogs bekanntlich mit dem Zweck, die Lehre der ‚Wiedererinnerung‘ (ἀνάμνησις) zu demonstrieren.1 Diese Passage ist nicht nur wegen ihres Umfangs oder deshalb von Interesse, weil sie ein Licht auf die Inhalte von Geometrie und Proportionenlehre (spätestens) zur Zeit des Verfassens des Dialogs werfen könnte,2 sondern auch und vor allem deshalb, weil sie, wenn auch eingebettet in die literarischen Fiktion und möglicherweise auf dem basalen Niveau des mathematisch ungebildeten Sklaven und aus einer philosophischen und nicht unmittelbar fachmathematischen Perspektive, gleichwohl einen

|| 1 Für einen Überblick über die (verschiedenen Expositionen dieser) Lehre in Platons Werk siehe Kahn 2006. Dass Platon diese Lehre vertrat, wird bezweifelt von Ebert 1974 und Ebert 2007; ihr Vorkommen hier sei allein dem Umstand geschuldet, dass Menon Vertreter des Pythagoreismus sei. Siehe Landry 2012 zur Funktion der Anamnesislehre im Kontext. Zum Alter des Sklaven siehe Benitez 2016. 2 Bluck 1961, 108–120 datiert den Dialog auf etwa das Jahr 386/5 v. Chr., freilich primär aufgrund der Prominenz ‚pythagoreischer‘ Themen einschließlich der Mathematik; diese gehe auf den Kontakt mit Pythagoreern während der direkt vorangehenden Italienreise zurück; ähnlich Day 1994, 9–14, die zugleich aber feststellt, dass „we have no direct evidence“ für irgendeine Datierung (11). In jedem Fall ergäbe sich aus dem so verstandenen Pythagoreer-Bezug nur ein terminus post quem. Andererseits steht einer frühen Datierung der Umstand entgegen, dass die von Platon angeführten und / oder direkt oder indirekt verwendeten mathematischen Erkenntnisse erst auf die 360er Jahre v. Chr. oder (wahrscheinlicher) erst die 350er Jahre v. Chr. zu datieren sind. Dies betrifft speziell Eudoxos’ Proportionenlehre, die die Passage zur Quadratverdopplung indirekt, aber zweifelsfrei voraussetzt (dies spiegelt sich in der verwendeten Terminologie, speziell dem Terminus μήκει: siehe unten Kap. 4.3 und Kap. 4.6); Ähnliches gilt für die andere mathematische Passage Men. 86e4–87b2 zum HypothesisVerfahren (siehe unten Kap. 6.5). Vgl. Hoerbers 1960, 79–83 ausführliche Diskussion der unterschiedlichen Vorschläge zur Datierung; fast alle beruhen auf nicht zwingenden Annahmen zu einer etwaigen Entwicklung von Platons Philosophie oder spekulativ unterstellten Zusammenhängen zwischen Biographie und philosophischem Gehalt des Menon. Dies ist mutatis mutandis auch insgesamt für das platonische Corpus festzustellen; umfassend (und mit dezidiert skeptischem Ergebnis) diskutiert diese Fragen Cooper 1997, xii–xviii (siehe speziell xvii f. zur mutmaßlichen ‚mittleren Periode‘; vgl. aber andererseits zum Beispiel Irwin 2011 sowie Brandwood 1990 und Brandwood 1992). https://doi.org/10.1515/9783110616491-004

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direkten und ansonsten kaum – und bekanntlich speziell nicht in der eigentlichen Fachmathematik – verfügbaren Einblick die Praxis der Modellierung eines mathematischen Sachverhalts aus einer originär antiken Perspektive gibt. Die Passage kann wertvolle, auf authentischem Material beruhende Informationen zum Kern der Methodik der Mathematik in der ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. liefern.3 Anders als die Diagramme in Euklids Elementen ist das Diagramm zur Quadratverdopplung nicht in visueller Form überliefert, ja: es ist fraglich, ob es als solches überhaupt jemals Teil des Dialogs war. Vielmehr handelt es sich um ein Diagramm, das lediglich auf der Grundlage von dem und durch den Text hindurch fassbar ist. Es stellt sich daher als erste Aufgabe, das Diagramm im außertextlichen Kontext abgesichert, aber zugleich textlich hermeneutisch adäquat in seiner bildlichen Gestalt wiederherzustellen, und zwar durch die genaue Lektüre der Passage. Dies ist bis heute noch nicht hinreichend gelungen, insbesondere nicht aus modelltheoretischer Perspektive.4 Ein Grund hierfür könnte sein, dass der Text – wie ja schon in Bezug auf Euklids Diagramme oft vertreten wurde (siehe oben Kap. 3) – unterspezifiziert und / oder nicht in allen Aspekten hinreichend eindeutig zu interpretieren ist: We must suppose that Plato’s original audience was presented with a figure […], but that we, now, must search for those figures which fit the meaning of the passages, and not expect to find them unambiguously described in the text.5

Der Umstand, dass das Diagramm nur textlich vorliegt, mag prima vista dagegen sprechen, dieses Diagramm überhaupt in die Untersuchung einzubeziehen. Tatsächlich ist die scheinbare Schwäche jedoch ein Vorzug: Einerseits konnte das Diagramm, da es nicht bildlich vorliegt, nicht durch die Überlieferung verfälscht, ‚modernisiert‘ oder anderweitig verändert werden; es liegt also in seiner Originalform vor. Andererseits lässt sich prüfen, ob und inwieweit die entwickelte Position, dass letztlich der Text einer Proposition allein ausreichend ist, das Diagramm in seiner relationsrelevanten Konstitution zu konstruieren, auch auf Platon Diagrammgebrauch anwendbar ist und also ob und inwieweit diese mit der euklidischen Tradition übereinstimmt. Wenn dies der Fall ist, ist schließlich zu erwarten, dass die textlichen Hinweise in der Menon-Passage ausreichen, um das Diagramm hinreichend genau zu rekonstruieren; andernfalls wäre eine signifikante Abweichung von der euklidischen Methodologie identifiziert. So oder so werden sich also Einblicke in die Mathematik zur Zeit Platons

|| 3 Dieser Umstand wird in der mathematikgeschichtlichen Forschung oftmals nicht hinreichend gewürdigt, wenn es auch in der Regel der Fall ist, dass die Passage als frühes Zeugnis angeführt wird; vgl. exempli gratia Cuomo 2001, 27–29, wo trotz Nennung jeglicher Hinweis auf die einzigartige Bedeutung der Stelle fehlt. Anders Fowler 1999, 7: Diese Passage „is our first direct, explicit, extended piece of evidence about Greek mathematics“; vgl. Waschkies 2000b, 38. 4 Siehe für eine Rekonstruktion des Diagramms aus jüngster Zeit Patterson 2007 (mit Literatur). 5 So Fowler 1990, 176 f. Zuversichtlicher zeigt sich Brumbaugh 1954, 19.

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zeigen. Zugleich sind sicherere Erkenntnisse zur Menon-Passage selbst zu erwarten, insofern sie auf der wissenschaftshistorischen und -philosophischen Grundlage neu betrachtet wird, die im vorangehenden Kapitel gelegt wurde. Dies umfasst auch die Art und Weise der Präsentation von Mathematik im direkten literarischen Dialog. Zu diesem Zweck werde ich in diesem Kapitel die Passage zur Quadratverdopplung im Menon in einem linearen Durchgang analysieren. Die Untersuchung erfolgt in drei separaten Abschnitten, die den drei großen Sinnabschnitten der Passage gewidmet sind und so den Weg des Sklaven von (1) ‚falschen Meinungen‘ über (2) ‚Aporie‘ zu (3) ‚wahren Meinungen‘ nachvollziehen: (1) Der erste Abschnitt dient als innerdialogischer Problemaufriss, sowohl hinsichtlich der argumentativen Bedeutung des Gesprächs mit dem Sklaven als auch hinsichtlich des mathematischen Problems. An seinem Ende steht eine scheinbare Lösung der Verdopplung seitens des Sklaven: Die Seite des doppelten Quadrats habe eine doppelt so lange Seite wie das Ursprungsquadrat. Insofern legt dieser Abschnitt offen, dass der Sklave ‚falsche Meinungen‘ besitzt (Men. 82a7–e11). (2) Sokrates zeigt dem Sklaven, dass die vorgeschlagene Lösung falsch ist, und bringt ihn dazu, seine Unwissenheit und ‚Aporie‘ zuzugeben (Men. 82e12–84c9). (3) Schließlich wird die richtige Lösung des mathematischen Problems gefunden: Die Seite des gesuchten verdoppelten Quadrats ist die Diagonale des Ausgangsquadrats. Der Sklave gelangt in den Besitz von ‚wahren Meinungen‘ (Men. 84c10–85b7).

4.2 Falsche Meinungen Der erste Abschnitt des Gesprächs ist den ‚falschen Meinungen‘ des Sklaven gewidmet: Nachdem Menon auf Sokrates’ Bitten hin (Men. 82a7–b2) einen beliebigen, der griechischen Sprache mächtigen und in Menons Haus geborenen und aufgezogenen (Men. 82b4 f.) Sklaven herbeigerufen (Men. 82b3) und Sokrates das philosophische Beweisziel benannt hat – Menon solle darauf achten, ob sich der Sklave erinnere oder von Sokrates lerne (Men. 82b6–8) –, beginnt Sokrates das mathematische Gespräch und stellt dem Sklaven eine Frage: Εἰπὲ δή μοι, ὦ παῖ, γιγνώσκεις τετράγωνον χωρίον ὅτι τοιοῦτόν ἐστιν; (Men. 82b9 f.). Die Situation wird oft wie folgt verstanden: Socrates draws four lines enclosing a certain „space“ (chôrion) in the dust […] and asks the boy whether he is familiar with the kind of „space“ called „square space“ (tetragônon chôrion).6

Wenngleich transparent ist, dass Sokrates in der fiktionalen Situation ein Diagramm zeichnet, kann eine solche Deutung den Inhalt der Frage im Kontext nicht treffen, zumindest dann nicht, wenn γιγνώσκεις τετράγωνον χωρίον ὅτι τοιοῦτόν ἐστιν; in || 6 So Klein 1965, 100 für die communis opinio. Ähnlich Sharples 1991, 67: „are you aware that a square figure is like this“; Boter 1988, 210: „Socrates starts his exposition at 82b9 by defining the square.“

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Hinblick auf das Geben oder Verstehen einer mathematischen Definition verstanden wird: Der Sklave ist schließlich erklärtermaßen mathematisch gänzlich ungebildet (Men. 85d12–e6), und dies muss er angesichts der allgemeinen argumentativen Zielsetzung auch tatsächlich sein, ist doch zu zeigen, dass man ohne explizites Vorwissen, aber unter richtiger Anleitung durch ‚Wiedererinnerung‘ zu einer korrekten, hier mathematischen Einsicht kommen kann. Das Beweisziel schließt von vornherein aus, dass der Sklave irgendeine Bekanntschaft mit Quadraten besitzt, einschließlich der Fähigkeit, aktiv oder passiv mit mathematischen Definitionen operieren zu können. Der Sklave darf noch nie zuvor etwas von ‚Quadraten‘ gehört haben; Sokrates’ Argumentation wäre sofort der Boden entzogen, wäre die Frage im zitierten Sinn gestellt. Insofern Sokrates also nicht mit Belehrung, sondern mit Fragen operiert (Men. 82e4), dürfen diese, wenn Sokrates nicht als latent selbstwidersprüchlich erscheinen soll, nicht eine versteckte, auf allgemeine Wissensbestände rekurrierende Belehrung sein. Sokrates’ Fragen können im fiktionalen pragmatischen Kontext folglich allein darauf abzielen, offensichtliche (und das heißt hier auf Wahrnehmung zurückführbare) Fakten zu identifizieren und zu benennen. Dies entspricht freilich der Grundbedeutung des in Sokrates’ Eingangsfrage verwendeten Verbs γιγνώσκειν, das im Präsens ja weniger ein Wissen denn ein Erkennen bezeichnet.7 Während also einerseits das Vorgehen von Seiten des Sklaven eine gewissermaßen ‚empirische‘ Natur hat, stehen am Ende des Gesprächs dennoch nicht nur ‚Meinungen‘, sondern pointiert „wahre Meinungen“ (Men. 85c6 f.; 86a6–9). Diese müssen sich, will Sokrates das philosophische Beweisziel erreichen, zumindest implizit im Argumentationsverlauf als tatsächlich ‚wahr‘ erweisen. Das heißt im vorliegenden Zusammenhang: Sie müssen in den Augen eines mathematisch gebildeten Rezipienten als nicht nur im Ergebnis richtig, sondern auch in ihrer mathematischen Herleitung korrekt erscheinen, und zwar sowohl innerhalb des Dialogs (gegenüber Menon) als auch außerhalb des Dialogs (gegenüber Platons intendiertem idealen Publikum). Ansonsten würde Platon nicht die Richtigkeit der Wiedererinnerungslehre beweisen (und noch nicht einmal plausibel machen) können. Freilich ist es andererseits der Fall, dass angesichts des ersten Punktes, der Unwissenheit des Sklaven, das Aufzeigen der mathematischen Wahrheit in der fiktionalen Gesprächssituation nicht an der Textoberfläche selbst erfolgen kann, sondern durch die Textoberfläche hindurch indirekt erfolgen muss. In diesem Sinne müssen wir erwarten, dass sich im Text die auch im weiteren Kontext philosophisch relevante Differenz von einerseits Meinung (δόξα), hier des Sklaven (vgl. zum Beispiel die explizite Markierung in Men. 83d2: τὸ γάρ σοι δοκοῦν τοῦτο ἀποκρίνου), die sich der Wahrnehmung bedient und einen em-

|| 7 Vgl. LSJ s. v. I: „come to know, perceive, and in past tenses, know“. Dies ist auch angesichts von Kühner & Gerth § 382, 4 a festzustellen, wo der verzeichnete Gebrauch des Präsens für „Handlungen, die zwar der Vergangenheit angehören, aber in ihren Wirkungen noch im Augenblicke des Sprechens fortdauern“ für γιγνώσκειν im Sinne von ‚kennen gelernt haben und nun kennen‘ wiedergegeben ist.

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pirischen Charakter besitzt, und andererseits Wissen (ἐπιστήμη), welches einen rationalen, von der ‚empirischen‘ Ebene kategorial getrennten Charakter besitzt, zeigt.8 Die interpretatorische Konsequenz ist, dass zu erwarten ist, dass das gesamte Gespräch mit dem Sklaven – zumindest dann, wenn die innertextliche Stimmigkeit gewahrt bleiben soll und Platon tatsächlich das von Sokrates erklärte Ziel im Rahmen einer konsistenten Argumentation verfolgt – auf zwei komplementären, aber in der Präsentation strikt getrennten argumentativen Ebenen operiert: Erstens muss sich Sokrates dezidiert nicht-mathematisch an den mathematisch ahnungslosen Sklaven wenden und ausschließlich mit Argumenten operieren, die dem Bereich der Wahrnehmung angehören und / oder auf diese zurückführbar sind; zweitens aber muss, zwar unter der Textoberfläche und vor dem Sklaven verborgen, aber durchgängig folgerichtig und zielführend, genuin mathematisch korrektes Wissen erschlossen werden. Um die Sachlage knapp zusammenzufassen: Es stellt sich nicht das Problem, dass „Plato himself as author also needs to make the problem clear to his readers or hearers“ (sc. im Gegensatz zum Sklaven),9 sondern vielmehr, dass Platon Sokrates’ fiktionalem Gespräch mit jemandem, der argumentativ notwendigerweise unwissend in der Mathematik ist, eine mathematisch hinreichend folgerichtige und vollständige Argumentation unterlegen muss – die ihrerseits freilich nur ein mathematisch gebildetes Publikum verstehen kann und zum Zweck der philosophischen Beweisführung dann auch muss. Im Gegenteil ist es eine unabdingbare pragmatische Grundvoraussetzung der Textpassage, dass Platons (ideal-intendiertes) Publikum die mathematischen Aspekte vollständig durchschaut (das heißt zumindest potentiell nach hinreichender, aber eben doch möglicher mathematischer Ausbildung). Um zu Sokrates’ Eingangsfrage zurückzukommen: Im entfalteten interpretatorischen Rahmen kann sie nicht dahingehend zu verstehen sein, dass Sokrates den Sklaven nach einer etwaigen Bekanntschaft mit dem Wesen (der Definition) des Quadrats fragt, sondern dahingehend, dass er fragt, ob der Sklave erkenne (γιγνώσκεις), dass

|| 8 Zur Frage, wie ‚empirisch‘ die Lösungsfindung ist, siehe überblickshaft Bluck 1961, 292 f.; siehe dafür Ross 1951, 18, dagegen Gulley 1954 und Vlastos 1965 sowie für eine Mittelposition Patterson 2007. Insofern ist auch Kleins 1965, 99 Beschreibung leicht irreführend und verkennt die Pointe: „Since the boy had never previously had any instruction in matters geometrical […], ‚technical‘ language is reduced to a minimum and ‚orthodox‘ (synthetic) geometrical methods are not used at all in the conversation between him and Socrates.“ Ähnlich Vlastos 1965, 157 f. Insbesondere in Angesicht der beiden (wie ausgehend von den so weit entwickelten Überlegungen zu erwarten ist) klar getrennten Ebenen ist das Gespräch keineswegs eine Farce, wie etwa Weiss 2001, 94–107 annimmt; im strengen Sinn ist es nämlich nicht der Fall, dass „the slave-boy is taught; he learns from Socrates“ (107), entgegen Sokrates’ Feststellung, weder „lehre“ er noch „lerne“ der Sklave (Men. 82e4 f.; 84c10–d2; 85d3 f.): Mit dem Liniengleichnis ist ‚Vertrauen‘ kein ‚Gegenstand des Wissens‘. Für eine Übersicht zu weiteren Meinungen dazu, warum Sokrates tatsächlich nicht lehre, siehe Weiss 2001, 95 f. Eine konkrete Ursache dafür, dass es sich (noch) nicht um Wissen handelt, wird im Übrigen auch sein, dass der Sklave (noch) nicht weiß, was ein Quadrat ist: siehe Bedu-Addo 1983, 235 f. 9 So Sharples 1989, 222.

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(ὅτι) es sich bei der Zeichnung (τοιοῦτον: deiktisch-qualitativ) um eine viereckige Fläche (τετράγωνον χωρίον) handele.10 Sokrates tritt folglich nicht aus der fiktionalen Gesprächssituation heraus; zudem ist transparent, dass er auf einen spezifischen in der Wahrnehmung gegebenen Gegenstand verweist, ein Diagramm. Dieses Diagramm dient als Ausgangspunkt der weiteren mathematischen Argumentation. Das Vorgehen erinnert daran, wie in einer strikt mathematischen Proposition der Prozess des Beweises beginnt, nämlich mit einer Ekthesis, das heißt der Erzeugung desjenigen mathematischen Modells, das als mit der Aufgabenstellung gegeben gilt und an dem die gesuchten Relationen aufgezeigt werden sollen.11 Insofern auch in der Menon-Passage zu Beginn ein solches Modell konstruiert wird und zugleich gilt, dass Sokrates mathematisch folgerichtig das gesuchte Ergebnis aufzeigen muss, liegt die Vermutung nahe, dass auch die gesamte Menon-Passage mutatis mutandis die Form einer euklidischen Proposition hat. Dies soll die Arbeitshypothese der folgenden Analyse sein. Dass dabei eine Protasis als absoluter Beginn fehlt, ist im Übrigen unbedenklich, hätte dies doch das philosophische Beweisziel der gesamten Unterredung zerstört. Ebenso wenig bedenklich wäre, wenn sich die sprachliche Gestaltung und speziell der Präsentationsmodus der Ekthesis in Details von Euklid unterscheiden sollte, denn einerseits stehen die Texte in einem unterschiedlichen pragmatischen Kontext und andererseits könnten dennoch Ergebnis und Funktion in mathematischer Hinsicht äquivalent sein: Ziel wäre auch hier die Erzeugung und Analyse eines mathematischen Modells, nur eben nicht wie bei Euklid durch rein schriftsprachliche Mittel in der Imagination (vermittelt durch den Akt des Zeichnens), sondern praktisch-tätig durch Sokrates selbst, der das Diagramm in der Dialogsituation zeichnet und direkt mit ihm deiktisch (etc.) interagiert, insbesondere mit der Konsequenz, dass keine sprachlichen Bezeichner wie bei Euklid notwendig wären.12 Wenn die Arbeitshypothese richtig ist, wäre notwendig, dass Sokrates am Beginn des Gesprächs in mathematisch hinreichender Weise ein ‚Quadrat‘ erzeugt. Auch wenn schon ein Diagramm vorliegt, ist dies so weit noch nicht erreicht; bisher liegt lediglich ein τετράγωνον χωρίον vor, eine „viereckige Fläche“.13 Ein solches τετρά|| 10 Die gängige Stellung vor der einleitenden Konjunktion erklärt sich mit Kühner & Gerth § 606, 6; sie ist auch bei Prädikatsnomina (etc.) möglich: vgl. etwa Phdr. 238a4. 11 Die Ähnlichkeit wird meist übersehen; doch vgl. Patterson 2007, 7 (unter Ablehnung des Vorhandenseins von Diagonalen zu Beginn: siehe unten): „although Socrates’ version is idiosyncratic, it bears significant resemblance to a Euclidian production proof“. Er zeigt dies in zwei ‚euklidischen‘ Varianten des vorliegenden Beweises, einmal als Problema, einmal als Theorema. Die folgende Analyse belegt, dass die Ähnlichkeit mit Euklid weniger idiosynkratisch ist, als es den Anschein hat. 12 Zu den Unterschieden zwischen der Dialogsituation und einem streng mathematischen Beweis vgl. Patterson 2007, 5–7; er weist insbesondere darauf hin, dass der forschende Dialogfortschritt mit den teils fehlerhaften Antworten des Sklaven selbstverständlich keine Entsprechung bei Euklid hätte. 13 Ein nicht-terminologisches Verständnis sehen Ebert 1973, 100 Anm. 28 und Boter 1988, 212, ein terminologisches Bluck 1961, 292 und Sharples 1989, 222 f. Anm. 6. Allgemein zu τετράγωνον (und den entsprechenden Adjektiven) als Fachterminus siehe Mugler 1958, 418–420. Das Substantiv χωρί-

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γωνον χωρίον ist mathematisch kein τετράγωνον, ‚Quadrat‘: Der prima vista überraschende Zusatz von χωρίον macht aus dem fachmathematischen Terminus für ‚Quadrat‘ effektiv ein bloßes ‚Viereck‘,14 eine Figur, die verschieden lange Seiten und verschiedene Innenwinkel besitzen kann. Diese ist aber mathematisch nicht dafür geeignet, das (bisher nur implizite) Beweisziel zu erreichen, die Verdoppelung eines Quadrats. Doch Sokrates benennt dann in der Tat im direkten Fortgang am vorliegenden mathematischen Modell alle notwendigen Eigenschaften des für den Beweiszweck benötigten ‚Quadrats‘ und generiert sie damit effektiv, macht also aus der ‚viereckigen Fläche‘ ein mathematisches Quadrat, aus dem τετράγωνον χωρίον durch zielgerichtete Spezifikation ein τετράγωνον. Dies erfolgt in zwei Schritten: (1) Zuerst fragt Sokrates: Ἔστιν οὖν τετράγωνον χωρίον ἴσας ἔχον τὰς γραμμὰς ταύτας πάσας, τέτταρας οὔσας; (Men. 82b10–c1). In der Forschung wird diese Frage sprachlich auf dreierlei Weise analysiert: (a) mit existentiellem ἔστιν im Sinne von „There exists then a square having all these four sides equal?“; (b) mit ἔστιν als Hilfsverb zu ἔχον im Sinne von „Does a square have four equal sides?“; (c) mit ἔστιν als Kopula und dem Partizip ἔχον als prädikatives Substantiv im Sinne von „A τετράγωνον is a thing having“.15 Bisher wenig Beachtung hat ein viertes Verständnis gefunden: (d) ἔστιν fungiert als Kopula, aber mit dem (zu ergänzenden) Subjekt τοιοῦτον aus Men. 82b10 sowie (abermals) dem Prädikatsnomen τετράγωνον χωρίον,16 und zwar im Sinne einer Fortführung der ‚Ekthesis‘.17 Gefragt wäre insgesamt bis zu diesem Punkt, ob es sich bei dem von Sokrates gezeichneten Diagramm um eine ‚viereckige Fläche‘ handele, bei der alle vier Seiten gleich lang sind. Das Partizip von ἔχειν (Men. 82c1: ἔχον) spezifiziert dann eine Eigenschaft des zur Rede stehenden mathematischen Objekts, analog zum Vorgehen in der Mathematik, wenn speziell in der || ον ist ebenfalls ein Fachterminus: Mugler 1958, 450 f.; vgl. allein für Euklid, Elem. 1 die Propositionen 4; 34; 43 und 46. Die Allgemeinheit der Bedeutung als ‚Fläche‘ zeigt sich in Euklid, Elem. 12, 2 oder in Euklid, Dat. def. 1; für rechtwinklige Flächen vgl. den häufigen Gebrauch in Euklid, Elem. 10. 14 Diese Junktur kommt bei Euklid (und den anderen relevanten Mathematikern) nicht vor (mit Ausnahme des Porisma zu Elem. 2, 4, doch wird dies seit Heiberg athetiert: siehe Heath 1926, 1, 381). 15 Siehe für die verschiedenen Interpretationen die Übersicht bei Boter 1988, 211 f., speziell zu (c) Verdenius 1957, 294 f. und Bluck 1961, 294 (dort das Zitat). 16 Vgl. Merkelbachs 1988, 58 Übersetzung, die weitgehend mit der hier gegebenen übereinstimmt (wenn sie auch nicht im Kontext fachmathematischer Sprechweise steht). Vgl. Apelt 1922, 40 (auch wenn 80 anscheinend eine andere Erklärung erfolgt) und Sharples 1989, 223 (allerdings in korrigierender Wiedergabe von Boter 1988, die die hier gemachten Voraussetzungen nicht teilt). Das Adjektiv hat die Funktion einer „mittelbar attributiven Bestimmung, welche wir im Deutschen entweder dadurch ausdrücken, dass wir das Partizip nachsetzen […] oder durch einen adjektivischen Nebensatz mit welcher oder der; das Partizip hat alsdann prädikative Bedeutung“ (Kühner & Gerth § 480, 1 c). 17 Vgl. die parallele Formulierung in Men. 84e4–85a1, wo das Demonstrativum αὕτη als Subjekt, γραμμή angesichts der Artikellosigkeit als durch ἐστιν angebundenes Prädikatsnomen sowie ἐκ γωνίας εἰς γωνίαν [τινὰ] τέμνουσα δίχα ἕκαστον τούτων τῶν χωρίων als hinzutretende Partizipialgruppe fungieren, wobei von den letzten beiden Ersteres allgemein die Art des Objekts bestimmt und Zweiteres eine spezifische, im Kontext unmittelbar relevante mathematische Eigenschaft benennt.

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Ekthesis eine für den Beweis zentrale Eigenschaft eines mathematischen Objekts explizit spezifiziert wird (vgl. instruktiv Protasis und Ekthesis in Euklid, Elem. 1, 5).18 Sokrates fokussiert damit nach der Generierung des gesamten Objekts (τετράγωνον χωρίον) auf eine spezifische relationale Eigenschaft dieses Objekts, und zwar mit direkter, deiktischer Bezugnahme (ταύτας), pragmatisch äquivalent zur Belegung mit einem Bezeichner wie ΑΒ wie in der Fachmathematik. Die relevante relationale Eigenschaft ist konkret die Gleichheit aller Seiten der vorliegenden Fläche; deren Gesamtzahl wird zugleich auf vier bestimmt (τέτταρας οὔσας). Von Relevanz ist diese Eigenschaft im weiteren Beweisgang nicht nur deshalb, weil sie das Quadrat mathematisch spezifiziert, sondern auch insoweit, als auch das verdoppelte Quadrat explizit diese Eigenschaften besitzen soll (siehe insbesondere Men. 82d5–7 und 83a1–3); es handelt sich folglich um eine Eigenschaft des Ursprungsquadrats, auf die der mathematisch ungebildete Sklave ausdrücklich hingewiesen werden muss. Die zweite Stufe der ‚Ekthesis‘ ist also wie folgt zu verstehen: ‚Ist dies [sc. τοιοῦτον] nun eine viereckige Fläche, die all diese Seiten, von denen es vier gibt, als gleich lange hat?‘ Damit liegt auch hier nicht eine Frage nach der Bestätigung einer Definition des Quadrats seitens des Sklaven vor (die ja angesichts seiner nicht vorhandenen Fachkenntnisse sowieso ohne argumentative Relevanz wäre), sondern nach der Identifikation und Benennung spezifischer beweisrelevanter Eigenschaften am konkreten Objekt. Effektiv erfolgt sogar, trotz des Fehlens des euklidischen Imperativs der dritten Person, eine genuine Setzung dieser Eigenschaften: Mit der bejahenden Antwort des Sklaven besitzt das in Frage stehende Objekt die benannten Eigenschaften für den weiteren Verlauf des Gesprächs in der von Sokrates benannten allgemeinen Form. Der Zweck des Vorgehens ist transparent: Zum einen erlaubt es, über das Objekt und seine Eigenschaften sprechen zu können, zum anderen legt es die Grundlage für eine mathematische Folgerichtigkeit des Beweises. Was die konkrete Gestaltung der Dialogsituation angeht, kommt die entscheidende Bedeutung dem zweiten Aspekt zu, ist doch das zugrunde liegende Beweisziel ein streng mathematisches. (2) Im dritten Schritt der Ekthesis fragt Sokrates den Sklaven: Οὐ καὶ ταυτασὶ τὰς διὰ μέσου ἐστὶν ἴσας ἔχον; (Men. 82c2 f.). Angesichts des gleichen Kontextes und der parallelen Konstruktion (freilich mit jetzt nicht mehr explizit ausgesprochenem τετράγωνον χωρίον; die Sätze werden immer brachylogischer) ist das Ziel der Frage

|| 18 Zwar verweist auch Boter 1988, 212 Anm. 8 zur Erklärung auf den Sprachgebrauch der Fachmathematik, allerdings in irreführender Weise: In der angeführten def. 45 bei Heron (ὀρθογώνιον δέ ἐστι τὸ μίαν ἔχον ὀρθὴν γωνίαν) leistet im Gegensatz zur Formulierung bei Platon ein Artikel eine explizite Substantivierung des Partizips, hier sachlich geboten zur Definition eines ὀρθογώνιον, das entsprechend funktional nicht Subjekt ist (die von Verdenius 1957, 297 angeführten Parallelstellen sind für die Platon-Stelle nicht beweiskräftig, weil sie zum einen aufgrund ihres poetischen Charakters Artikellosigkeit aufweisen und zum anderen keine Verbindung eines Partizips mit dem Verb εἶναι im gewünschten Sinn belegen; in Men. 88b7 f. dürfte es sich zudem eher um prädikative Partizipien zum implizit gegebenen Subjekt als um artikellos substantivierte Partizipien handeln).

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dasselbe wie im vorangehenden Schritt, nämlich die Benennung und Setzung einer spezifischen Eigenschaft des vorliegenden mathematischen Objekts, freilich mit dem Unterschied, dass angesichts des Demonstrativpronomens diese Linien mit diesem Schritt selbst eingezeichnet werden.19 Dies ist äquivalent zu einer Konstruktion mittels eines euklidischen Imperativs der dritten Person; in beiden Fällen ist die zusätzliche spezifische Relation hierdurch effektiv erzeugt. Die Spezifikation betrifft eine Eigenschaft, die sich angesichts des Genus von ταυτασὶ τὰς διὰ μέσου auf einzelne γραμμαί (‚Linien‘) bezieht, die, wie ausdrücklich festgestellt wird, durch den Mittelpunkt des Quadrats gehen (διὰ μέσου). Wenngleich der Sachverhalt so weit unstrittig ist, ist die communis opinio zur Identifikation dieser Linien problematisch: Seit der Antike geht man in der Regel davon aus, dass zwei Linien bezeichnet seien, die jeweils die Mittelpunkte zweier gegenüberliegender Seiten verbinden, also senkrecht aufeinander stehen und sich im Mittelpunkt des Quadrats schneiden, modern gesprochen: um die Mittelsenkrechten, zumindest im Fall des Quadrats (siehe hierzu unten). Ein solches Quadrat ist gezeigt in Abbildung 3.20

Abb. 3: Sokrates’ Quadrat gemäß der communis opinio

Angesichts des bisherigen Ergebnisses, das den Eingang des Gesprächs als an die konkrete Situation angepasste Ekthesis erwiesen hat, ist diese Deutung nicht plausibel: Mittelsenkrechten kommt im weiteren Beweisgang weder explizit noch implizit irgendeine Funktion zu, speziell und ausdrücklich nicht in Hinsicht darauf, dass diese Linien dem Sklaven das Zählen einzelner Teilquadrate des Gesamtquadrats, mithin die Bestimmung der jeweiligen Gesamt-Flächeninhalte ermöglichte. Flächeninhalte werden im Folgenden von niemandem abgezählt,21 sondern von Sokrates und / || 19 Zur Parallelität beider Sätze siehe (jedoch mit leicht anderen Schlussfolgerungen) Boter 1988, 211. 20 Siehe Boter 1988, 208 (mit weiterer Literatur; vgl. unten); vgl. Brumbaughs 1954, 27–29 Wiedergabe der Diagramme in den Platon-Scholia. Im Englischen ist weniger von „transversals“ (als Abkürzung von „transversals joining the mid-points of opposite sides of the square“ [Bluck 1961, 294]; vgl. Weiss 2001, 84) zu sprechen, da dies insoweit irreführend ist, als deren Eigenschaften allgemeiner als die der hier mutmaßlich gemeinten Linien sind. Diesen Eigenschaften wird die Bezeichnung ‚perpendicular bisectors‘ gerecht, gegebenenfalls ergänzt um ‚transversal‘, um die Verbindung der gegenüberliegenden Seiten anzuzeigen (zum Problem der Bezeichnung im Englischen vgl. Boter 1988, 208). 21 Siehe Boter 1988, 213. Daneben gibt es keinen (speziell mathematisch) hinreichenden Grund für die Hypothese der Mittelsenkrechten. Vgl. Blucks 1961, 294 Begründung: „Socrates’ purpose in introducing these transversals is partly to make to the slave the obvious point that squares can be large or small (a point which he makes in his next question), but probably also – and this is much more important – to help the slave when it comes to determining the area of ABCD“, das heißt des Ausgangsquadrats von vier Fuß. Wie Ebert 1974, 100 Anm. 28 anmerkt, wird bei dieser Annahme „der geometrische Sinn dieser Frage unverständlich“, insbesondere weil „transversals are hardly a natural fea-

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oder dem Sklaven jedes Mal in eindeutiger Weise mit Bezug auf die Gesamtflächen errechnet, und zwar mittels einer Multiplikation der Seiten (siehe unten).22 Zudem ergäbe sich, wie sich sogleich zeigen wird, aus der Annahme von ‚Mittelsenkrechten‘ ein gravierendes Problem: Das mathematische Ergebnis wäre schlicht falsch. Eine bessere Deutung ist zur Hand: In Οὐ καὶ ταυτασὶ τὰς διὰ μέσου ἐστὶν ἴσας ἔχον; (Men. 82c2 f.) sind nicht die Mittelsenkrechten, sondern die Diagonalen des Quadrats bezeichnet.23 Nicht nur gehen sie ebenfalls durch den Mittelpunkt der viereckigen Fläche, sondern ihnen kommt im Beweisgang auch eine zentrale Funktion zu, ist es doch die Diagonale, von der aus das gesuchte verdoppelte Quadrat konstruiert wird (Men. 84e4–85b7). Zudem wird ein zweites Ziel erreicht: Die ‚viereckige Fläche‘ vom Beginn der Ekthesis wird durch die Eigenschaft der Längengleichheit der Diagonalen in Verbindung mit der zuvor festgestellten Eigenschaft der Längengleichheit der vier Seiten als ‚Quadrat‘ im strengen mathematischen Sinn spezifiziert. Dies ist in der communis opinio nicht der Fall: Weder die Seitengleichheit noch die gleiche Länge der ‚Mittelsenkrechten‘ garantiert, weder einzeln noch in Kombination, die Eigenschaft des besagten Objekts, ein Quadrat zu sein; zwar hat ein Quadrat beide Eigenschaften, doch treffen sie ebenso auf einen Rhombus zu (vgl. Abbildung 4). Die Eigenschaft der gleich langen Diagonalen hingegen unterscheidet als (eine mögliche) Eigenschaft das Quadrat vom (allgemeineren) Rhombus, das heißt wohlgemerkt in Kombination mit den anderen beiden Eigenschaften in hinreichender Weise.24

|| ture of squares the way diagonals are“ (Weiss 2001, 85 Anm. 22), auch im Kontext griechischer Geometrie: In der Fachmathematik sind Mittelsenkrechten weitgehend irrelevant; in dieser Konfiguration finden sie sich in Euklids Elementen nur in den Propositionen 2, 7 f. und 13, 17, jedes Mal freilich im Kontext des Einbeschreibens eines Quadrats in einen Kreis bzw. eine Kugel; vgl. unten Anm. 39. 22 Siehe Boter 1988, 209 f.; auch Weiss 2001, 91 f. und Patterson 2007, 19 Anm. 16. Dass multipliziert würde, hält Fowler 1990, 176–179 für unwahrscheinlich. Doch der Text ist an jeder Stelle eindeutig (siehe auch Weiss 2001, 92 Anm. 31). Zudem sind die von Fowler unterstellten inhaltlichen Bedingungen und Parallelen sachlich inadäquat, sowohl zur ägyptischen Landvermessung als auch zum gewöhnlichen Vorgehen Euklids (auch wenn dieser Flächen tatsächlich weniger in absoluten Maßstäben, sondern als Addition von Teilflächen auffasst). 23 Dies hat systematisch erst Boter 1988 vorgeschlagen und expliziert (siehe jedoch schon Ebert 1973, 179 und 181 Anm. 18 sowie Ebert 1974, 99 f., speziell Anm. 28, sowie Ebert 2007, 190 f. mit Anm. 11 und Weiss 2001, 84–94, speziell 84 f. Anm. 18; vgl. Mugler 1948, 388 [ohne Explikation]). Boters Analyse ist in weiten Teilen zuzustimmen, allerdings zeigen sich Unterschiede zur hier vorgenommenen Deutung hinsichtlich der Einbettung in den Gesamtkontext der mathematischen Passage und bezüglich mehrerer entscheidender Details. Die folgende Analyse ist in dieser Hinsicht eine kritische Bestätigung und Fortführung von Boters Studie vor dem Hintergrund der (mehr oder weniger ablehnenden) Reaktionen von Sharples 1989 und Fowler 1990. Die Annahme von Diagonalen wird auch ansonsten (in der Regel ohne hinreichende Begründung) abgelehnt: vgl. Cherniss 1950/1, 406 Anm. 32, Bluck 1961, Frajese 1963, 100 Anm. 9, Klein 1965 und Patterson 2007, 3 Anm. 1. 24 Siehe hierzu auch Boter 1988, 210 f. Insofern ist in der Tat zu beobachten, dass (wenn auch nicht in Form einer Definition: vgl. unten und siehe Weiss 2001, 85 mit Anm. 21) eine fortschreitende Spezifikation von Viereck – Rhombus – Quadrat erfolgt (Ebert 1974, 100 Anm. 28).

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Abb. 4: Mögliche Transformation des ‚Quadrats‘ bei der Annahme von gleich langen Mittel-‚Senkrechten‘, resultierend in ungleich langen Diagonalen und also keinem Quadrat

Insgesamt erweist sich Folgendes: Sokrates stellt mit dem Zeichnen der und dem Verweis auf die Diagonalen eine mathematische Eindeutigkeit her, die insofern notwendig und also sachdienlich ist, als die folgende Quadratverdoppelung andernfalls mathematisch nicht hinreichend fundiert wäre, mit der Folge, dass auch die von Sokrates und dem Sklaven erzielten Ergebnisse keinen Anspruch auf Wahrheit hätten, und zwar weder als ‚Wissen‘ noch als ‚wahre Meinungen‘ (Men. 85c7: ἀληθεῖς δόξαι). Dies wäre desaströs für Sokrates’ philosophisches Beweisziel, die Demonstration der Wiedererinnerungslehre: Ohne die effektive Einschränkung auf das Quadrat wäre auch der Rhombus in das mathematische Ergebnis inkludiert, und dies führte evident zu einem falschen Ergebnis und also gerade zu ‚falschen Meinungen‘. Sokrates’ Vorgehen und speziell die Erzeugung der Diagonalen erweist sich also als durch genuin mathematische Sachzwänge bedingt – und eben nicht durch die Erfordernisse des Gesprächs mit dem Sklaven oder in trivialer Hinsicht in Hinblick auf einen (dem Sklaven ähnlichen) mathematisch ungebildeten Leser.25 Damit ist eine hinreichende Erklärung für die Auswahl der drei spezifischen Eigenschaften gefunden, die Sokrates in der ‚Ekthesis‘ benennt, am gezeichneten Diagramm aufweist und effektiv dem im Zuge dessen erzeugten mathematischen Modell zuweist, nämlich (a) die Viereckigkeit, (b) die Gleichheit der Längen der vier Seiten und (c) die Existenz und Gleichheit der Längen der Diagonalen: Zum einen ist hierdurch garantiert, dass es sich um ein Quadrat handelt und also die mathematische Validität der Untersuchung garantiert ist.26 Zum anderen werden diejenigen Eigenschaften vor Beginn des Beweises benannt, am Diagramm aufgezeigt und effektiv erzeugt, die im Einzelnen für den Fortgang der mathematischen Argumentation relevant sind. Dabei ist irrelevant, dass Bedeutung und Funktion dieser Eigenschaften am Beginn des Gesprächs, also vor dem eigentlichen Beweis, nicht transparent sind, diese also erst spät in den Fokus rücken und also an dieser frühen Stelle zu Verwirrung seitens des Sklaven führen könnten: Derartiges ist auch in einem streng mathematischen Beweis oft der Fall; und ob der Sklave verwirrt ist oder nicht, ändert nichts

|| 25 Vgl. Sharples 1989, 222: „Even if what is said between 82b8 and 82c2 is not enough already to define the figure as a square, the reader may still naturally assume that it is and visualise it as such“; ebenso Patterson 2007, 3 Anm. 1. Dies verkennt aber die eigentliche Pointe. 26 Vgl. Ebert 1974, 100 Anm. 100 und Boter 1988, 210–212; allerdings nicht in Form einer Definition (210 f.): Dies wäre im Kontext schon deshalb nicht zielführend, weil eine solche allgemeine Aussage keine Relevanz hinsichtlich Identität und Beschaffenheit des gegebenen Objekts hätte.

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an den mathematischen Sachzwängen.27 In diesem Sinn lässt sich weiter erkennen, dass im Kontext des spezifischen Beweises ausgeschlossen ist, dass Sokrates anstatt der Gleichheit der Diagonalen auch die Gleichheit der Winkel (die mathematisch ja alternativ in gleicher Weise in Verbindung mit der Viereckigkeit und der Gleichheit der Seitenlängen ein Quadrat definiert: vgl. Euklid, Elem. 1, def. 22) oder eine ähnliche für Quadrate spezifische Attributmenge am Beginn des Gesprächs hätte anführen können, und zwar auch dann, wenn eine solche Eigenschaft tatsächlich für den Sklaven in höherem Maße transparent wäre:28 Mathematisch ist irrelevant, ob „the procedure of drawing the diagonals would be the natural one to adopt“,29 relevant ist nur, ob sie etwas für den Beweis Sachdienliches beiträgt. Dies ist bekanntlich der Fall. Freilich fehlt noch eine letzte Eigenschaft, die den Untersuchungsgegenstand zu einem Quadrat im mathematischen Sinne macht. So fragt Sokrates den Sklaven danach, ob eine derartige Fläche auch größer oder kleiner sein könnte (Men. 82c3 f.: Οὐκοῦν εἴη ἂν τοιοῦτον χωρίον καὶ μεῖζον καὶ ἔλαττον;). Hierdurch werden zwei Probleme im Voraus aus dem Weg geräumt: (1) Die Verallgemeinerbarkeit der im Folgenden gemachten Ergebnisse ist garantiert, denn die absolute Größe des konkret zugrunde gelegten Ausgangs- bzw. Zielquadrats wird als unerheblich bestimmt. Das Ergebnis gilt prinzipiell nicht nur für Quadrate etwa der Seitenlänge 2, sondern für jedes Quadrat oder eben ‚das‘ Quadrat. (2) Es wird überhaupt erst die theoretische Möglichkeit dafür geschaffen, die Aufgabe der Verdoppelung in Verbindung mit der geforderten Ähnlichkeit von Ausgangs- und Zielquadrat zu stellen.30 In einem regulären Beweis bei Euklid wären bei|| 27 Vgl. Boter 1988, 212; zum Einwand siehe Frajese 1963, 100 Anm. 9, Sharples 1989, 221 und Patterson 2007, 3 Anm. 1. Für ein instruktives Beispiel zum ersten Punkt vgl. Euklid, Elem. 8, 2. 28 So Sharples 1989, 222: Transparenter sei, auf schon vorhandene Attribute (sprich: die Winkel) zu verweisen, nicht auf hinzugefügte (sprich: die Diagonalen). Doch ignoriert dies, dass hinsichtlich der Diagonalen ein klarer methodischer Vorzug besteht, denn unter der Annahme, dass sie die ‚Linien durch die Mitte‘ sind, gilt, dass der Verweis auf das Quadrat „makes use only of the concept of equal length of lines“ (Ebert 2007, 190 Anm. 11). Dies ist nicht nur „elegant“ (welche Eigenschaft Fowler 1990, 180 Anm. 12 freilich dem anderen Vorschlag zuspricht), sondern entspricht dem mathematischen Verständnishorizont des Sklaven. Vgl. unten Anm. 73. Zudem ist Messung und Vergleich von Winkeln im Rahmen der Mathematik euklidischen Typs im Allgemeinen keine triviale Aufgabe: vgl. oben Anm. 340. 29 Sharples 1989, 222. 30 Nicht plausibel ist die Annahme, es handele sich bei der Frage um „a precaution against the slave’s denying after his first set-back that a square twice the size of the first can be constructed at all“ (Cherniss 1950/1, 406 Anm. 32) – denn dass eine solche Fläche größer oder kleiner sein könnte, steht doch für den ungebildeten, das naive Verständnis repräsentierenden Sklaven außer Frage. Zudem wäre eine solche Äußerung im pragmatischen Kontext erst nach solch einem Einwand zu erwarten. Ebenso wenig überzeugt Muglers 1948, 241 f. und 257 f. und 388 These, die Frage sei im Sinne eines ‚euklidischen‘ Postulats bezüglich der Möglichkeit geometrischer Ähnlichkeit zu deuten, mithin eines Postulats bezüglich der „structure euclidienne de l’espace“ (388; vgl. Fowler 1990, 179–181 und Tóth 2010 zu Aristoteles; vgl. hierzu Lattmann 2011). Das Größer-und-kleiner-Sein ist im Übrigen

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de Punkte implizit gegeben und müssten nicht explizit festgestellt, das heißt postuliert werden: Das ‚euklidische‘ Quadrat ist nicht mit Bezug auf eine spezifische Größe, sondern allgemeine universelle Relationen definiert. Bemerkenswert ist allerdings, dass Sokrates’ Vorgehen zu demselben Ergebnis führt: Sein Beweis wird ausgehend von einem Modell gewonnen werden, das das universelle Quadrat der mathematischen Theorie repräsentiert; es zeichnet sich durch ebensolche allgemeine qualitativquantitative und nicht partikulare numerisch-exakt quantitative Relationen aus. Insgesamt zeigt sich das folgende Ergebnis: Der Beginn des Gesprächs zwischen Sokrates und dem Sklaven entspricht einer Ekthesis wie in Euklids Elementen. Sokrates erzeugt ein Modell eines mathematischen Objekts; dieses Objekt ist gekennzeichnet durch universelle Relationen. Die universellen Relationen werden explizit angeführt und verleihen dem durch Modellierung hergestellten Objekt die Eigenschaft, ein Modell eines mathematischen Objekts zu sein, konkret eines mathematischen Quadrats. Dabei zeigen sich zwar zwei Unterschiede zu Euklid, die aber sinnvoll auf den pragmatischen Kontext der fiktionalen Situation zurückzuführen sind:31 (1) Die bei Euklid als Definitionen gegebenen, axiomatisch festgestellten Relationen werden hier anhand des Modells eingeführt, und zwar in einem setzungsäquivalenten Akt. Der Grund ist, dass Sokrates nicht auf Definitionen rekurrieren kann. Hiermit verbunden ist, dass die relevanten Eigenschaften des Quadrats mit Hilfe deiktischer Gesten festgelegt werden und dies nicht in einem einzigen Satz erfolgt, sondern verteilt auf mehrere Fragen, die jedoch angesichts der von Satz zu Satz zunehmenden Brachylogie und parallelen Konstruktion als eng zusammengehörig erscheinen. (2) Anders als bei Euklid erfolgt keine explizite Bezeichnung von Elementen des Diagramms. Bezeichner sind im Kontext jedoch evident verzichtbar, insbesondere, weil ihre Funktion von (im Text repräsentierten und in pragmatischer Hinsicht äquivalenten) deiktischen Gesten übernommen wird. Dies kongruiert mit der Tatsache, dass in antiken mathematischen Diagrammen grundsätzlich nur diejenigen Elemente explizit bezeichnet werden, die auch tatsächlich in den Beweis eingehen; davon, dass alle Diagrammelemente vollständig bezeichnet wären, kann keine Rede sein.32 Diese || kein Argument dagegen, dass die Linien διὰ μέσου Diagonalen sind; hiergegen spricht schon die Potentialität der Aussage (dies bei Boter 1988, 209). 31 Vgl. allgemein Asper 2007, 120 f.; der Unterschied ist der folgende: „Der mathematische Text verwischt der Intention nach alle Spuren, die den Prozeß des Wissensgewinns beschreiben könnten […]. Ihm geht es ganz offensichtlich nicht um den Prozeß der Wissensermittlung, sondern um die Fixierung des Ergebnisses“ (121). Andererseits wird sich „die mündliche Rede Euklids […] formal nicht sehr etwa von der des Aristoteles oder der von Platon im Menon und im Theaitet mimetisch präsentierten unterschieden haben“ (133). Vgl. unten Anm. 5165. 32 Vgl. Autolykos, Sph. 1 und siehe oben Kap. 3. Instruktiv sind die Diagramme zu den arithmetischen Sätzen in Euklids Elementen: vgl. zum Beispiel Euklid, Elem. 7, 1. Zum Problem vgl. die Diagramme zur Menon-Stelle bei Bluck 1961, 299 und Sharples 1991, 68 f. Entsprechend finden sich sogar im Text der Übersetzungen frei ergänzte Verweise auf die Linien (vgl. Sharples 1991, 73). Diese stellen ein modernes Supplement dar. Auf diesen Umstand finden sich allerdings nur selten explizite Hin-

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Beobachtung bestätigt das oben erzielte Ergebnis, dass das antike mathematische Diagramm nicht in wesentlicher Hinsicht ein „lettered diagram“ ist.33 Insgesamt zeigt sich an dieser Stelle des Gesprächs (Men. 82c4) das in der ‚Ekthesis‘ erzeugte Diagramm so, wie es in Abbildung 5 gezeigt ist.

Abb. 5: Ausgangsquadrat des Beweises (bis Men. 82c4)

Da einerseits alle wesentlichen Elemente des Diagramms für den Sklaven benannt und andererseits alle mathematisch relevanten Relationen bestimmt sind und also die Diskussion ein genuin mathematisches Quadrat zum Gegenstand haben wird, kann Sokrates beginnen, das eigentliche Problem mit dem Sklaven zu behandeln. Diese Behandlung, so ist angesichts der bisherigen Ergebnisse zu erwarten, wird sich ebenso ‚euklidisch‘ wie die ‚Ekthesis‘ vollziehen, also im Kern als ‚Apodeixis‘. Der Beginn der auf die ‚Ekthesis‘ folgenden Passage macht jedoch prima vista einen anderen Eindruck, denn zur Demonstration wählt Sokrates den speziellen Fall eines Quadrats von zweimal zwei Fuß und fragt nach der Fläche dieses Quadrats: Εἰ οὖν εἴη αὕτη ἡ πλευρὰ δυοῖν ποδοῖν καὶ αὕτη δυοῖν, πόσων ἂν εἴη ποδῶν τὸ ὅλον; (Men. 82c5 f.: „Wenn diese Seite zwei Fuß lang wäre und diese zwei Fuß, von wie viel Fuß wäre dann die ganze Fläche?“).34 Die Antwort gibt er selbst, indem er zuerst eine analoge Rechnung zu einem Rechteck von einmal zwei Fuß vornimmt (Men. 82c6–8), um sodann durch Hilfestellung das gesuchte Ergebnis von vier Fuß zu ermitteln (Men. 82d1–4),35 und zwar wohlgemerkt ebenfalls durch Ausrechnen und nicht Abzählen. Die Identifikation der Linien διὰ μέσου als Diagonalen findet eine Bestätigung: (1) In Men. 82c5 f. wird nicht mittels des Indikativs, sondern des potentialen Optativs die Seitenlänge des Quadrats auf zwei Fuß festgesetzt. Doch die konkrete Zahl ist beliebig, so dass keine feste Seitengröße vorliegt, die mit Liniensegmenten korrelier-

|| weise (vgl. Frajese 1963, 100 f. Anm. 9). Eine Ausnahme bezüglich der Bezeichnungen bildet Klein 1965, 100–102. 33 Siehe oben Kap. 3, speziell mit Anm. 373. Die Analyse zum Menon zeigt, dass diese Beurteilung den Kern des Problems verfehlt; vgl. Netz 2004b, 270: „Written symbols can be put in space next to other written symbols (the diagram), thus making silent statements, of a kind unimaginable without writing.“ Genau dasselbe ist jedoch in äquivalenter Weise auf anderem Wege möglich – und wird es vor der endgültigen Formulierung einer jeden Proposition (etwa bei und von Euklid) auch tatsächlich der Fall gewesen sein. Letztlich liegt hierfür ja auch in Archimedes’ heuristischer Methode, die er in der Methodos (= Eratosth.) vorführt, ein einschlägiges Beispiel vor (vgl. unten Kap. 5.3.3). 34 Siehe Boter 1988, 209. 35 Aus moderner Perspektive wäre eine Unterscheidung von Längen- und Flächenmaß nötig; wie sich aber etwa bei Euklid zeigt (insbesondere Elem. 7–9), wurden Flächen oder Volumina als eindimensionale Linien konzeptualisiert; vgl. Tht. 147d3–6 (siehe unten Kap. 4.6).

Falsche Meinungen | 131

te. Das Diagramm ist weniger partikular, als es den Anschein hat: Eine spezifische Seitenlänge kommt ihm nur durch willkürliche, nicht essentielle Aspekte berührende Setzung zu, und es hat keine weiteren physikalischen Merkmale in dieser Hinsicht. (2) Wie sich in Men. 82c5–8 zeigt, ist der Sklave überfordert, die Fläche des Quadrats mit einer Seitenlänge von zwei Fuß sofort und ohne Hilfe zu benennen. Dies aber wäre bei dem Vorhandensein von Teilquadraten kaum plausibel, denn auch wenn der Sklave nicht bewandert in Mathematik ist, könnte er doch in jedem Fall bis zwei zählen. Entsprechend will Sokrates das Problem dadurch lösen, dass er eine Rechenregel aufzeigt, und zwar am einfacheren Beispiel einer Fläche, deren eine Seite eine Länge von einem Fuß und deren andere Seite eine Länge von zwei Fuß habe.36 Bezeichnenderweise ist im relevanten Konditionalsatz in Protasis und Apodosis das Imperfekt verwendet (Men. 82c5–8: εἰ ἦν ταύτῃ δυοῖν ποδοῖν, ταύτῃ δὲ ἑνὸς ποδὸς μόνον, ἄλλο τι ἅπαξ ἂν ἦν δυοῖν ποδοῖν τὸ χωρίον; [„Wenn die Fläche hier zwei Fuß lang wäre, hier aber nur ein Fuß, wäre sie dann nicht einfach nur zwei Fuß groß?“]), so dass eine irreale Aussage vorliegt, und zwar mit Bezug auf die konkrete Gesamtfigur (man beachte ταύτῃ δὲ ἑνὸς ποδὸς μόνον in c7 f. parallel neben Ἐπειδὴ δὲ δυοῖν ποδοῖν καὶ ταύτῃ in Men. 82d1); ihr wird dadurch eine nicht-vorhandene, kontrafaktische Eigenschaft zugeschrieben. Dies wäre jedoch kaum erklärlich und sogar in der Gesprächssituation stark irreführend, wenn tatsächlich eine derartige (rechteckige) Figur von 1 x 2 Fuß vor den Augen des Sklaven vorhanden wäre.37 (3) Auf der Grundlage dieses einfachen Beispiels gelingt es dem Sklaven, das richtige Ergebnis auszurechnen, und zwar wohlgemerkt als Antwort auf Sokrates’ eindeutige Aufforderung λογισάμενος εἰπέ (Men. 82d4: „berechne und sage es“).38 (4) Dies führt zu dem Schluss, dass Sokrates’ Gesprächsführung nicht zielführend wäre, wenn das Ausgangsquadrat tatsächlich wie in Abbildung 3 gezeigt aussähe. Damit entfällt das Hauptargument gegen die Annahme, mit den Linien durch die Mitte seien die Diagonalen bezeichnet – die, wie sich jetzt erkennen lässt, dasselbe Spannungsverhältnis von unscharf-terminologischer Bezeichnung und zugrunde liegender wissenschaftlicher Strenge des Beweises wie die Junktur τετράγωνον χωρίον (Men. 82b9) aufweisen.39

|| 36 Boter 1988, 213. 37 Siehe Boter 1988, 210. So ist offenbar, dass Fowlers 1990, 178 Anm. 9 Beschreibung („So while Socrates may not draw the 2 x 1 rectangle, there is an example of such a rectangle for him to point to“) nicht mit dem Text vereinbar ist. 38 Allgemein ist festzustellen, dass Platon das Verb λογίζεσθαι „for rational arithmetic, i.e. for number theory, and, still more broadly, for rational thought in contrast to sense-perception and for knowledge reached and justified by formal inference and analysis in emphatic contrast to sensory cognition“ benutzt (Vlastos 1965, 154; vgl. Boter 1988, 209). 39 Damit ist auch der bei dieser Deutung festzustellende Unterschied in der Bezeichnung der Diagonalen (deren terminologisch richtige Form erst in Men. 85b4 in expliziter Form eingeführt wird) im Vergleich von Men. 82c2 f. und Men. 85b2 f. unproblematisch (zum Einwand siehe Sharples 1989, 225).

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Nachdem die Seitenlänge des vorliegenden Quadrats auf zwei Fuß und seine Fläche auf vier Fuß festgelegt worden ist (Men. 82c5–d4), beginnt Sokrates, sich der eigentlich zu lösenden Quadratverdopplung zuzuwenden. Er fragt den Sklaven (quasi als ‚Dihorismos‘), ob es eine doppelt so große derartige Fläche mit allen Seiten von der gleichen Länge wie im Ausgangsquadrat gebe (Men. 82d5–7: Οὐκοῦν γένοιτ’ ἂν τούτου τοῦ χωρίου ἕτερον διπλάσιον, τοιοῦτον δέ, ἴσας ἔχον πάσας τὰς γραμμὰς ὥσπερ τοῦτο).40 Nach der Bestimmung von deren Inhalt auf acht Fuß (Men. 82d7 f.) fordert Sokrates dazu auf, die Seitenlänge eines solchen Quadrats zu bestimmen (Men. 82d8–e2) – und damit zum Zentrum des Problems vorzudringen, das vom Sklaven erwartungsgemäß nicht einmal gesehen wird: Voller Überzeugung gibt dieser die falsche Antwort, es sei klar, dass die Seiten ebenfalls doppelt so lang seien (Men. 82e2 f.: Δῆλον δή, ὦ Σώκρατες, ὅτι διπλασία). Hier zeigt sich erneut, dass die Annahme von Mittelsenkrechten nicht zu halten ist: Wenn entsprechend ein Quadrat mit vier exakt gleich großen Teilquadraten vorläge, könnte der Sklave sofort ablesen, dass eine doppelte Seitenlänge zu einer Vervierfachung des Inhalts führt, und er wüsste, dass seine Antwort falsch ist. Ebenso leicht hätte Sokrates den Irrtum aufdecken können, was er aber bemerkenswerterweise nicht tut, sondern sogar einen unnötig komplizierten Umweg nimmt (siehe unten). Der bisherige Verlauf des Dialogs zwischen Sokrates und Menon ist nicht kompatibel mit der Hypothese der Mittelsenkrechten. Der Abschnitt endet mit einer kurzen Zwischenunterredung mit Menon (Men. 82e4–13). In ihr weist Sokrates Menon zum einen darauf hin, dass er den Sklaven nichts lehre, sondern ihn nur frage. Zum anderen fasst er das Ergebnis des bisherigen Gesprächs dahingehend zusammen, dass der Sklave momentan im Glauben sei, das flächenmäßig doppelte Quadrat werde von der doppelt so langen Seite erzeugt. Seine Aufforderung an Menon ist, in diesem Sinne zu schauen, wie der Sklave nach und nach die richtige Lösung finde (Men. 82e12 f.).

4.3 Aporie Die Aufforderung an Menon markiert den Beginn des zweiten Gesprächsabschnitts (Men. 82e12–84c9). In ihm zeigt Sokrates dem Sklaven, dass seine bisherigen Meinungen falsch waren, und führt ihn in den Zustand der Aporie. Nach einer resümierenden Wiederholung der falschen Antwort (Men. 82e14– 83a1) macht Sokrates den Sklaven zuerst erneut darauf aufmerksam, dass die im Ver|| Vgl. Boter 1988, 212 f.; er weist im Übrigen zu Recht darauf hin, dass „it should be realized that διὰ μέσου is no technical term for the transversal either“ (213; siehe auch 208 Anm. 3). 40 Hiermit muss nicht gemeint sein, dass die Seiten des Quadrats gleich sind. Dieser Satz kann auch eine analoge Gleichheit der Linienlängen in Ausgangs- und Zielquadrat bezeichnen, also sowohl der Seiten als auch der Diagonalen für sich genommen: siehe Ebert 2007, 191 Anm. 11. Bei Euklid wäre in einem solchen Fall ἑκατέραν ἑκατέρᾳ (oder ähnlich) ergänzt (vgl. etwa Euklid, Elem. 1, 4).

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gleich zum Ausgangsquadrat flächenmäßig doppelt so große Zielfläche nicht rechteckig, sondern quadratisch sein solle (Men. 83a1–3),41 und fordert den Sklaven zur Prüfung der Antwort auf (Men. 83a3 f.). Hierzu schlägt er eine Modifikation des ursprünglichen Diagramms vor: Οὐκοῦν διπλασία αὕτη ταύτης γίγνεται, ἂν ἑτέραν τοσαύτην προσθῶμεν ἐνθένδε; (Men. 83a4–6: „Wird diese Linie nicht doppelt so lang sein wie diese, wenn wir eine andere genauso lange Linie hier hinzufügen?“). Sokrates schlägt also vor, die vom Sklaven für die richtige Lösung gehaltene doppelt so lange Linie im Diagramm aktual zu erzeugen, und zwar durch Verdoppelung einer bereits vorhandenen Linie von zwei Fuß, also offenbar einer bestimmten Linie des Ausgangsquadrats: Letzteres zeigt sich eindeutig an ἑτέραν τοσαύτην (wobei, bezogen auf die jeweiligen Längen, die Gleichungen τοσαύτην = ταύτης und αὕτη = ταύτης + ἑτέραν τοσαύτην gelten). Die Verdoppelung garantiert, dass keine absoluten Größen relevant sind, sondern einzig die abstrakte relationale Proportion. Zwar ergibt sich nicht direkt aus dem Text, welche der vier Linien das Ziel von Sokrates’ deiktischer Geste ist und in welche Richtung die Verdoppelung erfolgt. Doch dessen ungeachtet legen die besondere Art des Konditionalgefüges und der kurz darauf folgende, die eigentliche Handlung anzeigende Adhortativ ἀναγραψώμεθα nahe, dass die Ausführung der Verdoppelung noch nicht jetzt, sondern erst mit Men. 83b1 f. erfolgt.42 Dies ergibt sich auch aus dem folgenden, analog konstruierten Konditionalgefüge Ἀπὸ ταύτης δή, φῄς, ἔσται τὸ ὀκτώπουν χωρίον, ἂν τέτταρες τοσαῦται γένωνται; (Men. 83a6–b1: „Wenn es vier so lange Seiten gibt, wird also, sagst du, auf dieser Seite die Fläche von acht Fuß stehen?“), in dem der Sklave erneut gebeten wird, seine Aussage zu bestätigen, dass die verdoppelte Fläche diese (bisher immer noch imaginierte) verdoppelte Linie als Seite habe. Nachdem der Sklave dies bejaht hat (Men. 83b1), zeichnet Sokrates die doppelt so langen Linien ein, um das gemäß der Aussage des Sklaven verdoppelte Quadrat zu erzeugen: Ἀναγραψώμεθα δὴ ἀπ’ αὐτῆς ἴσας τέτταρας, ἄλλο τι ἢ τουτὶ ἂν εἴη ὃ φῂς τὸ ὀκτώπουν εἶναι; (Men. 83b1–3: „Zeichnen wir also von dieser Seite aus vier gleich lange Linien – wird dann etwas anderes als diese Fläche das sein, wovon du sagst, || 41 Dieser Hinweis spricht neben der durchgängigen Verwendung von bloßem χωρίον ebenfalls für einen nicht-terminologischen Gebrauch der Junktur τετράγωνον χωρίον in Men. 82b9 f. auf der Ebene des Gesprächs mit dem Sklaven: siehe oben. 42 Trotz Sharples 1991, 152; siehe Bluck 1961, 298: „Socrates is at the moment merely indicating with his finger the lines that he means“ (vgl. Weiss 2001, 86 f.). Zu beachten ist, dass ἐάν mit dem Konjunktiv grundsätzlich dann verwendet wird, wenn gilt: „Der Redende stellt die Voraussetzung als eine solche hin, deren Verwirklichung je nach der Lage der Umstände zu erwarten steht“, also im Sinne von „wenn der Fall eintritt, dass du dies thust“ (Kühner & Gerth § 571, 2 III); in diesem Fall kann das Konditionalgefüge entweder einen futurischen oder einen verallgemeinernden Sinn haben (Kühner & Gerth § 575, 1 bzw. 2) – beides widerspräche jedoch streng genommen der Annahme der simultanen Zeichnung. Auch im Allgemeinen ergibt sich bezüglich des gesamten Gesprächs damit aus der jeweiligen Beschreibung nicht zwangsläufig die Ausführung der entsprechenden Zeichnung (so etwa Day 1994, 48).

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dass es die Fläche von acht Fuß ist?“). Dabei muss ἴσας τέτταρας (sc. γραμμάς) die Seiten des neuen größeren Quadrats bezeichnen, das wiederum mit τουτί (sc. χωρίον) bezeichnet ist, und ἀπ’ αὐτῆς (sc. γραμμῆς) bezieht sich auf eine der Seiten des Ausgangsquadrats von vier Fuß.43 Mithin verfährt die aktuale Konstruktion genau so, wie es die Abfolge der beiden vorangehenden Konditionalsätze imaginativ beschrieben hat. Das Ergebnis ist in Abbildung 6 gezeigt; evident ist es mathematisch irrelevant, welche konkrete Linie verlängert wird, ist das Diagramm doch in Bezug auf das Ausgangsquadrat rotationssymmetrisch bei einer Drehung in 90°-Schritten.

Abb. 6: Erste Erweiterung des Ausgangsquadrats (Men. 83b1–3)

Das neue Quadrat (1) ist mit dem alten Quadrat verbunden, (2) ohne es zu umfassen:44 (1) Wenn eine Entsprechung von imaginierter und ausgeführter Erweiterung des Diagramms besteht, beginnt die Konstruktion mit dem Hinzufügen einer gleich langen Linie zu einer Seite des Ausgangsquadrats; dies impliziert räumliche Kontinuität. (2) Sokrates fragt nach der Konstruktion: Οὐκοῦν ἐν αὐτῷ ἐστιν ταυτὶ τέτταρα, ὧν ἕκαστον ἴσον τούτῳ ἐστὶν τῷ τετράποδι; (Men. 83b3 f.: „Sind in ihm also nicht diese vier Flächen hier enthalten, von denen eine jede dieser Fläche von vier Fuß hier gleich ist?“), mithin danach, ob im neuen Quadrat nicht „diese“ vier Quadrate von vier Fuß enthalten seien. Diese Formulierung stellt die vier Vier-Fuß-Quadrate des neuen großen Quadrats dem Vier-Fuß-Ausgangsquadrat gegenüber, woraus eine Nicht-Identität des Ausgangsquadrats mit jedem der neuen Teilquadrate folgt. Zwar könnte eingewendet werden, dass diese Deutung impliziert, dass das deiktische ταυτί

|| 43 Anders etwa Bluck 1961, 298 und Sharples 1991, 152, die beide eine Seite des Quadrates von (mutmaßlich) acht Fuß – also schon das Produkt der Seitenverdopplung – als Referenz für αὐτῆς (Men. 83b1 f.) annehmen (diese sei nach Sharples „counted in as one of the four lines“); ἀπ’ αὐτῆς meint dann „von ihr aus“. Freilich erklärt sich mit der hier vorgeschlagenen Deutung, warum Sokrates dazu auffordert, noch vier Linien zu zeichnen; dies wäre angesichts von ἀπ’ αὐτῆς nicht so problematisch in Bezug auf die Basis, sondern in Bezug auf die auf ihr stehende Seite, die partiell identisch mit der einen Seite des Ausgangsquadrats ist. Abgesehen davon wird auf diese Weise ein praktisches Problem in einem späteren Schritt vermieden: siehe unten mit Abbildung 8. 44 Dass das Quadrat von sechzehn Fuß das Quadrat von vier Fuß umfasse, ist communis opinio: vgl. Bluck 1961, 299, Merkelbach 1988, 62 und Sharples 1989, 68; ebenso zeichnet Weiss 2001, 87 das Diagramm (neben der ausgeführten Einzeichnung des Quadrats mit einer Seitenlänge von drei Fuß [siehe unten] der wesentliche Unterschied in der Rekonstruktion des Diagramms zu der hier entwickelten).

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auf bloß imaginierte Objekte verwiese, die nicht durch sichtbare Linien, sondern nur durch (im Kontext eindeutige) Zeigegesten gegeben wären, doch macht der weitere Verlauf des Gesprächs die vorgeschlagene Deutung unausweichlich: Ein Quadrat von sechzehn Fuß mit vier Teilquadraten von vier Fuß wird explizit erst in einem späteren Schritt erzeugt (siehe unten Kap. 4.4); dies wäre unnötig, wenn es schon jetzt vorläge. Auf der Grundlage dieser Diagrammmodifikation zeigt Sokrates dem Sklaven, dass seine Antwort falsch war: Eine Verdoppelung der Seite führt zu einer Vervierfachung der Fläche, bei einer neuen Seitenlänge von vier Fuß entsteht also eine Fläche von sechzehn Fuß (Men. 83b5–c3). Mathematikhistorisch interessant ist dabei, dass Sokrates diese Aussage mittels einer reductio ad absurdum beweist, denn auf der Grundlage der Feststellung, dass das Quadrat von vier Fuß Seitenlänge vier Ausgangsquadrate enthält und damit viermal so groß ist, stellt er die evident selbstwidersprüchliche Frage, ob die im Vergleich zum Ausgangsquadrat viermal so große Fläche doppelt so groß sei (Men. 83b6 f.: Διπλάσιον οὖν ἐστιν τὸ τετράκις τοσοῦτον; [„Doppelt so groß also ist die viermal so große Fläche?“]). Dies wird vom Sklaven mit Οὐ μὰ Δία (Men. 83b7: „Nein, beim Zeus!“) beantwortet, sachlich äquivalent zur Formel ὅπερ ἐστὶν ἀδύνατον bei Euklid (vgl. Euklid, Elem. 1, 4 und siehe oben Kap. 3.3). Hierauf kehrt Sokrates zur Ausgangsfrage zurück und lenkt den Blick auf die Länge der jeweiligen Quadratseiten, zuerst des neuen Quadrats von sechzehn Fuß, dann des Ausgangsquadrats, Letzteres speziell dadurch, dass er ihre Eigenschaft als Hälfte der Seite des Quadrats von sechzehn Fuß anspricht, wobei deren Verhältnis als 1:4 ausgewiesen wird (Men. 83c3–6, insbesondere 5: Τέταρτον δὲ ἀπὸ τῆς ἡμισέας ταυτησὶ τουτί).45 Indem er feststellt, dass das Quadrat von acht Fuß doppelt so groß wie das Ausgangsquadrat und halb so groß wie das Quadrat von sechzehn Fuß ist (Men. 83c6 f.: τὸ δὲ ὀκτώπουν οὐ τοῦδε μὲν διπλάσιόν ἐστιν, τούτου δὲ ἥμισυ;), dass die Fläche sich also als mittlere Proportionale zu den beiden anderen Flächen verhält,46 ist die Erkenntnis möglich, dass die Länge der gesuchten Seite zwischen der Länge der Seite des Quadrats von vier Fuß und der Länge der Seite des Quadrats von sechzehn Fuß liegen muss (Men. 83c7–d1: Οὐκ ἀπὸ μὲν μείζονος ἔσται ἢ τοσαύτης γραμμῆς, ἀπὸ ἐλάττονος δὲ ἢ τοσησδί;), also, in Seitenlängen ausgedrückt: Die Seite des Quadrats von acht Fuß muss länger als zwei Fuß, aber kürzer als vier Fuß sein (Men. 83d1–5, insbesondere Men. 83d4 f.: Δεῖ ἄρα τὴν τοῦ ὀκτώποδος χωρίου γραμμὴν μείζω μὲν εἶναι τῆσδε τῆς δίποδος, ἐλάττω δὲ τῆς τετράποδος). Die Menge der möglichen Lösungen wird damit eingeschränkt – und zwar im arithmetischen Kontext auf eine einzige. Entsprechend verbleibt, wie der Sklave erkennt, unter dieser Voraussetzung nur eine Seite von drei Fuß als einzig mögliche Lösung (Men. 83e1 f.).47

|| 45 Zu τέταρτον (τετράπουν Cornarius, Burnet) siehe Bluck 1961, 300; vgl. Heron, Geom. p. 21, 7. 46 Vgl. Euklid, Elem. 6, 13. Siehe Merkelbach 1988, 65 und Yang 2007, 254 f. 47 Insbesondere dieser Umstand dürfte für die Wahl von vier Fuß für die Größe des Ausgangsquadrats ursächlich sein: Bei einem Quadrat von einem Fuß entfiele dieser Zwischenschritt, mithin die

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Wie sich ein solches Quadrat mit einer Seite von drei Fuß erzeugen lässt, zeigt Sokrates am vorhandenen Diagramm auf, allerdings abermals nur imaginiert und nicht ausgeführt, wie die erneute Verwendung eines ἐάν-Konditionalgefüges vermuten lässt (siehe oben):48 Wenn davon auszugehen sei, dass die Seite drei Fuß lang sei, werde man durch das Hinzunehmen der Hälfte einer Seite des Quadrats von vier Fuß eine Seite von drei Fuß erzeugen und auf dieselbe Weise eine zweite Seite von derselben Länge (Men. 83e2–4: Οὐκοῦν ἄνπερ τρίπους ᾖ, τὸ ἥμισυ ταύτης προσληψόμεθα καὶ ἔσται τρίπους; δύο μὲν γὰρ οἵδε, ὁ δὲ εἷς· καὶ ἐνθένδε ὡσαύτως δύο μὲν οἵδε, ὁ δὲ εἷς); so entstehe diejenige Fläche, die der Sklave meine (Men. 83e4 f.: καὶ γίγνεται τοῦτο τὸ χωρίον, ὃ φῄς). Ein entsprechendes Diagramm (in dem die zusätzlichen, nur gezeigten und nicht gezeichneten zwei Verlängerungen der Seiten des Quadrats von vier Fuß mit fetter gepunkteter Linie eingezeichnet sind) zeigt Abbildung 7.

Abb. 7: Aufzeigen des Quadrats von 3 x 3 Fuß (Men. 82e2–5)

Auf dieser Grundlage bittet Sokrates den Sklaven sodann um Berechnung (nicht Abzählen) der resultierenden Fläche; dieser antwortet korrekt mit neun Fuß (Men. 83e5– 8).49 Nachdem Sokrates daran erinnert hat, dass die Zielfläche acht Fuß betragen sollte (Men. 83e8 f.), wird richtig geschlossen, dass diese folglich nicht eine Seite von drei Fuß haben könne (Men. 83e9 f.: Οὐδ’ ἄρα ἀπὸ τῆς τρίποδός πω τὸ ὀκτώπουν χωρίον γίγνεται). Entsprechend fragt Sokrates erneut, welche Seite das Quadrat von acht Fuß habe, wobei er dem Sklaven freistellt, sie zu berechnen oder zu zeigen (Men. 83e11– 84a1: καὶ εἰ μὴ βούλει ἀριθμεῖν, ἀλλὰ δεῖξον ἀπὸ ποίας). Der letzte Teil der Aufforderung bereitet darauf vor, dass sich die gesuchte Seite bei einem Quadrat mit einer Seitenlänge von zwei Fuß nicht ohne Weiteres in Form

|| Erkenntnis bezüglich des Intervalls, in dem sich die gesuchte Zielseite befinden muss. Dies ist wohl auch der Leserführung geschuldet: siehe Boter 1988, 215; vgl. Gaiser 1964, 258. 48 Anders etwa Bluck 1961, 301 (Ergänzung des vorherigen Diagramms) und Klein 1965, 101 (neues Diagramm), ebenso Weiss 2001, 87 f. (vgl. oben Anm. 44). 49 Ein Abzählen sieht zum Beispiel Bluck 1961, 301 f., freilich auf der Grundlage einer (unnötig) erschlossenen Textvariante τριῶν τριπόδων (Aristippos), und zwar dahingehend, dass der Sklave drei drei Fuß lange und ein Fuß breite Teilflächen zähle (vgl. Sharples 1989, 152 f.).

Aporie | 137

einer Zahl angeben lässt,50 und bestätigt ebenfalls, dass die richtige Lösung, die Diagonale, tatsächlich schon, wie oben expliziert, am Anfang des Gesprächs, also mit Men. 82c2 f., in das Originalquadrat eingezeichnet worden ist.51 Ansonsten wäre die gestellte Aufgabe für den mathematisch ungebildeten Sklaven von vornherein unlösbar, da er ja nicht über die zu deren Beschreibung notwendige Terminologie verfügt. Insofern jedoch die Diagonale bereits vorhanden ist, könnte der Sklave gleichwohl spätestens als Entgegnung auf diese Aufforderung abseits jeglicher mathematischer Fachsprache die richtige Antwort geben, wie er es dann ja auch später in Men. 85b1 f. tatsächlich tut.52 Doch besteht die Entgegnung des Sklaven an dieser Stelle allein darin, zuzugeben, dass er nicht weiter wisse (Men. 84a1 f.). Er befindet sich also in einer Aporie – deren Ironie Sokrates’ Aufforderung, die gesuchte Seite notfalls zu zeigen, für den Leser handgreiflich macht.53 Die Aporie wird im eingeschobenen Zwischengespräch zwischen Sokrates und Menon (Men. 84a3–d2) von Sokrates als äußerst positiv herausgestellt: Erst sie habe den Sklaven dazu gebracht, aktiv nach etwas zu suchen, wovon er fälschlicherweise vorher geglaubt habe, es schon längst zu wissen. Konkret habe er nämlich geglaubt, „dass er über die zweifache Fläche in guter Weise sagte, dass sie die in Länge zweifache Linie haben müsse“ (Men. 84c1 f.: ᾤετ’ ἂν εὖ λέγειν περὶ τοῦ διπλασίου χωρίου, ὡς δεῖ διπλασίαν τὴν γραμμὴν ἔχειν μήκει). Mathematikgeschichtlich ist hier das Wort μήκει (‚in Länge‘) von Interesse: Nicht nur erinnert es an die Unterscheidung, die Theaitetos im Theaitetos (147d–148b) zwischen Zahlen macht, die μήκει und δυνάμει (also ‚in Länge‘, das heißt als solche, bzw. ‚im Quadrat‘) kommensurabel sind (vgl. unten Kap. 4.6), sondern es verweist zugleich darauf, dass Platon eine Kenntnis weitergehender Details der mathematischen Theorie der Kommensurabilität voraussetzt. Der Zusatz μήκει evoziert, insbesondere

|| 50 Siehe unter anderem Gaiser 1964, 257 f.; in diesem Sinne lässt sich auch (wie schon oft bemerkt) die Verwendung von πηλίκη (sc. γραμμή) in Men. 82d8 und 83e1 (vgl. 85a4) sowie von ἀπὸ ποίας (sc. γραμμῆς) in Men. 83c3 f.; 83e11; 84a1 und 85b1 f. verstehen: Beides lässt gegenüber πόσοι πόδες bzw. πόσων ποδῶν (Men. 82c6; 82d3; 82d7; 83b5; 83e7 f. und 83e9; bezeichnenderweise immer in Bezug auf die als ἀριθμός angebbare Fläche) die Möglichkeit offen, dass Inhalt der Antwort nicht nur ein ἀριθμός als diskrete Größe, sondern auch ein μέγεθος als kontinuierliche Größe sein könnte (siehe Gaiser 1964, 257 f., vgl. Klein 1965, 100 und Cattanei 2007, 249 f.; wie Narcy 2007, 303 f. Anm. 3 betont, schließt dies jedoch nicht eine nicht-inkommensurable Größe aus). Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass ποῖον-Fragen im Kontext des Gesamtdialogs in Opposition zu τί-Fragen stehen (siehe etwa Brown 1967 und Bedu-Addo 1983), so dass in diesem Sinn hier nicht nach dem Wesen der Linie, sondern ihrer konkreten Qualität gefragt wäre – die eben darin besteht, διπλασία δυνάμει im Verhältnis zur Seite des Ausgangsquadrats zu sein. Vgl. unten Kap. 5.2.2 mit Ps.-Platon, Sis. 338e8–11. 51 Siehe Boter 1988, 212; er weist darauf hin, dass auch hier eine Zeigegeste bezüglich einer imaginierten Linie vorliegen könnte (vgl. oben); doch siehe hiergegen zu Recht Weiss 2001, 93 mit Anm. 32. 52 Siehe Weiss 2001, 93 Anm. 33. 53 Zum letzten Punkt siehe Boter 1988, 214 f., der zudem darauf hinweist, dass die Ironie in Hinsicht auf die Parallelität des Sklaven zu Menon noch pointierter hervortritt.

138 | Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon

angesichts seiner technischen Herkunft und der emphatischen Wortstellung am Satzende,54 implizit sein zweidimensionales Gegenstück δυνάμει, und zwar dahingehend, dass in der Auslassung angedeutet ist, dass gerade eine Strecke von zwei Fuß Länge δυνάμει die gesuchte Strecke ist. Nicht die einfache Verdopplung der Seite führt schließlich zu einer Quadratverdopplung (wie der Sklave fälschlich glaubte), sondern (und im Kontext der modernen Notation 2a² für das Zielquadrat ja ganz offenbar, denn sie weist den Faktor 2 implizit als Quadrat aus) die Verdopplung der Seite im Quadrat. Die Seite des gesuchten doppelten Quadrats ist exakt ‚doppelt so lang im Quadrat‘ (διπλασία δυνάμει) wie die Seite des einfachen Quadrats.55 Evident ist nicht korrekt, die Frage nach der Seite des Quadrats von acht Fuß sei „in strict arithmetical terms unanswerable […] being an irrational number“:56 Auch wenn sich selbstverständlich das moderne Konzept √8 nicht als griechische Zahl ausdrücken lässt (also mehr oder weniger als moderne ‚natürliche‘ Zahl: vgl. Euklid, Elem. 7, def. 1 f.), ist die Länge der Linie sehr wohl mathematiksprachlich angeb- und aussagbar. Sie ist weder ἄλογος noch ἄρρητος, sondern ῥητός, zumindest im Rahmen einer Theorie der Kommensurabilität δυνάμει, deren Vorhandensein für den Menon folglich angenommen werden muss.57 Speziell betrifft dies den Umstand, dass die Eigenschaft des ἄλογος- oder ἄρρητος-Seins keine arithmetische, sondern eine propor|| 54 Der Dativ μήκει bzw. δυνάμει ist allem Anschein nach als instrumentaler Dativ zu klassifizieren, allgemein gebraucht, „um bei Komparativen und Superlativen, sowie anderen Ausdrücken, in denen der Begriff einer Vergleichung liegt, das Mass anzugeben, um wie viel ein Verbal- oder Adjektivbegriff grösser oder kleiner als ein anderer ist“ (Kühner & Gerth § 425, 13). Hier ist also zum Beispiel die eine Linie ‚um (das Maß) ihre(r) Länge‘ selbst doppelt so lang wie die Vergleichslänge (= διπλασία μήκει); die transparente Redundanz im eindimensionalen Fall dient offenbar primär dem terminologischen Zweck der Möglichkeit des Ausdrucks des technischen Gegensatzes zum zweidimensionalen Fall (διπλασία δυνάμει). Hiervon zu unterscheiden ist der (im Gegensatz dazu normalsprachlich geläufige) Akkusativ μῆκος, das heißt ein Akkusativ „mit intransitiven und passiven Verben und Adjektiven aller Art als erklärendes und genauer bestimmendes Objekt“, zu welchem Gebrauch „sich viele adverbiale Ausdrücke entwickelt“ haben, etwa „die Ausdrücke des Masses“ wie eben μῆκος (Kühner & Gerth § 410, 6 mit Anm. 20). Insgesamt ist der Grund transparent, dass ein Ausdruck wie exempli gratia *διπλασία δύναμιν als fachmathematischer Terminus nicht belegt ist. Vgl. Ti. 54d7 sowie unten Kap. 4.6. Man beachte den Zusammenhang mit der Dimensionenfolge, wo die erste Dimension das μῆκος ist: vgl. oben Anm. 169 und unten Anm. 551. 55 Dass der Gegensatz evoziert wird, vermutet Strycker 1963, 146 Anm. 3 (ohne Explikation); vgl. Gaiser 1964, 258 Anm. 30. Vgl. Euklid, Elem. 10, def. 2: Εὐθεῖαι δυνάμει σύμμετροί εἰσιν, ὅταν τὰ ἀπ’ αὐτῶν τετράγωνα τῷ αὐτῷ χωρίῳ μετρῆται, ἀσύμμετροι δέ, ὅταν τοῖς ἀπ’ αὐτῶν τετραγώνοις μηδὲν ἐνδέχηται χωρίον κοινὸν μέτρον γενέσθαι („Gerade Linien sind δυνάμει kommensurabel, wenn die von ihnen aus gebildeten Quadrate mit derselben Fläche gemessen werden, inkommensurabel hingegen, wenn es für die von ihnen aus gebildeten Quadrate keine Fläche als gemeinsames Maß gibt“). 56 Sharples 1989, 151; ähnlich Klein 1965, 185: „This solution cannot be expressed numerically: the length of each of those lines is ‚unspeakable‘, is an arrêton“ (vgl. 99); siehe auch Frajese 1963, 109, Brown 1967, 61 f. und Boter 1988, 214. 57 Hieraus ergibt sich aus einer mathematikgeschichtlichen Perspektive ein mehr oder weniger sicherer terminus post quem für das Verfassen des Menon; vgl. oben Anm. 2 sowie zur Sache Kap. 4.6.

Aporie | 139

tionentheoretische Eigenschaft ist; sie stellt nicht, wie das moderne Konzept der mathematischen Irrationalität (wo die Zahl √8 immer irrational ist), eine absolute Eigenschaft dar, sondern hat prinzipiell relativen Charakter, und zwar zwischen mindestens zwei Größen.58 Damit eine Linie die Eigenschaft des ῥητός-Seins hat, ist unerheblich, welche absolute Länge sie hat – und das heißt konkret: gemessen anhand einer Linie der Länge 1, die entsprechend als Grundmaß eines absoluten Maßsystems fungiert. Vielmehr wird eine Linie bestimmter Länge erst explizit als ῥητός gesetzt und als grundlegendes Maß eines auf diese Größe bezogenen relativen Maßsystems definiert (hier die Seitenlänge des Ausgangsquadrats); nach dieser bemisst sich das ῥητός-Sein der verglichenen Größe. Hieraus ergibt sich als Konsequenz für die untersuchte Stelle, dass nicht nur eine exakte Lösung möglich war; sondern auch, dass mit jeder Lösung die Universalität der Relationen gewahrt bleibt, denn gesucht ist nicht eine absolute Länge, die im Einzelfall auch rational (im modernen Sinn) sein kann, sondern die gesuchte Seitenlänge hat zur Ausgangsseitenlänge immer das Verhältnis von διπλασία δυνάμει, steht also zwar zur Bezugsgröße im Verhältnis einer Inkommensurabilität, ist gleichwohl aber mathematisch genau spezifizierbar. Hierauf spielt Sokrates mit seiner Frage an Menon an. Insofern Platon also auf eine Theorie der (In-) Kommensurabilität zurückgreift und dasselbe Konzept zugrunde liegt wie im Theaitetos (147d–148b), differenziert Sokrates kommensurable Verhältnisse implizit in Hinsicht auf ‚Kommensurabilität μήκει‘ vs. ‚Kommensurabilität δυνάμει‘.59 Mathematikgeschichtlich, so die wichtige Implikation, hatte die Relation von Diagonale und Seite zur Zeit der Abfassung des Menon kaum mehr „serious theoretical difficulties“ in der Fachmathematik bereitet60 – ganz im Gegenteil ist der Menon der Beweis, dass diese Schwierigkeiten überwunden worden waren und also eine entsprechend leistungsfähige Theorie ausgearbeitet vorlag (vgl. unten Kap. 5.2.2).

|| 58 Dies erhellt aus Euklid, Elem. 10, def. 3 (vgl. def. 4): Τούτων ὑποκειμένων δείκνυται, ὅτι τῇ προτεθείσῃ εὐθείᾳ ὑπάρχουσιν εὐθεῖαι πλήθει ἄπειροι σύμμετροί τε καὶ ἀσύμμετροι αἱ μὲν μήκει μόνον, αἱ δὲ καὶ δυνάμει. καλείσθω οὖν ἡ μὲν προτεθεῖσα εὐθεῖα ῥητή, καὶ αἱ ταύτῃ σύμμετροι εἴτε μήκει καὶ δυνάμει εἴτε δυνάμει μόνον ῥηταί, αἱ δὲ ταύτῃ ἀσύμμετροι ἄλογοι καλείσθωσαν („Auf dieser Grundlage wird gezeigt, dass es für eine gegebene [siehe Mugler 1958, 369 f.] gerade Linie an Menge unzählige kommensurable und inkommensurable gerade Linien gibt, die einen nur in Länge, die anderen auch im Quadrat. Es sei nun die gegebene gerade Linie ‚sagbar‘ genannt und die ihr entweder in Länge und im Quadrat oder nur im Quadrat kommensurablen geraden Linien ‚sagbar‘, die mit ihr inkommensurablen hingegen seien ‚verhältnislos‘ genannt“). Siehe zur Definition Heath 1926, 3, 11 f.; vgl. Aristoteles, LI 968b16–21. 59 Im Theaitetos umfassen die Grade der Kommensurabilität auch den kubischen Fall (Tht. 148b2), wenn nicht der Systematik gemäß auch schon in Bezug auf diese Stelle weitere Grade anzusetzen wären; vgl. Knorr 1983, 42 f. Bei Euklid ist die einfache Vervielfachung in der Regel nicht markiert (konkret durch den Zusatz von μήκει); für δυνάμει διπλάσιος bzw. διπλασίων vgl. Euklid, Elem. 13, 14; 13, 18 und siehe Mugler 1958, 143 bzw. 145; für δυνάμει τριπλάσιος bzw. τριπλασίων vgl. Euklid, Elem. 13, 12; 13, 15; 13, 17; 13, 18; für δυνάμει πενταπλασίων vgl. zum Beispiel Euklid, Elem. 13, 16; 13, 18. 60 Brown 1967, 93.

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Angesichts dieses sachlichen Hintergrunds verlangt Sokrates vom Sklaven nicht zwingend eine gewöhnliche Zahl als Antwort, welche bei einem Ausgangsquadrat von vier Fuß ja unmöglich zu geben wäre, sondern allgemein eine mathematisch exakte Lösung. Diese hätte im Kontext des Gesprächs offenbar auch in der Terminologie der Theorie der Inkommensurabilität erfolgen können.61 Einen Hinweis hierauf gibt neben der Aufforderung, die Linie zu zeigen, insbesondere auch die Verwendung des Pronomens πηλίκη in Sokrates’ erster Spezifikation des Problems (Men. 82d8–e1: Φέρε δή, πειρῶ μοι εἰπεῖν πηλίκη τις ἔσται ἐκείνου ἡ γραμμὴ ἑκάστη [„Wohlan, versuche zu sagen, wie groß jede Linie jener Fläche ist“]), denn dieses Pronomen drückt allgemein „size“ aus, wurde also insbesondere auch hinsichtlich von Größenverhältnissen verwendet, die sich nicht arithmetisch-diskret mittels Zahlen ausdrücken ließen (sondern als Kontinuum, etwa als Länge gegeben waren).62 Entsprechend gibt der Sklave auch tatsächlich keine absolute Größe in Fuß an, sondern eine relative: Die Seite sei doppelt so lang (Men. 82e3: διπλασία) – eine Antwort, die, wie sich erkennen lässt, eigentlich gar nicht so falsch ist. Schließlich fehlt nur der Zusatz δυνάμει – auf welches Fehlen der im Dialog erfolgende Wechsel zu einer relativen Längenangabe indirekt, aber gleichwohl ironisch-deutlich hinweist. Nichtsdestoweniger ist klar, dass der Sklave die richtige Antwort faktisch nicht geben kann: Insoweit er mathematisch ungebildet ist, kann er nur basale mathematische Operationen ausführen oder etwas im Diagramm aufzeigen (vgl. Men. 83e11– 84a1); dialogimmanent ist dies ja der Grund, weshalb im Gespräch mit dem Sklaven keine Erörterung des Phänomens der Inkommensurabilität erfolgt, sondern dies nur en passant angedeutet wird.63 Gegenüber Menon jedoch – der implizit als jemand ausgewiesen wird, der die dem Gespräch mit dem Sklaven unterliegende zweite, streng mathematische Gesprächsebene erkennt und versteht, und zwar als Modell für den (ideal-intendierten) historischen Leser des Dialogs – wechselt Sokrates in Men. 84c1 f. in die Terminologie der Theorie der Kommensurabilität, um den Fehler des Sklaven exakt-prägnant zu benennen: Der Sklave habe geglaubt, dass die Seiten der beiden Vergleichsquadrate sich linear (μήκει) um den Faktor 2 unterscheiden, nicht hingegen (wie zu supplieren ist) im Quadrat (δυνάμει), mit anderen Worten: dass hinsichtlich der Seiten das Verhältnis von 1:2 und nicht von 1:√2 vorliege – bemerkenswerterweise ein Irrtum, der mutatis mutandis auch im Rahmen der Anekdoten zum Problem der Würfelverdopplung (‚Delisches Problem‘) auftaucht (siehe unten Kap. 5.2.1). Der zweite Gesprächsabschnitt findet nach dem Eingeständnis des Sklaven bezüglich seiner Aporie sein Ende in einem kurzen Zwischengespräch von Sokrates und

|| 61 Damit geht Browns 1967 Interpretationsansatz am eigentlichen Problem vorbei. 62 Siehe zum Menon Klein 1965, 100, zum mathematikgeschichtlichen Hintergrund unter anderem Heath 1926, 2, 116–119, insbesondere 117 (dort auch die angegebene Übersetzung), zu Euklid, Elem. 5, def. 3 kurz Heath 1926, 2, 112 f. 63 Siehe zu diesem Punkt Patterson 2007, 4 Anm. 2.

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Menon (Men. 84a3–d2). In ihm resümiert Sokrates den Verlauf der Unterhaltung mit dem Sklaven bis zu diesem Punkt: Der Sklave befinde sich jetzt in einem Zustand, der eine positive Fortentwicklung vom ersten Zustand der ‚falschen Meinungen‘ darstelle; es sei methodisch notwendig gewesen, ihn in die Aporie zu stoßen, denn nur so habe er ein Verlangen nach echtem Wissen entwickeln können (Men. 84c4–6).

4.4 Wahre Meinungen Am Schluss des Zwischengesprächs mit Menon leitet Sokrates die Fortführung des Gesprächs mit dem Sklaven ein (Men. 84c10–d2). Sokrates fordert Menon auf, sein Augenmerk darauf zu richten, ob der Sklave nur durch Fragen und nicht durch Belehrung aus seiner Aporie zur richtigen Lösung des Problems und damit zu ‚wahren Meinungen‘ finde. In diesem Sinn wendet sich Sokrates im Schlussabschnitt des Gesprächs wieder dem Sklaven zu (Men. 84d3–85b7). Sokrates beginnt mit einem deiktischen Verweis auf die Fläche von vier Fuß (Men. 84d3 f.: οὐ τὸ μὲν τετράπουν τοῦτο ἡμῖν ἐστι χωρίον;). Er zeigt also auf das schon vorhandene Diagramm64 und erweitert es im Sprechen:65 Nacheinander werden drei weitere Quadrate von vier Fuß zum Ausgangsquadrat hinzugefügt, zuletzt „das im Winkel“, das heißt angesichts der Konstruktion derjenige Winkel, der vom Aus|| 64 Ein Grund dafür, dass Sokrates das alte Diagramm wegwischt und ein neues zeichnet, lässt sich nicht erkennen. Dies ist die communis opinio: vgl. Bluck 1961, 307 („cf. the προσθεῖμεν ἄν of his next question, and προσαναπληρωσαίμεθ’ ἄν below – although in his original figure all the lines forming the squares BJMC, DCNL, and CMKN [sc. die sogleich zu ergänzenden Quadrate von vier Fuß] had probably already been drawn“ [meine Hervorhebung]), Brown 1967, 61, Merkelbach 1988, 68–70, Sharples 1989, 224 f., Sharples 1991, 154 (zwar ist korrekt, dass die Formulierung eine Zeichnung der drei ergänzten Quadrate nahelegt, doch der folgende Zusatz „which indicates a new diagram“ bezüglich des ersten Quadrats ist ein non sequitur) und Patterson 2007, 4. Einzige Ausnahme ist Weiss 2001, 88 f. 65 Damit dienen die folgenden potentialen Optative προσθεῖμεν ἄν (Men. 84d5) und προσαναπληρωσαίμεθ’ ἄν (Men. 84d7) als „Ausdruck des Willens“ (Kühner & Gerth § 396, 4), der eine hiermit verbundene Ausführung impliziert. Denn zweifellos verweisen die Indikative ab Men. 84e1 auf ein Diagramm wie in Abbildung 8 bzw. 9. Eine ähnliche Erweiterung des ersten Diagramms nimmt Klein 1965, 102 an (auch wenn die Sukzession seiner Diagramme hinsichtlich des Fortgangs des Gesprächs nicht ganz klar ist: siehe 100–102). Auf die Adäquatheit der Annahme der Erweiterung des alten Quadrats dürfte sprachlich auch die Artikulierung von τετράπουν χωρίον in Men. 84d3 f. hinweisen; diese impliziert eine Determiniertheit, die wiederum im konkreten Kontext durch die (auch durch ἡμῖν beförderte) eindeutige Identifizierbarkeit als Ausgangsquadrat gegeben ist. Dies ist der dialogische Rückgriff auf die Ausgangskonfiguration des Quadrats, die Sharples 1989, 225 hinsichtlich Boters 1988 Vorschlag vermisst (dies moniert zu Recht auch Weiss 2001, 88 f.). Zudem ergibt sich aus der Identität des Ausgangsquadrats in den einzelnen Beweisschritten ein transparentes direktes (und nicht vermitteltes, mithin methodisch potentiell zweifelhaftes) Aufzeigen des Verhältnisses von Ausgangs- und Zielquadrat. Alternativ schlägt Weiss 2001, 89 vor, dass Sokrates die Linien der Quadrate mit einer Seitenlänge von 3 und 4 Fuß wegwischt und auf diesem Weg zur Ausgangskonfiguration zurückkehrt; hierauf gibt es aber ebenfalls keine textlichen Hinweise (vgl. oben Anm. 64).

142 | Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon

gangsquadrat mit den zwei neuen Quadraten gebildet wird (Men. 84d6 f.: Οὐκοῦν προσαναπληρωσαίμεθ’ ἂν τὸ ἐν τῇ γωνίᾳ τόδε;)66 – welches letzte Quadrat es auch ist, weswegen zuvor das Quadrat von sechzehn Fuß nicht so gezeichnet werden konnte, dass es das Ausgangsquadrat von vier Fuß umfasst, und nun diese zusätzlichen Quadrate aufnähme (vgl. oben mit Abbildung 6). In diesem Fall wäre das vierte kleinere Quadrat schon gleichzeitig mit den drei anderen Quadraten zusammen mit dem Umriss des großen Quadrats gegeben, so dass kein Vervollständigung durch ein viertes Quadrat mehr erfolgen könnte, wie sie Sokrates ausdrücklich beschreibt. Damit ergeben sich vier gleich große Flächen (Men. 84d8–e1: Ἄλλο τι οὖν γένοιτ’ ἂν τέτταρα ἴσα χωρία τάδε;). Die sukzessive Erweiterung des Diagramms zeigt Abbildung 8.

Abb. 8: Erweiterung (Men. 84d4–8)

Insgesamt haben die vier Flächen, wie der Sklave ausrechnet,67 die vierfache Fläche des Ausgangsquadrats (Men. 84e1 f.); gesucht sei aber die doppelte (Men. 84e2 f.). Ausgehend hiervon lenkt Sokrates den Sklaven zur Lösung. Zuerst zeigt er (was der Sklave ja eben nicht tat) auf die Diagonale (wohl die in Abbildung 8 im linken unteren kleinen Quadrat von links oben nach rechts unten verlaufende, als Teil des Ausgangsquadrats)68 und lässt sich bestätigen, dass diese Linie jedes der (per Konstruktion gleichen: Men. 84d3–e1) Quadrate entzwei schneide (Men. 84e4 f.: Οὐκοῦν ἐστιν αὕτη γραμμὴ ἐκ γωνίας εἰς γωνίαν [τινα] τέμνουσα δίχα ἕκαστον τούτων τῶν χωρίων;).69

|| 66 Das Verb προσαναπληροῦν wird in der Mathematik im Sinne von ‚ergänzen‘ verwendet, um eine „opération consistant à restituer une figure à partir d’une de ses parties“ zu bezeichnen (Mugler 1958, 363 s. v.); vgl. Euklid, Elem. 3, 25. Die Wendung ἐν γωνίᾳ ist im Sinne von „à l’intérieur de l’angle“ zu verstehen (Mugler 1958, 110); vgl. Apollonios, H. 2, 32. 67 So erneut eindeutig mittels einer, wenn auch basalen, Rechenoperation: „‚Könnte es sich hier um etwas anderes als vier gleich große Flächen handeln?‘ – ‚Nein.‘ – ‚Was also? Die gesamte Fläche hier, das Wievielfache ist sie von dieser hier?‘ – ‚Das Vierfache‘“ (Men. 84d8–e2: Ἄλλο τι οὖν γένοιτ’ ἂν τέτταρα ἴσα χωρία τάδε; – Ναί. – Τί οὖν; τὸ ὅλον τόδε ποσαπλάσιον τοῦδε γίγνεται; – Τετραπλάσιον). 68 Man muss also nicht zwingend annehmen (wie Sharples 1989, 224 Boter 1988 zu Recht kritisiert), „that ‚Socrates starts to draw the figure anew‘ at 84d3 ff., and that the diagonal returns […] at 84e4“, wobei sich dann grundlegend die Frage stellte: „Why does he redraw it?“ (Sharples 1989, 225). 69 Die Diagonale ist also schon vorhanden, was ein weiteres Indiz gegen die Hypothese der Mittelsenkrechten ist. Vgl. zum mathematischen Hintergrund Euklid, Elem. 1, 34, wobei dieser Beweis mit

Wahre Meinungen | 143

Sokrates zeichnet drei weitere solche gleich langen Linien ein und weist darauf hin, dass sie eine bestimmte, angesichts des deiktischen Pronomens zugleich von ihm gezeigte Fläche umfassen (Men. 85a2 f.: Οὐκοῦν τέτταρες αὗται γίγνονται γραμμαὶ ἴσαι, περιέχουσαι τουτὶ τὸ χωρίον; – das Zeichnen dieser drei Linien wird mit dem Aussprechen der Frage ausgeführt),70 nämlich offenbar das Zielquadrat. Das Diagramm ist komplett; es ist in Abbildung 9 gezeigt.

Abb. 9: Endzustand des Diagramms (Men. 85a2 f.)

Im Sinn dieser letzten Modifikation des Diagramms leitet Sokrates den Sklaven zur Erkenntnis des korrekten mathematischen Sachverhalts; dies mündet in den Beweis, dass die erzeugte Endkonfiguration des Diagramms das gesuchte verdoppelte Quadrat beinhaltet. Sokrates beginnt mit einer Frage nach der Größe des neu entstandenen Quadrats (Men. 85a4), auf die der Sklave jedoch noch keine Antwort geben kann (Men. 85a4 f.). So weist Sokrates darauf hin, dass die Fläche jedes der vier Teilquadrate von jeder der vier Linien in zwei Hälften geschnitten werde (Men. 85a5 f.: Οὐχὶ τεττάρων ὄντων τούτων ἥμισυ ἑκάστου ἑκάστη ἡ γραμμὴ ἀποτέτμηκεν ἐντός;) – mathematisch ergibt sich dies im Sinne von Euklid, Elem. 1, 7 aus der Gleichheit der Diagonale, die den zwei Teildreiecken als Basis gemeinsam ist, in Verbindung mit den durch Konstruktion bzw. Definition des Quadrats (wie in Men. 82b10–c1 gespiegelt) gleich langen Katheten der Teildreiecke –, um daraufhin den Sklaven die Dreiecke im neu entstandenen Dreieck zählen zu lassen (Men. 85a7).71 Er kommt auf das richtige Ergebnis von vier (Men. 85a7) und danach in Antwort auf Sokrates’ Frage, wie viele ebenso große Dreiecke in einem Quadrat von der Größe eines Ausgangsquadrats sei-

|| Eigenschaften des Quadrats operiert, die hier durch die Konstruktion gegeben sind. Alternativ ergibt sich die Gleichheit der das Quadrat konstituierenden Dreiecke über Euklid, Elem. 1, 8 in Verbindung mit Euklid, Elem. 1, 4 (siehe zu deren Zusammengehörigkeit Heath 1926, 3, 248 f.). 70 Gegen die Simultaneität spricht nicht die Formulierung des Satzes (so Sharples 1989, 224 f.), denn so oder so liegt eine Diagonale (nämlich die im Ausgangsquadrat) schon in Men. 84e4–85a1 vor. 71 Dies ist, wie Boter 1988, 213 zu Recht anmerkt, nicht dasselbe wie das in der communis opinio unterstellte Verfahren des Abzählens von 1-Fuß-Quadraten, das die Hypothese der Mittelsenkrechten belegen soll; analog ist Men. 83b3 f. Ein Ausrechnen wäre ja in der Tat nicht ohne Weiteres möglich.

144 | Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon

en, auf das ebenfalls richtige Ergebnis von zwei (Men. 85a8). Über die Feststellung, dass vier das Doppelte von zwei sei (Men. 85a8 f.), lässt sich die Größe des neu entstandenen Quadrats auf acht Fuß bestimmen (Men. 85a9–b1) und im nächsten Schritt die Seite dieses Quadrats als die Linie von einem Winkel in den anderen Winkel des Quadrats von vier Fuß identifizieren (Men. 85b1–3, insbesondere 2 f.: Ἀπὸ τῆς ἐκ γωνίας εἰς γωνίαν τεινούσης τοῦ τετράποδος;). Nach dem Hinweis darauf, dass diese Linie von den ‚Experten‘ ‚Diameter‘ (= Diagonale) genannt werde (Men. 85b4: Καλοῦσιν δέ γε ταύτην διάμετρον οἱ σοφισταί),72 fasst Sokrates zum Abschluss das Ergebnis dem Sklaven gegenüber dahingehend zusammen, dass die doppelte Fläche als Seite den ‚Diameter‘ (die Diagonale) des einfachen Quadrats habe (Men. 85b4–6: ἀπὸ τῆς διαμέτρου ἄν […] γίγνοιτ’ ἂν τὸ διπλάσιον χωρίον). Die Gleichheit der das neue Quadrat bildenden Diagonalen der Quadrate von vier Fuß ist sowohl für den Sklaven angesichts des Diagramms deutlich als auch im mathematischen Sinne bewiesen, nämlich durch die Gleichheit der Quadrate in Verbindung mit der eingangs festgestellten (und so effektiv postulierten) Eigenschaft, dass beide Diagonalen gleich lang seien (Men. 82b10–c1). Damit ergibt sich auf der Grundlage der ebenfalls eingangs gemachten (und hierdurch ebenfalls effektiv postulierten) Feststellung, dass Quadrate eine beliebige Größe haben können (Men. 82c3 f.), in Verbindung mit dem Umstand, dass anschaulich und mathematisch transparent auch im Zielquadrat die Diagonalen exakt gleich lang sind (nämlich als Addition jeweils zweier durch Konstruktion ausdrücklich gleich langer Linien, nämlich der Seiten der als exakt gleich groß festgestellten Quadrate von vier Fuß – welche Seiten die Eigenschaft haben, den aneinanderliegenden Quadraten gemeinsam, das heißt im Kontext griechischer Mathematik κοιναί zu sein), dass die neue Fläche mathematisch in Entsprechung zu den am Anfang des Gesprächs in der Ekthesis definierten mathematischen Merkmalen des Quadrats genauso wie das Ausgangsquadrat ebenfalls ein Quadrat (bzw. für den Sklaven der viereckigen Ausgangsfläche ähnlich) ist.73

|| 72 Das Wort διάμετρος bezeichnet in der Mathematik als „the line that measures across“ (Bluck 1961, 310) zweierlei: (1) die Diagonale, das heißt die „ligne qui joint deux sommets opposés d’un quadrilatère“ (Mugler 1958, 132), und zwar im Parallelogramm (vgl. Euklid, Elem. 1, 34; 1, 37; 1, 43), auch speziell im Quadrat (vgl. Proklos, in Euc. p. 261, 23) oder die Hypotenuse des Dreiecks (Ti. 54d8); (2) den Durchmesser, das heißt die „ligne droite définie dans certaines courbes et surfaces en rapport avec leurs propriétés de symétrie“ (Mugler 1958, 132–135). 73 Vgl. Ebert 1974, 100 Anm. 28 und Ebert 2007, 190 f. Anm. 11 (mit Hinweis auf die Vorbereitung dieses Schlusses in Men. 82d5–7). Irreführend ist, mit Sharples 1991, 154 (vgl. Brown 1967, 62) festzustellen, dass weder die Gleichheit der Diagonalen und also der Seiten des Zielquadrats (welcher Umstand „is essential if BKMD [sc. das Zielquadrat] is to be a square at all“) „nor the fact that its angles are right angles, is formally proved“ (doch vgl. Sharples 1989, 222 Anm. 5), zumal im Kontext dieses Dialogs nicht die Winkelgleichheit entscheidend ist (weder ist sie explizit erwähnt noch kann sie angesichts der Unwissenheit des Sklaven in den Beweis eingehen, und zwar auf beiden Ebenen des Gesprächs; anders etwa Vlastos 1965, 150 Anm. 8; zudem müsste beachtet werden, dass die Gleichheit des rechten Winkels eine Voraussetzung ist, die zumindest bei Euklid axiomatisch gesetzt ist [Euklid,

Fazit | 145

Transparent ist, dass die eingangs in der ‚Ekthesis‘ gemachten Feststellungen bezüglich der qualitativen Relationen der Ausgangsfläche – dass sie viereckig ist, vier gleich lange Seiten sowie zwei gleich lange Diagonalen hat und in der Größe beliebig skalierbar ist – im direkten Kontext allesamt beweisrelevant sind, sowohl hinsichtlich der konkreten Durchführung des Beweises als auch hinsichtlich seiner mathematischen Absicherung. In mathematischer Hinsicht sind sie weder verzichtbar noch beliebig noch unvollständig, und auch in der textimmanent primären Ebene des Dialogs mit dem Sklaven sind sie insoweit nützlich und zielführend, als sie diesem die mathematischen Zusammenhänge transparent und plausibel machen, ihn mithin in eine Lage versetzen, in der er zwar nicht im Bereich des (strikt mathematischen) Wissens, aber doch im Bereich der Meinung zu wahren Einsichten gelangen kann. In diesem Sinn hebt Sokrates zum Abschluss Menon gegenüber – und zwar im Rahmen der Explikation der Bedeutung des Exempels hinsichtlich der Hypothese der ‚Wiedererinnerung‘ (Men. 85b8–86c3) – unter anderem hervor, dass der Sklave nun tatsächlich über ‚wahre Meinungen‘ (Men. 85c7: ἀληθεῖς δόξαι) verfüge, also seinen aporetischen Zustand verlassen hat. Die wahren Meinungen seien zwar noch kein Wissen (ἐπιστήμη), sie könnten aber durch weiteres Fragen schließlich doch in diesen Status gehoben werden (siehe Men. 85c9–d1). Genau in diesem von Sokrates Menon gegenüber explizierten Unterschied spiegelt sich die Differenz der Oberfläche des Gesprächs mit dem Sklaven zur nur angedeuteten, das heißt im Verborgenen zugrunde liegenden und im Argumentationsverlauf durchscheinenden fachmathematischen Ebene – die, wie die obige Analyse gezeigt hat, die unabdingbare faktische Voraussetzung für die ‚Wahrheit‘ der erlangten ‚wahren Meinungen‘ ist: Nur indem auch mathematisch das Ergebnis folgerichtig erreicht wurde, konnte gezeigt werden, dass die Meinungen des Sklaven tatsächlich wahr sind und also angesichts des Erfolgs die Wiedererinnerungslehre eine korrekte Beschreibung dessen ist, was man als ‚Lernen‘ bezeichnet. Für den argumentativen Erfolg in philosophischer Hinsicht war es unabdingbar, zu mathematisch vollständig korrekten Ergebnissen zu gelangen. Dies ist Platon in ‚euklidischer‘ Weise durch eine Modellgenerierung und sodann erfolgende Modellanalyse auf dem Weg der Erzeugung und Explikation von in dem wahrnehmbaren Modell (Diagramm) repräsentierten universellen mathematischen Relationen gelungen.

4.5 Fazit Ausgangspunkt der Analyse der Menon-Stelle zur Quadratverdoppelung war, dass diese Passage eine der frühesten, wenn nicht sogar die früheste authentisch überlie-

|| Elem. 1, post. 4]; vgl. oben Anm. 340), sondern die mathematisch äquivalente Diagonalengleichheit. Diese ist für das neue Quadrat implizit per Konstruktion und Voraussetzung gegeben.

146 | Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon

ferte Textpassage der griechischen Tradition mit mathematischem Inhalt ist – und vor allem wohl ebenfalls die erste Bezeugung eines fachmathematischen Diagramms im engeren Sinn in der schriftlich-literarischen Überlieferung beinhaltet. Das Ziel war, durch eine detaillierte Analyse Einsichten in die voreuklidisch-aristotelische Mathematik in der ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. zu erhalten, insbesondere insoweit allgemein das mathematische Diagramm als Abbild des elementaren methodischen Bausteins der Mathematik euklidischen Typs, der Proposition und mithin des ‚Elements‘, erwiesen werden konnte. In Bezug auf die Menon-Passage stellte sich als erste Aufgabe, das Diagramm auf der Grundlage seiner textlichen Kodierung im Zuge einer genauen Lektüre zu rekonstruieren. Die Analyse hat folgende Erkenntnisse erbracht: (1) Platon nutzt nicht nur exakt dieselbe grundlegende modellbasierte Methode, wie sie sich in der Mathematik aristotelisch-euklidischen Typs findet, es findet sich in Sokrates’ mathematischem Beweis mutatis mutandis auch exakt dieselbe Abfolge der einzelnen Beweisschritte: In einer Ekthesis erfolgt die Herstellung eines Ausgangsmodells, eine Kataskeue erweitert dieses Modell um beweisrelevante Relationen, ein Dihorismos spezifiziert das Beweisziel an diesem Modell, eine Apodeixis analysiert dessen relationale Struktur (wobei Kataskeue und Apodeixis in einem iterativ-interaktiven und erst ganz am Schluss erfolgreichen Prozess wiederholt werden: siehe unten Punkt 4), und ein Symperasma dient als Feststellung des Erfolgs des in der Apodeixis erzielten Ergebnisses. Im Zuge des Nachvollzugs der Beweisschritte war es möglich, das Diagramm vollständig (und adäquater als der communis opinio gemäß) zu rekonstruieren; die relevante mathematische Relationalität ist also vollständig im Text kodiert, ebenfalls entsprechend der Fachmathematik.74 Auf den ersten Blick besteht ein signifikanter Unterschied in der Präsentation. Allerdings konnte gezeigt werden, dass das gesamte Gespräch auf zwei eng verflochtenen komplementären und aufeinander direkt abgebildeten Ebenen operiert: einerseits an der Oberfläche auf einer nicht streng-mathematischen Ebene, die den Verständnishorizont des mathematisch ungebildeten Sklaven spiegelt; andererseits auf einer diese fundierenden streng mathematischen Ebene, die die Vollständigkeit und Folgerichtigkeit des eigentlichen mathematischen Beweises garantiert.75 Allein die zweite Ebene ist die mathematisch relevante; dies spiegelt sich in deren (impliziter) resümierender Charakterisierung als ‚Wissen‘ und nicht als ‚wahrer Meinung‘. Mithin ist der Unterschied in der Präsentation nicht mathematisch signifikant, sondern verweist auf die philosophische Pointe der gesamten Passage – ja: hebt sogar ganz im Gegenteil die intendierte genuine Mathematizität der Passage hervor. || 74 Siehe oben Kap. 3, insbesondere mit Anm. 335 zur Frage, inwieweit sich das Diagramm aus dem Text (einer Proposition) heraus rekonstruieren lässt. 75 So klärt sich der Einwand Burkerts 1982, 132 f.: „so hatte der Sklave in Platons ‚Menon‘ ‚aus sich selbst‘ die mathematische Einsicht genommen […], aber wie dies im einzelnen sich ereignet und wieso dabei eindeutige Ergebnisse gewonnen werden, wird auch nicht ansatzweise gezeigt. Platonische Begrifflichkeit kreist selbstgefällig in sich selbst.“

Fazit | 147

(2) Da der Menon kein Traktat nach der Art von Euklids Elementen ist, lässt sich keine Aussage zu den Details der axiomatisch-deduktiven Einbettung des Beweises in den Theoriezusammenhang der Mathematik (zu) Platons (Zeiten) machen. Gleichwohl zeigen sich eindeutige Reflexe einer insgesamt vorausgesetzten kohärenten Theoriestruktur: So rekurriert die Ekthesis implizit auf eine allgemeine Definition des Quadrats, und diese Definition grenzt wie bei Euklid das Quadrat in hinreichender Weise von verwandten mathematischen Objekten in Hinsicht auf seine spezifischen essentiellen relationalen Eigenschaften ab.76 Genau diese explizierten relationalen Eigenschaften sind weiter in ausschließlicher Weise die entscheidende Grundlage des Beweises, und zwar insoweit, als sie ausdrücklich als basale Eigenschaften des Modells ausgewiesen werden, ablesbar am wahrnehmbaren (und sich hierin vom ‚mathematischen‘ Diagramm unterscheidenden) Diagramm auf der Grundlage einer expliziten Setzung in der Interaktion mit dem Sklaven. Abgesehen davon zeigen sich einzelne Beweisschritte, die die etwaige Kenntnis der Ergebnisse gewisser Propositionen in Euklids Elementen implizieren (etwa die mathematisch korrekte Konstruktion des Quadrats selbst: vgl. die voraussetzungsreiche Proposition Euklid, Elem. 1, 46), doch ist offenkundig nicht möglich, aus dem bloßen Gebrauch des in den entsprechenden Propositionen ausgedrückten und bewiesenen mathematischen Wissens auf Platons Kenntnis der Beweise selbst und ihrer Voraussetzungen zu schließen: Dies war ja einer der Gründe dafür, in dieser Studie die Praxis der Modellierung und nicht die axiomatisch-deduktive Struktur der Mathematik im frühen 4. Jh. v. Chr. in den Blick zu nehmen. Gleichwohl steht ungeachtet dessen fest, dass sich Platon in der Menon-Stelle zur Sicherstellung des Erfolgs des Beweises direkt auf ein axiomatisch gegebenes Fundament der in Frage stehenden Objekte bezieht und also dieses für Platon vorausgesetzt werden muss, unabhängig von der Frage seiner systematischen Vollständigkeit. (3) Auf den ersten Blick unterscheidet sich das Diagramm in der Menon-Stelle von den Diagrammen bei Euklid oder Autolykos; diese Unterschiede sind aber im Kontext erklärbar und erweisen sich als nicht signifikant: (a) Äußerlich besteht erstens ein Unterschied dahingehend, dass keine Bezeichner für die Bestandteile des Gesamtdiagramms verwendet werden. Solche Bezeichner sind im konkreten Kontext aber unnötig, als insbesondere die durchgängig verwendeten Demonstrativpronomina die Referenz auf die in Rede stehenden mathemati|| 76 Die zugrunde liegende Definition des Quadrats impliziert ein System derartiger, durch spezifische Relationen unterschiedener mathematischer Gegenstände, in jedem Fall der geradlinig begrenzten Flächen: vgl. Euklid, Elem. 1, def. 22. Die Definition setzt für ihre Verwendbarkeit in der mathematischen Analyse (wie sie sich auch in der Menon-Passage zeigt) die der von den vierseitigen Flächen abgegrenzten dreiseitigen Flächen (Euklid, Elem. 1, def. 20 f.; diese sind auch im letzten Schritt der Analyse im Menon entscheidend) und der geradlinig begrenzten Fläche (Euklid, Elem. 1, def. 19) direkt voraus, und all diese die Definitionskomplexe von Winkeln (Euklid, Elem. 1, def. 8–12), Flächen (Euklid, Elem. 1, def. 5–7 und 13 f.) und Linien (Euklid, Elem. 1, def. 1–4). Vgl. oben Anm. 322.

148 | Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon

schen Modelle und ihre relevanten Relationen übernehmen. Wie die Rekonstruktion des Diagramms belegt, hat Platon sich allem Anschein nach darum bemüht, diese ja eigentlich einer mündlich-direkten Kommunikationssituation angehörigen Verweise im schriftlichen Dialog so ausführlich und exakt zu gestalten, dass sie beim genauen Lesen der Anweisungen zu einem mathematisch hinreichenden Modell führen. In der konkreten Ausführung ist das Verfahren äquivalent zu demjenigen bei Euklid, insoweit die Diagrammelemente mit Buchstaben-Bezeichnern belegt sind. Dies zeigt erneut (wie oben in Kap. 3 theoretisch entfaltet), dass die oftmals als essentiell geltende Eigenschaft des Diagramms, ein ‚lettered diagram‘ zu sein, akzidentell auf der Präsentationsform beruht und also sachlich (und mathematisch) irrelevant ist (vgl. oben Anm. 373). Sie dient lediglich dazu, in einem schriftlichen, nicht-dialogischen Rahmen die Referenz im Akt der Interpretation mit einem mathematischen Submodell (und den von ihm repräsentierten Relationen) zu verknüpfen. Die Buchstaben sind indices, und als solche sind sie äquivalent zu jedem anderen index, der in irgendeiner Weise mit dem jeweiligen Diagrammelement verknüpft wird und eine äquivalente Funktion der Referenz erfüllt; dies ist speziell bei Demonstrativpronomina der Fall. Da die im Diagramm euklidischen Typs gebrauchten Buchstaben weiter per definitionem keine Ähnlichkeit zum bezeichneten Objekt aufweisen (wie icons) noch in einer primär (das heißt hier: vorgängig) habitualisierten Beziehung zu ihm stehen (wie symbols), sind sie bei gewährleisteter Referenzfunktion als indices beliebig austauschbar, ohne dass sich eine Änderung hinsichtlich des semantischen Gehalts ergäbe. (b) Das von Sokrates konstruierte Diagramm hat feste Seitenlängen, zumindest per Hypothesis. Insofern scheint es anders als das Diagramm euklidischen Typs kein universales Modell zu sein, sondern ein partikulares Diagramm im Sinne eines exaktnumerisch quantifizierten Modells. Gemäß den Ausführungen oben in Kap. 3.4 wäre die Gültigkeit der von Sokrates gewonnenen mathematischen Erkenntnisse eingeschränkt. Bei genauer Betrachtung stellt sich heraus, dass eine solche Deutung die Pointe von Platons Darstellung verkennt: Auch wenn Sokrates mit dem Sklaven ein Quadrat der Seitenlänge 2 Fuß etc. diskutiert, wird in der ‚Ekthesis‘ explizit und hinreichend sichergestellt, dass das dem Beweis zugrunde liegende Objekt kein partikulares Quadrat ist, sondern ein genuin mathematisches Quadrat, das nicht eine konkrete Größe repräsentiert. Vielmehr zeichnet es sich nur dadurch aus, vier Winkel, vier gleich lange Seiten und zwei gleich lange Diagonalen zu haben und als solches in der Größe frei skalierbar zu sein. In Hinsicht auf diese das ‚mathematische‘ Quadrat als solches definierenden Relationen ist jedes Quadrat prinzipiell identisch; entsprechend steht das gezeichnete Quadrat für und repräsentiert das Quadrat an sich. Das Quadrat mit zwei Fuß Seitenlänge dient nur als ‚Modell‘ dieses allgemeinen Quadrats; seine metrisch exakt-numerischen Eigenschaften sind akzidentell und nicht relevant in Hinsicht auf seine hier allein relevante Eigenschaft, ein Quadrat zu sein. Sie sind dem Umstand geschuldet, den Beweis dem Sklaven plausibel zu machen, und machen nicht die mathematische Natur des Untersuchungsgegenstandes aus.

Fazit | 149

Entsprechend benutzt Sokrates die von ihm explizierten universellen Relationen zum Zweck des Beweises nur in einer Weise, die skalierungsinvariant ist, speziell in Hinsicht auf die Kriterien Gleichheit, Größer-als-Sein und Kleiner-als-Sein. Die derart determinierten Relationen zwischen den Submodellen des Gesamtdiagramms bleiben in derselben Form bestehen, wenn das Diagramm vergrößert und verkleinert wird. Wie in der euklidischen Mathematik sichert Platon die Allgemeinheit seines Beweises dadurch, dass die berücksichtigten Relationen nicht von der absoluten Größe des Gesamtmodells und seiner Teile abhängen. Entsprechend bezieht sich Sokrates außer zur Prüfung der Antworten des Sklaven auch nicht auf die partikularen Seitenlängen, sondern operiert mit den relativen Operationen der Verdoppelung, Halbierung etc.; diese Transformationen konservieren in exakter Weise die relationale Gesamtstruktur.77 In diesem Sinn repräsentiert das genutzte partikulare, exakt-numerisch bestimmte Modell (wie ja implizit auch das gezeichnete Diagramm in der euklidischen Mathematik) in hinreichender Weise das allgemeine mathematische Modell, das bei Platon wie bei Euklid ausschließlich durch eine geringe Zahl universeller und vor allem qualitativ-quantitativer Relationen charakterisiert ist. Im Unterschied zwischen dem allgemeinen und dem partikularen Modell zeigt sich ein wichtiger Aspekt der Darstellung des Gesprächs durch Platon, und dieser berührt die grundsätzliche methodische Verfasstheit der griechischen Mathematik: Einerseits erlaubt die Analyse der involvierten universellen relationalen Verhältnisse sofort und im einmaligen Durchgang durch den Beweis sichere mathematische Erkenntnis, also ‚Wissen‘ (ἐπιστήμη). Dies steht andererseits in markantem Gegensatz zum Sklaven, dessen ‚nicht-mathematisches‘ Verständnis des gezeichneten Diagramms als eines partikularen exakt-numerischen quantitativen Modells Platon zufolge bedingt, dass er erst nach zahlreichen Iterationen derartiges ‚Wissen‘ erlangen könnte; so weit besitze er nur ‚wahre Meinungen‘ (ἀληθεῖς δόξαι). In der Gegenüberstellung von Sokrates und dem Sklaven spiegelt sich folglich der oben in Kap. 3.4 diskutierte Gegensatz von Partikularität und Universalität im antiken mathematischen Beweis, und Platon selbst gibt hier – und zwar mittels der prägnanten Superposition beider Dimensionen des Gesprächs – eine pointierte Antwort, die exakt mit derjenigen übereinstimmt, die für die euklidische Mathematik erschlossen wurde. (4) Sokrates’ Vorgehen in der fiktionalen Situation gibt einen Einblick in einen wichtigen Aspekt der Benutzung von Diagrammen, der bei Euklid oder Autolykos (und der Fachmathematik bis auf wenige Ausnahmen insgesamt) nicht mehr greifbar ist: Dem Diagramm, das als Gesamtstruktur das Modell eines für einen allgemeinen Beweis zweckdienlichen mathematischen Sachverhalts repräsentiert, geht ein Pro-

|| 77 Nimmt man diese Beobachtung ernst und wendet sie auf die Mathematik euklidischen Typs an, erscheinen die Axiome (κοιναὶ ἔννοιαι) im ersten Buch von Euklids Elementen weniger trivial und / oder allgemein, als sie dies prima vista tun: Sie würden speziell die Skalierbarkeit der geometrischen Objekte bei gleichzeitigem Erhalt der mathematikrelevanten relationalen Eigenschaften sichern.

150 | Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon

zess der Modellierung voraus, der zum Ziel hat, die beweisentscheidenden relationalen Strukturen zielgerichtet in einem Modell zu generieren und zu identifizieren. Einen solchen Prozess beschreibt die Menon-Passage im Detail: So beginnt Sokrates mit dem Ausgangsquadrat und erweitert es in mehreren Schritten, ohne sofort und direkt die endgültige Zielkonfiguration zu erreichen, die dem bei Euklid entgegentretenden einzigen Diagramm entspräche; erst nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen ist eine für das Beweisziel geeignete Erweiterung des Diagramms gefunden. In den Begrifflichkeiten der mathematischen Proposition lässt sich der Mittelteil der Darstellung dahingehend interpretieren, dass Platon die Kataskeue in die Apodeixis integriert – oder alternativ dahingehend, dass, bevor ab Men. 84c4 der eigentliche Beweis (die definitive Apodeixis) anhand der korrekten Endkonfiguration erfolgt, ein iterativer Prozess von Kataskeue und Apodeixis stattfindet, dessen finales Abbruchskriterium ist, dass in der relationalen Analyse des Diagramms das gesuchte Ergebnis festgestellt wird. Der gesamte Prozess ist, aus semiotischer Sicht, ein Experiment mit dem Diagramm, das es mit Blick auf das zugrunde liegende Problem sukzessive modifiziert, um die sich hieraus ergebenden Implikationen zu explizieren; dabei wird intentional und zielgerichtet eine künstliche Struktur erschaffen, in und mit der gezielt mathematische Relationen manipuliert und aktual sichtbar gemacht werden können.78 Der Prozess besteht, wie generell der Weg des Wissenserwerbs, aus den Schritten Abduktion – Deduktion – Induktion (Letzteres äquivalent zum forschenden Experiment selbst), hier in sachlich hinreichender Iteration (siehe oben Kap. 2). Um ein Fazit zu ziehen: Die Analyse der Stelle zur Quadratverdopplung im Menon hat ein eindeutiges Ergebnis in Hinsicht auf die behandelte Fragestellung erbracht. Platon konnte positiv als Vertreter einer Mathematik vom Typ der aristotelisch-euklidischen Mathematik erwiesen werden – und nicht nur das: Insofern das Zeugnis auf einen Zeitpunkt in der (grob) ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. zu datieren ist, erscheint Platon als der überhaupt erste historisch fassbare Vertreter dieser Form von Mathematik. Zumindest muss er bis auf Weiteres als der erste Autor gelten, für den dies aufgrund von authentischem Material aus erster Hand festgestellt werden kann. Dieses Ergebnis ist einerseits positiv, denn es wurden sichere Kenntnisse zur griechischen Mathematik vor Aristoteles und Euklid gewonnen. Insofern für Platon eine eingehende Kenntnis der klassischen Fachmathematik euklidischen Typs erwiesen worden ist, insbesondere in Hinsicht auf die fundamentale modellbasierte Methodik und den mathematischen Beweis, besteht Aussicht darauf, mittels der Analyse weiterer Zeugnisse zu weiteren Einsichten zu gelangen und das so weit gewonnene Bild

|| 78 Zum Experiment mit Diagrammen aus semiotischer Sicht siehe Ljungberg 2016; vgl. Stjernfelt 2011 und oben Kap. 2 sowie Anm. 379. Angesichts der Parallelität zum Experiment etwa in der Physik zeigt sich aus anderer Perspektive, dass das Diagramm sekundär zum Text ist, nämlich genau so, wie das Experiment sekundär zur physikalischen Theorie ist und den Zweck hat, spezifisch gesuchte Relationen sichtbar zu machen, die sich aus der zugrunde liegenden Theorie (potentiell) ergeben.

Epilog: Inkommensurable Diagramme | 151

zu festigen. Dies gilt um so mehr, als eine grundlegende Überprüfung der verbreiteten Ansicht, Platon habe eine mangelnde Kenntnis der Mathematik seiner Zeit gehabt, angezeigt ist, mit direkten Folgen für unser Verständnis aller einzelnen mathematischen Passagen in seinem Werk. Schließlich ist die Mathematik euklidischen Typs den Ergebnissen so weit zufolge in jedem Fall auch die Mathematik Platons. Andererseits ist das so weit erzielte Ergebnis in Hinsicht auf die zugrunde liegende Fragestellung eindeutig negativ: Wenn Platon tatsächlich ein früher Vertreter der Mathematik euklidischen Typs ist, ist es anders als erhofft kaum möglich, über eine Erforschung des mit ihm verbundenen authentischen Materials Einblicke in die Mathematik voreuklidischen Typs zu erlangen – das heißt abgesehen davon, dass wir deren Anfänge eben sicher hinauf in die erste Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. datieren, ihren Beginn also definitiv vor Aristoteles, Autolykos und Euklid ansetzen können, und zwar auf Platon und hier speziell den Menon als verlässlichen terminus ante quem. Ich schlage jedoch vor, die Bemühungen nicht vorschnell aufzugeben: Auch wenn diejenige Mathematik, mit der Platon operiert, insgesamt nach dem Muster der Menon-Passage euklidischen Typs ist, könnte es dennoch der Fall sein, dass sich in seinen Schriften Reflexe einer etwaigen älteren Stufe der Mathematik finden, ja vielleicht sogar Reflexe einer direkten Auseinandersetzung mit einer mathematischen Praxis voreuklidischen Typs. In der Tat scheint dies schon in der untersuchten Menon-Stelle der Fall sein. Wie oben gesehen zeigt sich schließlich eine auffällige Besonderheit, die signifikant von der späteren mathematischen Praxis abweicht: An der Dialogoberfläche hat das von Sokrates mit dem Sklaven diskutierte Modell des Quadrats eine feste Größe und ist definitiv kein ‚euklidisch‘-mathematisches, universelles Quadrat. Hier ist es, anders als auf der darunterliegenden strikt mathematischen Ebene, erst einmal ‚ein‘ Quadrat und nicht ‚das‘ Quadrat. Auf den ersten Blick schien dies dem Zweck geschuldet zu sein, den Sklaven mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zum Beweisziel zu führen und ihm zu ermöglichen, jeden einzelnen Beweisschritt nachzuvollziehen. Doch, so lässt sich fragen, wäre es nicht möglich, dass Platon hier zugleich eine andere, nicht-euklidische Form von Mathematik an der Textoberfläche abbildet, um sich von ihr (gegebenenfalls polemisch) abzugrenzen, das heißt eine Mathematik, die sich nicht wie Sokrates universeller Modelle qualitativ-quantitativer Relationalität bedient, sondern wie der mathematisch ungebildete Sklave exakt-numerisch quantifizierter und als solcher rein partikularer Modelle?

4.6 Epilog: Inkommensurable Diagramme Allein aufgrund der Menon-Passage lässt sich die aufgeworfene Frage nicht beantworten. Wir müssen weiteres Material einbeziehen. Eine erste Bestätigung der vorgeschlagenen Deutung findet sich in einer anderen, kontrovers diskutierten Stelle in Platons Werk, der notorischen Passage zur Definition der Inkommensurabilität im

152 | Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon

Theaitetos (147d–148b).79 Sie weist ein signifikantes, in der Forschung nicht hinreichend beachtetes Merkmal auf. Der relevante Ausschnitt lautet (Tht. 147d4–e1): Περὶ δυνάμεών τι ἡμῖν Θεόδωρος ὅδε ἔγραφε, τῆς τε τρίποδος πέρι καὶ πεντέποδος ἀποφαίνων ὅτι μήκει οὐ σύμμετροι τῇ ποδιαίᾳ, καὶ οὕτω κατὰ μίαν ἑκάστην προαιρούμενος μέχρι τῆς ἑπτακαιδεκάποδος· ἐν δὲ ταύτῃ πως ἐνέσχετο. ἡμῖν οὖν εἰσῆλθέ τι τοιοῦτον, ἐπειδὴ ἄπειροι τὸ πλῆθος αἱ δυνάμεις ἐφαίνοντο, πειραθῆναι συλλαβεῖν εἰς ἕν, ὅτῳ πάσας ταύτας προσαγορεύσομεν τὰς δυνάμεις. „Über dynameis sozusagen hat dieser Theodoros hier ein Diagramm für uns gezeichnet und im Zuge dessen in Bezug auf die 3-Fuß-dynamis und die 5-Fuß-dynamis gezeigt, dass sie in der Länge [μήκει] nicht mit der 1-Fuß-Strecke kommensurabel sind. So holte er sich nacheinander jede einzelne dieser Linien bis zur 17-Fuß-dynamis vor.80 Hier stoppte er aus irgendeinem Grund. Uns kam damals freilich etwas Derartiges [sc. wie im Kontext diskutiert wurde] in den Sinn, nämlich, da die dynameis in der Anzahl unbegrenzt zu sein schienen, zu versuchen, sie in eins zusammenzufassen, womit wir dann alle diese dynameis in ihrer Gesamtheit bezeichnen könnten.“

In der Forschung wurde ausgiebig, aber bisher ohne definitives Ergebnis diskutiert, warum Theodoros gerade bei der 17-Fuß-dynamis aufhört, ob er bloß ‚stoppt‘ oder ‚in Probleme gerät‘, was hier überhaupt das Wort dynamis (δύναμις) bedeutet und, allgemeiner, welche Rückschlüsse sich aus der Passage bezüglich der Geschichte der Mathematik ziehen lassen, insbesondere in Hinsicht auf den absoluten und relativen Beitrag der Mathematiker Theodoros (470/60–nach 399 v. Chr.?) und des etwas jüngeren Theaitetos (415/4–369 v. Chr.?).81 Beschreibt Platon hier möglicherweise sogar

|| 79 Die ausgiebige Diskussion zur Stelle kann hier nicht nachvollzogen werden; für einen Einblick siehe Knorr 1975 und Burnyeat 1978 (mit weiterer Literatur). Die Entdeckung des mathematischen Phänomens der Inkommensurabilität ist einer der am kontroversesten debattierten Aspekte der Geschichte der griechischen Mathematik: siehe für einen knappen Überblick Cuomo 2001, 30 und vgl. die Studien von Szabó 1978, Waschkies 1971, Knorr 1975, Fowler 1999 und Zhmud 1997, alle auch mit einer Interpretation der Theaitetos-Passage; siehe auch Lehman & Weinman 2018. Für eine Bewertung der historischen Entwicklung aus der Perspektive des Modellgebrauchs siehe unten. 80 Das Partizip προαιρούμενος ist problematisch, zumindest im gewöhnlichen medialen Sinn „take away first for oneself“ (LSJ s. v. II); allerdings besteht ein Ausweg darin, eine mediale Bedeutung des gewöhnlichen Aktivs „bring forth, produce from one’s stores“ (LSJ s. v. I) im Sinne von „holte sich für seine Untersuchung hervor“ anzunehmen, passend zu der unten angesprochenen (möglichen) Art und Weise der Generierung der diskutierten Längen der Linien. 81 Ausführlich sind diese und weitere Probleme diskutiert bei Knorr 1975, 62–108. Zu Theodoros siehe M. Folkerts, Art. „Theodoros [2]“, DNP 12/1, 323 f. Insgesamt wissen wir nicht viel mehr über Theodoros, als sich aus dem Theaitetos ergibt; zu Beginn wird er hier insbesondere als bewandert nicht nur in Geometrie (Tht. 145a6), sondern auch in Astronomie, Rechenkunst, Musiklehre und insgesamt im Bereich der ‚Bildung‘ charakterisiert (Tht. 145a7 f.: Ἦ καὶ ἀστρονομικὸς καὶ λογιστικός τε καὶ μουσικὸς καὶ ὅσα παιδείας ἔχεται;). Insgesamt zeigt sich eine auffällige Parallelität zu Platons Beschreibung von Hippias von Elis (vgl. oben Anm. 155) und dem unten aufscheinenden Bild des ‚historischen‘ Sokrates (gegebenenfalls als eines typischen Philosophen seiner Zeit). Außerhalb Platons ist selbstverständlich die Bezeugung als Mathematiker in Proklos’ Mathematikerkatalog anzuführen; er wird

Epilog: Inkommensurable Diagramme | 153

eine tatsächliche Begebenheit und könnten wir – aus einer unmittelbar oder mittelbar zeitgenössischen Perspektive, insofern der Dialog nach Theaitetos’ Tod im Jahr 369 v. Chr. (?), aber evident vor Platons eigenem Tod verfasst wurde – einen Einblick in einen wichtigen Moment der Entwicklung der griechischen Mathematik gewinnen, also für einen Zeitpunkt um das Jahr 399 v. Chr., das (fiktionale) Datum des im Dialog geschilderten Gesprächs?82 Oder handelt es sich bloß um eine typische, aber geschichtlich unbedeutende Mathematikstunde für den unwissenden Schüler Theaitetos, den der Meistermathematiker Theodoros das Phänomen der Inkommensurabilität anhand instruktiver Beispiele lehrt, indem er ihn zum Formulieren einer allgemeinen, letztlich aber trivialen Definition auf induktiver Basis bringt? All diese Fragen können und müssen hier nicht geklärt werden. Ich möchte den Blick nur auf einen Umstand lenken, der im gegebenen Zusammenhang relevant ist und in der Diskussion der Stelle bisher nicht genügend beachtet wurde: Angesichts der erzielten Einsichten in das Diagramm euklidischen Typs und die mit ihm verbundene Modellierungspraxis kann die erste Frage nicht sein, wo Theodoros in seinen Ausführungen stoppt. Vielmehr ist zu fragen, warum er dies überhaupt tut. Schließlich ist in der Mathematik euklidischen Typs kein einziger Beweis auf einen partikularen Fall eingeschränkt und / oder numerisch-quantitativ determiniert. Ein Beweis euklidischen Typs würde im gegebenen Fall etwa die Inkommensurabilität von Seite und Diagonale des Quadrats an sich betreffen, unabhängig von einer spezifischen Seitenlänge.83 Theodoros hingegen behandelt einzeln und nacheinander die 3-Fußdynamis, die 5-Fuß-dynamis etc. bis zur 17-Fuß-dynamis. Die Deutung dieses Sachverhalts liegt nahe: Theodoros’ Geometrie unterscheidet sich, zumindest in der Darstel-

|| direkt vor Hippokrates von Chios genannt: in Euc. p. 66, 6 f. (καὶ Θεόδωρος ὁ Κυρηναῖος ἐγένοντο περὶ γεωμετρίαν ἐπιφανεῖς [„und Theodoros von Kyrene wurde berühmt in der Geometrie“]; für den Kontext siehe oben Kap. 1.1). Außerdem fungiert er in Xenophon, M. 4, 2, 10 als prototypischer Geometer (und wohl auch ἀστρόλογος, das heißt Astronom); signifikant ist die Einordnung in die Reihe von als nicht dem Reichtum, sondern der σοφία dienenden Berufen: Arzt, Architekt, Geometer, Astronom und Rhapsode: Einerseits bezeugt dies, insofern das gemeinsame Merkmal all dieser Künste ist, dass es viele Schriften gebe, eben dies für Geometrie und Astronomie für das Ende des 5. Jhs. v. Chr.; andererseits ist impliziert, dass Geometrie und Astronomie wie die anderen Tätigkeiten einen praktischen Charakter haben. Zu Theaitetos siehe M. Folkerts, Art. „Theaitetos [1]“, DNP 12/1, 250 f. und I. BulmerThomas, Art. „Theaetetus“, Gillispie 13, 301–307; für eine abweichende Datierung auf ca. 415–390 v. Chr. siehe Thesleff 1990. Die Abfassungszeit des Dialogs wird gemeinhin auf die frühen 360er Jahre v. Chr. angesetzt (siehe Erler 2007, 232); vgl. hierzu die folgende Diskussion. 82 Das Jahr 399 v. Chr. ergibt sich daraus, dass Sokrates ein Gesprächsteilnehmer ist und die Anklage gegen ihn bereits erhoben wurde (Tht. 210d). Dieses Jahr führt zum angenommenen Todesjahr von Theodoros: vgl. Folkerts (wie oben Anm. 81). Die Historizität der gesamten Szene ist jedoch fraglich: vgl. insgesamt hierzu unten. Angesichts dessen gäbe noch eher Platons mutmaßlicher Aufenthalt in Kyrene ein verlässlicheres (wenngleich mehr oder weniger dasselbe) Datum: vgl. unten mit Anm. 89. 83 Dieses Problem wird zwar im Grundsatz von Szabó 1969, 72–78 erkannt, aber im Kontext ist auch sein Versuch der Erklärung aus eben diesem Grund nicht plausibel.

154 | Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon

lung durch Platon, von der Geometrie euklidischen Typs durch das Merkmal der Arithmetisierung.84 Theodoros’ Geometrie nutzt aber nicht nur ein auf natürlichen Zahlen basierendes arithmetisches Maß, sondern ein genuin physikalisches Maß: Theodoros misst die dynameis – wenn auch ohne definitives Ergebnis, da dies ja wegen der prinzipiellen Inkommensurabilität gar nicht möglich wäre –, indem er verschiedene in Fuß gegebene Linien in Relation zu einer Linie von 1 Fuß setzt (ποδιαία, sc. εὐθεῖα γραμμή).85 Dieses Maß ist jedoch dem physikalischen Bereich entnommen – und wird demgemäß nirgendwo bei etwa Euklid oder Autolykos verwendet. Signifikant ist, dass dieses arithmetisch-physikalische Maß in enger Verbindung zu dem Diagramm steht, das Theodoros im Prozess seiner Darlegungen konstruiert (ἔγραφε […] ἀποφαίνων) und das durch diese Form der Relationalität vollständig bestimmt ist.86 Zwar ist unklar, welches Diagramm genau Theodoros konstruiert, doch es könnte sich exempli gratia um die sogenannte Spirale des Theodoros gehandelt haben, insbesondere angesichts des Umstands, dass sich eine aus der Sache selbst ergebende Ursache dafür zeigte, dass er bei der 17-Fuß-dynamis stoppt:87 Die Spirale beginnt mit

|| 84 Anders Fowler 1999, der eine Arithmetisierung der frühen griechischen Geometrie verneint. Wenn die Platon-Stelle aber einen historischen Kern hat, wäre Fowlers Position der Boden entzogen. 85 Gewöhnlich wird dies ignoriert; vgl. die instruktive Wiedergabe durch Cuomo 2001, 29: Theodoros „had explored some particular cases of squares with area 3, with area 5, and so on, observing that their sides were not commensurable with the unit“; ähnlich Heath 1921, 1, 203 f. und 304. Knorr 1975, 62 übersetzt ποδιαία nicht korrekt mit „one-foot-power“, denn der Argumentationszusammenhang macht klar, dass der Terminus dynamis hier so verwendet wird, wie er sogleich von Theaitetos selbst definiert wird, und dies ist als Linie (γραμμή): Ὅσαι μὲν γραμμαὶ […] μῆκος ὡρισάμεθα, ὅσαι δὲ [sc. ebenfalls γραμμαὶ] […] δυνάμεις (siehe unten für eine Übersetzung und die gesamte Stelle). Dies verweist auf die wichtige interpretatorische Einsicht, dass der Anfang der Passage den späteren Theorienbestand spiegelt, nicht denjenigen, der Theodoros zur Verfügung stand. Davon abgesehen sagt Theaitetos, dass die podiaia nicht ‚in der Länge‘ (μήκει) mit den jeweiligen dynameis kommensurabel seien, und dies ist evident nur für Linien (etc.) möglich. Die Konsequenz hieraus ist, dass der Terminus dynamis in der Theaitetos-Stelle die Seitenlänge desjenigen Quadrats bezeichnet, das das Ergebnis der Quadratur desjenigen Rechtecks ist (also der entsprechenden Transformation der Fläche bei gleichbleibendem Flächeninhalt), das einen Flächeninhalt ausdrückt, der nicht arithmetisch als Quadrat mit einer Seitenlänge von einer natürlichen Zahl ausgedrückt werden kann. Die (in der obigen Übersetzung so bezeichnete) „3-Fuß-dynamis“ ist im Ergebnis die Seitenlänge eines Quadrats mit 3 Fuß Flächeninhalt, mithin in modernen Begriffen eine Strecke der Länge √3 Fuß. 86 Unabhängig davon, ob man das Partizip hält; zum Problem siehe Heath 1921, 1, 203 Anm. 2. Zur Frage, wie ἔγραφε (Tht. 147d4) zu verstehen ist (als ‚zeichnen‘ oder ‚schreiben‘, Letzteres oft im Sinn von ‚beweisen‘), siehe Burnyeat 1978, 505 Anm. 57 (mit Literatur) sowie Knorr 1975, 69–78 und Thesleff 1990, 151; das τι fungiert im Übrigen nicht als Objekt zu ἔγραφε (so etwa Heath a. a. O.), sondern als adverbielles τι, das δυνάμεων qualifiziert, und zwar im Sinn eines ‚sozusagen‘, das die Rückprojektion des späteren Theorienbestands anzeigt: zum sachlichen Zusammenhang siehe unten. 87 So speziell Thesleff 1990, 152 f. Ausführliche Kritik be Heller 1956, 44–47, doch sind die Kritikpunkte nur valide bei einem Verständnis von Theodoros’ Vorgehen in einem ‚euklidischen‘ Rahmen und gerade nicht im hier entwickelten Sinn. Entsprechendes gilt für Szabó 1969, 70–72.

Epilog: Inkommensurable Diagramme | 155

einem gleichschenkligen rechtwinkligen Dreieck mit Seitenlänge 1 (= √1) und entsprechend einer Basis der Länge √2, an die in jedem Schritt im rechten Winkel eine Strecke der Länge 1 angelegt wird; so ergeben sich sukzessive rechtwinklige schiefe Dreiecke, deren eine Seite die Basis des vorangehenden Dreiecks ist und deren Basis die Länge der vorangehenden Basis plus 1 hat; nacheinander ergeben sich so die Wurzeln der natürlichen Zahlen, bis bei einer Basis der Länge √17 eine Umdrehung vollendet ist und die Dreiecke sich zu überlappen beginnen (siehe Abbildung 10).88

Abb. 10: Die ‚Spirale des Theodoros‘

Das Theodoros von Platon zugeschriebene Diagramm ist freilich nicht erhalten, und so lässt sich die genaue Form nicht rekonstruieren. Doch auf die genaue Form kommt es hier auch gar nicht an: Aus Platons Beschreibung der Situation ergibt sich nämlich

|| 88 Das Diagramm orientiert sich an Thesleff 1990, 152. Es sind natürlich andere Diagramme denkbar; in jedem Fall wird aber (wie bei der ‚Spirale des Theodoros‘) der ‚Satz des Pythagoras‘ eine Rolle gespielt haben (das heißt, historisch korrekter, sein voreuklidisches Äquivalent in einem solchen mathematischen Kontext). Vgl. Fowler 1999, 372–381 für eine Analyse mit Diagrammen auf anthyphairetischer Basis für jeden Einzelfall; ein solches Vorgehen ist aber nur dann nötig, wenn man ignoriert, dass der Ansatz bei Theodoros arithmetisiert, also auf absoluter Basis operiert; und wenn die Prämisse gilt, dass es Theodoros tatsächlich um den Beweis der Inkommensurabilität ging. Letzteres ist aber fraglich, gibt es doch gute Gründe zur Annahme, dass schon die bloße Beschreibung der Inkommensurabilität (wohlgemerkt einschließlich des Verhältnisses 1:√2) als eines prinzipiellen Problems überhaupt erst mit Eudoxos’ Proportionenlehre, also erst nach Theodoros’ Tod, möglich geworden war. Als Indiz hierfür beachte man den hohen theoretischen Aufwand, den Euklid am Beginn von Elem. 10 (speziell 1 f.) treiben muss, um ein sicheres Kriterium für das Vorliegen von Inkommensurabilität zu erhalten (erforderlich im vorliegenden Spezialfall sind auch die Propositionen 5 f. und 9; diese seien nach einem Scholion zur Stelle [Σ Euklid, Elem. 10, 62] direkt von Theaitetos gefunden worden; die Historizität der Information ist aber angesichts der erzielten Ergebnisse fraglich; vgl. Negrepontis 2018, 374 f.). Die Ausführungen bei Heller 1956, 7 f. machen deutlich, dass es sich um eine petitio principii handelt, die Kenntnis des für den Beweis unabdingbaren Satzes Euklid, Elem. 10, 1 schon für Theodoros zu unterstellen. Diese Zusammenhänge müssen an anderer Stelle geklärt werden.

156 | Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon

eindeutig, dass das Diagramm wie (die Oberfläche von) Sokrates’ Diagramm für den Sklaven im Menon feste Längen repräsentiert, dass es dies aber anders als jenes in ausschließlicher Weise tut. Hierin unterscheiden sich beide Diagramme, und zwar in signifikanter Weise: Theodoros’ Diagramm als solches repräsentiert nicht einen allgemeinen, sondern nur einen partikularen mathematischen Sachverhalt. Während also die Quadratverdopplung im Menon eine universelle Gültigkeit besitzt und qua Quadrat für jedes Quadrat gilt, gibt es bei (Platons) Theodoros keine universelle mathematische Erkenntnis – und es liegt also auch kein mathematischer Beweis zum zugrunde liegenden allgemeinen mathematischen Sachverhalt vor. Dieser Schluss ließe sich auch nicht dadurch umgehen, dass man das Fehlen der Explikation der allgemeinen axiomatischen Basis wie im Menon auf die Kürze der Wiedergabe zurückführte: Wäre dies der Fall gewesen, wäre es unnötig gewesen, mehrere Einzelfälle zu betrachten; Theodoros hätte ebenso wenig einen Grund gehabt, bei einer bestimmten Länge aufzuhören oder gar in Schwierigkeiten zu geraten; und schließlich wäre die Auflösung der Aporie mittels des Einführens eines universellen und nicht an den partikularen Einzelfall gebundenen mathematischen Konzepts unnötig und würde offensichtlich auch im Kontext die philosophische Pointe zunichte machen, um derentwillen das gesamte Beispiel ja angeführt wurde. Die gesamte Situation im Theaitetos setzt also grundsätzlich ein durch eine arithmetisch-physikalische Relationalität definiertes Diagramm voraus – und damit eine signifikant nicht-euklidische Mathematik. Die Universalität der mathematischen Erkenntnis ergibt sich erst auf der Grundlage von Theaitetos’ (und des jüngeren Sokrates’)89 Versuch und Vorschlag einer allgemeinen Definition für das Phänomen der dynamis. Diese aber fände eine Repräsentation nicht in Diagrammen, wie Theodoros sie zeichnet, sondern durch ein universelles, nicht numerisch-quantifiziertes Diagramm, das für das allgemeine in Frage stehende mathematische Objekt steht, hier allem Anschein nach das Quadrat bzw. das Rechteck. Genau ein solches allgemeines Diagramm zeigt sich nun in der Explikation von Theaitetos’ (und des jüngeren Sokrates’) Lösung (Tht. 147e5–148b2): Τὸν ἀριθμὸν πάντα δίχα διελάβομεν· τὸν μὲν δυνάμενον ἴσον ἰσάκις γίγνεσθαι τῷ τετραγώνῳ τὸ σχῆμα ἀπεικάσαντες τετράγωνόν τε καὶ ἰσόπλευρον προσείπομεν. – Καὶ εὖ γε. – Τὸν τοίνυν μεταξὺ τούτου, ὧν καὶ τὰ τρία καὶ τὰ πέντε καὶ πᾶς ὃς ἀδύνατος ἴσος ἰσάκις γενέσθαι, ἀλλ’ ἢ πλείων

|| 89 Zu dieser Dialogfigur und einer etwaigen Identifizierung mit einer historischen Person siehe umfassend Jatakari 1990. Wäre angesichts der gravierenden Probleme hinsichtlich der mathematikgeschichtlichen Chronologie (siehe oben mit Anm. 88 und unten mit Anm. 91 f.), die sich in Hinsicht auf Theaitetos und die Theorie der Inkommensurabilität insgesamt ergeben, eine Lösung, im jüngeren Sokrates Platon selbst zu sehen? In diesem Zusammenhang ist gegebenenfalls relevant, dass laut Diogenes Laertios 3, 6 (und 2, 103) Platon wie Theaitetos ein Theodoros-Schüler gewesen sein soll (Aufenthalt in Kyrene kurz nach Sokrates’ Tod); ebenso ist relevant, dass laut Diogenes Laertios 3, 24 der (in der Theaitetos-Passage vorkommende) Terminus προμήκης (ἀριθμός) auf Platon zurückgehe. Vlastos 1988, 393 f. bezweifelt zwar einen Aufenthalt in Kyrene, nicht aber die Schülerschaft von Platon bei Theodoros, dann aber in Athen nach der Rückkehr von der ersten Reise nach Sizilien.

Epilog: Inkommensurable Diagramme | 157

ἐλαττονάκις ἢ ἐλάττων πλεονάκις γίγνεται, μείζων δὲ καὶ ἐλάττων ἀεὶ πλευρὰ αὐτὸν περιλαμβάνει, τῷ προμήκει αὖ σχήματι ἀπεικάσαντες προμήκη ἀριθμὸν ἐκαλέσαμεν. – Κάλλιστα. ἀλλὰ τί τὸ μετὰ τοῦτο; – Ὅσαι μὲν γραμμαὶ τὸν ἰσόπλευρον καὶ ἐπίπεδον ἀριθμὸν τετραγωνίζουσι, μῆκος ὡρισάμεθα, ὅσαι δὲ τὸν ἑτερομήκη, δυνάμεις, ὡς μήκει μὲν οὐ συμμέτρους ἐκείναις, τοῖς δ’ ἐπιπέδοις ἃ δύνανται. καὶ περὶ τὰ στερεὰ ἄλλο τοιοῦτον. „Die Zahl insgesamt haben wir in zwei Teile geteilt. Diejenige, die gleichmal gleich werden kann, haben wir mit dem Quadrat repräsentiert und es als gleichseitige Vierecksform bezeichnet.“ – „Gut.“ – „Die hingegen dazwischen, zu denen die 3 und die 5 und jede Zahl gehört, für die es unmöglich ist, gleichmal gleich zu werden, sondern die entweder wenigeroft-mehr oder mehrmals-weniger wird und die immer eine längere und eine kürzere Seite umfasst, haben wir mit der länglichen Form repräsentiert und längliche Zahl genannt.“ – „Sehr gut. Aber was dann?“ – „Alle Strecken, die die ebene gleichseitige Zahl quadrieren, haben wir als Länge definiert und alle, die die verschiedenlange Zahl quadrieren, als dynamis, denn der Länge nach sind sie mit jenen nicht kommensurabel, wohl aber mit den Flächen, die sie [durch das Quadrieren] ‚vermögen‘ [dynantai]. Bezüglich der Körper haben wir es entsprechend definiert.“

Diese in den Details schwierige Passage kann in Hinsicht auf die mathematischen Implikationen hier nicht im Detail analysiert werden. Wichtig ist, dass das grundlegende Verfahren darin besteht, alle Zahlen als zwei verschiedene Formen von viereckiger Fläche zu repräsentieren.90 Während Theodoros also nicht-universelle Diagramme verwendet, spricht Theaitetos von abstrakten Klassen von Zahlen und den universellen Relationen zwischen ihnen und benennt von diesen ausgehend universelle, nicht auf den Einzelfall beschränkte mathematische Zusammenhänge, ähnlich wie Sokrates in der Menon-Passage. Dieses Vorgehen ist kategorial verschieden von demjenigen des Theodoros, insofern Theaitetos’ (und des jüngeren Sokrates’) Definition auf die Bestimmung der essentiellen Eigenschaften des in Frage stehenden mathemati-

|| 90 Das Verfahren ist komprimiert ausgedrückt wie folgt: Alle Zahlen werden in zwei Klassen unterteilt und als rechteckige Fläche dargestellt, einerseits diejenigen, die in der Spezialform des Quadrats repräsentiert werden können (1 = 1⋅1, 4 = 2⋅2, 9 = 3⋅3, …), andererseits diejenigen, die nicht als Quadrat, sondern nur allgemein als Rechteck repräsentiert werden können (3 = 1⋅3, 5 = 1⋅5, 6 = 1⋅6 oder 6 = 2⋅3, …). Sodann wird geprüft, welche Strecken aus welchen Ursprungsflächen Quadrate generieren, die denselben Flächeninhalt wie die Ursprungsfläche haben; erzeugt die Strecke das Quadrat (4 = 2⋅2, 9 = 3⋅3) aus einem Quadrat (4 = 2⋅2, 9 = 3⋅3, …), ist die Strecke als ‚Länge‘ (μῆκος) zu klassifizieren (2, 3, …); erzeugt die Strecke das Quadrat (3 = √3⋅√3, 5 = √5⋅√5, …) aus einem Rechteck, das nicht als Quadrat dargestellt werden kann (3 = 1⋅3, 5 = 1⋅5, …), ist die Strecke als dynamis (δύναμις) zu klassifizieren (√3, √5, …) (ὡς begründet die Wahl des Namens, nicht die Unmöglichkeit der Kommensurabilität). Der entscheidende Schritt besteht also im τετραγωνίζειν; im Mathematischen hat es die Bedeutung „quadrare, carrer, quadrieren, to square“ (Mugler 1958, 416 s. v.) mit hauptsächlich zwei Verwendungsgebieten: einerseits „trouver une aire à contours rectilignes équivalente à celle d’une figure limitée, entièrement ou partiellement, par des lignes courbes“, andererseits (wie hier) „construire un carré d’une valeur donnée; élever au carré un nombre donné“ (Mugler a. a. O.); vgl. Euklid, Elem. 2, 14 und Aristoteles, de An. 434a13–20. Zur Frage, was δύναμις hier und in der antiken Mathematik allgemein bedeutet, siehe Høyrup 1990 sowie Szabó 1969, 54–57 und Knorr 1975, 65–69; umfassend Vitrac 2008 (alle mit weiterer Literatur).

158 | Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon

schen Objekts (als Inbegriff der Klasse von partikularen mathematischen Objekten) abzielt und also auf die Explikation gerade derjenigen essentiellen Relationen, die für es charakteristisch sind. Dies entspricht demjenigen Vorgehen, das für Euklid aufgezeigt werden konnte. Symptomatisch für diesen Unterschied ist der markante Wechsel in der Textpassage von Theodoros’ x-Fuß-Linien zu Theaitetos’ (und des jüngeren Sokrates’) zwei Klassen vom gesamten, einen Bereich der Zahl (ἀριθμός). Der Unterschied ist signifikant: Theodoros’ Methode ist empirisch und im Grundsatz an die physikalische ‚Realität‘ gebunden. Prinzipiell ist es nicht nur als möglich unterstellt, die Richtigkeit der Ergebnisse durch Ausmessen des Diagramms zu überprüfen, sondern dies ist transparent eine methodologische Forderung, die sich direkt aus der geschilderten Gesamtsituation ergibt. Wie anders als durch das Ausmessen des Diagramms wäre es denn schließlich möglich gewesen, die Richtigkeit von Theodoros’ Behauptungen festzustellen, wenn eine allgemein-abstrakte Definition des mathematischen Phänomens selbst nachweislich nicht vorhanden war? Eine weitere Konsequenz ist, dass Theodoros keinen Begriff des mathematischen Phänomens der Inkommensurabilität gehabt haben kann, sondern diese nur als praktische Schwierigkeit der Bestimmung des gemeinsamen Maßes einer bestimmten Strecke mit der 1-Fuß-Strecke kennen konnte. ‚Inkommensurabilität‘ im strengen Sinne hätte erst nach einer wissenschaftlichen Revolution im Sinne Thomas Kuhns als theoretisches Phänomen zu existieren begonnen, von welcher ‚inkommensurablen‘ Basis in der Rückschau dann freilich auch Theodoros (und die ‚Pythagoreer‘ etc.) als jemand erschien, der tatsächlich inkommensurable Verhältnisse erforscht hatte.91 In diesem Sinn führt Theaitetos in der Platon-Stelle das Beispiel zu den dynameis exakt in denjenigen Begriffen ein, die er (zusammen mit dem jüngeren Sokrates) dem Phänomen erklärtermaßen selbst gegeben hat, zumindest Platon zufolge: Vor der universellen Definition gab es das Phänomen mathematisch folglich nicht, das heißt zumindest nicht als prinzipielle Unmöglichkeit, dass eine bestimmte Strecke mit einer anderen bestimmten Strecke gemessen werden könnte.92 Folglich ist Theaitetos’ || 91 Diese Perspektive kann das kontrovers diskutierte Problem lösen, dass einerseits nach den antiken Zeugnissen Inkommensurabilität schon im 5. Jh. v. Chr. entdeckt worden sei, andererseits aber mathematikgeschichtlich eine adäquate Beschreibung erst in der ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. nach Eudoxos’ Proportionentheorie möglich war (siehe knapp Cuomo 2001, 30; vgl. die folgende Anm. 92). 92 Um theoretisch zu bestimmen, dass zwei Größen prinzipiell kein gemeinsames Maß haben, ist (neben dem universellen Diagramm) Eudoxos’ (oder eine äquivalente) Proportionentheorie unabdingbar; erst diese macht es auf der Grundlage einer Neudefinition des Begriffs der Proportion möglich, überhaupt von inkommensurablen Verhältnissen zu sprechen; zuvor sind alle Verhältnisse per (womöglich nur impliziter) Definition prinzipiell kommensurabel (siehe speziell die auf Eudoxos zurückgehenden Definitionen Euklid, Elem. 5, def. 3–5; vgl. Saito 2003, dessen Ergebnis ist, dass es vor Eudoxos nicht einmal irgendeine explizite Proportionentheorie gegeben habe). Diese Zusammenhänge können hier nicht ausgeführt werden. Man beachte Lg. 819d–e als möglichen Reflex der erst kürzlich zurückliegenden Entdeckung (oder, wenn man die Änderung als wissenschaftliche Revolution versteht, ‚Erfindung‘) der Inkommensurabilität (ähnlich wohl auch der pseudo-platonische Sisyphos

Epilog: Inkommensurable Diagramme | 159

Definition nicht als induktiver Schritt auf der Grundlage der von Theodoros bewiesenen partikularen inkommensurablen Verhältnisse misszuverstehen.93 Insgesamt zeigt sich in der Theaitetos-Passage vor dem Hintergrund der MenonPassage eine grundsätzlich andere Art von Mathematik als die Mathematik euklidischen Typs: am Einzelfall orientiert und nicht an der universellen Relation; praktisch und nicht theoretisch. Wie im Menon setzt Platon beide Formen von Mathematik programmatisch gegeneinander. Während er sie aber dort in einer integrierten Weise aufeinander abbildet, indem er dem mathematischen Beweis zwei komplementäre, aber dennoch kategorial getrennte Ebenen gibt, kontrastiert er sie hier direkt, indem er die eine Form von Mathematik dem älteren Theodoros und die andere dem jüngeren Theaitetos zuweist. Welche Form von Mathematik jedoch in Platons Augen die ‚richtige‘ Mathematik ist, ist in beiden Fällen eindeutig: diejenige, die mit universellen qualitativ-quantitativen Relationen operiert. Abseits von allen philosophischen || [388e], der sich auf den Zeitraum zwischen 361 und 350 v. Chr. datieren lässt: siehe Müller 1975, 105 f.; vgl. unten Kap. 5.2.2). Als problematisch erscheint, dass Theaitetos im Jahr 369 v. Chr. gestorben ist (und Eudoxos wohl im Jahr 391/0 v. Chr. geboren wurde: siehe unten Anm. 547). Eine Erklärung ist, dass die Stelle nicht als historischer Bericht einer Unterrichtsstunde (o. Ä.) konzipiert ist, sondern als programmatische Gegenüberstellung zweier Arten von Mathematik (siehe unten). So müsste die Einsicht, die Theaitetos zugewiesen wird, nicht gänzlich auf ihn zurückgehen (stattdessen auf den [obskuren] jüngeren Sokrates = Platon?: vgl. oben mit Anm. 89); ihm könnte auch lediglich ein (herausragender) Anteil zugekommen sein (zumindest in der Rückschau in Platons Augen; etwa durch eine Definition, die ein Schritt auf dem Weg zur Erkenntnis der Inkommensurabilität gewesen wäre?). Hierfür spricht der Umstand, dass der Beweis der Äquivalenz der Proportion zwischen zwei kommensurablen Quadraten mit der Proportion zwischen zwei Quadratzahlen in Euklid, Elem. 10, 9 (welche Proposition Σ Euklid, Elem. 10, 62 auf Theaitetos zurückführt und der letztlich einen Beweis zur Definition im Theaitetos darstellt) mittelbar (über Euklid, Elem. 10, 2) auf Euklid, Elem. 10, 1 beruht, und dieser Beweis selbst auf Eudoxos’ Definition der Proportion gemäß Euklid, Elem. 5 (speziell def. 1–4); für den Kontext siehe Knorr 1983 zu Euklid, Elem. 10. Entsprechend wäre das Phänomen der Inkommensurabilität nicht im 5. Jh. v. Chr. oder früher gefunden worden noch hätte ihre Entdeckung zu einer ‚Grundlagenkrise‘ in der Mathematik geführt: vgl. von Fritz 1961, 559–561; kritisch Knorr 1975 und Fowler 1999 (beide mit Literatur). Im Übrigen zeigt auch Waschkies’ 1971 Rekonstruktion der Entdeckung der Inkommensurabilität auf der Grundlage der sogenannten ψῆφοι-Arithmetik und mithin in einem mutmaßlich pythagoreischen Kontext, dass die Inkommensurabilität auch beim Aufzeigen, „daß die Gleichung 2x² = z² keine ganzzahlige Lösung besitzt“ (352), als mathematisches Phänomen selbst noch nicht entdeckt war. Schließlich „muß man auch wissen, daß die Diagonale des Quadrats als eine geometrische Lösung von [dieser Gleichung] interpretiert werden kann“ (352); es folgt, dass es „keineswegs selbstverständlich [ist], daß die alten Arithmetiker sofort die Tragweite ihrer Entdeckung übersehen haben“ (352; welchen Einwand Waschkies selbst dann bezeichnenderweise mit indirektem Verweis auf Men. 82a7–85b7 abtut). Dies aber ist der entscheidende Punkt. So ist auch nicht problematisch, dass Münzen mit Motiven gefunden wurden, die aus späterer Perspektive als Verweis auf inkommensurable Verhältnisse gedeutet werden könnten: siehe für eine Zusammenstellung Artmann 1990, für einzelne Münzen Aboav 2008 und Ambrosi 2012. Dies scheint schon deshalb angezeigt, weil derartige Motive teils schon auf babylonischen Münzen auftauchen. Ansonsten siehe für einen die entwickelte Deutung bestätigenden Aspekt unten Anm. 5211. 93 So etwa (knapp) Folkerts (wie oben Anm. 81).

160 | Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon

Implikationen ist daher allem Anschein nach der Zweck beider Passagen, gerade diese Form von Mathematik als einzig erkenntnisbringend herauszustellen. Insofern darf die Szene im Theaitetos nicht als direkte Abbildung der Mathematikgeschichte oder als historischer Bericht einer Mathematikstunde aufgefasst werden – Letzteres wäre ja schon angesichts der Lebensdaten von Theodoros und Theaitetos unwahrscheinlich –, sondern, wie es ja auch die Chronologie der mathematikgeschichtlichen Voraussetzungen der Entdeckung der Inkommensurabilität erfordert, als eine literarisch-artifizielle, als solche prägnant ahistorisch-anachronistische Gegenüberstellung zweier Konzeptionen von Mathematik – die jedoch so konstruiert ist, dass im Kontrast zum Menon, in dem die eine Form als die Mathematik des ‚Mathematikers‘ und die andere als die des ungebildeten Sklaven charakterisiert ist, über das Lebensalter ihrer Proponenten die eine Form als die jüngere und die andere als die ältere ausgewiesen wird. Wenn wir hierin einen Reflex eines Wandels der mathematischen Praxis erkennen wollen, geben die Theaitetos- und Menon-Passagen den terminus ante quem und (mehr oder weniger) Theodoros’ Tod den terminus post quem. In jedem Fall sind wir erneut auf die erste Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. verwiesen. In welchem Kontext mag eine solche voreuklidische Mathematik gestanden haben? Ein erstes Indiz ergibt sich aus der Theaitetos-Stelle selbst: Die dort als Theodoros’ Grundmaß so prominente 1-Fuß-Linie (ποδιαία, sc. εὐθεῖα γραμμή), wird von Aristoteles an mehreren Stellen, im entschiedenen Gegensatz zur Praxis bei Euklid, mit der Tätigkeit der ‚Geometer‘ verbunden und als deren ‚Grundmaß‘ ausgewiesen.94 Auch wenn eine derartige ‚Geometrie‘ in der fraglichen Zeit dieses Grundmaß wohl in einer skalierten Weise verwendet und die 1-Fuß-Linie aus praktischen Gründen in der Regel in verkleinertem Maßstab benutzt hat, verweist doch die Bezeichnung und die Natur dieses Grundmaßes eindeutig auf einen spezifischen Herkunftsbereich, nämlich die ‚Geometrie‘ als Landvermessung – wenngleich nicht als ‚reine Landvermessung‘, sondern als ‚Kunst‘ der Landvermessung, das heißt als Landvermessung, die sich (auch) mit ihren eigenen Grundlagen theoretisch beschäftigt, mutmaßlich mit dem Ziel der stetigen Verbesserung der praktischen Ausführung ihrer Aufgaben.95 || 94 Aristoteles, Metaph. 1052b31–33; 1078a14–23; 1089a20–26; APr. 49b33–50a4 (unter dem Thema ἐκτίθεσθαι, also als Nomen: ἔκθεσις [so auch im Kontext]; vgl. oben Kap. 3.2); APo. 76b35–77a4; signifikant ist, dass in Metaph. 1052b31–33 die ποδιαία γραμμή als ‚unteilbar‘ qualifiziert ist: ἐν πᾶσι δὴ τούτοις μέτρον καὶ ἀρχὴ ἕν τι καὶ ἀδιαίρετον, ἐπεὶ καὶ ἐν ταῖς γραμμαῖς χρῶνται ὡς ἀτόμῳ τῇ ποδιαίᾳ („In all diesen Dingen ist das Maß und der Anfang eine gewisse unteilbare Einheit, denn sogar bei den Linien verwenden sie die 1-Fuß-Linie als unteilbar“). Die 1-Fuß-Linie hat evident keinen Platz in der Geometrie euklidischen Typs: vgl. Barnes’ 1993, 143 Ausdruck der Verwunderung zur zitierten Stelle APo. 76b42: „but in what proof would a geometer use such a premiss?“ Vgl. die Diskussion bei Acerbi 2008 (insofern eine Linie im Diagramm im Allgemeinen in ihrer relativen Länge hinreichend determiniert ist, ist es nicht der Fall, dass „fixing a reference line such as the ποδιαία is a necessary mathematical step if one wants to establish whether other lines are (in)commensurable or not“ [124]). 95 Die Skalierung ist ja letztlich der Grund, weshalb Aristoteles diese Beispiele überhaupt diskutiert. Wie der Text selbst und vor allem im Kontext zeigt, ist der Bezug die ‚Geometrie‘, nicht die reine Land-

Epilog: Inkommensurable Diagramme | 161

Vor diesem Hintergrund zeigt sich ein überraschendes Bild: Wir besitzen zwar für die methodologische Praxis der Mathematik euklidischen Typs, die diagrammatische Modellierung universeller mathematischer Sachverhalte, kein einziges authentisches Zeugnis vor der Menon-Stelle (zumindest außerhalb Platons),96 doch verfügen wir andererseits positiv über zahlreiche Zeugnisse genau derjenigen Praxis der Mathematik, die in ihrem Kern mehr oder weniger gerade derjenigen entspricht, die in der Theaitetos-Stelle Theodoros zugewiesen wird und sich in der Modellierung partikularer, in einem empirisch-physikalischen Kontext stehender Diagramme manifestiert. In der Tat sind sogar die ersten direkt überlieferten mathematischen Diagramme im antiken Griechenland nicht ‚euklidischer‘ Natur, sondern stehen in dieser Tradition. Sie sind nicht wie das Diagramm im Menon literarisch überliefert, sondern liegen als archäologische und also gesichert authentische Zeugnisse vor, und zwar in ihrer unmittelbar ikonischen Form. So wurden beim Artemision in Ephesos Dachziegel aus dem 7. Jh. v. Chr. gefunden, die geometrische Zeichnungen einschließlich konzentrischer Kreise zeigen, die in den weichen Lehm eingeritzt und durch Zufall durch ein Feuer gebrannt wurden; sie repräsentieren allem Anschein nach einen Schritt im Arbeitsprozess der Herstellung der Ziegel selbst, und dieser beinhaltete die vorherige Repräsentation der geometrischen Ornamente auf dem Lehm.97 Freilich ist dieses Diagramm wohl eher ein image, also ein nicht die Relationalität als solche repräsentierendes icon. Ein anderes frühes Beispiel ist jedoch eindeutig ein diagram im strengen Sinn: Die sogenannte Paradegma-Inschrift im Tunnel des Eupalinos auf Samos aus der Mitte des 6. Jhs. v. Chr. besteht aus zwei senkrechten, im Abstand von ca. 17,50 m angebrachten Linien, zwischen die das Wort „Paradegma“ (also παράδειγμα) geschrieben ist; sie repräsentiert eine spezifische Länge, die im Zuge des Tunnelbaus relevant war, um eine aufgrund der örtlichen Gegebenheiten erforderliche Umgehung zu graben, die anstatt der ursprünglich geplanten geraden Linie ein (mehr oder weniger) gleichschenkliges Dreieck involvierte; die Inschrift wurde nach der Fertigstellung des Baus angebracht und hatte wohl den Zweck der Zurschaustellung der hiermit verbundenen Ingenieursleistung.98 Eindeutig ist eine quantitative Relation abgebildet, und diese steht in einem mathematischen Kontext. Die involvierte Relation ist aber – und dies ist der entscheidende Unterschied zum Diagramm eu-

|| vermessung; vgl. Metaph. 1078a19 f.: ὥσπερ οὐδ’ ὅταν ἐν τῇ γῇ γράφῃ καὶ ποδιαίαν φῇ τὴν μὴ ποδιαίαν („wie es auch dann nicht der Fall ist, wenn man etwas auf der Erde zeichnet und behauptet, die Nicht-1-Fuß-Linie sei eine 1-Fuß-Linie“). Zu Aristoteles’ Antwort siehe Humphreys 2017, 204. 96 Ungeachtet möglicher weiterer Stellen bei Platon und ungeachtet der intrikaten Datierungsprobleme hinsichtlich von Platons Schriften; eine relevante Stelle ist auch die zweite mathematische Menon-Stelle (86e4–87b2): siehe unten Kap. 6.5. Ganz zu schweigen von frühen Zeugnissen für die deduktive Verfasstheit der Elementenschriften der griechischen Mathematik: Diese liegt greifbar erst mit Autolykos von Pitane vor (zumindest mehr oder weniger: siehe oben Kap. 3.3). 97 Siehe Schädler 2001 und auch Hahn 2017, vor allem die Einleitung. 98 Zu einer eingehenden Deutung der Inschrift siehe Käppel 1999.

162 | Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon

klidischen Typs – exakt-numerisch bestimmt, und zwar in einem abstrahierten Äquivalent zu einer Linie. Weiter ist relevant, dass dieses Diagramm (wie das vorangehende Beispiel) nicht skaliert ist, sondern die Relationen in einem Verhältnis von 1:1 abbildet. Damit repräsentiert es einen Gegenstand der physikalischen Welt, und zwar reduziert auf seine direkte rein mathematisch-numerische Relationalität; und wie Theodoros’ Diagramm lässt sich dieses Diagramm mit der 1-Fuß-Linie ausmessen. Die Paradegma-Inschrift ist aus einem zweiten Grund relevant: Sie ist die erste Bezeugung des Wortes παράδειγμα überhaupt. Wie eine Auswertung aller frühen Zeugnisse ergibt, bedeutet dieses Wort „grundsätzlich im Kontext von Architektur und Bauwesen ‚Modell‘ bzw. ‚Entwurfsplan‘“,99 ist also im hier aufgespannten konzeptuellen Rahmen als Skalenmodell zu verstehen, das entsprechend eine numerisch bestimmte Relationalität im Sinn einer Proportionalität der sich im Original zeigenden Größenverhältnisse repräsentiert, und zwar in der Regel unter Wahrung der äußerlich wahrnehmbaren Form (das Größenverhältnis kann wie bei der ParadegmaInschrift selbst auch 1:1 betragen). In der Tat finden sich im architektonischen Kontext zahlreiche Bezeugungen für die Verwendung solcher Skalenmodelle, im schriftlichen Kontext auch mit ausdrücklicher Bezeichnung als παράδειγμα.100 Aus dem Befund ergibt sich ein eindeutiges Bild: Für die frühe Zeit sind diagrammatische mathematische Modelle bezeugt. Ausnahmslos alle bekannten derartigen Modelle stehen in einem praktischen Kontext, seien es zweidimensionale ‚Diagramme‘ oder Planzeichnungen, seien es dreidimensionale Skalenmodelle (usw.). Sie vereint, dass sie die relationalen Verhältnisse des Originals abbilden, und zwar um einer Darstellung des (physikalischen) Originals willen. Angesichts dieses Zwecks ist entscheidend – ja: ihre empirische Güte bemaß sich wohl ausschließlich danach –, dass die relationalen Verhältnisse im Modell so repräsentiert waren, dass sie numerischexakt quantifizierbar waren, entweder direkt (insbesondere im Falle einer 1:1-Abbildung) oder in ihrem relativen Verhältnis zueinander und / oder zur intendierten Größe des auszuführenden Bauwerks (etc.). Entsprechend ist ihre Relationalität sekundär zur abgebildeten physikalischen Relationalität, und sie waren prinzipiell arithmetisiert (oder zumindest arithmetisierbar). In dieser Form waren derartige diagrammatische Modelle allem Anschein nach ein wichtiges Hilfsmittel zu einem praktischen Zweck, wie im Tunnel des Eupalinos – und in einem solchen Kontext könnten, nicht zuletzt angesichts der zeitlichen Nähe zu diesem Diagramm, auch Thales’ Diagramme zu verorten sein (wenn er denn welche benutzt hat): Sie hätten dann primär || 99 Käppel 1999, 86, insgesamt 84–86. 100 Siehe Käppel 1999, 84–86; umfassend Heisel 1993. Relevant ist, dass die Verwendung von Diagrammen ihren Ursprung im Bereich der Bauzeichnung gehabt zu haben scheint; siehe hierzu Asper 2007, 158 f. (mit weiterer Literatur). Vgl. Hahn 1987, der, vor dem Hintergrund der spezifischen soziopolitischen Umstände, überhaupt den Beginn von Philosophie und Wissenschaft in Griechenland auf die Architektur zurückführt. Derartige Bauzeichnungen finden sich im Übrigen auch im ägyptischen Bereich: siehe Rossi 2004, insbesondere 96–147.

Epilog: Inkommensurable Diagramme | 163

ebenfalls den Zweck gehabt, direkt die exakt numerisch-quantitativ bestimmte Relationalität spezifischer Größenverhältnisse der physikalischen Welt abzubilden, etwa zum Zweck der Messung des Abstands eines Schiffes vom Ufer und der Bestimmung der Höhe der Pyramiden.101 Thales, Eupalinos und Theodoros hätten entsprechend einen rein praktischen Zweck verfolgt – wofür zwar sekundär selbstverständlich auch relevant gewesen war, sich mit Linien, Dreiecken, Kreisen (usw.) auszukennen und also auch einen impliziten Begriff dieser Objekte zu besitzen, nämlich um sie auch richtig einsetzen zu können. Impliziert wäre hiermit aber noch nicht, dass man sich mit den universellen mathematischen Relationen an sich beschäftigt hätte, wie es Theaitetos (und der jüngere Sokrates) im Theaitetos und Sokrates im Menon tun. Ein ähnliches Ergebnis zeigt sich im Übrigen für Demokrit, also einen direkten Zeitgenossen des Theodoros aus dem 5. Jh. v. Chr. In seinem umfangreichen Werk hat er sich auch speziell mit ‚mathematischen‘ Fragen beschäftigt. Zwar sind fast keine Fragmente überliefert, wir sind aber insbesondere über die Titel zahlreicher Schriften zu diesem Themenkomplex informiert (Diogenes Laertios 9, 47, 17–48, 6): Über den Unterschied der Auffassung oder Über die Berührung von Kreis und Kugel (Περὶ διαφορῆς γνώμης102 ἢ Περὶ ψαύσιος κύκλου καὶ σφαίρης), Über Geometrie (Περὶ γεωμετρίης), Geometrisches (?: Γεωμετρικῶν, eventuell ist die Buchanzahl ausgefallen), Zahlen (Ἀριθμοί), zwei Bücher Über verhältnislose Linien und Körper (Περὶ ἀλόγων γραμμῶν καὶ ναστῶν αʹ βʹ), Ausbreitungen (Ἐκπετάσματα), Das Große Jahr oder Astronomie (Μέγας ἐνιαυτὸς ἢ Ἀστρονομίη), Sternen-Kalender (Παράπηγμα), Wagen der Klepshydra (?: †Ἅμιλλα κλεψύδραι†), Ouranographie (Οὐρανογραφίη), Geographie (Γεωγραφίη), Polographie (Πολογραφίη) und Strahlengraphie (Ἀκτινογραφίη).103 Auf den ersten Blick scheinen die Titel eine Beschäftigung Demokrits mit Mathematik euklidischen Typs zu belegen. Aufgrund des Überlieferungsstands ist eine genaue Prüfung dieses Eindrucks zwar nicht möglich. Unter den wenigen erhaltenen Zeugnissen sind jedoch drei einschlägig. Insgesamt führen sie zu einem signifikant anderen, in die Richtung von Platons Theodoros’ Mathematik weisenden Bild: (1) Archimedes zufolge habe Demokrit mathematische Einsichten formuliert; speziell habe er das Volumen des Kegels auf ein Drittel des auf einer gleich großen Basis stehenden und gleich hohen Zylinders und das der Pyramide auf ein Drittel desjeni-

|| 101 Siehe zu Thales oben die Einleitung, speziell Kap. 1.1; vgl. Hahn 1987, allerdings unter der Annahme einer letztlich doch euklidisch-geometrischen Zielsetzung. 102 Siehe den Kommentar in Diels & Kranz S. 2, 141 zu Diels & Kranz 68 B11l. Handschriftlich überliefert ist γνώμης. Heath 1921, 1, 178 f. hat vorgeschlagen, γωνίης zu lesen, als Verweis auf etwaige Diskussionen zum gemischten Winkel aus geraden und gebogenen Linien (in Euklids Elementen spielt diese Form des Winkels keine Rolle, außer mehr oder weniger in Euklid, Elem. 3, def. 7; 3, 16; 3, 31). Von Cobet stammt die Konjektur γνώμονος. Siehe hierzu auch Leszl 2007, 34. 103 Zum Schriftenverzeichnis insgesamt siehe Leszl 2007, speziell zu den hier interessierenden mathematischen Schriften 34–38 (unter anderem 36 dazu, dass ein Großteil „dealt with applied mathematics, including astronomy“).

164 | Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon

gen eines entsprechenden Quaders (oder Prismas) bestimmt. Wir lesen in der Methodos:104 διὸ κεἰ τὰς εὑρήσ(εις) τῶν θεωρη̣μάτων τούτων Εὔδοξος ἐξήνεγκε πρῶτος τὴν ἀπόδειξίν τε τοῦ κῶνου καὶ τῆς πυραμί(δος), (ὅτι) τρίτον μέρος (ἐστιν) ὁ μὲν κῶν[(ο)]ς τοῦ κυλίνδρου, ἡ δὲ πυραμὶς τ ̣(oῦ) πρίσματος, τῶν βάσιν ἐχόντων τὴν αὐτὴν καὶ ὕψος ἴσον, οὐ μικρὰν ἀπονείμαι τις Δημοκρίτωι μερίδα πρώτ ̣[ω]ι̣ τὴν ἀπόφασιν τὴν περὶ τοῦ̣ εἰρη̣μένου σχήματος χωρὶς ἀποδείξεως ἀποφηναμένωι. Deshalb könnte man, auch wenn Eudoxos als erster die Methode zum Finden dieser Theoreme und den Beweis zum Kegel und zur Pyramide – dass einerseits der Kegel der dritte Teil des Zylinders ist, die Pyramide andererseits der dritte Teil des Prismas, wenn sie dieselbe Basis und dieselbe Höhe haben – publiziert hat, keinen geringen Anteil daran Demokrit zuweisen, der als erster die Behauptung bezüglich der genannten Figur ohne Beweis aufgestellt hat.105

Diesem Zeugnis zufolge hat Demokrit zwar die Einsicht zu den Verhältnissen der Volumina formuliert, diese aber lediglich als Behauptung aufgestellt. Dass er hierzu ein ‚euklidisches‘, qualitativ-quantitativ bestimmtes universelles Modell der mathematischen Objekte selbst verwendet hätte, ist jedoch unwahrscheinlich: Schließlich hätte er mit einem solchen seine Behauptung nicht beweisen oder belegen können, denn um die relevanten Relationen explizieren zu können, hätte er über Eudoxos’ Exhaustionsmethode (und mithin Proportionenlehre) verfügen müssen; für diese wäre aber (grob) das Jahr 370 v. Chr. der früheste terminus post quem (siehe unten Anm. 547).

|| 104 Archimedes, Eratosth. fol. 46V+43R 2, 20–32 Netz & Wilson (= p. 84, 3–10 Heiberg). Das Zeugnis gilt in der mathematikhistorischen Forschung als zuverlässig; vgl. Cuomo 2001, 51: „In fact, Archimedes is considered a very trustworthy source. Not only was he relatively close in time to Democritus and Eudoxus: he was a mathematician, so we can assume that he understood the material and had access to a wide range of treatises and results […]. We believe that Archimedes was what we could call intellectually honest […]. Nobody I know […] doubts Archimedes’ testimony on Democritus and Eudoxus“ (meine Hervorhebung). Vgl. zum gesamten Problemkomplex oben die Einleitung (Kap. 1). Zur Schrift siehe De Brasi 2016, speziell 205 f. zu dieser Passage. 105 In Hinblick auf den Kontext der Textpassage ist eine von Netz & Wilson (in Netz et al. 2012) abweichende Deutung des Überlieferungsbefundes angezeigt: καὶ (20) ist als ursprünglich dorisch (siehe zum Dialekt der Schrift knapp Heiberg 1907, 297 f.) καἰ zu interpretieren und nachfolgend, das heißt in der vorliegenden sekundären Koine-Fassung, harmonisierend als κεἰ zu lesen; hinter πρῶτος (22) ist der Hochpunkt zu tilgen. Mit dieser Lesart ergibt sich sowohl eine adäquatere inhaltliche Verbindung zum Vorangehenden als auch zum Folgenden, und ebenso klärt sich die Syntax der gesamten Passage 20–32. Inhaltlich handelt es sich um „probably the most interesting historical passage in any introduction by Archimedes“ (Netz 2012, 297); die von Netz & Wilson (in Netz et al. 2012) besorgte Edition des Archimedes-Palimpsestes stellt einen wichtigen Fortschritt dar, wie ein direkter Vergleich mit Heibergs 1907, 245 f. Wiederherstellung zeigt (man beachte die Anmerkungen bei Netz 2012, 297): μάτων τούτω̣ ν̣, Εὔδοξος ἐξηύρηκεν̣ πρῶτος τὴν ἀπόδειξιν, ἐ̣π̣ὶ ̣ τοῦ κώνου καὶ τῆς πυραμίδος, ὅ̣τ̣ι ̣ τρίτον μέρος ὁ μὲν κῶνος τοῦ κυλίνδρου ἡ δὲ πυραμὶς τοῦ πρίσματος τῶν βάσιν ἐχόντων τὴν αὐτὴν καὶ ὕψος ἴσον, οὐ μικρὰν ἀπονείμαι τις Δημοκρίτῳ μερίδα πρώτῳ̣ τὴν ἀπόφασιν τὴν περὶ τοῦ εἰρημένου σχήματος χωρὶς ἀποδείξεως ἀποφηναμένῳ.

Epilog: Inkommensurable Diagramme | 165

In der Tat bezeugt Archimedes explizit, dass Demokrit keinen Beweis (ἀπόδειξις) vorgelegt habe, sondern dieser erst auf Eudoxos zurückgehe (vgl. Archimedes, Sph. Cyl. 1, praef. p. 9, 1–11, speziell 10 f.: ‚alle Geometer vor Eudoxos hatten dieses Wissen nicht besessen, und nicht einmal von einem einzigen war dies erkannt worden‘ [ὑπὸ πάντων ἀγνοεῖσθαι μηδ’ ὑφ’ ἑνὸς κατανοηθῆναι]; ebenfalls Heron, Metr. 1, praef. p. 2, 11–19). Für die ‚euklidische‘ Einsicht in die mathematischen Verhältnisse bezüglich der Volumina sind wir damit abermals auf die erste Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. verwiesen. Für Demokrit hingegen ist ein ‚euklidischer‘ Ansatz auszuschließen; diesen hätte er allenfalls erst aus der Rückschau gehabt, vergleichbar der zu Thales festzustellenden Situation. Wenn überhaupt, wird Demokrit (wie anscheinend Thales) allgemeine Plausibilitätserwägungen angestellt haben, gegebenenfalls mit Hilfe eines exakt-numerisch bestimmten (oder -baren) physikalischen Modells (Diagramms) – und eben diesen physikalischen Charakter bezeugt ja wohlgemerkt auch Archimedes selbst implizit dadurch, dass er Demokrits Einsicht als Beispiel für die Nützlichkeit der von ihm in der Methodos angepriesenen ‚mechanischen‘ Methode anführt (vgl. unten Kap. 5.3.3 mit der direkt vorangehenden Passage). Diese Beobachtung allein mag als starkes Indiz dafür gelten, dass Demokrits Methode nicht ‚euklidisch‘ war. (2) Es findet sich die Information, dass Demokrit nach Ägypten gereist sei, um von den Priestern Geometrie zu lernen (Diogenes Laertios 9, 35 = Diels & Kranz 68 A1), und er rühmte sich selbst des umfassendsten mathematischen Wissens seiner Zeit:106 ἐγὼ δὲ τῶν κατ’ ἐμαυτὸν ἀνθρώπων γῆν πλείστην ἐπεπλανησάμην, ἱστορέων τὰ μήκιστα, καὶ ἀέρας τε καὶ γέας πλείστας εἶδον, καὶ λογίων ἀνθρώπων πλείστων ἐπήκουσα, καὶ γραμμέων συνθέσι μετὰ ἀποδείξεως οὐδείς κώ με παρήλλαξεν, οὐδ’ οἱ Αἰγυπτίων καλεόμενοι Ἁρπεδονάπται. Von den Menschen meiner Zeit habe ich die meisten Gegenden durchwandert und auf meinen Reisen die meisten Dinge erforscht, ich habe die meisten Lüfte und Erden gesehen, ich habe den meisten weisen Menschen zugehört, und niemand hat mich jemals im Zusammensetzen von Linien in Verbindung mit ‚Demonstration‘ übertroffen, nicht einmal die sogenannten Harpedonaptai in Ägypten.

Zwar erweckt das Zitat aufgrund des Verweises auf ‚Demonstrationen‘ den Eindruck, Demokrit hätte Mathematik euklidischen Typs betrieben, doch ist eine solche Deutung unmöglich. Insbesondere steht dem der Verweis auf die ägyptische Geometrie entgegen: Sie kannte keinen ‚Beweis‘ im oben explizierten Sinne.107 Gleichwohl fin-

|| 106 Diels & Kranz 68 B299 (= Clemens von Alexandria, Strom. 1, 15, 69, 5); Diels (in Diels & Kranz, Bd. 2, S. 209 f.) hält das Zeugnis für unecht (dort auch Literatur für die Gegenposition); siehe den Überblick bei Asper 2007, 168 (mit Anm. 505). In jedem Fall wäre die Entstehung spätestens auf die alexandrinische Zeit zu datieren. Vgl. unten mit Anm. 110. Gegen die überwiegende Meinung in der Forschung spricht sich jüngst überzeugend Leszl 2007, 37 Anm. 37 für die Authentizität aus. 107 Vgl. oben Kap. 1.1. Das heißt freilich nicht, dass die jeweilige praktische mathematische Einsicht (oder Handlung) nicht als ‚plausibel‘ und also ‚gerechtfertigt‘ erscheinen musste.

166 | Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon

den sich auch hier Diagramme (siehe oben Kap. 1.1), anhand deren in einem LehrerSchüler-Kontext die diskutierten Sachverhalte ‚aufgezeigt‘ wurden, und zwar anhand exakt-numerischer quantitativer Relationen, die direkt (zumindest potentiell und gegebenenfalls generalisierte) physikalische Gegenstände repräsentieren.108 Eine Referenz auf eine solche ‚Apodeixis‘ scheint auch hier vorzuliegen: Demokrit hätte auf (partikulare, gegebenenfalls physikalische Sachverhalte repräsentierende) Diagramme deiktisch verwiesen (wie Platon in der Menon-Passage und sicherlich auch der wohlgemerkt aus Nordafrika, das heißt Kyrene, stammende ‚Theodoros‘ im Theaitetos), aber nichts ‚bewiesen‘. Unter der Decke der Konstanz der Terminologie verbirgt sich eine wissenschaftliche Revolution der mathematischen Praxis, wie ja auch mutatis mutandis hinsichtlich der Inkommensurabilität im Theaitetos festzustellen ist.109 Schließlich belegt das Zeugnis, dass eine solche praktische, von den Harpedonaptai repräsentierte Mathematik zu Demokrits Zeiten das Paradigma der ‚Mathematik‘ war; sonst könnte er sich nicht des größten Wissens in diesem Bereich brüsten.110 Signifikant ist weiter, dass das Zeugnis auf das Ende von Demokrits Leben und also auf die erste Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. verweist, ist Demokrit doch 470/60 v. Chr. geboren und soll über 100 Jahre alt geworden sein.111 (3) Demokrit hat die Frage diskutiert, ob die Seiten eines Kegels glatt oder gestuft seien, wie Plutarch mit einem Zitat des stoischen Philosophen Chrysippos bezeugt (der auch das Subjekt im ersten Satz ist):112

|| 108 Vgl. zum Beispiel den Papyrus Rhind (siehe Robins & Shute 1987); siehe Waschkies 2004, 9–11 und allgemein De Young 2009. 109 Bezeichnenderweise wird das Zeugnis (ohne faktische Grundlage) von etwa Heath 1921, 1, 178 im gegenteiligen Sinn gedeutet: „This does not tell us much except that it indicates that the ‚ropestretchers‘, whose original function was land-measuring or practical geometry, had by Democritus’s time advanced some way in theoretical geometry (a fact which the surviving documents, such as the book of Ahmes, with their merely practical rules, would not have enabled us to infer)“ (meine Hervorhebung). Zum Gebrauch des Worts ἀπόδειξις siehe Huffman 2005, 248 f. und auch Barnes 1969, 138 f. 110 Angesichts dessen ist die Frage der Authentizität des Zeugnisses hier nur von bedingter Relevanz (vgl. oben Anm. 106): In jedem Fall belegt es, dass es nicht unplausibel war, jemanden als ‚Mathematiker‘ anzusehen, der in einer solchen praktischen und eindeutig nicht-euklidischen Tradition stand. 111 Die Geburt ergibt sich gemäß Diogenes Laertios 9, 41 nach Apollodoros für die 80. Olympiade (460–457 v. Chr.), alternativ nach Thrasyllos für das dritte Jahr der 77. Olympiade (470/69 v. Chr.); er selbst soll gesagt haben, er sei vierzig Jahre jünger als Anaxagoras (Diogenes Laertios 9, 34 und 41). Laut Diogenes Laertios 9, 39 sei er älter als 100 Jahre alt geworden, gemäß Diogenes Laertios 9, 43 nach Hipparchos sogar 109 Jahre. Damit ergibt sich ein Todesjahr von 361/0 v. Chr. bzw. ca. 351–348 v. Chr. Ein früheres Todesdatum gibt Diodorus Siculus 14, 11, 5 (= Diels & Kranz 68 A5; vgl. A4) mit 404 v. Chr.; zur Relevanz im sachlichen Kontext vgl. Konstan 2000, 127. 112 Die Passage ist Diels & Kranz 68 B155 (= Plutarch, De communibus notitiis 1079E–F). Ausführlich wird die Stelle von Hahm 1972 und Drozdek 2009 diskutiert (beide mit weiterer Literatur); siehe auch Long & Sedley 1987, 301–303; vgl. Sorabji 1983, 341 f.

Epilog: Inkommensurable Diagramme | 167

ἔτι τοίνυν ὅρα τίνα τρόπον ἀπήντησε Δημοκρίτῳ διαποροῦντι φυσικῶς καὶ ἐπιτυχῶς, εἰ κῶνος τέμνοιτο παρὰ τὴν βάσιν ἐπιπέδῳ, τί χρὴ διανοεῖσθαι τὰς τῶν τμημάτων ἐπιφανείας, ἴσας ἢ ἀνίσους γινομένας. ἄνισοι μὲν γὰρ οὖσαι τὸν κῶνον ἀνώμαλον παρέξουσι, πολλὰς ἀποχαράξεις λαμβάνοντα βαθμοειδεῖς καὶ τραχύτητας· ἴσων δ’ οὐσῶν ἴσα τμήματα ἔσται καὶ φανεῖται τὸ τοῦ κυλίνδρου πεπονθὼς ὁ κῶνος, ἐξ ἴσων συγκείμενος καὶ οὐκ ἀνίσων κύκλων, ὅπερ ἐστὶν ἀτοπώτατον. Schau auch, was er [sc. Chrysippos] Demokrit erfolgreich in physikalischem Sinne entgegnete, der darüber rätselte, was man über die Flächen der Segmente denken müsse, wenn ein Kegel durch eine Ebene parallel zur Basis zerteilt wird – sind sie gleich groß oder verschieden groß? Denn wenn sie verschieden groß sind, machen sie den Kegel unregelmäßig und er hat viele stufenförmige Einschnitte und Vorsprünge. Wenn sie aber gleich groß sind, sind die Segmente gleich groß und der Kegel hat offensichtlich die Eigenschaften eines Zylinders, da er aus gleich großen Kreisen und nicht aus verschieden großen Kreisen zusammengesetzt ist – was aber sehr unsinnig ist.

Das Zeugnis ist oft im Sinne einer Diskussion infinitesimaler geometrischer Verhältnisse gedeutet worden.113 Dies ist aber nicht nur von vornherein unplausibel, insofern die Passage von physikalischen Kegeln bzw. Zylindern handelt und also im Kontext der Atomtheorie gestanden haben wird – wie ja auch schon die Einleitung durch Plutarch explizit deutlich macht (man beachte φυσικῶς, auch wenn sich dies primär auf Chrysippos bezieht) –, sondern dies erweist sachlich auch Chrysippos’ Wiedergabe der Aporie und seine eigene, im Anschluss ausgeführte Antwort.114 Insofern Atome per Definition eine räumliche Erstreckung aufweisen, hat Demokrit nicht infinitesimale Größenverhältnisse betrachtet und mithin keine ‚geometrische‘ Frage behandelt (hierfür wäre ja auch ein Schnitt durch ein Dreieck oder eine Linie der näherliegende Kandidat gewesen), sondern ein Argument im Rahmen einer physikalischen Theorie vorgebracht, das (potentiell exakt determinierbare) numerisch-quantitative Eigenschaften der betrachteten physikalischen Dinge selbst nutzt. Zu dieser Deutung passt freilich auch die Darstellungsform des Zeugnisses, denn Demokrit bedient sich „einer persönlich-diskursiven, gewissermaßen rhetorischen Darstellungsform, die von derjenigen der Elementa deutlich absticht“: „Ganz offensichtlich handelt es sich hier um eine andere Texttradition, nämlich die der vorsokratischen ‚ionischen‘ Sachdarstellungen.“115

|| 113 Vgl. Heath 1921, 1, 179 f. Ähnlich Heiberg 1907, 300. 114 Dies zeigt Hahm 1972, 205–209 mittels einer Explikation der für das sachliche Verständnis des Dilemmas notwendigen, aber nicht explizit ausgedrückten Implikationen, nämlich (1) dass mehrere Schnitte gemacht werden; (2) dass sich die quantitativen Aussagen auf alle Segmente zugleich beziehen; (3) dass alle Segmente dieselbe Höhe haben; und (4) dass diese Höhe dieselbe unteilbare Minimaleinheit ist. Chrysipp schreibt dabei mehr oder weniger als Mathematiker euklidischen Typs: vgl. die Anmerkungen bei Kouremenos 1994 zur stoischen Philosophie der Mathematik in Verbindung mit den oben in Kap. 3 gemachten Ergebnissen. 115 Asper 2007, 108.

168 | Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon

Insgesamt erweist sich Demokrit zwar in der Tat als Mathematiker – aber als ein solcher, wie er in Platons Theodoros im Theaitetos entgegentritt: Primäres Ziel ist, numerisch-quantitativ die physikalische Welt abzubilden, gegebenenfalls mit Hilfe diagrammatischer Modelle, die sich durch eine eben solche numerisch-quantitative Relationalität auszeichnen.116 Diese Modelle stehen ihrerseits in einem (unmittelbaren oder mittelbaren) praktischen Kontext und sind in der mathematischen Relationalität der physikalischen Welt verankert, nach der sich wiederum auch ihre Güte bemisst: Bei Platons Theodoros ist es schließlich eine Strecke von 1 Fuß, mit der sich andere Strecken einer bestimmten Länge in Fuß nicht einfach ausmessen lassen, so etwa exempli gratia die Diagonale des Quadrats mit der Seitenlänge 1 Fuß (oder eines geometrischen Äquivalents). Zwar ist hierin ein gewisser Akt der Abstraktion auszumachen – speziell dahingehend, dass das diagrammatische Modell die Objekte der physikalischen Welt nicht in einer beliebigen Weise abbildet, sondern sie auf deren quantitative, gegebenenfalls skalierte Relationalität reduziert –, aber zugleich auch, dass in der Modellverwendung diese quantitative Relationalität in metrischer Hinsicht immer noch direkt als im physikalischen Bereich verankert und als in dieser aufgehend gedeutet wird. Vorgängig in dieser Form von Mathematik ist die (physikalische) ‚Realität‘, von der die Diagramme eine sekundäre Abbildung sind; in der Mathematik euklidischen Typs (und in den diskutierten Platon-Stellen) hingegen sind die Diagramme primär keine Repräsentation der (physikalischen) ‚Realität‘, sondern ausschließlich der abstrakten, nicht-physikalischen Gegenstände der Mathematik. Erst hierdurch ist etwas wie ein mathematischer ‚Beweis‘ möglich, zumindest derjenigen Art, wie er für die Mathematik euklidischen Typs charakteristisch ist. Theodoros etwa untersuchte in diesem Sinn also nicht das Phänomen der Inkommensurabilität an sich – wie es ja erst auf der Grundlage von Theaitetos’ (und des jüngeren Sokrates’) ‚mathematischer‘ Definition (etc.) möglich war –, sondern sein Projekt bestand augenscheinlich darin, mit praktischem Zweck einen Weg zu finden, in möglichst exakter Weise eine Linie spezifischer Länge physikalisch als Vielfaches einer Linie einer anderen Länge zu bestimmen. Hierfür war jedoch offenkundig nicht die (‚euklidische‘) relationale Analyse eines aus rein abstrakten mathematischen Gegenständen konstruierten Modells zielführend und zweckdienlich, sondern die kunstfertige Verwendung physikalischer Instrumente wie Zirkel und Lineal: Mit ihnen kann ein gegebenes, den jeweils spezifischen physikalischen Sachverhalt repräsentierendes Diagramm entweder als dessen diagrammatisch-ikonisches Substitut hergestellt (also ‚modelliert‘) oder als ein solches vermessen und ausgewertet werden. || 116 Diesem Bild entsprechen die bekannten Fragmente aus den mathematischen Schriften (vgl. speziell Diels & Kranz 68 B12–15b), welche sich vor allem mit praktischen Fragen aus dem Kalenderwesen beschäftigen: Zum gesamten Problemkomplex vgl. unten Kap. 5.5. Vgl. auch die in dieser Hinsicht instruktiven Zeugnisse zu Themen wie dem Ackerbau, die (soweit sich aufgrund der spärlichsten Zeugnisse sagen lässt) ebenfalls einen lebenspraktischen und kaum ‚wissenschaftlichen‘ Charakter haben: Diels & Kranz 68 B26f–28.

Epilog: Inkommensurable Diagramme | 169

Die von Theodoros repräsentierte Mathematik ist also von ihrer Anlage und ihrem Zweck her eine genuin aktive, auf Produktion ausgerichtete Tätigkeit. Mathematischer Fortschritt besteht dann darin, die Produktions- und Messmethoden zu vervollkommnen und immer exakter zu machen. Insofern erschöpfte sie sich gewiss nicht in der Ausübung dieser Tätigkeiten selbst, sondern sie impliziert das Programm einer Reflexion über einerseits den optimalen Einsatz und die Verbesserung ihrer Instrumente und andererseits die exaktere Herstellung ihrer Modelle. Dies zeigt freilich schon das Theodoros-Beispiel im Theaitetos – denn zugrunde liegt ja offensichtlich eine messpraktische Kalamität, die Theodoros zu überwinden hofft, die ihn aber letztlich eben doch zum Aufgeben bringt. Die Ursache ist aus der späteren Sicht der Mathematik euklidischen Typs offenbar: Das gegebene Problem ist kein messpraktisches und also weder durch die bessere theoretische Durchdringung der Messung und ihrer Bedingungen noch durch die Herstellung besserer Messinstrumente zu lösen, sondern ein genuin mathematiktheoretisches und also nur durch ein hinreichendes analytisches Verständnis der involvierten mathematischen Relationen. Eine Bestätigung geben zwei instruktive Zeugnisse aus Platons eigener Zeit, die sich mit dem ‚historischen‘ Sokrates verbinden, also direkt auf die Zeit Demokrits verweisen, zum einen eine Passage in Xenophons Memorabilia (4, 7, 2 f.):117 ἐδίδασκε δὲ καὶ μέχρι ὅτου δέοι ἔμπειρον εἶναι ἑκάστου πράγματος τὸν ὀρθῶς πεπαιδευμένον. αὐτίκα γεωμετρίαν μέχρι μὲν τούτου ἔφη δεῖν μανθάνειν, ἕως ἱκανός τις γένοιτο, εἴ ποτε δεήσειε, γῆν μέτρῳ ὀρθῶς ἢ παραλαβεῖν ἢ παραδοῦναι ἢ διανεῖμαι ἢ ἔργον ἀποδείξασθαι· οὕτω δὲ τοῦτο ῥᾴδιον εἶναι μαθεῖν ὥστε τὸν προσέχοντα τὸν νοῦν τῇ μετρήσει ἅμα τήν τε γῆν ὁπόση ἐστὶν εἰδέναι καὶ ὡς μετρεῖται ἐπιστάμενον ἀπιέναι. τὸ δὲ μέχρι τῶν δυσσυνέτων διαγραμμάτων γεωμετρίαν μανθάνειν ἀπεδοκίμαζεν. ὅ τι μὲν γὰρ ὠφελοίη ταῦτα, οὐκ ἔφη ὁρᾶν· καίτοι οὐκ ἄπειρός γε αὐτῶν ἦν· ἔφη δὲ ταῦτα ἱκανὰ εἶναι ἀνθρώπου βίον κατατρίβειν καὶ ἄλλων πολλῶν τε καὶ ὠφελίμων μαθημάτων ἀποκωλύειν. Er [sc. Sokrates] lehrte auch, bis zu welchem Grad der wohlgebildete Mann in jeder Sache kundig sein sollte. Zum Beispiel sagte er, dass die Geometrie bis zu einem solchen Punkt zu erlernen sei, dass man fähig werde, falls es jemals nötig sein sollte, die Erde mit dem Maß richtig in Empfang zu nehmen, zu übergeben oder aufzuteilen oder für sich selbst zu einem Feld zu machen; und dass dies so einfach zu erlernen sei, dass derjenige, der seinen Sinn auf das Messen lenke, zugleich wisse, wie groß die Erde ist, und als jemand weggehe, der wisse, wie man misst. Aber er hielt es für falsch, die Geometrie bis hin zu den schwerverständlichen Diagrammen zu erlernen. Wozu diese Dinge nämlich nützlich seien, sagte er, sehe er nicht. Freilich war er nicht unerfahren in diesen Dingen. Er sagte aber, dass diese Dinge fähig seien, das Leben eines Menschen in Beschlag zu nehmen und von vielen anderen nützlichen Gegenständen des Lernens fernzuhalten.

|| 117 Die gesamte Stelle ist Xenophon, M. 4, 7, 2–6; in ihr berichtet Xenophon Entsprechendes in Bezug auf Sokrates’ Einstellung der Astronomie und den Himmelserscheinungen sowie dem Rechnen (der Arithmetik) gegenüber; vgl. für die restliche Passage und zu weiteren relevanten Aspekten unten Kap. 5.5.

170 | Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon

Der ‚historische‘ Sokrates sieht Xenophon zufolge einerseits den Zweck der ‚Geometrie‘ in der genauen, das heißt mit einem spezifischen ‚Maß‘ erfolgenden ‚Vermessung von Land‘ und seiner Aufteilung, speziell im Bereich der Landwirtschaft; andererseits wendet er sich explizit dagegen, sich mit den ‚schwer verständlichen Diagrammen‘ zu beschäftigen: Der Gegensatz besteht hier also nicht zwischen angewandter und theoretischer Mathematik, sondern zwischen einerseits der rein praktischen Tätigkeit der Landvermessung und andererseits der technisch versierten, durch diagrammatisch-ikonische Darstellung der jeweils relevanten Objekte in Form von abstrahierenden Diagrammen unterstützten und optimierten Landvermessung. Mit anderen Worten: Es ist sachlich ausreichend, so Sokrates, ‚Landvermessung‘ traditionell zu betreiben, denn wenn man das Land einfach vermesse, wisse man schon, wie man es vermessen müsse; hierfür bedürfe es keiner ‚Diagramme‘, die das ‚Land‘ in ‚schwer verständlicher Weise‘, also abstrahiert in seiner relationalen Verfasstheit, ikonisch repräsentieren. Wenn man etwas vermessen möchte, so das Fazit, solle man es am eigentlichen Objekt doch einfach tun. Diese Ausführungen haben natürlich eine apologetische Zielsetzung, und zwar vor allem in Vorbereitung der Anmerkungen zur ‚Sternenkunde‘, also der Erforschung der Dinge am Himmel (vgl. unten Kap. 5.5). Signifikant ist jedoch, dass Xenophon zwar verneint, dass Sokrates eine solche moderne Form der Landvermessung für nützlich gehalten und also gelehrt habe – denn auch um das ‚Verderben der jungen Leute‘ ging es ja in dem Prozess gegen ihn –, dass er eine Kenntnis und Vertrautheit aber gleichwohl überhaupt nicht bestreitet.118 Mit diesem Bild von Mathematik und speziell Geometrie in Sokrates’ Zeit korreliert ein weiteres, wenn auch nicht apologetisches Zeugnis zum ‚historischen‘ Sokrates vom Ende des 5. Jhs. v. Chr. aus Aristophanes’ Wolken (200–207).119 Hier zeigt sich

|| 118 Vgl. Ap. 24b8–c3 und dann 24c4–26c3. In jedem Fall ergibt sich kein Widerspruch zu Aristoteles’ Sokrates-Zeugnis in Metaph. 987b1–7. Siehe zur Stelle knapp Ross 1953, 159 (mit weiteren Stellen). 119 Allem Anschein nach gab es zwei Fassungen der Wolken: Die erste wurde 424/3 v. Chr. bei den Städtischen Dionysien aufgeführt; die Abfassungszeit der zweiten Version liegt zwischen Frühling 420 v. Chr. und Winter 417 v. Chr., es ist jedoch unklar, ob sie jemals aufgeführt wurde; zum Gesamtproblem siehe ausführlich Dover 1968, lxxx–xcviii. Für den gegebenen Zusammenhang ist unerheblich, inwieweit Aristophanes’ Figur ‚Sokrates‘ die historische Gestalt des Philosophen Sokrates und / oder eher den Typus ‚Vorsokratiker‘ bzw. ‚Sophist‘ repräsentiert: siehe in Bezug auf diese Passage die ausführliche Diskussion Dovers 1968, xxxii–lvii; insgesamt siehe auch Döring 1998, 141–178, speziell 141 f. mit einem Überblick zur Problemlage; sowie Edmunds 2006 zur Frage der zeitgenössischen Bezeichnung derartiger ‚Weiser‘ (im Fall des Sokrates wohl eher σοφός oder φροντιστής als σοφιστής; vgl. instruktiv Euripides, Ba. 395). Der konkrete Zuschnitt von Xenophons Apologie hinsichtlich der Verwendung von Geometrie in der zitierten Passage spricht freilich dafür, dass hier tatsächlich ein (gegebenenfalls komisch verzerrter) Reflex des historischen Sokrates vorliegt. Gleichwohl zeigen sich auffällige Parallelen zu Hippias von Elis (zumindest in Platons Charakterisierung: vgl. oben Kap. 1 mit Anm. 155). So erscheint ‚Sokrates‘ in jedem Fall als typischer Vertreter der Vorsokratiker bzw. Sophisten in Hinsicht auf die ‚Mathematik‘. Laks & Most 2016, 8/1, 4 f. plädieren jüngst dafür, „to think of Socrates not as an opponent of the ‚sophists‘ but rather as an idiosyncratic Athenian member of

Epilog: Inkommensurable Diagramme | 171

abermals ein praktischer, wenn auch in dieser Hinsicht umfassender Anspruch der ‚Geometrie‘, nämlich die Vermessung der gesamten Erde. Diese erweist sich erneut als rein praktisch und auf physikalische Gegenstände ausgerichtete Tätigkeit: Στρεψιάδης Μαθητής Στρεψιάδης Μαθητής Στρεψιάδης Μαθητής Στρεψιάδης Μαθητής Στρεψιάδης Μαθητής

Strepsiades Schüler Strepsiades Schüler Strepsiades Schüler Strepsiades Schüler Strepsiades Schüler

πρὸς τῶν θεῶν, τί γὰρ τάδ’ ἐστίν; εἰπέ μοι. ἀστρονομία μὲν αὑτηί. τουτὶ δὲ τί; γεωμετρία. τοῦτ’ οὖν τί ἐστι χρήσιμον; γῆν ἀναμετρεῖσθαι. πότερα τὴν κληρουχικήν; οὔκ, ἀλλὰ τὴν σύμπασαν. ἀστεῖον λέγεις· τὸ γὰρ σόφισμα δημοτικὸν καὶ χρήσιμον. αὕτη δέ σοι γῆς περίοδος πάσης. ὁρᾷς; αἵδε μὲν Ἀθῆναι. Bei den Göttern – was sind denn dies für Sachen? Sag es mir! Dies hier ist die Astronomie. Und was ist das dort? Die Geometrie. Und dies – wozu ist dies gut? Dazu, die Erde genau zu vermessen. Die Anteile der Siedler? Nein, die gesamte. Du sprichst von etwas ganz Städtisch-Elegantem. Diese Innovation ist etwas für das Volk und nützlich! Dies hier ist der Umfang der gesamten Erde. Siehst du? Dies hier ist Athen.

‚Geometrie‘ wird hier implizit als die Technik der numerisch exakten Landvermessung (γῆν ἀναμετρεῖσθαι, wohlgemerkt τὴν σύμπασαν) bestimmt (und ‚Astronomie‘ entsprechend als ‚Sternenkunde‘; dies entspricht der Fortführung der oben zitierten Xenophon-Passage: M. 4, 7, 4–6; vgl. unten Kap. 5.5). Die rein praktische Zielsetzung der Tätigkeit wird nicht zuletzt darin deutlich, dass im Gespräch deiktisch auf die entsprechenden Mess- und Produktionswerkzeuge verwiesen wird, und zwar als Dinge, die die Tätigkeit implizit definieren und als solche mustergültig repräsentieren.120 Für die Mathematik euklidischen Typs wäre dies schlicht undenkbar, insbesondere weil es ja eben nicht um die praktische Konstruktion und Vermessung, sondern um die

|| the group that is conventionally designated by this term“ (5); generell gelte, dass Sokrates „shares their interest in moral and political issues and in argumentative techniques“ (5). 120 Unerheblich ist hier, welche Instrumente es genau sind. Dover 1968, 122 hält für die Astronomie (mit Verweis auf die Scholia) διαγράμματα καὶ πίνακες für wahrscheinlich, für die Geometrie „rulers, set-squares, and compasses […], and possibly also sighting instruments“. Vgl. Bromberg 2012.

172 | Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon

theoretische relationale, durch kein physikalisches Hilfsmittel zu bewerkstelligende Konstruktion und Analyse abstrakter Modelle geht.121 Bemerkenswert ist in diesem Sinn, dass bei Aristophanes gerade die exakte numerische Messung in ihrer weltfremden Exaktheit verspottet wird – und nicht etwa die Beschäftigung mit ‚Kreisen‘ oder ‚Quadraten‘. So scheint dieselbe Differenz zwischen einer rein praktischen und einer theoretisch (‚technisch‘) reflektierten Landvermessung wie in der Xenophon-Passage auf: Während bei Aristophanes Unverständnis gegenüber Sokrates’ Engagement mit Letzterer artikuliert wird, nimmt Xenophon ihn gerade hiergegen mit Hinweis darauf, dass das, was er gelehrt habe, strikt traditioneller Natur war, in Schutz, nicht aber, ohne, wie es anscheinend auch nicht anders möglich war, Sokrates’ Vertrautheit mit der modernen Variante zuzugeben. Doch wie in der Aristophanes-Stelle explizit gemacht wird und wie es gewiss die Perspektive des konservativen attischen Bürgers gewesen sein wird, handelte es sich bei einer solchen innovativen Landvermessung, auch und gerade weil sie Ähnlichkeiten zu einer modernen ‚Sternenkunde‘ aufwies, um ein klares und vor allem unnützes σόφισμα – das in letzter Konsequenz eben als frevlerischer Akt zu ahnden war.122 Das Fehlen einer Berücksichtigung einer Geometrie nach euklidischem Muster in diesen beiden Zeugnissen ist also signifikant, ebenso wie der Umstand, dass trotz der verschiedenen Zielsetzungen der beiden Autoren in Hinsicht auf Sokrates der Charakter der in Frage stehenden Geometrie für Sokrates’ Zeit derselbe ist. Mit diesem Sokrates- (oder Sophisten-) Bild konvergiert ein weiteres Zeugnis aus einer Komödie des Aristophanes. In den Vögeln (insbesondere 992–1009) tritt Meton auf, und als ‚Geometer‘ will er nicht etwa Geometrie euklidischen Typs betreiben, sondern (absurderweise) ‚die Luft landvermessen‘ und in Parzellen aufteilen (995 f.: γεωμετρῆσαι βούλομαι τὸν ἀέρα ὑμῖν διελεῖν τε κατὰ γύας); zu diesem Zweck tritt er mit einem gebogenen und einem geraden Luft-Lineal auf (999: κανόνες ἀέρος) sowie

|| 121 Siehe oben Kap. 3. Dies ist der wissenschaftshistorisch entscheidende Punkt, der sich der Aristophanes-Stelle entnehmen lässt. Dass anstatt dessen mit Bromberg 2012 Indizien für eine ‚Disziplin im Entstehen‘ geliefert würden – und zwar konkret durch den Verweis auf die Messinstrumente der Geometrie, auf die hier deiktisch verwiesen werde – ist weniger zielführend und verkennt die Pointe (siehe speziell 87–89): Gerade der Schritt von der praktischen zur rein theoretischen Dimension bliebe unerklärt. 122 Vgl. zum gesamten historischen Zusammenhang allgemein von Fritz 1961, 582, freilich zum Gebiet der Moral, aber vielleicht in Hinsicht auf die Gesamtcharakteristik der ‚Sophisten‘ um so beweiskräftiger und instruktiver: „Was sie Positives zu geben zu haben glaubten und zu geben versprachen, war im Grunde nichts als ein verbesserter erleuchteter common sense und mit seiner Hilfe allerhand Mittel, sich im Leben, wie es uns gegeben ist, besser zurecht zu finden und Erfolg zu haben. Soweit sie, wie es ja der Fall gewesen ist, mit Anhängern konservativer Anschauungen in Konflikt gekommen, oder von diesen mit Mißtrauen betrachtet worden sind, lag der Grund nicht so sehr in irgend einem offenen Widerspruch ihrer Lehren mit überkommenen Überzeugungen, sondern eben in der Fertigkeit und Wendigkeit ihres common sense, welcher den Konservativen der soliden Grundlage, wie sie nur durch feste Traditionen gegeben werden kann, zu entbehren schien.“

Epilog: Inkommensurable Diagramme | 173

einem Zirkel, Instrumenten also, deren Zweck es ist, physikalische Größen numerisch-quantitativ zu produzieren und / oder zu messen.123 Dies führt Meton dann vor, kulminierend in einem Verweis auf das Quadrieren des Kreises – und das alles wird wohlgemerkt mit dem bewundernden Ausruf „Dieser Mensch ist ein Thales!“ (1009: ἅνθρωπος Θαλῆς = Th 18 Wöhrle) aufgenommen. Aristophanes’ Darstellung gewinnt eine für den vorliegenden Zusammenhang instruktive Pointe insbesondere durch die an anderer Stelle überlieferte Notiz, dass Meton beim Auszug der Sizilischen Expedition, also ein Jahr vor Aufführung der Vögel, in einem (gespielten?) Wahnsinnsanfall eines seiner Häuser angezündet haben soll, mutmaßlich um seine eigene Teilnahme oder die seines Sohns zu verhindern: Metons Auftreten in den Vögeln und die Gleichsetzung mit Thales impliziert also beileibe nicht nur Weltfremdheit.124 || 123 Zur Stelle siehe Dunbar 1995, 557–559; auch Gladigow 1968, 271–275 mit einer Erklärung des Witzes (gerade mit einer Situierung im handwerklichen oder stadtplanerischen Bereich) und Asper 2007, 165. Aufführungsjahr der Vögel ist das Jahr 414 v. Chr. (Städtische Dionysien) (siehe Dunbar 1995, 1). Die angebliche Bedeutung von Zirkel und Lineal für Euklids Elemente und die Fachmathematik allgemein hat keine Grundlage in den historischen Zeugnissen: siehe Steele 1936. Zu Meton und den (spärlichen) Zeugnissen siehe den knappen Überblick von W. Hübner: Art. „Meton [2]“, DNP 8, 107 f. Meton ist bekannt insbesondere als Astronom: Nach ihm ist der metonische Zyklus (oder das ‚metonische Jahr‘) benannt, ein 19-jähriger Interkalationszyklus von 6940 Tagen = 235 Monaten, der 431 v. Chr. Grundlage für eine Kalenderreform in Athen war (siehe für einen Überblick Toomer 1998, 12 f.; siehe auch Diodorus Siculus 12, 36, der einen weiten Gebrauch in der griechischen Welt noch zu seiner, also der römischen Zeit bezeugt). In diesem Zusammenhang wurde er möglicherweise durch das Aufstellen eines Monuments auf dem Kolonos öffentlich geehrt (wenn es sich hierbei nicht alternativ um eine Sonnenuhr handelte): Σ Aristophanes, Av. 997 (siehe Dunbar 1995, 554 f. mit einer umfassenden Auswertung der Zeugnisse; auch Asper 2007, 165, mit weiterer Literatur); schließlich bezeugt Ptolemaios im Detail die Beobachtung der Sommersonnenwende des Jahres 431 v. Chr. (Alm. 3, 1, p. 205– 207; dort auch explizit die Bestimmung der Länge des Jahres auf 365¼ + 1⁄76 Tage). Metons Wirken ist nicht nur wegen der Kalenderreform, sondern auch wegen seiner Verbindung zur Sizilischen Expedition auf die zweite Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. (und sicher kaum noch auf die erste Hälfte des 4. Jhs. v. Chr.) zu datieren; vgl. die folgende Anm. 124. Vgl. im Übrigen Lehman & Weinman 2018, 248–251 zu Philolaos’ Interesse an kalendarischen Fragen (insbesondere zu fr. 6/6A). 124 Siehe (mit leichten Variationen) Plutarch, Nic. 13, 7 f. und Alc. 17, 5 f. sowie Ailian, VH 13, 12 (dort ist Meton als ἀστρόλογος bzw. ἀστρόνομος, beides ‚Astronom‘, bezeichnet). Vor diesem Hintergrund lässt Aristophanes Meton wohl auch κόθορνοι tragen, nämlich als Indiz für Unmännlichkeit (siehe Dunbar 1995, 552 f.). An demselben Fest wurde Phrynichos’ Monotropos aufgeführt, in dem sich ebenfalls ein Verweis auf Meton findet (fr. 22 Kassel & Austin, überliefert in Σ Aristophanes, Av. 997): (Α.) τίς δ’ ἐστὶν ὁ μετὰ ταῦτα φροντίζων; (Β.) Μέτων | ὁ Λευκονοιεύς. (Α.) οἶδ’, ὁ τὰς κρήνας ἄγων („[A.] ‚Wer ist der, der sich danach hierum kümmert?‘ [B.] ‚Meton aus Leukonion.‘ [A.] ‚Ich weiß, der Bringer von Brunnen / Quellen‘“). In den Scholien (a. a. O.) wird (evident ohne faktische Grundlage) spekuliert, ob Meton Vorrichtungen zur Verbesserung der Wasserversorgung auf dem Kolonos (vgl. Aristophanes, Av. 998) installiert habe. Dies verkennt die Pointe: Angesichts der historischen Anekdote spielt Phrynichos’ Witz wohl auf das Legen (und erfolgte bzw. nicht-erfolgte Löschen) des Feuers an; dasselbe gilt natürlich auch (und dann bitter-sarkastisch gegen die ‚Sophisten‘ gewendet, speziell in Verbindung mit der prominent hervorgerückten technisierten Landvermessung) für Metons primäre Eigenschaft in Aristophanes’ Stück als Planer einer neuen Stadt (was ansonsten rätselhaft ist; vgl.

174 | Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon

Angesichts der Zeugnisse ergibt sich der Eindruck, dass mindestens bis zum Ende des 5. Jhs. v. Chr. Geometrie ‚Landvermessung‘ war, entsprechend der impliziten Definition, die die oben zitierte Herodot-Stelle zur Erfindung der Geometrie zu eben diesem Zweck in Ägypten gibt (Herodot 2, 109; vgl. oben Kap. 1 mit Anm. 113):125 ‚Geometrie‘ war im Ursprung und zu diesem Zeitpunkt noch immer eine Tätigkeit, die grundsätzlich einen lebensweltlichen Nutzen hatte und nur insoweit als sinnvoll erachtet wurde, als sie ihren genuin praktischen Zweck erfüllte; dies konnte sie entweder rein praktisch als auf Empirie beruhende Tätigkeit tun oder (und dies auch nur unter allgemeiner Skepsis) als Tätigkeit, die das reine Erfahrungswissen (gegebenenfalls im Sinne einer ‚Kunst‘ [τέχνη]) ergänzt durch an Diagrammen gewonnene ‚theoretische‘ Einsichten – welche Diagramme aber, und dies ist das entscheidende Punkt, in ihrem Wesenskern primär immer noch die aufzuteilende und zu vermessende ‚Erde‘ repräsentieren, insbesondere in Hinsicht auf ihre quantitative numerische Metrisierung. Theoretischer Fortschritt besteht in einem solchen Kontext nicht in einer Verbesserung der Analysemethoden, sondern in einer Verbesserung der Mess- und Produktionsgenauigkeit und also der Übereinstimmung der Ergebnisse der Tätigkeit mit der vermessenen physikalischen Realität selbst. Relevante Fragen wären in diesem Sinne nicht, wie sich etwa der Satz des Pythagoras beweisen ließe, sondern wie Flächen ausgemessen und berechnet werden können, und zwar in einer möglichst abgesicherten Weise. Hier hinein würde sich dann auch das Theodoros-Zeugnis aus dem Theaitetos in der obigen Interpretation nahtlos einfügen, insofern es eben im praktischen Bereich tatsächlich eine entscheidende Frage ist, wie etwa ein Dreieck mit Schenkeln der Länge (in unseren Begriffen) √2 Fuß und √3 Fuß in andere rechteckige Flächen hineinpasst und / oder sich mit ihnen vergleichen ließe – oder, denken wir an die beiden ‚klassischen Probleme‘ der griechischen Mathematik, wie sich eine vorliegende (partiell) rund(lich)e Fläche mit einer konkreten eckigen Fläche ausmessen

|| Dunbar 1995, 551: „Meton is nowhere else mentioned as interested in town-planning“). Beide Informationen sind also bis auf Weiteres nicht als intendierte historische Informationen misszuverstehen. Zu Thales’ notorischer Weltfremdheit vgl. Tht. 174a4–b1 (= Th 19 Wöhrle = Diels & Kranz 11 A9). 125 Relevant ist, dass das Wort γεωδαισία (‚Geodäsie‘) zur Bezeichnung der praktischen Landvermessung (LSJ s. v.: „land-dividing: mensuration“) erst ab Aristoteles bezeugt ist und dort explizit in Abgrenzung von der ‚Geometrie‘ definiert ist: siehe Metaph. 997b26; vgl. Heron, Deff. 135, 7 f.; 138, 5; 138, 7. Bezeichnend ist, dass sich die Neuerung gegenüber der traditionellen Bezeichnung offenkundig nicht durchgesetzt hat. Erst in diesem Kontext wird Protagoras’ Herausforderung der ‚Geometer‘ hinreichend in ihrer Pointe verständlich, die aus der Perspektive der Geometrie euklidischen Typs ja als triviale Haarspalterei ohne schlagende Pointe wirkt (Diels & Kranz 80 B7 = Aristoteles, Metaph. 997b34–998a6; man beachte, dass Protagoras anscheinend vom ‚Lineal‘ [a3: κανόνος] und nicht von einer ‚Linie‘ gesprochen hat [meint κύκλος hier „trencher“?: vgl. LSJ s. v. II 2], und ebenso, dass Aristoteles angesichts der Wiedergabe ja gerade nicht bezeugt, dass Protagoras so etwas wie ‚mathematische‘, das heißt breitenlose Linien gekannt hätte; zumal dies auch angesichts der erst für Platons Zeit bezeugten Definition der Linie in diesem Sinn historisch unplausibel wäre; vgl. unten Kap. 5.5, speziell zu Eudoxos).

Epilog: Inkommensurable Diagramme | 175

oder in diese überführen lässt oder wie ein Winkel anders als in zwei Teile geteilt werden könnte, beginnend mit dem dritten Teil.126 Ein wichtiger Zweck von Modellierung anhand von Diagrammen in einem solchen Kontext war dann gewiss das Experiment: Die physikalische Welt wird mit relationalen Repräsentationen in eine Form überführt, in der sie auf Eigenschaften reduziert ist, die sich manipulieren, verändern und leicht (gegebenenfalls ‚modellhaft‘) ausmessen lassen. Ein solcher ‚theoretischer‘ Ansatz ist aber kategorial anders geartet als die Mathematik euklidischen Typs – die sich in authentischer Form eben erst in Platons Menon fassen lässt, und zwar bezeichnenderweise in prägnanter Superposition mit der für Theodoros erschlossenen Geometrie als theoretisch versierterer, aber gleichwohl genuin auf die physikalische Realität bezogener ‚Landvermessung‘. Die Zeugnislage einerseits – zum einen mit zahlreichen direkten Belegen für eine rein praktische oder theoretisierte ‚Landvermessung‘, zum anderen mit keinem einzigen authentischen Beleg aus erster Hand für eine Mathematik euklidischen Typs vor dem Menon – und andererseits Platons explizites Werben für eine Mathematik euklidischen Typs im Menon und im Theaitetos unter ausdrücklich-pointierter Hervorhebung des Gegensatzes zur (abstrakt-technisierten) ‚Landvermessung‘ führt zu dem Schluss, dass beide Formen in einer chronologischen Abfolge gestanden haben, das heißt die Geometrie euklidischen Typs in der Tat als Differenzprodukt der Landvermessung zu verstehen ist. Für den Abschluss dieses historischen Prozesses bestimmen dann der Menon und der Theaitetos einen festen terminus ante quem; als entsprechender terminus post quem können andererseits bis auf Weiteres die in diesem Abschnitt diskutierten anderen Zeugnisse gelten. Erneut erweist sich also die (späte) erste Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. als entscheidender Zeitraum für die Herausbildung der Mathematik euklidischen Typs. Offen ist freilich noch immer, was die genauen Ursachen und Umstände dieser Entwicklung waren und wie Platons Rolle in ihr zu verstehen ist. Fest steht angesichts der Ergebnisse dieses Kapitels so weit nur, dass wir bis auf Weiteres den durch Platon gegebenen Informationen als wichtigen wissenschaftshistorischen Zeugnissen trauen dürfen – und angesichts seiner Eigenschaft als des ersten authentisch fassbaren Vertreters und Advokaten der Mathematik euklidischen Typs vielleicht gerade dort, wo er sich kritisch gegenüber den traditionelleren, bei aller technischen Abstraktheit im Grundsatz praktisch ausgerichteten Formen von Mathematik zeigt. || 126 Zu den drei ‚klassischen‘ Problemen siehe unten Anm. 51; lohnend wäre, speziell die Winkeldreiteilung als originär praktisches Problem erneut in den Blick zu nehmen. Eine relevante Beobachtung ist gegebenenfalls, dass die Dreiecksumgehung im Tunnel des Eupalinos in einem Winkel von etwa 22° (Tangensverhältnis 2:5), also (mehr oder weniger) exakt einem Viertel des rechten Winkels (welcher Winkel ja durch eine einfach zu bewerkstelligende doppelte Zweiteilung erzeugt werden kann), von der ursprünglich geplanten Strecke abzweigt: siehe Käppel 1999. Zur Quadratur als praktischem Problem der Landvermessung vgl. Cuomo 2001, 70–72 (mit einem ägyptischen Papyrus aus dem 3. Jh. v. Chr.) sowie Knorr 1986, 23 f. (mit der Diskussion eines Beispiels aus dem Papyrus Rhind).

176 | Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon

Genauere Aufschlüsse wird in einem nächsten Schritt eine detaillierte Analyse zum mathematischen Problem der Würfelverdopplung, dem sogenannten ‚Delischen Problem‘, geben: In diesem Zusammenhang sind methodologische Diskussionen zu eben diesen Fragen in der Fachmathematik in eben dieser Zeit bezeugt, unter Einschluss von Platon. Wenn tatsächlich im 4. Jh. v. Chr. eine wissenschaftliche Revolution stattgefunden hat, dürfen wir erwarten, hier fündig zu werden.

5 Verdoppeln ohne Verdoppeln: Platon und das Delische Problem 5.1 Einleitung Als eines der drei klassischen Probleme der antiken Mathematik gilt neben der Quadratur des Kreises und der Dreiteilung des Winkels das sogenannte Delische Problem, die Konstruktion eines Würfels mit dem doppelten Volumen eines gegebenen Würfels.1 Dieses Problem hat keine triviale Lösung: Das Verhältnis der Seitenlängen von einfachem und doppeltem Würfel beträgt 1:³√2, und dieses Verhältnis ist nicht mit geraden Linien und Kreisen allein konstruierbar, das heißt mehr oder weniger mit dem in Euklids Elementen benutzten mathematischen Instrumentarium.2 Dies impliziert freilich nicht, dass das Problem in der Antike prinzipiell nicht hätte gelöst werden können: Grundsätzlich existierte methodologisch keine Beschränkung auf Konstruktionen mit Zirkel und Lineal.3 So war eine Lösung des Problems zum Beispiel mit Hilfe von Kegelschnitten oder höheren Kurven möglich. Dass mindestens diese Komplexität erforderlich ist, hat man allem Anschein nach schon früh erkannt: So gut wie kein antiker Lösungsversuch geht das Problem als ‚ebenes‘ Problem an.4 Im gegebenen Rahmen ist eine Untersuchung zum Delischen Problem und seiner Geschichte aus mehreren Gründen wichtig: (1) Die Überlieferung verbindet mit Platon sowohl einen mechanischen, das heißt mit einem spezifischen dreidimensionalen Modell verbundenen Lösungsansatz als auch eine methodologische Diskussion zur Zulässigkeit von mechanischen Ansätzen in der Mathematik im Allgemeinen. In diesem Zusammenhang soll Platon mit den

|| 1 Zu den drei sogenannten klassischen Problemen siehe Heath 1921, 1, 218–270 für eine Skizze und eine ausführliche Diskussion der einzelnen Lösungsvorschläge. Aus neuerer Zeit ist auf die umfassende Analyse eines Großteils der Lösungen bei Knorr 1986 und Knorr 1989 zu verweisen (speziell zur Würfelverdopplung siehe Knorr 1986, 17–24 und 50–66 sowie passim; Knorr 1989, 11–153). Zum wissenschaftshistorischen Status der Probleme siehe Knorr 1986, 5–7; vgl. aber unten Kap. 5.2. 2 Auch wenn Pappos in Coll. 3, p. 30–48 davon spricht, dass das Problem von Natur aus höherer Komplexität sei, und dies seiner Kritik an einem Lösungsversuch im ‚ebenen‘ Rahmen zugrunde legt (siehe zu diesem Ansatz Cuomo 2000, 127–134), war ein eigentlicher mathematischer Beweis der Unmöglichkeit erst auf moderner algebraischer Grundlage möglich: siehe unter anderem Wantzel 1837 und Klein 1895. Zur Frühgeschichte des modernen Beweisversuches siehe Lützen 2010 mit einer Analyse zu Descartes und Montucla; man beachte auch Sturms 1897 Diskussion der Würfelverdopplung im nicht-griechischen Kontext, im Mittelalter und in der Neuzeit. 3 Dies ist eine inadäquate moderne Rekonstruktion: siehe allgemein und auch speziell in Hinsicht auf die Würfelverdopplung Steele 1936. Gleichwohl hat diese Beschränkung ein gewisses fundamentum in re in der (späteren) antiken Klassifizierung in ‚ebene‘, ‚konische‘ oder ‚räumliche‘ und ‚lineare‘ Probleme (bzw. loci); siehe Knorr 1986, 341–348. 4 Siehe Heath 1921, 1, 219. https://doi.org/10.1515/9783110616491-005

178 | Verdoppeln ohne Verdoppeln: Platon und das Delische Problem

herausragenden Mathematikern seiner Zeit, unter anderem Archytas und Eudoxos, die methodologischen Grundlagen der Mathematik diskutiert haben. (2) Platon wird in den antiken Testimonien eine zentrale Rolle hinsichtlich der Beschäftigung mit dem Problem der Würfelverdopplung zugesprochen. So geht die (schon antike: siehe Pappos, Coll. 8, p. 1070, 7) Bezeichnung ‚Delisches Problem‘ auf die Anekdote zurück, Abgesandte der Insel Delos hätten bei Platon und der Akademie nachgefragt, wie sie einen würfelförmigen Altar auf Geheiß des Delphischen Orakels verdoppeln könnten. Platon erscheint gewissermaßen als ‚Architekt‘ der Mathematik, der als Haupt der Akademie die Lösungsversuche koordinierte. (3) Es besteht eine enge sachliche Beziehung zum Problem der Quadratverdopplung, wie sie im Menon behandelt ist: Während sich diese durch das Finden einer einzelnen mittleren Proportionale bewerkstelligen lässt, lässt sich die Verdopplung des Würfels durch das Finden zweier mittlerer Proportionaler bewerkstelligen. In beiden Fällen spielt das Phänomen der Inkommensurabilität eine zentrale Rolle.5 (4) Das Problem der Würfelverdopplung ist das Problem der Herstellung eines beliebigen Skalenmodells, nämlich als Spezialfall der Vergrößerung oder Verkleinerung eines Körpers. Die Lösung des Delischen Problems markiert folglich die Geburt des methodisch abgesicherten mathematischen Skalenmodells beliebiger Größe.6 Erkenntnisse zu diesen vier Punkten versprechen vor dem Hintergrund der so weit gewonnenen Einsichten eine Vertiefung und Erweiterung unseres Bildes der Praxis der mathematischen Modellierung und ihres so weit erschlossenen Wandels in der ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. Allerdings zeigt sich ein gravierendes Problem: Die relevanten Zeugnisse stammen aus der indirekten und späten Überlieferung, und ihre historische Verlässlichkeit wird in der Forschung einhellig negativ beurteilt.7 Hierfür ist ein entscheidender Grund, dass die Informationen speziell zu Platons Rolle in diesen Zusammenhängen ein notorisch konfuses Bild liefern; „die Überlieferung ist sehr verworren“.8 Die Zeugnisse scheinen in ihrer Gesamtheit in wesentlichen Zügen weder in sich noch in Bezug auf ihren historischen Kontext stimmig zu sein.9 || 5 Siehe Huffman 2005, 360 f.; vgl. unten. In diesem Sinn wird das Problem der Würfelverdopplung (auch in quellenkritischer Hinsicht: siehe unten) mit Men. 82a7–85b7 in Verbindung gebracht (vgl. oben Kap. 4): siehe schon Wilamowitz-Moellendorff 1941, 48 f., auch Riginos 1976, 145; vgl. unten Anm. 21 sowie Zhmud 2006, 203. Allerdings ist die von Letzterem behauptete innermathematische Notwendigkeit der Bearbeitung des Problems der Würfelverdopplung nach der Erkenntnis der Bedeutung der mittleren Proportionale für die Quadratverdoppelung – wodurch sich die Würfelverdopplung als nicht mit dem Delphischen Orakel (siehe unten), sondern mit der pythagoreischen Mathematik verbunden erweise – aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive nicht überzeugend, insbesondere in Hinsicht auf die Kenntnisse zur Inkommensurabilität (siehe oben Kap. 4.6 sowie unten). 6 Siehe knapp zu diesem Aspekt des Problems der Würfelverdopplung Netz 2009, 160 f. 7 Siehe exempli gratia Zhmud 1998 und die unten in Anm. 9 angeführten Studien. 8 So van der Waerden 1956, 262 f. 9 Dieser Quellenlage entspricht die kontroverse Forschungsdiskussion. An relevanten Arbeiten sind anzuführen (speziell in Hinblick auf die im Folgenden diskutierten Aspekte; eine vollständige Über-

Zur Geschichte des Delischen Problems | 179

Insofern stellt sich als eine der ersten und wichtigsten Aufgaben einer jeden Analyse zum Problemkomplex, den Wert der Zeugnisse zu überprüfen, gegebenenfalls unter Einschluss historischer und archäologischer Informationen. Wie auch immer die Prüfung ausfällt, ergeben sich in jedem Fall relevante Erkenntnisse in Hinsicht auf die zugrundeliegende Fragestellung: Auch wenn sich die Bedenken bezüglich Platons als berechtigt herausstellen sollten, erlauben die Zeugnisse Rückschlüsse zum späteren Bild Platons sowie der anderen Teilnehmer in Hinsicht auf die Methodologie mathematischer Modellierung, zumindest im Spiegel indirekter Zeugnisse. So ist wenigstens im Negativen eine Schärfung unserer Einsichten zum modelltheoretischen Profil der Mathematik in der ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. zu erwarten. Angesichts der Problemlage wende ich mich in zwei separaten Unterkapiteln konkret zwei Aufgaben zu: (1) Ein erster Schritt rekonstruiert die frühe historische Entwicklung der Beschäftigung mit dem Problem der Würfelverdopplung einschließlich der etwaigen Rolle Platons und der Akademie in ihr. Hierzu werde ich aus drei verschiedenen Perspektiven auf das Material blicken, konkret derjenigen des Mathematikers Eratosthenes, der eine eigene Lösung entwickelt und diese in den historischen Kontext eingeordnet hat; einer wissenschaftshistorischen, die diese subjektive Sicht insbesondere in Hinsicht auf die erste Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. durch eine Kombination mit weiteren mathematik- und philosophiegeschichtlichen Zeugnissen kritisch prüft; und schließlich einer archäologisch-althistorischen, die aufgrund der materialen Indizien die so weit gewonnene Rekonstruktion einer faktischen Prüfung unterzieht. (2) Ein zweiter Schritt beschreibt und analysiert den Platon zugeschriebenen modellbasierten Ansatz, beleuchtet seinen spezifischen Charakter im Vergleich mit anderen Lösungen und rekonstruiert schließlich die in diesem Kontext bezeugten methodologischen Diskussionen und ihre Pointe.

5.2 Zur Geschichte des Delischen Problems 5.2.1 Die Perspektive des Mathematikers Über die antike Beschäftigung mit dem Problem der Würfelverdopplung sind wir außer durch den spätantiken Mathematiker Pappos (wohl 4. Jh. n. Chr.)10 sowie verein-

|| sicht kann nicht gegeben werden): Hiller 1872, 122–137, Wilamowitz-Moellendorff 1941, Sturm 1895– 1897, Sachs 1917, 146–160, Heath 1921, 1, 218–270, Wolfer 1954, 4–19, van der Waerden 1956, 228–233 und 262–271, Böker 1961 (mit früherer Literatur: 1194), Riginos 1976, 141–147, Seide 1981, 22–29, Knorr 1986, 17–24 und 50–66 sowie passim, Knorr 1989, 11–153, Saito 1995, Netz 2003b, Huffman 2005, 342– 401, White 2006a, Zhmud 2006, 84–86, Kouremenos 2011, Brisson 2013 und Kouremenos 2015. 10 Laut Suda θ 205 s. v. Θέων sowie π 265 s. v. Πάππος habe er unter Theodosius gelebt (und war gegebenenfalls etwas jünger als Theon?); Cuomo 2000, 6 hält diese Information für verlässlich.

180 | Verdoppeln ohne Verdoppeln: Platon und das Delische Problem

zelte Testimonien und direkt überlieferte Lösungsansätze vor allem durch den spätantiken, wohl um 480 n. Chr. geborenen Mathematiker Eutokios von Askalon informiert. Dieser hat im Rahmen eines Exkurses in seinem Kommentar zu Archimedes’ De sphaera et cylindro alle ihm noch zugänglichen Lösungen des Problems gesammelt, insbesondere mit dem ausdrücklichen Zweck, sie angesichts ihrer schweren Zugänglichkeit einem weiteren Publikum bekannt zu machen.11 Interessant ist Eutokios’ Zusammenstellung vor allem aus zwei Gründen: Erstens ist der erste der referierten Ansätze – es folgen diejenigen von Heron, Philon, Apollonios, Diokles, Pappos, Sporos, Menaichmos (zwei), Archytas, Eratosthenes und Nikomedes; die unter Eudoxos’ Namen vorliegende Lösung referiert Eutokios als nichtauthentisch nicht – derjenige mechanische Ansatz, der Platon zugeschrieben wurde. Zweitens – und dies führt zur materialen Grundlage der in diesem Kapitel untersuchten Frage – beinhaltet sie die Lösung des Eratosthenes (Eutokios, in Archim. Sph. Cyl. p. 88, 3–96, 27). Sie ist in Form eines Briefes an den König Ptolemaios (unklar ist, ob Ptolemaios III. Euergetes oder Ptolemaios IV. Philopator)12 überliefert. Nicht nur expliziert Eratosthenes hier seine eigene Lösung, sondern er kontextualisiert sie zu Beginn des Briefes auch im Verlauf der gesamten Beschäftigung mit diesem Problem. Eratosthenes’ Brief ist authentisch;13 er lässt sich aufgrund textinterner Indizien auf den Zeitraum von 246 v. Chr. (speziell 245/4 v. Chr.) bis 221 v. Chr. bzw. 221–204 v. Chr. (speziell 210–204 v. Chr.), das heißt auf die Herrschaftszeit des entsprechenden Königs Ptolemaios mit dem jeweiligen terminus post quem der Geburt des am Ende des Briefes erwähnten Sohnes (also Ptolemaios IV. bzw. Ptolemaios V.), datieren.14 Dies macht den Brief zum frühesten ausführlichen direkten Zeugnis zur Würfelverdopplung im fachmathematischen Kontext (doch vgl. unten Kap. 5.2.2). Daher ist der || 11 Siehe Eutokios, in Archim. Sph. Cyl. p. 56, 1–12; insgesamt p. 56, 1–106, 24. Man beachte den neuesten Kommentar, insbesondere zu mathematischen Fragen, von Netz 2004a, 272–306 (mit englischer Übersetzung). Zu Eutokios’ Lebensdaten siehe M. Folkerts, Art. „Eutokios“, DNP 4, 321. Zu Pappos siehe Coll. 3, p. 30–70 (anonyme Lösung, Eratosthenes, Nikomedes, Heron, Pappos); Coll. 8, p. 1068– 1072 (Pappos); diese Stellen sind umfassend analysiert bei Cuomo 2000, 127–151. Weitere relevante Testimonien und direkt überlieferte Ansätze werden im Folgenden passim angeführt. 12 Die erste Identifikation ist die communis opinio: siehe Geus 2002, 55 und 201. Knorr 1989, 144 f. macht die zweite Identifikation zumindest wahrscheinlich. 13 Knorr 1986, insbesondere 17–24 hat in einer detaillierten Analyse gezeigt, dass die bisher vorgebrachten Gründe gegen die Authentizität des Briefes nicht gehalten werden können. Die Ablehnung der Echtheit in der communis opinio hat zu einer nicht hinreichenden wissenschaftshistorischen Berücksichtigung dieses Zeugnisses geführt; vgl. unten. 14 Zu den Regierungs- und Geburtsdaten der Söhne siehe W. Ameling, Art. „Ptolemaios [6]“, DNP 10, 537 f. bzw. ders., Art. „Ptolemaios [7]“, DNP 10, 538 f. bzw. ders., Art. „Ptolemaios [8]“, DNP 10, 539 f.; zur Einschränkung des Intervalls in Hinsicht auf Ptolemaios IV. (nach der Geburt des späteren Ptolemaios V. Epiphanes) siehe Knorr 1989, 144 f. Zu den (etwas unklaren) Lebensdaten von Eratosthenes siehe R. Tosi, Art. „Eratosthenes [2]“, DNP 4, 44–47, hier 44 f., umfassend Geus 2002, 7–15 (Geburt im Zeitraum 276–272 v. Chr., Tod im Jahr 194 v. Chr.). Eratosthenes ist bekanntlich ein Zeitgenosse (und Bekannter) des Archimedes: vgl. Archimedes, Eratosth. praef.

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relevante Teil des Briefes einer eingehenden Analyse zu unterziehen, das heißt konkret sein Beginn. Er lautet wie folgt (Eutokios, in Archim. Sph. Cyl. p. 88, 3–90, 13):15 Βασιλεῖ Πτολεμαίῳ Ἐρατοσθένης χαίρειν. Τῶν ἀρχαίων τινὰ τραγῳδοποιῶν φασιν εἰσαγαγεῖν τὸν Μίνω τῷ Γλαύκῳ κατασκευάζοντα τάφον, πυθόμενον δέ, ὅτι πανταχοῦ ἑκατόμπεδος εἴη, εἰπεῖν· μικρόν γ’ ἔλεξας βασιλικοῦ σηκὸν τάφου· διπλάσιος ἔστω, τοῦ καλοῦ δὲ μὴ σφαλεὶς δίπλαζ’ ἕκαστον κῶλον ἐν τάχει τάφου. ἐδόκει δὲ διημαρτηκέναι· τῶν γὰρ πλευρῶν διπλασιασθεισῶν τὸ μὲν ἐπίπεδον γίνεται τετραπλάσιον, τὸ δὲ στερεὸν ὀκταπλάσιον. ἐζητεῖτο δὲ καὶ παρὰ τοῖς γεωμέτραις, τίνα ἄν τις τρόπον τὸ δοθὲν στερεὸν διαμένον ἐν τῷ αὐτῷ σχήματι διπλασιάσειεν, καὶ ἐκαλεῖτο τὸ τοιοῦτον πρόβλημα κύβου διπλασιασμός· ὑποθέμενοι γὰρ κύβον ἐζήτουν τοῦτον διπλασιάσαι. πάντων δὲ διαπορούντων ἐπὶ πολὺν χρόνον πρῶτος Ἱπποκράτης ὁ Χῖος ἐπενόησεν, ὅτι, ἐὰν εὑρεθῇ δύο εὐθειῶν γραμμῶν, ὧν ἡ μείζων τῆς ἐλάσσονός ἐστι διπλασία, δύο μέσας ἀνάλογον λαβεῖν ἐν συνεχεῖ ἀναλογίᾳ, διπλασιασθήσεται ὁ κύβος, ὥστε τὸ ἀπόρημα αὐτῷ εἰς ἕτερον οὐκ ἔλασσον ἀπόρημα κατέστρεφεν. μετὰ χρόνον δὲ τινάς φασιν Δηλίους ἐπιβαλλομένους κατὰ χρησμὸν διπλασιάσαι τινὰ τῶν βωμῶν ἐμπεσεῖν εἰς τὸ αὐτὸ ἀπόρημα, διαπεμψαμένους δὲ τοὺς παρὰ τῷ Πλάτωνι ἐν Ἀκαδημίᾳ γεωμέτρας ἀξιοῦν αὑτοῖς εὑρεῖν τὸ ζητούμενον. τῶν δὲ φιλοπόνως ἐπιδιδόντων ἑαυτοὺς καὶ ζητούντων δύο τῶν δοθεισῶν δύο μέσας λαβεῖν Ἀρχύτας μὲν ὁ Ταραντῖνος λέγεται διὰ τῶν ἡμικυλίνδρων εὑρηκέναι, Εὔδοξος δὲ διὰ τῶν καλουμένων καμπύλων γραμμῶν· συμβέβηκε δὲ πᾶσιν αὐτοῖς ἀποδεικτικῶς γεγραφέναι, χειρουργῆσαι δὲ καὶ εἰς χρείαν πεσεῖν μὴ δύνασθαι πλὴν ἐπὶ βραχύ τι τὸν Μέναιχμον καὶ ταῦτα δυσχερῶς. ἐπινενόηται δέ τις ὑφ’ ἡμῶν ὀργανικὴ λῆψις ῥᾳδία, δι’ ἧς εὑρήσομεν δύο τῶν δοθεισῶν οὐ μόνον δύο μέσας, ἀλλ’ ὅσας ἄν τις ἐπιτάξῃ. König Ptolemaios von Eratosthenes zum Gruß Von einem der alten Tragödiendichter sagt man, dass er Minos als jemanden auf die Bühne gebracht habe, der beim Bau des Grabes für Glaukos – nachdem er erfahren hatte, dass es überall hundert Fuß lang sei – sagte: „Von einem kleinen Bezirk für ein königliches Grab hast du da geredet. Doppelt so groß sei er! Ohne vom Schönen abzuweichen verdoppele jedes Glied des Grabes in Schnelligkeit!“ Er schien sich aber gründlich zu irren – denn wenn die Seiten verdoppelt werden, wird die Fläche viermal so groß, der Körper achtmal so groß. Gesucht wurde aber auch bei den Geometern, auf welche Weise man einen gegebenen Körper unter Beibehaltung seiner Form verdoppeln könnte, und das derartige Problem wurde ‚Verdoppelung des Würfels‘ genannt – denn unter Zugrundelegung eines Würfels suchte man diesen zu verdoppeln. Während alle sich für lange Zeit in einer großen Aporie befanden, bemerkte als erster Hippokrates von Chios, dass, wenn man herausfindet, wie man zwischen zwei geraden Linien, von denen die längere das Doppelte der kürzeren ist, zwei mittlere Proportionale in kontinuierlicher Proportion bestimmt, der Würfel verdoppelt sein wird, so dass sich ihm das Problem in ein anderes, nicht geringeres Problem verwandelte. Nach einiger Zeit, sagt man, seien einige Delier im Wunsch, einem Orakel gemäß einen ihrer Altäre zu verdoppeln, auf dasselbe Problem gestoßen und hätten Nachrichten zu den Geometern bei Platon in der Akademie gesandt, im Glauben, diese könnten für sie das Gesuchte finden. Von || 15 Siehe den Kommentar von Netz 2004a, 294–298.

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denjenigen, die sich eifrig an die Arbeit machten und danach suchten, zwei mittlere Proportionale zwischen zwei gegebenen geraden Linien zu bestimmen, soll Archytas aus Tarent diese mittels der Halbzylinder gefunden haben und Eudoxos durch die sogenannten ‚krummen Linien‘. Charakteristisch für sie alle ist, dass sie streng mathematisch geschrieben haben, dass es aber nicht möglich ist, das Beschriebene auszuführen und dass es zum Gebrauch nützlich ist, außer ein wenig vielleicht bei Menaichmos, und auch hier nur mit Mühe. Ersonnen wurde von uns jedoch eine einfache mechanische Vorrichtung zur Bestimmung, mittels deren wir zwischen zwei gegebenen geraden Linien nicht nur zwei mittlere Proportionale finden werden, sondern soviele man zu finden anordnet.

Nach einem polemischen Einstieg, der die mathematische Problemstellung anhand eines Tragikerzitats einführt, und vor der Entwicklung der eigenen Lösung (die auf die zitierte Passage folgt und die ich nicht weiter einbeziehen werde) skizziert Eratosthenes die Geschichte der Beschäftigung mit dem Problem im fachmathematischen Kontext von ihren Anfängen an. Konkret zeigen sich die folgenden drei Phasen: (1) Schon zu früher Zeit (unklar ist, wann genau) habe man eine Lösung dafür gesucht, einen Körper unter Beibehaltung seiner Form zu verdoppeln (das heißt hinsichtlich des Volumens); dies habe man am Spezialfall des Würfels untersucht. Zwar lässt sich der Autor des zur Bezeugung angeführten Tragikerzitats nicht bestimmen,16 doch könnte es auch dieser frühen Zeit selbst entstammen. Gleichwohl ist eine Antwort hinsichtlich der Urheberschaft für die Vorgeschichte der Würfelverdopplung unerheblich. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass das Zitat tatsächlich keinen inneren Bezug zu diesem mathematischen Problem besitzt: „the poet intends that each dimension shall be doubled. […] Evidently, Eratosthenes has misconstrued the passage in his desire to find precedents for an interest in this problem.“17 In seinem primären Kontext könnte das Zitat sogar im Sinne einer Quadratverdopplung zu verstehen sein;18 hierfür spricht der Umstand, dass das Grabmal andernfalls 100 Fuß hoch wäre, nach der Verdoppelung sogar 200 Fuß. Eratosthenes verfolgt mit dem Tragikerzitat zwei Ziele: Einerseits parallelisiert er das Problem der Würfelverdopplung mit dem Problem der Quadratverdopplung, wie es in Platons Menon verhandelt wird (an beiden Stellen wird von den mathematisch Ungebildeten der gleiche Fehler gemacht), andererseits soll ein für einen Nicht-Mathematiker wie Ptolemaios effektvoller Einstieg in das Problem gefunden werden:19 Eratosthenes’ Darstellung ist der Versuch, durch eine Rückprojektion der Beschäftigung mit dem von ihm gelösten Problem in eine unbestimmte Vorzeit den Wert seiner

|| 16 Wilamowitz-Moellendorff 1941, 53 mit Anm. 1 spricht sich gegen Aischylos, Sophokles oder Euripides aus; vgl. Kannicht & Snell zu TrGF II F 166. Siehe auch Geus 2002, 201 Anm. 249. 17 Knorr 1986, 23 (kritisch Geus 2002, 201 Anm. 250). Als echtes Testimonium für eine frühe Beschäftigung mit dem Problem der Würfelverdopplung fasst das Zitat Wolfer 1954, 9. 18 Wilamowitz-Moellendorff 1941, 53 f. 19 Einem entsprechenden Zweck dient die später erfolgende Anpreisung der Nützlichkeit des von Eratosthenes konzipierten Gerätes für praktische Belange: Eutokios, in Archim. Sph. Cyl. p. 90, 13–27.

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eigenen Lösung zu erhöhen; er allein hat eine Frage beantwortet, die ihren Anfang nicht erst zweihundert Jahre vorher bei Hippokrates (oder wann auch immer in historischer Zeit) genommen hatte, sondern schon bei Minos in der mythischen Zeit, mithin in der antiken Chronologie mehr oder weniger bis zum Anfang der Menschheit zurückführt.20 Eratosthenes kann hierfür aber allem Anschein nach nur ein sinnentstellend angeführtes Zitat aus der Literatur beibringen.21 Dies impliziert, dass er kein besseres Zitat als dieses hat finden können. Für die Zeit vor Hippokrates von Chios hat er also, entgegen dem im Brief erzeugten Eindruck, über überhaupt keinen Beleg für die Relevanz dieses Problems verfügt, insbesondere nicht für die Mathematik.22 (2) Bis zu Hippokrates von Chios habe, so Eratosthenes, mathematisch keine Methode zur Verfügung gestanden, mit der sich ein theoretischer und / oder praktischer Zugang zur Würfelverdopplung habe finden lassen. Hippokrates habe dann jedoch das Problem als äquivalent mit dem Finden zweier mittlerer Proportionaler erwiesen, eventuell, in späterer Begrifflichkeit, in Form einer ἀπαγωγή (‚Reduktion‘).23 Erneut stellt sich die Frage, ob die Beschreibung durch Eratosthenes wissenschaftshistorisch zutreffend ist. Unklar ist, ob Hippokrates tatsächlich eine Reduktion der Würfelverdopplung im eigentlichen Sinn vorgenommen hat oder überhaupt hat vornehmen wollen. Das Zeugnis selbst besagt schließlich nicht mehr, als dass er auf irgendeine Weise „the equivalence between the ratio of solids, on the one hand,

|| 20 Vgl. die Anmerkung bei Netz 2004a, 294 Anm. 155. 21 Die Parallele zum Menon kann nicht – so etwa Seide 1981, 26 f. oder Kouremenos 2011, 351 f.; vgl. Riginos 1976, 145 – als Gegenargument gegen die Historizität des bei Eratosthenes skizzierten Ablaufs fungieren: Die von diesem nur durch irreführendes Zitieren hergestellte Stimmigkeit des Parallelisierungsversuches legt nahe, dass historisch tatsächlich keine Parallele bestand. Dies ist dann jedoch ein Argument dafür, dass die eigentlichen wissenschaftshistorischen Angaben nicht von Eratosthenes erfunden (konkret „aus dem ‚Menon‘ herausgesponnen“: Seide 1981, 27; vgl. Riginos 1976, 145) sind, sondern unabhängigen Status haben. Von einer anderen Perspektive speziell zu Riginos’ Kritik siehe knapp Sedley 1979. Grundsätzlich gilt für den Versuch, die Anekdote vom Delischen Problem (und anderer Anekdoten) partiell oder vollständig auf bekannte Passagen in Platons Werk zurückzuführen (so etwa Riginos 1976, 141–146 und Kouremenos 2011), dass die Möglichkeit einer (partiellen) derartigen Herleitung allein nicht impliziert, dass diese ipso facto historisch zutreffend wäre: Aus der Ähnlichkeit ergibt sich weder eine Abhängigkeit noch eine chronologische Priorität; es handelt sich um ein non sequitur. Zumal eine inhaltliche Parallelität ja nicht per se unwahrscheinlicher machte, dass der Ursprung tatsächlich in historischen Fakten begründet sein könnte; vgl. oben Kap. 1.2. 22 Siehe die zu Recht skeptischen Anmerkungen bei Netz 2004b, 274–278; dies passt zu unserem Wissen der Frühgeschichte der griechischen Mathematik: siehe oben Kap. 1.1. Eratosthenes’ Perspektive ist eine peripatetische, insofern seine Skizze (wohl) in ihrem Kern auf Eudemos beruht. 23 Siehe Proklos, in Euc. p. 212, 24–213, 11: Die Erfindung dieses methodischen Schritts wurde in der antiken Mathematikgeschichtsschreibung generell auf Hippokrates zurückgeführt (hier mit Verweis auf die Quadratur der ‚Möndchen‘). Dies belegt aus einer anderen Perspektive, dass vor Hippokrates keine mathematische Beschäftigung mit dem Problem erfolgt sein konnte, da dieser Schritt unbestritten die erste und einzige gangbare Operationalisierung des Problems war. Zum fachmathematischen Terminus ἀπάγειν bzw. ἀπαγωγή siehe Mugler 1958, 69 f. s. vv.

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and the triplicate ratio of their sides, on the other hand“ festgestellt hat – wenn überhaupt, denn er könnte auch einfach eine rein proportionentheoretische Behauptung formuliert haben, ohne Bezug auf Körper und die Länge ihrer Seiten. Im Ergebnis ist keineswegs impliziert, dass Hippokrates speziell die Würfelverdopplung im Blick gehabt haben muss.24 Hier kann dieselbe Situation vorliegen, wie sie zu Thales in der Einleitung entfaltet wurde (siehe oben Kap. 1.1). Angesichts der bisherigen Ergebnisse lässt sich für Hippokrates entsprechend bis auf Weiteres nicht unterstellen, er habe die von Eratosthenes benannte Einsicht als mathematisches ‚euklidisches‘, insbesondere auf einem ‚Beweis‘ beruhendes Wissen besessen. Im Gegenteil ist eine andere Deutung wahrscheinlicher: Hippokrates hat die angesprochene Äquivalenz (in Bezug auf welche Frage auch immer) nach der Art Demokrits vorgebracht; so urteilt Reviel Netz auf der Grundlage einer eingehenden Analyse der Zeugnisse zu Hippokrates’ ‚Möndchen‘-Quadratur, welche in der Forschung als sein Hauptverdienst und oft für das erste Dokument der Mathematik euklidischen Typs gehalten wird: What is clear, however, is that the ‚duplication of the cube‘ notice, stripped of its Eratosthenean embellishment, is very much of a piece with the Hippocrates we have found so far. This is Hippocrates making observations, discursively, on objects which are perhaps ‚mathematical‘, perhaps ‚material‘.25

Ein solch skeptisches Bild ist in Übereinstimmung mit den bisher erzielten Ergebnissen. Allerdings lässt sich durchaus unterstellen, dass Hippokrates’ Mathematik tatsächlich mathematischer als diesem Zitat zufolge war: Nimmt man Theodoros’ Mathematik (gemäß Platon) als Parallele, könnte Hippokrates bei der ‚Möndchen‘-Quadratur von einem Diagramm als Modell ausgegangen sein und hätte an diesem relevante Relationen expliziert (wenn auch diskursiver als Euklid und mehr wie Demokrit nach Art der ionischen Naturphilosophie: siehe oben, insbesondere Kap. 4.6). Dieses Diagramm hätte aber, und dies ist der entscheidende Punkt, in jedem Fall eine partikulare, auf physikalische Objekte verweisende Natur gehabt – und ließe sich gleichermaßen im Kontext des Projekts ‚theoretische Landvermessung‘ verorten: Den antiken Zeugnissen zufolge war ja Hippokrates’ eigentliches (und verfehltes) Ziel die Kreis-Quadratur, also die Überführung einer runden in eine rechtwinklig begrenzte Fläche und also das Ausmessen der einen durch die andere.26 Hippokrates lässt sich

|| 24 Netz 2004b, 274 f., das Zitat 275. Vgl. oben Kap. 1. 25 Netz 2004b, 275; zur ‚Möndchen‘-Quadratur siehe oben Anm. 125. Saito 1995, 120 fragt zwar zu Recht danach, ob Hippokrates den Sachverhalt tatsächlich bewiesen hat (speziell „since Eratosthenes simply says that Hippocrates ‚first conceived‘ the truth of the reduction“), doch postuliert er sofort: „This proof was surely found very soon, if not by Hippocrates himself, since it was concerned with such an important problem as cube duplication.“ Eine solche Sicht kann sich jedoch weder auf direkte noch auf indirekte positive Zeugnisse berufen und involviert eine petitio principii. 26 Siehe Philoponos, in Ph. p. 31, 1–32, 3 mit Aristoteles, Ph. 185a14–20. Letzteres dürfte auch für eine andere Behauptung des Hippokrates gelten, nämlich dass ähnliche Kreissegmente in demselben Ver-

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in demjenigen Milieu verorten, das oben speziell für das Athen der zweiten Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. aufgezeigt wurde:27 Er erscheint in Hinsicht auf die Mathematik womöglich als der Sophist, der Sokrates Xenophon zufolge nicht war (vgl. oben Kap. 4.6). Hippokrates hat folglich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ‚bewiesen‘ oder mathematisch zwingend das Problem der Würfelverdopplung (um Eratosthenes’ Formulierung aufzugreifen) ‚in ein anderes, nicht geringeres Problem verwandelt‘, nämlich in das Problem der Konstruktion zweier mittlerer Proportionaler – wenn es auch aus der Rückschau diesen Eindruck gemacht haben sollte. Zwar sind die genauen Begründungszusammenhänge nicht mehr zugänglich, aber möglicherweise hat er relativ einfache proportionentheoretische Überlegungen angestellt,28 und zwar anhand eines partikularen Falls, gegebenenfalls ausgehend von dem Umstand, dass (in der späteren Beschreibung) die mittlere Proportionale eine Verdoppelung im Zweidimensionalen bewirkt (nämlich die Diagonale des Quadrats, da 1:√2 :: √2:2); oder, was eine andere einfache Analogieüberlegung wäre, ausgehend von dem Umstand, dass es bei einer Verachtfachung zwei Proportionale zwischen Ausgangs- und Endwert gibt, nämlich 2 und 2²=4 (da 1:2 :: 2:4 :: 4:8), und die Vermutung naheliegt, dass dies angesichts von 1:3 :: 3:9 :: 9:27 auch generell der Fall sein dürfte, also auch dann, wenn der Endwert lediglich das Doppelte des Ausgangswerts ist. In moderner Notation lässt sich die Hippokrates zugeschriebene Reformulierung wie folgt wiedergeben: Wenn zwei Längen a und 2a gegeben sind, sind hierzu zwei mittlere Proportionale zu finden, das heißt zwei Längen x und y so zu bestimmen, dass a:x :: x:y :: y:2a gilt (bzw. an euklidischer Konvention ausgerichtet: Bei zwei gegebenen Strecken Α und B, von denen die zweite doppelt so lang ist wie die erste, ist es notwendig, die zwei Strecken Γ und Δ so zu konstruieren, dass Α:Γ :: Γ:Δ :: Δ:Β gilt). Dann nämlich besitzt der Würfel mit der Seite x (also der Würfel x³) das doppelte Volumen des Würfels mit der Seite a (also des Würfels a³), denn aus a:x :: x:y :: y:2a folgt a:2a :: a³:x³ wegen a:2a = (a:x)³ (so allgemeiner auch Euklid, Elem. 11, 33 mit porisma).29 Da 2a nun evident das Doppelte von a ist, ist auch x³ das Doppelte von a³, mit|| hältnis stehen wie die Quadrate auf ihren Basen, was er anhand von Halbkreisen und den auf den Durchmessern konstruierten Quadraten gezeigt haben soll (Simplikios, in Ph. p. 61, 5–9). Auch diese Einsicht kann von Hippokrates nicht mathematisch bewiesen worden sein, denn abermals ist Eudoxos’ Proportionenlehre eine notwendige Vorbedingung, speziell Euklid, Elem. 5, def. 4 als Voraussetzung von Euklid, Elem. 10, 1, welche Proposition wiederum für den Beweis der (hier einschlägigen) Proposition Euklid, Elem. 12, 2 notwendig ist (vgl. Heath 1926, 3, 15 f. und 374). Diese Proposition wird wohlgemerkt allgemein ausdrücklich Eudoxos zugeschrieben (vgl. Heron, Metr. 1, praef. p. 2, 11– 4, 4). So ergibt sich dasselbe Ergebnis wie zum Beweis der Volumenverhältnisse von Kegel und Zylinder bzw. Pyramide und Quader sowie Prisma in Hinsicht auf Demokrit: siehe oben Kap. 4.6. 27 Siehe oben Kap. 4.6. Interessant ist die biographische Notiz zu Hippokrates, die oben in Kap. 1.1 angeführt wurde (mit Anm. 147). 28 Man beachte Saitos 1995 Vorschlag zur Rekonstruktion von Hippokrates’ ursprünglichem Beweis (für den Fall, dass es ihn tatsächlich gegeben haben sollte). 29 Zur Herleitung siehe unter anderem auch Knorr 1986, 23.

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hin der Würfel mit der ersten der beiden mittleren Proportionalen zwischen a und 2a als Seitenlänge (das heißt x) doppelt so groß wie der Würfel mit der Seitenlänge a. Dieser Zusammenhang ist aus Sicht der Mathematik euklidischen Typs zwar keine Lösung des Problems – gefordert wäre die effektive mathematische Konstruktion der zwei mittleren Proportionalen im Rahmen eines Problems, und diese war angesichts des Standes der Mathematik und der Eigenschaft des Problems, nicht ‚eben‘ zu sein, zu diesem frühen Zeitpunkt nicht möglich30 –, konnte aber im passenden Kontext als brauchbare Operationalisierung des Problems gelten. In der Tat handelt es sich nicht nur um die erste, sondern um die einzige Operationalisierung, die in der Antike entwickelt wurde: Alle bekannten Ansätze widmen sich dem Problem in dieser Form. So avancierte die bei Eratosthenes mit Hippokrates verbundene Umwandlung zur klassischen Form des Problems – das den Zeugnissen zufolge dann erst durch Archytas, Eudoxos und Menaichmos mathematisch hinreichend korrekt gelöst wurde, also in der ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr., mithin etwa ein halbes Jahrhundert später.31 Dies führt zur dritten Phase der Beschäftigung mit der Würfelverdoppelung: (3) Einige Zeit nach Hippokrates hätten, so Eratosthenes, die Delier ihren Altar aufgrund eines Orakels verdoppeln wollen; dies sei ihnen aber nicht geglückt. Daher hätten sie sich an die Mathematiker in Platons Akademie gewandt; von diesen hätten Archytas und Eudoxos sowie Menaichmos konkrete Lösungen gefunden. Diese Lösungen seien, abgesehen in gewisser Hinsicht von derjenigen des Menaichmos, mathematisch bewiesen worden (ἀποδεικτικῶς), ohne dass sie sich jedoch in Form eines mechanischen Gerätes praktisch hätten nutzen lassen. Diesen Umstand hebt Eratosthenes gerade deswegen hervor, weil er nicht auf seine eigene Lösung zutreffe: Diese sei, wie er bei ihrer ersten Nennung am Ende des angeführten Zitats explizit anführt, eine originelle und vor allem die einzig brauchbare dezidiert mechanische Vorrichtung zur Bestimmung sogar beliebig vieler mittlerer Proportionaler (mit dem Effekt, dass Würfel und andere Körper mit beliebiger Skalierung erzeugt werden können, deren Seitenlängen also nicht nur die Relation von Kubikwurzeln zueinander haben). Die dritte Phase der bei Eratosthenes skizzierten Geschichte der Beschäftigung mit dem Problem der Würfelverdopplung gilt als besonders unglaubwürdig. Insbesondere weil sie auf die erste Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. und also den hier interessierenden Zeitraum verweist, ist sie einer detaillierten Prüfung zu unterziehen. Hierzu werde ich zuerst die wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Testimonien in den Blick nehmen und sodann separat die archäologischen und historischen Zeugnisse. || 30 Eine andere Ansicht wird – nicht auf der Grundlage von Testimonien und im mathematikhistorischen Kontext unplausibel – in der Forschung explizit und / oder implizit vertreten, zumindest expressis verbis nicht ausgeschlossen; vgl. zwar an sich richtig, in der Sache aber irreführend M. Folkerts, Art. „Hippokrates von Chios“, DNP 5, 587–590, hier 587: „Es ist nicht bekannt, ob H[ippokrates] eine Methode fand, um die beiden mittleren Proportionalen zu bestimmen.“ 31 Zu Archytas’ Lösung siehe Masià 2016, auch Menn 2015; vgl. unten zu Datierung und spezifischem Charakter.

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5.2.2 Die wissenschaftshistorische Perspektive Auch wenn von der Delier-Anekdote die sowohl im antiken als auch im modernen Kontext geläufige Bezeichnung ‚Delisches Problem‘ für die Würfelverdopplung herrührt, gilt die Historizität der berichteten Ereignisse in der Forschung als unglaubwürdig. In der Folge wird – signifikanterweise abgesehen von Hippokrates’ Beitrag – der gesamte von Eratosthenes referierte dreistufige Verlauf der Beschäftigung mit dem Problem bis hin zu Eratosthenes selbst als nicht stimmig und selbstwidersprüchlich bewertet. Insbesondere seien von Eratosthenes „offensichtlich zwei verschiedene Fassungen nacheinander wiedergegeben“: Nach der ersten Fassung wäre das Problem der Würfelverdoppelung alt und würde mit einer Legende über Minos zusammenhängen; Hippokrates von Chios und andere vor ihm hätten sich auch schon damit beschäftigt. Nach der zweiten Fassung kam man durch einen Orakelspruch, der den Deliern zur Zeit Platons offenbart wurde, darauf, also ein halbes Jahrhundert nach Hippokrates. […] Der Widerspruch zwischen der ersten und der zweiten Geschichte im „Brief“ lässt sich also leicht erklären: die erste Geschichte mag einer historischen Quelle entnommen sein, die zweite stammt sicher aus dem Platonikos des Eratosthenes.32

Angesichts der so weit gewonnenen Einblicke ist dieser Einwand nicht plausibel: erstens weil das Tragikerzitat bei Eratosthenes nicht die Würfelverdopplung behandelt und mithin die Beschäftigung mit diesem Problem in wissenschaftshistorischer Hinsicht nicht mit Minos zusammenhängt; zweitens weil Hippokrates sich zwar in irgendeiner Weise mit dem Problem – oder wohl eher aus der späteren Rückschau mit einem als äquivalent beurteilten anderen ‚mathematischen‘ Sachverhalt – beschäftigt hatte, er aber gleichwohl in jedem Fall keine Lösung gefunden hatte, das Problem also (wenn er sich denn mit ihm beschäftigt hatte) mathematisch virulent geblieben war – und zwar angesichts der erstmaligen etwaigen Operationalisierung durch Hippokrates wohl eben auch überhaupt erst ab (frühestens) genau diesem Zeitpunkt.33 Im Gegenteil macht Eratosthenes’ Referat in sich und in Hinsicht auf den wissenschaftshistorischen Kontext einen stimmigen Eindruck. Es zeigt eine plausible, in ihrer konkreten Abfolge hinreichend schlüssige historische Entwicklung: (1) Unwissenheit bezüglich des Problems, sogar so weitgehend, dass es, obschon in praktisch-handwerklicher Hinsicht schon immer potentiell relevant, gar nicht als lösbares Problem betrachtet und diskutiert wurde (daher das Fehlen geeigneter Zitate für Eratosthenes); oder eben mit rein handwerklichen Lösungen praktisch (und das heißt den entsprechenden Erfordernissen an Genauigkeit gemäß zufriedenstellend) bewerkstelligt wurde. || 32 Die drei Zitate von van der Waerden 1956, 264 bzw. 264 bzw. 265; vgl. Wolfer 1954, 8–12. 33 Daher liefert der Umstand, „daß das Problem der Würfelverdoppelung zur Zeit Platos schon bekannt gewesen sein muß“, keinen Grund für die Annahme, dass die Delier-Anekdote „nicht den historischen Tatsachen entsprechen kann“ (die Zitate Wolfer 1954, 9). Es handelt sich um ein non sequitur.

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(2) Konstatierung desjenigen mathematischen Zusammenhangs, der (zumindest aus der Rückschau) die zentrale Operationalisierung des Problems darstellt, gegebenenfalls gar nicht im intendierten Zusammenhang mit der Würfelverdopplung; hiermit war aber in jedem Fall noch keine effektive Konstruktion des gesuchten mathematischen Objekts gefunden, ja: nicht einmal in Angriff genommen. (3) Konstruktive, das heißt mathematisch hinreichende Lösung, veranlasst durch einen äußeren Anlass, der zur Beschäftigung mit dem schwierigen, nicht durch traditionelle mathematische Mittel lösbaren Problem drängte. Dieser aus Eratosthenes’ Referat rekonstruierbare Kern des geschichtlichen Verlaufs ist von Eratosthenes selbst dann zwar allem Anschein nach im Sinne allgemeiner antiker Wissenschaftsgeschichtsschreibung geglättet (indem nämlich Leistungen von Vorgängern in den eigenen Begrifflichkeiten rekonzeptualisiert werden) und auf seine eigene Lösung als Höhepunkt der gesamten Entwicklung zugeschnitten. Dieser Umstand ändert jedoch nichts an der grundsätzlichen Glaubwürdigkeit. Dies muss dann freilich auch für die Delische Anekdote gelten, und zwar um so mehr, als sie für keinen der zwei für den spezifischen Charakter der Darstellung durch Eratosthenes festgestellten Zwecke nützlich sein könnte. Vielmehr erscheint die Anekdote selbst in dieser Hinsicht als historisch kontingent und nicht aus den übrigen Elementen der Geschichte der Würfelverdopplung ableitbar und / oder auf diese reduzierbar. So bleibt als einzig plausibler Schluss, dass Eratosthenes sie in der Tat der sachlichen Vollständigkeit halber integriert, und zwar als unabhängiges historisches Faktum – welches eben so wichtig war, dass man es nicht nicht berücksichtigen konnte. Infolge dessen ist die Delier-Anekdote bis auf Weiteres als historisch glaubwürdig einzustufen. Dieser Eindruck wird durch die mehr oder weniger gleichförmige Bezeugung in zahlreichen anderen Testimonien bestätigt, konkret den folgenden: Plutarch, De genio Socratis 579A8–D3; De E apud Delphos 386D11–E10; Quaestiones convivales 718E–F; Vita Marcelli 14, 8–12; Asklepios von Tralleis, in Nicomachi introductionem arithmeticam p. 61; Theon von Smyrna, De utilitate mathematicae p. 2, 3–12; Vitruv, De architectura 9, praef. 13 f.; Anonymus, Prolegomena in Platonis philosophiam 5, 13–24; Philoponos, in Aristotelis Analytica posteriora p. 102, 12–23; Valerius Maximus, Factorum et dictorum memorabilia 8, 12, ext. 1.34 Die häufige (und vor allem relativ späte) Bezeugung könnte auf der Existenz einer gemeinsamen Quelle beruhen, wie gemeinhin in der Forschung angenommen wird. Diese Quelle sieht man weniger in Eratosthenes’ Brief als vielmehr – wie schon im Zitat van der Waerdens anklang – in einer hiervon unabhängigen Schrift des Eratosthenes mit dem Titel Platonikos. Auch wenn diese Schrift nur durch wenige Testimonien bezeugt beziehungsweise in wenigen Fragmenten überliefert ist, ist unstrittig, dass auch sie die Delier-Anekdote beinhaltete. Dies belegt explizit die Bezeugung

|| 34 Die Stellen und ihre relevanten Unterschiede werden unten referiert und diskutiert. Siehe die Zusammenfassungen bei Riginos 1976, 141–146 und Huffman 2005, 361–385.

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beim kaiserzeitlichen Philosophen und Mathematiker Theon aus Smyrna im frühen 2. Jh. n. Chr. (De utilitate mathematicae p. 2, 3–12):35 Ἐρατοσθένης μὲν γὰρ ἐν τῷ ἐπιγραφομένῳ Πλατωνικῷ φησιν ὅτι, Δηλίοις τοῦ θεοῦ χρήσαντος ἐπὶ ἀπαλλαγῇ λοιμοῦ βωμὸν τοῦ ὄντος διπλασίονα κατασκευάσαι, πολλὴν ἀρχιτέκτοσιν ἐμπεσεῖν ἀπορίαν ζητοῦσιν ὅπως χρὴ στερεὸν στερεοῦ γενέσθαι διπλάσιον, ἀφικέσθαι τε πευσομένους περὶ τούτου Πλάτωνος. τὸν δὲ φάναι αὐτοῖς, ὡς ἄρα οὐ διπλασίου βωμοῦ ὁ θεὸς δεόμενος τοῦτο Δηλίοις ἐμαντεύσατο, προφέρων δὲ καὶ ὀνειδίζων τοῖς Ἕλλησιν ἀμελοῦσι μαθημάτων καὶ γεωμετρίας ὠλιγωρηκόσιν. Eratosthenes sagt nämlich in dem mit Platonikos betitelten Werk, dass – nachdem der Gott den Deliern den Orakelspruch gegeben hatte, dass sie zur Erlösung von der Pest einen im Vergleich mit dem existierenden doppelt so großen Altar verfertigen sollten – eine große Ratlosigkeit die Architekten befallen habe, als sie danach suchten, auf welche Weise ein Körper doppelt so groß wie ein Körper werden müsse. Sie seien zu Platon gegangen, um hierüber etwas in Erfahrung zu bringen, und er habe ihnen gesagt, dass der Gott den Deliern den Orakelspruch nicht im Wunsch nach einem doppelten Altar gegeben habe, sondern den Griechen zum Vorwurf und zum Tadel, da sie die Mathematik vernachlässigten und die Geometrie geringschätzten.

Dieses Zeugnis bietet im Vergleich zum Brief zwar sowohl zusätzliche Informationen – das Orakel sei ergangen, als auf Delos eine Pest gewütet habe; die Ratlosigkeit habe Architekten betroffen; der Gott habe die Griechen wegen ihrer Geringschätzung der Mathematik tadeln wollen – als auch weniger Informationen – insbesondere werden die Lösungen durch Archytas, Eudoxos und Menaichmos und ihre Charakteristik nicht erwähnt –, doch zeigen sich keine signifikanten Widersprüche zum Brief. Vielmehr verhalten sich beide Schilderungen komplementär zueinander. Allerdings dient die explizite Zuweisung der Anekdote zu Eratosthenes’ Platonikos in der communis opinio als zentrales Argument dafür, dass sie und mit ihr der gesamte so weit rekonstruierte wissenschaftshistorische Verlauf der Beschäftigung mit der Würfelverdopplung unhistorisch sein müsse. Der Platonikos gilt als fiktionaler Dialog mit fiktiven Inhalten, und auf diesen werden, gleichwohl auf generell hypothetischer Grundlage, alle Zeugnisse zur Delier-Episode zurückgeführt:36 Eratosthenes habe hier die von ihm selbst erfundene Anekdote von den Deliern erzählt, und zwar zur Illustration von Fragen der mathematischen Methodologie. Konkret habe er zeigen wollen, dass man im Sinn Platons geometrische Probleme nicht mit den Methoden der Mechanik, sondern (wie unten in Kap. 5.3.1 diskutiert) mit den genuinen Mitteln der Mathematik lösen müsse. Diese erfundene Geschichte sei in der Eratosthenes-Rezeption als authentischer historischer Bericht gelesen worden und habe

|| 35 Zu Theon siehe M. Folkerts, Art. „Theon [5]“, DNP 12/1, 374 f. 36 Siehe Knorr 1986, 4 f. und Zhmud 2006, 84 f. Letzterer schließt angesichts der Ergebnisse so weit nicht zwingend und auf fehlender materialer Grundlage: „The plot of this dialogue is clearly literary fiction: the problem of the duplication of the cube arose in the mid-fifth century, and was not set for Plato by the Delians.“

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als solcher in die antike Wissenschaftsgeschichte der Mathematik Eingang gefunden, insbesondere in den oben zitierten Brief, der freilich, auch aus unabhängigen Gründen, nicht als authentisch betrachtet wird, sondern als Fälschung nach dem Vorbild des Platonikos durch einen Autor ohne hinreichende Kenntnis der tatsächlichen mathematischen und wissenschaftshistorischen Zusammenhänge. Die interpretatorische Konsequenz ist, dass weder der oben zitierte Brief Zeugniswert hätte noch die Delier-Anekdote selbst Aufschluss über die historischen Gegebenheiten gäbe – und Platons mutmaßliche Rolle im Rahmen der Lösung des Delischen Problems pure Fiktion wäre. Bei näherer Betrachtung erweist sich, dass die communis opinio nicht zu halten ist.37 Grundlage ist die Einsicht, dass es keinen hinreichenden Grund gibt, Eratosthenes’ Brief an Ptolemaios nicht für authentisch zu halten: Während insbesondere im 19. Jh. die Meinung vertreten wurde, der gesamte Brief – das heißt sowohl der ProsaTeil mit der zitierten wissenschaftshistorischen Skizze und der nicht zitierten mathematischen Explikation von Eratosthenes’ eigener Lösung als auch das abschließende, ebenfalls nicht zitierte Weihepigramm, das als Inschrift für das die mechanische Lösung des Eratosthenes darstellende Weihgeschenk dienen sollte und seinerseits auch sowohl auf die Geschichte der Lösungen des Problems als auch auf Eratosthenes’ eigene Lösung eingeht – sei unecht,38 hat schon Wilamowitz plausibel für die Echtheit zumindest des Epigramms argumentiert.39 Freilich hat Wilamowitz zugleich nachzuweisen versucht, dass andererseits der gesamte Prosateil des Briefes mitsamt der wissenschaftshistorischen Skizze eine Fälschung sei. Die von Wilamowitz vorgebrachten Gründe sind aber, wie Knorr in einer detaillierten Analyse aufgezeigt hat, in keinem Punkt stichhaltig; sie beruhen auf einem nicht hinreichenden Verständnis der literarischen Gattung mathematischer Texte und einer inadäquaten Interpretation des Brieftextes; zumal das Epigramm voraussetzt, was im Prosateil steht.40 Der gesamte Brief muss als echt gelten. Dann folgt, dass die Delier-Anekdote nicht von Eratosthenes erfunden worden sein könnte, weder im Platonikos noch im Brief. In diesem Fall hätte er sie nicht in so prominenter Form in den generisch dezidiert nicht-fiktionalen Brief an Ptolemaios integrieren können; hier konnte nur ein historisch korrekter Bericht Platz haben. Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass Eratosthenes eine Deutung der Vergangenheit vom gegebenenfalls verzerrenden Stand-

|| 37 Skeptisch gegenüber der communis opinio zeigt sich einzig Huffman 2005, 376–378 und 392–401; er hält die Anekdote und insbesondere Platons zentrale mathematikhistorische Rolle bezüglich dieses Problems für grundsätzlich glaubhaft. Gleichwohl sieht er schwerwiegende Probleme hinsichtlich des Aspekts von Platons Tadel gegenüber Archytas etc.; siehe hierzu jedoch unten. 38 Speziell Eutokios, in Archim. Sph. Cyl. p. 90, 30–92, 24 bzw. p. 96, 10–27; so Hiller 1872, 122–137. 39 Wilamowitz-Moellendorff 1941; vgl. Geus 2002, 195–205. 40 Siehe Knorr 1986, 17–21 und ausführlicher Knorr 1989, 131–153; man beachte Knorr 1986, 20: „Von Wilamowitz’ critique thus falters through his own failure to reckon with the character of the appropriate literary genre.“ Siehe mit einer Bewertung aus jüngerer Zeit auch Huffman 2005, 373–377.

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punkt der Gegenwart aus hätte vornehmen können – dass, in welcher Form und zu welchem Zweck er dies allem Anschein nach tat, wurde oben diskutiert –, wohl aber, dass er die historischen Angelpunkte der Problemgeschichte in seiner eigenen Darstellung, also speziell die Delier-Episode, nicht für (wohlgemerkt nachprüfbare) historische Realität gehalten haben könnte. Dies gilt unabhängig davon, ob der Platonikos fiktionalen Charakter hatte oder nicht. Schließlich folgt aus einer etwaigen Fiktionalität, das heißt einer Eigenschaft des gesamten Textes, an sich kategorial nicht, dass auch alle einzelnen inhaltlichen Elemente fiktiv wären. Eratosthenes hat die Delier-Anekdote für authentisch gehalten. Dies schließt jedoch andererseits nicht grundsätzlich aus, dass er sich bezüglich der Historizität getäuscht – und vielleicht tatsächlich einer in der Akademie zur Mitte des 4. Jhs. v. Chr. entstandenen Fälschung aufgesessen sein könnte.41 Für eine solche Annahme gibt es aber ebenfalls keinen hinreichenden Grund. Im Gegenteil wäre sie unplausibel: (1) Generell war Eratosthenes (der nur etwa einhundert Jahre später schrieb) als Proponent einer eigenen Lösung mit spezifisch praktischem Profil offensichtlich ein Kenner des Problems und seiner Geschichte, und ihm musste es in seinem Brief um eine (angesichts der wissenschaftlichen Gepflogenheiten mehr oder weniger) korrekte, im Gegenzug aber auch objektiv wenig angreifbare Darstellung gehen, gewiss auch mit dem Zweck, seine eigene Lösung in das rechte Licht zu rücken.42 (2) Insofern die Geschichte des Delischen Problems mit Sicherheit zumindest auch in der von Eudemos verfassten – und angesichts des expliziten Hinweises, dass er Archytas’ Lösung nach Eudemos wiedergebe, allem Anschein nach auf jeden Fall auch Eutokios direkt oder indirekt zugänglichen43 – Geschichte der Geometrie verhan|| 41 Knorr 1986, 22–24. So auch Zhmud 2006, 85 f. 42 Zu den Gepflogenheiten der Fachmathematiker dieser Zeit siehe Knorr 1986, 328 f. speziell zu Apollonios: „The mathematical field at the close of the 3rd century takes on the appearance of an active and contentious environment. One might look on the needless personal frictions with disapproval and regret, and doubtless many of the ancient participants did so too.“ Dies betrifft nicht nur Zeitgenossen, sondern auch Vorgänger. Siehe generell zur Einbettung der hellenistischen Fachmathematik in den literarischen Kontext ihrer Zeit Netz 2009, speziell 160–164 zu Eratosthenes’ Brief. Beide oben angesprochenen spezifischen Züge der Darstellung bei Eratosthenes (Deutung der Vergangenheit durch die Brille der Gegenwart und Ausrichtung der Problemgeschichte zur Hervorhebung der eigenen Leistung) müssen nicht als problematisch erscheinen: Mutatis mutandis macht Eratosthenes nichts anderes, als man es von Aristoteles kennt. 43 Eutokios, in Archim. Sph. Cyl. p. 84, 12. Siehe Knorr 1989, 100 f. (mit Anmerkungen 126 f.) und Huffman 2005, 346 f. Knorr weist darauf hin, dass Eutokios an zahlreichen Stellen nicht Wort für Wort zitiert, sondern den Text mehr oder weniger an den spezifischen Zitierkontext und / oder die Konventionen der nach-eudemischen Mathematik anpasst (siehe auch Neuenschwander 1974). Es gibt allerdings keinen hinreichenden Grund, die Bearbeitung von Eudemos’ Text nicht Eutokios zuzuweisen, und zwar in Verbindung damit, dass diesem der Eudemos-Text nur indirekt, etwa über Sporos, zugänglich gewesen sei; so Tannery 1882 und auch Knorr 1989 (allerdings unter Ausnahme der nicht bei Sporos behandelten Verdoppelung des Würfels: 126 Anm. 124). Vgl. Zhmud 2006, 206, der 207 f. gegebenenfalls auch eine primäre Benutzung des auf Eudemos beruhenden Platonikos annimmt.

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delt wurde, hätte Eudemos als Zeitzeuge die historische Korrektheit, auch mittels von der Akademie unabhängiger Zeugen und Zeugnisse, beurteilen können, zugleich aber auch seinerseits kein eigenes Interesse an einer Fälschung gehabt. Andererseits hätte Eratosthenes, falls Eudemos die Delier-Episode nicht referiert oder als unglaubwürdig beschrieben hätte, diese nicht in seine eigenen Darstellungen aufgenommen, insbesondere nicht in den Brief in Angesicht von dessen Zweck und Adressaten. (3) Schließlich ist nicht transparent, warum überhaupt eine solche Anekdote hätte erfunden werden sollen. Inhaltlich lässt sie sich ja nur als Erklärung der aktualen Motivation zur Beschäftigung mit diesem Problem verstehen, wie etwa die folgende Beschreibung des Sachverhalts aus der Perspektive der communis opinio zeigt: By this time [sc. „the middle of the 4th century B.C.“] the problem of cube duplication was already familiar, for as Eratosthenes himself notes, important advances in its analysis were made by Hippocrates of Chios, that is almost a half-century before. It would seem odd indeed for the Delian oracle to be concerned with an old problem which then happened to be eluding the efforts of contemporary geometers. But on the other hand, as a dramatic way of affording recognition and motivation to those efforts, the story makes good sense, especially since geometers associated with the Academy were prominent in this activity.44

Die wissenschaftshistorischen Zusammenhänge werden hier in entscheidender Hinsicht verzerrt wiedergegeben: Wie gesehen hat Hippokrates mathematisch lediglich ein neues Problem gestellt (wenn überhaupt); so wäre zum mutmaßlichen Zeitpunkt der Delier-Anekdote das Problem der Würfelverdopplung zwar in der Tat für mehr als ein halbes Jahrhundert in der Fachmathematik bekannt gewesen, musste aber gegebenenfalls bis auf Weiteres als nicht gelöst gelten, und das heißt: bis zum Auffinden des mathematischen Instrumentariums zur Lösung.45 Wie es scheint, wurde dieses Instrumentarium aber keineswegs unabhängig von der Beschäftigung mit der Würfelverdopplung gefunden, sondern in eben diesem Kontext, und zwar zur Lösung gerade dieses Problems. Dann aber gibt es keinen hinreichenden Grund zur Annahme (die Evidenz spricht vielmehr dagegen), dass einerseits allein eine mathematikintrinsische Entwicklung zur Beschäftigung mit der Würfelverdopplung geführt habe (siehe oben Anm. 5 und Anm. 45) und dass es andererseits keinen äußeren Anlass in || 44 Knorr 1986, 22. 45 Auch Huffman 2005, 374 f. sieht keinen grundsätzlichen Widerspruch in der historischen Darstellung bei Eratosthenes. Der hier rekonstruierte mathematikhistorische Zusammenhang (Hippokrates’ Reformulierung und die ersten Lösungen durch Archytas etc.) findet sich ähnlich auch bei Knorr 1986, 22, nur ist er dort mit dem spekulativen Schluss verbunden, die Delier-Anekdote sei fiktiv. Knorrs 1986, 24 (und passim) generelle Position, dass die Mathematik allein aus mathematikintrinsischen Gründen vorangeschritten sei, läuft Gefahr, explizite Zeugnisse wie das vorliegende zu negieren – und, wie sich exemplarisch zeigt, ignoriert sie das eigentliche Problem insofern, als es letztlich ja eine empirische Frage ist, ob Platon und die Akademie bezüglich der Mathematik eine externe oder nicht doch eine interne Position innehatten. Diese Frage ist nicht schon mit dem Hinweis darauf, dass Platon ein ‚Philosoph‘ gewesen sei, beantwortet; vgl. oben Anm. 160, Anm. 1106 und Anm. 1123.

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Form eines mathematikexternen kontingenten historischen Ereignisses gegeben haben könnte, der diese Fokussierung der Forschungsanstrengungen bewirkt hätte, zum Beispiel derart, wie ihn die Delier-Anekdote beschreibt. Eine solche Rekonstruktion der historischen Zusammenhänge erklärt das in jedem Fall gegebene große zeitliche Intervall zwischen Hippokrates und den ersten Lösungen des Problems durch Archytas, Eudoxos und Menaichmos – und zugleich, warum überhaupt für diese drei bedeutenden Mathematiker eine jeweils eigene Lösung zu verzeichnen ist und dies möglicherweise sogar in engstem zeitlichen Zusammenhang. Zwar werden sie gewöhnlich mehreren Generationen zugerechnet, auch deshalb, weil jeweils ein Lehrer-Schüler-Verhältnis bestanden haben soll, so dass man gemeinhin annimmt, sie hätten getrennt voneinander in jeweils ihrer eigenen Generation ihre Lösungen entwickelt.46 Doch ist in mindestens ebenso – bei unbefangener Betrachtung sogar in höherem Maße, da wir ein explizites und positives Zeugnis in der Delier-Anekdote besitzen – wahrscheinlich, dass sie dies zu exakt derselben Zeit taten: Insofern Archytas wohl von 435/410 v. Chr. bis 360/350 v. Chr. und Eudoxos von 391/0 v. Chr. bis 338/7 v. Chr. lebte47 sowie Menaichmos als Eudoxos’ Schüler wohl nach diesem, also mit hoher Wahrscheinlichkeit zwischen 390 v. Chr. und 370 v. Chr. geboren wurde und er sich insbesondere Proklos zufolge mit Eudoxos in Athen an der Akademie aufgehalten haben soll,48 wäre evident das Jahrzehnt von ca. 360 v. Chr. bis ca. 350 v. Chr. ein Zeitraum, in dem alle drei Mathematiker zur gleichen Zeit an der Lösung der Würfelverdopplung hätten arbeiten können. Vier Beobachtungen stützen dieses Ergebnis: || 46 Ein rigider und evident spekulativer Generationenschematismus unterliegt Zhmuds 2006, 84 f. Rekonstruktion: Die von Hippokrates gestellte Aufgabe „was already solved in the generation after Hippocrates“ (84), „and the brilliant solution […] was first found by Archytas“ (85). Hieraus folgt zugleich die falsch gestellte Frage (meine Hervorhebung): „To whom does the legend about three great mathematicians of three subsequent generations (Eudoxus was a pupil of Archytas, and Menaechmus a pupil of Eudoxus), all working under Plato’s supervision, belong?“ Ähnlich M. Folkerts, Art. „Würfelverdopplung“, DNP 12/2, 578 und 591–593, hier 592, der die Lösungen auf „Anfang 4. Jh. v. Chr.“ (Archytas), „um 370 v. Chr.“ (Eudoxos) und „um 350 v. Chr.“ (Menaichmos) datiert. Die Annahme eines derartigen chronologischen Zusammenhangs basiert auf einer empirisch nicht abgesicherten Plausibilitätserwägung ohne Beweiskraft. Zu Menaichmos als Schüler des Eudoxos siehe insbesondere Proklos, in Euc. p. 66, 9 f.; zu Eudoxos als Schüler des Archytas siehe Diogenes Laertios 8, 86 (Lasserre 1966, 146 hält dies für eine falsche Information, basierend auf einer Fehldeutung von Eratosthenes’ fiktionalem Dialog Platonikos: vgl. oben, unabhängig von der Richtigkeit der Information). 47 Zu Archytas siehe Huffman 2005, 5 f.; sein Geburtsdatum kann nicht auf ein festes Jahr, sondern nur grob auf das Intervall von 435 v. Chr. bis 410 v. Chr. bestimmt werden. Zu Eudoxos (wo sich eine sehr komplexe Situation zeigt) siehe M. Folkerts, Art. „Eudoxos [1]“, DNP 4, 223–225 und ausführlich Lasserre 1966, 137–139, De Santillana 1940, Heglmeier 1988, 5–18, Waschkies 1977, 34–58, Krämer 1983, 73 f. und Zhmud 1998, 227–232. Vgl. unten Kap. 5.5. 48 Die Angabe „Mathematiker, um 400 v. Chr.“ bei M. Folkerts, Art. „Menaichmos [3]“, DNP 7, 1213 ist irreführend. Der Aufenthalt an der Akademie folgt speziell aus Proklos, in Euc. p. 67, 8–12; vgl. oben Anm. 186 (Diskussion zwischen Menaichmos und Speusippos über das Wesen eines Problems).

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(1) Eine Stelle im pseudo-platonischen Sisyphos (388e8–11) legt nahe, dass das Problem der Würfelverdopplung zur Abfassungszeit des Dialogs mathematisch tatsächlich noch nicht gelöst war (wie bemerkenswerterweise auch das Problem der Kommensurabilität von Diagonale und Seite im Quadrat):49 ὁ τοῦ κύβου διπλασιασμὸς οὐκ οἶσθ’ ὅτι ζητεῖται τοῖς γεωμέτραις ὁπόσος τίς ἐστιν εὑρεθῆναι λόγῳ; αὐτὸς δὲ ὁ κύβος οὐ ζητεῖται αὐτοῖς εἰ κύβος ἐστὶν ἢ μή, ἀλλ’ ἐπίστανται τοῦτό γε. „Weißt du nicht, dass bei den Geometern danach gesucht wird, in der Theorie herauszufinden, wie groß der verdoppelte Würfel ist? Der Würfel selbst wird bei ihnen nicht darauf hin untersucht, ob er ein Würfel ist oder nicht, sondern dies wissen sie.“

Aus der Stelle ergibt sich, dass das Problem der Würfelverdopplung (sei es als gelöstes, sei es als ungelöstes) als ein bekanntes mathematisches Problem gegolten haben muss, vergleichbar, wie der Kontext zeigt, dem Problem der Inkommensurabilität von Quadratseite und -diagonale. Insofern sich die Abfassungszeit des Dialogs angesichts eines spezifischen Verweises auf Kallistratos von Aphidnai in 388c–d auf den Zeitraum zwischen 361 und 350 v. Chr. datieren lässt,50 ergibt sich eine unabhängige Bestätigung dafür, dass gerade in diesem Zeitraum das Problem der Würfelverdopplung im Fokus der mathematischen Forschung stand – und zwar als zugleich eines der zur Zeit wichtigsten und prominentesten mathematischen Probleme. Diese Stelle ist der erste authentische direkte Beleg für die Beschäftigung mit dem Problem.51

|| 49 So Müller 1975, 105 f. (insgesamt zu diesem Dialog 45–106). Freilich muss vor dem Hintergrund der hier gegebenen Rekonstruktion nicht mit Müller angenommen werden, dass diese Äußerung daraus resultiert, dass der Verfasser die vorgeblich deutlich früheren Lösungen von Archytas und Eudoxos als theoretisch ungenügend angesehen habe (siehe unten zu einer genauen Analyse, auch der relevanten Plutarch-Stellen). In jedem Fall ist zuzustimmen, dass „man in der Schule Platons, jedenfalls bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts, das Problem der Würfelverdoppelung […] für noch nicht endgültig gelöst ansah“ (106). Zur Frage, ob diese Beispiele den Kenntnisstand des historischen setting oder der Abfassungszeit spiegeln, siehe Müller 1975, 61 Anm. 4; in jedem Fall ergäbe sich ein sicherer terminus post quem. Zur Kommensurabilität von Seite und Diagonale im Quadrat siehe Sisyphos 388e3–7; siehe hierzu oben Kap. 4.6 (vgl. den Erklärungsversuch Muellers 1975, 60 f.). Die Passage kann als unabhängige Bestätigung der obigen Rekonstruktion dienen. 50 Müller 1975, 101–103; siehe auch Aronadio 2008, 59 mit Anm. 162. 51 Demgegenüber ist die negative Beschreibung des momentanen Zustands der Stereometrie in Politeia VII (R. 528a6–c7, insbesondere R. 528b3 f.) im Allgemeinen zu unspezifisch und im Speziellen unpassend, um als direkter Verweis auf die Würfelverdopplung gedeutet werden zu können (so van der Waerden 1956, 229 f., Zhmud 1998, 242, Zhmud 2006, 106, Izumi 2011, speziell 2–4, Netz 2003b, 506 f., Kouremenos 2011, 357–363 und Menn 2015, 434; ausführliche Kritik hieran schon bei Sachs 1917, 146–160; zur Stelle siehe unten Kap. 5.2.4), auch wenn natürlich die exemplarische Nennung von Würfeln in der Bestimmung des Gegenstands dieser Disziplin als περὶ τὴν τῶν κύβων αὔξην καὶ τὸ βάθους μετέχον („über die Dimension der Würfel und das an Tiefe Teilhabende“) vor dem Hintergrund der zeitgleichen Behandlung gerade dieses Problems erfolgt sein könnte: siehe Huffman 2005, 386. Das Wort αὔξη hat im Kontext nicht die Bedeutung ‚Vergrößerung‘, sondern die (reguläre) Be-

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(2) In den Nomoi – deren Abfassung in mehr oder weniger dieselbe Zeit fällt, sind sie doch Platons letztes Werk – wird die Unkenntnis der Inkommensurabilität als repräsentativ für das fehlende Interesse der Griechen an der Mathematik im Allgemeinen angeführt (Lg. 819c7–820e7).52 Angesichts der Ergebnisse so weit ist dies weniger ein Gegenargument gegen als vielmehr ein Indiz für die Historizität des explizierten Zusammenhangs:53 Gerade die Beschäftigung mit dem Problem der Würfelverdopplung und mithin einem äußerst komplexen und schwer zu lösenden Fall der Inkommensurabilität macht den vorgebrachten Tadel in seinem historischen Kontext verständlich – und legt nahe, dass es sich tatsächlich um eine Thematik handelte, die in der Mathematik dieser Zeit von zentraler Wichtigkeit war. Die Nomoi-Stelle ist nicht die Quelle für spätere fiktionale Spekulationen (die sich etwa in Eratosthenes’ Platonikos manifestiert hätte), sondern hat ein reales Fundament in der wissenschaftshistorischen Situation, in der sich Platon mathematiktheoretisch positioniert. (3) Insofern zu den in Proklos’ Mathematiker-Katalog genannten Geometern in Platons Akademie (bzw. zu den mit ihr verbundenen Geometern) auch Eudoxos zu zählen ist, Eudoxos aber mitsamt seinen Schülern (unter ihnen Menaichmos und Helikon)54 aus Kyzikos nach Athen gekommen sein und dort in der Akademie gemeinsam mit Platon (und den Angehörigen der Akademie) durchgängig Forschungen angestellt haben soll,55 ergeben sich auch von dieser Seite als möglicher Zeitraum der

|| deutung ‚Dimension‘: zum Wort siehe Mugler 1958, 88 f. s. v. („nom affecté par Platon […] à l’expression de la notion de dimension“) und vgl. die im Kontext äquivalente Definition der Stereometrie als τὴν βάθους αὔξης μέθοδον (R. 528d8) (βάθος ist ein „nom abstrait désignant la troisième dimension caractérisant les corps solides ou figures de l’espace, contrairement aux surfaces qui n’ont que les deux dimensions de longueur et de largeur“ [Mugler 1958, 93]; vgl. Aristoteles, Ph. 209a4–6; Euklid, Elem. 11, def. 1; anders Waschkies 2000, 59 f. mit ausführlicher Diskussion der Stelle Aristoteles, Metaph. 1020a7–14, mit dem Ergebnis, dass „die Termini ‚Breite‘ und ‚Tiefe‘ […] in diesen Zeilen offensichtlich keine linear erstreckte Größe“ bezeichnen; man beachte jedoch R. 528b2, wo τὸ βάθους μετέχον kaum in einem anderen Sinne verstanden werden kann); ferner ist die δευτέρα αὔξη die zweite Dimension (R. 528b1) und die τρίτη αὔξη die dritte Dimension (R. 528b1); vgl. unten Kap. 6.7. Der andere frühe Beleg für die Beschäftigung mit der Würfelverdoppelung ist im Timaios zu finden, wenn darauf hingewiesen wird, dass zwei Flächen zwar von einer mittleren Proportionalen verbunden werden, zwei Körper hingegen von zweien (Ti. 31b4–32c1), mithin ein Verweis auf die (wenn sie es denn war) ‚Reformulierung des Problems‘ durch Hippokrates vorliegt (vgl. oben sowie unten Kap. 7.2). 52 Siehe insgesamt zur Stelle Schöpsdau 2003, 609–616; vgl. oben Kap. 4.6. Anders deutet die Stelle Waschkies 2000b, 49–62. Zu den Nomoi siehe Diogenes Laertios 3, 37. 53 So Kouremenos 2011, 352 f. 54 Helikon ist mit Platon und (vor allem) Eudoxos verbunden; siehe neben Plutarch, De genio Socratis 579A8–D3 (siehe unten) auch Plutarch, Dion 19, 6 sowie bei Platon Ep. 13, 360c2–4. 55 Siehe Proklos, in Euc. p. 67, 19 f., nach der Aufzählung von (wie es scheint) mit Eudoxos im Rahmen seiner kyzikenischen Schule verbundenen Mathematikern: διῆγον οὖν οὗτοι μετ’ ἀλλήλων ἐν Ἀκαδημίᾳ κοινὰς ποιούμενοι τὰς ζητήσεις. Dies ist nicht zwingend als „These men lived together in the Academy, making their inquiries in common“ (Morrow 1992, 56) zu verstehen: διάγειν mit Partizip bedeutet primär „continue doing so and so“ (LSJ s. v. II 2 d; vgl. Kühner & Gerth § 482, 15: „διάγω, bin

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Beschäftigung mit der Würfelverdopplung im skizzierten Rahmen die Jahre von 361 v. Chr. bis spätestens 348/7 v. Chr., Platons Todesjahr.56 Wenn diese Reise eher an das Ende des Zeitraums als an dessen Anfang zu setzen wäre, ergäbe sich sogar ein noch enger umgrenzter Zeitraum von ungefähr 355 bis 350 v. Chr.57 Dann wären unter den in den Zeugnissen zum Delischen Problem genannten ‚Geometern in der Akademie‘58 insbesondere Eudoxos und seine Schüler zu verstehen; Archytas hingegen wäre nicht unbedingt persönlich, sondern möglicherweise nur brieflich (oder auf anderem Weg schriftlich) beteiligt worden (dies konvergiert mit Plutarchs Version: siehe unten).59 (4) Auch wenn das Problem der Würfelverdopplung traditionell als eines der drei ‚klassischen‘ Probleme der griechischen Mathematik gilt (siehe oben, insbesondere mit Anm. 1), ist diese Bezeichnung irreführend: Wie die dank Eutokios (und Pappos) relativ umfassende Kenntnis der Lösungsversuche zum Problem belegt, stand es für die meiste Zeit tatsächlich nicht im Mittelpunkt der mathematischen Forschung.60

|| fortwährend“). Der Satz bedeutet also: „Diese Männer waren fortwährend damit beschäftigt, gemeinsam in der Akademie ihre Forschungen durchzuführen.“ Impliziert ist nicht, dass eine Lebensgemeinschaft hätte bestehen müssen, auch wenn dies andererseits weder implizit noch explizit ausgeschlossen wird. Das Zeugnis hängt offenkundig nicht von Eratosthenes, speziell dem Platonikos ab. 56 Siehe Waschkies 1977, 55–58. 57 Lasserre 1966, 140 bestimmt den Zeitpunkt der Reise nach Athen hinreichend ungenau mit „um 350“; seiner Rekonstruktion zufolge ist Begrenzung des Intervalls einerseits die Gründung der eigenen Schule in Kyzikos (um 363/2 v. Chr.?; terminus post quem ist 366 v. Chr.: siehe Waschkies 1977, 58), von wo aus er Kontakt mit Maussolos (gestorben im Jahr 353 v. Chr.) gehabt haben soll, und andererseits die Rückkehr nach Knidos vor seinem Tod im Jahr 338/7 v. Chr. Andererseits bestimmt De Santillana 1940, 261 f. die Akme auf das Jahr 357 v. Chr. (dagegen Lasserre 1966, 138). Wenn diese mit der Entdeckung der ‚krummen Linien‘ (καμπύλαι γραμμαί) zusammenfiele (vgl. unten Anm. 191), wäre der Anfang der Beschäftigung mit der Würfelverdopplung auf den Beginn des Jahrzehnts zu datieren. Dies ist ebenso kompatibel mit den hier erzielten Ergebnissen. 58 Vgl. oben die Einleitung (Kap. 1) mit Eudemos’ (bei Proklos überliefertem) Mathematikerkatalog. 59 Es ist nicht notwendig, die Angabe zu Archytas im Eratosthenes-Brief (Eutokios, in Archim. Sph. Cyl. p. 90, 2–4) als Interpolation zu bestimmen; so Knorr 1986, 20 f. Ebenso wenig ergibt sich generell ein Einwand gegen die Delier-Anekdote; so etwa Zhmud 2006, 93. Hier ist παρὰ τῷ Πλάτωνι im Sinn von ‚Platons Einflussbereich‘ = ‚Umfeld‘ zu verstehen (vgl. Schwyzer 2, 493 f., speziell 494: „häufiger aber vom ganzen Umkreis (Wohnstätte), auch Machtbereich einer Person“); ἐν Ἀκαδημίᾳ impliziert nicht zwingend eine aktuale Präsenz in der Akademie als Örtlichkeit (vgl. Schwyzer 2, 454–458, speziell 455; anders Knorr 1986, 21: „the ancient biographical traditions do not mention an actual residence by Archytas at the Academy“; dieser Einwand wäre im gegebenen Kontext auch sachlich nicht relevant und hätte in Anbetracht der Spärlichkeit der Zeugnisse kaum Beweiskraft). Vielmehr drückt die Formulierung παρὰ τῷ Πλάτωνι ἐν Ἀκαδημίᾳ lediglich eine (wie eng auch immer zu bestimmende) Verbindung zur Akademie und zugleich Platons (im Ausmaß ebenfalls nicht spezifizierte) Einflussnahme aus. Siehe zum Verhältnis von Platon und Archytas Lloyd 1990. 60 Irreführend Zhmud 1998, 215: „For Greek mathematics the Delian problem was not unlike Fermat’s theorem for modern mathematics: there is hardly a single famous Greek mathematician from Hippocrates of Chios (c. 440 B.C.) to Pappus Alexandrinus (fourth century A.D.) who does not propose his own solution to this problem.“

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Abgesehen von den obigen Ergebnissen zur Frühgeschichte des Problems (Kap. 5.2.1) zeigen sich (neben vereinzelten Lösungen) zwei zeitlich klar umgrenzte Nester von Lösungsvorschlägen, nämlich neben dem mit Archytas, Eudoxos und Menaichmos verbundenen ein weiteres um (grob) das Jahr 200 v. Chr. Dies ergibt sich aus der aus Eutokios’ Referat folgenden Reihung der Urheber der (noch zu seiner Zeit) bezeugten Lösungen mitsamt ihren (zum Teil vermuteten) Lebensdaten: Platon, Heron (nach Archimedes, vor Pappos, wohl nachchristlich),61 Philon (1. Hälfte 2. Jh. v. Chr.?),62 Apollonios (ca. 260–190 v. Chr.),63 Diokles (um 190/180 v. Chr.),64 Pappos (1. Hälfte 4. Jh. n. Chr.),65 Sporos (um 200 n. Chr.),66 Menaichmos, Archytas, Eratosthenes (3. Jh. v. Chr.) und Nikomedes (ungefährer Zeitgenosse des Eratosthenes).67 Was Eratosthenes angeht, stützen die vier Beobachtungen das erzielte Ergebnis: Sowohl der im Brief an Ptolemaios geschilderte als auch der (mutmaßlich) im Platonikos referierte historische Verlauf der Beschäftigung mit dem Problem der Würfelverdopplung entspricht im Großen und Ganzen der historischen Realität. Insbesondere ist von den folgenden Details auszugehen: Das Problem der Würfelverdopplung stand im Rahmen einer gemeinsamen Anstrengung in Form des Findens zweier mittlerer Proportionaler im Zeitraum von 360 v. Chr. bis 350 v. Chr. im Fokus der Fachmathematik. Hierfür gab es einen äußeren Anstoß, das Orakel für die Delier. Im Rahmen des Versuchs der Lösung kam Platon und der Akademie eine vermittelnde und lenkende Rolle zu, sei es nur als soziale Institution mit Verbindung zur Fachmathematik. Dem allgemeinen Bild entsprechen die übrigen Zeugnisse zur Delier-Anekdote, auch wenn die Details aufgrund von Auslassungen und / oder Zusätzen variieren, dies jedoch nirgends in signifikanter Weise (zum als problematisch geltenden methodologischen Tadel Platons siehe unten Kap. 5.3.2): (1) Plutarch, De genio Socratis 579A8–D3: Anlass ist das Orakel (eingeholt wegen Übeln); die Delier erreichen Platon auf seiner Rückreise aus Ägypten (die freilich auf das setting des Dialogs bei Plutarch zurückzuführen und also fiktiv sein dürfte);68 die

|| 61 Siehe M. Folkerts, Art. „Heron“, DNP 5, 480–483; siehe für eine knappe Skizze der kontroversen Frage der Datierung Herons Tybjerg 2005, 205 und jüngst Masià 2015 (beide mit weiterer Literatur). 62 Siehe M. Folkerts, Art. „Philon [7]“, DNP 9, 848 f. 63 Siehe M. Folkerts, Art. „Apollonios [13]“, DNP 1, 885–887. 64 Siehe M. Folkerts, Art. „Diokles [8]“, DNP 3, 613. 65 Siehe M. Folkerts, Art. „Pappos von Alexandria“, DNP 9, 296 f.; siehe auch oben Anm. 10. 66 Siehe M. Folkerts, Art. „Sporos“, DNP 11, 837. 67 Siehe M. Folkerts, Art. „Nikomedes [3]“, DNP 8, 930 f. Zu ergänzen wäre gegebenenfalls noch Eudoxos’ Lösung auf der Grundlage von „krummen Linien“, die Eutokios jedoch als nicht authentisch ausdrücklich nicht referieren mag (siehe oben); vgl. für einen Überblick (und zur Frage, was für eine Lösung dies gewesen sein könnte) Knorr 1986, 52–61 (sein eigener Vorschlag identifiziert ihn mit ‚Platons‘ am Anfang der Eutokios-Passage vorgestellter Lösung). 68 In der Dialogfiktion ist die Stelle in den inneren politischen Wirren des Jahres 379 v. Chr. in Theben lokalisiert; die historische Kontextualisierung geht auf Plutarch zurück: siehe Knorr 1986, 2 f. Eine auch im setting mehr oder weniger direkte Wiedergabe von Eratosthenes (sei es des Briefs, sei es

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Delier alleine scheitern; Platon klärt über den Zweck des Orakels auf und will das Problem an Eudoxos und Helikon zur Lösung weitergeben. (2) Plutarch, De E apud Delphos 386D11–E10: Anlass ist das Orakel; Platon klärt über dessen Zweck auf. (3) Asklepios von Tralleis, in Nicomachi introductionem arithmeticam p. 61: Anlass ist das Orakel (eingeholt wegen einer Seuche); die Delier scheitern; Platon gibt die Frage an (ungenannte) Mathematiker weiter, deren Lösungen (mehr oder weniger korrekt) als ‚konisch‘ und ‚linear‘ klassifiziert sind (Menaichmos, Eudoxos [?], Archytas), eine explizite Information, die sich sonst nicht findet. (4) Vitruv, De architectura 9, praef. 13 f.: Anlass ist das Orakel (in Verbindung mit der Seuche); angeführt sind lediglich Archytas’ und (wohlgemerkt) Eratosthenes’ Lösung; Platon ist nicht genannt. (5) Anonymus, Prolegomena in Platonis philosophiam 5, 13–24: Anlass ist das Orakel (eingeholt wegen einer Seuche), doch wird es den Athenern gegeben; Platon klärt über den eigentlichen Zweck des Orakels auf und gibt den Athenern den Rat, eine mittlere Proportionale zu finden, was diese dann ohne Hilfe der Mathematiker tun (die spezifischen Abweichungen und der offenkundige mathematische Fehler lassen dieses Zeugnis als insgesamt weniger relevant erscheinen). (6) Philoponos, in Aristotelis Analytica posteriora p. 102, 12–23: Anlass ist ein Orakel (eingeholt wegen einer Seuche); Platon klärt über dessen eigentlichen Zweck auf und übergibt das Problem seinen Schülern; diese finden Lösungen und veröffentlichen Schriften hierzu, ein Punkt, der ansonsten nirgends explizit bezeugt ist, gleichwohl plausibel das Vorhandensein der überlieferten Lösungen erklärte. (7) Valerius Maximus, Factorum et dictorum memorabilia 8, 12, ext. 1: Anfrage bei Platon von Seiten der Delier; Übergabe des Problems an (wohlgemerkt) Euklid (Kürze und Fehlerhaftigkeit lassen dieses Zeugnis als weniger relevant erscheinen). Im Großen und Ganzen zeigt sich eine signifikante Übereinstimmung der Zeugnisse. Diese betrifft insbesondere, auch im Eratosthenes-Zitat bei Theon (De utilitate mathematicae p. 2, 3–12), den jeweils explizit als Seuche (λοιμός) bezeichneten Anlass der Einholung des Orakels durch die Delier. Insgesamt stützt dies die Annahme der Möglichkeit der Historizität des gesamten Anekdotenkomplexes; dies gilt vor allem angesichts der Tatsache, dass die spezifischen Abweichungen im Detail einerseits nicht relevant sind oder als solche erwiesen werden können (siehe unten), andererseits aber doch so verschieden sind, dass sie die Annahme einer einzigen Quelle (sprich: Eratosthenes) unwahrscheinlich machen. Im Gegenteil erscheint es an diesem Punkt nicht als unwahrscheinlich – und ist so weit in jedem Fall nicht aufgrund der Beschaffenheit der Zeugnisse ausgeschlossen –, dass sie in der Tat auf ein historisches Ereignis zurückgehen könnten.

|| des Platonikos) zu sehen ist (wie Netz den eigenen Vorschlag sogleich unter Vorbehalt stellt) „mere speculation, which perhaps does not do justice to Plutarch’s originality“ (Netz 2003b, 508 Anm. 26).

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5.2.3 Die archäologische und historische Perspektive Der letzte Abschnitt hat gezeigt, dass die Delier-Anekdote der historischen Realität hat entsprechen können. Dies impliziert allerdings noch nicht, dass dies auch tatsächlich der Fall war. Aus diesem Grund ist eine Prüfung der entfalteten Rekonstruktion aus historischer und archäologischer Perspektive angezeigt, insbesondere weil gravierende Zweifel hinsichtlich zweier zentraler Punkte vorgebracht worden sind: (1) Das Orakel habe überhaupt nicht den Deliern gegeben werden können, da die Verwaltung des Heiligtums auf Delos im 4. Jh. v. Chr. den athenischen Amphiktyonen unterstand.69 (2) Weder der Apollon-Altar auf Delos noch, soweit man weiß, irgendein anderer antiker Altar habe jemals Würfelform besessen.70 (1) Grundsätzlich impliziert die Delier-Anekdote nicht, dass das Orakel von der Tempelverwaltung eingeholt worden sein musste: Tempel und Altar fungieren primär nur als Gegenstand des Orakelspruchs, sind also erst nach dessen Einholung betroffen, und zwar vom spezifischen Inhalt des Spruchs. Grund dafür, das Orakel einzuholen, hatten primär nur die Delier selbst, denn sie waren (der Anekdote zufolge) von der Seuche betroffen. Sie waren aber zu dieser Zeit politisch autonom: Die Athener hatten Kompetenzen lediglich im Bereich des Heiligtums.71 Aus diesem Grund geht der Einwand insgesamt ins Leere. Im Speziellen zeigt sich, dass trotz der Verantwortung der athenischen Amphiktyonie für das Heiligtum auch die Delier selbst in die Administration eingebunden waren: Ihnen oblag zwar nicht die allgemeine und insbesondere finanzielle Verwaltung (hierfür waren in der Tat die Athener allein zuständig), wohl aber die bauliche Instandhaltung und Pflege des Heiligtums mitsamt den dort deponierten Weihgaben; die Delier scheinen mitunter auch autonome Entscheidungen bezüglich des Heiligtums selbst getroffen zu haben.72 Insgesamt zeigt sich in der für die Beschäftigung mit der Würfelverdopplung erschlossenen relevanten Zeitspanne eine enge und konfliktfreie Zusammenarbeit zwischen Deliern und Athenern, das heißt konkret zwischen || 69 Siehe Wilamowitz-Moellendorff 1941, 48 f. (freilich zweifelt er nur den Teil zur Gesandtschaft an; ausdrücklich spricht er sich nicht gegen die Möglichkeit aus, dass das Problem der Würfelverdopplung von Platon oder in der Akademie behandelt worden sein könnte) und Geus 2002, 175. Für einen Überblick über die historischen Verhältnisse bezüglich des Heiligtums siehe Rhodes & Osborne 2003, 142–144 und umfassend Chankowski 2008; vgl. Dreher 1995, 198–234. Die Tempelverwaltung durch die Athener begann allem Anschein nach 378/7 v. Chr.; vorher wurde der Tempel seit einem Zeitpunkt kurz nach dem Königsfrieden von den Deliern selbst verwaltet: siehe Dreher 1995, 198. 70 So Kouremenos 2011, 347 f. 71 Siehe knapp Dreher 1995, 234 f. 72 Siehe Chankowski 2008, 247–249. Einen Einblick in die Verwaltungstätigkeit der athenischen Amphiktyonen gibt der umfangreiche Rechenschaftsbericht für den Zeitraum 378/7–374/3 v. Chr.: Rhodes & Osborne 2003, Nr. 28 (134–146; mit Kommentar) = ID 98. Ansonsten sind alle Inschriften gesammelt und umfassend analysiert bei Chankowski 2008, speziell 413–497 die Rechenschaftsberichte der Amphiktyonen aus dem 4. Jh. v. Chr.

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einem Übergriff auf die athenischen Amphiktyonen im Jahre 376/5 v. Chr. und mehreren Prozessen gegen die athenischen Beamten zur Mitte der 340er Jahre v. Chr.73 Mit der festgestellten Aufgabenteilung konvergiert, dass im Platonikos-Testimonium zur Delier-Anekdote bei Theon die Anfrage an die Akademie speziell von Architekten(Handwerker-)Seite kommt (De utilitate mathematicae p. 2, 3–12).74 (2) Bei Eratosthenes, dem wissenschaftshistorisch entscheidenden Zeugen, ist nur unspezifisch die Rede von ‚einem der Altäre‘ (Brief: τινὰ τῶν βωμῶν [Eutokios, in Archim. Sph. Cyl. p. 90, 1]) bzw. ‚Altar‘ (Platonikos: βωμοῦ [De utilitate mathematicae p. 2, 9]) sowie davon, dass man nicht gewusst habe, wie man einen Körper verdoppeln könne (Platonikos: ὅπως χρὴ στερεὸν στερεοῦ γενέσθαι διπλάσιον [De utilitate mathematicae p. 2, 7]). Damit aber muss vom Altar grundsätzlich nicht angenommen werden, dass er tatsächlich die mathematische Form eines Würfels besessen hätte. Dies wäre sachlich nicht notwendig: Die Würfelverdopplung ist (wie in Eratosthenes’ Brief explizit hervorgehoben und in der Platonikos-Passage implizit deutlich wird) der Spezialfall der Verdoppelung (allgemeiner: beliebigen Skalierung) eines beliebigen Körpers: Analog zur Würfelverdoppelung gilt auch bei formerhaltender Volumenverdoppelung etwa eines Quaders oder einer Pyramide, dass die Seiten paarweise im Verhältnis von 1:³√2 stehen (bzw. allgemeiner die Ausdehnung in jeder der drei Dimensionen um diesen oder einen anderen beliebigen Faktor zu vergrößern ist, der mit der kubischen Wurzel des Skalierungsfaktors des Volumenverhältnisses gegeben ist). Die Äquivalenz war im Kontext griechischer Mathematik angesichts der Problemgeschichte sowie der üblichen Herangehensweise transparent: Man denke nur an Euklid, Elem. 2 für den analogen Fall der Fläche, speziell Elem. 2, 14, mit Hilfe welcher Proposition jede geradlinig begrenzte Fläche in ein flächengleiches Quadrat als Referenzform transformiert werden konnte; dasselbe ließ sich schon oben in Hinsicht auf die Definition der Inkommensurabilität im Theaitetos feststellen.75 Insofern wäre es nicht verwunderlich, wenn auch im Dreidimensionalen der Würfel zum exemplarischen Untersuchungsgegenstand der Verdoppelung bzw. Halbierung sowie allgemein beliebigen Skalierung avanciert wäre: Die gleiche Länge der Seiten erleichtert die Konstruktion des gesuchten Körpers, welche aber gleichwohl (so wäre jedenfalls die naheliegende Ausgangshypothese der Erforschung des Problems im Allgemei-

|| 73 Siehe Chankowski 2008, 249–257 sowie Dreher 1995, 227–231 (der 229 feststellt, dass „es für die Periode von 375 bis 346 kein Zeugnis […] für anti-athenische Maßnahmen der Delier“ gebe); zum ersten Zwischenfall siehe Dreher 1995, 203–215; zum zweiten Chankowski 2001. 74 Hiervon unbeschadet ist, dass der Hauptteil der Arbeiten wohl von nicht-delischen Handwerkern von Nachbarinseln umgesetzt worden sein dürfte: siehe allgemein Davis 1937, 119. 75 Tht. 147d–148b; siehe oben Kap. 4.6. Diesem Gedanken entspricht die Rekonstruktion einer ursprünglichen Form des Beweises der Äquivalenz der Würfelverdopplung mit dem Auffinden der zwei mittleren Proportionalen bei Saito 1995. Vgl. Epin. 990d6–e1. Zur Verbindung der Würfelverdopplung mit der Methode der Flächenanlegung siehe schon Sturm 1895, 13 f.; dies konvergiert mit dem Kontext, der für Hippokrates’ Beschäftigung mit dem Problem vorgeschlagen wurde: vgl. oben Kap. 5.2.1.

Zur Geschichte des Delischen Problems | 201

nen) auf alle mathematischen Körper erweiterbar oder übertragbar wäre. In den späteren Testimonien könnte dann freilich explizit deshalb von einem würfelförmigen Altar gesprochen worden sein, weil deren Autoren (im Gegensatz zu Eratosthenes) im Unwissen über den mathematischen Sachverhalt und angesichts des Umstands, dass das Stichwort für das Problem in der mathematischen Forschung ‚Verdopplung des Würfels‘ lautete, diese Spezifizierung als naheliegende, aber eben eventuell doch historisch falsche Ausschmückung und / oder Vereinfachung supplierten. Dies stärkt die Annahme der Historizität der Anekdote: (a) Wäre sie erfunden worden, hätte man nicht die Verdoppelung eines bekanntermaßen nicht-würfelförmigen Altars als Anlass für die Beschäftigung mit der Würfelverdopplung gewählt (es ist ein Altar auf Delos), denn die Beziehung zwischen beiden Problemen ist ohne Erläuterung nur im voraussetzungsreichen Kontext fortgeschrittener mathematischer Theorie verständlich, für die es eben keinen Unterschied macht, ob ein Würfel, Quader, Prisma oder Kegel zu verdoppeln ist. (b) Eratosthenes hätte im postulierten fiktionalisierten Kontext des Platonikos darauf verzichtet, dem Altar Würfelform zu geben, denn auch hier gilt, dass er ansonsten die mathematischen Zusammenhänge in einer an mathematische Laien gerichteten Schrift ausführlich hätte erläutern müssen. Die beiden Einwände von historischer und archäologischer Seite müssen damit als entkräftet gelten. Diese Entkräftung führt jedoch zu mehreren epigraphischen und archäologischen Indizien, die ihrerseits positiv die Historizität der Anekdote und speziell die Richtigkeit der hier entwickelten Rekonstruktion insbesondere in chronologischer Hinsicht erweisen – freilich unter dem Vorbehalt, dass einige der Punkte zu den am kontroversesten diskutierten Fragen der delischen Archäologie gehören.76 Der letzte Punkt spiegelt sich darin, dass sich zwei partiell leicht differierende (aber nicht zwingend inkompatible) Rekonstruktionsvorschläge auf der Grundlage des verfügbaren archäologischen Materials explizieren lassen: (1) Ab kurz vor dem Jahr 360 v. Chr. bis in die Mitte der 340er Jahre v. Chr. ist epigraphisch das Wirken von athenischen ναοποιοί auf Delos belegt, einem Kollegium von drei jeweils für ein Jahr amtierenden Magistraten, die den Amphiktyonen unterstellt waren; sie scheinen kurz vorher ernannt worden zu sein.77 Obwohl die interpretatorische Situation dadurch erschwert ist, dass derartige ναοποιοί generell, sieht man in erster Linie von Delphi ab,78 sehr selten bezeugt sind und ihr vollständiges Wirken auf Delos aus den Inschriften nicht hinreichend sicher erschließbar ist, ist zum einen in allgemeiner Hinsicht evident, dass sie ihrem Namen entsprechend mit || 76 Einen Einblick in die kontrovers diskutierte Problemlage gibt Bruneau 1995, 323–326. 77 Die Inschriften sind gesammelt bei Chankowski 2008, 499–518; konkret handelt es sich um die Zeugnisse ID 104–4 (kurz vor 360 v. Chr.); ID 104–5 (359/8 v. Chr.); ID 104–6 (um 350 v. Chr.); ID 104– 23 (346/5 v. Chr.); ID 104–22 (345/4 v. Chr. [?]); ID 104–24 + Δ613 (345/4 v. Chr.). Im mehr oder weniger komplett erhaltenen Rechenschaftsbericht ID 98 zu den Jahren 378/7–374/3 v. Chr. finden sich keine Angaben zur Kompensation von ναοποιοί (siehe Chankowski 2008, 238; siehe auch oben Anm. 72). 78 Siehe knapp Wittenburg 1978, 74 mit Anm. 1 (dort weitere Literatur).

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der Organisation von Tempelbaumaßnahmen befasst waren, und zum anderen in spezieller Hinsicht, dass sie auf Delos die Aufgabe der Errichtung des Tempels GD 42 (‚Pythion‘) hatten; zumindest ist das früheste Zeugnis zu ihnen ein umfangreicher Text zu Details der Bauarbeiten an diesem Gebäude (ID 104–4).79 Hinsichtlich der Delier-Anekdote ergibt sich, dass, wie in der Forschung bisher nicht berücksichtigt wurde, für den als relevant erschlossenen Zeitraum der 350er Jahre v. Chr. in der Tat umfangreiche Baumaßnahmen im Apollon-Heiligtum auf Delos vorgenommen wurden. Auch wenn diese primär einen Tempel betrafen, schließt dies nicht aus, dass sie mit der Verdoppelung eines Altars in Verbindung gestanden haben können, gegebenenfalls sekundär zur Harmonisierung des kultischen oder architektonischen Kontextes oder primär mit einer hieraus resultierenden baulichen Veränderung des dazugehörigen Tempels selbst. Dies wäre um so wahrscheinlicher, wenn die (archäologisch freilich nicht genau datierbare) wohlgemerkt exakte Verdoppelung der Höhe der Nord- und Südflanke des an den Tempel GD 42 unmittelbar angrenzenden (mehr oder weniger) halbkreisförmigen Apsiden-Baus GD 39 in dieser Zeit stattgefunden haben sollte; dieser Apsiden-Bau war möglicherweise mit dem berühmten Hörner-Altar des Apollon verbunden, etwa als Podest oder Einfassung.80 Angesichts dessen könnte es sich bei dem bei Eratosthenes und in den anderen Zeugnissen nicht näher spezifizierten Altar – des Öfteren ist hier ja von ‚dem‘ Altar

|| 79 Siehe Chankowski 2008, 237–240 und knapp Chankowski 2001, 179 f. (sowie Wittenburg 1978, 74– 88). Ihrer Einschätzung nach sei dieses Kollegium eingerichtet worden „vers 360, au moment où fut entreprise la construction d’un nouveau temple dans le sanctuaire d’Apollon délien. Sans doute s’agit-il de l’édifice GD 42“ (Chankowski 2001, 180); der Zusammenhang mit GD 42 ergibt sich aus ID 104–4 mit aller Wahrscheinlichkeit (für frühere Identifikationen des Baus siehe Wittenburg 1978, 75 f. und Gallet de Santerre 1982, 201–203); mit Baumaßnahmen hängen auch die Inschriften ID 104– 5 und ID 104–6 zusammen; die restlichen der oben in Anm. 77 angeführten Inschriften sind spätere Rechenschaftsberichte, hauptsächlich zu Rechtstreitigkeiten; aus ID 104–24 + Δ613 ergibt sich jedoch, dass im Jahr 345/4 v. Chr. der Bau von GD 42 recht weit fortgeschritten war. Zur allgemeinen Aufgabe: Die Mitglieder des Kollegiums „avaient principalement un rôle financier : délivrer les paiements, infliger et encaisser les amendes à l’encontre d’adjudicataires défaillants, ainsi qu’un pouvoir de décision en cas de litiges entre adjudicataires“ (Chankowski 2001, 180); dabei scheint zugleich der Fall zu sein, „daß die Aufsicht über die Bautätigkeit weitgehend vom Architekten und Unterarchitekten ausgeübt wurde“ (Wittenburg 1978, 87). Die delphischen ναοποιοί erscheinen im Jahr 373/2 v. Chr. im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau des Apollon-Tempels (siehe Chankowski 2008, 238, mit weiterer Literatur). Zur Identifikation von GD 42 mit dem Pythion siehe Bruneau 1995, 326 (mit weiterer Literatur). 80 Prominenter Proponent der Identifikation von Hörneraltar (mit Κερατών) und GD 39 ist Bruneau 1995; siehe auch Kuhn 1985, 233–241; zu den spärlichen Überresten von GD 39 siehe Bruneau 1995, 328–330. Das Delische Problem mit der Verdoppelung der Höhe der Mauer (und überhaupt das erste Mal mit archäologischen Zeugnissen) bringt in Zusammenhang Bruneau 1995, 332–334; Bruneau datiert die Delier-Anekdote allerdings an den Anfang des 4. Jhs. v. Chr. (wegen Ägyptenreise; impliziter Autonomie der Delier). Siehe auch Chankowski 2008, 73 mit Anm. 96, die als Kritik einwendet, dass archäologisch eben nur die Verdoppelung der Mauer, nicht des Altars greifbar sei.

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auf Delos die Rede81 – in der Tat um den kultisch zentralen Hörner-Altar gehandelt haben. Dann wären zwar einerseits keine archäologischen Spuren einer Verdopplung des Altars selbst zu erwarten, denn er bestand ja aus organischem Material. Andererseits könnten sich sekundär sehr wohl Folgen dieser Verdoppelung zeigen, etwa in den Resten einer Struktur wie GD 39: Zum Beispiel könnte die Mauer aus ästhetischen, kultischen oder ähnlichen Gründen zur Harmonisierung an den neugestalteten Altar angepasst worden sein oder die Mauer könnte in irgendeiner Form doch als (mittelbar) integraler Bestandteil des Altars selbst angesehen worden sein (so legt es etwa Kallimachos, Ap. 61–64 nahe).82 Angesichts der engen baulichen Verhältnisse im Heiligtum wäre nicht unplausibel, wenn tatsächlich – ähnlich wie Philoponos, in Aristotelis Analytica posteriora p. 102, 12–23 und Anonymus, Prolegomena in Platonis philosophiam 5, 13–24 referieren – der Altar und mit ihm sein Podest, das heißt GD 39, im ersten Versuch lediglich in einer einzigen Dimension, nämlich in der Höhe, verdoppelt worden sein könnte; dies wäre angesichts der engen Bebauung des Kultbezirks ja auch die naheliegende und einzig ohne schwerwiegende Eingriffe in das Gebäudeensemble zu vollziehende Ausführung eines solchen Auftrags. Zugleich wäre aufgrund der baulichen Verhältnisse des Apsidenbaus GD 39 die Annahme angezeigt, dass der Altar in der Tat nicht würfelförmig war, sondern eine kreisförmige Grundfläche gehabt haben könnte, mithin Kegelform hatte.83 Eine derartige Rekonstruktion erklärt, warum die ναοποιοί allem Anschein nach primär hauptsächlich mit dem Tempel GD 42 verbunden waren: Während die mit GD 39 verbundenen Baumaßnahmen weniger umfangreich gewesen wären und möglicherweise auch über die Amphiktyonen organisiert waren (für die wir für diesen Zeitraum keine epigraphischen Zeugnisse haben) – und es als fragwürdig erscheint, dass die ναοποιοί im genuin kultischen Bereich des Altars hätten wirken können –, wäre für den Neubau eines Tempels ein deutlich größerer logistischer und architektonischer Aufwand erforderlich gewesen, etwa in Hinsicht auf das Besorgen von passenden Steinen etc. (von welchem Problem ja speziell das chronologisch erste Dokument zu den ναοποιοί, die Inschrift ID 104–4, longe et late handelt). (2) In dem soeben unterbreiteten Rekonstruktionsvorschlag bleibt offen, warum man gerade um das Jahr 360 v. Chr. mit dem Neubau des Tempels begann – eine direkte Verbindung zur Verdoppelung des Altars zeigt sich im aufgezeigten Kontext ja nicht. Selbstverständlich wäre es denkbar, dass das Orakel in einem – dann nicht überlieferten – Teil auch diesen Auftrag beinhaltet haben könnte oder man aus eigener Initiative dem Gott einen zusätzlichen Dienst erweisen wollte. Eine befriedigen|| 81 Dies scheint auch in anderen Kontexten tatsächlich den Hörneraltar zu meinen, nämlich als zentralen Altar auf Delos: siehe knapp Bruneau 1995, 322 f. 82 Siehe zu dieser Stelle Williams 1978, 59–63. Als Argument gegen die Historizität der Delischen Anekdote ist die Aussage, dass „the problem of doubling a cube can have nothing to do with doubling the thickness of walls“ (Kouremenos 2011, 348), ein non sequitur. 83 Siehe Bruneau 1995, 328.

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dere Lösung zeigt sich jedoch, wenn man berücksichtigt, dass der Tempel GD 42, von den Athenern wohlgemerkt für den pythischen Apollon gebaut,84 offenkundig der mit Abstand größte Apollon-Tempel auf Delos war: Der gesamte Tempel hatte eine Ausdehnung von 23,38 m x 17,33 m, die Innenmaße (ohne Pronaos) sind 16 m x 16,90 m; damit war er fast exakt gleich groß wie der Apollon-Tempel in Delphi selbst.85 Die außerordentliche Größe des Tempels ist bemerkenswert und fordert eine Erklärung. Sie gibt Roux dahingehend, dass es sich tatsächlich um den „vrai temple d’Apollon à Délos“ gehandelt habe, der seit den Ursprüngen des delischen Heiligtums als Herberge für den als Reliquie verehrten, da aitiologisch mit der Gründung des Heiligtums verbundenen Hörner-Altar gedient habe (vgl. unter anderem Kallimachos, Ap. 61–64).86 Hieraus folgt kurz: L’hypothèse la plus plausible est donc que l’autel des cornes et l’autel du Pythion, logé au cœur du sanctuaire dans le plus grand temple de Délos, ne forment qu’un seul et même monument.87

Wenn diese Deutung des archäologischen Befunds selbst richtig ist – freilich wurden gewichtige Einwände erhoben, die hier nicht im sachlich gebotenen Umfang diskutiert werden können88 –, zeigt sich eine im gegebenen, mathematikhistorischen Rahmen simple und bisher in der Forschung noch nicht erwogene Erklärung dafür, warum bezüglich des Tempels GD 42 ab (ungefähr) dem Jahr 360 v. Chr. (Neu-) Baumaßnahmen unter der Leitung der ναοποιοί durchgeführt wurden: Der Hörneraltar musste angesichts des delphischen Orakelspruchs verdoppelt werden – und mit ihm der Tempel als dessen Herberge, die ansonsten nicht mehr genug Platz geboten hätte; oder, alternativ, der Tempel musste gänzlich neu errichtet werden, da der Hörneraltar bis zu diesem Zeitpunkt nur den κερατών als festinstallierte baldachinartige Herberge gehabt hatte, diese dann also erstmalig in das Pythion integriert wurde. || 84 Dieser Umstand wird zu Recht als erklärungsbedürftig angesehen: siehe Chankowski 2008, 261 f. 85 Siehe Roux 1979, 122. 86 Der Hörneraltar bestand aus Ziegenhörnern, aus denen allein er antiken Zeugnissen zufolge kunstfertig ohne weitere Hilfsmittel und Materialien gebaut gewesen sein soll: siehe Kallimachos, Ap. 61–64 und Plutarch, De sollertia animalium 983D–E (wo der Altar als eines der sieben Weltwunder bezeichnet wird). Es handelte sich damit nicht um einen Altar nach Art des Zeusaltars in Olympia, der durch die Opfer mit der Zeit wuchs: siehe knapp Bruneau 1995, 328. 87 Roux 1979, 126. 88 Ausführliche Kritik an Roux’ Vorschlag bei Bruneau 1981, 79–106; knapp Kuhn 1985, 235; siehe größtenteils zustimmend Gallet de Santerre 1982. Die Kritik an Roux müsste eine plausible Antwort darauf finden, warum die Ausmaße des Tempels GD 42 und seine zentrale Stellung im Heiligtum so exzeptionell sind. Die Formulierung bei Plutarch, De sollertia animalium 983E (ἐμοὶ δὲ πολλάκις ἰδόντι καὶ θιγόντι παρίσταται λέγειν καὶ ᾄδειν ‚Δήλῳ δή ποτε τοῖον Ἀπόλλωνος παρὰ ναῷ‘ τὸν κεράτινον βωμὸν εἶδον) ist im Übrigen insofern kein Gegenargument gegen Roux’ These (so Kuhn 1985, 235 Anm. 425), als Ἀπόλλωνος παρὰ ναῷ primär εἶδον adverbiell näher bestimmt, mithin den Standpunkt des Sehens qualifiziert (von wo aus man den Altar dann etwa durch die Türen des Pythion hindurch von außerhalb hätte sehen können, das heißt von einer Position ‚neben dem Tempel‘).

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Dieser Rekonstruktionsvorschlag kann zentrale Fragen zum archäologischen Material selbst beantworten. Insbesondere wird die erklärungsbedürftige Weihung des Tempels GD 42 für den pythischen Apollon an zentraler Stelle des Heiligtums seitens der Athener transparent:89 Der Kult des pythischen Apollon, so darf ausgehend von den Zeugnissen zur Delier-Anekdote vermutet werden, wäre gerade in der Folge der Umsetzung des pythischen Orakelspruchs in Delos eingeführt worden. Der schwerwiegende architektonische Eingriff wäre dann das Gegenstück zur Schwere des kultischen Eingriffs gewesen, der durch die Verdoppelung des als zentraler Reliquie verehrten und als Zeugnis einer Wundertat Apollons in seiner Kindheit an sich unantastbaren Altars seitens des delphischen Orakels zur Altarverdopplung gegeben war90 – ein Orakel, das, wie sich erkennen lässt, eine immense politische und kultische Bedeutung hatte. Schließlich klären sich zwei weitere, bisher nicht recht verstandene Aspekte, die sich mit den archäologischen Zeugnissen verbinden: (1) Der Innenraum des Tempels hatte mit 16 m x 16,90 m einen fast exakt quadratischen Grundriss. Dies muss nicht implizieren, dass der Altar Würfelform hatte, sondern dies wäre auch mit einer Kegelform vereinbar – die der Altar allem Anschein nach auch in der Tat hatte (siehe oben mit Anm. 83). (2) In der erwähnten, kurz vor 360 v. Chr. verfassten Inschrift ID 104–4 werden ausführlich die Maße der im Bau des Tempels GD 42 zu verwendenden Steine beschrieben. Merkwürdigerweise stimmen diese Maße nicht – jedenfalls soweit aufgrund der archäologischen Funde erkenntlich – mit denjenigen der tatsächlich verbauten Steine überein.91 Dies hat in der Forschung dazu geführt, generell an der Identifikation des Gebäudes GD 42 mit dem Tempel zu zweifeln, dessen Bau die ναοποιοί zu besorgen hatten – wohlgemerkt ungeachtet der Tatsache, dass zahlreiche deutlich schwerer wiegende Gründe die Identifikation dieser beiden Gebäude sehr plausibel machen.92 Zur Erklärung des Sachverhalts wurde angenommen, dass die Steine n’étaient pas ajustées, voire quelque peu retaillées sur place. Une autre hypothèse consisterait à penser qu’entre l’adjudication et le début des travaux est survenu un événement (problèmes de terrain?) qui a obligé à remodeler le plan du bâtiment, à changer les mesures des blocs, et finalement à procéder à une autre adjudication, non conservée.93

|| 89 Siehe oben Anm. 84 und Bruneau 1990, 587: „l’intervention serait énorme d’avoir logé Apollon Délien chez Apollon Pythien. Bref, on dirait bien que les Athéniens ont introduit Apollon Pythien à Délos, mais l’intérêt politique qu’ils trouvaient à le promouvoir ainsi ne m’apparaît pour l’instant pas.“ Besonders seltsam und erklärungsbedürftig ist, „pourquoi les Athéniens ont dédié au dieu de Delphes une des constructions majeures du sanctuaire de Délos“ (Bruneau 1995, 332). 90 Zum anzunehmenden hohen Alter des Altars siehe Bruneau 1995, 328: „Il fallait que l’Autel existât depuis long temps, j’ose dire : depuis l’installation d’Apollon à Délos.“ 91 Zur Gesamtproblematik siehe Hellmann 1980, insbesondere 157–159. 92 Siehe Hellmann 1980, 158 für die Forschungssituation sowie auch Chankowski 2008, 260. 93 Hellmann 1980, 159; siehe auch Chankowski 2008, 260.

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Der hier gegebene Deutungsvorschlag führt zu einer simplen Lösung: Die Abweichung in den Maßen beruht nicht auf technischen Problemen während der Durchführung des Baus, sondern spiegelt den Neuansatz nach dem Feststellen des Fehlschlags des ursprünglichen Versuchs der Verdoppelung von Altar und Tempel, mithin den nach der Konsultation der Akademie modifizierten Bauplan. Dies impliziert, dass sich der Altar tatsächlich im Tempel befunden haben wird. Welchen dieser beiden (letztlich durchaus kompatiblen) archäologischen Rekonstruktionsvorschläge man für plausibler hält, ist im gegebenen Zusammenhang unerheblich. Fest steht nämlich, dass die archäologischen und epigraphischen Zeugnisse auf umfangreiche bauliche Maßnahmen im Heiligtum, speziell in Bezug auf einen Tempel-(Neu-)Bau, verweisen, die um das Jahr 360 v. Chr. ihren Anfang nahmen, mithin exakt mit dem erschlossenen Zeitpunkt des Orakels für die Delier und dem Anfang der mathematischen Beschäftigung mit der Würfelverdopplung zusammenfallen. Im Ergebnis führt das archäologische und epigraphische Material nicht, wie oftmals angenommen, zu einer Widerlegung der Historizität der Delier-Anekdote. Im Gegenteil liefert es eine unabhängige Bestätigung der separat erschlossenen wissenschaftshistorischen Zusammenhänge. Es ergibt sich die folgende Verfeinerung der Chronologie: Das Orakel muss kurz vor 360 v. Chr. ergangen sein; die Epidemie (oder Ähnliches) entsprechend zumindest irgendwann in der letzten Hälfte der 360er Jahre v. Chr. (und gegebenenfalls davor) gewütet haben; und die baulichen Maßnahmen wurden nach Einsetzung der ναοποιοί ab 360 v. Chr. eingeleitet, woraufhin man sich schließlich, da die Epidemie nicht aufhörte, zur Klärung des zuerst, das heißt aus Ignoranz der mit der Verdoppelung eines Körpers verbundenen mathematischen Zusammenhänge, nicht problematisch erscheinenden Orakels an die Akademie als bekannten Ort der Fachmathematik um Rat wandte. Für diese Anfrage kommt der Zeitraum von ca. 355 v. Chr. bis ca. 350 v. Chr. in Betracht.

5.2.4 Fazit Ausgehend von der Beobachtung, dass das Problem der Verdoppelung des Würfels (allgemein Körpers) insbesondere in der ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. im Fokus der mathematischen Forschung stand und dass die antiken Testimonien Platon eine zentrale organisatorische Rolle im Rahmen der Bemühungen zur Lösung des Problems und sogar die Formulierung einer eigenen Lösung zusprechen, und es deswegen als lohnend erschien, diesen Problemkomplex zur Rekonstruktion der mathematischen Modellierung zur Zeit Platons zu untersuchen, hat eine kritische Würdigung der philosophie- und wissenschaftshistorischen Zeugnisse einerseits sowie der archäologischen und historischen Indizien andererseits ergeben, dass die in der Überlieferung und speziell bei Eratosthenes berichteten Begebenheiten allem Anschein nach nicht nur möglich, sondern im Großen und Ganzen historisch sind, dass also speziell diejenige Anekdote, die das ‚Delische Problem‘ mit Platon verbindet, verlässlich ist.

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Insgesamt ergibt sich die folgende Rekonstruktion des chronologischen Verlaufs: Ohne konkreten Anlass (oder vielleicht doch im Ausgang von einer Beschäftigung mit handwerklichen Skalenmodellen, παραδείγματα?) stellte Hippokrates von Chios als erster eine Behauptung zu den zwei mittleren Proportionalen auf (sei es mit Bezug auf eine Würfelverdopplung oder Skalierung eines Körpers oder in irgendeinem beliebigen anderen Zusammenhang), ohne Beweis und gegebenenfalls auf der Grundlage eines spekulativen Analogieschlusses; dies war (oder wurde später als solche interpretiert) die erste und einzige Operationalisierung des Problems der Würfelverdopplung. Während weder Hippokrates selbst noch andere das Problem lösen konnten (wenn er oder sie es denn überhaupt versuchten oder sie sich überhaupt mit dieser Frage auseinandergesetzt hatten), stellte sich etwa ein halbes Jahrhundert nach Hippokrates den Deliern um 360 v. Chr. dasselbe (oder als solches von Platon und den Mathematikern in der Akademie gedeutete) Problem, und zwar in einem ebenfalls (und diesmal gesichert) praktisch-handwerklichen Kontext, nämlich als Verdopplung eines Altars (und / oder Tempels) aufgrund eines delphischen Orakelspruchs (der mit der Einführung des Kults des delphischen Apollon in Delos in Verbindung stand). Da keine praktische (und / oder theoretische) Lösung existierte (und man im handwerklich-praktischen Rahmen nicht vermochte, eine Lösung zu finden und / oder mit dem ersten Versuch gescheitert war), wandte man sich an die bekannten Mathematiker der Zeit, und diese waren entweder in Platons Akademie zu finden oder mit ihr eng verbunden; zumindest war dieser Ort für einen Delier (bzw. Athener) die erste Anlaufstelle, um um Hilfe in derartigen Fragen zu bitten.94 Angesichts ihrer Schwierigkeit (und des mit ihr verbundenen theoretischen Interesses, handelt es sich doch um ein zentrales Problem der zu dieser Zeit auch im Zweidimensionalen erforschten Inkommensurabilität einschließlich des Verhältnisses von Quadratseite und -diagonale) avancierte die Würfelverdopplung zu einer zentralen Herausforderung für die mathematische Forschung, und es wurden in den Jahren bis etwa 350 v. Chr. verschiedene Lösungen erarbeitet, die die mathematische Fachtheorie in wichtigen Punkten voranbrachten, unter anderem von Archytas, Eudoxos (?) und Menaichmos. Konträr zur communis opinio steht fest, dass die Anekdote vom Delischen Problem weder insgesamt noch partiell fiktiv ist, sondern mit aller Wahrscheinlichkeit historisch korrekt ist. Auf dieser Grundlage kann in einem zweiten Schritt der in der Überlieferung Platon zugeschriebene Ansatz zum Delischen Problem als potentiell genuines, wenn auch indirekt überliefertes Platon-Zeugnis in den Blick genommen werden. Dies ist nicht nur deshalb lohnend, weil sich möglicherweise ein direkter Einblick in Platons eigene Praxis der mathematischen Modellierung zeigt, sondern

|| 94 Auch in dieser Hinsicht ist nicht problematisch (vgl. Hiller 1870, 67), dass sich in einigen Zeugnissen die Delier direkt an die Geometer in der Akademie wenden, in anderen hingegen an Platon, welcher das Problem dann an diese weiterleitet (vgl. oben) – zumal es angesichts der hier erzielten Ergebnisse fragwürdig wäre, hier überhaupt einen signifikanten Unterschied sehen zu wollen.

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auch deshalb, weil dieser Ansatz in Verbindung mit einem mechanischen Modell entgegentritt und im Kontext einer methodologischen Diskussion zum Einsatz derartiger Modelle zur Lösung mathematischer Probleme steht, auch und gerade in Hinsicht auf Platon und die Akademie. Freilich zeigt sich eine ebenso schwierige Quellenlage und kontroverse Forschungsdiskussion wie beim Delischen Problem insgesamt, mit der Folge, dass eine gleichfalls umfassende Untersuchung erforderlich ist. Zuvor ist ein wichtiges Ergebnis festzuhalten: Wenn die explizierte Rekonstruktion so weit adäquat ist, war erstens die Akademie ein zentraler Ort mathematischer Forschung im Griechenland dieser Zeit, also speziell zur Mitte des 4. Jhs. v. Chr. im Zeitraum von (gesichert ab ungefähr) 360 v. Chr. bis zu Platons Tod; und zweitens waren in der griechischen Kultur mathematische Kenntnisse im Bereich der dreidimensionalen Geometrie wenig verbreitet, und zwar wohlgemerkt auch und gerade in einer praktischen, handwerklichen Dimension, ein Umstand, der angesichts der hohen Relevanz von Skalenmodellen (παραδείγματα) im Bereich der Architektur etc. prima vista überraschen mag. Die naheliegende Erklärung ist, dass zwar Skalenmodelle benutzt wurden, diese aber nicht in ihren mathematischen Eigenschaften verstanden wurden, und dies nicht einmal in einer ihrer wichtigsten Eigenschaften, dem Volumen. Dies ist jedoch um so bemerkenswerter, als das Finden der beiden mittleren Proportionalen für die dreidimensionale Geometrie an sich als ein sachlich zentrales Problem hätte gelten müssen, zumindest aus der Perspektive der zweidimensionalen Geometrie, wo die mittlere Proportionale ein zentraler Baustein der gesamten späteren mathematischen Theorie ist, nicht nur, wie gesehen, im Bereich der Inkommensurabilität, sondern auch zum Zweck der ‚Quadratur‘ (sei es des Kreises, sei es des Rechtecks oder sei es einer beliebigen polygonalen Fläche), in diesem Kontext das zentrale Instrument für die Feststellung von Flächengleichheit.95 Der Schluss hieraus ist erneut: Vor der ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. (und speziell 360 v. Chr.) war abstraktes, theoretisches mathematisches Wissen nach dem Muster Euklids in Griechenland weder verbreitet noch verfügbar. Positiv formuliert: Das zweite Viertel des 4. Jhs. v. Chr. war eine Zeit des Fortschritts in der Mathematik. Mit diesem Befund konvergiert, was Platon zum Stand der Entwicklung der Geometrie des Dreidimensionalen äußert. In einer vieldiskutierten Stelle in der Politeia heißt es, dass sie sich in einem „lächerlichen Zustand der Erforschung befindet“ (R. 528d8 f.: τῇ ζητήσει γελοίως ἔχει) und sich das folgende Bild zeige (R. 528b3–d1): ἀλλὰ ταῦτά γε, ὦ Σώκρατες, δοκεῖ οὔπω ηὑρῆσθαι. – Διττὰ γάρ, ἦν δ’ ἐγώ, τὰ αἴτια· ὅτι τε οὐδεμία πόλις ἐντίμως αὐτὰ ἔχει, ἀσθενῶς ζητεῖται χαλεπὰ ὄντα, ἐπιστάτου τε δέονται οἱ ζητοῦντες, ἄνευ

|| 95 Vgl. Euklid, Elem. 2, 14 (siehe oben). Es wäre lohnend, Euklid, Elem. 2 weder als (geometrische) Algebra noch als rein mit theoretischen Fragen beschäftigte Fach-Geometrie zu lesen, sondern als Projekt der theoretischen Durchdringung eines Problemkomplexes, der seinen Ursprung in der praktischen Handwerkskunst der Landvermessung hatte. So in weitem Rahmen Høyrup 2001 (alte babylonische Tradition); vgl. Neugebauer 1969, 147–151. Vgl. oben Kap. 1 sowie Anm. 36.

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οὗ οὐκ ἂν εὕροιεν, ὃν πρῶτον μὲν γενέσθαι χαλεπόν, ἔπειτα καὶ γενομένου, ὡς νῦν ἔχει, οὐκ ἂν πείθοιντο οἱ περὶ ταῦτα ζητητικοὶ μεγαλοφρονούμενοι. εἰ δὲ πόλις ὅλη συνεπιστατοῖ ἐντίμως ἄγουσα αὐτά, οὗτοί τε ἂν πείθοιντο καὶ συνεχῶς τε ἂν καὶ ἐντόνως ζητούμενα ἐκφανῆ γένοιτο ὅπῃ ἔχει· ἐπεὶ καὶ νῦν ὑπὸ τῶν πολλῶν ἀτιμαζόμενα καὶ κολουόμενα, ὑπὸ δὲ τῶν ζητούντων λόγον οὐκ ἐχόντων καθ’ ὅτι χρήσιμα, ὅμως πρὸς ἅπαντα ταῦτα βίᾳ ὑπὸ χάριτος αὐξάνεται, καὶ οὐδὲν θαυμαστὸν αὐτὰ φανῆναι. – Καὶ μὲν δή, ἔφη, τό γε ἐπίχαρι καὶ διαφερόντως ἔχει. „Aber diese Dinge [sc. die Geometrie des Dreidimensionalen], Sokrates, scheinen bisher noch nicht gefunden worden zu sein.“ – „Zweierlei Grund nämlich“, sagte ich, „gibt es hierfür. Sowohl deshalb, weil keine Polis sie in Ehren hält, werden sie in Angesicht ihrer Schwierigkeit ohne Elan erforscht, und die Forscher benötigen einen Vorsteher, ohne den sie es nicht herausfinden könnten, welcher erstens nur mit Mühe entsteht und welchem gegenüber dann, wenn er entstanden ist (wie es jetzt der Fall ist), die Forscher in dieser Sache überheblich sind. Wenn aber die Polis als ganze gemeinsam als Vorsteher wirkt und diese Dinge in Ehren hält, dürften diese wohl folgen und diese Dinge würden kontinuierlich und intensiv beforscht, so dass transparent würde, wie es sich mit ihnen verhält, denn sogar zum jetzigen Zeitpunkt werden sie, obwohl sie von den meisten zwar nicht geehrt und abgetan werden, von den Forschern, ohne dass sie bezüglich dieser Dinge theoretisch Rechenschaft ablegen können, inwieweit sie nützlich sind, dennoch im Angesicht all dessen mit Kraft unter dem Einfluss ihrer Anmut vorangetrieben, und es ist kein Wunder, dass sie ans Tageslicht gekommen sind.“ – „In der Tat“, sagte er, „gerade das Anmutige besitzen diese Dinge in ganz außerordentlichem Maße.“

Wie immer bei solchen Zeugnissen ist fraglich, auf welchen Zeitpunkt sich die dialoginternen Äußerungen beziehen, auf die fiktionale Situation oder die Umstände zur Zeit der Abfassung der Schrift. Angesichts der Ergebnisse so weit ist jedoch (wie bei den anderen analysierten mathematischen Stellen aus Platons Dialogen, insbesondere in Men. 82a7–85b7 und Tht. 147d–148b) deutlich, dass sich Platon auf seine eigene Zeit bezieht. Dann ist der „Vorsteher“ – und zwar nicht nur in Kallipolis zum Zweck der Ausbildung der Wächter, sondern als jemand, den es jetzt (νῦν) gibt – Platon selbst. Dies konvergiert mit den Zeugnissen der indirekten Tradition, die Platon diese Rolle in der Entwicklung der Mathematik in historischer Hinsicht zuweisen.96 Angesichts der Delischen Anekdote lässt sich diese konkret (auch) auf die Erforschung der Würfelverdopplung in den 350er Jahren v. Chr. beziehen,97 und zwar als || 96 Philodemos, Acad. Ind. p. 152 f.: siehe oben Kap. 1.2; letztlich lässt sich auch Proklos, in Euc. p. 66, 8–14 in diesem Sinne lesen, wenn auch weniger eindeutig. Zur Kritik an dieser Sicht vgl. oben Kap. 1.2 und siehe speziell Zhmud 1998. 97 Wie erwähnt wird die Parallelität in der Forschung oftmals als Argument gegen die Historizität der Anekdote zum Delischen Problem vorgebracht. Die wahrscheinliche, aus unabhängigen Zeugnissen gewonnene Historizität der Anekdote macht aber noch einmal deutlich, dass es sich methodologisch um ein non sequitur handelt: vgl. speziell oben Anm. 21. Wenn im Übrigen in der Politeia-Stelle tatsächlich ein Verweis auf die Würfelverdoppelung vorliegt (siehe oben Anm. 51; nichtsdestoweniger bezieht sich das Demonstrativpronomen ταῦτα [R. 528b3] eindeutig auf die Mathematik der dritten Dimension insgesamt), hat dies Auswirkungen auf die Datierung der Politeia. Dass dieser Dialog im Allgemeinen früher datiert wird, steht dem nicht entgegen: Die Kriterien der Datierung platonischer Schriften sind oftmals fragwürdig; dies betrifft insbesondere die verbreiteten stilometrischen

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eine der ersten Anstrengungen im Bereich der Geometrie des Dreidimensionalen. Ob wir Platon und der Akademie dabei eine konzeptionelle oder institutionelle Dominanz zuerkennen, ist damit noch nicht entschieden – diese Frage kann jedoch nicht im Sinne eines pauschalen Gegenarguments gegen die Annahme der wissenschaftsorganisatorischen Relevanz Platons für die Fachmathematik dienen.98 Diese muss vielmehr bis auf Weiteres als historische Gegebenheit gelten. Damit scheiden einerseits speziell Archytas und Eudoxos als die von Platon gemeinten „Vorsteher“ aus; andererseits erscheint die Politeia-Stelle als Werbung für die Akademie und das Betreiben von Mathematik, pointiert gestützt durch einen mehr oder weniger dezenten Verweis auf die erfolgreiche Lösung eines komplizierten handwerklich-praktischen Problems bei einem politisch und kultisch wichtigen Vorzeigeprojekt. In der Tat sind für die Geometrie des Dreidimensionalen für die Frühzeit kaum mathematische Einsichten bezeugt. Archytas’ (und / oder Eudoxos’) Lösung zur Würfelverdopplung scheiden angesichts der Ergebnisse zum Delischen Problem in dieser Hinsicht aus;99 es verbleibt nur Theaitetos’ Beschäftigung mit den regulären Körpern, doch auch bei dieser sind angesichts des Materials und der notorischen chronologi-

|| Untersuchungen. Eine Diskussion der Problematik führt hier jedoch zu weit; vgl. aber oben Anm. 1143 sowie Anm. 42. 98 Vgl. Zhmud 2006, 86: „Plato’s powerful intellect uncovers the essence of the problem and formulates it for the mathêmatikoi; they then compete among themselves and in the end come up with an answer.“ So auch Kouremenos 2011, 345: „The implicit point of the account relating Plato and the fourth-century BC solutions to the problem of doubling a cube […] is that, as head of the Academy, Plato presided imperiously over a coterie of highly competent mathematicians, to whom he handed over problems to be solved.“ Beschreibungen wie diese liefern kein Argument gegen die Relevanz der Akademie in mathematischer Hinsicht; es handelt sich um ein non sequitur. 99 Zu Archytas als dem der communis opinio zufolge mit Abstand ersten Vertreter der Stereometrie vgl. Huffman 2005, 355 f.: „Archytas’ solution is remarkable in a number of ways. Above all it is the first solution we know of, and likely to be the first solution ever, to the problem of finding two mean proportionals in continued proportion between two given lines. This in itself is enough to ensure Archytas a significant place in the history of Greek mathematics. Archytas’ solution is also the earliest piece of solid geometry that we possess.“ Relevant ist die Einsicht zur Chronologie auch deshalb, weil von Archytas ansonsten überhaupt keine Beschäftigung im Bereich der (zwei- und dreidimensionalen) Geometrie nachzuweisen ist, diese also, wenn die gemachten Beobachtungen richtig sind, einzig auf die Erforschung der Würfelverdopplung im Rahmen der Akademie beschränkt wäre; siehe für einen Überblick Huffman 2005, 46–51. Andererseits gibt es auf der Grundlage der hier erzielten Ergebnisse keinen Grund, mit Brisson 2013 Archytas (und Eudoxos) den überlieferten Ansatz zur Würfelverdopplung insofern abzusprechen, als um 360 v. Chr. angesichts der oben (Kap. 5.2.2) zitierten Sisyphos-Stelle (388e8–11) das Problem allem Anschein nach mathematisch noch nicht als gelöst galt und es andererseits signifikante Widersprüche zwischen den Zeugnissen bei Eutokios und bei Plutarch gebe (zu Letzteren siehe unten Kap. 5.3). Man beachte im Übrigen die mutmaßlich frühe Stelle Euthd. 290b7–c6, wo die Stereometrie in der Aufzählung der mathematischen Disziplinen in auffälliger Weise fehlt (Arithmetik, Geometrie und Astronomie); gleichwohl unterliegt dieselbe (oder zumindest eine ähnliche) ontologische Bestimmung der Gegenstände der Mathematik, denn sie sind als τὰ ὄντα bezeichnet: siehe zu diesem Problemkomplex unten Kap. 6.

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schen Probleme Zweifel erlaubt (siehe oben Kap. 4.6). Auch im praktischen Bereich finden sich nur spärliche Zeugnisse für eine derartige Geometrie; dies gilt speziell für den Bereich des Ingenieurwesens oder der Architektur, wo die Verwendung solcher Mittel eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Neben (wie es sich aus den erzielten Ergebnisse ergibt, anscheinend mathematisch unverstandenen) Skalenmodellen – deren Einsatz sich ja bis ins 6. Jh. v. Chr. gesichert zurückverfolgen lässt – ist hier im Wesentlichen nur der Einsatz einfacher proportionentheoretischer Einsichten auf der Grundlage (niedriger) natürlicher Zahlen in Verbindung mit der traditionellen, praktisch ausgerichteten zweidimensionalen Geometrie bezeugt, sogar in einem Vorzeigeprojekt wie dem Parthenon in der zweiten Hälfte des 5. Jhs. v. Chr.100 So überrascht kaum, dass Platon Sokrates im Gespräch mit Glaukon in der systematischen Entfaltung der mathematischen Disziplinen in Politeia VII effektvoll die Stereometrie vergessen lässt: Auf Arithmetik und Geometrie folgt sogleich die Astronomie, doch, so stellt Sokrates fest, nachdem er diese schon zu behandeln angefangen hat, der Sache nach folge auf die Geometrie als Untersuchung des Zweidimensionalen eigentlich die Stereometrie, die Untersuchung des Dreidimensionalen, und zwar in Ruhe und nicht wie in der Astronomie in (Dreh-) Bewegung (R. 528a6–b4).101 Ebenso wenig überrascht, dass Sokrates am Abschluss des Abschnitts noch einmal die Definition der Stereometrie im Kontrast zur Astronomie ausdrücklich und im Vergleich auffällig ausführlich wiederholt. Dies wäre angesichts des Entwicklungsstands und Unbekanntheit dieser Disziplin sachlich in der Tat angezeigt (R. 528d1–e3).

|| 100 Zur Mathematik in der Architektur des 5. Jhs. v. Chr. vgl. exempli gratia und instruktiv Lehman & Weinman 2018 zum Parthenon, die, wohlgemerkt für einen relativ späten Zeitraum wie 447–432 v. Chr., eine algorithmische (und eben nicht formal-deduktive), stark durch nahöstliche Einflüsse geprägte mathematische Basis der im Bau verwendeten mathematischen Verhältnisse nachweisen können, speziell in Form einer vergleichsweise simplen (und nicht-inkommensurablen) Proportion von 81 : 36 : 16, die außerdem vor dem Hintergrund der Wechselwegnahme (Anthyphairesis) steht. Ein ähnliches Bild zeigt sich noch beim (später erbauten) Theater von Epidauros: siehe Käppel 1989. Man beachte auch, dass Archytas’ Lösung der Würfelverdopplung in der ursprünglichen (und nicht durch Eudemos und moderne Rekonstruktionen überformten) Version nicht auf kinematischer Bewegung und dem Schnitt von Flächen dreidimensionaler Körper beruhte, sondern mit zweidimensionalen Objekten, speziell Dreiecken operierte: siehe unten Anm. 134. Vgl. Hahn 1987 und Hahn 2017. 101 Die Drehbewegung ist eine ausgezeichnete und im Rahmen der platonischen Ontologie vornehmlich interessante Form der Bewegung (ist sie doch die rationalste Form der Bewegung: vgl. unten Kap. 7 zum Timaios). Gleichwohl hat ‚Astronomie‘ insgesamt einen weiteren Gegenstandsbereich, denn sie beschäftigt sich nicht nur mit Körpern in Drehbewegung, sondern generell mit der ‚Ortsbewegung der Tiefe‘ bzw. (wenn man das abstractum für ein concretum nimmt) ‚Ortsbewegung des Körpers‘ (R. 528d10: φορὰν […] βάθους) (zur zweiten Übersetzung siehe Mugler 1958, 93 und vgl. oben Anm. 51; siehe auch unten Kap. 6.7). Man vergleiche die Gegenstandsbestimmung der Astronomie in Grg. 451c8 f.: Sie handele „von der Bewegung der Sterne, der Sonne und des Mondes und davon, wie sich diese in Hinsicht auf ihre Geschwindigkeiten zueinander verhalten“ (περὶ τὴν τῶν ἄστρων φορὰν καὶ ἡλίου καὶ σελήνης, πῶς πρὸς ἄλληλα τάχους ἔχει). Allgemein zur kinematischen Natur der platonischen Astronomie siehe Mourelatos 1981.

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Die Schlussfolgerung ist, dass in der Politeia-Stelle – über die Werbung für die Akademie als Ort innovativer mathematischer Forschung hinaus – die Forderung nach einer systematischen Erweiterung der Mathematik im Sinn einer dezidiert dreidimensionalen Disziplin erfolgt, und zwar geleitet von einer abstrakten Theorie des Gesamtzusammenhangs der mathematischen Disziplinen, in Abkehr von der impliziten Definition, wie sie sich aus ihren traditionellen praktischen Ursprüngen ergibt. Dann kann es jedoch nicht verwundern, wenn in einem solchen mathematikhistorischen Zusammenhang grundsätzliche methodologische Diskussionen geführt werden und Platon an ihnen an vorderster Stelle teilnimmt – und dass diese Diskussionen sachlich signifikante Unterschiede in Hinsicht auf die mathematische Praxis betreffen und ihren Kern, die Modellierung mathematischer Sachverhalte, berühren. In diesem Sinne wird der folgende Abschnitt einen Blick auf die weiteren Zeugnisse zum Delischen Problem werfen, ausgehend von einer Analyse desjenigen Lösungsansatzes, den die antiken Zeugnisse Platon zuschreiben – der jedoch, auf den ersten Blick gewiss unerwartet, gerade eine praktische, physikalisch-körperliche Basis hat.

5.3 Platons Würfelverdopplung und der mechanische Beweis Der in der Reihenfolge erste der bei Eutokios im Detail referierten Vorschläge zur Lösung des Problems der Würfelverdopplung ist ein Ansatz, der Platon zugeschrieben wird (Eutokios, in Archim. Sph. Cyl. p. 56, 13–58, 14). Er operiert mit einem mechanischen Werkzeug: da Platon derartige Hilfsmittel allem Anschein nach abgelehnt hat (vgl. Politeia VII), „eine bekannte Crux!“102 In diesem Abschnitt werde ich ‚Platons‘ mechanischen Ansatz aus einer modelltheoretischen Perspektive in seinem spezifischen wissenschaftsgeschichtlichen Kontext lokalisieren, um hierauf aufbauend die mit Platon verbundene methodologische Diskussion zur Legitimität ‚mechanischer‘ Ansätze in der Mathematik zu beleuchten und ihr Verhältnis zu mathematischen Lösungen im engeren Sinn zu bestimmen. Da die relevanten Zeugnisse entgegen der communis opinio nicht auf Eratosthenes’ fiktionalen Dialog Platonikos zurückgehen können, besteht grundsätzlich die Aussicht darauf, verlässliche, wenn auch indirekt überlieferte Einsichten zu einem entscheidenden Moment in der Geschichte der Fachmathematik zu erlangen, und zwar aus der Binnenperspektive der beteiligten wissenschaftlichen Akteure auf den Kern ihrer eigenen Tätigkeit, die Modellierung mathematischer Sachverhalte.

|| 102 Das Zitat Becker 1951, 300. Für weitere Positionen siehe unten Kap. 5.3.1. Vgl. exempli gratia Huffman 2005, 380: „to accept that Plato solved the problem by relying on a physical instrument […] runs the risk of making Plato seriously contradict the principle, clearly enunciated in Republic VII, that mathematics should lead us away from the physical to the intelligible.“

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5.3.1 Platons Lösung Der Text der bei Eutokios Platon zugeschriebenen Lösung lautet wie folgt:103 Ὡς Πλάτων. Δύο δοθεισῶν εὐθειῶν δύο μέσας ἀνάλογον εὑρεῖν ἐν συνεχεῖ ἀναλογίᾳ. ἔστωσαν αἱ δοθεῖσαι δύο εὐθεῖαι αἱ ΑΒΓ πρὸς ὀρθὰς ἀλλήλαις, ὧν δεῖ δύο μέσας ἀνάλογον εὑρεῖν. ἐκβεβλήσθωσαν ἐπ’ εὐθείας ἐπὶ τὰ Δ, Ε, καὶ κατεσκευάσθω ὀρθὴ γωνία ἡ ὑπὸ ΖΗΘ, καὶ ἐν ἑνὶ σκέλει, οἷον τῷ ΖΗ, κινείσθω κανὼν ὁ ΚΛ ἐν σωλῆνί τινι ὄντι ἐν τῷ ΖΗ οὕτως, ὥστε παράλληλον αὐτὸν διαμένειν τῷ ΗΘ. ἔσται δὲ τοῦτο, ἐὰν καὶ ἕτερον κανόνιον νοηθῇ συμφυὲς τῷ ΘΗ, παράλληλον δὲ τῷ ΖΗ, ὡς τὸ ΘΜ· σωληνισθεισῶν γὰρ τῶν ἄνωθεν ἐπιφανειῶν τῶν ΖΗ, ΘΜ σωλῆσιν πελεκινοειδέσιν καὶ τύλων συμφυῶν γενομένων τῷ ΚΛ εἰς τοὺς εἰρημένους σωλῆνας ἔσται ἡ κίνησις τοῦ ΚΛ παράλληλος ἀεὶ τῷ ΗΘ. τούτων οὖν κατεσκευασμένων κείσθω τὸ ἓν σκέλος τῆς γωνίας τυχὸν τὸ ΗΘ ψαῦον τοῦ Γ, καὶ μεταφερέσθω ἥ τε γωνία καὶ ὁ ΚΛ κανὼν ἐπὶ τοσοῦτον, ἄχρις ἂν τὸ μὲν Η σημεῖον ἐπὶ τῆς ΒΔ εὐθείας ᾖ τοῦ ΗΘ σκέλους ψαύοντος τοῦ Γ, ὁ δὲ ΚΛ κανὼν κατὰ μὲν τὸ Κ ψαύῃ τῆς ΒΕ εὐθείας, κατὰ δὲ τὸ λοιπὸν μέρος τοῦ Α, ὥστε εἶναι, ὡς ἔχει ἐπὶ τῆς καταγραφῆς, τὴν μὲν ὀρθὴν γωνίαν θέσιν ἔχουσαν ὡς τὴν ὑπὸ ΓΔΕ, τὸν δὲ ΚΛ κανόνα θέσιν ἔχειν, οἵαν ἔχει ἡ ΕΑ· τούτων γὰρ γεναμένων ἔσται τὸ προκείμενον. ὀρθῶν γὰρ οὐσῶν τῶν πρὸς τοῖς Δ, Ε ἔστιν, ὡς ἡ ΓΒ πρὸς ΒΔ, ἡ ΔΒ πρὸς ΒΕ καὶ ἡ ΕΒ πρὸς ΒΑ. Wie Platon Bei zwei gegebenen geraden Strecken zwei mittlere Proportionale in zusammenhängender Proportion zu finden. Stehen die zwei gegebenen Strecken ΑΒΓ, zu denen zwei mittlere Proportionale gefunden werden sollen, im rechten Winkel aufeinander. Seien sie in gerader Linie zu den Punkten Δ, Ε verlängert. Sei der rechte Winkel ΖΗΘ hergestellt. Bewege sich das Lineal ΚΛ auf einem Schenkel, etwa ΖΗ, in einer Rille in ΖΗ derart, dass es parallel zu ΗΘ bleibe. Dies wird dann der Fall sein, wenn ein weiteres kleines Lineal wie ΘΜ hinzugedacht wird, angebracht an ΘΗ und parallel zu ΖΗ. Wenn nämlich die oberen Oberflächen von ΖΗ, ΘΜ in den schwalben-

|| 103 Die Diagramme sind (wie der Text) Heibergs 1915, 56 bzw. 57 Ausgabe entnommen; gezeigt ist ein mathematisches Diagramm (rechts) und ein Diagramm des mechanischen Geräts (links). Sie entsprechen den von Netz 2004a, 275 partiell textkritisch rekonstruierten Versionen, die er seiner englischen Übersetzung beigibt (siehe 275 f. für Erläuterungen); der einzige wesentliche Unterschied besteht hinsichtlich des mathematischen Diagramms (rechts), das er gemäß dem überwiegenden Überlieferungsbefund mit gleich langen Linien wiedergibt. Das Diagramm zum Gerät ist auch bei Netz nicht vollständig kritisch ediert: „It is almost unique in the Archimedean corpus in offering a detailed three-dimensional perspective“, welche schwer zu beschreiben sei und in den einzelnen Kodizes sehr variiert entgegentrete; „a facsimile of all figures, with discussion, is called for“ (beide Zitate 275; man beachte freilich die oben erzielten Ergebnisse zur Edition von mathematischen Diagrammen, speziell Kap. 4.5). Vgl. unten mit Anm. 155 und siehe Abbildung 11 zur Interaktion von Gerät und Diagramm.

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schwanzförmigen Rillen bewegt werden und da die Nuten am Lineal ΚΛ angebracht sind, wird die Bewegung des Lineals ΚΛ in den genannten Rillen immer parallel zu ΗΘ sein. Wenn dies nun so hergerichtet worden ist, werde ein beliebiger Schenkel des Winkels, ΗΘ, unter Berührung von Γ hingelegt und werde sowohl der Winkel als auch das Lineal ΚΛ so weit fortbewegt, bis einerseits der Punkt Η auf der Strecke ΒΔ liegt unter Berührung des Punktes Γ durch den Schenkel ΗΘ und andererseits das Lineal ΚΛ am Punkt Κ die Strecke ΒΕ berührt und im verbleibenden Teil [sc. irgendwo in Richtung von Λ] den Punkt Α, so dass es so sei, wie es sich in der Zeichnung verhält, nämlich dass der rechte Winkel eine Position wie der Winkel ΓΔΕ hat und das Lineal ΚΛ eine Position, wie sie die Strecke ΕΑ hat. Wenn dies nämlich geschieht, wird das Beabsichtigte der Fall sein. Da nämlich die Winkel an den Punkten Δ, Ε rechte Winkel sind, verhält sich wie die Strecke ΓΒ zu ΒΔ auch die Strecke ΔΒ zu ΒΕ und die Strecke ΕΒ zu ΒΑ.

Dieser Ansatz geht von den zwei in der oben explizierten Operationalisierung in moderner Notation mit a (= ΒΓ) und 2a (= BA) bezeichneten Strecken aus, ordnet diese orthogonal zueinander an und verlängert sie. Die zwei mittleren Proportionalen (x = ΒΔ; y = ΒΕ; mit ΒΓ < ΒΔ < ΒΕ < ΒΑ, also a < x < y < 2a) zwischen den Strecken werden auf den Verlängerungen mittels eines mechanischen Werkzeugs gefunden, das mit der Ausgangslinienkonfiguration interagiert; es handelt sich um ein verstellbares Rechteck, dessen Herstellung ausführlich beschrieben ist.104 Sein Einsatz ist wie folgt: Das Werkzeug ist so auf die Ausgangsstrecken anzulegen, dass einer der festen Winkel einerseits auf der Verlängerung der längeren Strecke zu liegen kommt (also in Δ, so dass sich ΒΔ = x ergibt) und andererseits den Endpunkt (Γ) der kürzeren Ausgangsstrecke (ΒΓ = a) berührt (die Interaktion von Diagramm und Instrument ergibt die neue Strecke ΓΔ = √(a² + x²), gebildet durch das Instrument selbst). Jetzt ist der bewegliche Teil des Werkzeugs, der aufgrund der Konstruktion immer parallel zum festen Arm ist, so einzustellen, dass er den Endpunkt (A) der längeren Ausgangsstrecke berührt (ΒΑ = 2a). Wenn der Winkel am beweglichen Teil des Werkzeugs und des Arms, an dem er befestigt ist, auf der Verlängerung der kürzeren Strecke zu liegen kommt (also in Ε, so dass sich BE = y ergibt), sind die zwei mittleren Proportionalen gefunden, und zwar genau dort, wo das Werkzeug die Verlängerungen der Ausgangs-

|| 104 Der konkrete Grad der Mechanizität dieses Ansatzes im Detail ist insofern unklar, als diese partiell auf den Eingriff des Eutokios (oder einen Zwischenschritt der Überlieferung) zurückzuführen sein könnte. Zumindest ist Derartiges gesichert unter anderem bei der ebenfalls angeführten Lösung durch Heron zu beobachten: siehe Knorr 1989, 15 (während zum Beispiel in Herons eigenem Text [Bel. p. 33, 54–34, 42] von einem „Punkt“ [σημεῖον: p. 34, 11] die Rede ist, findet sich in Eutokios’ Wiedergabe ein τύλος [„pivot“] eines mechanischen Gerätes [Eutokios, in Archim. Sph. Cyl. p. 60, 4]). Hinsichtlich des platonischen Ansatzes kommt Knorr 1989, 78 f. zu dem Schluss, dass „the commentator doubtless has intervened editorially in composing this text, for some of its phrases reappear elsewhere in his survey“; zugleich gelte aber, dass „he nevertheless appears also to have retained certain distinctive features from his source“, insbesondere hinsichtlich der mechanischen Beschreibung. Wie die weitere Diskussion hier zeigt, ist dies im gegebenen theoretischen Rahmen jedoch unerheblich: So oder so ist ein gewissermaßen physikalisch-kinematischer Charakter der Bestimmung der beiden mittleren Proportionalen festzustellen, so dass der Ansatz in jedem Fall als ‚mechanisch‘ gelten muss.

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strecken berührt (also in E und Δ, mithin ΒΔ als erste Proportionale x und ΒΕ als zweite Proportionale y; die Interaktion von Diagramm und Instrument ergibt die neuen Strecken ΔΕ = √(y²+x²) und ΑΕ = √(4a²+y²), gebildet durch das Instrument selbst). In der Tat finden sich in der Endkonfiguration die zwei gesuchten mittleren Proportionalen: Aufgrund der Konstruktion ist, wie explizit festgestellt wird, gewährleistet, dass ΑΕ und ΓΔ parallel sind und sich an B nur rechte Winkel befinden. Dann sind mit Euklid, Elem. 1, 29 die Dreiecke ΑΒΕ und ΒΓΔ ähnliche Dreiecke mit Winkelgleichheit ΒΑΕ = ΒΔΓ und ΑΕΒ = ΒΓΔ. Mit Euklid, Elem. 1, 32 gilt, da Ε ein rechter Winkel ist, die Winkelgleichheit ΒΕΔ = ΒΑΕ und, da Δ ebenfalls ein rechter Winkel ist, die Winkelgleichheit ΒΔΕ = ΒΓΔ. Mit Euklid, Elem. 6, 4 ergeben sich die gesuchten Proportionen; konkret gilt ΒΓ : ΒΔ :: ΒΔ : ΒΕ :: ΒΕ : ΒΑ.105 Damit liefert die mit Hilfe des eigens zu diesem Zweck konzipierten und hergestellten mechanischen Hilfsmittels vollzogene Konstruktion der zwei mittleren Proportionalen ein korrektes Ergebnis. In der communis opinio ist der mechanische Charakter der Konstruktion der zwei Proportionalen Grund dafür, diesen Ansatz Platon kategorisch abzusprechen; „there is almost conclusive reason for thinking that it is wrongly attributed to Plato“:106 Was die modernen Kommentatoren am meisten verblüfft hat, ist die Lösung, die Eutokios Platon selbst zuschreibt. In dieser Lösung kommen Winkelhaken mit Rillen und verschiebbaren Linealen vor, alles Hilfsmittel, die derselbe Platon eben mit so scharfen Worten verurteilt hat. […] Nach dem allgemeinen Urteil der Modernen kann diese Lösung unmöglich Platon zugeschrieben werden.107

Schließlich habe sich Platon dezidiert gegen alles Mechanisch-Physikalische im Rahmen der Mathematik ausgesprochen: Sie zerstörten das Gute, das die Geometrie besitze. Dieser Gedanke liegt in den Testimonien zum Delischen Problem insbesondere der Platon zugeschriebenen Kritik an den Lösungen durch Archytas, Eudoxos und Menaichmos zugrunde (siehe unten Kap. 5.3.2).108 Außerdem werde diese Lösung nicht im oben angeführten Eratosthenes-Zitat bei Eutokios erwähnt, trotz Eratosthenes’ bekannter Platon-Affinität.109 Drittens habe Platon Eudoxos, Helikon und die anderen Mathematiker mit der Lösung beauftragt und sich also nicht selbst an ihr versucht. Viertens sei ‚Platons‘ Lösung mit derjenigen des Menaichmos bzw. des Diokles mathematisch äquivalent, und dies impliziere, dass sie einerseits nicht von Platon

|| 105 Vgl. zum Beweis Netz 2004a, 273–275, insbesondere Anm. 27. 106 Heath 1921, 1, 255 (mit mutatis mutandis den meisten der im Folgenden referierten Argumente). 107 Van der Waerden 1956, 269 bzw. 270 stellvertretend für die communis opinio. 108 In diesem spezifischen Zusammenhang spricht sich in jüngerer Zeit allein Mueller 1992, 174 für die Verlässlichkeit der Zuschreibung aus: Ihre Falschheit sei schwerer erklärlich als die Anekdote vom Tadel (siehe unten). Dies impliziert jedoch, dass auch er zumindest eine der Informationen für falsch hält – und dass er sich die Lösung selbst auch nicht recht erklären kann. 109 Eutokios, in Archim. Sph. Cyl. p. 88, 3–96, 27. Zu Eratosthenes als Platoniker siehe Geus 2002, 31 sowie umfassend Solmsen 1942; zum Einwand Knorr 1986, 57.

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stammen könne und dass diesem andererseits auf Basis einer gelungenen Lösung nachträglich eine fingierte mathematische Errungenschaft verschafft werden sollte – und zwar damit Platon als jemand, dem in der (neu-) platonischen Tradition eine eminente Bedeutung für die Entwicklung der Mathematik zugeschrieben wurde, auch tatsächlich eine wichtige mathematische Entdeckung vorweisen könne.110 Aus diesen Gründen spricht sich die Forschung fast einhellig gegen die Korrektheit der Zuweisung an Platon aus. Nur vereinzelt wurde sie für glaubwürdig gehalten, dann aber bezeichnenderweise nur dahingehend, „that, while Plato objected to mechanical solutions on principle, he wished to show how easy it was to discover such solutions and put forward that attributed to him as an illustration of the fact“.111 Zwar wird auch eine solche Deutung fast einhellig abgelehnt, doch hat sich nichtsdestoweniger eine von van der Waerden vorgeschlagene Weiterentwicklung mutatis mutandis als gegenwärtige communis opinio fest etabliert:112 Der Platon zugeschriebene Ansatz sei eine bewusste Fälschung und / oder Störung der Überlieferung, und zwar im (missverstehenden) Ausgang von Eratosthenes’ fiktional-fiktivem Dialog Platonikos, in dem er ‚Platon‘ im Gespräch mit ‚Archytas‘, ‚Menaichmos‘ und anderen gezeigt habe; ‚Platon‘ habe ausgehend von einer einfachen Analysefigur des Problems ad hoc ein mechanisches Gerät ersonnen, um seine methodologische Kritik an den drei Mathematikern möglichst effektvoll vorbringen zu können: Ihr habt mechanische Lösungen gefunden? Das ist keine Kunst, das kann ich sogar, der ich kein Mathematiker bin. Dazu braucht man nur eine Analysenfigur, nicht einmal eine vorhergehende geometrische Lösung des Problems. Seht nur … Aber auf diese Weise wird das Gute der Geometrie zugrunde gerichtet und verdorben […].113

Diese mechanische Lösung sei in Eutokios’ Quelle (warum auch immer) direkt auf die Einleitung zur nicht zitierten (da für inkompetent gehaltenen) authentischen Lösung des Eudoxos als (irrigerweise) für authentisch gehaltene Lösung Platons gefolgt. Ähnlich versucht Knorr, das Problem zu lösen: ‚Platons‘ Lösung gehe inhaltlich auf Eudoxos zurück und Eratosthenes habe im (ebenfalls als Dialog verstandenen) Platonikos ‚Platon‘ in der Diskussion mit ‚Archytas‘, ‚Menaichmos‘ und ‚Eudoxos‘ Eudoxos’ Methode in ein mechanisches Gerät überführt. Diese Dialogpassage sei in der Folge für eine authentische Wiedergabe mit Platon verbundener Geschehnisse gehalten worden und habe so (mit leichten Interpolationen) Eingang in die Zusammenstellung bei Eutokios gefunden.114

|| 110 So etwa Heath 1921, 1, 255 f. 111 So die Wiedergabe der (von diesem nicht geteilten) Position durch Heath 1921, 1, 255. Aus letzter Zeit ist für die Annahme der Historizität nur Mueller 1992, 174 anzuführen (siehe oben Anm. 108). 112 Van der Waerden 1956; siehe auch Wolfer 1954. 113 Van der Waerden 1956, 270, insgesamt 270 f. 114 Knorr 1986, 57–61.

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Schließlich nimmt Netz, um eine letzte Position aus der jüngeren Zeit exemplarisch anzuführen, in kritischer Antwort auf Knorr – der eben nicht das zweite Puzzlestück, den Überlieferungsfehler, habe erklären können115 – an, dass in Eutokios’ Quelle von Eudoxos’ Ansatz unter (freilich unerklärtem) Ausfall der eigentlichen Lösung nur die Einleitung gestanden habe und sich dahinter eine (für uns anonyme) Mathematisierung des platonischen Liniengleichnisses – und das heißt: eines ähnlichen mathematischen Sachverhalts, jedoch (fälschlicherweise) mit nicht-kontinuierlicher Proportion: vgl. unten Kap. 6 – sowie eine (für uns anonyme) ‚mechanische‘ Lösung der Würfelverdopplung befunden habe. Durch den Ausfall von Eudoxos’ eigentlicher (eine kontinuierliche Proportion verwendender) Lösung hätten sich Anmerkungen im Rand des Manuskripts fälschlich auf andere Lösungen als intendiert bezogen, speziell die dort verzeichnete Zuweisung an Eudoxos auf die Liniengleichnis-Mathematisierung – die, bedingt durch die in diesem Sinne nicht korrekte Zuweisung, verstanden als Lösung der Würfelverdopplung eine inadäquate nicht-kontinuierliche Proposition aufgewiesen habe und entsprechend von Eutokios als evident falsch aus der Wiedergabe ausgeschlossen worden sei; so dass schließlich durch diesen Ausfall ὡς Πλάτων auf die unmittelbar folgende, mechanische Lösung bezogen worden sei.116 Diese repräsentative Skizze der Geschichte der Erklärungsversuche zu ‚Platons‘ Lösung der Würfelverdopplung zeigt, dass die angesichts von Platons philosophischer Position hinsichtlich der Mathematik prima vista nicht unplausible Idee, die bei Eutokios vorliegende Zuschreibung auf Eratosthenes’ Platonikos zurückzuführen, nicht unproblematisch ist; jeder neue Schritt der Verteidigung der Inkorrektheit der Zuweisung wirft als Antwort auf die mit einem früheren Schritt verbundenen interpretatorischen Defizite neue Probleme auf und zieht eine immer spekulativer und unplausibler werdende Verkomplizierung der Rekonstruktion nach sich.117

|| 115 Siehe Netz 2003b, 500: „The arising puzzle is twofold: first, to identify the real author of the solution; second, to explain how the solution could have been falsely ascribed to Plato.“ 116 Netz 2003b; siehe speziell 503 zur Kritik an Knorrs Vorschlag. 117 In diesem Sinn sei noch Huffmans 2005, 347 f. Vorschlag angeführt. Zugrunde liegt die Beobachtung, dass die Platon zugeschriebene Lösung auch in der arabischen Tradition überliefert ist, nämlich in einem mathematischen Traktat aus dem 9. Jh. n. Chr. unter dem Namen der Autoren selbst; diese führen sie (wie mutatis mutandis Eratosthenes) als praktische Alternative zu Archytas’ (fälschlich Menelaos zugeschriebener) Lösung an: „If these two solutions were in fact paired with one another in the tradition, it is possible that the second more practical solution, which was in origin a reaction to Archytas’ very abstract solution, became known as Archytas’ as well and that this is what gave rise to the story of Plato’s attack on Archytas for producing a solution which used an instrument […]. The more practical solution would then be labeled in a marginal comment as ‚not according to Plato,‘ a comment which could easily have been corrupted to the ‚according to Plato‘ which we find in Eutocius“ (Huffman 2005, 348). Es handele sich um „an example of what is known in textual criticism as polar error“ (Huffman 2005, 381). Doch auch wenn für ‚Platons‘ Lösung scheinbar gilt, dass „it is an example of what he warns against in Republic VII and embodies precisely what he is said to criticize in Archytas’ solution“ (Huffman 2005, 381), erklärt dieser Vorschlag nicht, warum denn jemand

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Doch abgesehen davon, dass sich der Platonikos oben als nicht-fiktionaler technischer Sachtext herausgestellt hat, ist die communis opinio in einer weiteren, bisher nicht hinreichend beachteten Hinsicht problematisch: Im Kontext griechischer Literatur wäre es nicht plausibel, wenn ein dem Genus mathematischer Fachliteratur zugehöriger Text wie ‚Platons‘ Lösung – dies zeigt sich insbesondere in der technischen Präsentation und der unvermittelten Gliederung des Vorschlags nach dem Vorbild einer konventionellen mathematischen Proposition mit allen wesentlichen Bestandteilen; vgl. hiergegen die oben in Kap. 4 analysierte Menon-Stelle (82a7–85b7) – in einem literarischen, für eine breitere Öffentlichkeit bestimmten Dialog hätte Verwendung finden können. In der Tat spricht schon der Titel Platonikos dafür, dass der Text kein Dialog war, denn ein solcher hätte wohl eher den Titel Πλάτων getragen. Vielmehr scheint der Platonikos im Sinn von Πλατωνικὸς λόγος eine „Schrift über Platon“ gewesen zu sein, deren Ziel eine umfassende Platondeutung war, und zwar unter dem Alternativtitel Περὶ μεσοτήτων: „Als Schlüssel zur platonischen Philosophie galt ihm [sc. Eratosthenes] die Lehre von den Proportionen“.118 In diesem Sinn macht die angeführte Bezeugung der Schrift bei Theon auch nicht den Eindruck der Wiedergabe eines Dialogs, sondern den eines knappen, der Bezeugung in Eratosthenes’ Brief entsprechenden narrativen Berichts. So heißt es bei The-

|| angesichts des in der Überlieferung klar umschriebenen Adressatenkreises des Tadels überhaupt auf die Idee gekommen sein sollte, gerade diese Lösung eines Dritten (wenn sie nicht, was aber unwahrscheinlich ist, von Eudoxos selbst stammte: Knorr 1986, 59–61; siehe oben) als Beispiel für einen gerade von Platon (!) abgelehnten Vorschlag anzuführen. 118 Geus 2002, 193; so auch Waschkies 1995, 102 Anm. 39 und Asper 2007, 291 (dort 282–292 allgemein zu dieser Art von Einführung). Skeptisch gegenüber der communis opinio zeigt sich schon Solmsen 1942, 193 Anm. 3: „I see no way of deciding this question“; siehe auch Huffman 2005, 382. Zur Rekonstruktion der Schrift siehe neben den früheren Versuchen von etwa Hiller 1870 und Solmsen 1942 jüngst umfassend Geus 2002, 141–194, speziell die Ergebnisse 191–194. Geus’ Ausführungen sind bislang nicht widerlegt worden, insbesondere nicht von Zhmud 2006, 84 Anm. 10, dessen kurze Replik als einzigen Grund Geus’ „tendency to regard the Platonicus as the only source for Eratosthenes’ mathematics, denying, e.g., the existence of his work On Means, attested by Pappus“ anführt – was insofern überrascht, als Geus 2002, 190 f. herausarbeitet, dass es sich bei Περὶ μεσοτήτων um einen Alternativtitel des Platonikos gehandelt hat, sachlich gerechtfertigt dadurch, dass der Platonikos allem Anschein nach gerade von der Proportion bei Platon handelte und μεσότης natürlich ein wichtiger proportionentheoretischer Begriff ist; schließlich handelt es sich um den Terminus für (die) ‚mittlere(n) Proportionale(n)‘ (so auch Ti. 32b3). Im Übrigen kann Πλατωνικὸς λόγος mit Hirzel 1895, 1, 406 (vgl. Wolfer 1954, 4) nicht als Bezeichnung für einen Dialog verstanden werden, auch nicht dann, wenn man mit Wolfer 1954, 17 dies damit glaubhaft zu machen versucht, dass „Plato im Dialog eine längere Rede hält“. Der zentrale bei Wolfer 1954, 17 angeführte Grund für die Annahme, es handele sich um einen Dialog – dass in der Überlieferung mehrere identische Lehrmeinungen einmal Platon, einmal Eratosthenes zugewiesen werden, könne nur damit erklärt werden, dass sie von der Dialogfigur ‚Platon‘ getätigt worden seien, so dass sie sowohl unter diesem Namen als auch unter dem Autornamen hätten zitiert werden können – hat insofern keine Beweiskraft, als die Lehrmeinungen in der indirekten Überlieferung ebenso plausibel auf die historische Person Platon zurückgehen könnten.

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on explizit, dass Eratosthenes gesagt habe, dass das Orakel gegeben worden sei, die Architekten ratlos gewesen seien, man zu Platon gegangen sei und er mit ihnen gesprochen habe (p. 2, 3–12: Ἐρατοσθένης […] ἐν τῷ ἐπιγραφομένῳ Πλατωνικῷ φησιν ὅτι, Δηλίοις τοῦ θεοῦ χρήσαντος […] βωμὸν […] διπλασίονα κατασκευάσαι, […] ἀρχιτέκτοσιν ἐμπεσεῖν ἀπορίαν […] ἀφικέσθαι τε πευσομένους περὶ τούτου Πλάτωνος. τὸν δὲ φάναι αὐτοῖς […]). Derartiges wäre für die Wiedergabe einer Dialogsituation nicht zu erwarten, auch deshalb, weil am Schluss des Zitats Platons Replik als untergeordnete indirekte Rede referiert wird, Platon also innertextlich als sekundäre Sprecherinstanz von der primären Sprecherinstanz (= Autor) Eratosthenes abgegrenzt wird. Ebenso wenig wurde bisher plausibel gemacht, wie im Kontext griechischer literarischer Konventionen in einem einzigen Dialog, der ja hinsichtlich der fiktionalen Gesprächssituation zeitlich und örtlich notwendig konkret lokalisiert ist, unter anderem die Anfrage der Delier, Archytas’, Eudoxos’ und Menaichmos’ mechanisierende Lösungsversuche (die in diesem Kontext zudem angesichts ihres grundsätzlich mechanischen Charakters wohlgemerkt nicht den überlieferten Lösungen entsprochen haben können und also ad hoc als neue, für uns nicht mehr greifbare zusätzliche Ansätze von Eratosthenes selbst hätten erfunden worden sein müssen) und die Beschreibung von ‚Platons‘ eigener Lösung hätten integriert werden können – auch und gerade dann, wenn man sich den Dialog ahistorisch nach Art eines narrativ eingebetteten Dramas vorstellen möchte (vgl. das unten angeführte Zitat van der Waerdens).119 Zumal schließlich das Postulat eines – ansonsten nicht bezeugten – Dialogs Platonikos grundsätzlich auch deswegen methodisch nicht befriedigen kann, „since it serves as a deus ex machina for any apparent contradictions in the tradition“.120 Der gegenwärtige Stand der Forschung verblüfft: Einerseits sind die sachlichen und überlieferungsgeschichtlichen Erklärungsversuche spekulativ und widersprechen mehr oder weniger offen den verfügbaren Zeugnissen; andererseits wird ein positives Zeugnis, die explizite Zuschreibung zu Platon, negiert, und dies mit kaum zwingenden Argumenten. Nicht zuletzt gilt dies für die Behauptung, Platon habe durch die fingierte Zuweisung eine mathematische Errungenschaft verschafft werden sollen. Schließlich widerspricht der mechanische Charakter der Lösung Platons unterstellter Ablehnung mechanischer Lösungen so eklatant, dass es zweifellos kaum eine weniger geeignete mathematische Entdeckung hätte geben können, um sie gerade Platon zuzuschreiben: || 119 Vgl. van der Waerden 1956, 265: „Wahrscheinlich war der Platonikos ein Dialog, in dem die Delier, Platon, Archytas, Eudoxos und Menaichmos auftraten. In dieser dramatischen Erzählung hat Eratosthenes die ganze Entwicklung des Problems in eine kurze Zeitspanne zusammengepresst.“ Zur unterstellten, überraschenden Stofffülle in Huffmans 2005, 382 Worten: „In its most extreme form, this interpretation of the Platonicus turns it implausibly into one of the great intellectual tours de force of ancient literature.“ 120 Huffman 2005, 382 (auch mit Skepsis zur Annahme, es habe sich bei der Schrift um einen Dialog gehandelt).

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One is astounded at the flexibility of the traditions which on the one hand attribute such a mechanism to Plato, yet on the other hand portray him as the defender of the purity of geometry and the sharp critic of his colleagues for their use of mechanical procedures in geometric studies.121

Der Versuch der Rettung dieser Position – „the careless habit of assigning feats of insight to such heroes as Plato and Pythagoras might easily tempt later writers to overlook issues of simple consistency“122 – ist unplausibel: „This does not appear, then, like a natural flight of fancy on the part of some Neo-platonist – the proof is just not the kind of thing it would be appropriate to ascribe to Plato.“123 So bleibt als Ausweg nur, Eutokios habe nicht den Philosophen Platon, sondern irgendeinen anderen Platon gemeint. Aber: „Other things being equal, a Plato is a Plato is a Plato“.124

5.3.2 Mechanische Lösungen Die Forschungssituation ist aporetisch. Eine Lösung zeigt sich auf der Grundlage eines tieferen Verständnisses davon, in welcher Hinsicht Platon mit einer Kritik mechanischer Lösungen der Würfelverdopplung in Verbindung gebracht wurde. Hier ist eine modelltheoretische Perspektive angezeigt, impliziert doch die Mechanizität der Ansätze, dass sie sich einer spezifischen Art mathematischen Modells bedienen, die kontrastive Spezifika im Vergleich mit den in der Mathematik euklidischen Typs benutzten Modellen aufweisen. Zu diesem Zweck werde ich in einem ersten Schritt die relevanten Testimonien diskutieren, in Bezug auf welche ich in einem zweiten Schritt speziell die Platon zugeschriebene Lösung wissenschaftshistorisch verorten werde. Die Frage der Zulässigkeit ‚mechanischer‘ Lösungen der Würfelverdopplung aus Platons Sicht steht im Zentrum mehrerer Zeugnisse. Vor allem zwei Plutarch-Stellen sind einschlägig, zum einen Quaestiones convivales 718E–F: πᾶσι μὲν οὖν τοῖς καλουμένοις μαθήμασιν, ὥσπερ ἀστραβέσι καὶ λείοις κατόπτροις, ἐμφαίνεται τῆς τῶν νοητῶν ἀληθείας ἴχνη καὶ εἴδωλα· μάλιστα δὲ γεωμετρία κατὰ τὸν Φιλόλαον ἀρχὴ καὶ μητρόπολις οὖσα τῶν ἄλλων ἐπανάγει καὶ στρέφει τὴν διάνοιαν, οἷον ἐκκαθαιρομένην καὶ ἀπολυομένην ἀτρέμα τῆς αἰσθήσεως. διὸ καὶ Πλάτων αὐτὸς ἐμέμψατο τοὺς περὶ Εὔδοξον καὶ Ἀρχύταν καὶ Μέναιχμον εἰς ὀργανικὰς καὶ μηχανικὰς κατασκευὰς τὸν τοῦ στερεοῦ διπλασιασμὸν ἀπάγειν ἐπιχειροῦντας, ὥσπερ πειρωμένους δίχα λόγου δύο μέσας ἀνὰ λόγον, ᾗ παρείκοι, λαβεῖν·

|| 121 Knorr 1986, 59. 122 Knorr 1986, 59; vgl. Zhmud 2006, 85 Anm. 17. Der Vergleich mit Pythagoras ist stark irreführend: Bei Platon liegen im Gegensatz zu Pythagoras umfangreiche Schriften mit einer Fülle von in dieser Hinsicht eindeutigen Äußerungen vor, und diese waren auch in der Antike auf der Grundlage direkter Rezeption wohlbekannt. Dies bedingt gänzlich andere Umstände einer möglichen Zuweisung und ihrer Deutung. Platon und Pythagoras sind in dieser Hinsicht evident nicht parallel. 123 Netz 2003b, 502. 124 Netz 2003b, 500; doch vgl. Netz 2004a, 273, wo die (wenn auch als deutlich weniger wahrscheinlich eingeschätzte) Möglichkeit einer Zuschreibung „to some unknown Plato“ offengelassen wird.

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ἀπόλλυσθαι γὰρ οὕτω καὶ διαφθείρεσθαι τὸ γεωμετρίας ἀγαθὸν αὖθις ἐπὶ τὰ αἰσθητὰ παλινδρομούσης καὶ μὴ φερομένης ἄνω μηδ’ ἀντιλαμβανομένης τῶν ἀιδίων καὶ ἀσωμάτων εἰκόνων, πρὸς αἷσπερ ὢν ὁ θεὸς ἀεὶ θεός ἐστιν. In allen sogenannten mathematischen Wissenschaften erscheinen, wie in klaren und glatten Spiegeln, Spuren und Bilder der Wahrheit der Gegenstände des Denkens. Am meisten gilt für die Geometrie, Philolaos zufolge Anfang und Mutterstadt der anderen mathematischen Wissenschaften, dass sie den Verstand hinaufführt und umwendet, gewissermaßen unter Reinigung und gründlicher Ablösung von der Wahrnehmung. Deshalb tadelte auch Platon selbst Eudoxos, Archytas, Menaichmos und ihr Gefolge, als sie in Angriff nahmen, die Verdoppelung eines Körpers hin zu werkzeugbasierten und mechanischen Vorrichtungen fortzuführen (ἀπάγειν), insofern sie nämlich versuchten, ohne Logos zwei ana-‚loge‘ mittlere Proportionale zu bestimmen, soweit es eben ginge. Denn so gehe das Gute der Geometrie zugrunde und werde zerstört, wenn sie wieder zurück zu den wahrnehmbaren Dingen renne, sich nicht aufwärtsbewege und nicht nach den ewigen und unkörperlichen Bildern greife – bei denen ja der Gott immer Gott sei.125

Ähnlich heißt es in Plutarch, Markellos 14, 9–12 im Rahmen einer Skizze der historischen Entwicklung der ‚Mechanik‘: τὴν γὰρ ἀγαπωμένην ταύτην καὶ περιβόητον ὀργανικὴν ἤρξαντο μὲν κινεῖν οἱ περὶ Εὔδοξον καὶ Ἀρχύταν, ποικίλλοντες τῷ γλαφυρῷ γεωμετρίαν, καὶ λογικῆς καὶ γραμμικῆς ἀποδείξεως οὐκ εὐποροῦντα προβλήματα δι’ αἰσθητῶν καὶ ὀργανικῶν παραδειγμάτων ὑπερείδοντες, ὡς τὸ περὶ δύο μέσας ἀνὰ λόγον πρόβλημα καὶ στοιχεῖον ἐπὶ πολλὰ τῶν γραφομένων ἀναγκαῖον εἰς ὀργανικὰς ἐξῆγον ἀμφότεροι κατασκευὰς126 μεσογράφους τινὰς ἀπὸ καμπύλων γραμμ[ατ]ῶν καὶ τμημάτων μεθαρμόζοντες· ἐπεὶ δὲ Πλάτων ἠγανάκτησε καὶ διετείνατο πρὸς αὐτούς, ὡς ἀπολλύντας καὶ διαφθείροντας τὸ γεωμετρίας ἀγαθόν, ἀπὸ τῶν ἀσωμάτων καὶ νοητῶν ἀποδιδρασκούσης ἐπὶ τὰ αἰσθητά, καὶ προσχρωμένης αὖθις αὖ σώμασι πολλῆς καὶ φορτικῆς βαναυσουργίας δεομένοις, οὕτω διεκρίθη γεωμετρίας ἐκπεσοῦσα μηχανική, καὶ περιορωμένη πολὺν χρόνον ὑπὸ φιλοσοφίας, μία τῶν στρατιωτίδων τεχνῶν ἐγεγόνει. Denn damit, diese bewunderte und berühmte Mechanik in Bewegung zu setzen, begannen Eudoxos und Archytas mitsamt ihrem Gefolge, durch das Ausschmücken der Geometrie mit dem Kunstfertigen, indem sie sich daran machten, Probleme, die einen rechnerischen oder geometrischen Beweis nicht in einfacher Weise ermöglichen, durch wahrnehmbare und mechanische Modelle abzustützen, denn sie hatten sich beide daran gemacht, das Problem zu den zwei mittleren Proportionalen – ein Element, das für eine Vielzahl von Konstruktionen notwendig ist – zu instrumentellen Vorrichtungen fortzuführen, und zwar durch eine Umwandlung von gebogenen Linien und Segmenten hin zu gewissen Proportionalenzeichnern. Als aber Platon sich hierüber irritiert zeigte und sich ihnen nachdrücklich widersetzte – denn sie zerstörten seiner Meinung nach das Gute der Geometrie und richteten es zugrunde, weil sie hierdurch vom Unkörperlichen und Intelligiblen fortlaufe zum Wahrnehmbaren und wiederum im Gegenzug Verwendung von Körpern mache, die großer und gewöhnlicher Handwerkskunst bedürften –, wurde auf diese Weise durch Absonderung von der Geometrie die Mechanik geschieden und, lange Zeit von der Philosophie unbeachtet, wurde sie eine der Kriegstechnologien.

|| 125 Zum Philolaos-Testimonium (A7a) siehe Huffman 1993, 193–199. 126 Aus sprachlichen und inhaltlichen Gründen muss hinter κατασκευάς der Punkt getilgt werden.

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Beide Stellen scheinen zu besagen, dass Archytas, Eudoxos und (im ersten Zeugnis explizit, im zweiten gegebenenfalls implizit enthalten in οἱ περὶ …) Menaichmos von Platon dafür getadelt wurden, dass sie das Problem der Würfelverdopplung nicht geometrisch, sondern mechanisch und in seinen Augen mithin nicht-mathematisch lösten.127 Dies ist einerseits verträglich mit Platons Äußerungen zur Mathematik insgesamt, etwa in Politeia VII (vgl. unten Kap. 6), und zwar speziell dahingehend, dass der mathematische Beweis im engeren Sinne im Bereich des Seins, nicht dem Bereich des Werdens operiert; hierfür ist ja auch die diskutierte Menon-Passage 82a7–85b7 ein Beispiel.128 Andererseits scheint sich ein Widerspruch zum (wie sich herausgestellt hat, authentischen und verlässlichen) Eratosthenes-Brief an Ptolemaios zu ergeben, sowohl bezüglich des Prosateils als auch bezüglich des Weihepigramms: Bei Eratosthenes werden die Lösungen von Archytas, Eudoxos und (bedingt) Menaichmos nicht als ‚mechanisch‘, sondern als streng geometrisch qualifiziert, ja: sogar in einem Maße, dass sie Eratosthenes geradezu als δυσμήχανα gelten (und zwar sachlich zu Recht, soweit wir erkennen können).129 Im Brief ist es also die Abstraktheit und fehlende Mechanisierbarkeit, die diesen drei Lösungen vorgeworfen wird, und zwar mit dem Zweck, dass vor diesem Hintergrund die Praktikabilität von Eratosthenes’ eigener Lösung um so stärker hervortritt: Sie sei die allererste Lösung des Problems, die auch praktisch umsetzbar sei.130 Die in der Forschung gezogene interpretatorische Konsequenz ist, Platon den ihm von Eutokios zugeschriebenen Vorschlag abzusprechen (siehe oben) und Platons Tadel auf Eratosthenes’ besagten fiktionalen Dialog Platonikos zurückzuführen: Im Platonikos verweist Platon die Delier an Eudoxos und dessen Schüler; diese bringen dann mechanische Konstruktionen herbei, die Platon empört zurückweist, worauf die Mathematiker sich beschämt nochmals dahintersetzen und schliesslich ihre rein theoretischen Lösungen durch Schnitte von Kurven geben. Die Reihenfolge kann auch umgekehrt gewesen sein: Die

|| 127 Allgemein bezeichnet οἱ περί τινα (u. ä.) „eine Person mit ihren Begleitern, Anhängern, Schülern“, später auch „eine Person allein“ (Kühner & Gerth § 403 d); vgl. Knorr 1989, 25 Anm. 3. So muss man nicht die Beteiligung weiterer Mathematiker annehmen, die sich zu derselben Zeit mit dem Problem beschäftigten. 128 Dieser (offensichtliche) Bezug wird von van der Waerden 1956, 268, einem der Hauptvertreter der Platonikos-These, explizit bestritten: „In den geschriebenen Werken Platons kommen solche Äusserungen nicht vor, in den Platonikos hingegen passen sie ausgezeichnet.“ So auch Wolfer 1954, 10. Bowen 1983 sieht insofern kein Problem, als die Ausführung der Lösung selbst keine Konsequenzen hinsichtlich ihrer Mathematizität habe; dies ist einer der Hauptgründe für ihn, den Plutarch-Zeugnissen eine historische Verlässlichkeit bezüglich des Tadels abzusprechen. 129 Bei Archytas ist dies evident: Huffman 2005, 355–357. Siehe Eutokios, in Archim. Sph. Cyl. p. 90, 8–11 bzw. p. 96, 16–19. 130 Anzumerken ist, dass auch bei Eratosthenes dieser Gegensatz von geometrischer Lösung und praktischer Umsetzung mitsamt ihrer spezifischen Problematik allgemein thematisiert wird: siehe insbesondere Eutokios, in Archim. Sph. Cyl. p. 92, 25–94, 7, wo sich zugleich ein konkretes Beispiel für die in der Plutarch-Passage angesprochene Relevanz der handwerklichen Ausführung zeigt.

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theoretischen Lösungen hatten sie schon und sie entwarfen für die Delier mechanische Lösungen, die Platon dann verwarf.131

Dieser Position ist aus zwei Gründen der Boden entzogen: Zum einen war der Platonikos kein fiktionaler Dialog; und zum anderen hätte Eratosthenes einen unauflöslichen Widerspruch zu Inhalt und Intention seines Briefes an Ptolemaios (einschließlich des Weihepigramms) erzeugt.132 Alternativ bzw. ergänzend wurde vorgeschlagen, dass die Ablehnung durch ‚Platon‘ in der Tat eine platonische Bewertung der historisch erzielten mathematischen Lösungen der Würfelverdopplung war: The surviving accounts of these methods are in fact fully geometrical in the formal manner; but they do rely on certain mechanical conceptions, like the generation of curves by moving lines or by the intersection of solids of revolution. […] The specific morals attached to it by Eratosthenes (in the Platonicus) and by Plutarch seem to be their own additions, but they are likely to have sensed accurately the ancient Academicians’ view of these matters. Any student of the Republic can appreciate the strength of Plato’s insistence on purity and abstractness of mathematical entities. The kinematic element in the constructions for the cube duplication might thus provoke discussion of the relative status of geometry and mechanics […].133

Gegen diese Position spricht nicht nur, dass Menaichmos und Eudoxos anscheinend keine mechanischen im Sinn von kinematischen Lösungen vorgelegt hatten und also nicht einmal Archytas in dieser Hinsicht aus platonischer Sicht hätte getadelt werden können.134 Für Platon war Bewegung keineswegs aus der Mathematik ausgeschlossen, ja, sie ist sogar das definierende Kriterium zweier spezifischer mathematischer Disziplinen, der Astronomie und der Harmonielehre: Die erste ist in der Politeia bestimmt als die Mathematik der sichtbaren Ortsbewegung des Körpers (speziell φορὰ βάθους, siehe R. 528d10 in Verbindung mit R. 530d6–9), die zweite als die Mathematik der hörbaren Ortsbewegung des Körpers (ἐναρμόνιος φορά, siehe R. 530d6–9).135 Pla-

|| 131 Van der Waerden 1956, 268. 132 Letzteres betont zu Recht Huffman 2005, 383. 133 Knorr 1986, 22 f. Dieser Gedanke ist sachlich der Vorstellung nicht fremd, Platon habe nur Zirkel und Lineal als konstruktive Mittel in der Geometrie erlauben wollen: vgl. Steele 1936, 294–313. 134 Zumal auch Archytas’ Lösung weniger ‚kinematisch‘ (und mithin in höherem Maße traditionell zweidimensional-geometrisch) ist als gemeinhin unterstellt; siehe Masià 2016, speziell 203 mit dem folgenden Ergebnis: „The solution of the problem is never couched in terms of the intersection of three surfaces; this is only an anachronistic interpretation of the text. The elements of the solution are a trace on the cylindrical surface and a rotating triangle. There is no toric surface, but only a rotational movement of a certain semicircle that intersects the cylindrical surface to make a trace; there is a conical surface, but it never seems to be explicitly used, only perhaps implicitly.“ Vgl. Menn 2015. 135 Vgl. oben mit Anm. 101 sowie unten Kap. 6.7. Man denke auch daran, dass in Autolykos’ Traktaten, also dem ersten umfänglichen mathematischen Zeugnis für die Stereometrie (oder im platonischen Sinn: ‚Astronomie‘), kinematische Verfahren an zahlreichen Stellen genutzt werden, etwa zur Erzeugung von parallelen Kreisen auf Kugeln (Sph. 3): vgl. oben Kap. 3.3. Zu diesen Punkten siehe auch Huffman 2005, 394–397 und umfassend Mourelatos 1981.

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ton hätte Archytas, Eudoxos und Menaichmos folglich nicht wegen des kinematischen Charakters der uns überlieferten, geometrischen Beweise kritisieren können. Tatsächlich weisen die Plutarch-Passagen selbst einen anderen Weg, die Pointe von Platons Tadel zu verstehen: Archytas, Eudoxos und Menaichmos versuchen (nach der Anfrage der Delier bei der Akademie), eine Lösung des Problems der Würfelverdopplung zu finden und haben schon eine Vorstellung davon, wie sie dies bewerkstelligen könnten; hierauf verweist die Nennung der ‚gebogenen Linien‘ bzw. der ‚Segmente‘, die offenkundig auf Eudoxos’ bzw. Archytas’ spätere, bezeugte bzw. überlieferte Lösung zu beziehen ist. Die Ausführung der Lösung und des Beweises einschließlich der Konstruktion eines entsprechenden Modells in Form eines mathematischen Diagramms euklidischen Typs ist jedoch nicht einfach, sondern gestaltet sich aufgrund der Natur des mathematischen Problems selbst als schwierig und komplex (λογικῆς καὶ γραμμικῆς ἀποδείξεως οὐκ εὐποροῦντα προβλήματα), verständlicherweise, ist das benötigte mathematische Instrumentarium zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht entwickelt (siehe oben). Daher kommt die Idee auf, den Beweis durch physikalisch-mechanische ‚Modelle‘ zu ‚stützen‘ (δι’ αἰσθητῶν καὶ ὀργανικῶν παραδειγμάτων ὑπερείδοντες) und so insbesondere die für den Beweis relevanten Relationen des mathematischen Sachverhalts leichter und besser herstellen zu können. Die Intention des Vorgehens ist, im Rahmen einer primär mathematisch-theoretischen Lösung Leerstellen auf empirischem Weg aufzufüllen. So wird in platonischen Begriffen der Versuch unternommen, die Lösung dadurch zu erreichen, dass man unter Missachtung des spezifischen Vorzugs der Geometrie von den intelligiblen Dingen zurück zu den körperlichen Dingen läuft (Plutarch, Quaestiones convivales 718F: τὸ γεωμετρίας ἀγαθὸν αὖθις ἐπὶ τὰ αἰσθητὰ παλινδρομούσης καὶ μὴ φερομένης ἄνω μηδ’ ἀντιλαμβανομένης τῶν ἀιδίων καὶ ἀσωμάτων εἰκόνων; Plutarch, Markellos 14, 11: τὸ γεωμετρίας ἀγαθόν, ἀπὸ τῶν ἀσωμάτων καὶ νοητῶν ἀποδιδρασκούσης ἐπὶ τὰ αἰσθητά, καὶ προσχρωμένης αὖθις αὖ σώμασι […]). Der mathematische Zusammenhang soll also mittels des Supplierens eines (partiellen) materiell-mechanischen Wirkmechanismus erklärt werden. Signifikant ist, dass Plutarch Eudoxos’ und Archytas’ (und Menaichmos’) Vorgehen in einer Weise beschreibt, die direkt den Aufbau einer mathematischen Proposition der Mathematik euklidischen Typs spiegelt. So heißt es in beiden Zeugnissen, dass die Mathematiker sich instrumenteller κατασκευαί bedienen wollten (εἰς ὀργανικὰς καὶ μηχανικὰς κατασκευὰς τὸν τοῦ στερεοῦ διπλασιασμὸν ἀπάγειν bzw. εἰς ὀργανικὰς ἐξῆγον ἀμφότεροι κατασκευάς). Dieses Detail bestätigt die Deutung der Plutarch-Zeugnisse: Konfrontiert mit der Schwierigkeit, auf mathematischem Weg das jeweils als zweckdienlich erachtete und entsprechend mathematisch konstruierte Ausgangsmodell (wie auch immer es genau aussah) so durch zusätzliche mathematische Modelle zu erweitern, dass das Gesamtmodell die gesuchten mittleren Proportionalen als zusätzliche relationale Eigenschaften beinhaltet, gehen sie dazu über, diese relationalen Eigenschaften dadurch zu generieren, dass sie das abstrakt ‚mathematische‘ Modell durch ein ‚mechanisches‘ Modell im Sinne eines physikalischen Modells (par-

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tiell) substituieren, sei es auf der Grundlage, dass sie bereits wissen, wie die Endkonfiguration des Diagramms beschaffen sein soll, sei es auf der Grundlage, dass sie dies noch nicht wissen und der Instrumentenbau im Sinne eines experimentellen Ausprobierens (wie mutatis mutandis in Men. 82a7–85b7: vgl. oben Kap. 4.5) zu verstehen ist. Die sachliche Konsequenz daraus, eine solche mechanische Kataskeue zu verwenden, ist, dass sekundär sowohl die Ekthesis, also das Ausgangsmodell, als auch die in einer etwaigen Apodeixis aufgezeigten Relationen einen genuin physikalischen Charakter erhalten, nämlich als spezifische, am und mit dem Instrument messbare Längen(-verhältnisse), in Entsprechung zur jeweiligen physikalischen Kataskeue. Dann deckt sich Platons methodologische Kritik in diesem Rahmen mit derjenigen Kritik, die oben in Kap. 4 und speziell Kap. 4.6 in Bezug auf Tht. 147d–148b herausgearbeitet worden ist. Insofern die Plutarch-Zeugnisse implizieren, dass Archytas, Eudoxos und Menaichmos die Zuhilfenahme mechanischer materieller Elemente zur Konstruktion der zwei mittleren Proportionalen einerseits zwar versuchten, andererseits jedoch nicht tatsächlich ausführten, ergibt sich aus der entwickelten Lösung kein Widerspruch in Hinsicht auf die verfügbaren mathematischen Zeugnisse, speziell Archytas’ Lösung: Zum einen ist explizit nur von einer ‚Unternehmung‘ und einem ‚Versuch‘ die Rede (ἀπάγειν ἐπιχειροῦντας, ὥσπερ πειρωμένους δίχα λόγου δύο μέσας ἀνὰ λόγον, ᾗ παρείκοι, λαβεῖν), zum anderen verwendet Plutarch an den relevanten Stellen niemals den Aorist, sondern immer das Imperfekt – das eben nicht den Abschluss, sondern (gewissermaßen konativ)136 die Handlung in ihrem dauerhaften Vollzug ohne Abschluss beschreibt. Im Ergebnis wurde nach Plutarch zwar der Versuch einer mechanischen Supplierung der mathematisch nicht fassbaren Mechanismen unternommen, dieser wurde aber vor irgendeinem Erfolg abgebrochen – und zwar anscheinend nicht nur durch Platons Tadel, sondern auch, weil die ins Auge gefassten Lösungen aufgrund ihrer spezifischen Natur nur schwer bis gar nicht in ein mechanisches Gerät umsetzbar gewesen wären.137 Der letzte Aspekt findet eine indirekte Bestätigung in Eratosthenes’ Brief: Die angesprochene Behauptung, dass Archytas’, Eudoxos’ und Menaichmos’ Lösung nur schwer bis überhaupt nicht mechanisierbar seien, fordert die Frage heraus, woher Eratosthenes dies überhaupt hätte wissen können – und vor allem, im Kontext entscheidender, wieso er es als plausibles Argument hätte vorbringen können. Überzeugungskraft hätte dies nur – da sich Eratosthenes nicht auf eigene unbekannte Experimente mit diesen Lösungen hätte berufen können, die aber insofern nötig gewesen || 136 Die ‚Konativität‘ ist freilich nichts anderes als das durch den durativen Aspekt implizierte Fehlen des Abschlusses: vgl. Kühner & Gerth § 382, 7. 137 So besteht kein Widerspruch zwischen Plutarchs Referat von Platons Tadel und dem Eratosthenes-Brief, nämlich insofern bei Plutarch die Betonung auf „the mechanical and practical nature of the solutions of Archytas, Eudoxus and Menaechmus“ liege, während bei Eratosthenes „the solutions of these geometers are critized for being too theoretical and not admitting of practical application“ (Huffman 2005, 379 f., das Zitat 379 exempli gratia für analoge Positionen: vgl. Zhmud 2006, 85).

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wären, als man dies den Lösungen selbst nicht angesehen hätte –, wenn es sich um einen Verweis auf ein bekanntes Faktum der Mathematikgeschichte gehandelt hätte. Platons Motivation für die Kritik konvergiert mit derjenigen, die er in Politeia VII vorbringt, insbesondere mit einer Bevorzugung derjenigen Mathematik, die sich mit intelligiblen Objekten und nicht mit körperlichen (physikalischen) Dingen beschäftigt. Diese Zusammenhänge werden unten in Kap. 6 entfaltet werden, doch sei angesichts der Beteiligung des Pythagoreers Archytas an den Bemühungen zur Lösung der Würfelverdopplung schon hier darauf hingewiesen, dass sich in diesem Aspekt eine kategoriale Differenz zwischen Platonismus und Pythagoreismus ausdrückt: „eine Unterscheidung von körperlichem und unkörperlichem Sein ist […] überhaupt noch nicht vollzogen“, sondern hierbei handelt es sich um ein genuin platonisches Philosophem, insbesondere verbunden mit der Formenlehre.138 Deutlich zeigt sich dieser Zusammenhang schon bei Philolaos (fr. 4):139 καὶ πάντα γα μὰν τὰ γιγνωσκόμενα ἀριθμὸν ἔχοντι. οὐ γὰρ ὁτιῶν τε οὐδὲν οὔτε νοηθῆμεν οὔτε γνωσθῆμεν ἄνευ τούτω. Und in der Tat haben alle Dinge, die erkannt werden, Zahl. Ohne sie ist es nämlich nicht möglich, dass irgendetwas verstanden wird, noch, dass irgendetwas gewusst wird.

Wie auch immer man die vielen Fragen, die dieses Fragment aufwirft, beantwortet, transparent ist, dass für Philolaos das Konzept der Zahl einerseits notwendig in epistemologischer Hinsicht ist, dies aber andererseits nicht als etwas, das unabhängig existiert, sondern nur als Attribut der physikalischen Dinge selbst (und / oder als etwas, das sich in ihnen vollständig manifestiert). Entsprechend ordnet Philolaos etwa in der Astronomie jedem Himmelsbereich eine bestimmte Zahl zu, wie speziell Aris-

|| 138 Siehe Burkert 1962, 26–46, das Zitat 30. Diese Bewertung geht natürlich schon auf Aristoteles zurück: vgl. die instruktive und wichtige Stelle Metaph. 1090a20–b5, speziell 1090a20–27 (mit direkter Kontrastierung von Pythagoreern und Platon bzw. der Akademie): οἱ δὲ Πυθαγόρειοι διὰ τὸ ὁρᾶν πολλὰ τῶν ἀριθμῶν πάθη ὑπάρχοντα τοῖς αἰσθητοῖς σώμασιν, εἶναι μὲν ἀριθμοὺς ἐποίησαν τὰ ὄντα, οὐ χωριστοὺς δέ, ἀλλ’ ἐξ ἀριθμῶν τὰ ὄντα· διὰ τί δέ; ὅτι τὰ πάθη τὰ τῶν ἀριθμῶν ἐν ἁρμονίᾳ ὑπάρχει καὶ ἐν τῷ οὐρανῷ καὶ ἐν πολλοῖς ἄλλοις. τοῖς δὲ τὸν μαθηματικὸν μόνον λέγουσιν εἶναι ἀριθμὸν οὐθὲν τοιοῦτον ἐνδέχεται λέγειν κατὰ τὰς ὑποθέσεις ἀλλ’ ὅτι οὐκ ἔσονται αὐτῶν αἱ ἐπιστῆμαι ἐλέγετο („Die Pythagoreer haben – weil sie sahen, dass viele Eigenschaften der Zahlen in den wahrnehmbaren Körpern vorhanden sind – die Theorie aufgestellt, dass die seienden Dinge zwar Zahlen, aber nicht abgetrennt seien, sondern dass die seienden Dinge aus Zahlen bestehen. Warum? Weil die Eigenschaften der Zahlen in der Harmonie, im Himmel und in vielen anderen Dingen vorhanden sind. Denen aber, die sagen, dass nur die mathematische Zahl tatsächlich existiere, ist es gemäß ihren Setzungen nicht möglich, etwas Derartiges zu sagen, sondern man hat gesagt, dass die Wissenschaften nicht diese Dinge [sc. die physikalischen Gegenstände] zum Gegenstand haben“). 139 Zum Fragment (und seiner Authentizität) siehe Huffman 1993, 172–177 sowie 54–77 für eine allgemeine Bewertung von Philolaos’ Verhältnis zur Mathematik aus jüngerer Zeit (siehe ansonsten auch Burkert 1962). Zu Philolaos’ Beschäftigung mit der Musik siehe auch Barker 2007, 263–286.

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toteles in der instruktiven Stelle Metaph. 990a18–32 bezeugt und dabei gerade diesen Unterschied zwischen der „wahrnehmbaren“ und der „intelligiblen“ Zahl diskutiert und explizit allein Platon das Postulat der Existenz der letzteren zuweist.140 Erhellend ist auch ein umfangreiches Fragment von Archytas, konkret der Beginn seiner Schrift Über die Mathematik (fr. 1):141 καλῶς μοι δοκοῦντι τοὶ περὶ τὰ μαθήματα διαγνώμεν καὶ οὐδὲν ἄτοπον ὀρθῶς αὐτούς, οἷά ἐντι, περὶ ἑκάστου φρονέν. περὶ γὰρ τᾶς τῶν ὅλων φύσιος καλῶς διαγνόντες ἔμελλον καὶ περὶ τῶν κατὰ μέρος, οἷά ἐντι, καλῶς ὀψεῖσθαι, περί τε δὴ τᾶς τῶν ἄστρων ταχυτᾶτος καὶ ἐπιτολᾶν καὶ δυσίων παρέδωκαν ἁμῖν σαφῆ διάγνωσιν καὶ περὶ γαμετρίας καὶ ἀριθμῶν καὶ οὐχ ἥκιστα περὶ μωσικᾶς. ταῦτα γὰρ τὰ μαθήματα δοκοῦντι εἶμεν ἀδελφεά. πρᾶτον μὲν οὖν ἐσκέψαντο, ὅτι οὐ δυνατόν ἐστιν εἶμεν ψόφον μὴ γενηθείσας πληγᾶς τινων ποτ’ ἄλληλα, πλαγὰν δ’ ἔφαν γίνεσθαι, ὅκκα τὰ φερόμενα ἀπαντιάξαντα ἀλλάλοις συμπέτῃ. τὰ μὲν οὖν ἀντίαν φορὰν φερόμενα ἀπαντιάζοντα αὐτὰ αὐτοῖς συγχαλᾶντα, τὰ δ’ ὁμοίως φερόμενα, μὴ ἴσῳ δὲ τάχει, περικαταλαμβανόμενα παρὰ τῶν ἐπιφερομένων τυπτόμενα ποιεῖν ψόφον. πολλοὺς μὲν δὴ αὐτῶν οὐκ εἶναι ἀμῶν τᾷ φύσει οἵους τε γινώσκεσθαι, τοὺς μὲν διὰ τὰν ἀσθένειαν τᾶς πλαγᾶς, τοὺς δὲ διὰ τὸ μᾶκος τᾶς ἀφ’ ἁμῶν ἀποστάσιος, τινὰς δὲ καὶ διὰ τὰν ὑπερβολὰν τοῦ μεγέθεος· In einer schönen Weise scheinen mir diejenigen, die sich mit den Wissenschaften beschäftigen, gute Unterscheidungen getroffen zu haben, und es ist nicht abwegig, dass sie ein korrektes Verständnis von einer jeden Sache darüber haben, wie sie beschaffen ist. Da sie nämlich gute Unterscheidungen über die Natur der ganzen Dinge getroffen hatten, waren sie im Begriff, auch in Hinsicht auf die Teile in einer schönen Weise zu sehen, wie sie beschaffen sind. In der Tat haben sie uns nämlich sowohl zur Geschwindigkeit der Sterne und ihren Auf- und Untergängen als auch zur Geometrie als auch den Zahlen und nicht im Geringsten zur Musik klare Unterscheidungen an die Hand gegeben. Diese Wissenschaften nämlich scheinen Schwestern zu sein. Zuerst haben sie sich also überlegt, dass es nicht möglich ist, dass es ein Geräusch gibt, wenn es nicht einen Schlag von Dingen aneinander gibt, und sie sagten, dass es einen Schlag gebe, wann immer bewegte Dinge sich begegnen und miteinander zusammenstoßen. Die in entgegengesetzter Bewegung bewegten Dinge machen ein Geräusch, wenn sie sich in der Begegnung miteinander abbremsen, und andererseits auch die in gleicher Art und Weise, aber nicht in derselben Geschwindigkeit bewegten Dinge, wenn sie von den sie überholenden Dingen eingeholt und ge-

|| 140 Explizit und eindeutig auch der Vergleich von Pythagoreern und Platon in Metaph. 987b27–29: καὶ ἔτι ὁ μὲν τοὺς ἀριθμοὺς παρὰ τὰ αἰσθητά, οἱ δ’ ἀριθμοὺς εἶναί φασιν αὐτὰ τὰ πράγματα, καὶ τὰ μαθηματικὰ μεταξὺ τούτων οὐ τιθέασιν („Ferner hat er [sc. Platon] behauptet, dass die Zahlen neben den wahrnehmbaren Dingen existierten, sie aber [sc. die Pythagoreer], dass die Dinge selbst Zahlen seien, und die mathematischen Gegenstände zwischen diesen beiden Klassen haben sie nicht postuliert“); vgl. unter anderem Metaph. 985b23–986a21; 990a18–32 (mit implizit klaren Hinweisen dazu, dass die Zahl erschöpfend mit dem ‚Platz‘ im Kosmos = Sternenhimmel [?] identifiziert sei); 1080b16– 33 (die Pythagoreer glauben, dass die Zahl Ausdehnung habe [32 f.: ἐκεῖνοι δ’ ἔχοντας μέγεθος […]]); 1090a20–b5; Cael. 300a14–19. Für den Hintergrund zu Philolaos siehe den Kommentar in Alexander von Aphrodisias, in Metaph. p. 74, 3–76, 5; siehe die ausführliche Diskussion bei Huffman 1993, 283– 288. Zu Philolaos’ Astronomie siehe Huffman 1993, 240–261, auch Burkert 1962 und jüngst Graham 2015. Die ontologischen und epistemologischen Fragen bezüglich der intelligiblen Zahlen (etc.) bei Platon werden allgemein speziell unten in Kap. 6 diskutiert. 141 Zum Fragment siehe umfassend Huffman 2005, 103–161; auch Bowen 1982.

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troffen werden. Viele von diesen Geräuschen seien wir aufgrund unserer Natur nicht fähig zu erkennen, die einen wegen der Schwäche des Schlags, die anderen wegen der Größe des Abstandes von uns und andere wiederum wegen des Übermaßes der Größe.

Ähnlich wie bei Philolaos sind die mathematischen Wissenschaften bei Archytas mit Bezug auf das Körperliche definiert und gehen in diesem auf. So ist die Astronomie bestimmt als Beobachtungswissen bezüglich der Sterne, konkret bezüglich ihrer Geschwindigkeit und ihrer Auf- und Untergänge im Jahresverlauf, und wie die ausführliche Entfaltung der Theorie zur Tonhöhe zeigt, besteht mathematische Musiktheorie im Anführen und Verknüpfen von numerischen Relationen, die sich direkt in physikalischen Sachverhalten manifestieren. Mathematische und physikalische Relationalität fallen in eins. Entsprechend ist eine mathematische Beschreibung der Realität prinzipiell durch ein exaktes Ausmessen des Physikalischen zu erreichen. Insgesamt steht eine solche Konzeption von Mathematik (mutatis mutandis) in derjenigen Tradition (oder konvergiert mit ihr), wie sie oben für die frühe Zeit erschlossen worden ist und sich insbesondere in (Platons) Theodoros manifestiert (siehe oben Kap. 4.6). Wie auch immer die genealogischen Verhältnisse sind, in jedem Fall ist diese Form von Mathematik inkompatibel mit derjenigen Form, die durch Euklid repräsentiert wird – und auch durch Platon, nicht nur in den oben diskutierten Stellen im Menon oder im Theaitetos, sondern auch in zwei umfangreicheren Passagen in Politeia VII, die, in direkter Entgegnung auf die pythagoreische Konzeption, die Unterscheidung zwischen ‚physikalischer‘ und ‚intelligibler‘ Mathematizität diskutieren.142 Aus platonischer Sicht besteht das in Bezug auf die Würfelverdopplung kritisierte Vorgehen dann in der Tat darin, ohne (mit intendiert doppeldeutigem Sinn)

|| 142 Für die Stellen siehe unten Kap. 5.5. Der Unterschied ist symptomatisch für den Unterschied von Pythagoreismus und platonischer Philosophie; er wird in der (speziell auf die Alte Akademie zurückgehenden) doxographischen Tradition dadurch verdeckt, dass platonische Lehren als pythagoreisch gelten: siehe grundlegend Burkert 1962, speziell 14–85; als knappe Formel (70): „Die Pythagorastradition ist eine Platoninterpretation der Alten Akademie.“ So ist unwahrscheinlich, dass Eratosthenes oder Plutarch (die ja mehr oder weniger in dieser doxographischen Tradition stehen) in der Anekdote des Mathematikertadels diesen zentralen Gegensatz zum Ausdruck gebracht hätten, ohne dass es ein reales historisches Gegenstück gegeben hätte. In Diogenes Laertios’ Verweis auf Archytas’ methodologische Neuerung in Verbindung mit der Würfelverdopplung (8, 83: οὗτος πρῶτος τὰ μηχανικὰ ταῖς μαθηματικαῖς προσχρησάμενος ἀρχαῖς μεθώδευσε καὶ πρῶτος κίνησιν ὀργανικὴν διαγράμματι γεωμετρικῷ προσήγαγε, διὰ τῆς τομῆς τοῦ ἡμικυλίνδρου δύο μέσας ἀνὰ λόγον λαβεῖν ζητῶν εἰς τὸν τοῦ κύβου διπλασιασμόν [„Dieser hat als erster das Gebiet der Mechanik unter zusätzlicher Verwendung der mathematischen Prinzipien methodisch behandelt und als erster instrumentelle Bewegung an das geometrische Diagramm herangeführt, als er danach suchte, durch den Schnitt eines Halbzylinders zwei mittlere Proportionale für die Verdoppelung des Würfels zu bestimmen“]) ist die Pointe nicht erkannt: Hier wird Archytas’ kinematische Lösung in der doxographischen Wiedergabe mit der Hinzunahme mechanischer Werkzeuge zu einer rein mathematischen Lösungsfindung, ohne dass der Widerspruch zur Eigenschaft von Archytas’ Lösung, primär streng mathematisch zu sein und eben nicht auf mechanische Hilfsmittel im Sinn von Platons Tadel angewiesen zu sein, bemerkt wird.

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‚Ratio‘ die zwei mittleren Proportionalen zu ergreifen, und zwar, wie bezeichnenderweise hinzugefügt ist, ‚insoweit dies überhaupt möglich ist‘ (δίχα λόγου δύο μέσας ἀνὰ λόγον, ᾗ παρείκοι, λαβεῖν). Insbesondere für Archytas hätte die Substitution einer ‚mathematischen‘ durch eine empirisch mechanisch-physikalische Lösung methodisch nahegelegen und gar nicht als problematisch erscheinen können – ja: sogar als geboten, insofern sich aus pythagoreischer Sicht gerade im Schritt zur dritten Dimension die Möglichkeit eröffnet hätte, Geometrie nicht am Substitut des Zweidimensionalen, sondern am direkten, eigentlichen Objekt zu betreiben, einem Körper.143 Diese Diskussion, so ist angesichts der Ergebnisse zur Geschichte des Delischen Problems zu schlussfolgern, hat in den 350er Jahren v. Chr. zu einem Zeitpunkt stattgefunden, an dem die Stereometrie noch nicht etabliert war, mithin (unabhängig davon, wie die Gattungsgeschichte der ‚Elemente‘ insgesamt rekonstruiert wird) noch kein systematisches Gebilde von Propositionen vorlag und also noch nicht fest etabliert war, wie man Stereometrie lege artis zu betreiben hat. So zeigt sich ein plausibler Grund dafür, dass sich Plutarch zufolge gerade zu dieser Zeit die Mechanik von der Mathematik absonderte:144 Einerseits drängt sich die Zuhilfenahme mechanischer (das heißt: körperlicher) Elemente zum Beweis mathematischer Sachverhalte erst im Dreidimensionalen auf, und dies wäre dann historisch mit Nachdruck wohl tatsächlich das erste Mal im Rahmen des Versuchs der Lösung der Würfelverdopplung geschehen. In diesem Kontext hätte sich exemplarisch eine wissenschaftsphilosophische Grundlagendebatte zum Beweis in der Stereometrie und der Natur der mathematischen Gegenstände im Allgemeinen entzündet. Andererseits wäre die Ausdifferenzierung einer theoretisch und einer physikalisch verstandenen Mathematik in der Tat erst gerade dann plausibel, wenn sich ein neues Paradigma von Mathematizität herausgebildet hatte und zum dominierenden Paradigma geworden war. In der Rückschau ist aber eben ausschließlich die mit universellen und nicht an das Physikalische gebundenen Relationen beschäftigte Mathematik euklidischen Typs ‚Mathematik‘, während die anscheinend ursprünglichere Form von Mathematik, die physikalische Relationen als ‚mathematisch‘ konzeptualisiert und ‚mathematische‘ Beschreibung als Vermessung physikalischer Realität versteht, im Zuge dieses Paradigmenwechsels nicht mehr ‚Mathematik‘ im eigentlichen

|| 143 Ist dies der Grund, weshalb für Archytas außer der Würfelverdopplung keine Beschäftigung mit der Geometrie bezeugt ist? Siehe oben Anm. 99. So könnte sich Archytas für die Würfelverdopplung außerhalb seines eigentlichen Tätigkeitsgebietes bewegt haben, gegebenenfalls naheliegend wegen der Relevanz von Proportionenverhältnissen für dieses Problem, also Phänomenen, die auch (und handgreiflich) in der Musiktheorie zentral sind. Relevant ist auch, dass Archytas mit anderen, nichtmathematischen körperlichen Modellen verbunden ist, etwa einer fliegenden hölzernen Taube: siehe A10a mit den ausführlichen Anmerkungen in Huffman 2005, 571–579; vgl. Berryman 2003, 354–356. 144 Zur Diskussion dieses Sachverhalts in der Forschung siehe unter anderem Berryman 2009, 87– 97; zu modernen Definitionen der Mechanik als Disziplin siehe die Zusammenstellung bei Berryman 2009, 15–20, zur Problematik ihrer Bestimmung gerade im 4. Jh. v. Chr. Berryman 2009, 104.

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Sinn geblieben war, sondern zur ‚Mechanik‘ als gewissermaßen angewandter Mathematik geworden war.145 Plutarchs wissenschaftshistorische Informationen erweisen sich als grundsätzlich glaubwürdig. Die Schlussfolgerung ist, dass sich Platons Tadel primär nicht auf Archytas’, Eudoxos’ und Menaichmos’ Lösungen in der uns überlieferten Form bezieht, sondern auf deren Vorstufen – die der Anfangsphase der Lösungsfindung entstammen, während deren zwar schon das eigentliche Problem und eine Lösungsstrategie erkannt war, das genuin mathematische Instrumentarium hingegen noch nicht zur Hand war.146 In der methodologischen Diskussion, die in diesem Kontext geführt wurde, ging es jedoch nicht, wie oftmals behauptet, um die Frage der Zulässigkeit von Mathematik des bewegten Dreidimensionalen – hiergegen hat Platon keine Einwände vorgebracht, ganz im Gegenteil –, sondern um grundsätzlichere Fragen.147 Diese Deutung erhärtet der nächste Unterabschnitt mit einer tiefergehenden Analyse zum Verhältnis von Platons ‚mechanischem‘ Ansatz zur Würfelverdopplung und seiner methodologischen Kritik an ‚mechanischen‘ Ansätzen.

|| 145 Parallel ist dann die Ausdifferenzierung von ‚Geodäsie‘ und ‚Geometrie‘: siehe oben Anm. 4125. 146 Man beachte schon Steele 1936, 308, der mahnt, „den Gegenstand von Platons Tadel nicht unbesehen gerade aus den überlieferten Lösungen gerade der delischen Aufgabe zu entnehmen“. Siehe auch Sturm 1895, 53 f. Zu erwägen ist, dass die überlieferten Fassungen der Beweise nicht direkt auf Archytas und Menaichmos zurückgehen könnten, sondern ebenfalls euklidisch überformt wurden; diese Möglichkeit besteht speziell bei Archytas, weist die Überschrift bei Eutokios doch die referierte Fassung explizit Eudemos zu: „Die Entdeckung des Archytas nach Eudemos’ Bericht“ (Eutokios, in Archim. Sph. Cyl. p. 84, 12: Ἡ Ἀρχύτου εὕρησις, ὡς Εὔδημος ἱστορεῖ). Außerdem gibt es zusätzliche Indizien, die eine weitergehende Überformung durch zusätzliche Zwischenschritte anzeigen könnten (siehe Neuenschwander 1974). Ähnliches ergibt sich auch aus dem jüngsten Versuch der Rekonstruktion der ursprünglichen Fassung durch Masià 2016: vgl. oben Anm. 134. 147 Entsprechend kann auch mit Sicherheit die eine (und präferierte) der zwei von van der Waerden 1956, 268 vorgebrachten Rekonstruktionen der Handlungsabfolge im (als fiktionalen Dialog verstandenen) Platonikos ausgeschlossen werden: „Die theoretische Lösung hatten sie schon und sie entwarfen für die Delier mechanische Lösungen, die Platon dann verwarf.“ Vgl. van der Waerden 1956, 270, wo diese Reihenfolge mit dem ‚Zurückwenden‘ in Verbindung gebracht wird (abermals ohne die Politeia-Parallele zu beachten). Den Kern von Platons (potentiell historischer) Kritik an Archytas sieht in diesem Sinn auch Huffman 2005, 392–401 darin, dass Archytas zwar eine streng geometrische Lösung entwickelt habe, diese aber ihren Ausgang von einem lebensweltlichen, nicht-mathematischen Problem genommen habe, und dass er nicht versucht habe, gemeinsam an der Begründung der Stereometrie als eigener Disziplin mitzuwirken: „In the end Plato is complaining precisely about a stereometry that is ‚externalist,‘ in that its development is being guided by issues external to the discipline [sc. unter anderem das Delische Problem] itself rather than its own internal logic“ (401); „there was a scattering of proofs, which, while gems in themselves, had not been integrated with one another in a way that would create the discipline of ‚stereometry‘“ (398). Letztlich lässt sich diese Deutung aber nicht am Text der Plutarch-Zeugnisse belegen (und mit den Zeugnissen zum Delischen Problem insgesamt zur Kongruenz bringen).

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5.3.3 Platons Tadel Die bisherige Analyse hat erwiesen, dass sowohl die Delier-Anekdote insgesamt als auch speziell Platons bei Plutarch überlieferter Tadel von mechanischen Lösungsansätzen zur Würfelverdopplung plausibel und in ihrem wissenschaftshistorischen Kontext sinnvoll zu verstehen sind. Allerdings ist die zentrale Frage noch immer unbeantwortet: Wie könnte die Platon zugeschriebene mechanische Lösung selbst mit seiner scharfen Kritik an der Zuhilfenahme mechanischer Elemente bei der mathematischen Lösungsfindung vereinbar sein? Träfe diese Lösung nicht derselbe Vorwurf, mit der Folge, dass sie eben gerade nicht Platon zugeschrieben werden kann, ja: darf? Im Sinne der communis opinio erscheint die bisherige Rekonstruktion als fragwürdig. Eine modelltheoretische Betrachtung erweist, dass zwischen Platons Ansatz und dem Vorgehen von Archytas, Eudoxos und Menaichmos einerseits und Eratosthenes andererseits signifikante Unterschiede bestehen, mit der Folge, dass Platons Lösung nicht von dem ihm zugeschriebenen Tadel erfasst ist. Zwei Punkte sind entscheidend: (1) Bei der Würfelverdopplung liegt ein mathematisches ‚Problem‘ vor; das Ziel ist die Erzeugung eines mathematischen Objekts, hier der zwei mittleren Proportionalen. Aus Sicht der Mathematik euklidischen Typs müssen diese im Modell in Form mathematischer Relationalität generiert werden sowie der anhand dieser Relationalität operierenden Analyse zugänglich sein. Vor diesem Hintergrund wäre Archytas’, Eudoxos’ und Menaichmos’ geplantes und von Platon kritisiertes Vorgehen genuin nicht-mathematisch, denn es sieht angesichts der praktischen Schwierigkeit, die gesuchten Objekte rein mathematisch zu erzeugen, vor, die Konstruktion mittels kategorial nicht-mathematischer, ‚mechanischer‘ Elemente vorzunehmen, speziell in der Kataskeue. Die Überführung der (wie auch immer beschaffenen) Ekthesis in die den Beweis ermöglichende Endkonfiguration wäre folglich nicht auf der ausschließlichen Grundlage wohldefinierter mathematischer Relationen erfolgt, sondern die relationale Qualität des verwendeten Modells hätte einen physikalischen Charakter gehabt. Aus der euklidischen Perspektive kommen ihm die mathematischen Attribute und Relationen aber nur akzidentell zu. Methodisch wäre nicht garantiert, dass die verwendeten Modelle einerseits tatsächlich die relevanten Modellattribute (und -relationen) repräsentieren und dass sie andererseits nicht über zusätzliche syntaktische Attribute (und Relationen) verfügen (die gegebenenfalls mit den mathematischen Attributen und Relationen als solchen inkompatibel wären). Mathematische Richtigkeit unterläge dann aber einem empirischen, mithin nicht-mathematischen Kriterium. Die effektive Konstruktion der mittleren Proportionalen hätte auf diesem Weg im euklidischen Sinn prinzipiell nicht bewiesen werden können. (2) Der Platon zugesprochene Ansatz ist zwar in einem ähnlichen Kontext zu verorten, denn er bedient sich unbestreitbar einer instrumentellen, ‚mechanischen‘ Vorrichtung zur Erzeugung zweier mittlerer Proportionaler. Allerdings ist der mathematische Status kategorial anders, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist das Werkzeug kein physikalisch-mechanisches Modell, sondern ein gedankliches (man

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beachte νοηθῇ bei Eutokios). Entscheidender ist jedoch, dass das Werkzeug kein mechanisches Modell des gesamten mathematischen Sachverhalts ist, wie es in der Konsequenz (das heißt dem Sinn der Tadelanekdote nach) bei Archytas, Eudoxos und Menaichmos der Fall gewesen wäre: Platons Werkzeug soll nicht in abschließendem Sinn als hinreichendes relationales System die mathematischen Objekte der Kataskeue erzeugen – also diejenigen mathematischen Objekte, aus deren Zusammenspiel sich die zwei mittleren Proportionalen ergeben, und mithin auch diese selbst – und also die mathematische Unpässlichkeit auf diesem empirisch-physikalischen Weg umgehen.148 Vielmehr liegt eine irreduzible, mathematisch nicht spezifizierte Interaktion des Werkzeugs mit den wahrnehmbaren mathematischen Submodellen des (in der Ekthesis generierten) Ausgangsdiagramms vor. Damit ist Platons mechanisches Werkzeug kein Substitut für den eigentlichen mathematischen Beweis, und es soll ebenso wenig den gesamten mathematischen Sachverhalt als ‚mathematisches‘ (sei es qualitativ-quantitatives, sei es numerisch-exaktes, sei es zweidimensionales, sei es dreidimensionales) ‚Diagramm‘ (im Sinn eines diagram) repräsentieren. Diesen Zweck hätten aber Plutarch zufolge die kritisierten Lösungen gehabt, waren sie doch als vollständig hinreichende „Proportionalenzeichner“ (μεσόγραφοι) konzipiert. Doch was ist dann der Zweck von Platons Werkzeug? Anscheinend dient es als heuristisches Mittel, das den mathematischen Beweis simulieren, nicht aber ersetzen soll. Es vermag, so die Hoffnung, effektiv aufzuzeigen, dass und wie sich die zwei mittleren Proportionalen finden lassen könnten. Schließlich sind sie im Endzustand ja tatsächlich vorhanden; dies spiegelt sich auch im Text wider, insofern implizit die Ähnlichkeit der im mechanischen Prozess erzeugten Dreiecke aufgezeigt wird (vgl. Euklid, Elem. 1, 29; 1, 32; 6, 4: siehe oben mit Anm. 105). Das Werkzeug hat folglich den Zweck, in nicht-mathematischer Weise von der Anfangs- in die Endkonfiguration des Diagramms bewegt zu werden, und zwar so, dass sich ein Hinweis darauf ergibt, wie sich eine genuin mathematische Lösung finden lässt, mithin durch die Erzeugung geeigneter, bisher unbekannter mathematischer Objekte. Das Werkzeug ist ein nichtmathematisches Modell der in der mathematischen Kataskeue zu erzeugenden zusätzlichen Submodelle des Gesamtmodells der Proposition; und sein Zweck ist im Ergebnis das Experiment mit dem (genuin mathematischen Ausgangs-) Diagramm: Die Beweglichkeit des Instruments erlaubt die Generierung verschiedener Konfigurationen eines kompositionalen zugleich mathematischen und nicht-mathematischen diagrammatischen Modells, von denen eine spezifische Konfiguration einen Hinweis auf die Art und Weise der Konstruktion eines schließlich rein mathematischen Dia|| 148 In der Tat erzeugt Platons Modell selbst weder ein euklidisch-mathematisches Objekt noch ein physikalisches Äquivalent: „The manipulation of the […] device, in the manner described by Eutocius, does not give rise to any curve“ (Knorr 1986, 59). Dasselbe gilt auch dann, wenn man Knorrs ebenda gemachten Vorschlag zu einer entsprechenden Modifikation des Geräts vornimmt, denn die dann erzeugten Kurven sind nicht ‚mathematisch‘, da nicht ausschließlich im theoretischen Rahmen der Mathematik konstruiert. Dasselbe gilt für Heaths 1921, 1, 257 f. Vorschlag.

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gramms geben könnte. Platons Werkzeug ist in diesem Sinn erst einmal ebenso wenig anstößig wie der Gebrauch eines Lineals oder eines Zirkels (auch jenseits des von den Postulaten und den anderen Propositionen mittelbar gedeckten Gebrauchs), um durch Herumprobieren eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie ein Beweis anhand eines spezifischen Diagramms euklidischen Typs erbracht werden kann.149 Es erschließen sich zwei Aspekte von Platons Lösung gemäß Eutokios: (1) Die Proposition folgt der Form der Proposition euklidischen Typs und ist in Protasis, Ekthesis, Kataskeue und Apodeixis gegliedert: Während auch hier die Protasis regulär das Konstruktionsziel allgemein benennt, die Ekthesis das mathematische Ausgangsmodell generiert und die Apodeixis mathematisch hinreichend das Vorhandensein zweier mittlerer Proportionaler aufzeigt, werden diese zwei mittleren Proportionalen jedoch in der ‚mechanischen‘ Kataskeue erzeugt, also allein mittels des mechanischen Werkzeugs. Der Aufbau der Proposition macht transparent, dass die so beschaffene Kataskeue in der Tat nur den Zweck hat, vorläufig die bisher unzugängliche mathematische Erzeugung zu überbrücken, aber eben zugleich doch Hinweise auf die Form der gesuchten Kurven oder deren Äquivalente zu geben. (2) Damit dies geschehen kann, ist ein Instrument erforderlich, das hinreichend genau so hergestellt wird, dass so weit wie möglich Störfaktoren ausgeschaltet werden, die in der ‚mechanischen‘ Kataskeue nicht-mathematische Relationen erzeugen, die nicht potentiell als Kandidaten für mathematische Relationen gedeutet und sekundär als solche genuin mathematisch erzeugt werden könn(t)en. Als heuristisches Instrument ist zum Beispiel ein Lineal, das, soweit es eben im Physikalischen möglich ist, ‚gerade‘ Linien erzeugt, brauch- und hilfreicher als ein ‚Lineal‘, das in irregulärer und unvorhersehbarer Weise gezackte Linien erzeugt. Insgesamt besteht ein signifikanter Unterschied zwischen Platons Ansatz und Archytas’, Eudoxos’ und Menaichmos’ Vorgehen, trotz der oberflächlichen Ähnlichkeit, die sich im Begriff der Mechanizität fassen lässt: Platons Lösung nutzt nicht intentional wie die anderen Ansätze mechanische Elemente im Bereich des eigentlichen mathematischen Beweises und seiner materialen Vorbereitung, sondern verwendet diese lediglich als ersten, intendiert reversiblen Schritt hin zu eben diesem noch zu findenden Beweis; ‚mechanisches‘ Verfahren und Beweis sind konzeptuell kategorial getrennt. Das Werkzeug ist damit in seiner für die Lösung entscheidenden Funktion ein imaginiertes Werkzeug.150 Archytas, Eudoxos und Menaichmos hingegen wollten angesichts der gravierenden mathematischen Schwierigkeiten die effektive Erzeugung der gesuchten Linien an zentraler Stelle endgültig auf mechanische, das heißt physikalische Komponenten gründen, mithin die ‚mathematische‘ durch eine ‚me-

|| 149 Vgl. aus anderer Perspektive Bowen 1983, 22, der darauf hinweist, dass der Gebrauch eines Werkzeugs als solcher keine Auswirkungen auf die Mathematizität des resultierenden Diagramms hat. 150 Aus diesem Grund wäre nicht auszuschließen, dass die spezifisch handwerklichen Elemente der Beschreibung bei Eutokios tatsächlich ein späterer Zusatz sind: siehe oben mit Anm. 104.

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chanische‘ Kataskeue substituieren, und zwar ohne die ‚mechanische‘ Kataskeue nur als provisorisch-heuristischen Ausgangspunkt zum Finden der ‚mathematischen‘ Kataskeue zu nutzen.151 Modelltheoretisch hätten sie damit die Schwierigkeit der Erzeugung des ‚mathematischen‘ Modells mit einem eigens hierfür konstruierten physikalisch-empirischen Modell zu umgehen versucht – aus ‚pythagoreischer‘ Sicht zwar in vertretbarer Weise, nicht aber aus der Perspektive der platonischen Philosophie und gleichfalls nicht derjenigen der Mathematik euklidischen Typs: Archytas, Eudoxos und Menaichmos wären, um Plutarch unter direkter Aufnahme seiner Formulierung (ein wenig spezifischer als oben) zu paraphrasieren, von dem schon konzipierten mathematischen Ausgangsmodell (den ‚krummen Linien‘ und den ‚Schnitten‘), das die Problemlösung schon in den Bereich des Abstrakt-Mathematischen überführt hatte und einen strikt mathematisch-relationalen Beweis ermöglicht hätte, zurück zum Bereich des Körperlichen ‚gelaufen‘ (vgl. oben für die Prominenz dieser Metapher in Plutarchs Wiedergabe) – und zwar, so Platons Vorwurf, um dort zu bleiben. Der Status von Platons Vorschlag als heuristisches Mittel findet eine weitere Bestätigung in zwei unabhängigen Beobachtungen: (1) Auch Archimedes bestimmt den Nutzen ‚mechanischer‘ Modelle in der Mathematik exakt im skizzierten Sinne. Anzuführen ist eine Passage zu Beginn der Methodos, in der Archimedes gegenüber Eratosthenes das Folgende ausführt: ὁρῶν δέ σε, καθάπ(ερ) λέγω, σπουδαῖον καὶ φιλοσοφία̣ς̣ προεστῶτα ἀξ[ι]ο̣λόγως καὶ τὴν ἐν τοῖς μα[θ]ήμ[α]σιν κατὰ τὸ ὑποπίπτ(ον) θεωρίαν τετιμηκότα ἐδοκίμασα γράψαι σοι καὶ εἰς τὸ αὐτὸ βιβλίον ἐξορίσαι τρόπου τινὸς ἰδιότητα, καθ’ ὃν ἐπιπορευόμενον ἔσται λαμβάνειν ἀφορμὰς εἰς τὸ δύνασθαί τινα τῶν ἐν τοῖς μαθήμασι θεωρεῖν διὰ τῶν̣ μηχανικῶν. τοῦτο δ̣ὲ̣ πέπισμαι [χρή]σιμον εἶναι οὐδὲν ἧ̣σ̣σον̣ καὶ ε̣ἰ ̣ς̣ τ̣ὴ̣(ν̣) ἀπόδειξιν αὐτῶν τῶν θεωρημάτων. καὶ γὰρ προτέρων μοι φανέντων μηχανικῶς ὕστερ(ο)ν γεωμετρικῶς ἀπεδείχθη δ(ιὰ) τὸ χωρὶς ἀποδείξεως (εἶναι) τὴν δ(ιὰ) τ(οῦ) τρόπου θεωρίαν· ἑτοιμότερον (γάρ) ἐστι προλαβόντα δ(ιὰ) τοῦ τρόπου γνῶσίν τινα τῶν ζητημάτων πορίσασθαι τὴν ἀπόδειξιν μᾶλλον ἢ μηδενὸς ἐγνωσμένου [ζ]ητεῖν. Da ich sehe, dass du, wie ich sage, voller Eifer bist, in berühmter Weise an der Spitze der Philosophie stehst und voller Wertschätzung für die Forschung in den mathematischen Wissenschaften gewesen bist, wenn sich eine Gelegenheit ergeben hat, hielt ich es für richtig, dir zu schrei-

|| 151 Angesichts dessen wäre vor dem Hintergrund des oben rekonstruierten allgemeinen Charakters der frühen griechischen Mathematik auch eine andere, freilich spekulative Deutung des Befundes hinsichtlich der Gestaltung einer mathematischen Proposition möglich, zumindest dann, wenn der Terminus ‚Kataskeue‘ für den entsprechenden Teil des mathematischen ‚Beweises‘ schon für die frühe Zeit angesetzt werden darf: Die ‚Kataskeue‘ könnte ursprünglich in der Tat, dem Wortsinn gemäß, eine mechanische Vorrichtung gewesen sein, die helfen sollte, einen Ausgangspunkt in einen Endpunkt zu überführen, und zwar wohlgemerkt allein mit einem praktischen Zweck, ohne Berücksichtigung dessen, was mathematisch während dieser Transformation vor sich geht und welchen Bedingungen sie genügen muss (wie es ja aber allem Anschein nach allgemein für die frühe Zeit der Mathematik zu unterstellen ist). Wäre dies der Fall, ergibt sich eine zwanglose Erklärung für die spezifische Reihenfolge der Schritte in einer mathematischen Proposition, wie sie oben entfaltet wurde.

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ben und den spezifischen Charakter einer gewissen Methode in dasselbe Buch zu bannen, mit der es, wenn man ihrem Weg folgt, möglich sein wird, die Startpunkte dafür zu ergreifen, fähig zu sein, einiges in den mathematischen Wissenschaften durch mechanische Mittel zu erforschen. Ich bin überzeugt, dass dies um nichts weniger nützlich sein wird hinsichtlich des Beweises der Theoreme selbst. Denn auch einige derjenigen Dinge, die mir zuvor auf mechanische Weise klar wurden, wurden später geometrisch bewiesen (denn die Forschung mittels dieser Methode ist ohne Beweis), denn es ist in höherem Maße der Boden bereitet, wenn man im Besitz einer durch diese Methode vermittelten vorherigen Erkenntnis bezüglich der gesuchten Objekte den Beweis beibringt, als wenn man sucht, ohne dass etwas bekannt ist.152

Die Beschreibung des mechanischen Verfahrens entspricht der oben rekonstruierten Funktion des Platon von Eutokios zugeschriebenen mechanischen Geräts – und Archimedes teilt ebenso Platons in der Analyse erschlossene Position bezüglich des wissenschaftstheoretischen Status derartiger mechanischer Elemente: Auch für Archimedes sind sie, auch als imaginierte Entitäten, wie die Beispiele in der Methodos belegen, nur heuristische Mittel und konstituieren keinen genuin mathematischen Beweis.153 Der Grund ist, dass gewisse Teile der in den relevanten Propositionen der Methodos erzeugten Modelle Modelle mit physikalisch-basierter Relationalität sind und entsprechend nicht zu einem rein mathematische Relationen bedürfenden Beweis führen können. Dieser muss gesondert erfolgen, und zwar auf der Grundlage eines rein geometrische Relationen repräsentierenden Modells. Im Ergebnis können wir also nicht nur in die Werkstatt des Archimedes schauen, sondern auch in die Platons. (2) Platons Ansatz entspricht in der im mathematischen Diagramm repräsentierten Ausgangskonfiguration der zweiten von Eutokios für Menaichmos referierten Lösungen (in Archim. Sph. Cyl. p. 82, 1–84, 11):154 If we look at the figure of Menaechmus’s second solution, we shall see that the given straight lines and the two means between them are shown in cyclic order (clockwise) as straight lines radiating from O and separated by right angles. This is exactly the arrangement of the lines in ‚Plato’s‘ solution.

Instruktiv ist eine Gegenüberstellung der Diagramme zu Platons Ansatz sowie Menaichmos’ Lösung:155 || 152 Archimedes, Eratosth. fol. 46V+43R 1, 33–2, 19 Netz & Wilson (= p. 83, 18–84, 3 Heiberg). Es folgt die in Kap. 4.6 zitierte Passage zu Demokrit. Zur Schrift siehe De Brasi 2016. 153 Siehe zur methodologischen Problematik mit instruktivem Beispiel Waschkies 1977, 273–276. 154 Heath 1921, 1, 255–258, das Zitat 256. White 2006a, 215–219 bringt überzeugende Argumente gegen die These Toomers 1976, 169 f., dass die in Eutokios’ Referat gemeinhin als zweite Lösung durch Menaichmos aufgefasste Lösung in Wirklichkeit von Diokles stamme, mithin nach Menaichmos oder Platon entstanden sei (zu Diokles siehe oben mit Anm. 64); siehe auch I. Bulmer-Thomas: Art. „Menaichmos“, in: Gillispie 9, 268–277, hier 272 sowie Knorr 1989, 94–100 (der jedoch die alternative Lösung des Menaichmos dem Isidor-Schüler zuweist, der Eutokios’ Werk neu edierte [99 und 114 f.]). 155 Die Diagramme in Abbildung 11 stammen aus Heath 1921, 1, 256 bzw. 255; die Unterschiede zum oben in Kap. 5.3.1 gezeigten Diagramm zu Platons Lösung sind mathematisch unerheblich (Spiege-

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Abb. 11: Diagramme zu Platons Gerät in Interaktion mit dem zugrunde liegenden mathematischen Diagramm (links) sowie zu Menaichmos’ zweiter Lösung (rechts)

Die auffällige Ähnlichkeit deutet Heath als Indiz gegen die Echtheit der Zuschreibung des Lösungsansatzes zu Platon:

|| lung und Drehung; außerdem abweichende Bezeichnungen der Diagrammelemente und schematische Hinzufügung des Instruments). Zum Diagramm zu Menaichmos’ Lösung vgl. Netz 2004a, 290 (mit Edition); er weist darauf hin, dass in allen Kodizes bis auf einen die Linien gleich lang sind; metrisch korrekte relationale Verhältnisse finden sich nur in einem (wenngleich dem verlässlichsten) Kodex. Dieser Umstand spricht abermals dafür, dass der Text der Proposition semantisch primär gegenüber dem Diagramm ist und dieses durch die textlich ausgedrückten (und hierdurch sekundär implizierten) Relationen hinreichend und vollständig in seiner Relationalität bestimmt ist (siehe oben Kap. 3). Die Idee zur Bildung gerade dieses mathematischen Modells ist im Übrigen transparent (vgl. Masià 2016): Sie beruht auf der natürlichen erweiternden Fortführung des Problems Euklid, Elem. 6, 13, also des geometrischen Findens einer (einfachen) mittleren Proportionale zwischen zwei gegebenen Linien; diese werden linear aneinandergefügt, und das auf diese Linie im Zusammenfügungspunkt vom Scheitelpunkt eines von den Endpunkten der Gesamtlinie konstruierten rechtwinkligen Dreiecks gefällte Lot ergibt die gesuchte mittlere Proportionale. Wird (mit dem kürzeren Teilsegment der Basis als erstem Term) dieses Lot in erneuter Anwendung der Modellkonfiguration aus Euklid, Elem. 6, 13 dann als erste von zwei mittleren Proportionalen und die längere der beiden Ausgangslinien als zweite von zwei mittleren Proportionalen reinterpretiert, ergibt sich, dass das (mit der ersten mittleren Proportionale die Basis des sich ergebenden neuen rechtwinkligen Dreiecks bildende) Komplement zur ersten mittleren Proportionalen den Endterm der insgesamt gesuchten Relation liefert. Wenn diese Linie als das Doppelte der Ausgangslinie bestimmt (mithin gesetzt) wird, sind die beiden mittleren Proportionalen gefunden. Das Problem bei Anwendung dieser Methode ist freilich, bei gegebener einfacher und doppelter Linie die beiden mittleren Linien zu finden – denn die ‚doppelte‘ Linie ergibt sich im linearen Prozess des Findens der beiden mittleren Proportionalen, und die Schritte der Methode sind in der Reihenfolge nicht zieläquivalent vertauschbar. In jedem Fall ergibt sich die Einsicht, dass Platons, Menaichmos’ und Archytas’ (siehe oben Anm. 134) Lösung das Vorhandensein (eines Äquivalents) der Proposition Euklid, Elem. 6, 13 mit derselben Modellkonfiguration voraussetzen. Zugleich impliziert dies über den linearen deduktiven Zusammenhang von in dieser Reihenfolge (unter anderem) Euklid, Elem. 6, 8 porisma; 6, 4; 6, 2; 6, 1; und schließlich Euklid, Elem. 5, def. 5, dass Eudoxos’ Proportionentheorie auch hier bereits vorgelegen haben muss. Hieraus ergibt sich eine direkte Bestätigung, dass Menaichmos’ und Archytas’ Lösungen nicht vor (frühestens) 370 v. Chr. formuliert worden sein könnten – oder eben tatsächlich auf die oben rekonstruierte Zeitspanne zu datieren sind, konkret die 350er Jahre v. Chr.

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Hence it seems probable that some one who had Menaechmus’s second solution before him wished to show how the same representation of the four straight lines could be got by a mechanical construction as an alternative to the use of conics.156

Angesichts der bisherigen Ergebnisse ist der gegenteilige Schluss angezeigt157 – und zwar auch deshalb, weil Heaths Deutung nicht erklärt, warum und wozu die behauptete Umsetzung vorgenommen worden sein sollte: Die bloße Suche nach einer nichtkonischen Lösung reicht hierfür nicht aus, zumal nicht transparent wäre, warum eine konische Lösung an sich als mathematisch problematisch hätte angesehen werden sollen. Plausibler ist, dass Menaichmos’ Lösung direkt von Platons ‚mechanischem‘ Lösungsvorschlag abhängt, und zwar als aktuale Lösung der mit dem heuristischen Mittel aufgezeigten potentiellen Lösung, also im Sinne der Archimedes-Stelle.158 Stutzig macht, dass bei Plutarch gerade Menaichmos von Platon dafür getadelt wird, eine mechanisch gestützte Lösung angestrebt zu haben, denn man könnte meinen, die mechanische Lösung hätte in Platons Gerät ja bereits vorgelegen. Doch wie Heaths Vergleich von Menaichmos’ zweiter Lösung mit Platons Gerät zeigt, ist der aktuale bzw. potentielle mathematische Mechanismus des Auffindens der zwei mittleren Proportionalen formal grundlegend anders, trotz der Identität von Ausgangsund Endkonfiguration.159 Die mathematische Kataskeue bei Menaichmos ist konzeptuell nicht mit der mechanischen Kataskeue Platons identisch. Platons Gerät kann nicht unmittelbar als mechanisches Modell speziell von oder für Menaichmos’ Kataskeue gelten, zumal hierfür insofern eine Modifikation vorzunehmen wäre, als Platons Gerät tatsächlich ein Kurvenzeichner werden müsste, der die mittleren Proportionalen als kontinuierliche mathematische Kurven als Schnittpunkte mehrerer Kegelschnittkurven erzeugt. Dies ist jedoch so weit nicht der Fall, und ebenso wenig ließe er sich in einfacher Weise in einen derartigen Kurvenzeichner verwandeln (siehe oben mit Anm. 148). Wie gesagt: Platons Werkzeug ist kein komplettes Modell des gesamten assoziierten mathematischen Sachverhalts, sondern nur der Kataskeue. || 156 Heath 1921, 1, 256. 157 Einen derartigen Schluss zieht auch White 2006a; sachlich zugrunde liege „the summary reason […] that the relative placement of the four lines is essential to the mechanical solution but not to Menaechmus’ parabolic solution“ (208). Menaichmos’ Lösung konserviert also als sachlich kontingentes Merkmal ihre Genealogie und demonstriert damit handgreiflich die Verbindung zu Platons Lösung. Zur hier entwickelten Deutung zeigt Whites Vorschlag zwei zentrale Unterschiede: (a) White weist die Lösung nicht Platon zu, sondern jemandem im Umkreis des Menaichmos oder (nach einem Vorschlag von Bulmer-Thomas [wie oben Anm. 154], 275) diesem selbst; (b) er hält den mechanischen Ansatz für einen mathematischen ‚Beweis‘. 158 Nicht nur das: Eine historisch adäquate Rekonstruktion, die die verfügbaren Mittel der Mathematik vor Eudemos berücksichtigt (auf den die Wiedergabe bei Eutokios ja zurückgeht), zeigt auch eine konzeptuelle Ähnlichkeit der Beweisidee von Archytas’ Lösung mit der mathematischen Grundkonfiguration von Platons Lösung: siehe Masià 2016, insbesondere 186 f.; vgl. oben mit Anm. 134. 159 Siehe Heath 1921, 1, 257 f., insbesondere 258: „As a theoretical solution, therefore, ‚Plato’s‘ solution is more difficult than that of Menaechmus.“

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Die letzte Beobachtung erfährt eine Stützung, wenn Knorr mit seiner Rekonstruktion von Menaichmos’ ursprünglicher Lösung richtig liegt:160 Eine zentrale Frage der Forschung ist zu verstehen, wie Menaichmos die Theorie der Kegelschnitte verwendet haben könnte, wie das Eratosthenes-Testimonium zu implizieren scheint – wo doch diese Theorie letztlich erst mit Apollonios in einer anwendbaren Form verfügbar gewesen zu sein scheint, ganz wie es auch die Terminologie von Menaichmos’ Vorschlag bei Eutokios belegt. Knorr schlägt vor, dass Menaichmos keineswegs Kegelschnitte im späteren Sinne verwendet habe, sondern dass er diese Kurven punktweise eins zu eins mit Hilfe eines flexiblen Lineals erzeugt habe, also in einer Weise, wie es Platons Werkzeug nahelegt. Menaichmos konnte folglich zum einen die Kurven selbst tatsächlich nicht ‚mathematisch‘ erzeugen, zum anderen hätte aber das Problem dazu gedrängt, diese Kurven aktual zu erzeugen. So hätte die Konstruktion eines mechanischen Gerätes nahegelegen, das das, was die mathematische Theorie noch nicht vermochte, über den Umweg eines physikalischen Gerätes umsetzt. Ein solches Gerät aber wäre ganz im Sinne Platons keine mathematische Lösung des Problems mehr, sondern eine ‚mechanische‘ Vorrichtung, die das mehr oder weniger richtige Ergebnis empirisch im Bereich des ‚Werdens‘ erzeugt hätte – denn, wie gesagt, aus der ‚mechanischen‘ Umsetzung und mithin Modellierung des gesamten Sachverhalts folgt, dass auch die Ekthesis (und implizit die Apodeixis, auf die es hier dann aber ja gerade nicht mehr ankommt) ‚mechanisch‘ wird. Im gegebenen Rahmen ist freilich unerheblich, ob Menaichmos sich daran machte, einen Kurvenzeichner zu erfinden oder seinen anderen Vorschlag mechanisch zu stützen oder wie Eratosthenes eine mechanische Umsetzung des gesamten Lösungsvorschlags nach dessen Auffindung vorzunehmen. So oder so würde das Vorhandensein von Platons mechanischer Heuristik nicht von vornherein die Historizität der Anekdote von Platons Tadel bezüglich einer Mechanisierung des Beweises seitens des Menaichmos unmöglich machen. Freilich könnte es alternativ ebenso der Fall sein, dass Menaichmos von Plutarch der Gruppe, die das Problem mittels einer empirischphysikalischen Kataskeue lösen wollte, fälschlicherweise zugerechnet worden ist, und zwar aufgrund seiner Verbindung mit Eudoxos. So ist ja in einem der PlutarchZeugnisse nur von Archytas und Eudoxos die Rede ist, unter ausdrücklicher Verwendung des Wortes „beide“; außerdem verweisen die angeführten mathematischen En-

|| 160 Siehe Knorr 1986, 61–66 und ausführlich Knorr 1982. Er lokalisiert Menaichmos’ Lösung(en) im Kontext der sogenannten ‚Flächenanlegung‘. Signifikanterweise ist diese auch für die zweite mathematische Menon-Passage relevant (86e4–87b2), und zwar dahingehend, dass diese Probleme als Gegenstand der aktuellen mathematischen Forschung zur Abfassungszeit des Dialogs erscheinen: siehe unten Kap. 6.5. Dass in Menaichmos’ Vorgehen in der Rückschau (und schon bei Eratosthenes: Eutokios, in Archim. Sph. Cyl. p. 96, 17) die Beschäftigung mit Kegelschnitten im strengen Sinn diagnostiziert wird, ist ein weiteres instruktives Beispiel für die herausgearbeitete Tendenz der griechischen Mathematik, den gegenwärtigen Stand der Kenntnis ahistorisch in die Vergangenheit zu projizieren; es liegt eine Parallele zu den Spezifika der Entdeckung der Inkommensurabilität vor: siehe Kap. 4.6.

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titäten, die mechanisch generiert werden sollten, primär auf Eudoxos’ und Archytas’ Lösungen, und dies legt auch der in ähnlichen Begriffen erfolgende Verweis in Eratosthenes’ Weihepigramm im Brief an Ptolemaios nahe.161 Dies führt zu einem weiteren Punkt: Der innige konzeptuelle Zusammenhang von Platons Modell möglicher Lösungen des Problems der Würfelverdopplung und Menaichmos’ hierauf bezogener aktualer Lösung macht verständlich, warum bei Eratosthenes Menaichmos’ Ansatz (wenn sich dies nicht auf die andere seiner Lösungen bezieht) nicht δυσμήχανος wie diejenigen von Archytas und Eudoxos sei, sondern sich umsetzen lasse, wenn auch mit großer Mühe (Eutokios, in Archim. Sph. Cyl. p. 90, 8–11 und p. 96, 16–19): Einerseits beweist Platons gedankliche mechanische Konstruktion zwar die Möglichkeit der Realisierung von Menaichmos’ Lösung, nur ist sie – wie auch Knorrs Vorschlag zu ihrer praktischen Umsetzung belegt – nicht in einer einfachen Weise handhabbar.162 Doch vielleicht ist Eratosthenes’ Qualifizierung von Menaichmos’ Lösung als schwer umsetzbar nur dem Umstand geschuldet, dass er die Originalität seiner eigenen Lösung beschönigen wollte: Damit diese das Attribut der leichten Mechanisierbarkeit hat, kann Eratosthenes dieses Verdienst kaum Menaichmos zuschreiben, sondern muss versuchen – wenn Menaichmos’ Lösung tatsächlich doch relativ leicht als ‚Kurvenzeichner‘ mechanisierbar gewesen sein sollte –, diese Eigenschaft zu relativieren.163 Andererseits wäre es ihm aber nicht möglich gewesen, Menaichmos’ Vorschlag in dieser Hinsicht zu übergehen, da bekannt gewesen wäre, dass diese Lösung zumindest in der Form von Platons Vorschlag tatsächlich mechanisierbar war – was insgesamt wissenschaftshistorisch ebenso transparent machte, warum Eratosthenes auf die schwere bis gänzlich ausgeschlossene Mechanisierbarkeit der Vorschläge von Archytas, Eudoxos und Menaichmos zu sprechen kommen kann: Hierbei hätte es sich einschließlich der Kritik Platons um den Verweis auf ein wohlbekanntes Faktum der Mathematikgeschichte gehandelt. Um es nicht zu vergessen: Eigentlicher Adressat des Briefes ist ja nicht Ptolemaios, sondern seine Fachmathematikerkollegen, parallel zu Archimedes, der etwa seinen Arenarius als Brief an Gelon verfasst. || 161 Siehe Eutokios, in Archim. Sph. Cyl. p. 90, 8–11 und p. 96, 16–19. So könnte Plutarch an der Stelle, wo er Menaichmos einschließt, eine Formulierung wie zum Beispiel οἱ περὶ Εὔδοξον (so etwa auch bei ihm selbst in Marc. 14, 8) aus Versehen wörtlich und im gegebenen Kontext sachlich falsch als echten Plural im Sinne von „die um Eudoxos“ aufgefasst haben, und dann aufgrund des anderweitig bekannten Lehrer-Schüler-Verhältnisses und angesichts der bezeugten Lösung mit speziellem Bezug auf Menaichmos: vgl. oben mit Anm. 127. 162 Knorr 1986, 63 f.; vgl. Heath 1921, 1, 257 zu Platons Lösung: „That it is possible for the machine to take up the desired position is clear from the figure of Menaechmus, […] although to get it into the required position is perhaps not quite easy.“ 163 Insofern ergibt sich kein prinzipielles Problem (so Huffman 2005, 383), wenn die in Platons Gerät vorliegende Mechanisierung von Menaichmos’ Lösung tatsächlich schon vor Eratosthenes vorgelegen haben sollte. Platons Gerät und (die auf dessen Grundlage gefundene) Lösung des Menaichmos werden in diesem Zusammenhang auch von White 2006a, 214 f. mit Anm. 28 in Verbindung gebracht.

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Damit zeigt sich zum Schluss eine Erklärung dafür, warum Platons Lösung nirgendwo außer bei Eutokios angeführt ist, insbesondere nicht bei Eratosthenes, einer der Hauptgründe für die Ablehnung der Korrektheit der Zuweisung des Vorschlags zu Platon: Insofern Platons mechanische Kataskeue kein mathematischer Beweis ist, sondern nur dessen Vorstufe, kommt ihm per se kein Platz in der mathematischen Fachliteratur zu.164 Nicht ohne Grund sind wir über den Prozess des Entstehens antiker mathematischer Beweise in der Regel nicht informiert.165 Freilich könnte Platons praktischer Ansatz in mathematisch-theoretischer Hinsicht (in Verkehrung der Chronologie) als Umsetzung von Menaichmos’ Lösung gegolten haben und als solche dann auch tatsächlich (in anonymer Form, da abgeleiteter Natur) bei Eratosthenes als mehr schlecht als recht geratener Versuch der mechanischen Umsetzung der Erzeugung der mittleren Proportionalen wieder aufgetaucht sein. Andererseits dürfte sich der Umstand, dass Platons Vorschlag in außergewöhnlicher Weise dann doch bei Eutokios überliefert ist, damit erklären, dass er in der philosophischen und speziell akademischen Tradition von historischem Interesse war. Hierüber könnte Platons Verfahren dann in die Überlieferung eingegangen sein, möglicherweise über Eudemos’ Geschichte der Geometrie; hierfür spräche, dass die Wiedergabe von Archytas’ Lösung durch Eutokios explizit nach dieser Quelle erfolgt.166 Insgesamt ist das folgende Ergebnis festzuhalten:

|| 164 Auch wenn selbstverständlich auf die (methodologisch motivierte) Ausnahme von Archimedes’ Methodos hinzuweisen ist; vgl. im Allgemeinen eindrücklich Heath 1912, 6 f. 165 Vgl. neben oben Kap. 4 zu Men. 82a7–85b7 vor allem Heiberg 1907, 300 f. zu Archimedes’ Methodos: „Es ist eine alte Klage, daß die griechischen Mathematiker in ihren Schriften immer in voller Rüstung auftreten, ohne von den Vorbereitungen etwas zu verraten, so daß nur durch mühsame Combination zu erschließen ist, auf welchem Wege sie zu ihren Resultaten gekommen sind. Hier liegen nun zum erstenmale authentische Aufzeichnungen eines griechischen Mathematikers, und zwar des größten und eigenartigsten von ihnen, über seine Methode vor […].“ Wichtig ist vor diesem Hintergrund, dass die ‚mechanische‘ Methode allem Anschein nach nicht von Archimedes erfunden wurde, sondern schon Anwendung in der ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. gefunden hatte; in der Tat erhebt er ja auch nicht den Anspruch auf Urheberschaft in der Methodos. Vgl. Heath 1912, 6 f. 166 Siehe oben Anm. 43; siehe schon Wilamowitz-Moellendorff 1941, 49 Anm. 2. Nicht hingegen ist das Postulat einer verlorenen genuinen Schrift Platons mit mathematischem Inhalt notwendig, auf die Eutokios im 6. Jh. n. Chr. noch Zugriff gehabt haben könnte: so eines der Argumente gegen die Authentizität der Zuschreibung bei Netz 2003b, 500. Eine solche wird es mit Sicherheit nicht gegeben haben, zumindest nicht als zur Publikation bestimmtes Werk. Allerdings ist davon auszugehen, dass man sowohl in der Akademie als auch im Peripatos im 4. Jh. v. Chr., auch nach Platons Tod, Zugriff auf in der Akademie oder in deren Umfeld (per Korrespondenz) zirkulierende Ausarbeitungen Platons oder Aufzeichnungen seiner Schüler zum Forschungsbetrieb in der Akademie gehabt haben wird und diese gegebenenfalls für die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung hat nutzen können – wie es ja auch bei Aristoteles’ Nachrichten über die innerakademische Dogmatik der Fall ist (vgl. Metaph. M–N). Alternativ könnte die Nachricht direkt auf Philipp von Opus zurückgehen; zumindest ist für ihn ein Werk über Mathematik bei Platon bezeugt (fr. 15a Lasserre), welches möglicherweise auch in Philodems Acad. Ind. eingegangen ist (siehe Burkert 1993, 94).

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(1) Die sich in den Zeugnissen, insbesondere bei Plutarch und bei Eratosthenes, zeigende wissenschaftsgeschichtliche Situation lässt als glaubhaft erscheinen, dass der bei Eutokios unter Platons Namen überlieferte Vorschlag zum Delischen Problem tatsächlich von Platon stammt – auch wenn es sich nicht, wie durch den Kontext bei Eutokios impliziert, um eine mathematische Lösung, sondern um ein heuristisches Mittel zum Finden eines möglichen eigentlichen Lösungsweges handelte.167 Platons Lösung ist, wissenschaftsphilosophisch betrachtet, das Modell eines mathematischen Sachverhalts (speziell Problems), das diesen in materieller Form ikonisch repräsentiert (man beachte das Wort παραδείγματα bei Plutarch, Marc. 14, 9 f.); dabei besteht ein signifikanter Unterschied zu einem genuin mathematischen Modell dieses Sachverhalts hinsichtlich der Modell- und syntaktischen Attribute, die es kein ‚mathematisches‘ Modell im strengen, das heißt ‚euklidischen‘ Sinn sein ließen. (2) Der bei Plutarch überlieferte Tadel Platons an Archytas, Eudoxos und Menaichmos betrifft nicht die pauschale Ablehnung von Mechanik im mathematischen Kontext, sondern nur speziell die mechanische Substitution zentraler Beweiselemente, hier konkret in der Kataskeue, wenn sie als mathematisch äquivalent mit genuin mathematischen Beweiselementen behandelt werden und so das gesamte Modell des untersuchten Sachverhalts nicht nur heuristisch-provisorisch, sondern permanent ‚mechanisch‘ machen. Aus der Sicht der Mathematik euklidischen Typs wäre damit prinzipiell der Weg versperrt, die spezifischen und eigentlich gesuchten mathematischen Relationen explizieren und mithin überhaupt mathematische Erkenntnis in der vorliegenden Frage gewinnen zu können.

|| 167 Das Finden eines solchen heuristischen Modells ist nicht so trivial, wie es in weiten Teilen der Forschung zum ‚Delischen Problem‘ allem Anschein nach gilt: vgl. das oben angeführte Zitat van der Waerdens 1956, 270, ebenso Wolfer 1954, 18. Die Einfachheit ergibt sich nur in der Rückschau, das Auffinden selbst ist eine gewichtige mathematische Leistung: Selbstverständlich gibt es, wie auch die diversen antiken Lösungen zeigen, keine eineindeutige Verbindung vom abstrakten Problem zur konkreten Lösung. Um aus einer allgemeinen Perspektive knapp mit Netz 2003c, 283 zu sprechen (nämlich in Bezug auf die Funktion und Bedeutung der Analyse im Beweis): „Discovery is not the result of proof; on the contrary, proof is the result of discovery. The free process of discovery must be understood through cognitive and epistemic processes that are freer than that of proof itself.“ Für einen konkreten Vorschlag, wie man sich die erste Konzeption des heuristischen Werkzeugs vorstellen könnte, siehe White 2006a, 209 f. Darauf, „dass Plato selbst diese Lösung für eine geometrische, den wissenschaftlichen Anforderungen genügende nie und nimmer halten konnte“, weist schon Sturm 1895, 54 hin (freilich in einem abweichenden theoretischen Rahmen und mit einer anderen Bestimmung des Zwecks des Gerätes). Auch das Finden der konkreten, scheinbar so einfachen Analysenfigur ist in mathematikgeschichtlicher Hinsicht voraussetzungsreich und bedient sich der aktuellsten Ergebnisse der mathematischen Forschung der 360er / 350er Jahre v. Chr.: siehe oben Anm. 155.

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5.4 Fazit Eine Analyse zu Platons Rolle in der Geschichte der Beschäftigung mit dem Problem der Würfelverdopplung war aus mehreren Gründen angezeigt, um im aufgezeigten Rahmen Einsichten in die Entwicklung der voreuklidischen Mathematik zu erlangen: In den reichhaltigen antiken Testimonien ist die Würfelverdopplung als ‚Delisches Problem‘ aufs engste mit Platon verknüpft, und es zeigten sich Indizien für die Relevanz dieses Problemkomplexes in modelltheoretischer Hinsicht, und zwar zu einer Zeit, in der eine neue mathematische Disziplin im Entstehen begriffen war. Unter Zuhilfenahme archäologischer und historischer Zeugnisse wurden die folgenden Ergebnisse erzielt, in signifikanter Abweichung von der communis opinio: (1) Die Anekdote, die Platon über die Delier mit der fachmathematischen Anstrengung zur Lösung des Problems verbindet, gibt die historischen Zusammenhänge korrekt wieder. Dies betrifft insbesondere (a) Platons Weitergabe des Problems an die Fachmathematiker und (b) die hiermit verbundenen methodologischen Diskussionen, deren spezifischer Charakter transparent wurde. (2) Die Urheberschaft Platons für den bei Eutokios unter dessen Namen überlieferten Lösungsansatz zur Würfelverdopplung ist glaubhaft. Dieser hat direkt auf die mathematische Forschung gewirkt, konkret Menaichmos und eventuell Archytas. Als tragfähige Grundlage der Analyse hat sich die modelltheoretische Perspektive erwiesen. Sie hat die in der Forschung als verwirrend-komplex geltende Überlieferungslage derart erhellt, dass der spezifische Charakter von Platons mathematischem Ansatz zur Würfelverdopplung und seiner allgemeinen mathematiktheoretischen Position in der von ihm persönlich initiierten methodologischen Diskussion transparent geworden ist. Dies hat zu einer kohärenten Deutung der wissenschaftshistorischen und -philosophischen Zusammenhänge geführt und ein Schlaglicht auf die voreuklidische Mathematik zur Mitte des 4. Jhs. v. Chr. und speziell in den 350er Jahren v. Chr. geworfen (für Details siehe oben Kap. 5.2.4). Die gewonnenen Erkenntnisse lassen weiterführende Schlussfolgerungen zu, die auch die Stellung der Akademie in der mathematischen Debatte dieser Zeit betreffen: (1) Die Akademie hatte eine wichtige institutionelle Bedeutung für die Mathematik, und zwar als Ort, an dem aktiv Forschung betrieben wurde und nicht nur passiv die Ergebnisse anderer Mathematiker für Platons Philosophie genutzt wurden. Wichtige Indizien hierfür sind, dass sich die Delier hier die Lösung eines schwierigen mathematischen Problems erhofften und dass es Platon vermochte, insbesondere Eudoxos und Archytas (und Menaichmos) in die Lösungsfindung einzubeziehen. (2) Neben der institutionellen Rolle der Akademie zeigt sich eine Bedeutung Platons bezüglich der Inhalte der Forschung, und zwar in zweierlei Hinsicht: (a) Platon hat in konkreter Weise Anstöße gegeben hinsichtlich komplexer mathematischer Zusammenhänge, insbesondere mittels des Aufzeigens möglicher Lösungswege; dies hat im Falle des Menaichmos sogar zu einer innovativen mathematischen Lösung geführt, die nicht nur eine Lösung des Problems der Würfelverdopp-

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lung darstellte, sondern ebenso zu der (auch für die moderne Physik) wichtigen Theorie der Kegelschnitte führte, die (bzw. deren punktweise erzeugtes Äquivalent) in Menaichmos’ Lösung das erste Mal in der Mathematikgeschichte positiv bezeugt ist.168 (b) Platon hat im Rahmen methodologischer Diskussionen in signifikanter Weise die Praxis der Mathematik beeinflusst, speziell in Hinsicht auf ihren Kern, die Modellierung mathematischer Sachverhalte: Insofern das für Archytas, Eudoxos und Menaichmos erschlossene, von Platon kritisierte Vorgehen beim mathematischen Beweis für die uns bekannte und überlieferte Tradition der Fachmathematik nicht als vollgültige mathematische Methode bezeugt ist – nämlich die Substitution der Konstruktion bisher nicht generierbarer mathematischer Objekte durch deren mechanische Konstruktion –, ist mit Platon verbunden, dass die Stereometrie als ‚mathematische‘ Disziplin begründet wurde und sich, wie Plutarch bezeugt, die mathematische ‚Mechanik‘ als eigenständige Disziplin von der Geometrie absonderte, in der empirischphysikalische Konstruktionen (Kataskeuai, aber ebenso auch Ektheseis) die Funktion genuin mathematischer Konstruktionen übernahmen. Die methodologische Diskussion in der Fachmathematik drehte sich in der ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. (und speziell in den 350er Jahren v. Chr.) entsprechend weniger darum, ob man mechanische Geräte im Sinne einer Entscheidung „zwischen angewandter, das heißt mit praktischen Anwendungen und handwerklichem Zutun verbundener, und reiner sich im noetischen Bereich vollziehender Mathematik“169 einsetzen dürfe oder nicht, sondern viel grundsätzlicher darum, ob und inwieweit in einem genuin theoretisch-mathematischen Rahmen mechanische Modelle (bzw. -komponenten) heuristisch und / oder beweisrelevant eingesetzt werden dürfen und, hiermit aufs Engste verbunden, welche(n) ontologische(n) Status mathematische Entitäten überhaupt besitzen. Es ging also um den Charakter von Mathematik selbst – und zwar im Kontext der Herausbildung einer neuen mathematischen Disziplin, die aufgrund ihrer dreidimensionalen Natur solche Fragen unmittelbar herausforderte. Um ein knappes Fazit zu ziehen: Am Problem der Würfelverdopplung erweist sich exemplarisch, welche Bedeutung und Rolle Platon und die Akademie für die wissenschaftliche Diskussion in der Mitte des 4. Jhs. v. Chr. hatten, sowohl in institutioneller als auch in fachmathematischer als auch in wissenschaftsphilosophischer Hinsicht. Speziell zeigt sich ein aktiver Gebrauch und das dezidierte Propagieren einer spezifischen Form mathematischen Modells, auch und gerade im Kontrast zu alternativen Ansätzen der Philosophie der Mathematik in dieser Zeit, unter anderem im ‚Pythagoreismus‘ und der Tradition der praktisch orientierten griechischen Mathematik. Die von Platon eingeforderten Modelle und damit – angesichts der zentralen Stellung von Modellen (Diagrammen) – die von ihm eingeforderte Mathematik insge-

|| 168 Siehe Knorr 1986, 61–66 (vgl. oben zur postulierten punktweisen Erzeugung); zur kontrovers diskutierten Rekonstruktion von Eudoxos’ Lösung siehe Knorr 1986, 52–61. Vgl. oben Kap. 5.3.1. 169 Das Zitat Seide 1981, 28.

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samt zeichnen sich insbesondere durch eine Abkehr von einer physikalischen, numerisch-metrisch verfassten Relationalität aus.

5.5 Epilog: Inkommensurable Mathematik In der bei Plutarch überlieferten Kritik an Archytas, Eudoxos und Menaichmos spiegelt sich die methodologische Sicht Platons wider, die in Politeia VII ausgedrückt ist, speziell in Hinsicht auf Astronomie und mathematische Harmonielehre, das heißt für Platon diejenigen zwei mathematischen Disziplinen, die sich mit dem Körperlichen in Ortsbewegung befassen (siehe oben mit Anm. 135 und unten Kap. 6.7). Eine Analyse der relevanten Stellen aus modelltheoretischer Perspektive bestätigt und erweitert die gemachten Beobachtungen, insbesondere in Hinsicht auf den Hintergrund der für die Mitte des 4. Jhs. v. Chr. erschlossenen wissenschaftsinternen Diskussionen zur Methode der Modellierung mathematischer Sachverhalte in der Fachmathematik. Betrachten wir zuerst die Astronomie. Sie wird von Platon in R. 528e–530c behandelt, beginnend mit einer Kritik an ihrer gegenwärtigen Form (R. 529a1–7): παντὶ γάρ μοι δοκεῖ δῆλον ὅτι αὕτη γε ἀναγκάζει ψυχὴν εἰς τὸ ἄνω ὁρᾶν καὶ ἀπὸ τῶν ἐνθένδε ἐκεῖσε ἄγει. – Ἴσως, ἦν δ’ ἐγώ, παντὶ δῆλον πλὴν ἐμοί· ἐμοὶ γὰρ οὐ δοκεῖ οὕτως. – Ἀλλὰ πῶς; ἔφη. – Ὡς μὲν νῦν αὐτὴν μεταχειρίζονται οἱ εἰς φιλοσοφίαν ἀνάγοντες, πάνυ ποιεῖν κάτω βλέπειν. „Es scheint mir nämlich jedem klar zu sein, dass sie [sc. die Astronomie] die Seele zwingt, nach oben zu schauen und von den Dingen hier nach dort führt.“ – „Vielleicht“, sagte ich, „ist es jedem klar, nur mir nicht. Denn mir scheint es sich nicht so zu verhalten.“ – „Aber wie dann?“, fragte er. – „So, wie sie zum jetzigen Zeitpunkt diejenigen, die sie zur Philosophie hinaufführen, betreiben, scheint sie die Seele gänzlich dazu zu bringen, nach unten zu blicken.“

Auf Glaukons Lob der Astronomie, dass sie die menschliche Seele dazu bringe, nach oben zu blicken, nämlich zu den Sternen, entgegnet Sokrates in prima vista paradoxer Weise, dass sie die Menschen gegenwärtig „nach unten“ blicken lasse; diese Kritik richte sich speziell gegen diejenigen, die die Astronomie mit der Philosophie verbinden. Was Platon meint, expliziert Sokrates im Detail wie folgt (R. 529a10–c2): κινδυνεύεις γὰρ καὶ εἴ τις ἐν ὀροφῇ ποικίλματα θεώμενος ἀνακύπτων καταμανθάνοι τι, ἡγεῖσθαι ἂν αὐτὸν νοήσει ἀλλ’ οὐκ ὄμμασι θεωρεῖν. ἴσως οὖν καλῶς ἡγῇ, ἐγὼ δ’ εὐηθικῶς. ἐγὼ γὰρ αὖ οὐ δύναμαι ἄλλο τι νομίσαι ἄνω ποιοῦν ψυχὴν βλέπειν μάθημα ἢ ἐκεῖνο ὃ ἂν περὶ τὸ ὄν τε ᾖ καὶ τὸ ἀόρατον, ἐάντε τις ἄνω κεχηνὼς ἢ κάτω συμμεμυκὼς τῶν αἰσθητῶν τι ἐπιχειρῇ μανθάνειν, οὔτε μαθεῖν ἄν ποτέ φημι αὐτόν, ἐπιστήμην γὰρ οὐδὲν ἔχειν τῶν τοιούτων, οὔτε ἄνω ἀλλὰ κάτω αὐτοῦ βλέπειν τὴν ψυχήν, κἂν ἐξ ὑπτίας νέων ἐν γῇ ἢ ἐν θαλάττῃ μανθάνῃ. „Du scheinst nämlich auch für den Fall, dass jemand beim Betrachten von Verzierungen an der Decke hintenüber gebeugt etwas genau zu verstehen sucht, zu glauben, dass er mit dem Denken und nicht mit den Augen sähe. Vielleicht ist deine Meinung richtig und meine einfältig. Ich meinerseits kann nämlich nicht glauben, dass es irgendeinen anderen Gegenstand des Lernens gibt,

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der die Seele nach oben blicken lässt, als jener, der sich gerade mit dem Seienden und dem Ungesehenen beschäftigt, und wenn jemand mit offenem Mund oben oder mit geschlossenem Mund unten etwas von den wahrgenommenen Dingen zu verstehen versucht, behaupte ich, dass er weder zu irgendeinem Zeitpunkt verstehen dürfte (denn ein Wissen von derartigen Dingen gibt es gar nicht) noch dass seine Seele nach oben schaut, sondern nach unten, auch dann, wenn er auf dem Rücken schwimmend auf der Erde oder im Wasser etwas zu verstehen sucht.“

Platon definiert (im Sinn des unten in Kap. 6 diskutierten Höhlengleichnisses) die Bedeutung von ‚oben‘ und ‚unten‘ pointiert-kontraintuitiv um: Nach oben zu schauen heißt, mit dem Verstand das unsichtbare Sein, das Intelligible zu betrachten, nach unten zu schauen heißt, mit den Augen (und der sinnlichen Wahrnehmung) Wahrnehmbares, Physikalisch-Körperliches verstehen zu wollen. Ziel der wahren Astronomie sei aber, das Sein zu erkennen. Dies geschehe nicht, wenn man nach oben in den ‚Himmel‘ schaue, also die Astronomie darin aufgehen lasse, die wahrnehmbaren Himmelskörper zu betrachten. Vielmehr müsse man (R. 529c6–d5) ταῦτα μὲν τὰ ἐν τῷ οὐρανῷ ποικίλματα, ἐπείπερ ἐν ὁρατῷ πεποίκιλται, κάλλιστα μὲν ἡγεῖσθαι καὶ ἀκριβέστατα τῶν τοιούτων ἔχειν, τῶν δὲ ἀληθινῶν πολὺ ἐνδεῖν, ἃς τὸ ὂν τάχος καὶ ἡ οὖσα βραδυτὴς ἐν τῷ ἀληθινῷ ἀριθμῷ καὶ πᾶσι τοῖς ἀληθέσι σχήμασι φοράς τε πρὸς ἄλληλα φέρεται καὶ τὰ ἐνόντα φέρει, ἃ δὴ λόγῳ μὲν καὶ διανοίᾳ ληπτά, ὄψει δ’ οὔ· „der Ansicht sein, dass diese Verzierungen am Himmel, da sie ja im Sichtbaren als Verzierungen gearbeitet sind, unter den derartigen Dingen die schönsten und genauesten sind, des Wahren aber sehr ermangeln, nämlich in Bezug darauf, in welchen Ortsbewegungen in der wahren Zahl und all den wahren Gestalten170 die wirkliche Schnelligkeit und die wirkliche Langsamkeit sowohl sich zueinander bewegen als auch das Vorhandene in Bewegung versetzen,171 was gewiss nur mit der Ratio [d.h. primär ‚Verhältnis‘] und mit dem mathematischen Denken [διάνοια] erfassbar ist, nicht aber mit dem Sehen.“

Was man am Himmel sieht, sei zwar das Schönste und Genaueste unter den körperlichen Dingen überhaupt, doch ermangele das Gesehene der Wirklichkeit und Wahrheit, hier speziell in Hinsicht auf die wirkliche Schnelligkeit und Langsamkeit in der wirklichen „Zahl“ und all den „wahren Formen“ sowie auf die relativen Bewegungen zueinander.172 Diese seien nicht durch das Sehen, sondern allein durch die ‚Dianoia‘, fürs Erste verstanden als ‚mathematisches Denken‘, zu ergreifen. Der Hintergrund ist, wie Sokrates weiter mit Hilfe einer Parallelisierung mit der Geometrie ausführt, dass die Erscheinungen am Himmel als konkretes Diagramm der eigentlichen mathematischen Sachverhalte (also des ‚abstrakten Diagramms‘, des semiotischen Objekts des wahrnehmbaren Diagramms) angesehen werden müssen (R. 529d7–530a2):

|| 170 Nämlich Kreisen, jedenfalls bei Sternen: vgl. etwa Aristoteles, Cael. 289a11–13 und 291b11 f. 171 Zur Bedeutung von τάχος und βραδυτής hier siehe Böhme 2000, 71 f. 172 Angesichts des letzten Punktes und der Parallelität zum Diagramm in der Geometrie sind die ‚Verzierungen‘ nicht die Sternbilder (so Bulmer-Thomas 1984), sondern die Diagramme selbst.

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Οὐκοῦν, εἶπον, τῇ περὶ τὸν οὐρανὸν ποικιλίᾳ παραδείγμασι χρηστέον τῆς πρὸς ἐκεῖνα μαθήσεως ἕνεκα, ὁμοίως ὥσπερ ἂν εἴ τις ἐντύχοι ὑπὸ Δαιδάλου ἤ τινος ἄλλου δημιουργοῦ ἢ γραφέως διαφερόντως γεγραμμένοις καὶ ἐκπεπονημένοις διαγράμμασιν. ἡγήσαιτο γὰρ ἄν πού τις ἔμπειρος γεωμετρίας, ἰδὼν τὰ τοιαῦτα, κάλλιστα μὲν ἔχειν ἀπεργασίᾳ, γελοῖον μὴν ἐπισκοπεῖν αὐτὰ σπουδῇ ὡς τὴν ἀλήθειαν ἐν αὐτοῖς ληψόμενον ἴσων ἢ διπλασίων ἢ ἄλλης τινὸς συμμετρίας. „Man muss also“, sagte ich, „den Schmuck am Himmel als Modelle gebrauchen um des Lernens willen in Hinsicht auf jene Dinge, genauso wie wenn man auf ‚Diagramme‘173 träfe, die von Daidalos oder irgendeinem anderen Handwerker oder Maler in außergewöhnlicher Weise gemalt oder mit Mühe verfertigt worden sind. Jemand, der der Geometrie kundig ist, dürfte nämlich glauben, denke ich, wenn er derartige Dinge sähe, dass sie zwar die schönsten in Hinsicht auf ihre Verfertigung sind, dass es aber gewiss lächerlich ist, sie in allem Ernst zu erforschen, als ob man die Wirklichkeit in ihnen ergreifen könnte in Hinsicht auf die gleichen Dinge oder die doppelten Dinge oder irgendeine andere Kommensurabilität.“

Aus modelltheoretischer Perspektive zeigt sich eine Parallelität zu den so weit gewonnenen Einsichten: Für Platon ist der eigentliche mathematische Gegenstand das abstrakte, nicht das wahrnehmbare Diagramm, auch dann, wenn es wie der Himmel in der bestmöglichen, kunstvollsten Weise hergestellt worden ist. Dies entspricht sachlich der Praxis der Mathematik euklidischen Typs; auch hier ist das eigentliche Objekt des mathematischen Beweises das abstrakte Diagramm. Nicht nur repräsentiert dieses Diagramm die mathematischen Relationen in ihrer eigentlichen, mathematischen Form, sondern basiert auch, wie ja speziell hier deutlich wird, nicht auf dem Konzept des numerisch-quantitativen Maßes, sondern auf demjenigen der qualitativ-quantitativen Relation, hier ausgedrückt im Konzept der allgemeinen Kommensurabilität: Platon geht es nicht um Linien der Länge 1 Fuß oder 2 Fuß und das Ausmessen von deren Verhältnissen zueinander, sondern um die Relationen beliebiger Linien, ausgedrückt als Proportion, zum Beispiel 1:2. Damit verschiebt sich das relationale Objekt: Es ist nicht mehr die partikulare Linie, sondern die universelle Relation. Insofern besteht ein signifikanter Unterschied zur Mathematik, wie sie Platons Theodoros und die Pythagoreer repräsentieren. Bei beiden liegt ein partikulares und im Physikalischen basiertes Modell zugrunde, das zum praktischen Zweck der Feststellung numerischer Relationen vermessen werden kann (sei es im Verhältnis 1:1, sei es skaliert als Skalenmodell). Dies aber lehnt Platon hier ab: Die eigentlichen Relationen Gleichheit, Doppelheit etc. sind prinzipiell nicht im gezeichneten Diagramm ausmess-, erkenn- und sichtbar, sondern nur im abstrakten, unsichtbaren Diagramm. Allein dies ist für ihn die wahre Repräsentation der mathematischen Relationen, und zwar deshalb, weil für ihn die Richtigkeit des Diagramms nicht auf dem Akt des physikalischen Messens beruht, sondern wie bei Euklid auf seiner sprachlich, logischrational analysierbaren quantitativen Relationalität.

|| 173 Das Wort ‚Diagramm‘ verweist auf den mathematischen Kontext und ist nicht allgemein als ‚Zeichnung‘ zu verstehen: vgl. LSJ s. v. und Mugler 1958, 127 (s. v.); siehe insgesamt Netz 1999, 35–38.

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Andererseits ist deshalb das sichtbare Diagramm für Platon nicht irrelevant. Genau so, wie es in der Geometrie euklidischen Typs als ikonisches Abbild des abstrakten Modells der relevanten mathematischen Relationen (das heißt des eigentlichen Diagramms) dient und dies über die Wahrnehmung dem Denken zugänglich macht, ist es hilfreich und nützlich – aber eben nur so lange, wie man es als ein solches im Physikalischen aktualisiertes sekundäres Modell versteht. Schließlich besitzt es zusätzliche, mathematikfremde Attribute und steht nur in einer Abbildungs-, nicht in einer Identitätsrelation zu seinem semiotischen Objekt. So kommt es einem Kategorienfehler gleich, das wahrnehmbare Modell für das direkte Objekt der Mathematik zu halten; diesen Fehler dürfe der ‚wahre Astronom‘ nicht begehen (R. 530a4–b4): Τῷ ὄντι ἀστρονομικόν, ἦν δ’ ἐγώ, ὄντα οὐκ οἴει ταὐτὸν πείσεσθαι εἰς τὰς τῶν ἄστρων φορὰς ἀποβλέποντα; νομιεῖν μὲν ὡς οἷόν τε κάλλιστα τὰ τοιαῦτα ἔργα συστήσασθαι, οὕτω συνεστάναι τῷ τοῦ οὐρανοῦ δημιουργῷ αὐτόν τε καὶ τὰ ἐν αὐτῷ· τὴν δὲ νυκτὸς πρὸς ἡμέραν συμμετρίαν καὶ τούτων πρὸς μῆνα καὶ μηνὸς πρὸς ἐνιαυτὸν καὶ τῶν ἄλλων ἄστρων πρός τε ταῦτα καὶ πρὸς ἄλληλα, οὐκ ἄτοπον, οἴει, ἡγήσεται τὸν νομίζοντα γίγνεσθαί τε ταῦτα ἀεὶ ὡσαύτως καὶ οὐδαμῇ οὐδὲν παραλλάττειν, σῶμά τε ἔχοντα καὶ ὁρώμενα, καὶ ζητεῖν παντὶ τρόπῳ τὴν ἀλήθειαν αὐτῶν λαβεῖν; „Meinst du nicht“, sagte ich, „dass derjenige, der wirklich Astronomie betreibt, dasselbe erleiden wird, wenn er auf die Ortsbewegungen der Sterne blickt, nämlich zu glauben, dass die derartigen Werke so, wie es nur möglich ist, dass sie auf die schönste Weise konstruiert sind, vom Demiurgen des Himmels konstruiert wurden,174 sowohl dieser selbst als auch die Dinge in ihm. Was aber die Kommensurabilität der Nacht hinsichtlich des Tags und von diesen hinsichtlich des Monats und des Monats hinsichtlich des Jahres und von den anderen Himmelskörpern sowohl hinsichtlich dieser als auch hinsichtlich ihrer selbst zueinander betrifft, glaubst du, dass er denjenigen nicht für fehl am Platze hielte, der meint, dass diese Dinge immer auf genau dieselbe Weise geschehen und in keiner Weise auch nur um das geringste voneinander abweichen – obwohl sie doch einen Körper haben und sich im Bereich des Sehens befinden –, und es für richtig hält, auf jede Weise danach zu streben, ihre Wirklichkeit zu erfassen?“

Der sichtbare Himmel hat effektiv den Status eines sichtbaren Diagramms der tatsächlichen mathematischen Sachverhalte. Damit steht fest, dass es auch in Platons Astronomie um diejenigen relationalen Sachverhalte geht, die sich in den sichtbaren Himmelsphänomenen zeigen, etwa den Sternen und den astronomischen Ereignissen im Lauf des Jahres. Nicht dies ist der Unterschied zur kritisierten Form von Astronomie, sondern dass diese die sichtbaren astronomischen Ereignisse mittels einer numerisch-quantitativen Vermessung zu erfassen sucht und nicht, wie es angesichts ihrer ‚diagrammatischen‘ Natur angezeigt wäre, dadurch, dass sie sie in ihrer abstraktuniversalen mathematischen Relationalität beschreibt, insbesondere in Hinsicht auf ihre qualitativ-quantitative Kommensurabilität. Das Ziel der ‚wahren‘ Astronomie ist, die universale Bewegung von Körpern in objektiver Weise sowohl zahlenmäßig als

|| 174 Zu συνιστάναι als ‚konstruieren‘ siehe Mugler 1958, 402 f. (s. v.).

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auch hinsichtlich ihrer Form exakt zu bestimmen, das heißt arithmetisch wie geound stereometrisch, und zwar sowohl an sich als auch in Relation zueinander,175 dies aber nicht numerisch-quantitativ, sondern qualitativ-quantitativ, und zwar insgesamt mit dem Ergebnis einer systematischen Beschreibung der rationalen Harmonie des gesamten Kosmos.176 Letzteres geschieht offenkundig im Sinne eines ‚euklidischen‘ Ansatzes, dessen Ziel ein kohärentes, konsistentes und vor allem in Hinsicht auf die zu beobachtenden Phänomene vollständiges System mathematischer Propositionen ist. Dieser Gedanke spiegelt sich zum Abschluss der Passage in der programmatischen Forderung, Astronomie wie die Geometrie zu betreiben (R. 530b6–c4): Προβλήμασιν ἄρα, ἦν δ’ ἐγώ, χρώμενοι ὥσπερ γεωμετρίαν οὕτω καὶ ἀστρονομίαν μέτιμεν, τὰ δ’ ἐν τῷ οὐρανῷ ἐάσομεν, εἰ μέλλομεν ὄντως ἀστρονομίας μεταλαμβάνοντες χρήσιμον τὸ φύσει φρόνιμον ἐν τῇ ψυχῇ ἐξ ἀχρήστου ποιήσειν. – Ἦ πολλαπλάσιον, ἔφη, τὸ ἔργον ἢ ὡς νῦν ἀστρονομεῖται προστάττεις. „Wir werden also“, sagte ich, „so, wie wir Geometrie betreiben, Astronomie mittels der Benutzung von Problemen betreiben und die Dinge am Himmel die Dinge am Himmel sein lassen, wenn wir tatsächlich durch Verwendung der Astronomie im Begriff sein wollen, das von Natur aus Rationale in der Seele aus einem unnützen in einen nützlichen Zustand zu befördern.“ – „Gewiss eine vielfache Aufgabe“, sagte er, „ordnest du an im Vergleich dazu, wie jetzt Astronomie betrieben wird.“

Hierin äußert sich weniger, wie oft vorgebracht, eine Position, der die Himmelserscheinungen irrelevant wären und die eine prinzipiell anti-observationelle und mithin anti-astronomische Astronomie propagierte.177 Dies ist wie gesehen nicht der Fall, zumal eine solche Deutung dem Text selbst widerspricht, insofern in diesem Fall die sichtbaren Himmelserscheinungen entgegen Platons expliziter Aussage kein und ge-

|| 175 Hieraus ist nicht ableitbar, dass Platon „eine Art astronomische Geometrie“, eine „Himmelsgeometrie“ als zweite Art der Astronomie fordere (Böhme 2000, 74); notwendig ist schließlich angesichts der Definition der Astronomie der unmittelbare Bezug auf die körperliche Bewegung. 176 Siehe hierzu Böhme 2000, 72 f. Siehe zu συμμετρία und σύμμετρος Mugler 1958, 388–390 (s. vv.) (diese Stelle ist nicht verzeichnet). Der Bezug zur rationalen Verfasstheit des Kosmos ist zentral: siehe unten Kap. 7 zum Timaios. Im vorliegenden Kontext interessant ist Mourelatos’ 1981, 29 f. Hinweis, dass in Ermangelung der Möglichkeit der Herstellung von mechanischen Modellen, die die in der Astronomie behandelten Rotationsbewegungen in hinreichender Güte bewerkstelligen konnten, in naheliegender Weise als das schönste und beste Modell weiterhin der Himmel selbst gelten konnte, auch wenn Platons ‚Astronomie‘ einen weiteren Gegenstandsbereich als die ‚Sternenkunde‘ hat. 177 Siehe etwa Heath 1913, 137 f.; zur kontroversen Diskussion dieser Passage siehe unter anderem Lloyd 1968, insbesondere 79–81, Barker 1978, Vlastos 1980, Mourelatos 1981, Bulmer-Thomas 1984, Kung 1989, Simeoni 1995, Gregory 1996, Hetherington 1996 und Böhme 2000, 66–78; vgl. auch Burnyeat 2005b. Ein Ausweg aus der Problematik besteht nicht darin, ‚Astronomie‘ hier nur als propädeutischen Lehrgegenstand vor der Dialektik und nicht als ‚Wissenschaft‘ zu verstehen: so Hetherington 1996, 278 (mit einer inadäquaten Wiedergabe als: „The type of astronomy useful in the education of a philosopher-king does not consist of celestial motions“); vgl. hierzu unten, speziell Kap. 6.7.

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schweige denn „schönstes“ (!) Abbild der „wahren“ astronomischen Verhältnisse wären. Vielmehr handelt es sich um das Plädoyer, in Hinsicht auf die wahrnehmbaren Phänomene des bewegten Körpers die Forschung auf universale, nicht exakt-numerisch verfasste und nicht unmittelbar an den Erscheinungen der physikalischen Objekte selbst gemessene Relationen zu lenken, die ausschließlich die abstrakten Relationen der mathematischen Theorie sind. Die Form dieser Forschung ist eine mathematische Proposition im Sinn der Mathematik euklidischen Typs, und eine solche Proposition impliziert die Modellierung des zugrunde liegenden Sachverhalts als eines rein mathematisch-relationalen und nicht physikalischen Modells178 – auch wenn letzteres hier selbstverständlich sekundär ein Modell des ersteren ist, dessen relevante Relationen wiederum zu denen des abstrakten Modells in einer eineindeutigen Abbildungsbeziehung stehen. Im Fall des Himmels ist dies evident gegeben, ist dieser doch das schönste derartige Diagramm (Modell) überhaupt (vgl. unten Kap. 7). Im Ergebnis zeigt sich in Platons Beschreibung der Astronomie dieselbe methodologische Position, die sich in Hinsicht sowohl auf die zweidimensionale als auch die dreidimensionale Geometrie gezeigt hat. Für die zugrunde liegende Fragestellung

|| 178 Das Wort ‚Problem‘ ist an dieser Stelle also nicht im engen Sinn von πρόβλημα als spezifischer Form der mathematischen Proposition zu verstehen, sondern allgemein als ‚Proposition‘. Ein solcher Gebrauch des Terminus ist für Menaichmos und sein Umfeld bezeugt, also mehr oder weniger für die Zeit und das Umfeld Platons: siehe Proklos, in Euc. p. 78, 8–13 (mit einer offenkundigen, aus der Mitte des 4. Jhs. v. Chr. stammenden Bestätigung der Grundzüge der oben in Kap. 3 explizierten Deutung des mathematischen Diagramms in der zweiten Hälfte des Zitats): „Die anderen wiederum hielten es für richtig, jede Proposition ‚Problem‘ zu nennen, wie die Mathematiker um Menaichmos, und zu sagen, dass es zwei Arten von ‚Problem‘ gebe: Manchmal werde das Gesuchte hergestellt, manchmal das instantiierte Objekt herangezogen und entweder geschaut, was es ist oder welcher Art es ist oder welche Qualität es hat oder welche Relationen es zu einem anderen Objekt hat“ (οἱ δὲ ἀνάπαλιν πάντα προβλήματα λέγειν ἐδικαίουν ὡς οἱ περὶ Μέναιχμον μαθηματικοί, τὴν δὲ προβολὴν εἶναι διττήν· ὅτε μὲν πορίσασθαι τὸ ζητούμενον, ὅτε δὲ περιωρισμένον λαβόντας ἰδεῖν ἢ τίς ἐστίν, ἢ ποῖόν τι, ἢ τί πέπονθεν, ἢ τίνας ἔχει πρὸς ἄλλο σχέσεις); hinzuweisen ist auf die noch nicht fixierte Terminologie, die aber ihren Ursprung im zugrunde liegenden Verb προβάλλειν hat. Gegen diesen Gebrauch des Wortes wendet sich insbesondere Speusipp, der alle Propositionen ‚Theoremata‘ nennen möchte, insofern sie nicht mit der Produktion von mathematischen Gegenständen, sondern mit deren Untersuchung beschäftigt sind: siehe Proklos, in Euc. p. 77, 15–78, 8 und vgl. Tarán 1981, 425 f. Eine ausführliche Diskussion der Zeugnisse gibt Bowen 1983, mit dem Ergebnis, dass die von Menaichmos beschriebene Praxis die allgemein übliche gewesen zu sein scheint (und Speusippos diese auf der Grundlage von Politeia VI–VII kritisiert, speziell R. 527a1–b10; ohne dass im Detail auf Bowens Analyse eingegangen werden kann, ist doch zu bedenken zu geben, dass das ‚Herstellen‘ im ursprünglichen Kontext nicht in streng ontologischem Sinn verstanden werden muss, sondern auch im hier explizierten modelltheoretischen Sinn verstanden werden kann); vgl. oben Kap. 3.3. Diese Stelle und die parallele Stelle zur Harmonielehre (R. 531c1–5) haben pace Zhmud 1998, 241 keinen direkten Bezug zur Forderung nach einem ‚Vorsteher‘ für die mathematischen Wissenschaften (R. 528b5–c7; siehe oben): Es geht um die Form der Forschung (R. 530b6 f.: Προβλήμασιν […] χρώμενοι […] ἀστρονομίαν μέτιμεν; R. 531c2: οὐκ εἰς προβλήματα ἀνίασιν; dies ist schon sprachlich an Person und Numerus des Prädikats ablesbar), nicht darum, dass jemand ‚Probleme‘ vorgibt.

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ist bemerkenswert, dass Platons Beschreibung an dieser Stelle zufolge ein solcher Ansatz speziell in der Astronomie revolutionär neu gewesen sein musste – nicht nur angesichts der ausführlichen Explikation durch Sokrates, sondern auch angesichts der Anmerkung, dass es außer Sokrates (= Platon) „jedem klar“ sei (R. 529a1: παντὶ […] δῆλον), dass die gegenwärtig betriebene Form von ‚Astronomie‘ die Menschen dazu bringe, nach oben zu schauen. Diese wäre einerseits durch die Pythagoreer repräsentiert (siehe oben; man beachte R. 529a6 f.), sicherlich aber auch durch andere vorsokratische Philosophen, die das Göttliche in der (wie auch immer konkret gearteten) numerisch-quantitativen Erforschung der Kosmos zu greifen versuchten (man beachte die oben in Kap. 2 gegebenen Beispiele zu Anaximander)179 – und schließlich auch durch die traditionelle Sternenkunde (‚Astronomie‘). In der Tat zeigt sich eine Konvergenz von Platons Beschreibung traditioneller Astronomie mit den verfügbaren Zeugnissen für die vorplatonische und, für die gegebene Fragestellung signifikant, Platons eigene Zeit, speziell die 360er und 350er Jahre v. Chr.: Ihr Zweck, so Platon, werde in rein praktischen Zwecken gesehen; astronomische Kenntnisse seien bezüglich der Jahreszeiten, der Monate oder der Jahre nicht nur für die Landwirtschaft oder die Seefahrt nützlich, sondern auch für die Kriegskunst (R. 527d2–4: τὸ γὰρ περὶ ὥρας εὐαισθητοτέρως ἔχειν καὶ μηνῶν καὶ ἐνιαυτῶν οὐ μόνον γεωργίᾳ οὐδὲ ναυτιλίᾳ προσήκει, ἀλλὰ καὶ στρατηγίᾳ οὐχ ἧττον). Dies deckt sich damit, was wir von der frühen Astronomie wissen:180 Anzuführen ist nicht nur derjenige Sokrates, der in der zitierten Wolken-Stelle (200–207) als jemand dargestellt ist, der sich mit Astronomie beschäftigt und für den diese Kunst eben durch deren Instrumente essentiell definiert ist (siehe oben Kap. 4.6), sondern auch als jemand, der – wie es sich für uns in intendiert-ironischem Kontrast zu Platons ‚Sokrates‘ in der Politeia zeigt – in Xenophons Memorabilia eben ausdrücklich nur eine solche rein empirisch-praktische ‚Sternenkunde‘ gutheißt und alles, was darüber hinaus geht, von sich weist. Entscheidend ist, dass diese ‚Sternenkunde‘ im Kontext eben gerade nicht ‚Astronomie‘ ist, sondern ein ‚Grübeln über die Dinge am Himmel‘ nach dem Muster der Vorsokratiker (M. 4, 7, 4–6): ἐκέλευε δὲ καὶ ἀστρολογίας ἐμπείρους γίγνεσθαι, καὶ ταύτης μέντοι μέχρι τοῦ νυκτός τε ὥραν καὶ μηνὸς καὶ ἐνιαυτοῦ δύνασθαι γιγνώσκειν ἕνεκα πορείας τε καὶ πλοῦ καὶ φυλακῆς, καὶ ὅσα ἄλλα ἢ νυκτὸς ἢ μηνὸς ἢ ἐνιαυτοῦ πράττεται, πρὸς ταῦτ’ ἔχειν τεκμηρίοις χρῆσθαι, τὰς ὥρας τῶν εἰρημένων διαγιγνώσκοντας· καὶ ταῦτα δὲ ῥᾴδια εἶναι μαθεῖν παρά τε νυκτοθηρῶν καὶ κυβερνητῶν καὶ ἄλλων πολλῶν οἷς ἐπιμελὲς ταῦτα εἰδέναι. τὸ δὲ μέχρι τούτου ἀστρονομίαν μανθάνειν, μέχρι τοῦ καὶ τὰ μὴ ἐν τῇ αὐτῇ περιφορᾷ ὄντα, καὶ τοὺς πλάνητάς τε καὶ ἀσταθμήτους ἀστέρας γνῶναι, καὶ τὰς ἀποστάσεις αὐτῶν ἀπὸ τῆς γῆς καὶ τὰς περιόδους καὶ τὰς αἰτίας αὐτῶν ζητοῦντας κατα-

|| 179 Vgl. für einen Überblick Algra 1999, Wright 2008 und Graham 2013; vgl. Lattmann 2016. Das früheste Beispiel ist anscheinend Anaximander: vgl. oben Kap. 2; siehe hierzu Couprie 2009a. 180 Vgl. aus einer anderen Perspektive und mit einer leicht anderen, aber signifikant abweichenden Bestimmung des konkreten Zeitpunkts (oder zumindest Grundes) des Wandels Goldstein & Bowen 1983. Siehe auch den Überblick bei Jori 2009, 260–316; umfassend Dicks 1970 und Neugebauer 1975.

Epilog: Inkommensurable Mathematik | 251

τρίβεσθαι, ἰσχυρῶς ἀπέτρεπεν. ὠφέλειαν μὲν γὰρ οὐδεμίαν οὐδ’ ἐν τούτοις ἔφη ὁρᾶν· καίτοι οὐδὲ τούτων γε ἀνήκοος ἦν· ἔφη δὲ καὶ ταῦτα ἱκανὰ εἶναι κατατρίβειν ἀνθρώπου βίον καὶ πολλῶν καὶ ὠφελίμων ἀποκωλύειν. ὅλως δὲ τῶν οὐρανίων, ᾗ ἕκαστα ὁ θεὸς μηχανᾶται, φροντιστὴν γίγνεσθαι ἀπέτρεπεν· οὔτε γὰρ εὑρετὰ ἀνθρώποις αὐτὰ ἐνόμιζεν εἶναι οὔτε χαρίζεσθαι θεοῖς ἂν ἡγεῖτο τὸν ζητοῦντα ἃ ἐκεῖνοι σαφηνίσαι οὐκ ἐβουλήθησαν. Er trieb auch dazu an, kundig in der Astronomie zu werden, aber freilich nur bis zu dem Punkt, dass man fähig sei, den jeweiligen Zeitpunkt in der Nacht, im Monat und im Jahr zu erkennen, und zwar um des Reisens, der Schifffahrt und der Wache wegen, und fähig zu sein, für all diejenigen Dinge, die in der Nacht, im Monat oder im Jahr getan werden, Indizien zu haben, indem man die spezifischen Zeitpunkte der genannten Dinge genau auseinanderhält. Diese Dinge seien leicht von den nächtlichen Jägern, Steuermännern und all den vielen anderen zu erlernen, deren Sache es ist, dies zu wissen. Bis zu diesem Punkt sei die Sternenkunde zu erlernen, er riet aber nachdrücklich davon ab, sie bis zu jenem Punkt zu erlernen, dass man die Dinge, die sich nicht in derselben Kreisbewegung befinden – sowohl die Planeten als auch die unsteten Sterne [die also nicht wie die Fixsterne die Umdrehung der Fixsternsphäre = des Himmels starr mitvollziehen] –, verstehe und sein Leben damit verbringe, ihren Abstand von der Erde [wie etwa die Pythagoreer, speziell Philolaos], ihre Umläufe [was nicht Kreisförmigkeit impliziert, allenfalls Periodizität] und ihre Ursachen zu untersuchen. Einen Nutzen nämlich, so sagte er, sehe er auch in diesen Dingen nicht. Freilich war er nicht unwissend auch in diesen Dingen. Aber er sagte, dass sie vermögen, das Leben eines Menschen in Beschlag zu nehmen und von vielen anderen nützlichen Dingen abzuhalten. Gänzlich riet er davon ab, ein Grübler über die Himmelsdinge zu werden, und zwar in Hinsicht darauf, wie jedes einzelne von ihnen der Gott eingerichtet hatte. Denn weder dachte er, dass diese Dinge von den Menschen herausgefunden werden könnten, noch glaubte er, dass es die Götter erfreuen dürfte, wenn man versuche zu erforschen, wovon jene nicht wollten, dass man es ans Licht bringe.

Wenn das Zeugnis ein Reflex der Zustände gegen Ende der zweiten Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. ist – Xenophon hat ja die apologetische Absicht zu zeigen, dass Sokrates im Kontext seiner Zeit keinen Frevel als ‚Grübler über die Dinge am Himmel‘ begangen hat (vgl. Xenophon, M. 1, 1, 11–15)181 –, ist deutlich, dass die ursprüngliche Tradition der Astronomie im griechischen Kulturraum die empirisch-praktische Sternenkunde (ergänzt um die pythagoreische Naturphilosophie) gewesen sein muss. Sie lässt sich bis zu Hesiod zurückverfolgen. Ihr Zweck ist eine beobachtungsbasierte Bestimmung der Zeit in Hinsicht auf den Tag, den Monat und das Jahr.182 Diese ursprüngliche Tradition ist recht primitiv. Ein markantes Beispiel aus der frühen Zeit sind Hesiods Werke und Tage. Hier werden wenige ausgewählte, markante astronomische Ereignisse, oftmals heliakische Auf- und Untergänge von Fixstern(grupp)en, genutzt, um das Jahr zu strukturieren, so in den Versen 383–395 ein Verweis auf die Pleiaden:183 || 181 Siehe Döring 1998, 150–153 zum Prozess gegen Sokrates und zu den Anklagepunkten; vgl. McPherran 1997 und Powers 2009 zu relevanten Aspekten von Sokrates’ theologischer Position. 182 Vgl. die Werke und Tage, speziell die Verse 383–387. 414–421. 479–482. 564–570. 597–617. 183 Die Übersetzung ist von Schirndings 1991. Zur Stelle (insbesondere auch zur kalendarischen Bedeutung der Pleiaden) siehe West 1978, 254–258; wohlgemerkt handelt es sich um eine bekannte Stelle (254): „This is the passage that Hesiod is made to recite in the Certamen when invited by the judge

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Πληιάδων Ἀτλαγενέων ἐπιτελλομενάων ἄρχεσθ’ ἀμήτου, ἀρότοιο δὲ δυσομενάων· αἳ δή τοι νύκτας τε καὶ ἤματα τεσσαράκοντα κεκρύφαται, αὖτις δὲ περιπλομένου ἐνιαυτοῦ φαίνονται τὰ πρῶτα χαρασσομένοιο σιδήρου. οὗτός τοι πεδίων πέλεται νόμος, οἵ τε θαλάσσης ἐγγύθι ναιετάουσ’ οἵ τ’ ἄγκεα βησσήεντα πόντου κυμαίνοντος ἀπόπροθι, πίονα χῶρον, ναίουσιν· γυμνὸν σπείρειν, γυμνὸν δὲ βοωτεῖν, γυμνὸν δ’ ἀμάειν, εἴ χ’ ὥρια πάντ’ ἐθέλῃσθα ἔργα κομίζεσθαι Δημήτερος, ὥς τοι ἕκαστα ὥρι’ ἀέξηται, μή πως τὰ μέταζε χατίζων πτώσσῃς ἀλλοτρίους οἴκους καὶ μηδὲν ἀνύσσεις. Wenn das Gestirn der Plejaden, der Atlasgeborenen, aufsteigt, dann fang an mit dem Mähen, und pflüge, wenn sie versinken. Diese halten sich dir durch vierzig Tage und Nächte im Verborgenen, dann im Laufe des kreisenden Jahres treten sie wieder ans Licht, sobald das Eisen geschärft wird. Dieses Gesetz gilt stets für den Feldbau, ob sie dem Meere eng benachbart wohnen, ob tief in waldigen Schluchten, fern von der wogenden See, die Menschen auf fettem Gefilde wohnen: nackt sollst du säen und nackt den Boden bepflügen, nackt auch mähen, wenn du beizeiten die Werke Demeters alle dir einbringen willst: denn nur so wird dir beizeiten jedes gedeihn, daß ja nicht die Not dich später als Bettler kriechen läßt in fremde Häuser, und das noch vergebens!

Die Nutzung der Sterne hat einen genuin praktischen Zweck, die Bewältigung des Überlebens, im Beispiel bezogen auf den Bereich der Landwirtschaft. Angesichts der Natur der betroffenen Tätigkeiten reichte hierfür ein stark begrenztes Inventar an astronomischen Ereignissen aus. Insgesamt stehen in den bekannten Zeugnissen zur ‚Astronomie‘ (abgesehen von denen der ‚Pythagoreer‘) dieser und der späteren Zeit gerade solche praktischen und zugleich an Fragen des Kalenders gebundenen Aspekte im Mittelpunkt.184 Dies gilt in jedem Fall noch für das späte 5. Jh. v. Chr.; man denke || to present his finest piece of poetry.“ Vgl. die weiteren astronomischen Verweise in den Werken und Tagen (mit Nennung sich daran anschließender praktischer Aufgaben, die zum bezeichneten Zeitpunkt ausgeführt werden müssen): 417–419 (Sirius); 564–570 (Arkturos); 572 (Pleiaden); 598 (Orion); 609 f. (Orion, Sirius, Arkturos); 615 f. (Pleiaden, Hyaden, Orion); 619 f. (Pleiaden, Orion). Hesiod wurde in der Antike auch ein separates episches Gedicht Astronomie zugeschrieben; es beinhaltete Informationen zu den Sternbildern und ihrem Auf- und Untergang im Jahresverlauf, wohl in Verbindung mit mythischen Erzählungen (siehe knapp West 1978, 22 f.). 184 Ein weiterer wichtiger Bereich ist die Seefahrt; vgl. schon Od. 5, 272–277: αὐτὰρ ὁ πηδαλίῳ ἰθύνετο τεχνηέντως | ἥμενος· οὐδέ οἱ ὕπνος ἐπὶ βλεφάροισιν ἔπιπτε | Πληϊάδας τ’ ἐσορῶντι καὶ ὀψὲ δύοντα Βοώτην | Ἄρκτον θ’, ἣν καὶ ἄμαξαν ἐπίκλησιν καλέουσιν, | ἥ τ’ αὐτοῦ στρέφεται καί τ’ Ὠρίωνα δοκεύει, | οἴη δ’ ἄμμορός ἐστι λοετρῶν Ὠκεανοῖο· | τὴν γὰρ δή μιν ἄνωγε Καλυψώ, δῖα θεάων, | πον-

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an Oinopides, Meton oder Demokrit, aber angesichts der zitierten Aristophanes-Passage auch an Sokrates (Nu. 200–207).185 Während aber, wie die Situation bei Hesiod oder Homer nahelegt, die ursprüngliche Form rein empiriebasiert war, bildete sich (erst) zur Zeit des Sokrates (oder allgemeiner während der zweiten Hälfte des 5. Jhs.

|| τοπορευέμεναι ἐπ’ ἀριστερὰ χειρὸς ἔχοντα („Er aber [sc. Odysseus] steuerte das Floß mit dem Steuerruder kunstfertig | im Sitzen. Und kein Schlaf fiel ihm auf die Augen, | während er zu den Pleiaden schaute und dem spät untergehenden Pflüger | und der Bärin, die man auch mit dem Namen Wagen ruft | und die sich an derselben Stelle dreht und Orion bewacht | und allein nicht teilhaftig der Bäder im Okeanos ist. | Sie, so hatte Kalypso, die Göttin, ihm befohlen, | solle er beim Überqueren des Meeres linkerhand behalten“). Zur Stelle siehe Heubeck et al. 1988, 276–278. Bezeichnenderweise handelt es sich um die Pleiaden. Vgl. die in Kap. 2 angeführte Schildbeschreibung in Homer, Il. 18, 478–608. 185 Oinopides soll nur wenig jünger als Anaxagoras gewesen sein (Proklos, in Euc. p. 65, 21–66, 4). Vgl. Diels & Kranz 41 A7 (= Theon von Smyrna p. 198, 14–16, mit Berufung auf Eudemos; speziell Entdeckung der Schiefe der Ekliptik und / oder des Tierkreises: Panchenko 1999; Sonne mit gegenläufiger Durchquerung des Zodiakos im Vergleich zu den übrigen Sternen; Lernen dieser Sachverhalte bei einem Aufenthalt in [wohlgemerkt] Ägypten = Diodorus Siculus 1, 98, 3), A8 (= Censorinus 19, 2: Bestimmung der Länge des Jahres auf 365 22⁄59 Tage), A9 (Ailian, VH 10, 7: Länge des ‚Großen Jahres‘ von 59 Jahren), A10 (mythologisch-aitiologische Erklärung von Milchstraße und Zodiakos). Auf den messpraktischen Kontext verweist auch, dass Oinopides gemäß Proklos (in Euc. p. 283, 7–10 = Diels & Kranz 41 A13) die ‚Kathete‘ = Lot (κάθετος, sc. εὐθεῖα γραμμή, generell wohlgemerkt mit „κάθετος meaning let fall or let down, so that the expression corresponds to our plumb line“: Heath 1926, 1, 271) als Linie ‚gemäß dem Gnomon‘ bezeichnet, „denn der Gnomon ist senkrecht zum Horizont“ (Z. 8–10: ὀνομάζει δὲ τὴν κάθετον ἀρχαϊκῶς κατὰ γνώμονα, διότι καὶ ὁ γνώμων πρὸς ὀρθάς ἐστι τῷ ὁρίζοντι); „in this earlier sense the gnomon was a staff placed in a vertical position for the purpose of casting shadows and so serving as a means of measuring time“ (Heath 1926, 1, 272; auch Heath 1949, 20 f. und 101 f.; vgl. Thibodeau 2017a, 374, auch insgesamt zur Nutzung eines γνώμων im Rahmen einer [wohlgemerkt] Jahreszeitenuhr, das erste Mal für Anaximander bezeugt). In diesem Zusammenhang weist Proklos darauf hin, dass Oinopides den im kommentierten Euklid-Problem bewiesenen Sachverhalt (die Möglichkeit des Fällens eines Lots) für nützlich in einem genuin astronomischen Kontext gehalten habe (der direkt vorangehende Satz ist Z. 7 f.: Τοῦτο τὸ πρόβλημα [sc. Euklid, Elem. 1, 12] πρῶτον Οἰνοπίδης ἐζήτησεν χρήσιμον αὐτὸ πρὸς ἀστρολογίαν οἰόμενος). Die von Proklos Oinopides zugesprochene Kenntnis eines Theorems ist also parallel zu dem, was in der Einleitung zu Thales festgestellt wurde (siehe Kap. 1.1); vgl. Dührsen 2005, der Thales’ Einsichten auf die praktische Tätigkeit speziell in der Astronomie zurückführt (allerdings als Anwendung von im strikten Sinne theoretischen Einsichten). Dies gilt auch für in Euc. p. 333, 5 f. (= Diels & Kranz 41 A14; man beachte den Verweis auf Eudemos): Πρόβλημα καὶ τοῦτο [sc. Euklid, Elem. 1, 23: die Konstruktion eines Winkels, der zu einem gegebenen Winkel gleich groß ist], Οἰνοπίδου μὲν εὕρημα μᾶλλον, ὡς φησὶν Εὔδημος; bezeichnend ist das Adverb μᾶλλον. Vgl. Asper 2007, 102. Zu Meton und Demokrit siehe oben Kap. 4.6, zu Letzterem speziell den instruktiven Katalog der Titel der ‚mathematischen‘ (‚astronomischen‘) Schriften. Man beachte auch das Problem der Messung der Neigung der Himmelsachse, das sich mit Demokrit und Leukipp verbindet (Diels & Kranz 67 A1 und A27; Diels & Kranz 68 A96): siehe Couprie 2009b. Vgl. oben Anm. 155 zu Hippias von Elis. Netz 2004b, 271–278 sieht, im Ausgang von seiner Analyse des ‚Möndchen‘-Fragments, in Oinopides eine Parallele zu Hippokrates von Chios, welcher so auch aus dieser Perspektive im hier entfalteten Zusammenhang zu sehen wäre und also nicht als erster ‚Mathematiker‘ gelten dürfte. Vgl. Panchenko 1994, 44 f. mit einer Verortung von Hippokrates als ‚Sternenkundler‘ in Athen mit Ähnlichkeit zu Aristophanes’ Sokrates.

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v. Chr.) eine Tradition heraus, die diese traditionelle Form durch Berechnung abzusichern und zu erweitern suchte und also begann, die Himmelserscheinungen in exakte(re)r Weise zeitlich zu vermessen, unter anderem in Form von Steckkalendern, die die astronomischen Ereignisse (speziell heliakische Auf- und Untergänge) mit typischen Wetterereignissen und insgesamt dem Jahresverlauf korrelierten, sogenannten ‚Parapegmata‘ (παραπήγματα).186 Ziel des Projekts war eine genauere Zeitmessung, aber eben nicht aus theoretischem Interesse, sondern zu praktischen Zwecken; einschneidend war speziell Metons Kalenderreform in Athen im Jahr 432/1 v. Chr.187 Einen instruktiven Einblick in die im gegebenen Zusammenhang relevanten zeitlichen Verhältnisse gibt Eudoxos, zuerst einmal generell aufgrund der Beschaffenheit seines astronomischen Werks (fr. 1–271):188 Das Enoptron und die Phainomena (fr. 1– 120) waren eine beschreibende Kartierung der Sternbilder, in jedem Fall ohne Nutzung mathematischer Beweise (vgl. oben Kap. 2); die mathematischsten Fragmente bedienen sich einfacher Verhältnisse von 12:7 (fr. 67) oder 5:3 (fr. 68), handeln von Kreisen, die sich im rechten Winkel schneiden (fr 76 f.), oder beschreiben die relative Lage von Sternen als gleichseitiges Dreieck (fr. 33); die Schrift Περὶ ἀφανισμῶν ἡλιακῶν (fr. 127 f.) katalogisiert das Unsichtbarsein und -werden von Sternen durch die Sonne (heliakische Untergänge?), hat also einen direkten Bezug zum Kalenderwesen; die Octaeteris (fr. 129–269), Eudoxos’ wichtigstes Werk, war ein Kalender, der astronomische Ereignisse für einen Acht-Jahres-Zyklus (von 2921 Tagen) verzeichnete;189 und das hexametrische Gedicht Astronomia (fr. 270 f.) war wohl ein Kalender in Kombination mit Sternsagen; ferner ist eine ‚Arachne‘ bezeugt, wohl als Teil eines Astrolabiums, mithin ebenfalls auf die reine Kartierung des Himmels bezogen (D17 Lasserre). Nur die Schrift Περὶ ταχῶν (fr. 121–126 und D6–15 Lasserre) bot mit der Modellierung der Planetenbewegungen mittels der homozentrischen Sphären eine über die bloße (wenn auch gewiss systematische) Beschreibung der Beobachtung hinausgehende ‚mathematische‘ Astronomie; diese Schrift ist aber frühestens in der zweiten Hälfte der 350er Jahre v. Chr. entstanden, wahrscheinlich also während des Aufent|| 186 Zu dieser Form von Kalender siehe knapp J. Rüpke: Art. „Parapegma“, DNP 9, 322; ausführlich Lehoux 2007, besonders 3–27 für einen Überblick; siehe auch Fowler 2000, speziell zu Eudoxos. Insbesondere für Demokrit ist solch ein Kalender bezeugt: siehe oben Kap. 4.6. Ein instruktives Beispiel, auch in wissenschaftshistorischer Perspektive, ist der Kalender im Anhang zu (und eventuell als Teil von) Geminos’ Elementa astronomiae. Er zitiert explizit die Parapegmata von Meton (1mal), Euktemon (46mal), Demokrit (11mal), Eudoxos (61mal), Kallippos (34mal) und Dositheos (4mal); siehe hierzu und insgesamt zu diesem Kalender (einschließlich der Frage der Echtheit) Evans & Berggren 2006, 275–289 (sowie 15–22 für eine ausführliche Diskussion der schwierigen Frage von Herkunft und Datierung: vielleicht aus Rhodos und vielleicht 1. Jh. v. Chr.). Signifikant ist, dass Metons und Euktemons Parapegmata die ersten bezeugten Parapegmata in Griechenland überhaupt sind. 187 Zu Meton siehe oben Kap. 4.6 mit Anm. 4123 und Anm. 4124. 188 Siehe insgesamt Lasserre 1966, 181–236, insbesondere zu den Charakterisierungen der Schriften; etwaige Echtheitsfragen im Detail sind hier ohne Belang. 189 Zur Länge des Zyklus siehe Lasserre 1966, 218 f.

Epilog: Inkommensurable Mathematik | 255

halts in Athen und der Akademie oder nach der Rückkehr aus Athen nach Kyzikos oder dann Knidos.190 Andererseits ist die Octaeteris, ein transparenter Beleg für eine nicht-mathematische Astronomie bei Eudoxos (in zahlreichen Zeugnissen ist es sein Hauptverdienst, dass er mit diesem Kalender gerade die ägyptische Astronomie nach Griechenland gebracht habe), wohl auf das Jahr 364 v. Chr. zu datieren.191 Nehmen wir diesen Befund ernst, scheint in den 350er Jahren v. Chr. eine Mathematisierung, zumindest als Geometrisierung, von Eudoxos’ Astronomie stattgefunden zu haben.192 Dieser Eindruck lässt sich in der Tat genauer fassen: Wie oben in Kap. 2 beschrieben, führte Eudoxos im Enoptron bzw. in den Phainomena das erste Mal in der griechischen Astronomie Himmelskreise ein und unterteilte so den Himmel systematisch in spezifisch bestimmte Teilbereiche. Der Zweck dieser Unterteilung war allem Anschein nach, den Himmel zu kartieren, denn der gesamte Traktat beinhaltete eine genaue (und wohl die erste überhaupt: fr. 1) systematische relative Lokalisierung der einzelnen Sternbilder am Sternenhimmel sowie eine genaue Aufstellung darüber, welche Sternbilder mit welchen anderen wann genau im Jahresverlauf aufund untergehen. Entsprechend erscheint als Ziel der Schrift eine Verbesserung der Genauigkeit des Kalenderwesens, zumal die Himmelskreise gerade so gewählt waren, dass sich die Sonne an klar definierten Tagen im Jahr (selbstverständlich aus einer

|| 190 Siehe Lasserre 1966, 142 und 193. Speziell ein Einfluss Platons in diesem Zusammenhang ist also anzunehmen. Hierfür spricht ja auch die Bezeugung bei und vor allem Weiterentwicklung dieser Lehre durch Aristoteles (Metaph. 1073b17–1074a14) und die sachliche Verbindung mit dem Problem der ‚Rettung der Phänomene‘ (siehe unten Kap. 6.5 und 6.7); siehe hierzu Beere 2003. Eine umfassende Bibliographie zu dieser Theorie kann hier nicht gegeben werden; siehe aber unter anderem Riddell 1979, Heglmeier 1988, Mendell 1998, Yavetz 1998, Mendell 2000, Yavetz 2001, Yavetz 2003 und Kouremenos 2010. Für ältere Literatur siehe Krämer 1983, 85 f. 191 Zur Datierung der Octaeteris auf das Jahr 364 v. Chr. siehe De Santillana 1940, 260 Anm. 10. Dies könnte mit Eudoxos’ Akme zusammenfallen, die in Diogenes Laertios 8, 90 (= Eudoxos T4 = Eudoxos T7) auf die 103. Olympiade datiert wird; die ebenfalls dort genannte Entdeckung der ‚krummen Linien‘ (καμπύλαι γραμμαί) und also Eudoxos’ Lösung zur Würfelverdopplung muss, da durch τε angeschlossen, in jedem Fall nicht zwingend als implizites Kriterium für das Ansetzen der Akme gedeutet werden (so Lasserre 1966, 138); somit fällt sie nicht diesem Zeugnis zufolge in diesen Zeitraum. Ebenso gibt es keinen Grund, mit Lasserre a. a. O. die Akme wegen der Erwähnung dieser Entdeckung auf das erste Jahr der Olympiade festzulegen, also auf 368/7 v. Chr. Zur Verbindung von Eudoxos’ Astronomie mit Ägypten siehe Eudoxos T12–20. 192 Wenn denn die Schrift Über Geschwindigkeiten (Περὶ ταχῶν) überhaupt ein derartiges Modell beinhaltete, das zur numerischen Berechnung der Bewegungen der Himmelskörper und nicht nur zur geometrischen qualitativ-quantitativen Beschreibung hätte dienen können: vgl. Lasserre 1966, 182 f. für eine skeptische Position, insbesondere in Hinsicht auf die spezifische Art und Weise der Wiedergabe bei und Diskussion durch Aristoteles (vgl. oben Anm. 190). Zumal Eudoxos’ Modell zumindest in der Komposition der Sphären für alle Himmelskörper im Prinzip keine (auch nur annähernd) hinreichende Beschreibung der sichtbaren Bewegungen liefert, denn sie ist nur auf die Modellierung der separaten Bewegungen der einzelnen Planeten aus: siehe Beere 2003, speziell 6 f., Bodnár 2005 (mit Entgegnung auf Beere) und Kouremenos 2010. Siehe auch unten Kap. 6.5.

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geozentrischen Perspektive) auf ihnen befindet: am nördlichen Wendekreis im Sommer, wenn sich ihre Bahn wieder nach Süden wendet (und also der Tag am längsten ist = unser Sommeranfang), am Äquator an den Tag-und-Nacht-Gleichen (unser Frühlings- und Herbstanfang) und am südlichen Wendekreis im Winter, wenn sich ihre Bahn wieder nach Norden wendet (und also der Tag am kürzesten ist = unser Winteranfang); und im gesamten Jahr wandert die Sonne durch die zwölf Sternbilder des Tierkreises, denen jeweils ein zwölfter Teil (= 30°) des Gesamtkreises zugeordnet ist. Phainomena und Enoptron sind jedoch nicht Alternativtitel einer einzigen Schrift, sondern es handelt sich um zwei Schriften, von denen die eine eine Überarbeitung der anderen ist. Wir wissen dies, weil Hipparchos (im dritten Viertel des 2. Jhs. v. Chr.) beide Schriften vorliegen hatte und miteinander im Rahmen seines Kommentars zu Arats und Eudoxos’ Phainomena an mehreren Stellen verglich; er stellte ausdrücklich fest, dass sie sich in fast nichts unterschieden, ein Eindruck, der sich bei einem direkten Vergleich der (bei ihm überlieferten) bekannten Parallelstellen bestätigt.193 Hipparchos macht zwar keine Angaben zur zeitlichen Priorität. Angesichts von Eudoxos’ Lebensdaten müssen beide Schriften aber in relativ kurzem Abstand veröffentlicht worden sein; als maximales Intervall kommen (grob) die Jahre zwischen 365 v. Chr. und 338/7 v. Chr. in Frage.194 Worin könnte nun der Grund bestanden haben, in relativ kurzem Abstand eine Schrift mit beinahe identischem Inhalt zu veröffentlichen – und zugleich den Titel zu ändern? In der genaueren Beobachtung der zeitgleichen Aufgänge der Sternbilder offensichtlich nicht, denn hier war, erneut nach ausdrücklichem Urteil des Hipparchos und bestätigt durch den Vergleich der zugänglichen Parallelstellen, bis auf wenige Kleinigkeiten kaum etwas verändert.195 Die Beobachtung eines anderen Unterschieds führt zur Antwort: Einerseits sind in den Phainomena die Himmelskreise grundsätzlich ohne Breite. Es handelt sich um

|| 193 Siehe den ausdrücklichen Hinweis in Eudoxos, fr. 4 (= Hipparchos, in Arati et Eudoxi Phaenomena 1, 2, 2): Ἀναφέρεται δὲ εἰς τὸν Εὔδοξον δύο βιβλία περὶ τῶν φαινομένων, σύμφωνα κατὰ πάντα σχεδὸν ἀλλήλοις πλὴν ὀλίγων σφόδρα. Τὸ μὲν οὖν ἓν αὐτῶν ἐπιγράφεται Ἔνοπτρον, τὸ δὲ ἕτερον Φαινόμενα („Auf Eudoxos werden zwei Bücher über die Phänomene zurückgeführt, die beinahe in allen Aspekten miteinander übereinstimmen, mit Ausnahme von ganz wenigen. Das eine von ihnen trägt den Titel Enoptron, das andere den Titel Phainomena“). Zu den einzelnen parallelen Stellen siehe unten, insbesondere Anm. 195. Zur Datierung von Hipparchos und allgemein zu seinem Kommentar, insbesondere als wichtiger und zuverlässiger Quelle zu Eudoxos und der auf ihn folgenden mathematischen Astronomie, siehe Kidd 1997, 18–21. 194 Siehe oben mit Anm. 47 zu Eudoxos’ Lebensdaten. 195 Siehe Eudoxos, fr. 112b (= Hipparchos, in Arati et Eudoxi Phaenomena 2, 3, 12): Ἐν πᾶσιν οὖν σχεδὸν τοῖς περὶ τὰς ἀνατολὰς τῶν ἄστρων συμφωνούντων ἀλλήλοις τῶν δύο συνταγμάτων … („Während die beiden Schriften in Bezug auf beinahe alle Aufgänge der Sterne miteinander übereinstimmen […]“); vgl. die oben in Anm. 193 angeführte Stelle. Vgl. konkret die (wenn auch wenigen) mit denselben Sternbildern beschäftigten Stellen mit eindeutiger Zuweisung zu den beiden Schriften seitens Hipparchs: fr. 36 neben fr. 37; fr. 52 neben fr. 53; fr. 111 neben fr. 112a und fr. 112b.

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mathematische Kreise im Sinne Euklids, also eine „ebene [sc. zweidimensionale] Form, die von einer einzigen Linie umfasst wird“ (Euklid, Elem. 1, def. 15: Κύκλος ἐστὶ σχῆμα ἐπίπεδον ὑπὸ μιᾶς γραμμῆς περιεχόμενον), mithin von einer „breitenlosen Länge“ (Euklid, Elem. 1, def. 2: Γραμμὴ δὲ μῆκος ἀπλατές). Positiv belegt dies eine Stelle in Arats Phainomena (V. 467 f.: αὐτοὶ δ’ ἀπλατέες καὶ ἀρηρότες ἀλλήλοισι | πάντες, ἀτὰρ μέτρῳ γε δύω δυσὶν ἀντιφέρονται [„sie selbst [sc. die Kreise] sind ohne Breite und miteinander zusammengefügt, alle, aber im Maß gehören zwei zu zweien“]); dieses Epos hängt nach mehreren expliziten antiken Zeugnissen direkt von Eudoxos’ Phainomena (und nicht vom Enoptron) ab.196 Andererseits erwähnt Hipparch, dass sich gerade in Bezug auf diesen Aspekt des Modells Eudoxos’ Beschreibung im Enoptron von derjenigen in den Phainomena unterschied, und zwar im Rahmen einer antiken textkritischen Diskussion zum Arat-Text, konkret dem zitierten V. 467:197 ὁ Ἄτταλός φησι βέλτιον εἶναι „αὐτοὶ δὲ πλατέες“. „καὶ γὰρ οἱ ἀστρολόγοι“, φησί, „πλατεῖς ὑποτίθενται τούς τε τροπικοὺς καὶ τὸν ἰσημερινὸν καὶ τὸν ζῳδιακὸν διὰ τὸ τὸν ἥλιον τὰς τροπὰς μὴ ἀεὶ ἐπὶ τοῦ αὐτοῦ κύκλου ποιεῖσθαι, ἀλλὰ ποτὲ μὲν νοτιώτερον, ποτὲ δὲ βορειότερον.“ καὶ ὅτι γίνεται τοῦτο, καὶ Εὔδοξός φησι. λέγει γοῦν ἐν τῷ Ἐνόπτρῳ οὕτως· „φαίνεται δὲ διαφορὰν τῶν κατὰ τὰς τροπὰς τόπων καὶ ὁ ἥλιος ποιούμενος, ἀδηλοτέραν δὲ πολλῷ καὶ παντελῶς ὀλίγην.“ Attalos sagt, „sie selbst aber sind breit“ sei besser. „Denn auch die Astronomen“, sagt er, „setzen voraus, dass die Wendekreise, der Kreis der Tag-und-Nacht-Gleiche und der Tierkreis breit sind, und zwar deswegen, weil die Sonne ihre Wenden nicht immer auf demselben Kreis vollzieht, sondern manchmal südlicher, manchmal nördlicher.“ Dass dies geschehe, behauptet auch Eudoxos; im Enoptron sagt er das Folgende: „Evident ist, dass auch die Sonne den Ort der Wenden variiert, wenn auch viel undeutlicher und gänzlich gering.“

Anscheinend war unter manchen Astronomen die Meinung verbreitet, speziell die Wendekreise besäßen eine Breite. Während diese Astronomen nicht voreudoxisch sein können, hat doch erst Eudoxos dieses Konzept eingeführt, zählt Hipparch zu

|| 196 Arats Phainomena gelten als Versifikation von Eudoxos’ Phainomena. Explizit ist hier, speziell im Kontrast mit dem Enoptron Eudoxos, fr. 4 (= Hipparchos, in Arati et Eudoxi Phaenomena 1, 2, 2): Πρὸς τὰ Φαινόμενα δὲ τὴν ποίησιν συντέταχεν („Mit Bezug auf die Phainomena ist das Gedicht [sc. die Phainomena Arats] verfasst“), in direkter Fortführung der oben in Anm. 193 zitierten Stelle. So auch Eudoxos, fr. 5; siehe Lasserre 1966, 184. Die generelle Abhängigkeit Arats von Eudoxos und speziell den Phainomena ergibt sich auch aus Eudoxos, fr. 1. 3–9. Für eine Zusammenstellung der relevanten von Hipparch explizit in diesem Sinn angeführten Passagen siehe Kidd 1997, 16; die einzige ausdrückliche Ausnahme ist V. 498 f. (= Eudoxos, fr. 62), die auf dem Enoptron beruht (zu Eudoxos, fr. 67 f. = Hipparchos, in Arati et Eudoxi Phaenomena 1, 3, 9 f. bzw. 1, 2, 22); vgl. V. 708–714 (= Eudoxos, fr. 110), in Bezug worauf Hipparch diskutiert, von wem Arat abhängt (mit Eudoxos, fr. 111 = Hipparchos, in Arati et Eudoxi Phaenomena 2, 3, 29 und fr. 112a–b = Hipparchos, in Arati et Eudoxi Phaenomena 2, 3, 12 bzw. 2, 3, 29 f.). Vgl. Lasserre 1966, 183 f. 197 Eudoxos, fr. 63a und b (= Hipparchos, in Arati et Eudoxi Phaenomena 1, 9, 1 f.). Siehe Kidd 1997, 349 f. Attalos von Rhodos war ein älterer Zeitgenosse Hipparchs und hatte einen Kommentar zu Arats Phainomena verfasst; sein Wirken ist in der Mitte des 2. Jhs. v. Chr. zu verorten (siehe Kidd 1997, 18).

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ihnen explizit Eudoxos im Enoptron, und zwar im Gegensatz zu den Phainomena. Signifikant ist dabei, dass Hipparch keinen direkten, expliziten Beleg für diese astronomische Position beibringt, sondern nur sein eigenes entsprechendes Urteil, belegt (einzig) mit dem Zitat, dass nach Eudoxos wie der Mond (wie aus dem Kontext bei Hipparch zu ergänzen ist) so auch die Sonne an verschiedenen Stellen ihre Wenden vollziehe (also zur Sommer- und Wintersonnenwende), wenn auch in deutlich geringerem Maße, als für den Mond festzustellen sei. Für diesen seltsamen Befund gibt es nur eine plausible Erklärung: Im Enoptron hatte Eudoxos zwar ‚Kreise‘ beschrieben, diese aber nicht als mathematische, breitenlose Kreise gefasst, sondern als ‚Kreise‘, die materiell aus linear miteinander verketteten Sternbildern bestanden. In diesen (dann besser) ‚Bändern‘ vollzieht die Sonne ihre Wenden, aber nicht immer an demselben ‚Ort‘. Der Ort der Sonnenwende und das Sternenband, in dem diese Wende stattfinden, sind folglich noch konzeptuell getrennt. Nur dies erklärt, warum Hipparchos für einen derart zentralen (und vor allem in den Phainomena positiv im gegenteiligen Sinn bestimmten) Bestandteil der späteren und in der Eudoxos-Rezeption so wichtigen Himmelskreis-Theorie kein besseres und vor allem explizites Zitat als Bestätigung für seine (wohlgemerkt auf Kenntnis beider gesamter Schriften beruhende) Einschätzung gibt, dass (zumindest) die (explizit angeführten) Himmelskreise im Enoptron nicht breitenlos waren. Diese Deutung findet eine Bestätigung in der – allem Anschein nach von Eudoxos selbst eingeführten – Bezeichnung derjenigen beiden Kreise (bzw. Bänder), die, zueinander im 90°-Winkel stehend, senkrecht zum Äquator durch den Pol gezogen sind, der κόλουροι κύκλοι (Eudoxos, fr. 77 f.), „Stutzschwanzkreise“. Sie tragen ihren (von da an kanonischen) Namen den antiken Zeugnissen zufolge deshalb, weil Teile von ihnen nicht sichtbar sind.198 Dies aber setzt voraus, (1) dass der Rest ‚sichtbar‘ ist, und dies kann er nur vermittels der ihn bildenden Sterne sein; (2) dass die Kreise ‚abgeschnitten‘ sind, mithin nicht als Kreise, sondern ursprünglich als ‚Kreis‘-Segmente konzipiert sind, und zwar diejenigen, auf denen die Sternbilder der Tag-und-NachtGleiche sowie der Sonnenwenden liegen, so dass durch die Kreissegmente das Jahr

|| 198 Siehe LSJ s. v. κόλουρος: „dock-tailed, stump-tailed“. So auch ausdrücklich erklärt bei Geminos 5, 49, Theon von Smyrna p. 132, 2–4 und Achilleus Tatios, Intr. Arat. 27, 13–19: κόλουροι δὲ κέκληνται, διότι δοκοῦσιν ἡμῖν κεκολοῦσθαι ὥσπερ τὰς οὐρὰς διὰ τὸ ἡμῖν μὴ φαίνεσθαι αὐτῶν τὰ ἀπὸ ἀνταρκτικοῦ καὶ ἀεὶ ἀφανοῦς κύκλου καὶ δοκεῖν κεκολοῦσθαι αὐτοὺς κατὰ τοῦτο τὸ μέρος· συμβέβηκε γὰρ τὰ μὲν ἀπὸ τοῦ ἀειφανοῦς κύκλου, τουτέστι τοῦ ἀρκτικοῦ, μέρη φαίνεσθαι, ταῦτα δὲ τὰ μέρη τῶν κολούρων κύκλων, τὰ τοῦ ἀνταρκτικοῦ, ἀεὶ ἀφανῆ εἶναι („Sie werden Stutzschwanzkreise genannt, weil sie uns wie die Schwänze gestutzt zu sein scheinen, und zwar wegen des Umstands, dass die Teile ausgehend vom antarktischen und nicht-sichtbaren Teil des Kreises für uns nicht sichtbar sind und sie in dieser Richtung gestutzt zu sein scheinen. Es ist nämlich der Fall, dass die Teile ausgehend vom immer-sichtbaren Kreis, das heißt dem arktischen Kreis, sichtbar sind, dass aber diese Teile der Stutzschwanzkreise, das heißt die des antarktischen Kreises, immer unsichtbar sind“). Siehe zu diesen Kreisen bei Eudoxos und im Vergleich zu anderen Autoren Dekker 2008.

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in vier exakt gleiche Jahreszeiten aufgeteilt wird, mit der offensichtlichen, kalenderbezogenen Motivation, die Jahreszeiten durch empirische Beobachtung bestimmen zu können, und zwar der (Auf- und Untergänge der) Sternbilder; und (3) dass die Kreissegmente wie ein gestutzter ‚Schwanz‘ aussehen, also nicht nur abgeschnitten sind, sondern von vornherein eine Breite besitzen.199 Die Bezeichnung selbst geht folglich nicht auf ein abstraktes mathematisches Modell zurück, sondern auf ein Attribut der sichtbaren Bänder in der direkten Wahrnehmung. Der Befund ist eindeutig: Angesichts des Umstands, (1) dass in der gesamten späteren bezeugten Astronomie die Himmelskreise mathematisch breitenlos sind, und zwar insbesondere in denjenigen Werken, die wie Arats Phainomena, Euklids Phainomena oder Autolykos’ Traktate in einer direkten konzeptuellen Abhängigkeit von Eudoxos’ Theorie der Himmelskreise stehen;200 (2) dass ferner, wie der letzte Punkt demonstriert, es aus der Sicht einer mathematischen Astronomie nicht nur wenig hilfreich ist, sondern geradezu der Konzeption eines solchen Projekts widerspricht, wenn die Himmelskreise eine Breite besäßen, denn dies hat, wie schon ein flüchtiger Blick auf die entsprechenden Propositionen der mathematischen Astronomie zeigt, zur Folge, dass sich kein einziger mathematischer Beweis in dieser Hinsicht führen ließe; und (3) dass die Gattungstradition der Phainomena auf Eudoxos zurückgeht und der || 199 Vgl. explizit Achilleus Tatios, Intr. Arat. 27, 4 f.: τέμνουσι δέ, ἵνα τὰς δ’ ὥρας τοῦ ἐνιαυτοῦ ἑκάστου ῥαιδίως καταλαμβάνωμεν („Sie zerschneiden sie [sc. die Kugel], damit wir die Jahreszeiten eines jeden Jahres leicht ergreifen können“), mit Erklärung mit Zuweisung zu den Jahreszeiten in Z. 5–13. 200 Vgl. die beiden oben in Kap. 3.3 analysierten Propositionen aus Autolykos (Sph. 8 und Sph. 3); vgl. für Euklids Phainomena die Definition des Meridians (praef. 70) oder noch instruktiver die des Horizonts (praef. 66–69). Signifikant ist ebenfalls, dass in Euklids Phainomena der Zodiakos scheinbar überdeterminiert, aber vor allem angesichts der vorangehenden astronomischen Tradition zur Vermeidung von Missverständnissen zum „Kreis durch die Mitte der Tierkreiszeichen“ geworden ist: τροπικοὶ δέ, ὧν ὁ διὰ μέσων τῶν ζῳδίων κύκλος ἐφάπτεται τοὺς αὐτοὺς πόλους ἐχόντων τῇ σφαίρᾳ (praef. 72 f.: „und Wendekreise [sc. seien genannt] diejenigen Kreise, die der Kreis durch die Mitte der Tierkreiszeichen berührt, welche dieselben Pole wie die Kugel haben“). Anders als im obigen AttalosZitat bei Hipparch und gewiss auch bei Oinopides (vgl. oben Anm. 185) ist der Zodiakos nicht mehr ein breites Band, sondern ein ‚euklidischer‘ Kreis (vgl. LSJ s. v. κύκλος). Hierin spiegelt sich ein (sich in dem allem Anschein nach direkt bei oder zur Zeit des Eudoxos wandelnden Gebrauch spiegelnder) grundlegender Bedeutungswandel von κύκλος = svw. ‚Reifen‘ zu κύκλος = ‚Kreis‘ durch die ‚Euklidisierung‘ der Fachmathematik (und speziell die Definitionsanstrengungen; vgl. zum Wort auch Burkert 1982, 137; instruktiv ist das oben in Kap. 2 zitierte Anaximander-Testimonium Diels & Kranz 12 A21 = Ar 57 Wöhrle). In Geminos 5, 51 f. stoßen beide Traditionen instruktiv unvermittelt aufeinander. Die neue Verwendung des Konzepts ‚Tierkreis‘ findet sich signifikanterweise schon bei Aristoteles, und zwar in der Beschreibung von Eudoxos’ konzentrischen Kreisen (Metaph. 1073b19: κατὰ τὸν διὰ μέσων τῶν ζῳδίων). Grundlage ist auch hier die Definition der Linie als breitenloser Länge (siehe oben); erst diese erlaubt die exakte und vor allem ihre Einsichten beweisende Mathematisierung der Himmelsgeometrie, zumindest wie sie in Autolykos, Euklid etc. entgegentritt. Insofern reicht, wie das Beispiel demonstriert, als Kriterium für das Vorliegen einer Mathematik euklidischen Typs nicht aus, dass es bloße, vereinzelte Definitionen gibt, gegebenenfalls ohne Bezug auf universelle und vor allem beweisrelevante Relationen; dies gilt insbesondere für die frühe Zeit und den Bereich der Arithmetik.

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generische Werktitel durchgängig Phainomena und nicht Enoptron ist, mithin die Phainomena diejenige Fassung des Werkes sind, die rezipiert wurde und gewirkt hat (insbesondere nach Hipparchs explizitem Zeugnis im Falle Arats);201 muss das Enoptron das frühere Werk und müssen die Phainomena das spätere Werk sein.202 Der Grund für die Neubearbeitung innerhalb weniger Jahre ist transparent: Nicht die Beobachtungsdaten hatten sich signifikant geändert, sondern Eudoxos hatte die Konzeption seiner Schrift revidiert, und zwar in Hinsicht auf die Art der diagrammatischen Modellierung der gesamten Himmelskugel; aus einer rein beobachteten ‚physikalischen‘, in ihrem Charakter durch das wahrnehmbare relative System der Sternenpositionen gegebenen und von diesen abgelesenen Relationalität wurde eine rein mathematische Relationalität, die das System der Sternenpositionen unterlegt mit (und dann abhängig macht von) einem hiervon prinzipiell unabhängigen euklidischgeometrischen, aus mathematischen Objekten im eigentlichen Sinn bestehenden Modell der in Segmente unterteilten, den physikalischen Himmel repräsentierenden Kugel als Referenzrahmen für die Position eines jeden einzelnen Himmelselements. Was könnte eine solche Neukonzeption verursacht haben? Angesichts der Ergebnisse so weit liegt die Antwort nahe. Ein erstes Indiz gibt die Beobachtung, dass in beiden Schriften der nördliche Wendekreis in verschiedener Relation in einen Bereich ober- und unterhalb der Erde (= Horizont) aufgeteilt wird, und zwar im Verhältnis von 5:3 im Enoptron und von 12:7 in den Phainomena (Eudoxos, fr. 68 bzw. fr. 67). Insofern sich das Verhältnis mit der Beobachterposition ändert, ergibt sich für das Enoptron ein südlicherer und für die Phainomena ein nördlicherer Bezugsort. Die in beiden Schriften dargestellten astronomischen Beobachtungen (im Gegensatz zur konzeptuellen mathematischen Modellierung insgesamt) gehen aber im Wesentlichen nicht auf Eudoxos selbst zurück; vielmehr verwendete er allem Anschein nach babylonische Aufzeichnungen, und auf diese könnte er während seiner Ägyptenreise um das Jahr 365 v. Chr. Zugriff gehabt haben.203 Er hätte das Enoptron dann dort oder nach

|| 201 Ein Indiz: Während der Titel Phainomena für Eudoxos’ Werk auch bei anderen Autoren bezeugt ist (vgl. die nicht von Hipparch und jeweils von verschiedenen anderen Autoren stammenden Eudoxos-Fragmente fr. 3a, fr. 7, fr. 8; ebenso wohl fr. 2; vgl. D7 Lasserre = Aristoteles, Cael. 297a2–6), sind der Titel Enoptron und die Schrift selbst überhaupt nur aus Hipparchs Kommentar bekannt; hier ist die Motivation zur Benutzung einer älteren, eigentlich überholten Schrift transparent (wenngleich ihre Kenntnis angesichts von Eudoxos, fr. 67 wohl auch für Attalos erschlossen werden muss, gegebenenfalls auch für Arat). Der Titel Phainomena ist vor Eudoxos nicht bezeugt: siehe Lasserre 1966, 185. 202 Zur Gattungstradition der Phainomena siehe Kidd 1997, 12–23 sowie auch Berggren 1991. Sachlich steht der Inhalt natürlich in der oben aufgezeigten Tradition, in der auch Hesiods Werke und Tage als praktischer Kalender (mit Sternenkunde) stehen (siehe oben und vgl. Kidd 1997, 8–10). 203 Zur wohl assyrisch-babylonischen Herkunft der Daten siehe Schaefer 2004 und Schaefer 2006 (kritisch Dekker 2008; vgl. Duke 2008); sie verweisen auf das Jahr 1130 v. Chr. und auf eine Breite von 36° ± 0,9°. Dies entspricht mehr oder weniger Ptolemaios’ Wert für Babylon im Almagest (35°; mit tatsächlichem Wert von ca. 32,5°) und interessanterweise der Breite von Rhodos mit 35° (siehe Toomer 1998, 638 Anm. 65). In Eudoxos, fr. 2 wird Eudoxos explizit mit Assyrien und Babylon in Verbindung

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seiner Rückkehr nach und Schulgründung in Kyzikos ab ca. 363 v. Chr. verfassen können. Das nächste einschneidende Ereignis ist der Aufenthalt in Athen und speziell an der Akademie in den 350er Jahren v. Chr., entweder mit folgender Rückkehr nach Kyzikos (eine bezeugte Begegnung mit Maussolos wäre bis 353 v. Chr. möglich gewesen) oder gleich nach Knidos, wo er dann (nach Platon) im Alter von 53 Jahren starb. Insofern also einerseits Eudoxos’ Ansatz der Kartographierung der Himmelskugel keine Mathematizität euklidischen Typs (wenn denn überhaupt irgendeine) beinhaltete und andererseits in der griechischen Tradition eine Mathematizität euklidischen Typs, wie sie sich dann in Eudoxos’ revidiertem Ansatz der Modellierung der Himmelskugel in den (in Athen?, zurück in Kyzikos?, oder in Knidos? verfassten) Phainomena niederschlägt, das erste Mal positiv und authentisch für Platon und also die Akademie bezeugt ist, ergibt sich die Vermutung, dass die Mathematisierung des Ansatzes auf den Einfluss von Platon und der Akademie zurückzuführen ist. Im Zuge dessen hätte Eudoxos, so die Konsequenz, dann die eine oder andere Angabe korrigiert und angepasst, insbesondere die genannte Relation in Bezug auf den nördlichen Wendekreis, die jetzt mehr einer griechischen Beobachterposition entsprach und ohne weitere Folgen für das Gesamtgefüge der im Werk dargestellten (Positions-) Relationen geändert werden konnte. Der Hauptunterschied bestand jedoch in der radikalen Änderung des generellen Ansatzes zur diagrammatischen Modellierung der Kugel: Aus einem physikalisch-basierten Modell wurde ein euklidisch-mathematisches Modell,204 und aus dem direkten ‚Spiegel‘ (ἔνοπτρον) des Himmels eine relationale

|| gebracht (Ὅτι Εὔδοξον τὴν Ἀσσυρίαν [Lasserre : τὸν Ἀσσύριον codd.] λέγουσι πρῶτον εἰς Ἑλλάδα κομίσαι σφαῖραν, ἣν δεῖ κρατεῖν τὸν ἐπιδεικνύντα τὰ φαινόμενα [„Man sagt, dass als erster Eudoxos die assyrische Kugel [Eudoxos, der Assyrer, die Kugel] nach Griechenland gebracht habe, welche derjenige beherrschen muss, der die ‚Phänomene‘ erklären will“]); vgl. Gysembergh 2015 mit Material, das keine Berücksichtigung in Lasserres Edition gefunden hat. Eine Lokalisierung der Schrift auf Knidos im Sinn einer Basiertheit auf eigener Beobachtung scheidet dann aus: so Lasserre 1966, 181–183, und zwar als Argument für die zeitliche Priorität der Phainomena (vgl. die folgende Anm. 204). Zur Datierung der Reise siehe De Santillana 1940, speziell 277; sie ist durch den ägyptischen Einfluss auf die Octaeteris und die damit verbundenen Testimonien gesichert: siehe oben mit Anm. 191. Es hätte für Eudoxos keinen Grund gegeben, an der Zuverlässigkeit der Daten zu zweifeln, denn das Phänomen der Präzession war noch nicht bekannt; die sich hieraus ergebende kalendarische Verschiebung muss entweder im Rahmen der überhaupt möglichen Messgenauigkeit nicht zwingend aufgefallen sein oder könnte, wenn doch, für nicht wesentlich gehalten worden sein, etwa aufgrund des Wissens um die generelle Schwierigkeit der Erfassung (einer Vielzahl) genauer Daten oder weil Eudoxos, insoweit er es nachgemessen hätte (und hätte können), den Eindruck gewonnen hatte, es handele sich nur um eine Anomalie oder einen babylonischen Messfehler (etc.). Negativer freilich Graham 2013, 237. 204 Anders Lasserre 1966, 194 f., der aus dem Unterschied eine Priorität der Phainomena vor dem Enoptron erschließt, allerdings letztlich unter Berufung auf Attalos bzw. Arat, die das Verhältnis von 5:3 als eher den griechischen Verhältnissen entsprechend beurteilten (Eudoxos, fr. 67 = Hipparchos, in Arati et Eudoxi Phaenomena 1, 3, 9 f. bzw. V. 497–499 mit Eudoxos, fr. 68 = Hipparchos, in Arati et Eudoxi Phaenomena 1, 2, 22; vgl. Kidd 1997, 358 f.); der Unterschied macht ca. 1,5° aus. Eine Korrektur war von Eudoxos’ Seite relativ einfach, weil sie nicht schwierige Beobachtungen erforderte, sondern

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Beschreibung der Himmels-‚Phänomene‘ (φαινόμενα) auf der separaten Grundlage der mathematischen und als solche eben gerade nicht sichtbaren Himmelskonstitution.205 Die ‚κύκλοι‘ am Himmel hatten sich aus breiten, runden Bändern, die man in der Form zusammenhängender (das heißt zu solchen verbindbarer) Sterne am Himmel beobachten konnte, in nicht sichtbare breitenlose kreisförmige Linien verwandelt, mit denen man nun erstmals Mathematik betreiben konnte – und zwar im Ausgang und in Übereinstimmung mit einer radikal neuen, zwar von der Wahrnehmung ausgehenden, diese aber ins Mathematische überführenden Definition der ‚Linie‘ als ‚breitenloser Länge‘, die wohlgemerkt vor Platon in äquivalenter Form nirgendwo anders bezeugt ist, sondern in genau dieser Form anscheinend auf Platon selbst oder zumindest die Akademie zurückging.206 || über das Verhältnis von längstem Tag und kürzester Nacht im Jahr bestimmt wurde: so das Verfahren in fr. 67 (siehe Bowen & Goldstein 1991, speziell 237 f. für eine nicht primär beobachtungsbasierte Herleitung der Werte). Insofern müssen Attalos oder Arat nicht einmal auf das Enoptron zurückgegriffen haben, sondern könnten die Information aus anderer Quelle (oder selbst) erhoben haben. Lasserres Deutung scheidet im Übrigen von vornherein aus, wenn Eudoxos babylonische Daten zugrunde legte, weil dann kein Grund ersichtlich wäre, warum in der späteren Version eine Verschiebung der Beobachterposition von Norden nach Süden erfolgt sein sollte. Man beachte die wichtige Notiz, dass auch der Platonschüler Philippos von Opus Eudoxos’ Himmelskartierung genutzt hat, und zwar, wie seine Nutzung des Verhältnisses von 12:7 zeigt, in der Fassung der Phainomena: Eudoxos, fr. 67 (laut Lasserre 1966, 195 sei der Grund, dass das Enoptron noch nicht erschienen war, als Philippos sein Werk verfasste). Zu den ansonsten von Eudoxos korrigierten Angaben vgl. oben Anm. 195; die von Lasserre 1966, speziell 191 und 197 angeführten Unterschiede sind, auch wenn es sich um fehlerhafte Berichtigungen durch Eudoxos handeln sollte (dies einzig möglich mit Bezug auf fr. 36 und fr. 37; vgl. Lasserre 1966, 191), angesichts der gravierenden konzeptuellen Schwierigkeiten in Eudoxos’ Projekt, Himmelskreise mit Breite anzunehmen, irrelevant; über die Problematik geht Lasserre 1966, 193 hinweg, wenn er das Enoptron als das spätere Werk erweisen möchte: „Hängt Arat auch in diesem Fall von Eudoxos ab, so ist der Gegensatz nur dadurch zu erklären, daß die Phaenomena noch mit ἀπλατεῖς-Kreisen rechneten, das Enoptron dagegen mit πλατεῖς, wozu auch stimmt, daß Hipparch für die πλατεῖς ausnahmsweise nur das Enoptron zitiert.“ Die Annahme spiegelt auch eher ein früheres Stadium der astronomischen Kenntnisse: „This early theory was probably influenced by the known variations in latitude of the moon and the planets, and perhaps confirmed by imprecise observations of the sun’s position at the solstices in different years“ (Kidd 1997, 350); es lagen ja auch fast keine Beobachtungsdaten zu den Sonnenwenden vor: vgl. oben Anm. 4123 zu Meton, mit Toomer 1998, 12 f.). 205 Angesichts dessen lässt sich nicht schließen, „daß Enoptron die neuere Ausgabe war“, wie „sich erstens aus dem gesuchteren Titel“ ergebe (so Lasserre 1966, 181). 206 Siehe Heath 1949, 88–91, speziell 90: „The definition […] was pre-Euclidean and seems to be attributable to the Platonic school if not to Plato himself“ (auf der Grundlage der in dieser Hinsicht eindeutigen Diskussion in Aristoteles, Top. 143b11–144a4; man beachte b24: τοὺς τιθεμένους ἰδέας εἶναι [„diejenigen, die annehmen, es gebe Ideen“]); siehe Heath 1926, 1, 158 f. Relevant ist auch die sicher platonische Definition des Geraden (εὐθύ) und also der ‚geraden Linie‘ (εὐθεῖα γραμμή): καὶ μὴν εὐθύ γε, οὗ ἂν τὸ μέσον ἀμφοῖν τοῖν ἐσχάτοιν ἐπίπροσθεν ᾖ (Prm. 137e3 f.: „und ‚gerade‘ ist, dessen Mitte beiden Enden im Wege ist“); siehe Heath 1949, 92 f. und Heath 1926, 1, 165–169 (speziell 165 zu Platons Definition: „The only definition of a straight line authenticated as pre-Euclidean is that of Plato“). An derselben Stelle im Parmenides ist auch die erste Definition des ‚Runden‘ (στρογγύλον)

Epilog: Inkommensurable Mathematik | 263

Der glückliche (und seltene) Umstand, in Eudoxos’ Enoptron und Phainomena Zugriff auf zwei vom Autor selbst besorgte Fassungen ein und desselben Werkes zu haben und zugleich die entscheidenden Differenzen eindeutig bestimmen und im historischen Kontext in ihrer Motivation erschließen zu können, führt zu einer Bestätigung der so weit erzielten Ergebnisse: Nicht nur erweist sich, dass und inwiefern die euklidisch-mathematischen Aspekte von Eudoxos’ Astronomie direkt und unmittelbar auf Platons Einfluss zurückgehen, sondern die Entwicklung von einer voreuklidischen zu einer euklidischen Astronomie und mithin Mathematik – mit klarem Bezug auf die involvierte Art der Relationalität der mathematischen Objekte – kann abermals eng auf (grob) die 350er Jahre v. Chr. datiert werden. Dies konvergiert mit der in diesem Kapitel explizierten Rekonstruktion zum Delischen Problem, und zwar nicht nur in mathematischer und in der auf Platon und die Akademie bezogenen wissenschaftsorganisatorischen Dimension, sondern auch in Bezug auf die in der indirekten Tradition belegte mathematikphilosophisch-methodologische Debatte zur Natur der mathematischen Objekte und des mathematischen Beweises. Speziell mit Blick auf die Astronomie ergeben die in diesen Kapitel diskutierten Zeugnisse ein eindeutiges Bild: All die von den frühen ‚Astronomen‘ (außer partiell Eudoxos am Wendepunkt der Entwicklung) behandelten Fragen sind nicht nur praktischer Natur, sondern erschöpfen sich in dem Zweck, die physikalische Welt im Rahmen einer numerisch-quantitativ exakten Vermessung besser zugänglich zu machen, und zwar in der zeitlichen Dimension.207 Was sich jedoch nirgends findet, ist eine mathematische Astronomie nach euklidischem Muster anhand von ‚Problemen‘, wie sie Platon in den oben angeführten Politeia-Stellen einfordert208 – und wie sie dann in fassbarer Form erst bei Autolykos entgegentritt, aber eben auch bei Euklid: Während noch Eudoxos’ Phainomena den Zweck haben, rein deskriptiv die Konstellationen zu beschreiben und als solche zu lokalisieren, handelt es sich bei Euklids Phainomena, auch wenn diese konzeptuell auf Eudoxos’ ‚euklidisch‘-mathematischer Modellie-

|| bezeugt; impliziert ist, dass auch der Kreis-‚Umfang‘ eine (auf sich selbst zurückgebogene) ‚breitenlose Länge‘ ist: στρογγύλον γέ πού ἐστι τοῦτο οὗ ἂν τὰ ἔσχατα πανταχῇ ἀπὸ τοῦ μέσου ἴσον ἀπέχῃ (Prm. 137e1–3: „rund ist, meine ich, dasjenige, dessen Enden überall von der Mitte gleich weit entfernt sind“); siehe Heath 1926, 1, 183–185. Federspiel 1991 führt auch die Definition der geraden Linie (εὐθεῖα γραμμή) in Euklid, Elem. 1, def. 4 auf Platon zurück (mit Verweis auf Prm. 150a1–6). 207 Signifikant ist, dass sich Aristoteles mit dem Verständnis der Zeit in der Physik (4, 10–14, 217b29– 224a17; 6, 1–3, 231a21–234b9) als kontinuierlicher Größe wohl gegen eine frühere diskrete, auf einzelnen Messpunkten beruhende Konzeption wendet. Siehe Waschkies 1990; ihm ist aber nicht darin zuzustimmen, auch Platon der zweiten Gruppe zuzurechnen: Zwar erweckt Ti. 37e1 f. den Eindruck von Diskretheit der Zeit, Kontinuierlichkeit ist aber insoweit gegeben, als die Zeit sich aus der kontinuierlichen Bewegung des Himmels ergibt, mit einer mithin äquivalenten Funktion des νῦν wie bei Aristoteles (siehe insgesamt Ti. 37c6–38b5). Zu Aristoteles’ Diskussion der Zeit in der Physik (und speziell dem vierten Kapitel) siehe Hussey 1983, xxxvi–xliv sowie umfassend Coope 2005 und Bostock 2006b. 208 Vgl. Mourelatos 1981, aber ohne Verweis auf Autolykos; instruktiv ist die Diskussion der Parallele Lg. 893c–e (S. 3–6; zu ergänzen ist ein Hinweis auf die Ähnlichkeit zu Sph. 2). Vgl. Simeoni 1995.

264 | Verdoppeln ohne Verdoppeln: Platon und das Delische Problem

rung der geometrischen Relationalität der Himmelskugel beruhen, im dezidierten Gegensatz dazu um eine zum Zweck des allgemeinen Beweises universeller mathematischer Sachverhalte auf axiomatisch-deduktiver Grundlage erfolgende Modellierung von Phänomenen der sphärischen Geometrie in ihrer Anwendung auf die Himmelskugel in der Form vollgültiger Beweise euklidischen Typs: „Unlike the work of Eudoxos, Euclid’s book has no place for uranography.“209 In der Gattung der Phainomena – speziell dann, wenn man die nicht-technischen und eine partiell andere Zielsetzung verfolgenden, gleichwohl in demselben Kontext stehenden Vorläufer wie Hesiods Werke und Tage berücksichtigt – zeigt sich eine ähnliche Verschiebung von Zielsetzung und Inhalt, wie sie für die fachmathematischen Elemente im engeren Sinne rekonstruiert wurde, und zwar ebenfalls in Verbindung mit Platon und der Akademie. Zwar ist mit Eudoxos ein Anfang greifbar, die eigentliche Entwicklung zu einer mathematischen Astronomie stand aber noch bevor. Eudoxos nimmt jedoch eine Scharnierstelle ein und verbindet beide Traditionen. Angesichts des sachlichen Unterschieds der Phainomena zu Autolykos und Euklid ist es aber doch der Fall, dass sich bei ihm zwar eine ‚Euklidisierung‘ zeigt, seine eigentliche Zielsetzung aber nichteuklidisch, rein praktisch blieb. Damit ist die Situation so, wie sie Platon in der oben in Kap. 5.2.4 diskutierten Stelle zu seiner Rolle als ‚Vorsteher der mathematischen Wissenschaften‘ beschreibt (R. 528b3–d1): Zwar ist ein solcher ‚Architekt‘ in Athen entstanden, nicht alle folgen ihm aber immer und in allen Fragen bereitwillig.210 Die Situation spiegelt sich handgreiflich in der zitierten Passage R. 529d7–530a2 wider, in der Platon von den ‚Diagrammen‘ am Himmel spricht, die, auch wenn von Daidalos gezeichnet, eben doch kein ‚Wissen‘ über den Himmel vermittelten. Hierin lässt sich angesichts der Ergebnisse so weit ein polemischer, allem Anschein nach auf die (gegebenenfalls im weiteren Sinne) innerakademischen Diskussionen gerichteter Verweis speziell auf Eudoxos sehen, dessen Ziel es eben ursprünglich war, den Himmel zu kartieren – und eben dessen Schönheit in einem ‚Diagramm‘ genau abzubilden, quasi wie in einem ‚Spiegel‘ (ἔνοπτρον). Das Modell, um das es in dieser Passage geht, stellt sich im Rückblick nicht als ein ‚mathematisches‘ Diagramm dar, sondern als reine, der Wahrnehmung direkt entsprechende Abbildung, kurz: als image.211

|| 209 So der Beginn des instruktiven Vergleichs der beiden Schriften von Evans & Berggren 2006, 6 im Rahmen einer knappen Gattungsgeschichte der Phainomena (4–8; vgl. 8–12); siehe ausführlicher, auch mit einer detaillierten Diskussion von Euklids Phainomena, Berggren 1991. 210 Dasselbe trifft auf Philodemos, Acad. Ind. zu (wie oben in Kap. 1 zitiert), denn auch hier scheinen die wesentlichen Unterschiede in den Interessen von Akademie einerseits und ‚Mathematikern‘ (oder eben in gewisser Hinsicht doch gerade nicht) andererseits deutlich durch. 211 Eine Parallele könnte in Eudoxos’ Proportionenlehre vorliegen, jedenfalls wenn Fowler 2000 das Richtige trifft: Sie hatte wohl ursprünglich nicht den Zweck „to handle incommensurable ratios“ (44), sondern sollte helfen, die irregulären, mit Proportionen schwer beschreibbaren zeitlichen Muster der astronomischen Ereignisse hinreichend und mit möglichst einfachen Verhältnissen niedriger Zahlen erfassen zu können. Mittel hierzu war eine neue Theorie von Verhältnissen, die diese als prinzipiell

Epilog: Inkommensurable Mathematik | 265

Analog zur Astronomie verhält es sich bei der mathematischen Harmonielehre, in der Entfaltung der mathematischen Wissenschaften in Politeia VII die fünfte und letzte Disziplin (insgesamt R. 530c–531c; vgl. unten Kap. 6.7). Ausgangspunkt ist die (anscheinend) geläufige Praxis mathematischer Harmonielehre (R. 530e3–531a3):212 ἡμεῖς δὲ παρὰ πάντα ταῦτα φυλάξομεν τὸ ἡμέτερον. – Ποῖον; – Μή ποτ’ αὐτῶν τι ἀτελὲς ἐπιχειρῶσιν ἡμῖν μανθάνειν οὓς θρέψομεν, καὶ οὐκ ἐξῆκον ἐκεῖσε ἀεί, οἷ πάντα δεῖ ἀφήκειν, οἷον ἄρτι περὶ τῆς ἀστρονομίας ἐλέγομεν. ἢ οὐκ οἶσθ’ ὅτι καὶ περὶ ἁρμονίας ἕτερον τοιοῦτον ποιοῦσιν; τὰς γὰρ ἀκουομένας αὖ συμφωνίας καὶ φθόγγους ἀλλήλοις ἀναμετροῦντες ἀνήνυτα, ὥσπερ οἱ ἀστρονόμοι, πονοῦσιν. „Wir aber werden jenseits von all diesen Dingen auf das Unsrige achten.“ – „Was?“ – „Dass die, die wir heranziehen [sc. die zukünftigen Wächter und Philosophenherrscher von Kallipolis], niemals in Angriff nehmen, etwas zu erlernen, was nicht zweckmäßig ist, und nicht in jedem Fall dorthin gelangen, wohin jeder gelangen muss, wie wir es gerade eben bezüglich der Astronomie ausgeführt haben. Oder weißt du nicht, dass man etwas Derartiges auch bezüglich der Harmonielehre macht? Die gehörten Zusammenklänge und Töne misst man nämlich voller Mühe gegeneinander ohne Nutzen, wie die Astronomen.“

Die Kritik zielt auf dasselbe wie hinsichtlich der Astronomie: Zwar sind diejenigen, die die Harmonielehre betreiben, darum bemüht, musikalische Phänomene wie Zusammenklänge oder Töne möglichst genau zu messen, ihre ganze Mühe ist aber letztlich ohne Nutzen (ἀνήνυτα213 […] πονοῦσιν). Der Grund ist auch hier, dass die Beschreibungen im Bereich der körperlichen und partikularen Phänomene verbleiben, in modelltheoretischen Worten: dass die Beschreibung in Form physikalischer metrisch-numerischer Relationalität erfolgt und nicht mittels universeller, qualitativquantitativer Relationen.214 Zwar ist auch für diese Beschäftigung mit musikalischen Intervallen die Benutzung von Diagrammen bezeugt, aber, wie ein relevantes Testimonium bei Aristoxenos deutlich macht, derartige Diagramme repräsentieren aus-

|| kommensurabel, aber praktisch nicht unbedingt aktual messbar annahm, mit dem Ziel der Möglichkeit der Messung überhaupt. Dies bestätigt die oben in Kap. 4.6 erzielten Ergebnisse. Die bloße Abbildung des Himmels im Sinn eines Spiegel(bild)s ist für Platon im Übrigen das Werk nicht des Verständigen, sondern des ‚Nachbildners‘ (μιμητής), speziell ‚Malers‘ (ζωγράφος): vgl. die (in Hinsicht auf Eudoxos polemische?) Beschreibung in R. 596d8–e8 (man beachte κάτοπτρον und φαινόμενα). 212 Creese 2010, 146–151 diskutiert diesen und den nächsten Passus im Kontext der Musiktheorie des Beginns des 4. Jhs. v. Chr. Er wendet sich gegen die Annahme, die erste Gruppe sei mit den Pythagoreern zu identifizieren (besonders 148 mit Anm. 48); vielmehr handele es sich um „those whom Aristoxenus labelled harmonikoi“ (148), während die nächste, von Sokrates positiv hervorgehobene Gruppe die Pythagoreer seien (150) (skeptisch hierzu Barbera 1981). Dieser Unterschied ist hier nicht relevant, weil der mathematische Charakter ähnlich verschieden vom ‚euklidischen‘ Charakter wäre. Siehe auch Barker 2007, 33–67, speziell zur Passage 34–37, sowie 308–327 zu Platon insgesamt. 213 Zum pointierten Doppelsinn „both ‚ineffectually‘ and ‚never-endingly‘“ siehe Creese 2010, 157 f. 214 Dies ist gerade in der Harmonielehre ein gravierendes Problem, „since there can exist an indefinite plurality of attunements of the octave“ (Creese 2010, 158).

266 | Verdoppeln ohne Verdoppeln: Platon und das Delische Problem

drücklich nur eine einzige Oktave in einem einzigen musikalischen Modus und also eine begrenzte, durch einfache Verhältnisse niedriger natürlicher Zahlen ausdrückbare Relationalität der musikalischen Töne.215 Es liegt eine Parallele zu Theodoros’ Diagramm in der Theaitetos-Stelle (147d–148b) vor, in dem die mathematischen Relata durch partikulare und niedrige natürliche Zahlen repräsentiert sind. Die grundsätzliche Problematik des Vorgehens aus Platons Perspektive zeigt sich in Sokrates’ Replik auf den Versuch Glaukons, seine zuvor geäußerte mutmaßliche Kritik in eigenen Worten polemisch wie folgt wiederzugeben (R. 531a4–b1): Νὴ τοὺς θεούς, ἔφη, καὶ γελοίως γε πυκνώματ’ ἄττα ὀνομάζοντες καὶ παραβάλλοντες τὰ ὦτα, οἷον ἐκ γειτόνων φωνὴν θηρευόμενοι, οἱ μέν φασιν ἔτι κατακούειν ἐν μέσῳ τινὰ ἠχὴν καὶ σμικρότατον εἶναι τοῦτο διάστημα, ᾧ μετρητέον, οἱ δὲ ἀμφισβητοῦντες ὡς ὅμοιον ἤδη φθεγγομένων, ἀμφότεροι ὦτα τοῦ νοῦ προστησάμενοι. „Bei den Göttern“, sagte er, „indem sie in äußerst lächerlicher Weise gewisse Verdichtungen216 benennen und ihre Ohren danebenhalten, wie wenn man aus der Nachbarschaft einer Stimme hinterherjagt, behaupten die einen, in der Mitte noch irgendeinen Ton genau zu hören und dass dies das kleinste Intervall sei, mit dem man messen müsse, die anderen bezweifeln dies dahingehend, dass die erzeugten Töne gerade gleich seien, wobei beide den Ohren gegenüber dem Verstand den Vorrang geben.“

|| 215 Siehe Aristoxenos, Harm. 1, 2, p. 6, 10–19: τὰ γὰρ διαγράμματα αὐτοῖς τῶν ἐναρμονίων ἔκκειται μόνον συστημάτων, διατόνων δ’ ἢ χρωματικῶν οὐδεὶς πώποθ’ ἑώρακεν. καί τοι τὰ διαγράμματά γ’ αὐτῶν ἐδήλου τὴν πᾶσαν τῆς μελῳδίας τάξιν, ἐν οἷς περὶ συστημάτων ὀκταχόρδων ἐναρμονίων μόνον ἔλεγον· περὶ δὲ τῶν ἄλλων μεγεθῶν τε καὶ σχημάτων ἐν αὐτῷ τε τῷ γένει τούτῳ καὶ τοῖς λοιποῖς οὐδεὶς οὐδ’ ἐπεχείρει καταμανθάνειν, ἀλλ’ ἀποτεμνόμενοι τῆς ὅλης μελῳδίας τοῦ τρίτου γένους ἕν τι [γένος] μέγεθος [δέ], τὸ διὰ πασῶν, περὶ τούτου πᾶσαν πεποίηνται πραγματείαν („Denn von ihnen wurden nur Diagramme zu den enharmonischen Systemen konstruiert, und niemand hat jemals welche zu den diatonischen und den chromatischen Systemen gesehen. Freilich haben ihre Diagramme die gesamte Ordnung der Melodie gezeigt, in welchen sie jedoch nur über die achtsaitigen enharmonischen Systeme sprachen. Über die anderen Größen und Formen sowohl in diesem Modus selbst und in den übrigen hat niemand nicht einmal versucht, etwas Genaues zu erfahren, sondern sie haben von der gesamten Melodie in nur einem einzigen Modus eine einzige Größe abgeschnitten, die Oktave, und haben über diese die gesamte Untersuchung geführt“). Abgesehen von den oben angeführten Punkten zeigt dieses Zitat am konkreten Beispiel, wie die Re-Interpretation der älteren Forschung von einer universellen, ‚euklidischen‘ Perspektive aus – da sie ja sachlich naheliegend die früheren Ergebnisse als lediglich unvollständig deutet – sich vollzogen hat; mutatis mutandis ist dies repräsentativ speziell für die oben in Kap. 4.6 erschlossene Entdeckung der Inkommensurabilität. Insbesondere im Fall der Pythagoreer könnte der Parameterraum sehr begrenzt gewesen sein, nämlich auf die mit der τετρακτύς verbundenen Relationen (Bowen 1982, 95): „the Pythagoreans decided to treat the ratios of the three smallest concords, i.e., the fourth (4:3), fifth (3:2), and octave (2:1) as elementary because they are readily defined by τετρακτύς of the decad, i.e., 1, 2, 3 and 4, where 1+2+3+4 = 10.“ 216 Vgl. Barker 1989, 55 f., insbesondere 56: „the pair of small intervals at the bottom of an enharmonic or a chromatic tetrachord. […] In the present passage the ‚compressed‘ items are apparently the allegedly minimal intervals, or groups of them“.

Epilog: Inkommensurable Mathematik | 267

Glaukon beschreibt das Vorgehen derjenigen, die auf diese Weise Harmonielehre betreiben und also die Phänomene des Musikalischen erforschen, dahingehend, dass sie mit den Ohren versuchen, zwischen zwei Tönen einen weiteren, mittleren Ton zu hören und auf diese Weise das kleinste Intervall zwischen Tönen im Allgemeinen zu bestimmen, und zwar mit dem ausdrücklichen Ziel, ein Maß für das Messen der Töne insgesamt zu finden. Gleichwohl sei es ausdrücklich nicht dies, was Sokrates als Kritik vorschwebt; entsprechend korrigiert er Glaukon wie folgt (R. 531b2–c4): Σὺ μέν, ἦν δ’ ἐγώ, τοὺς χρηστοὺς λέγεις τοὺς ταῖς χορδαῖς πράγματα παρέχοντας καὶ βασανίζοντας, ἐπὶ τῶν κολλόπων στρεβλοῦντας· ἵνα δὲ μὴ μακροτέρα ἡ εἰκὼν γίγνηται πλήκτρῳ τε πληγῶν γιγνομένων καὶ κατηγορίας πέρι καὶ ἐξαρνήσεως καὶ ἀλαζονείας χορδῶν, παύομαι τῆς εἰκόνος καὶ οὔ φημι τούτους λέγειν, ἀλλ’ ἐκείνους οὓς ἔφαμεν νυνδὴ περὶ ἁρμονίας ἐρήσεσθαι. ταὐτὸν γὰρ ποιοῦσι τοῖς ἐν τῇ ἀστρονομίᾳ· τοὺς γὰρ ἐν ταύταις ταῖς συμφωνίαις ταῖς ἀκουομέναις ἀριθμοὺς ζητοῦσιν, ἀλλ’ οὐκ εἰς προβλήματα ἀνίασιν, ἐπισκοπεῖν τίνες σύμφωνοι ἀριθμοὶ καὶ τίνες οὔ, καὶ διὰ τί ἑκάτεροι. „Du meinst“, sagte ich, „die guten Leute, die den Saiten Schwierigkeiten bereiten und sie unter Folter verhören, indem sie sie um Haken217 wickeln. Damit aber das Bild nicht allzu lang wird, das von den vom Plektron herbeigeführten Schlägen, der Anklage und dem Leugnen und der Schwindelei der Saiten, höre ich mit dem Bild auf und sage, dass ich nicht diese Leute meine, sondern jene, von denen wir soeben gesagt haben, dass wir sie bezüglich der Harmonielehre befragen wollen. Denn dasselbe machen sie wie die anderen im Falle der Astronomie, denn sie suchen die Zahlen in diesen gehörten Harmonien, steigen aber nicht zu Problemen auf, so dass sie prüfen, welche Zahlen harmonisch sind und welche nicht und weswegen dies für jede einzelne von ihnen der Fall ist.“

Sokrates macht erneut deutlich, dass es nicht der Bezug auf die Empirie ist, der zu kritisieren ist. Ganz im Gegenteil: Er meine nicht diejenigen, die das kleinste Maß zwischen Tönen mittels der Ohren zu finden versuchten und hierfür die ‚Saiten einem Verhör unterziehen‘ (was einem gezielten Experiment gleichkommt),218 sondern in erster Linie diejenigen, die (analog zur Kritik der traditionellen Astronomie) unmittelbar in den gehörten Harmonien „Zahlen suchen“ und nicht (erneut) zu „Proble|| 217 Die κόλλοπες „were devices for adjusting tension (originally strips of raw hide, later pegs or gadgets of various other sorts) fitted to the cross-bar“ (Barker 1989, 258 Anm. 51). 218 Dass Platons Wissenschaft aufgrund des Fehlens des Experiments keine ‚Wissenschaft‘ gewesen sei, ist eine oft geäußerte Kritik: vgl. exempli gratia Annas 1981, 274 f.; eine differenziertere Diskussion des Materials erfolgt bei Gregory 2000, 48–73; vgl. oben mit Anm. 177. Eine genaue Untersuchung des Problems würde hier zu weit führen. Es sei jedoch angemerkt, dass zum einen das ‚Experiment‘ keinesfalls essentiell auch für die moderne Wissenschaft ist (man denke nur an die Astrophysik, wo ‚Experimente‘ prinzipiell nicht möglich sind) und dass zum anderen die antike Wissenschaft an anderen Fragen als die moderne Wissenschaft interessiert war: vgl. für ein instruktives Beispiel Lattmann 2016. Schließlich ist an den grundlegenden Sachverhalt zu erinnern, dass die griechische Wissenschaft sehr wohl ein Experiment kannte und verwandte: die Manipulation von Diagrammen; diese ist modelltheoretisch prinzipiell äquivalent speziell zu Computersimulationen etc. Vgl. oben Kap. 4 zur Menon-Passage zur Quadratverdopplung (82a7–85b7), allgemein Kap. 2.

268 | Verdoppeln ohne Verdoppeln: Platon und das Delische Problem

men“ aufsteigen und „prüfen, welche Zahlen harmonisch sind und welche nicht und warum sie es in jedem Fall sind“. Mit anderen Worten: diejenigen, die die wahrgenommenen Phänomene (hier im Bereich des Hörens) numerisch-quantitativ mittels Zahlen beschreiben und auf dieser Stufe der Betrachtung der Natur stehenbleiben – und die Sachverhalte nicht universell in der Gestalt mathematischer Propositionen nach dem Muster Euklids untersuchen, einschließlich der Modellierung des allgemeinen mit dem jeweiligen Phänomen verbundenen mathematischen Sachverhalts. Ein solcher ‚euklidischer‘ Ansatz findet sich in der Harmonielehre in der Tat erst später.219 Bei den frühen Pythagoreern und allem Anschein nach insbesondere auch noch bei Archytas ist er nicht festzustellen.220

|| 219 So etwa am Beginn der Sectio canonis, wo es eben nicht um einzelne harmonische Proportionen, sondern die generellen Eigenschaften derartiger Proportionen geht, unabhängig von ihrer Realisierung in einem durch partikulare Zahlen bezeichneten Verhältnis, also in spezifischen musikalischen Intervallen: siehe zur Verbindung zu dieser Stelle in Hinsicht auf die Art und Weise der (kritisierten) musiktheoretischen Forschung Barker 1978; vgl. Barker 1991 und Barker 1994; für eine eingehende Analyse siehe auch Bowen 1991 (insbesondere 166–182, allerdings mit einer eher ablehnenden Position in Hinsicht auf den Bezug zur Politeia-Stelle [siehe 182]; er argumentiert für die Autorschaft Euklids). Zur Schrift siehe auch die ausführliche Analyse bei Barker 2007, 364–410. Ein weiteres Beispiel sind die (Verweise auf) Theoreme in Aristoxenos’ Elementa harmonica; vgl. p. 78, 13–16: Πυκνὸν δὲ πρὸς πυκνῷ οὐ μελῳδεῖται οὔθ’ ὅλον οὔτε μέρος αὐτοῦ. συμβήσεται γὰρ μήτε τοὺς τετάρτους διὰ τεσσάρων συμφωνεῖν μήτε τοὺς πέμπτους διὰ πέντε· οἱ δὲ οὕτω κείμενοι τῶν φθόγγων ἐκμελεῖς ἦσαν („No pyknon, neither the whole nor a part of one, is uttered melodically if it is placed next to another pyknon. For [if it is so placed] the consequence will be that the fourth note in order will not form the concord of a fourth with the first, and nor will the fifth note form the concord of a fifth; and notes that are placed like this are unmelodic, as has been said“; Übersetzung von Barker 2007, 201). Hier liegt zwar nur ein abgekürzter Verweis auf einen Beweis eines solchen Theorems vor (der an anderer, verlorener Stelle erfolgt sein dürfte: siehe zur Problematik der Gesamtschrift, speziell auch in dieser Hinsicht, Barker 2007, 197–228; vgl. Barker 2005 und Bowen 1991b), doch wird deutlich, dass die mathematische Erkenntnis selbst universellen und nicht partikularen Charakter hat. 220 Nur zwei direkte, allem Anschein nach sicher unverfälschte Archytas-Fragmente zur Harmonielehre sind erhalten (von insgesamt lediglich vier): zu fr. 1 siehe oben Kap. 5.3.2; es beinhaltet eine ausführliche Theorie der Tonhöhe auf rein physikalischer Grundlage (die Fortführung wird unten in Kap. 7.3 diskutiert); fr. 2 beschreibt die drei Mitten in der Harmonielehre, freilich ohne Beweis (siehe Huffman 2005, 162–181), zumal die bloße Beschreibung solcher Mitten noch keine Aussage darüber erlaubt, ob diese Aussagen in einem ‚euklidischen‘ Rahmen standen (so schließt es etwa Barker 1994, 133 f.). Daneben sind zahlreiche Testimonien überliefert (A16–A19c; siehe ausführlich Huffman 2005, 402–482); sie beschäftigen sich entweder mit den Verhältnissen einfacher Zahlen im Sinn von konkreten ‚Harmonien‘ (A16, A17) oder der Definition dieser Harmonien (A18) oder der physikalischen Theorie der Tonhöhe (A19a) oder der allgemeinen Bedeutung der Musik (A19b, A19c); das Testimonium A19 gibt zwar einen allgemeinen Beweis zur superpartikularen Proportion, doch ist die Bezeugung durch Boethius (De institutione musica 3, 11, p. 285, 7–286, 19; vgl. ähnlich Euklid, Sect. Can. 3) spät und die ursprüngliche Form nicht mehr rekonstruierbar (siehe Huffman 2005, 453–470). Doch auch wenn die Form mutatis mutandis auf Archytas zurückginge, wäre es möglich, dass der Beweis auf die Zeit nach der Politeia (und also vielleicht, wie die Lösung zum Delischen Problem, auf die 350er Jahre v. Chr.) zu datieren ist (zur allgemeinen Form dieses Beweises siehe Barker 1978, 339).

Epilog: Inkommensurable Mathematik | 269

Um ein Fazit zu ziehen: Platons Kritik an der musikalischen Harmonielehre konvergiert mit seiner Kritik an der Astronomie; diese Kritik erweist sich anhand der verfügbaren fachwissenschaftlichen Zeugnisse als nachvollziehbar und stimmig. Platon wendet sich in Politeia VII insgesamt gegen eine Form von Mathematik, deren Methode darin besteht, exakt-numerisch-quantitative Modelle der physikalischen Realität zu verwenden, um sie in einem praktischen Zweckzusammenhang ausschließlich zu einer besseren Bewältigung oder besseren Verständnis dieser Realität selbst zu benutzen. Hiergegen setzt Platon eine kategorial andere Form von Mathematik, die Modelle nutzt, die nicht mit den Mitteln der physikalischen Realität zu vermessen sind, sondern die die universellen Relationen mathematischer Theorie repräsentieren. Den Zeugnissen aus erster Hand nach zu urteilen findet sich die von Platon beworbene Form von Mathematik nicht vor Platon selbst, danach aber durchgängig, unter anderem in der von Autolykos und Euklid repräsentierten Form. Für die erste, von Platon kritisierte Form von Mathematik verfügen wir andererseits über zahlreiche Testimonien, speziell für das Ende des 5. Jhs. v. Chr. und bis weit in das 4. Jh. v. Chr. hinein (und dann natürlich für die spätere Zeit: siehe oben Kap. 1.1). Einen direkten Einblick in die Entwicklung gibt Eudoxos, dessen Enoptron bzw. Phainomena den Punkt des Umschwungs zwischen beiden Ansätzen bilden; er lässt sich (zumindest || Man beachte im Übrigen Barkers 1991, 75 instruktive Zusammenfassung von Archytas’ Bemühungen in Hinsicht auf die sectio canonis (insgesamt 71–75): „A thorough study of Archytas’ divisions would take us too far afield. It seems clear that they were destined (as Plato’s was not) as direct representations of attunements in practical use; and the differences between them and other such representations opens up a rich selection of musicological issues“ (meine Hervorhebung). Vgl. Bowen 1991, insbesondere 183–187 zu den Unterschieden zu Euklid, Sect. Can. Instruktiv ist Aristoteles’ grundsätzliche Kritik an den Pythagoreern in Metaph. 987a22–25: ὡρίζοντό τε γὰρ ἐπιπολαίως, καὶ ᾧ πρώτῳ ὑπάρξειεν ὁ λεχθεὶς ὅρος, τοῦτ’ εἶναι τὴν οὐσίαν τοῦ πράγματος ἐνόμιζον, ὥσπερ εἴ τις οἴοιτο ταὐτὸν εἶναι διπλάσιον καὶ τὴν δυάδα διότι πρῶτον ὑπάρχει τοῖς δυσὶ τὸ διπλάσιον („Sie geben ihre Definitionen in einer oberflächlichen Weise, und sie glauben, dass dasjenige, bei dem die gegebene Definition gerade zuerst anzutreffen ist, das Wesen der Sache sei, wie wenn jemand glauben sollte, dasselbe sei das Doppelte und die Zwei, weil das Doppelte zuerst bei der Zwei anzutreffen sei“; zur Stelle Ross 1953, 1, 156 f.). Zu Archytas’ Beschäftigung mit der Harmonielehre siehe auch Barker 2007, 287–307. Von allgemeiner Relevanz ist in diesem Zusammenhang auch fr. 4 mit einer Bevorzugung von (wohlgemerkt) Logistik (Arithmetik) gegenüber Geometrie, und zwar „in regard to […] deal with what it wishes more concretely […] than geometry. Again in those respects in which geometry is deficient, logistic puts demonstrations into effect […] and equally, if there is any investigation of shapes, […] with respect to what concerns shapes as well“ (ἐναργεστέρω πραγματεύεσθαι ἃ θέλει. καὶ ἃ ἐκλείπει αὖ ἁ γεωμετρία, καὶ ἀποδείξιας ἁ λογιστικὰ ἐπιτελεῖ καὶ ὁμῶς, εἰ μὲν εἰδέων τεὰ πραγματεία, καὶ τὰ περὶ τοῖς εἴδεσιν; Übersetzung: Huffman 2005, 225): Im Effekt ist Geometrie (in grundsätzlicher Übereinstimmung mit den Anmerkungen zur pythagoreischen Mathematik so weit) insofern defizient, als sie nicht mit konkreten Zahlen operiert (und vice versa dann nützlich, wenn sie auf diese zurückgeführt wird). Dies ist das Gegenteil der Mathematik euklidischen Typs, insbesondere wenn man an den streng beweisenden geometrischen Charakter von Euklids Elementen selbst denkt. Zum schwierigen und umstrittenen Fragment siehe die eingehende Diskussion bei Huffman 2005, 225–252 (siehe speziell 248 f. zu ἀπόδειξις). Mutatis mutandis gilt dasselbe für fr. 3; siehe hierzu Huffman 2005, 182–224.

270 | Verdoppeln ohne Verdoppeln: Platon und das Delische Problem

außerakademisch) auf die späten 360er und die 350er Jahre v. Chr. datieren und ist eng mit Platon und der Akademie verbunden. Insofern bestätigen die fachmathematischen Zeugnisse die zum Delischen Problem gewonnenen Erkenntnisse, und zwar sowohl sachlich in Hinsicht auf Fragen der mathematischen Modellierung als auch chronologisch in Hinsicht auf die Entwicklung der Fachmathematik selbst. Der Unterschied zwischen der frühen und späten Form von Mathematik besteht primär nicht in Hinsicht auf den Gegensatz primitiv vs. komplex – allem Anschein nach war auch die von Platon kritisierte Form von Mathematik theoretisch nicht nicht-anspruchsvoll –, sondern in Hinsicht auf den Gegensatz praktisch-empirisch vs. theoretisch-rational, also in Hinsicht auf den Zweck, verbunden mit der Art der von den mathematischen Modellen repräsentierten diagrammatischen Relationalität. Was genau dies im Kontext platonischer Philosophie bedeutet und aus welchem Grund Platon einen solchen Wandel in der Mathematik hätte vorantreiben wollen – und ob es denn sachlich überhaupt eine plausible Position sein kann, Platon gerade in dieser Hinsicht eine entscheidende Rolle zuzusprechen –, klärt sich im folgenden Kap. 6 bei einem Blick auf das Liniengleichnis, ein mathematisches Modell, das den Kern platonischer Philosophie in der epistemologischen und ontologischen Dimension ausdrückt und zugleich die Rolle der Mathematik in der Erkenntnis der Welt aufzeigt. Das Ziel ist entsprechend, eine hinreichende Motivation für Platons theoretisches und praktisches Engagement in der radikalen, eine wissenschaftliche Revolution im Sinne Thomas Kuhns nach sich ziehenden Neuorientierung der Mathematik ausfindig zu machen, die so weit am Material für die erste Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. und speziell die 360er und vor allem die 350er Jahre v. Chr. aufgezeigt worden ist.

6 Die Welt als Linie: Mathematische Modellierung im Liniengleichnis der Politeia 6.1 Einführung Eine zentrale Passage zum Verständnis von Platons Verhältnis zur mathematischen Modellierung ist das Liniengleichnis im sechsten Buch der Politeia (R. 509d–511e): Anhand einer Linie und mithin eines mathematischen Modells macht Platon eine Aussage über die Welt in der ontologischen und epistemologischen Dimension – und demonstriert zugleich mit selbstreflexivem Rückbezug des Modells auf sich selbst exemplarisch seine Position zu Wesen und Funktion mathematischer Modelle im Allgemeinen. In diesem Sinn verspricht eine Analyse des Liniengleichnisses relevante Erkenntnisse zum Problemkomplex der mathematischen Modellierung, sowohl in einer mathematikmethodologischen Dimension als auch in Hinsicht auf die Funktion von Mathematik in Platons philosophischem Gesamtprojekt. Die spezifische Verfasstheit des Liniengleichnisses hat der Forschung große Probleme bereitet: Zwar ist das zugrunde liegende Diagramm simpel – eine in vier Segmente geteilte Linie –, doch in Verbindung mit Platons eigener Explikation ergibt sich der Eindruck, das Gleichnis sei nachlässig konzipiert und philosophisch fehlerhaft, ja: demonstriere Platons mangelnde Kenntnis der Mathematik und seinen nicht-fachgemäßen Einsatz von Mathematik zur Wiedergabe seiner Philosophie. Entsprechend ist mein Ziel in diesem Kapitel nicht nur, anhand des Liniengleichnisses zu einem besseren Verständnis von Platons theoretischem und praktischem Verhältnis zur mathematischen Modellierung zu gelangen, sondern ebenso, ein adäquateres Bild vom Liniengleichnis selbst zu gewinnen. Die Analyse wird einen desto größeren Nutzen haben, als je weniger problematisch das Gleichnis an sich und zugleich positiv als sinnvoller Ausdruck von Platons Philosophie erwiesen werden kann. Gelingt dies, sind, insofern das Gleichnis ein integraler Bestandteil der in den zentralen Büchern der Politeia entfalteten Gleichniskette Sonnengleichnis – Liniengleichnis – Höhlengleichnis ist, konkret Einblicke in Platons allgemeine ontologische und epistemologische Position zu erhoffen. Zu diesem Zweck werde ich in einem ersten Schritt einen Überblick zum Inhalt des Liniengleichnisses geben und diskutieren, warum es in der Forschung als problematisch gilt. Ein zweiter Schritt kontextualisiert das Gleichnis und arbeitet die semantischen Bezüge zu den beiden Nachbargleichnissen heraus. Dies erlaubt, in einem dritten Schritt aus dem Modell der Linie heraus den Charakter und die Funktion von Platons Theorie der mathematischen Modellierung zu rekonstruieren. In einem vierten Schritt werde ich schließlich die explizite Diskussion der Mathematik im Liniengleichnis in den Blick nehmen und auf das Verhältnis von Mathematik und Dialektik, das heißt Platons eigentlicher Philosophie, eingehen.

https://doi.org/10.1515/9783110616491-006

272 | Die Welt als Linie: Mathematische Modellierung im Liniengleichnis der Politeia

Die Analyse wird Antworten auf die Frage geben, welche Form von mathematischer Modellierung Platon aus welchen Gründen befürwortet und abgelehnt hat, mit dem Ergebnis der Festigung und Erweiterung der so weit erzielten Ergebnisse. Zugleich wird am authentischen Modell geprüft werden, welcher Qualität Platons Nutzung mathematischer Modelle zum Zweck des Ausdrucks seiner Philosophie ist: Handelt es sich um einen nicht sachgemäßen metaphorischen Einsatz mathematischer Sachverhalte (vgl. oben Kap. 1) oder um eine auf einer hinreichenden Einsicht in die mathematischen Zusammenhänge beruhende Verwendung mathematischer Konzepte? Mit anderen Worten: Lässt sich bei Platon eine pythagoreische Mathematik-Mystik oder eine Konvergenz von Mathematik und Metamathematik feststellen?

6.2 Das Liniengleichnis und seine Problematik In einem ersten Schritt werde ich kursorisch den Inhalt des Liniengleichnisses skizzieren und einige der zentralen Probleme identifizieren, die in der Forschung gesehen wurden. Die Passage beginnt mit einer Einleitung (R. 509d1–5), die einen expliziten Rückbezug auf das direkt vorangehende Sonnengleichnis (R. 506d–509c) herstellt und einen Rahmen des Verständnisses entfaltet: Neben der Sonne des Sonnengleichnisses – dem ‚Guten‘ – gebe es eine zweite Sonne, und beide seien Herrscherinnen über einen jeweils spezifischen Bereich, das ‚Intelligible‘ (τὸ νοητόν) bzw. das ‚Sichtbare‘ (τὸ ὁρατόν). Die zweite Sonne ist die sichtbare Sonne in der Lebenswelt der Menschen; der Ursprungsbereich des Sonnengleichnisses wird also im Liniengleichnis als Bereich sui generis gefasst und neben den im Sonnengleichnis bildlich ausgedrückten Bereich des Intelligiblen gestellt. Der Bereich der „Sonne“ ist freilich nicht nur das ‚Sichtbare‘ in einem engen Sinne, sondern das ‚Körperliche‘ im Allgemeinen: Die Benennung speziell als ‚Sichtbares‘ rührt daher, dass die Sonne diejenige Instanz ist, die Licht gibt, und dass andererseits alles Gewordene und Werdende eben diese Eigenschaft der Sichtbarkeit und allgemein der Wahrnehmbarkeit besitzt;1 entsprechend ist der im Liniengleichnis neu eingeführte Bereich der ‚Sonne‘ insgesamt und erschöpfend die ‚empirische‘, ‚physikalische‘, ‚körperliche‘ (= von der Sonne beschienene) Welt. Insofern ihr gegenüber das – im Sonnengleichnis in Umkehrung der ar-

|| 1 Vgl. Ti. 28b7–c1, wo es in Bezug auf den Kosmos heißt, dass er etwas Gewordenes sei, denn er sei sichtbar, fühlbar und habe einen Körper, alles Derartige sei aber wahrnehmbar (γέγονεν· ὁρατὸς γὰρ ἁπτός τέ ἐστιν καὶ σῶμα ἔχων, πάντα δὲ τὰ τοιαῦτα αἰσθητά); oder Ti. 31b4 f.: „Es ist notwendig, dass das Gewordene körperlich, sichtbar und fühlbar ist“ (Σωματοειδὲς δὲ δὴ καὶ ὁρατὸν ἁπτόν τε δεῖ τὸ γενόμενον εἶναι). Streng genommen bezeugt die zweite Stelle primär zwar nur, dass das Werdende und Gewordene sicht- und allgemein wahrnehmbar sowie körperlich ist, aber insbesondere aus der ersten Passage ergibt sich, dass die Umkehrung ebenso gilt, nicht zuletzt angesichts des implizierten (kausalen) Zusammenhangs, der Wahrnehmbarkeit mit Gewordenheit gleichsetzt. Für weitere Passagen siehe unten, insbesondere Anm. 19 sowie die Analyse zum Timaios (Kap. 7).

Das Liniengleichnis und seine Problematik | 273

gumentativen Reihenfolge metaphorisch unter Rückgriff auf den Bereich der ‚physikalischen‘ Sonne behandelte – ‚Intelligible‘ steht, zeigt sich das Liniengleichnis so weit als transparente Abbildung der platonischen ‚Zwei-Welten-Lehre‘. Das Intelligible und das Körperliche werden – hiermit beginnt das eigentliche Bild – in ihrer Gesamtheit mit einer Linie gleichgesetzt, die „hälftig in zwei ungleiche Teile“ geteilt ist (R. 509d6–8). Insofern in Platons Ontologie das Intelligible und das Körperliche alles ist, was (wenn auch kategorial anders) ‚ist‘, nämlich als ‚Seiendes‘ bzw. ‚Werdendes‘, repräsentiert die Linie die Welt in ihrer Gesamtheit und zugleich in ihrer basalen Binnendifferenzierung, so weit in Hinsicht auf das Verhältnis der durch die ersten zwei Segmente repräsentierten Gegenstandsbereiche. In einem zweiten Schritt werden nun auch diese zwei Segmente in demselben Verhältnis wie die gesamte Linie in je zwei Segmente geteilt. In diesem Sinn wird das mathematische Modell der Linie durch den folgenden Satz vollständig konstruiert (R. 509d6–8):2 Ὥσπερ τοίνυν γραμμὴν δίχα τετμημένην λαβὼν ἄνισα τμήματα, πάλιν τέμνε ἑκάτερον τμῆμα ἀνὰ τὸν αὐτὸν λόγον, τό τε τοῦ ὁρωμένου γένους καὶ τὸ τοῦ νοουμένου. „Nimm diese beiden Bereiche also wie eine Linie, die hälftig in ungleiche Segmente geteilt ist, und teile erneut jedes Segment in demselben Verhältnis, sowohl dasjenige der gesehenen Art als auch das der gedachten.“

Im Ergebnis repräsentiert das Liniengleichnis die gesamte Welt in der ontologischen Dimension, und zwar als etwas Strukturiertes: Die Welt entspricht einer Linie, die zwei ungleich große Teile aufweist, und diese selbst weisen je zwei ungleich große Teile auf; dabei stehen diese Teile, insofern sie auf derselben ontologischen Ebene stehen (das heißt aus prinzipiell gleichwertigen Teilungsvorgängen der eindimensionalen Linie hervorgehen), in einem bestimmten quantitativen Verhältnis zueinander. Da nicht fernliegt, dass dieses Verhältnis ein Teil der ontologischen Aussage des Gleichnisses ist, ist die Linie ein dyadisch-relationales, mathematisches Modell der Welt – also nicht nur ein ‚Bild‘ im Sinn von image, sondern ein diagrammatisches Modell im Sinn von diagram, das mittels der eigenen spezifischen Relationalität die spezifische relationale Beschaffenheit der Welt in ontologischer Hinsicht ikonisch abbildet. Dieses diagrammatische Modell wiederum ist, insofern die Linie und die Welt kategorial verschiedene Dinge sind, eingebettet in ein metaphorisches Modell, das ‚Linien-Gleichnis‘. Die Linie in ihrer relationalen Struktur ist gezeigt in Abbildung 12.

|| 2 Zur mathematischen Konstruktion der Linie vgl. Euklid, Elem. 6, 10 (siehe Denyer 2007, 292). Das Adverb δίχα ist problematisch, insofern es mathematisch eine exakte Zweiteilung impliziert: siehe exempli gratia Ross 1951, 45 Anm. 2. Eine schon in der Antike erwogene Änderung des Textes in ἂν ἴσα ist jedoch wegen ἀνὰ τὸν αὐτὸν λόγον und der darauf aufbauenden philosophischen Argumentation abwegig (siehe Lafrance 1994, 271–274); abgesehen davon scheidet eine solche Deutung auch angesichts von R. 533e3–534a8 (erneut διχῇ) und deshalb aus, weil die spätere Angabe der Proportionen (siehe unten) überflüssig und irreführend wäre. Für einen Lösungsvorschlag vgl. unten Anm. 57.

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Abb. 12: Die Linie des Liniengleichnisses

Platon belässt es nicht bei der bloßen Feststellung der grundsätzlichen viergeteilten relationalen Beschaffenheit der Linie und mithin der Welt. Im Rest des Gleichnisses expliziert er im Detail, wofür die Segmente der Linie stehen, das heißt, aus welchen Teilen sich die gesamte Welt zusammensetzt (R. 509d8–511e5): (I) Im Bereich des Körperlichen ist (a) der eine Bereich der der Bilder, Schatten, Spiegelungen etc. (4. Segment) und (b) der andere Bereich der der Lebewesen, Pflanzen und künstlichen Gegenstände (3. Segment); (II) im Bereich des Denkbaren ist (c) der eine Bereich ein Bereich, der mit den mathematischen Wissenschaften wie der Geometrie in Verbindung steht (2. Segment) sowie (d) der andere Bereich derjenige, der mit ‚Dialektik‘ als Inbegriff der platonischen Philosophie verbunden ist (1. Segment). Mithin ist das Intelligible geteilt in die Gegenstände der Mathematik und die ‚Formen‘ (εἴδη = ἰδέαι = ‚Ideen‘). Den Sachverhalt so weit zeigt Abbildung 13 (hier und im Weiteren erfolgt die Nummerierung der Segmente – entgegen Platons Exposition, aber in Entsprechung zur ontologischen und epistemologischen Hierarchisierung – beginnend mit dem Segment der Formen als erstem Segment und endend mit dem Segment der Bilder der physikalischen Gegenstände als viertem Segment; die beiden übergeordneten Segmente aus der ersten Teilung werden in der Regel nicht abgekürzt bezeichnet):3

Wahrnehmbarer Bereich

Intelligibler Bereich

(4)

(3)

(2)

(1)

Bilder der physikalischen Objekte

Phys. Objekte

Mathematika

Formen

Abb. 13: Das Liniengleichnis und seine ontologische Dimension (fett)

Platon erweitert die ontologische Relationalität des Gleichnisses um eine epistemologische Dimension; er weist den Gegenstandsklassen, die durch die zwei durch die

|| 3 Die Linie macht der Anlage gemäß eine umfassende ontologische Aussage; so werden hier auch mit den letzten zwei Teilbereichen Klassen von Gegenständen verbunden, konkret die der Mathematik und die Formen. Die für die Mathematika entscheidende, eindeutige Stelle ist R. 510d5–511a2: siehe unten Kap. 6.4 und Kap. 6.5. Für einen Überblick zu Platons Formenlehre siehe Harte 2011.

Das Liniengleichnis und seine Problematik | 275

erste Teilung entstandenen Segmente und die vier durch die zweite Teilung entstandenen Segmente repräsentiert werden, spezifische Eigenschaften zu, die deren objektiven und subjektiven Status in Hinsicht auf das menschliche Erkenntnisvermögen beschreiben. Konkret werden die Gegenstandsklassen paarweise mittels der Gegensätze ‚Deutlichkeit‘ (σαφήνεια) vs. ‚Undeutlichkeit‘ (ἀσάφεια) (R. 509d9–510a3 und R. 511d6–e4)‚4 ‚Wahrheit / Wirklichkeit‘ (ἀλήθεια) vs. ‚Nicht-Wahrheit / Nicht-Wirklichkeit‘ (R. 510a8–10 und R. 511d6–e4), ‚mit Wissen verbunden‘ (γνωστόν) vs. ‚mit Meinung verbunden‘ (δοξαστόν) (R. 510a8–10) sowie Status des ‚Nachgebildet-Seins‘ (τὸ ὁμοιωθέν) vs. Status als ‚dasjenige, mit Blick auf das nachgebildet wurde‘ (τὸ ᾧ ὡμοιώθη) (R. 510a8–10) differenziert. Dabei herrscht eine exakte Entsprechung zu den mathematischen Proportionen, die mit den Teilungen der Linie gegeben sind. All dies ist im gegebenen Zusammenhang hoch relevant, verweist doch einerseits der Vorgang des Nachbildens auf einen modelltheoretischen Zusammenhang – etwas Nachgebildetes ist ja letztlich ein Modell des jeweiligen Vorbildes (und vice versa) –, und ist andererseits impliziert, dass in all den genannten Bereichen dieselben quantitativen, mithin mathematischen Relationen gelten. Die Linie ist nicht nur äußerlich ein Diagramm – nämlich als mathematische Linie –, dessen Zweck die Repräsentation der Welt ist, sondern als Modell auch ein genuin ‚diagrammatisches‘ Modell, das als diagram diejenigen Relationen abbildet, die zwischen den konstitutiven Bestandteilen der Welt bestehen, welche ihrerseits sachlich-philosophisch als in einer Modellrelation zueinander stehend als Original und Abbildung repräsentiert werden. Das Liniengleichnis ist folglich nicht nur irgendein diagrammatisches Modell, sondern pointiert ein diagrammatisches Modell, das Modelle hinsichtlich ihres ModellCharakters repräsentiert. Als solches ist es hier weiter besonders deshalb relevant, weil eine der Modellarten explizit mit mathematischen Modellen identifiziert wird. Zum Abschluss führt Platon im Detail aus, welche Entsprechungen sich in der epistemologischen Dimension zur ontologischen Dimension ergeben, und es wird zugleich eine wertende Hierarchisierung der einzelnen Bereiche vorgenommen, und zwar als Grundlage dafür, den vier einzelnen Segmenten der Linie und also auch den durch sie repräsentierten Arten von Gegenständen einen spezifischen Zustand der Seele zuzuordnen (R. 511d6–e5): ‚Noesis‘ (νόησις, ‚Denken‘), ‚Dianoia‘ (διάνοια, fürs

|| 4 Vgl. Lesher 2010a: „full, accurate and sure awareness of an object“ (das Zitat 171; vgl. Lesher 2010b, 143 zum Wortgebrauch durch Aristoteles: „a detailed and accurate accounting of the phenomena or the attainment of full scientific knowledge“); ‚Deutlichkeit‘ lässt sich aber mit Wilamowitz-Moellendorff 1959, 3, 18 auch wie folgt verstehen: „σαφὴς ist das was sich als das was es ist augenfällig darstellt, σαφὴς ἀρά ein Fluch der sich erfüllt […]; μάντις σαφής ein Seher, dessen Sprüche sich bewahrheiten“. Es geht also um den Grad von Übereinstimmung von Wesen und Erscheinungsform eines Objekts, und der ist tatsächlich bei einem individuellen Gegenstand im Bereich des Werdens geringer als bei einer Form: Ein einzelner Mensch unterscheidet sich immer auch in (per definitionem akzidentellen Attributen) vom ‚Menschen‘ schlechthin, die Form des Menschen hingegen weist ausschließlich, mithin im höchsten Maße die Eigenschaften ‚des‘ Menschen auf.

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Erste so viel wie ‚Verstand‘), ‚Pistis‘ (πίστις, ‚Vertrauen‘) und ‚Eikasia‘ (εἰκασία, fürs Erste so viel wie ‚Vermutung‘). Ihrem Anteil an Wahrheit / Wirklichkeit (ἀλήθεια) entspreche ihre spezifische ‚Klarheit‘ (σαφήνεια), also eine bestimmte Ausprägung eines jeweils durch einen polaren Gegensatz bestimmten Parameterraums. Das Liniengleichnis bildet in eineindeutiger Weise Platons Ontologie und Epistemologie in verschiedenen relevanten Hinsichten exakt aufeinander ab. In diesem Sinn verspricht es nicht nur Aufschlüsse zu Platons Position zum Wesen mathematischer Modelle, sondern auch zu ihrer Funktion im Prozess der Erkenntnis. Die relevanten relationalen Verhältnisse sind in Abbildung 14 gezeigt.

Wahrnehmbarer Bereich Werden und Meinung

Intelligibler Bereich Sein und Wissen

(4)

(3)

(2)

(1)

Bilder der physikalischen Objekte

Phys. Objekte

Mathematika

Formen

Eikasia

Pistis

Dianoia

Noesis

Abb. 14: Das Liniengleichnis und seine ontologische (fett) und epistemologische (kursiv) Dimension

Mit diesem Gedanken endet das Liniengleichnis; es folgt das Höhlengleichnis. Trotz einer gewissen sachlichen Komplexität, die aus der Überlagerung und Parallelisierung mehrerer kategorial verschiedener, an sich unabhängiger Bedeutungsdimensionen resultiert (insbesondere Ontologie, Epistemologie und Werthaftigkeit), ist die Bedeutung des Liniengleichnisses auf den ersten Blick transparent und einfach: Eine einzige, zuerst in zwei und dann in vier ungleiche Teile segmentierte mathematische Linie repräsentiert die einzige, gesamte Welt, die sich erschöpfend in das Intelligible und das Körperliche teilt, in welchen beiden Teilbereichen es jeweils zwei untergeordnete Teilbereiche gibt, deren Verhältnis zueinander sich ebenso wie das der beiden großen Teile insbesondere durch den Gegensatz von Original und Nachbildung auszeichnet. Zwischen den Bereichen herrscht ontologisch wie epistemologisch eine einfache, wenn auch strikte Entsprechung und Proportionalität bei gleichzeitiger Priorität des Intelligiblen gegenüber dem Körperlichen (des Originalen gegenüber dem Nachgebildeten, das heißt Modellen) sowie, auf der jeweils zweiten Teilungsebene, konkret (1) des Denkens gegenüber (2) der Mathematik sowie (3) der Gegenstände des körperlichen Bereichs als Originale gegenüber (4) Schatten etc. als deren Abbildungen. Im Großen und Ganzen macht das Liniengleichnis eine im Kontext von Platons Gesamtphilosophie transparente und nicht allzu überraschende Aussage über Wesen und Erkennbarkeit der Welt. Insofern erscheint es als prima vista hinlänglich korrek-

Das Liniengleichnis und seine Problematik | 277

tes und verständliches Modell für einen (oder gar: den) Kern der Philosophie Platons: Das Liniengleichnis ist sowohl eine eingängige Abbildung der ‚Zwei-Welten-Lehre‘ als auch eine darüber hinaus gehende Details ausführende Explikation dieser Lehre. Doch trotz der scheinbaren Einfachheit und Zugänglichkeit des Liniengleichnisses verursacht der Versuch eines genauen Verständnisses unerwartet schwerwiegende Probleme. Tatsächlich handelt es sich um eine der am kontroversesten diskutierten Partien im gesamten Werk Platons: Obwohl das Gleichnis schon seit der Antike im Fokus des Interesses steht und spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem zentralen Gegenstand der Platonforschung geworden ist, konnte bisher kein interpretatorischer Konsens erzielt werden; Hans Joachim Krämer zufolge „gehört das Linienschema zu den dunkelsten Texten des Platonischen Œuvres“.5 Allein die 1987 erschienene Bibliographie von Lafrance – die nur für den Bereich der Zeitschriftenaufsätze Anspruch auf Vollständigkeit erhebt – verzeichnet über 150 Arbeiten zum Gleichnis selbst und über 700 zu seinem unmittelbaren und mittelbaren Kontext.6 Eine erste Vermutung ist, dass die Ursache für diesen Umstand darin liegen könnte, dass das Gleichnis zwar simpel, aber vielleicht doch zu simpel ist: Der Gedanke liegt nicht fern, dass eine bildliche Darstellung der gesamten, komplexen Welt als zweifach im gleichen ungleichen Verhältnis geteilte, eindimensionale Linie unangemessen unterdeterminiert und durch die zugleich erfolgende exakte Quantifizierung in Verbindung mit einer strikten Parallelisierung von Ontologie, Epistemologie und Werthaftigkeit semantisch überfrachtet sein könnte, mit der Folge der Möglichkeit von philosophisch-sachlichen Fehlern und / oder irreführenden Implikationen hinsichtlich von Platons gesamter philosophischer Position, gegebenenfalls in Verbindung damit, dass das Gleichnis in der Tat unachtsam konstruiert wurde. In der Forschung gelten unter anderem die folgenden vier Aspekte als problematisch: (1) Die Länge der Liniensegmente ist nicht bestimmt, ebenso wenig wie die räumliche Ausrichtung der Linie:7 Soll man sie horizontal oder vertikal zeichnen? Mit welchem Verhältnis soll man die Teilung der Ausgangslinie beginnen? Ist der Bereich der Formen durch das längste oder das kürzeste Segment repräsentiert? Ist es oben oder unten zu platzieren? Wie lang ist die Linie und wie lang sind ihre Segmente, speziell in Hinsicht auf ihre relativen Längen?8 Doch wenn Platon die Verhältnisse nicht exakt quantifiziert, warum präsentiert er dann überhaupt ein mathematisches Modell?

|| 5 Krämer 1997, 195. 6 Lafrance 1987; für einen umfangreichen Kommentar siehe Lafrance 1994. Angesichts dieser beiden Arbeiten erübrigt sich ein (ohnehin kaum zu leistendes) systematisches Referat der Deutungen. 7 Vgl. Balashov 1994, 284: „Plato’s description of the Divided Line is notoriously incomplete. What is the length of the Line? In what particular ratio should it be divided and subdivided? Should one draw it vertically or horizontally?“ Vgl. Pritchard 1995, 96–98 bzw. 112 Anm. 9, Smith 1996, 25–28. 8 Die Frage der relativ größeren Länge der Segmente ist schon in der Antike diskutiert worden: siehe Proklos, in R. 1, 289, 6–18 (größere Länge ≈ größere Klarheit) neben Plutarch, Platonicae quaestiones 1001D–E (größere Länge ≈ größere Unklarheit, aber auch ≈ größere Menge).

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(2) Wie unterscheiden sich sachlich die durch die einzelnen Liniensegmente repräsentierten Gegenstände; und was ist die Grundlage der linearen, eindimensionalen Verkettung der Segmente? Nicht zuletzt in dieser philosophisch zentralen, da unmittelbar auf die Bedeutung des Gleichnisses bezogenen Hinsicht besteht prima vista eine „insolubility“ besonders bezüglich des Bereichs des (dem zweiten Segment zugeordneten) Seelenvermögens der Dianoia, denn zwischen die Formen und die Gegenstände des Bereichs des Sichtbaren (Körperlichen) schieben sich die Gegenstände der Mathematik, allem Anschein nach als kategorialer Fremdkörper:9 Warum, so lässt sich fragen, platziert Platon zwischen die individuellen, wahrnehmbaren Menschen als Gegenstände der physikalischen, werdenden Welt einerseits und die ewige, seiende Form des Menschen andererseits mathematische Entitäten wie Dreiecke – oder die Linie selbst? Entgegen Platons expliziter Deutung in Politeia VI–VII scheint es tatsächlich keine „stages of progressive cognitive movement“ zu geben, die vom einen Ende der Linie zum anderen führen. Die Konsequenz wäre, dass „the scheme of the Line breaks down“, evident ein gravierendes Problem, da das Liniengleichnis von der Anlage her offenkundig nicht nur semantisch konsistent sein soll, sondern auch den Anspruch erhebt, eine fundamentale Aussage über die gesamte, in ihrer Binnendifferenzierung gezeigte Welt und die Möglichkeit ihrer Erkenntnis zu machen. (3) Eng verbunden ist als weiteres Problem, dass die beiden mittleren Liniensegmente mathematisch exakt dieselbe Länge haben (siehe unten Kap. 6.4 mit Anm. 47 für eine Herleitung). Sachlich scheint dies schlicht fehlerhaft, zumindest grob irreführend zu sein, denn der Sinn des Gleichnisses erzwingt prima vista eine stetige Zunahme des Grades an (ontologisch) Sein und (epistemologisch) Wissen:10 Müssen || 9 Siehe zum Beispiel Annas 1981, 251 f. (dort auch alle weiteren Zitate des Absatzes). 10 Siehe etwa Adam 1902, 2, 64, Ross 1951, 45–48, Gaiser 1968, 92, Morrison 1977, 212 f., Merkelbach 1992 und Lafrance 1994, 277. Vgl. Ickler 1973, 76: „Es handelt sich bei den Proportionsangaben also wieder einmal um eine jener von Platon so geschätzten mathematischen Spielereien, die in diesem Falle zu überschießenden Nebenergebnissen führt, wenn man sie allzu genau nimmt.“ Für zufällig und also philosophisch insignifikant halten die Längengleichheit etwa Ross 1951, 45 f. und Wedberg 1955, 102 f.; Rose 1963/4, 430 f. vermutet, die Größengleichheit verweise darauf, dass kein Vergleich von πίστις und διάνοια, sondern zwischen den ungleichen Teilen (des als Quadrat konstruierten Diagramms) vorgenommen werden solle; vgl. Fogelin 1971, 381 f., Pomeroy 1971 und Smith 1981 (speziell 133: die Objekte der διάνοια „themselves are not intelligibles, but when viewed by the geometer they are connected to the intelligible realm“; 132: der Unterschied bestehe nicht hinsichtlich der Extension der durch die mittleren Segmente repräsentierten Gegenstandsklassen, sondern hinsichtlich der Intension); ähnlich Ringbom 1965, 93 f., Bedu-Addo 1979, 97 f. und 105–108, Wieland 1982, 208–218 und Aubenque 1992; Morrison 1977, 222 sieht eine (durch Identität bedingte) gleiche Klarheit bei den durch die mittleren Segmente repräsentierten Gegenständen (ähnlich Stocks 1911, 77); nach Karasmanis 1988, 149 sei es der Fall, dass „both pistis and dianoia […] deal with mathematics“ (siehe auch die Appendix 170 f. für eine zweidimensionale Konstruktion der ‚Linie‘); Delhey 2003, 239 f. vermutet, dass „nicht die Ontologie selbst, sondern der symmetrische Charakter ihres Aufbaus seinen mathematischen Ausdruck“ finde (bei stetig steigender Klarheit); nach Frajese 1963, 128 f. verweise Platon auf „lo schema platonico del triplice rapporto“; Foley 2008 sieht einen intendierten mathematischen

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nicht die ewigen Gegenstände der Mathematik ‚klarer‘ und ‚wahrer‘ sowie ‚wirklicher‘ als die vergänglichen Gegenstände der empirischen Welt des Werdens sein? Und um es noch rätselhafter zu machen: Obwohl die Antwort eigentlich auf der Hand zu liegen scheint, gibt Platon zwar indirekt, aber unmissverständlich zu erkennen, dass er sich der mathematischen Eigenschaft der Längengleichheit der Mittelsegmente bewusst war.11 Nicht nur scheint Platon ein philosophischer Fehler in Hinsicht auf einen zentralen Bestandteil seiner eigenen Lehre unterlaufen zu sein, er war sich dessen auch bewusst und weist direkt, aber an der entsprechenden Stelle ohne unmittelbar ersichtlichen sachlichen Grund auf seine Existenz hin. (4) Aus dem zweiten und dritten Punkt folgt die Unmöglichkeit, das Liniengleichnis als sachlich vereinbar mit dem Sonnen- und vor allem Höhlengleichnis zu verstehen.12 Dies wiegt um so schwerer, als die drei Gleichnisse nicht nur durch ihre Juxtaposition und ihre impliziten Verweise implizit ein integriertes Ganzes bilden, sondern auch, weil Platon explizit zu verstehen gibt, dass die drei Gleichnisse ohne Widerspruch vereinbar sein und mit Blick aufeinander gedeutet werden sollen (R. 532b6– d1; R. 509c5 f.; R. 514a1 f.; R. 517a8–b6). Ein solcher Versuch scheint jedoch zu einem inkonsistenten und fehlerhaften Bild von Platons Philosophie zu führen. Angesichts der ungelösten Probleme scheint der Stand der Forschung zum Liniengleichnis aporetisch zu sein. Gleichwohl zeigt die folgende Analyse, dass sich in dem mit den Fragen gegebenen Rahmen eine adäquate Interpretation des Gleichnisses entwickeln lässt. Diese Deutung wird sich als hinreichend erweisen, das Gleichnis in sich selbst besser zu verstehen und es zugleich als konsistentes und sachlich korrektes Modell des Kerns von Platons Ontologie und Epistemologie zu erweisen, mithin als stimmiges praktisches Modell von Platons Theorie der mathematischen Modellierung, mit dem Ausblick auf relevante Einsichten zu Platons Stellung zu und Rolle in den methodologischen Debatten in der Fachmathematik seiner Zeit.

|| Widerspruch zwischen der Gleichheit der zwei mittleren Segmente und der unterschiedlichen Deutlichkeit der durch sie repräsentierten Gegenstände, der zu weiterem Fragen ermuntern solle. Tait 2002 sieht die Pointe darin, die Überlegenheit der Noesis über die Dianoia hervorzuheben (da impliziert sei, dass es unerheblich sei, welchem der beiden mittleren Segmente man sich widme). 11 Die relevante Stelle ist R. 533e3–534a8 vor dem Hintergrund der Explikation der Konstruktion der Linie in R. 509d–511e; siehe unten. Dieser Umstand wird zu Recht von Tait 2002 hervorgehoben. 12 Eine integrative Deutung wird vor allem in der ‚Tübinger‘ und (teilweise) in der angelsächsischen Deutungstradition praktiziert; vgl. Szlezák 1997, 211–213 bzw. Wilberding 2004 (mit Überblick zur relevanten Literatur: 117 f. mit Anm. 1). Zur Skepsis vgl. exempli gratia Robinson 1953, 181–190 und siehe instruktiv Annas 1981, 256: „Sun, Line, and Cave are philosophically frustrating; they point us in too many directions at once. Their power has always lain in their appeal to the imagination […]. Their appeal is so strong that interpreters are perennially tempted to try to harmonize them in a consistent philosophical interpretation, despite Plato’s own warnings on the limits of the kind of thinking that is guided by images and illustrations.“

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6.3 Die Linie zwischen Sonne und Höhle Für das Verständnis des Liniengleichnisses ist es unerlässlich, den Kontext in modelltheoretischer Hinsicht zu berücksichtigen. Dem Liniengleichnis voran geht das Sonnengleichnis (R. 506d–509c), es folgt das Höhlengleichnis (R. 514a–517a). Die unmittelbare Nachbarschaft dieser drei Gleichnisse soll bis auf Weiteres als intendiert und sinnvoll verstanden werden,13 nicht zuletzt wegen der eindeutigen impliziten und expliziten Bezüge der Gleichnisse untereinander.14 Anzuführen ist nicht nur der Argumentationsverlauf selbst, bestehend aus Sonnengleichnis – Liniengleichnis – Höhlengleichnis – Erläuterungen (Bildungsprogramm und speziell mathematische Wissenschaften) – Zusammenfassung mit Integration aller drei Gleichnisse (unter anderem R. 532b6–d1), sondern auch die auktorialen Kommentare am Übergang von Sonnen- zu Liniengleichnis (R. 509c5 f.), am Übergang von Linien- zu Höhlengleichnis (R. 514a1 f.) und nach Abschluss des Höhlengleichnisses (R. 517a8–b6). Interpretatorische Maxime jeder Interpretation des Liniengleichnisses muss sein, das Gleichnis nicht nur in sich selbst, sondern auch in seinem unmittelbaren Kontext zu deuten. Hieraus ergibt sich das Erfordernis einer konsistenten Gesamtdeutung der drei Gleichnisse. Diese muss auf einer semantischen Ebene oberhalb des einzelnen Gleichnisses operieren, zugleich jedoch dessen spezifischen semantischen Rahmen berücksichtigen. Insbesondere ist dabei mit der Möglichkeit zu rechnen, dass in den drei Gleichnissen verwendete gleiche Wörter auf der philosophischen Sachebene auf verschiedene Konzepte bezogen werden müssen und dass andererseits verschiedene Wörter auf der Bildebene auf dieselben philosophischen Konzepte verweisen könnten. Ein instruktives Beispiel ist die kategoriale Verschiebung dessen, was als ‚reales‘ Ding bezeichnet wird, zwischen Linien- und Höhlengleichnis (nämlich Wahrgenommenes bzw. Gedachtes) oder wofür die Sonne der menschlichen Erfahrungswelt (und diese selbst) im Sonnengleichnis und im Höhlengleichnis steht (nämlich die Sonne bzw. das Gute).15 Oberflächliche Unterschiede zwischen den Gleichnissen auf der Bildebene, so die wichtige interpretatorische Einsicht, führen nicht notwendig zur Annahme der Unmöglichkeit einer integrativen Deutung, ja: eine derartige Deutung als fehlerhafte Konzeption führte in den angeführten Beispielen dazu, die Pointe der Darstellung zu verfehlen, hier die von Platon vorgenommene (im Kontext ihrer Zeit stark kontraintuitive) Umdeutung des ‚Realen‘ von der physikalischen Welt hin zum Bereich des Geistigen. Kriterium der Adäquatheit der Interpretation ist folglich, dass sich eine kohärente Gesamtdeutung ergibt, die sowohl den Gesamtbefund als auch die Besonderheiten der einzelnen Gleichnisse hinreichend erklären kann. || 13 Siehe Lafrance 1987, 64 f. 14 Zur Begründung siehe Malcolm 1962, 40 f., Krämer 1966, 38 f., Szlezák 1997, 211–213 und insgesamt Raven 1953, speziell zur Metaphorik Notopoulos 1944; eine Gegenposition vertritt Robinson 1953, 181–190. Eines der Probleme ist gerade das Liniengleichnis selbst: siehe oben Kap. 6.2. 15 Für Ersteres siehe zum Beispiel Fogelin 1971, 379.

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In diesem Sinn werde ich vor der Analyse des Liniengleichnisses textnah eine tragfähige Interpretation von Sonnen- und Höhlengleichnis explizieren. Allerdings ist die Forschungslage ähnlich komplex wie beim Liniengleichnis. Daher können auch diese beiden Gleichnisse nicht in ihrer gesamten Komplexität behandelt werden, sondern nur summarisch mit einem Fokus auf denjenigen Punkten, die für das Verständnis des Liniengleichnisses zweckdienlich sind. Hierzu werde ich im Großen und Ganzen nur diejenigen Aspekte berücksichtigen, die sich hinreichend eindeutig aus dem Text selbst ergeben. Zusätzliche interpretatorische Annahmen werden, insoweit sie nicht evident sind, in der weiteren Analyse dadurch eine Rechtfertigung erfahren, dass sich, wie von Platon explizit intendiert, ein kohärentes Gesamtverständnis der Gleichniskette ergibt, das sich plausibel in Platons Philosophie einfügt.16 Rufen wir uns (1) das Höhlen- und (2) das Sonnengleichnis in Erinnerung: (1) Man solle sich Menschen in einer Höhle ohne Tageslicht vorstellen, die seit ihrer Kindheit gefesselt sind, so dass sie sich nicht bewegen und insbesondere nicht ihren Kopf drehen können. Hinter ihnen scheint künstliches Licht; zwischen diesem und ihnen steht eine Mauer. Hinter ihr entlang tragen andere Menschen Nachbildungen realer Gegenstände, zum Beispiel von Tieren oder Menschen, nach der Art eines Puppenspiels.17 Diese Nachbildungen ragen über die Mauer hinaus, und so können die Gefesselten nicht die Träger, sondern nur die Schatten der Gegenstände sehen, die das künstliche Licht an die leere Höhlenwand vor ihnen wirft. Diese Schatten halten sie – in Verbindung mit den Geräuschen, die während des Tragens der Gegenstände entstehen – für das, was tatsächlich existiert (R. 514a2–515c3). Wenn man die Gefangenen aus ihren Fesseln löste und sie sich umdrehen könnten, sähen sie zwar die Gegenstände selbst, von denen sie bisher bloße Schatten gesehen hatten, aber nur unscharf: Sie wären von der Helligkeit des künstlichen Lichts geblendet, ihre Augen schmerzten, und sie glaubten, die früher gesehenen Schatten seien wirklicher als die künstlichen Gegenstände, die sie jetzt sehen (R. 515c4–e4). Noch unwirklicher erschiene ihnen, was sie sähen, wenn man sie zwänge, die Höhle zu verlassen und ans Tageslicht zu gelangen: Wegen der Helligkeit sähen sie zuerst fast nichts und hielten die wirklichen Gegenstände (etwa Tiere oder Menschen) nicht für tatsächlich existierend, denn sie hatten sie bisher ausschließlich in der Form von Schatten von Nachbildungen gesehen. Zuerst müssten sie sich an das Licht gewöhnen und könnten anfangs nur die Schatten und Spiegelbilder der realen Gegenstände im Wasser sehen. Später erst wäre es ihnen möglich, auch die Gegenstände selbst, den Himmel und zum Schluss sogar die Sonne zu betrachten (R. 515e5–516c3). Aus der Höhle entkommen, preise ein solcher Mensch sich selbst glücklich und bemitleide seine früheren Mitgefangenen. Wenn er dann aber wieder in die Höhle zu-

|| 16 Für einen konzisen Gesamtüberblick zu den Gleichnissen im Zusammenhang siehe Annas 1981, 242–271 (mit Einblick in die Forschungsdiskussion). Vgl. auch unten Kap. 7.5. 17 Zum Charakter des Puppenspiels im Kontrast zu antiken Automaten siehe Berryman 2003, 354.

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rückkehre, könne er zuerst fast nichts mehr sehen, weil es im Gegensatz zum Tageslicht außerhalb der Höhle aufgrund des künstlichen Lichtes innerhalb der Höhle so dunkel sei. In diesem (wenn auch nur vorübergehenden) Zustand scheine er sich gegenüber den anderen Gefangenen lächerlich zu machen, weil er die Schatten viel schlechter als diese beschreiben könne. Nicht nur, dass sie denken, er habe sich die Augen außerhalb der Höhle verdorben, sondern sollte er sie aus den Fesseln zu befreien versuchen, wäre sogar zu erwarten, dass sie ihn töten wollten (R. 516c4–517a7). So weit das Höhlengleichnis. Abbildung 15 zeigt ein Bild mit einem gefesselten Gefangenen in der Höhle und einem befreiten Gefangenen außerhalb der Höhle.

Abb. 15: Bild der Höhle (Katrin Lattmann)

Offenkundig ist im Höhlengleichnis die gesamte Welt abgebildet, abermals entsprechend der ‚Zwei-Welten-Lehre‘ unterteilt in zwei kategorial getrennte Bereiche, einerseits das Innere der Höhle und andererseits das, was außerhalb liegt. Beide Bereiche sind in zwei kategorial getrennte Teilbereiche unterteilt. Ihnen wird im Zuge der Entfaltung des Bildes jeweils eine spezifische Gegenstandsklasse zugeordnet: (a) die Schatten an der Höhlenwand: Insofern die Menschen in der Höhle seit ihrer Kindheit (R. 514a5: ἐκ παίδων) gefesselt sind und „sich ihr ganzes Leben hindurch in der Zwangssituation befinden [man beachte das Perfekt], ihren Kopf nicht bewegen zu können“ (R. 515a9–b1: ἀκινήτους γε τὰς κεφαλὰς ἔχειν ἠναγκασμένοι εἶεν διὰ βίου), ist impliziert, dass diese Schatten an der Höhlenwand das einzige sind, was die gefesselten Menschen so weit jemals sehen und gesehen haben.18 Im Bild handelt es

|| 18 Die Präposition διά mit dem Genitiv wird „temporal […] zur Bezeichnung des zeitlichen Erstreckens: hindurch, per“ verwendet (Kühner & Gerth § 434, I 2 a); vgl. Phd. 75d8 und 76a5; Phlb. 22b6. So

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sich evident um den Inhalt der gewöhnlichen Wahrnehmung der Menschen, und zwar seit dem Zeitpunkt der Geburt. Diese Wahrnehmung ist angesichts der Semantik des Bildes primär die des Sehens. Gleichwohl bezieht Platon ausdrücklich auch das Gehörte mit ein, spricht er doch in exakter Parallele zum Gesehenen von den Geräuschen und Stimmen etc., die beim Tragen der Gegenstände der Mauer entlang entstehen und von den Gefangenen zeitgleich mit dem Gesehenen wahrgenommen und diesen dabei direkt zugeordnet werden (R. 515a2 f.; vgl. R. 515b7–9). Die ‚Schatten‘ stehen folglich nicht nur für das Gesehene, sondern metonymisch für den Inhalt der Wahrnehmung der gefesselten Gefangenen in allen Modi; ferner steht das Sehen paradigmatisch für die Wahrnehmung im Allgemeinen, wobei es das grundlegende Charakteristikum der Gegenstände der empirischen Welt ist, dass sie prinzipiell wahrnehmbar sind.19 Die Schatten in der Höhle repräsentieren folglich erschöpfend || besteht der Zustand des Gefesseltseins kontinuierlich ohne Unterbrechung, und zwar bis zum gegenwärtigen Moment, wie das Perfekt andererseits impliziert: vgl. Kühner & Gerth § 384, insbesondere 2. Die Angabe ἐκ παίδων (R. 514a5) an sich lässt den Zeitpunkt des Beginns des Zustands offen (vgl. Kühner & Gerth § 430, 2, 2; so wird die Formulierung auch von Wilberding 2004, 132 verstanden), doch ergibt sich aus R. 515a4–b2, dass ‚Kindheit‘ die Geburt meint (siehe unten; vgl. trotz unspezifisch in parallelem sachlichen, aber auf die traditionelle Bildung bezogenen Kontext R. 403d1 f. [Δεῖ μὲν δὴ καὶ ταύτῃ ἀκριβῶς τρέφεσθαι ἐκ παίδων διὰ βίου: „Es ist also gewiss notwendig, dass sie ganz genau so ihr ganzes Leben lang von Kindheit an großgezogen werden“]; doch beginnt die musische Erziehung mit der Geburt, nämlich mit den ‚Ammenmärchen‘ [R. 377c1–c6] und der Musik [R. 400d10–e7]). Vgl. sachlich die Anmerkungen zur Wahrnehmung im Timaios: siehe unten Kap. 7.3. 19 Vgl. oben Anm. 1 und speziell Phd. 78d10–79a10 mit einer Entfaltung der Formenlehre anhand des Gegensatzes ‚sichtbar‘ vs. ‚nicht-sichtbar‘ (insbesondere Phd. 79a6 f.: Θῶμεν οὖν βούλει, ἔφη, δύο εἴδη τῶν ὄντων, τὸ μὲν ὁρατόν, τὸ δὲ ἀιδές [„‚Willst du also, dass wir zwei Formen der seienden Dinge setzen‘, fragte er, ‚einerseits das Sichtbare und andererseits das Nicht-Sichtbare?‘“]; vgl. R. 507b8 f.: Καὶ τὰ μὲν δὴ ὁρᾶσθαί φαμεν, νοεῖσθαι δ’ οὔ, τὰς δ’ αὖ ἰδέας νοεῖσθαι μέν, ὁρᾶσθαι δ’ οὔ [„Und wir behaupten, dass die einen Dinge gesehen, aber nicht gedacht werden können, die Formen hingegen gedacht, aber nicht gesehen werden können“]). Das Sehen fungiert als stellvertretend für die anderen Wahrnehmungen (siehe Phd. 79c2–8, insbesondere c3 f.: ἢ διὰ τοῦ ὁρᾶν ἢ διὰ τοῦ ἀκούειν ἢ δι’ ἄλλης τινὸς αἰσθήσεως [„entweder durch das Sehen oder durch das Hören oder durch irgendeine andere Wahrnehmung“]; eindeutig auch Ti. 51e6–52a7, insbesondere Ti. 52a3 f. mit Bezug auf die Form: ἀόρατον δὲ καὶ ἄλλως ἀναίσθητον [„nicht mit Sehen und auch im Übrigen nicht mit Wahrnehmung verbunden“], in Verbindung mit Ti. 52a5 mit Bezug auf deren Kopien: αἰσθητόν, und zwar wohlgemerkt ohne ὁρατόν); in Phd. 75a5–8 wird das Sehen explizit mit den anderen Formen der Wahrnehmung kategorial gleichgesetzt: Ἀλλὰ μὴν καὶ τόδε ὁμολογοῦμεν, μὴ ἄλλοθεν αὐτὸ ἐννενοηκέναι μηδὲ δυνατὸν εἶναι ἐννοῆσαι ἀλλ’ ἢ ἐκ τοῦ ἰδεῖν ἢ ἅψασθαι ἢ ἔκ τινος ἄλλης τῶν αἰσθήσεων· ταὐτὸν δὲ πάντα ταῦτα λέγω („Aber wir stimmen doch auch darin überein, dass es nicht möglich ist, dass wir dies von irgendwo anders her im Sinn haben noch dass es uns von irgendwo anders her in den Sinn gelangt als entweder aus dem Sehen oder dem Fühlen oder aus irgendeiner anderen der Wahrnehmungen. Alles dies fasse ich als ein und dasselbe“; vgl. zur Stelle Rowe 1993, 173; vgl. Phd. 73c5–d1). Ein Grund für die Prominenz des Sehens ist sicherlich, dass es aufgrund seiner besonderen Natur als passende Analogie zum Denken dienen kann, zumindest angesichts des Sonnengleichnisses (man beachte R. 507c6–508a3). Zugleich spielt ebenso eine Rolle, dass das Sehen der wichtigste Sinn des Menschen ist und (zusammen mit dem Hören, das ebenso gegenüber den anderen Wahrnehmungen durchgän-

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die Wahrnehmungsinhalte der Gefangenen; es ist dies der Zustand, in dem sich jeder Mensch von Natur aus immer schon befindet (R. 515a4–b2):20 Ἄτοπον, ἔφη, λέγεις εἰκόνα καὶ δεσμώτας ἀτόπους. – Ὁμοίους ἡμῖν, ἦν δ’ ἐγώ· τοὺς γὰρ τοιούτους πρῶτον μὲν ἑαυτῶν τε καὶ ἀλλήλων οἴει ἄν τι ἑωρακέναι ἄλλο πλὴν τὰς σκιὰς τὰς ὑπὸ τοῦ πυρὸς εἰς τὸ καταντικρὺ αὐτῶν τοῦ σπηλαίου προσπιπτούσας; – Πῶς γάρ, ἔφη, εἰ ἀκινήτους γε τὰς κεφαλὰς ἔχειν ἠναγκασμένοι εἶεν διὰ βίου; – Τί δὲ τῶν παραφερομένων; οὐ ταὐτὸν τοῦτο; „Von einem seltsamen Bild“, sagte er, „sprichst du und von seltsamen Gefangenen.“ – „Von Menschen, die uns gleich sind“, sagte ich. „Denn glaubst du, dass derartige Menschen zuerst von sich selbst und voneinander etwas anderes sehen könnten als die Schatten, die unter der Einwirkung des Feuers auf das Stück der Höhle ihnen gegenüber fallen?“ – „Wie denn, sagte er, wenn sie gezwungen wären, ihre Köpfe ihr ganzes Leben hindurch unbeweglich zu halten.“ – „Was aber von den Dingen, die vorübergetragen werden? Ist es da nicht dasselbe?“

Was die Gefangenen an der Wand sehen, sind nicht nur die Gegenstände, die die Mauer entlang getragen werden. Auch und vor allem sich selbst und gleichfalls alle anderen Menschen haben sie nur in der Form von Schatten an der Wand vor sich gesehen, und zwar ausdrücklich ihr ganzes bisheriges Leben lang (man beachte erneut das Perfekt ἑωρακέναι). Niemals, so die Implikation, hat es für die Gefangenen in der Höhle einen Moment gegeben, in dem sie nicht ausschließlich Schatten gesehen hätten, und zwar wohlgemerkt nicht einmal in Bezug auf das, was ihnen das Unmittelbarste ist, nämlich sich selbst und das heißt hier speziell ihren Körper. Platon beschreibt einen zentralen, prinzipiell gegebenen Aspekt der condicio humana.21 Ein eingeschränktes Verständnis der Schatten an der Wand in ausschließlichem Sinn als ‚Schatten‘ oder ‚Bilder‘ (einschließlich ‚Poesie‘) ist angesichts dessen auszu|| gig hervorgehoben wird, wie ja auch in der soeben zitierten Phaidon-Stelle und im Höhlengleichnis) der Beginn der Philosophie überhaupt: vgl. Ti. 46e3–47e5 und insgesamt unten Kap. 7.3. 20 Siehe schon Jackson 1881, 138 f. und Ferguson 1963, 192. Eine derartige Deutung findet sich selten, vor allem nicht in jüngerer Zeit (doch siehe knapp Scott 2011, 378 f.); vgl. unten Anm. 53. Zur Sache vergleiche man Phd. 75b10 f. (mitsamt Kontext): Οὐκοῦν γενόμενοι εὐθὺς ἑωρῶμέν τε καὶ ἠκούομεν καὶ τὰς ἄλλας αἰσθήσεις εἴχομεν; („Ist es nicht so, dass wir sofort mit unserer Geburt gesehen, gehört und all die anderen Wahrnehmungen gehabt haben?“; Rowes 1993, 173 Übersetzung des letzten Elements mit „[we were] and in possession of all the other senses“ ist irreführend, insofern angesichts des parallelen Falls des Sehens und Hörens hier nicht das Besitzen der Fakultät, sondern das aktuale Vorliegen der Wahrnehmungen gemeint ist); der direkte (und angesichts des ἄρα hier notwendig binäre) Gegensatz ist vor der Geburt (75c4 f.: Πρὶν γενέσθαι ἄρα, ὡς ἔοικεν, ἀνάγκη ἡμῖν αὐτὴν εἰληφέναι [„Es ist also notwendig, wie es scheint, dass wir sie vor unserer Geburt ergriffen haben“]; der binäre Gegensatz wird fortgeführt in 75c6–d6). Siehe gleichfalls Phd. 81b–83e, wo die Seele als etwas beschrieben wird, das prinzipiell im Körper gefangen ist und als solche grundsätzlich den Sinneswahrnehmungen ausgesetzt ist. Der fundamentale Zusammenhang wird auch im Timaios entfaltet: siehe Ti. 42a3–b2 und insgesamt unten Kap. 7, speziell Kap. 7.3. 21 Siehe auch Ambury 2019, der den Aspekt der dynamischen Selbsterkenntnis der Seele im Höhlengleichnis herausarbeitet, sowie Männlein-Robert 2013, insbesondere mit einer Einordung in den literarhistorischen Kontext und einem integrativen Vergleich mit den Höhlen-Bildern in der Politeia.

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schließen.22 Zwar sind ‚Schatten‘ das, was die Gefangenen in der Bilddimension des Gleichnisses wahrnehmen, und dieser Umstand wird von Platon selbst ausdrücklich in Verbindung mit dem Stand an „Bildung“ gebracht, den die Gefangenen haben, wobei im Kontext (vgl. die in Politeia II–III entfalteten Zusammenhänge, die hier aufgenommen werden) ein transparenter (wenn auch angesichts von Politeia VII irreführender: siehe unten, insbesondere Kap. 6.7) Zusammenhang mit der traditionellen Form griechischer Bildung in Gestalt von Dichtung vorliegt; hinzu kommt, dass mit diesem Gedanken das Höhlengleichnis ja auch in der Tat beginnt (R. 514a, insbesondere a2: παιδείας τε πέρι καὶ ἀπαιδευσίας). Gleichwohl deutet Platon selbst die Höhle nach Entfaltung des Bildes ausdrücklich in einem umfassenden Sinn für den gesamten Bereich des der physikalischen Sonne unterstehenden Sichtbaren im Sinne des Sonnengleichnisses und also, in zusätzlicher expliziter Verbindung mit der ‚Hörbarkeit‘ und per Implikation mit allen anderen Wahrnehmungsmodi, allgemein des Körperlichen.23 Dies verbietet eine ausschließliche Engfassung der Schatten auf Dich-

|| 22 Die (nicht vom Text im Kontext gedeckte) Einschränkung dieser Klasse auf ‚Bilder‘ (speziell als Schatten und Spiegelungen oder als „dreams and illusions“: Hamlyn 1958) ohne Einbezug der gesamten Wahrnehmung führt zu Problemen beim Verständnis des Höhlengleichnisses, insbesondere hinsichtlich der semantischen Verbundenheit mit dem Liniengleichnis (konkret bezüglich dieser ersten Objektklasse hier und εἰκασία dort): vgl. neben Robin 1955, 183, Annas 1981, 255–257 und Szlezák 1997, 213 schon Sidgwick 1869, 102 (einen knappen Überblick gibt Smith 1997, 187 f.; für Literatur zum gesamten Problemkomplex siehe Lafrance 1987, 202–223) – schon allein deshalb, weil die Verwechslung von Bildern und Originalen in der Höhle unplausibel wäre: „When one sees a shadow, one only rarely takes it for an original. Confusion of original and images is of course possible, but typically we see a shadow as a shadow […]“ (Roochnik 1997, 206); vgl. Boyle 1974, 19: „Eikasia is the main problem. It is quite implausible to assign philosophical significance to it“; siehe Wilberding 2004, 118–120 für einen Überblick zur Problematik. Auch Gaisers 1968, 100 Erklärung als „perspektivisch verzerrter Aspekt und Momentan-Eindruck“ (mit Einschluss von nicht-„dingliche[n] Realitäten“, konkret „ethische[n] Sachverhalten und Wertungen“) greift insofern zu kurz, als es sich nur um eine Untermenge der Gesamtmenge der Wahrnehmungen handelt – eben die verzerrten, „während das Ganze erst die Summe aller möglichen Wahrnehmungen wäre“. Zu einer Einschränkung der ‚Bilder‘ und ‚Schatten‘ auf Poesie vgl. stellvertretend Karasmanis 1988, 160: „When Plato says ‚like us‘ (515a5), it seems that he means the ordinary citizen of a Greek city […]. Ἀπαιδευσία is not the state of an infant, an undeveloped phase of which education is a possible development; it is the state of a grown man who lacks the proper education. […] In his Cave, Plato describes, through the state of the prisoner, the ordinary life in the Greek cities of his time. All (or nearly all) the citizens have had education in poetry and music.“ Vgl. Tanner 1970, Sze 1977 mit einer Engführung auf Dichtung (und speziell Tragödie; die zweite Stufe stehe für das, was die Sophisten lehrten) oder Destrée 2013 (336: „the values […] transmitted through poetry“). Solche engführende Deutungen haben keine Grundlage im Text, zumal insbesondere der Umstand, dass die Bilder primär auch jeden einzelnen Gefangenen selbst (und zwar für sich selbst) repräsentieren, eindeutig dagegenspricht. Vgl. unten Anm. 24 und Anm. 53. 23 Vgl. die unmissverständliche und eindeutige Gleichsetzung in R. 517b1–3: τὴν μὲν δι’ ὄψεως φαινομένην ἕδραν τῇ τοῦ δεσμωτηρίου οἰκήσει ἀφομοιοῦντα, τὸ δὲ τοῦ πυρὸς ἐν αὐτῇ φῶς τῇ τοῦ ἡλίου δυνάμει („indem man einerseits den Ort, der durch das Sehen sichtbar wird, mit der Behausung des Gefängnisses gleichsetzt, andererseits das Licht des Feuers mit der Macht der Sonne“).

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tung, und das gleiche gilt für Deutungen, die die „Schatten“ im Sinne einer ‚politischen Bildung‘ verstehen.24 Dies impliziert andererseits jedoch nicht, dass ‚Schatten‘, ‚Bilder‘ und überhaupt ‚Kunst‘ in dieser Gegenstandsklasse der wahrgenommenen Dinge nicht als Sonderfall inbegriffen sein könnten. Im Gegenteil ist dies sowohl von der Sache her als auch angesichts von Platons eigenen Beispielen als auch in Hinblick auf die Einleitung des Gleichnisses der Fall; nicht zuletzt dies ist ja einer der Hauptpointen der Behandlung von Dichtung in Politeia X. Zumal dieser Aspekt, wie sich unten insbesondere in Kap. 6.7 zeigen wird, argumentativ die Ersetzung der traditionellen durch mathematische und philosophische Bildung vorbereitet. (b) die Gegenstände selbst, die vor dem Feuer an der Mauer entlanggetragen werden (bzw. die Gefangenen selbst) und ihre Schatten an die Höhlenwand vor den gefesselten Menschen werfen (und von diesen gehört werden): Zuerst ist festzuhalten, dass diese Gegenstände prinzipiell nicht identisch mit den Schatten sein können, sondern eine eigene, von den Schatten ontologisch kategorial separate Gegenstandsklasse konstituieren müssen.25 Dies impliziert in transparenter Weise die Grundanlage des Bildes. Schließlich befinden sich die Gegenstände selbst hinter der Mauer zwischen den Gefangenen und dem Feuer (beziehungsweise allgemeiner zwischen diesem und der Wand, speziell im Fall der Gefangenen selbst), während ihre Schatten räumlich getrennt auf der Wand vor den Gefangenen erscheinen (welche wiederum ihrerseits zwischen den Schatten und den Gegenständen sowie dem Feuer sind). Zwar werden diese Gegenstände im Bild mit diversen künstlich hergestellten Dingen, Statuen von Menschen, steinernen und hölzernen Tieren etc. identifiziert (R. 514c1– 515a1: σκεύη τε παντοδαπὰ ὑπερέχοντα τοῦ τειχίου καὶ ἀνδριάντας καὶ ἄλλα ζῷα λίθινά τε καὶ ξύλινα καὶ παντοῖα εἰργασμένα), doch insofern sie ausdrücklich die Verursacher der Schatten und mithin auf der Sachebene des Bildes allgemein der menschlichen Wahrnehmungsinhalte sind, ist impliziert, dass es sich bei diesen Gegenständen allgemein um die ‚realen‘ Gegenstände im Innern der Höhle handelt, und diese sind, dem grundsätzlichen Charakter des inneren Bereichs der Höhle entsprechend, offenkundig (und in erschöpfender Weise) alle Gegenstände der körperlichen (physikalischen und empirischen) Welt, und zwar in ihrer objektiven, unmittelbaren Gegebenheit, das heißt nicht mittelbar als Inhalt von Wahrnehmung.

|| 24 Eine politische Deutung ist in der angelsächsischen Forschung weit verbreitet: Siehe für einen Überblick Wilberding 2004, speziell 118; vgl. stellvertretend Smith 1997, demzufolge es die „conceptions most of us employ in governing our lives and those of others“ seien, die Platon als „images of images“ verstanden wissen wolle (Smith 1997, das Zitat 188). So auch Annas 1981, 252–258. 25 Vgl. Bormann 1961, 11: „Daß aber der Schatten oder das Bild ontologisch etwas anderes ist als der Gegenstand selbst, kann nicht bestritten werden. Das Objekt ἐν ἀλλοτρίᾳ ἕδρᾳ ist nicht der Gegenstand selbst, sondern ein φάντασμα.“ Vgl. die eindeutige Aussage in Ti. 52c2–5, wo aus der Eigenschaft, ein Bild (εἰκών) zu sein, ein kategorial getrennter ontologischer Status der beiden involvierten Dinge abgeleitet wird; grundsätzlich klärt die Sachlage Cra. 432a–d, wo der Inhalt der Wahrnehmung (ontologisch) als prinzipiell nicht-identisch mit seinem Verursacher charakterisiert wird.

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Im Bild sind die Gegenstände dieser Klasse die alleinigen objektiven Verursacher aller einzelnen subjektiven menschlichen Wahrnehmungen. Ferner sind sie, die Gegenstände selbst, dem unhintergehbaren Charakter von Wahrnehmung gemäß, nur in dieser Form erfahrbar; im Bild sind die Gefangenen in ihrem gewöhnlichen, gefesselten Zustand gezwungen, ausschließlich auf die Wand vor sich zu schauen und also Wahrnehmungsinhalte zu perzipieren. Jeder einzelne Gegenstand erzeugt prinzipiell unbestimmt (und potentiell unendlich) viele Abbilder auf der Wand (und also in der Wahrnehmung), zumindest dadurch, dass jeweils ein anderer Schatten an einem anderen Ort generiert wird, wenn der Gegenstand sich bewegt – und die physikalischen Gegenstände sind ja für Platon per definitionem in fortwährender Bewegung. Schließlich sind die Abbilder an der Wand qua Erzeugung ihren Verursachern ‚ähnlich‘. In welcher konkreten Form diese Ähnlichkeit besteht, wird unten diskutiert werden; hier reicht es festzuhalten, dass eine solche (von Platon hierarchisch interpretierte) Ähnlichkeitsrelation zwischen den Gegenständen beider Klassen besteht. Im Ergebnis sind die Schatten auf der Wand von den ‚realen‘ Gegenständen in der Höhle im Sinn von exklusiven Gegenstandsklassen kategorial getrennt, zugleich aber auch eng mit ihnen verbunden; zusammen machen sie die gesamte empirische Welt aus. Diese Einsicht ist wichtig, und zwar zuerst einmal deshalb, weil sie ausschließt, dass die Gefangenen in ihrem gewöhnlichen gefesselten Zustand nicht die Schatten, sondern die empirischen Gegenstände selbst als ‚wirklich‘ ansähen, mithin auf der Bedeutungsebene des Gleichnisses die körperlichen Dinge selbst und nicht dasjenige, was die Wahrnehmung ihnen ihr gesamtes Leben hindurch über sie vermeldet. Dies ist nicht nur eine Implikation der semantischen Struktur des Bildes, sondern wird von Platon auch explizit festgestellt: „‚Überhaupt‘, sagte ich, ‚dürften solche Menschen das Wahre / Wirkliche für nichts anderes halten als die Schatten der künstlichen Gegenstände‘“ (R. 515c1 f.: Παντάπασι δή, ἦν δ’ ἐγώ, οἱ τοιοῦτοι οὐκ ἂν ἄλλο τι νομίζοιεν τὸ ἀληθὲς ἢ τὰς τῶν σκευαστῶν σκιάς). Im Ergebnis gilt dem Höhlengleichnis zufolge prinzipiell, dass einerseits die physikalischen Gegenstände nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar zugänglich sind, und zwar über die Sinneswahrnehmung – dass aber andererseits die physikalischen Gegenstände qua Gegenstand zugleich immer auch wahrnehmbar sind, zumindest potentiell (vgl. oben Anm. 1). (c) die wahren Gegenstände außerhalb der Höhle: Diese Gegenstände sind Platons ‚Formen‘ (‚Ideen‘), und sie dienen, wie sich implizit ergibt, als Vorbilder, nach deren Abbild die künstlichen Gegenstände innerhalb der Höhle hergestellt worden sind, und zwar im Rahmen einer Ähnlichkeitsrelation.26 Die Formen sind entspre|| 26 Wie genau diese (in jedem Fall eindeutig in den Gleichnissen der Politeia implizierte) Abbildungsrelation philosophisch von Platon gedeutet wurde, ist natürlich eine vieldiskutierte Frage der PlatonForschung und berührt das Problem, was es heißt, dass die Gegenstände an den Formen ‚teilhaben‘ (μέθεξις, gegenüber der pythagoreischen μίμησις: vgl. Aristoteles, Metaph. 987b9–14, wo die Frage der Natur der Teilhabe ja auch für Platon und die Akademie als echtes Forschungsprojekt belegt ist; zur Stelle siehe Ross 1953, 1, 165 f.). Zum Gesamtproblem siehe Patterson 1985. Ohne dass dies hier

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chend explizit (wie auch sonst in Platons Dialogen) als die Dinge ‚selbst‘ charakterisiert (hier etwa R. 516a8: αὐτά). Insbesondere genannt werden ‚die Menschen und die anderen Lebewesen‘ (R. 516a6–8, speziell 7, nämlich mit Bezug auf deren Abbilder außerhalb der Höhle im Wasser etc. [vgl. die nächste Klasse]: τά τε τῶν ἀνθρώπων καὶ τὰ τῶν ἄλλων εἴδωλα). Dabei ist speziell der ‚Mensch‘ dasjenige, was Inneres und Äußeres der Höhle miteinander verbindet: Es gibt Menschen in der Höhle, die sich selbst und gegenseitig (als Schatten an der Wand) sehen, und ihnen zugeordnet ist die Form des Menschen außerhalb der Höhle (der sachliche Bezug des Pronomens αὐτά), von der wiederum nach dem Aufstieg zuerst die Spiegelungen im Wasser gesehen werden können (vgl. erneut die nächste Klasse). Das Beispiel belegt, dass im semantischen Rahmen des Gleichnisses zwischen allen Originalgegenständen innerhalb der Höhle einerseits und den Originalgegenständen außerhalb der Höhle andererseits eine (wie auch immer geartete) Ähnlichkeitsrelation besteht: Wie es Menschen in der Höhle gibt (die einzelnen ‚körperlichen‘ Menschen), gibt es außerhalb der Höhle den Menschen selbst. Für Platon ist freilich nur die Form des Menschen der eigentliche Mensch. Dieser Sachverhalt drückt sich im Bild darin aus, dass die am Feuer entlanggetragenen Gegenstände in der Höhle nur künstlich hergestellte Gegenstände und mithin ontologisch nachrangig sind (vgl. speziell R. 514b9–515a1).27 Außerhalb der Höhle gibt es nun aber neben dem Menschen auch die (direkt oder ebenfalls zuerst als Reflexionen gesehenen) Dinge am Himmel, dasjenige also, was man in der Nacht sieht, wenn man nach einem gründlichen Studium der Formen von Mensch und anderen ‚echten‘ Dingen den Kopf vom Boden nach oben hebt, bevor man schließlich am Tag die Sonne und ihr Licht, das „Gute“ und seine Wirkung, schauen kann (R. 516a8–b2: ἐκ δὲ τούτων τὰ ἐν τῷ οὐρανῷ καὶ αὐτὸν τὸν οὐρανὸν νύκτωρ ἂν ῥᾷον θεάσαιτο, προσβλέπων τὸ τῶν ἄστρων τε καὶ σελήνης φῶς, ἢ μεθ’ ἡμέραν τὸν ἥλιόν τε καὶ τὸ τοῦ ἡλίου). (d) die Abbilder der wahren Gegenstände (sc. der Formen) im Wasser und als Schatten: Was exakt diese Abbilder repräsentieren, lässt sich hinreichend zwar erst nach einer eingehenden Explikation des Liniengleichnisses verstehen. Nichtsdestoweniger erweist die Beschreibung der Gegenstandsklassen im Gleichnis, dass zwischen diesen Abbildern der Formen und den Formen selbst dasselbe Original-AbbildVerhältnis wie zwischen den ersten beiden Gegenstandsklassen besteht. Die Gegenstände dieser Klasse (d) sind als Schatten und Spiegelungen der Formen im Wasser || weiter ausgeführt werden kann, soll die Relation angesichts der Gestaltung der Gleichnisse bis auf Weiteres als ikonisch verstanden werden, wenngleich nicht in einem naiven (und offensichtlich problematischen Sinn) als image; hierzu finden sich weitere Ausführungen passim in diesem und im nächsten Kapitel. Insgesamt spiegelt sich in der Kritik der μίμησις in Politeia X sachlich die hier herausgearbeitete Kritik an den Pythagoreern in mathematikphilosophischer Hinsicht. 27 Hier auch auf der Sachebene des Bildes (nur) künstlich hergestellte Gegenstände zu sehen, verfehlt die Aussage des Bildes; vgl. Becker 1956, speziell 203: „Die Bildsäulen und die ‚steinernen und hölzernen Tiere‘ sind bildliche Darstellungen der Menschen und Tiere in der freien Natur.“

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etc. als Abbilder der Originale der Klasse (c) konzipiert (vgl. R. 516a6–8: καὶ πρῶτον μὲν τὰς σκιὰς ἂν ῥᾷστα καθορῷ, καὶ μετὰ τοῦτο ἐν τοῖς ὕδασι τά τε τῶν ἀνθρώπων καὶ τὰ τῶν ἄλλων εἴδωλα, ὕστερον δὲ αὐτά [„Und zuerst dürfte er wohl die Schatten am leichtesten sehen und dann in den Gewässern die Abbilder der Menschen und der anderen Dinge, später auch sie selbst“]), ebenso wie die Gegenstände der Klasse (a) Abbilder der Gegenstände der Klasse (b) sind (vgl. σκιαί [R. 515a7] gegenüber den zugrunde liegenden σκεύη […] παντοδαπά [R. 514c1]; die in dieser Hinsicht bestehende sachliche Parallelität der Klassen (d) und (a) ist durch die Nutzung desselben Wortes „Schatten“ [σκιαί] explizit und eindeutig markiert). So weit zur grundlegenden Aufteilung der Welt in verschiedene, spezifischen Bereichen zugeordnete Gegenstandsklassen im Höhlengleichnis. Angesichts der vorangehenden Ausführungen müssen die folgenden, entscheidenden Punkte als unstrittig gelten, zumindest im hermeneutischen Ausgang von der im Gleichnis selbst entwickelten Perspektive: Die Bereiche innerhalb und außerhalb der Höhle repräsentieren in ihrer Kombination die gesamte Welt. Diese Welt konstituiert sich einerseits aus dem Bereich des Körperlichen innerhalb der Höhle und andererseits aus dem Bereich des Intelligiblen außerhalb der Höhle. In jedem dieser zwei Bereiche gibt es zwei kategorial verschiedene Gegenstandsklassen, so dass das Höhlengleichnis insgesamt (abgesehen von gegebenenfalls zusätzlich insbesondere der Sonne und ihrem Licht) vier je verschiedene Gegenstandsklassen unterscheidet. Der Hauptunterschied zwischen den Gegenstandsklassenpaaren in jedem Bereich ist durch eine Original-Abbildungs-Beziehung gegeben. Insofern diese in jedem Fall definitorisch auf einer Ähnlichkeitsrelation beruht, ist sie ikonisch und mithin eine Original-Modell-Relation. Diese Relation wird sowohl ontologisch als auch epistemologisch in einem hierarchischen Sinne gedeutet: Die Originale sind prinzipiell ‚wirklicher‘ und ‚klarer‘ als ihre Abbildungen (Modelle) – und damit insgesamt wertvoller. Die Original-Abbildungs-Relation konstituiert einen Großteil der semantischen Struktur des Höhlengleichnisses. Unter anderem zeigen sich die folgenden im Weiteren relevanten Relationen: Die Gegenstände in der Höhle (b) sind die Originale zu den Abbildungen an der Höhlenwand (a); die Formen außerhalb der Höhle (c) sind einerseits die Originale zu den Abbildungen im Wasser und als Schatten außerhalb der Höhle (d); und andererseits die Originale zu den Abbildungen, die mit den Originalgegenständen innerhalb der Höhle gegeben sind (b); ferner ist das gesamte Äußere der Höhle (c+d) das Original zu dem Abbild, das mit dem gesamten Innern der Höhle gegeben ist (b+a). Das Innere der Höhle ist mithin ebenso eine Repräsentation des Äußeren der Höhle, wie einerseits die Bilder und Schatten sowie andererseits die künstlichen Gegenstände Repräsentationen ihrer jeweiligen Originale sind. Der Begriff des Modells ist in diesem Sinn zentral für das Verständnis des Höhlengleichnisses. Welche Verhältnisse dabei im Einzelnen herrschen, wird sich in den für die vorliegende Fragestellung relevanten Aspekten im weiteren Verlauf der Analyse zeigen. Gleichwohl erweist sich schon hier, dass das Höhlengleichnis in seiner Gesamtanlage ebenfalls ein Modell ist, und zwar ein metaphorisches Modell (meta-

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phor), das ikonisch die physikalische Welt mittels des Inneren einer Höhle, den Bereich der Formen mit dem Bereich außerhalb der Höhle und die gesamte Welt mit der Kombination daraus repräsentiert und zugleich den einen Bereich mit den anderen im Rahmen einer Metapher miteinander verknüpft, verbunden und herbeigebracht durch eine auf Ähnlichkeit basierende ikonische Abbildungsbeziehung zwischen den die jeweiligen Bereiche konstituierenden Gegenstandsklassen untereinander in horizontaler wie vertikaler Dimension. Die für das Verständnis von Platons Ansatz entscheidende Frage ist dann freilich, welche repräsentationale Qualität diese von der Metapher in der Metapher postulierte ikonische Zeichenrelation hat: Handelt es sich um ein image, ein diagram oder eine metaphor? (2) Die gesamte Gleichnisreihe in Politeia VI–VII wird vom Sonnengleichnis eröffnet (R. 506d–509c).28 Dessen Ziel ist, die Natur (der Idee) des Guten zu verdeutlichen, denn was dieses an sich ist, könne Sokrates zum gegenwärtigen Zeitpunkt Glaukon nicht erklären; so wolle er vom „Abkömmling des Guten“ sprechen, der diesem im höchsten Maße ähnlich sei (R. 506d5–507a6, speziell 506e2: ἔκγονός τε τοῦ ἀγαθοῦ […] καὶ ὁμοιότατος ἐκείνῳ). Grundlage ist die Unterscheidung zwischen den ‚vielen Dingen‘ und den Formen, wobei jeweils eine Form als „was es ist“ (ὅ ἐστιν) vielen Einzeldingen zu- (über-) geordnet ist (R. 507a7–b7); die Formen können nur gedacht und nicht gesehen werden, die Einzeldinge können nicht gedacht und nur gesehen werden (R. 507b8–10; siehe oben, speziell mit Anm. 19), und zwar durch das Sehen (ὄψις), ebenso wie das Gehörte durch das Hören und in anderen Hinsichten durch die entsprechenden anderen Sinne (R. 507c1–5). Das Besondere am Sehen sei, dass das Auge (das Sehen) und das Gesehene (das Gesehen-Werden) ein vermittelndes Drittes benötigen, damit das Auge sehen und das Gesehene gesehen werden kann, nämlich das Licht (R. 508a2: φῶς), verursacht durch die Sonne (R. 508a7: ἥλιος), zweimal an dieser Stelle ausdrücklich als ‚Gott‘ und ‚Herrscher über die Götter am Himmel‘ charakterisiert (R. 508a9 bzw. R. 508a4 f.; insgesamt R. 507c6–508a8). Weder das Sehen noch das Auge (angesichts des zum Sehen notwendigen ‚Sehstrahles‘ das ‚sonnenähnlichste‘ Wahrnehmungsorgan: vgl. unten Kap. 7.3) sei jedoch identisch mit der Sonne, welche ihrerseits wiederum kausal ursächlich sowohl für das Sehen als auch das Gesehen-Werden sei (R. 508a9–b11). Damit ist die Bildseite des Gleichnisses komplett. Sodann wird es mit der Inhaltsseite verbunden, ausgehend von der Feststellung, dass das Gute die Sonne als ein Analogon zu sich selbst erschaffen habe (R. 508b13–c1), und zwar so, dass sich im Intelligiblen und im Sichtbaren dieselben Verhältnisse ergeben (R. 508b12–c2): Τοῦτον τοίνυν, ἦν δ’ ἐγώ, φάναι με λέγειν τὸν τοῦ ἀγαθοῦ ἔκγονον, ὃν τἀγαθὸν ἐγέννησεν ἀνάλογον ἑαυτῷ, ὅτιπερ αὐτὸ ἐν τῷ νοητῷ τόπῳ πρός τε νοῦν καὶ τὰ νοούμενα, τοῦτο τοῦτον ἐν τῷ ὁρατῷ πρός τε ὄψιν καὶ τὰ ὁρώμενα.

|| 28 Zum Sonnengleichnis siehe zum Beispiel Krämer 1997, insbesondere 185–192.

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„Von diesem“, sagte ich, „Abkömmling des Guten, welchen das Gute als Analogon zu sich selbst erschaffen hat, sage, dass ich meine, dass er sich so, wie es selbst sich am Ort des Denkens sowohl zum Denken als auch zum Gedachten verhält, im Bereich des Sehens sowohl zum Sehen als auch zum Gesehenen verhält.“

Es gelten die folgenden Relationen: (1) Sonne : Sehen :: Gutes : Denken (2) Sonne : Gesehenes :: Gutes : Gedachtes

Diesen Zusammenhang führt Sokrates dahingehend aus, dass die Augen das Licht zum Sehen brauchen (R. 508c4–d2), ebenso wie die Seele dann denke (R. 508d3: νόει) und Verstand zu haben scheine (R. 508d5: νοῦν ἔχειν φαίνεται), wenn auf das, worauf sie sich stütze, Wahrheit / Wirklichkeit und Sein niederscheine (R. 508d3 f.: ὅταν […] οὗ καταλάμπει ἀλήθειά τε καὶ τὸ ὄν, εἰς τοῦτο ἀπερείσηται); im Bereich des Werdens habe die Seele nur Meinungen und sehe gleichsam wie in der Dunkelheit nur schlecht (R. 508d3–9). Dasjenige nun, was dem Denkenden wie dem Gedachten die Wahrheit / Wirklichkeit verleihe, sei die „Idee des Guten“ (R. 508e1 f.: τὴν τοῦ ἀγαθοῦ ἰδέαν); in diesem Sinne sei sie die „Ursache von Wissen und Wahrheit / Wirklichkeit“ (R. 508e2 f.: αἰτίαν […] ἐπιστήμης οὖσαν καὶ ἀληθείας) (R. 508d10–509a5). Sie stehe an Schönheit aber noch über diesen beiden Dingen (R. 509a6–10) und verleihe allem im Bereich des Denkens genau so, wie die Sonne den Dingen im Bereich des Sichtbaren (den physikalischen Gegenständen) Entstehen und Wachstum verleihe, das Sein (R. 509b1–9, insbesondere 6 f.: καὶ τὸ εἶναί τε καὶ τὴν οὐσίαν ὑπ’ ἐκείνου αὐτοῖς προσεῖναι), mit der Konsequenz, dass sie selbst nicht ‚Sein‘ sei und dieses an Alter und Macht weit überrage (R. 509b8 f.: ἔτι ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάμει ὑπερέχοντος).29 Dieser Gedanke beschließt das Sonnengleichnis und leitet zum Liniengleichnis über. Dies wird eingeführt als Explikation der Ähnlichkeit der Sonne zum Guten mit dem Zweck der Erklärung des Letzteren; in diesem Sinn erklärt sich sein dezidierter Fokus auf die beiden Segmente, die für das Intelligible stehen. Trotz der kontroversen Forschungsdiskussion ergeben sich in Verbindung mit dem Höhlengleichnis die folgenden Einsichten direkt aus dem Text: Die allgemeine Grundlage dafür, dass man innerhalb der Höhle sehen kann, ist das künstliche Feuer hinter der Wand, der entlang die künstlichen Gegenstände getragen werden. Dieses Feuer entspricht der Sonne der physikalischen Welt, und so entspricht die gesamte Bildseite des Sonnengleichnisses dem gesamten Inneren der Höhle (für beides siehe explizit R. 517a8–b3). Das Innere der Höhle dient im metaphorischen Modell des Sonnengleichnisses andererseits dazu, den Bereich des Guten und also des Intelligiblen bildhaft zu zeigen; dieser ist mit dem Bereich außerhalb der Höhle identifiziert (vgl.

|| 29 Was es heißt, dass das Gute ‚jenseits des Seins‘ ist, ist Gegenstand kontroverser Diskussion: vgl. für einen Überblick Krämer 1969a; siehe auch Krämer 1997, 191 f. und Horn 1995. Vgl. unten Kap. 7.5.

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R. 517b4–6). Das Gute entspricht dann der Sonne außerhalb der Höhle. Entsprechend wird im Sonnengleichnis die im Höhlengleichnis zentrale Abbildungsbeziehung zwischen dem Inneren und dem Äußeren der Höhle in mehreren Hinsichten fundiert, unter anderem epistemologisch und ontologisch. Der philosophische Hintergrund des Sonnengleichnisses kann in der – trotz aller kontroverser Diskussion durch externe Zeugnisse und dialogimmanente Hinweise hinreichend gesicherten – Annahme der Identität des Guten und des Einen gesehen werden.30 Wenn dieser Zusammenhang in der Tat für Platon unterstellt werden kann und darf, erhellt sich die ontologische und epistemologische Grundlage des Sonnen-

|| 30 Auf die lebhaft geführte Diskussion kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Man beachte insbesondere Platons Vortrag Über das Gute; das zentrale Zeugnis ist Aristoxenos, Harm. p. 39, 8–40, 4, mit Rückgriff auf Aristoteles: καθάπερ Ἀριστοτέλης ἀεὶ διηγεῖτο τοὺς πλείστους τῶν ἀκουσάντων παρὰ Πλάτωνος τὴν περὶ τἀγαθοῦ ἀκρόασιν παθεῖν· προσιέναι μὲν γὰρ ἕκαστον ὑπολαμβάνοντα λήψεσθαί τι τῶν νομιζομένων τούτων ἀνθρωπίνων ἀγαθῶν οἷον πλοῦτον, ὑγίειαν, ἰσχύν, τὸ ὅλον εὐδαιμονίαν τινὰ θαυμαστήν· ὅτε δὲ φανείησαν οἱ λόγοι περὶ μαθημάτων καὶ ἀριθμῶν καὶ γεωμετρίας καὶ ἀστρολογίας καὶ τὸ πέρας ὅτι ἀγαθόν ἐστιν ἕν, παντελῶς οἶμαι παράδοξόν τι ἐφαίνετο αὐτοῖς, εἶθ’ οἱ μὲν ὑποκατεφρόνουν τοῦ πράγματος, οἱ δὲ κατεμέμφοντο („So erzählte Aristoteles immer davon, dass dies den meisten der Zuhörer von Platons Vortrag Über das Gute geschah. Jeder sei nämlich in der Meinung gekommen, etwas von den allseits dafür gehaltenen menschlichen Gütern wie Reichtum, Gesundheit, Stärke und insgesamt eine wundervolle Glückseligkeit zu erlangen. Als aber die Reden über Mathematik, Zahlen, Geometrie, Astronomie und schließlich davon, dass das Gute das Eine sei, zum Vorschein kamen, glaube ich, sei ihnen dies als etwas gänzlich Widersinniges erschienen, und in der Folge hätten die einen die Sache im Geheimen geringgeschätzt, die anderen aber getadelt“); ähnlich Simplikios, in Ph. p. 151, 6–19, unter zusätzlicher Nennung von Speusipp und Xenokrates als Quellen und mit spezifischen Angaben zum Inhalt. Unabhängig davon, wie die philosophischen Einzelheiten zu rekonstruieren sind, muss angesichts der Bezeugung (insbesondere durch Aristoxenos) für Platon die grundsätzliche Identifikation des Guten mit dem Einen als unstrittig gelten, zumal sie sich auch direkt aus dem Zeugnis des Aristoteles ergibt, insbesondere, wenn auch knapp und in den Details teils dunkel, unmissverständlich aus Aristoteles, Metaph. 988a14–17 (wohlgemerkt mit dem Einen als Ursache des Guten [14: τὴν τοῦ εὖ […] αἰτίαν]; hier ist auch das Eine als Prinzip benannt). Die Bezeugung der Prinzipienlehre und der Gleichsetzung von Gutem und Einem ist folglich in jedem Fall nicht erst neuplatonisch und lässt sich also auch nicht als einfache, nicht hinreichend informierte Fehldeutung von Platons schriftlichem Werk deuten (für quellenkritische Fragen und weitere Zeugnisse siehe Gaiser 1968, 85–88 und 451–455). Zum Vortrag Über das Gute siehe ansonsten unter anderem Gaiser 1980, auch zum historischen Kontext; zum gesamten Problemkomplex Krämer 1966 und vgl. für einen knappen Überblick Erler 2006, 162–171; kritisch insbesondere Cherniss 1945. Vgl. Horn 1995, 105 f., speziell 105: „Die Nähe der Bücher Resp. VI und VII zur Prinzipientheorie dürfte außer Frage stehen angesichts der Formeln ‚μέγιστον μάθημα‘ (504 e 4 u. ö.), ‚ἐπέκεινα τῆς οὐσίας‘ (509 b 9) sowie der Rede von einer ‚τοῦ παντὸς ἀρχή‘ (511 b 6 f.).“ In diesem Zusammenhang ist relevant, dass Platons Idee des Guten bekanntlich schon in der Antike notorisch obskur war: vgl. Amphis, Amphikrates, fr. 6 Kassel & Austin (siehe Arnott 2010, 305 f.). Davon abgesehen kann die auf dem ‚Einen‘ und der ‚Zweiheit‘ basierende Prinzipienlehre auch insofern keine neuplatonische Erfindung sein, weil sie sich (bei allen Unterschieden im Detail) auch bei Platons Schülern in der Alten Akademie findet, etwa Speusipp oder Xenokrates; zu beiden Philosophen siehe die Übersicht bei Krämer 1983, 22–43 bzw. 44–72, zu Xenokrates hier auch Thiel 2007.

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und der beiden anderen Gleichnisse (für die folgende Analyse ist diese Annahme freilich prinzipiell nicht unabdingbar; sie dient methodologisch letztlich nur der Verdeutlichung: siehe unten):31 Wenn das ‚Eine‘ (als das ‚Gute‘) als höchstes Prinzip wirkt, besteht seine Wirkung (unter anderem) darin, jedem Gegenstand (im weitesten Sinn, also auch den Wahrnehmungsinhalten als von ihren Verursachern kategorial getrennte Dinge) die Eigenschaft zu verleihen, überhaupt dieser spezifische eine Gegenstand zu sein, der er ist; solange auch immer nämlich irgendetwas irgendein Gegenstand ist, so lange ist es auch ein und dasselbe, das heißt ist es selbstidentisch. Diese analytische Wahrheit (die letztlich auf dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch beruht)32 ist eine notwendige Bedingung der Möglichkeit dafür, dass es überhaupt irgendetwas (wie kurz und flüchtig auch immer) geben kann, und zwar selbstverständlich auch dann, wenn dieser Gegenstand sich essentiell in einem Zustand des reinen ‚Werdens‘ befindet, denn auch in diesem Fall muss eine derartige Selbstidentität (wenn auch als prinzipiell transiente) vorliegen. Doch handelt es sich bei diesem Zusammenhang nicht nur um die grundlegende Bedingung der Möglichkeit von Sein, sondern auch um die grundlegende Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis: Etwas muss (in welcher Hinsicht auch immer und ebenfalls wie flüchtig auch immer) als ein und dasselbe erkannt (oder auch nur wahrgenommen) werden, um überhaupt erkannt (oder auch nur wahrgenommen) werden zu können.33

|| 31 Vgl. Krämer 1969b, 213–216; vgl. 215: „So erklärt sich etwa die berühmte Partie am Schluß von Politeia VI, wo das ἀγαθόν als Prinzip von Sein, Wert, Erkennbarkeit, Wahrheit und Erkenntnisfähigkeit auftritt. Diese Aspekte sind vom Guten her nicht verstehbar, wohl aber dann, wenn man das Gute ins Eins zurücknimmt, das dort bewußt im Hintergrund gehalten wird.“ Die hier explizierte Interpretation der Gleichnisse nutzt die Identität von Einem und Gutem freilich nur insoweit, als sich hermeneutisch direkt aus der semantischen Struktur der Gleichnisse selbst ergibt: siehe unten. 32 Wohlgemerkt auch für Platon; es findet sich im aufgezeigten Zusammenhang explizit in der Politeia; vgl. R. 436b9–c2 im Rahmen der Anwendung auf ein spezifisches philosophisches Problem (die Anzahl der Seelenteile): Δῆλον ὅτι ταὐτὸν τἀναντία ποιεῖν ἢ πάσχειν κατὰ ταὐτόν γε καὶ πρὸς ταὐτὸν οὐκ ἐθελήσει ἅμα, ὥστε ἄν που εὑρίσκωμεν ἐν αὐτοῖς ταῦτα γιγνόμενα, εἰσόμεθα ὅτι οὐ ταὐτὸν ἦν ἀλλὰ πλείω („Es ist transparent, dass dasselbe nicht bereitwillig zu demselben Zeitpunkt Kontradiktorisches tut oder erleidet in Hinsicht auf dasselbe und in Relation zu demselben, so dass wir, wenn wir herausfinden, dass dies in ihnen geschieht, wissen werden, dass es sich nicht um dasselbe handelt, sondern um mehreres“; es folgt eine detaillierte Explikation in R. 436c–437a). Vor allem bei Aristoteles ist der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch die anscheinend im höchsten Maß gesicherte Grundlage der Erkenntnis und mithin das fundamentale epistemologische und logische Prinzip; für ihn hat es den Stellenwert von Platons Idee des Guten (siehe Waschkies 1995, 103 Anm. 47, der auf die Parallele zum ἀνυπόθετον der Politeia hinweist): Metaph. 1005b8–23, speziell 19–23 (vgl. Kirwan 1993, 88–90 sowie Bailey 2006; siehe auch Ross 1953, 1, 264 f., mit der signifikanten Beobachtung, dass „the law of contradiction is for Aristotle primarily a law of being“ [264]; insgesamt Rapp 1993); die gesamte Passage ist Metaph. 1005b8–1011b22. Für einen Überblick zum Prinzip in der frühen griechischen Philosophie siehe Thom 1999, speziell 163–165 zu Platon und 165–168 zu Aristoteles. 33 In diesem Sinn wendet sich Platon ja in Tht. 181c–183c speziell in Hinsicht auf die Wahrnehmung gegen die radikale Flusstheorie, die den Herakliteern zugeschrieben wird (siehe insbesondere 183a2–

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Fasst man in diesem Sinn das Eine als das grundlegende ontologische und zugleich epistemologische Prinzip – unabhängig von weiteren philosophischen Implikationen, die hier nicht von Belang sind34 –, ist transparent, dass es in fundamentalem Sinne einerseits jedem Gegenstand Sein und Wirklichkeit und andererseits dem Erkennenden die Fähigkeit zur Wahrnehmung und zur Erkenntnis sowie dem Erkannten die Fähigkeit, wahrgenommen zu werden, garantiert; und dass es als ein solches fundamentales Prinzip in der Tat (und notwendig zumindest in einem gewissen Maße) außerhalb oder jenseits des Seins selbst steht (R. 509b8 f.). Warum Platon das Eine als höchstes, Sein und Erkenntnis verursachendes Prinzip verstanden haben könnte, ist damit in Ansätzen plausibel. Eine weitergehende Frage ist, warum er das Eine zugleich mit dem Guten gleichgesetzt hat. Hierfür wäre eine Erklärung, dass das Gute für Platon nichts anderes als das oberste Ziel ist.35 Dies ist es gemäß den entfalteten Zusammenhängen deshalb, weil das Eine sowohl das Sein ermöglicht – nämlich indem es das Attribut der ‚Ein‘-heit, das heißt der Identität und also die fundamentale Grundlage für die Existenz eines jeden Gegenstands verleiht – und zugleich das einzig (rationale) Ziel des ‚Werdens‘ generiert – nämlich ‚eins‘ zu sein und also effektiv zu ‚sein‘, das heißt als ein spezifisch bestimmter Gegenstand, sei es im Zustand des statischen Seins oder des dynamischen Werdens. Zusammengenommen ist das Eine ontologisch nicht nur deskriptiv die Ursache jedes Seins, sondern auch final, und dies als oberstes Ziel für alles, eben als das Gute.36 Diese Zusammenhänge müssen für das Verständnis von Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis hier nicht im Detail geklärt werden. Es reicht, einen Verstehensrahmen zu besitzen, in dem eine Gleichsetzung von Einem und Gutem plausibel ist und der es ermöglicht, die platonische Prinzipienlehre heranzuziehen, um die ontologi|| 7, wo es um ‚Wahrheit‘ geht; zur kontroversen Diskussion vgl. Boter 2009). Speziell in Tht. 183a–b erfolgt die Anwendung nicht nur auf das Sein, sondern explizit auch auf das ‚Werden‘, also das Körperliche: Man könne nicht einmal „so“ noch „nicht-so“ sagen, und es gäbe nicht einmal Wörter für die zu bezeichnenden Sachverhalte (b4: ῥήματα) (mit versteckter Andeutung von Platons eigener Antwort: vgl. unten mit Anm. 37). Dieselbe Position liegt zugrunde, wenn in R. 478b11–c1 in der Unterscheidung von Episteme und Doxa (vgl. unten mit Anm. 43) Letzterer zwar nicht das Seiende (τὸ ὄν), aber eben auch nicht „nichts“ (μηδέν) als Gegenstand zugewiesen wird und dieses „nichts“ als „nicht irgendetwas Einzelnes“ (οὐχ ἕν τι) wiedergegeben wird. Die positive Antwort auf das grundlegende Problem wird im Timaios gegeben, und zwar im Rahmen der Theorie der Elemente in Verbindung mit dem Platz (χώρα): vgl. unten Kap. 7.2. 34 Vgl. Gaiser 1968 für eine mögliche Deutung; siehe Halper 2005 für die mathematische Dimension. 35 Dies gilt in jedem Fall speziell für die Politeia: vgl. die direkt dem Sonnengleichnis vorangehende Passage R. 503e–506e, speziell die indirekte Charakterisierung des Guten in R. 505e1 f.: Ὃ δὴ διώκει μὲν ἅπασα ψυχὴ καὶ τούτου ἕνεκα πάντα πράττει („wonach ja jede Seele jagt und um dessentwillen sie alles tut“). Vgl. den Philebos, insbesondere 11a–14b. 36 Für den gesamten philosophischen Zusammenhang vgl. besonders das Symposion (wo der Eros ja aus verschiedenen Perspektiven gerade als das finale Prinzip eine Bewegung hin zum Einen initiiert) und den Parmenides (in dem die Lehre des Einen letztlich vom Standpunkt der Prinzipienlehre aus dargestellt ist; vgl. Meinwald 1991, Meinwald 1992 und vor allem Horn 1995; siehe auch Wolters 2005).

Die Mathematik der Linie | 295

sche und epistemologische Grundlage der Gleichnisse in der philosophischen Kontextualisierung besser verständlich zu machen. Schließlich zeigen sich in der Tat starke Indizien dafür, dass die Prinzipienlehre von einer gewissen sachlichen Relevanz ist: So lässt sich der grundlegende Gegensatz von ‚Einem‘ (ἕν) und, wie Platon das entgegengesetzte Prinzip Aristoteles zufolge genannt hat, ‚unbestimmter Zweiheit‘ (ἀόριστος δυάς) in dem, wie gesehen, für die in den Gleichnissen allgegenwärtige und nicht nur im Bild, sondern auch explizit angeführte (etwa R. 507b1–10) Abbildungsrelation zwischen Original und Abbild konstitutiven Gegensatz von ‚Einem‘ und ‚Vielem‘ wiedererkennen.37 Dieses Viele ist, wie auch der Gegensatz selbst impliziert, sowohl nicht vollständig identisch untereinander, insbesondere in ontologischer Hinsicht (denn andernfalls handelte es sich ja um eine Menge von Instanzen von ein und demselben Gegenstand, ja: letztlich um einen Gegenstand), als auch essentiell nichtidentisch mit dem Einen selbst; gleichwohl ist jedes einzelne Viele aber dennoch ontologisch jeweils ‚eines‘, nämlich als konkreter (wenngleich je nach Konstitution mehr oder weniger transienter) Gegenstand.38 Das Heranziehen der platonischen Prinzipienlehre wird ein tieferes Verständnis des philosophischen Hintergrunds der Gleichnisse erlauben. Gleichwohl ist die Prinzipienlehre methodologisch für die (Richtigkeit der) Analyse keine unabdingbare Voraussetzung. Als sachlich erforderlich wird sich lediglich die Annahme erweisen, dass für die Gleichnisse der Gegensatz von ‚Einem‘ und ‚Vielem‘ sachlich relevant ist. Dieser aber ist nicht nur in transparenter Weise einer der zentralen Grundzüge der gesamten Formenlehre, sondern zeigt sich, wie in diesem Abschnitt demonstriert wurde, auch direkt und sicher fassbar in den Gleichnissen selbst. Das Hinzuziehen der Prinzipienlehre hat folglich lediglich den Charakter eines nützlichen, aber letztlich verzichtbaren Hilfsmittels.

6.4 Die Mathematik der Linie Sonnen- und Höhlengleichnis repräsentieren als komplexes metaphorisches Modell die gesamte Welt. In ihnen drückt sich ontologisch eine Stufung von Graden der Wirk-

|| 37 Wobei das ‚Viele‘ dann entsprechend Phlb. 16b–18d zu deuten ist; man beachte Aristoteles’ Anmerkung in Metaph. 987a29–988a17, insbesondere 987b25–27, dass Platon das pythagoreische ‚Viele‘ (ἄπειρον) durch die ‚Zweiheit‘ (δυάς) ersetzt habe: Gerade dies eröffnet im Sinn der Philebos-Passage die Möglichkeit einer exakten Quantifizierung. Siehe Krämer 1966, 69 f. und Krämer 1969a. Eine alternative Bezeichnung für das zweite Prinzip ist (ebenfalls entsprechend der Metaphysik-Stelle) ‚das Große und Kleine‘ (τὸ μέγα καὶ μικρόν): siehe hierzu auch Hösle 2004, 118 f. 38 Für dieses Charakteristikum ist die Einsicht relevant, dass „forms are somehow supposed to account for the possibility that things that are numerically different can nevertheless be the same“ (siehe insgesamt Gerson 2004, das Zitat 237); dies steht selbstverständlich im Kontext des grundlegenden Prinzips des ἓν ἐπὶ πολλοῖς.

296 | Die Welt als Linie: Mathematische Modellierung im Liniengleichnis der Politeia

lichkeit aus, von flüchtigen Schatten von Nachbildungen bis zu den ewigen und tatsächlich seienden Formen, sowie in exakt analoger Weise epistemologisch eine Stufung von Graden der Sicherheit von Erkenntnis, vom Pol der Unsicherheit bis zum Pol der Wahrheit. Welche Verhältnisse im Einzelnen herrschen, klärt Platon im mittleren der drei Gleichnisse, dem Liniengleichnis. Platon bedient sich mit einer Linie hier eines mathematischen Modells und beschreibt die gesamte Welt entsprechend als mathematischen Gegenstand mit spezifisch relationalen, das heißt evident mathematischen Eigenschaften. In diesem Abschnitt werde ich vor dem Hintergrund von Sonnen- und Höhlengleichnis einen zweiten, detaillierteren Blick auf das Liniengleichnis werfen, mit dem Zweck der Prüfung, ob sich die oben in Kap. 6.2 angesprochenen Probleme in einer integrativen textnahen Deutung lösen lassen. Die Hoffnung ist, sichere Einblicke in Platons Theorie der mathematischen Modellierung zu erlangen, ist doch Platons eigene Explikation des Gleichnisses zu einem großen Teil der Mathematik gewidmet. Ausgangspunkt ist die prima vista irritierende Eigenschaft des mathematischen Modells ‚Linie‘, dass die zwei mittleren Segmente exakt gleich lang sind. Sie scheint philosophisch nicht sinnvoll zu sein und lässt Platons gesamtes Engagement mit mathematischer Modellierung als fragwürdig erscheinen: Wie könnte schließlich Platons Nutzung von Mathematik zum Zweck des Ausdrucks seiner Philosophie ernst genommen werden, wenn ihm ein derart grundlegender Fehler unterläuft? Und wie könnte andererseits Platon als Mathematiker und Mathematiktheoretiker ernst genommen werden, wenn er derartigen Inkonsistenzen gleichgültig gegenüberstünde? Die Problematik der Längengleichheit der zwei mittleren Liniensegmente berührt den Kern der hier untersuchten Frage, im Gegensatz zu den anderen oben angeführten ‚mathematischen‘ Problemen wie der Platzierung und der Orientierung der Linie, die in einem ‚euklidischen‘ Rahmen ja als solche irrelevant sind.39

|| 39 Die raumzeitlichen Attribute der Linie sind mathematisch irrelevant, denn als mathematisches Objekt hat sie auch bei Platon der euklidischen Praxis gemäß die charakteristische Eigenschaft, primär gerade keine raumzeitlichen Attribute der physikalischen Welt zu haben; man vergleiche die Diagramme in Euklid, Elem. 7–9, in denen die Linien sowohl vertikal als auch horizontal gezeichnet sind. Dieser Umstand spiegelt sich darin, dass Platon von diesen Attributen weitestgehend nicht spricht und die Linie also in dieser Hinsicht gemessen an den Erwartungen an eine tatsächlich gezeichnete Linie fast gänzlich unterdeterminiert sein lässt. Allerdings scheint die Linie in der metaphorischen philosophischen Dimension der Bedeutung eher eine vertikale Orientierung zu haben: So wird die νόησις dem „obersten“ Liniensegment zugewiesen (R. 511d8: τῷ ἀνωτάτῳ; man beachte κάτω in R. 511a7), entsprechend zu und in Vorbereitung von den semantischen Verhältnissen im Höhlengleichnis, wo das νοητόν ‚über‘ dem ὁρατόν platziert ist. Anders zum Beispiel Denyer 2007, 292 f., doch siehe Lafrance 1994, 398. Hier wird aus Platzgründen eine horizontale Anordnung gewählt, die eine kontinuierlich mit der Interpretation fortschreitende Erweiterung des Diagramms erlaubt. Die Willkür hinsichtlich der relativen Länge der Segmente in der modernen Forschung zeigt sich exemplarisch bei Fogelin 1971, 375 (größere Länge des νοητόν angesichts von „greater dignity“). Angesichts des Umfangs der jeweils zugeordneten Gegenstandsklassen (siehe unten) wird hier das kürzes-

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Die Grundlage für das Verständnis legen die folgenden Beobachtungen: (1) Platon merkt explizit und in Anbetracht der Tatsache, dass es sich um den pointierten Abschluss der Erklärung des entsprechenden Liniensegmentes handelt, unmissverständlich an, dass der zuerst behandelte Teil des Denkbaren (= 2. Liniensegment) der Bereich „der Geometrie und ihrer Geschwisterkünste“, also allgemein der Mathematik sei (R. 511a10–b1: Μανθάνω, ἔφη, ὅτι τὸ ὑπὸ ταῖς γεωμετρίαις τε καὶ ταῖς ταύτης ἀδελφαῖς τέχναις λέγεις; vgl. ebenso deutlich R. 511d3–5).40 So eindeutig dies der Fall ist, sind wir auf das angesprochene Problem zurückgeworfen, dass im Liniengleichnis sachlich prima vista keine kontinuierliche lineare Verbindung zwischen dem Sichtbaren und dem Denkbaren und speziell den Formen im Sinn einer Original-Abbild-Beziehung zu bestehen scheint, etwa vom sichtbaren Menschen zur Form des Menschen, zwischen denen etwa ein Dreieck stünde. Damit wäre die Annahme problematisch, die Linie sei ein Bild für die gesamte Welt, in der das Denkbare den Bereich des Sichtbaren (in welcher Form auch immer) spiegelt (und vice versa). (2) Insofern die im Liniengleichnis ausgedrückte spezifische Proportionalität der konstitutive Mechanismus der Teilung der Linie ist und diese von Platon ontologisch wie epistemologisch in der oben skizzierten Weise gedeutet wird, ist der Schluss legitim, dass, obgleich dies nicht explizit festgestellt wird, dieselben Verhältnisse in der ontologischen und epistemologischen Dimension auch im Bereich des Denkbaren herrschen, mithin auch der Teilung des Denkbaren in zwei Teile eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Original und Abbildung unterliegt, und zwar sowohl parallel zu der Ähnlichkeitsbeziehung, die hinsichtlich des das Körperliche repräsentierenden Liniensegments aufgezeigt wurde, als auch parallel zu derjenigen Ähnlichkeitsbeziehung, die sich aus dem Höhlengleichnis für den Bereich außerhalb der Höhle ergibt. (3) Das in der Entfaltung durch Platon letzte Segment der Linie wird der ‚Dialektik‘ zugeordnet (R. 511b2–d5). Deren Bereich ist im Liniengleichnis in exklusiver und positiver Weise als Bereich der Formen charakterisiert: Einerseits zeichnet die Dialektik aus, dass sie sich (zu einer genauen Explikation siehe unten) „in keiner Weise irgendeines Wahrnehmbaren zusätzlich bedient, sondern der Formen selbst durch sie selbst zu ihnen selbst und bei den Formen endet“ (R. 511c1 f.: αἰσθητῷ παντάπασιν οὐδενὶ προσχρώμενος, ἀλλ’ εἴδεσιν αὐτοῖς δι’ αὐτῶν εἰς αὐτά, καὶ τελευτᾷ εἰς εἴδη). Andererseits hat auch die Mathematik, für die das andere Liniensegment des Intelligiblen steht, spezifische Objekte. Dies ergibt sich sprachlich eindeutig aus der Charakterisierung derjenigen, die Mathematik betreiben, als Menschen, die „danach streben, jene Dinge selbst zu sehen, die man nicht anders als mit der Dianoia sehen könn|| te Segment den Formen und das längste den Wahrnehmungsinhalten zugeordnet. Mathematisch ist dies letztlich unerheblich, ist doch einzig relevant, dass die relative Proportionalität erhalten bleibt. 40 Dass dieses Liniensegment für alle (das heißt auch nicht-mathematischen) ‚Wissenschaften‘ stehe, findet sich (fälschlich und ohne Grundlage im Text) schon bei Cook Wilson 1904, 257–259 und Ferguson 1963, 188 f.; die Beschränkung auf die mathematischen Wissenschaften ergibt sich aus R. 511a10–b1 sowie aus Politeia VII insgesamt (vgl. Boyle 1973, 8). Für weitere Stellen siehe unten.

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te“ (R. 511a1 f.: ζητοῦντές τε αὐτὰ ἐκεῖνα ἰδεῖν ἃ οὐκ ἂν ἄλλως ἴδοι τις ἢ τῇ διανοίᾳ): Insofern die ‚Dianoia‘ eineindeutig dem Bereich der Mathematik zugeordnet ist (siehe oben Punkt 1), ist die Formulierung zwingend so zu verstehen, dass der Mathematik ebenso eineindeutig spezifische Gegenstände zugeordnet sind, nämlich die Gegenstände der Mathematik. Nicht möglich ist die verbreitete Deutung, dass die Mathematiker danach strebten, diejenigen Dinge zu schauen, die man nicht anders als mit der Dianoia sehen könnte, und damit die Formen gemeint wären, wobei der Unterschied zwischen Mathematik und Dialektik hinsichtlich der Art und Weise dieses Schauens, mithin hinsichtlich der Methodik bestünde:41 In diesem Fall wäre angesichts der Formulierung ἃ οὐκ ἂν ἄλλως ἴδοι τις ἢ τῇ διανοίᾳ (R. 511a1 f.) effektiv kategorisch ausgeschlossen, dass die Dialektik überhaupt irgendeinen spezifischen Gegenstand hätte; es läge ein eklatanter argumentativer Selbstwiderspruch vor.42 Das Ergebnis ist kompatibel mit der festgestellten semantischen Struktur der Gleichnisse, denn insofern jeweils eindeutig zwischen Originalen und Abbildern unterschieden wird, liegt eine essentielle Nicht-Identität vor, und diese ist zwangsläufig objekt(klassen)konstitutiv; und es ist ebenso kompatibel mit der allgemeinen Feststellung in Politeia VI (477c1–478e6), dass es epistemologisch einen eineindeutigen Zusammenhang zwischen den Vermögen oder Zuständen der Seele und den ihnen jeweils zugehörigen Gegenständen gibt.43 Im Ergebnis ist damit nicht der gesamte Be-

|| 41 Zur Position, dass die Segmente primär Unterschiede in der Methodik repräsentieren, siehe Karasmanis 1988, 157; vgl. Wedberg 1955, 105 f. sowie Wieland 1982, 208, Ross 1951, 47 und Benson 2010. Oft wird gegen den Text eine Zuweisung von spezifischen Objektarten zu den einzelnen Segmenten abgelehnt und mit objektunabhängigen kognitiven Inhalten operiert: vgl. Fine 1990. Vgl. die folgende Anm. 42 sowie das Ende des Kapitels, speziell mit Anm. 58, Anm. 59 und Anm. 60, ebenso Kap. 6.5. 42 Mit αὐτὰ ἐκεῖνα in der zitierten Passage können nicht die Formen gemeint sein: so zum Beispiel Gallop 1965, 121. Dies belegt auch die zur Explikation gedachte Anmerkung Glaukons, dass „der von der Wissenschaft der Dialektik betrachtete Teil des Seins und des Gedachten klarer als der von den genannten Künsten [sc. Mathematik] betrachtete Teil ist“ (R. 511c4–6: σαφέστερον εἶναι τὸ ὑπὸ τῆς τοῦ διαλέγεσθαι ἐπιστήμης τοῦ ὄντος τε καὶ νοητοῦ θεωρούμενον ἢ τὸ ὑπὸ τῶν τεχνῶν καλουμένων): Wie die Substantivierung des Partizips mittels des bestimmten Artikels zeigt, liegt der Unterschied zumindest auch außerhalb der Methode und in einem spezifischen Gegenstandsbereich: Dieser ist das Primäre, und ihm wird sekundär und eineindeutig eine spezifische Methode zugeordnet. Eine Umkehrung der Verhältnisse (also die Gegenstandsklassen als sekundär zu sehen) wird der konkreten Gestaltung des Liniengleichnisses nicht gerecht: siehe schon Stocks 1911, 76. 43 Hierauf weist zu Recht Wedberg 1955, 106 hin; vgl. Benson 2015, 240 f. Zwar werden an der angeführten Stelle primär nur Episteme und Doxa mitsamt ihren Objekten unterschieden; gleichwohl ist das hinreichende Kriterium für die Differenzierung, dass es sich um zwei verschiedene „Vermögen“ (δυνάμεις) handele; dies ist hinsichtlich Dialektik und Mathematik eindeutig gegeben; vgl. R. 511b3: τῇ τοῦ διαλέγεσθαι δυνάμει („das Vermögen der Dialektik“); R. 521d1 f.: τί τῶν μαθημάτων ἔχει τοιαύτην δύναμιν („Welcher der Gegenstände des Lernens hat dieses Vermögen?“, mit Bezug auf die Mathematik); R. 532c4 f.: πᾶσα αὕτη ἡ πραγματεία τῶν τεχνῶν ἃς διήλθομεν ταύτην ἔχει τὴν δύναμιν („Die gesamte Beschäftigung mit den Künsten, die wir durchgegangen sind, hat dieses Vermögen“, mit exklusivem Bezug auf die mathematischen Wissenschaften); R. 532d8: τῆς τοῦ διαλέγεσθαι δυνά-

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reich des Intelligiblen den Formen zugeordnet, sondern jedes Teilsegment hat ontologisch eigene, spezifische Gegenstände, und zwar in exakter relationaler Entsprechung zu den Verhältnissen im Bereich des Körperlichen. (4) Epistemologisch liegt ebenfalls eine eineindeutige, zum Ontologischen parallele Zuweisung von spezifischen Zuständen der Seele zu den Liniensegmenten vor. Mit ihr beschließt Platon nach Abschluss der Explikation des dem Intelligiblen zugeordneten Liniensegments sogar das gesamte Liniengleichnis (R. 511d7: παθήματα ἐν τῇ ψυχῇ; insgesamt R. 511d6–e4):44 καί μοι ἐπὶ τοῖς τέτταρσι τμήμασι τέτταρα ταῦτα παθήματα ἐν τῇ ψυχῇ γιγνόμενα λαβέ, νόησιν μὲν ἐπὶ τῷ ἀνωτάτω, διάνοιαν δὲ ἐπὶ τῷ δευτέρῳ, τῷ τρίτῳ δὲ πίστιν ἀπόδος καὶ τῷ τελευταίῳ εἰκασίαν, καὶ τάξον αὐτὰ ἀνὰ λόγον, ὥσπερ ἐφ’ οἷς ἐστιν ἀληθείας μετέχειν, οὕτω ταῦτα σαφηνείας ἡγησάμενος μετέχειν. „Zu den vier Segmenten nimm mir diese vier als Zustände, die sich in der Seele ereignen, hinzu, Denken [νόησις] zum obersten, ‚Dianoia‘ [διάνοια] zum zweiten, dem dritten gib Vertrauen [πίστις] und dem letzten ‚Eikasia‘ [εἰκασία], und ordne sie analog an, und zwar in der Meinung, dass diese [sc. Zustände der Seele], die als Benennungen für jene [sc. die Segmente] dienen, in genau dem Maße, in dem sie an der Wirklichkeit teilhaben, auch an der Deutlichkeit teilhaben.“

Insgesamt ergeben sich die folgenden Zuordnungen: (1) Denken (νόησις) bzw. Wissen (ἐπιστήμη: R. 533e8) = Dialektik – Formen;45 (2) ‚Dianoia‘ (διάνοια) = Mathematik – Gegenstände der Mathematik; (3) Vertrauen (πίστις) – Gegenstände der empirischen Welt (Körper); (4) Vermutung (εἰκασία) = Wahrnehmung – Abbilder (Perzepte) der Gegenstände der empirischen Welt (Körper). Zusammengefasst repräsentiert die Linie als mathematisches Modell – explizit hervorgehoben durch die Anweisung, die vier Liniensegmente proportional im be-

|| μεως („des Vermögens der Dialektik“); R. 533a7: ἡ τοῦ διαλέγεσθαι δύναμις („das Vermögen der Dialektik“; mit expliziter Bestimmung des exklusiven Inhalts); auch R. 532a2 f.: ἡ τῆς ὄψεως δύναμις („das Vermögen des Sehens“) und R. 477c1–4 (Wahrnehmungen insgesamt). Sachlich zugrunde liegt, dass gemäß dem Sonnengleichnis sowohl im Intelligiblen als auch im Körperlichen (das heißt, es gibt zwei Vermögen, Episteme und Doxa, die dem Sein bzw. dem Werden zugeordnet sind: R. 478a4–c8) jeweils ein passives und ein aktives Vermögen vorhanden ist, und zwar konkret des Gedacht-Werdens und des Denkens bzw. des Gesehen-Werdens (Wahrgenommen-Werdens) und des Sehens (Wahrnehmens), jeweils verursacht durch das Gute bzw. die Sonne (speziell R. 507c6–8 bzw. R. 508d10–e4; vgl. R. 510a9 f.), in der Kombination der zwei binären Parameter resultierend in vier Vermögen und mithin Objektklassen, nämlich ‚Formen‘, ‚Mathematika‘, ‚Körper an sich‘ und ‚Wahrnehmungen der Körper‘. Zu den diesen Klassen spezifisch zugeordneten Zuständen der Seele vgl. den folgenden Punkt (4). 44 Zum Verständnis des Wortes πάθημα siehe Lafrance 1994, 395–397. 45 Dass verschiedene Termini an beiden Stellen im gleichen Sinn gebraucht werden, verblüfft auch, weil sie in R. 533e3–534a8 (siehe unten) in abweichendem Sinn verwendet werden. Ein Grund könnte sein, dass am Ende des sechsten Buches der Terminus νόησις pointiert hinsichtlich des Unterschieds zu denjenigen Menschen gewählt ist, die ihre Untersuchungen durch διάνοια durchführen und eben dadurch keinen νοῦς aufweisen (R. 511c3–e5). Dies erfolgt offenkundig in polemischer Absicht.

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schriebenen Verhältnis anzuordnen (τάξον αὐτὰ ἀνὰ λόγον)46 – in ihrer Segmentiertheit quantitativ-relational in der ontologischen Dimension die gesamte Welt in ihrer objektiven Gegebenheit als vierfach in kategorial verschiedene Gegenstandsklassen geteiltes Objekt und ordnet der Seele mit Bezug auf eben diese Teile der Welt epistemologisch spezifische Tätigkeiten der Seele in eineindeutiger Weise zu. Die Punkte (1) bis (4) erlauben, den spezifisch mathematischen Charakter des Liniengleichnisses besser zu verstehen und das irritierende Problem der Längengleichheit der zwei mittleren Segmente zu lösen. Betrachten wir in einem ersten Schritt die mathematischen Verhältnisse, aus denen sich die Längengleichheit der mittleren Liniensegmente ergibt.47 Entsprechend der Konstruktion liegt die folgende Gleichheit dreier Proportionen zwischen den (mittels der zugeordneten Gegenstände bezeichneten) Liniensegmenten vor, ausgehend von der Relation (mit im Vergleich mit der sogleich erfolgenden Wiedergabe vertauschten Reihenfolge der Glieder) „wie das mit Meinung Verbundene zum mit Erkanntem Verbundenen, so das Nachgebildete zu dem, in Hinsicht auf welches es nachgebildet wurde“ (R. 510a9 f.: ὡς τὸ δοξαστὸν πρὸς τὸ γνωστόν, οὕτω τὸ ὁμοιωθὲν πρὸς τὸ ᾧ ὡμοιώθη): Denkbares : Sichtbares :: Originale im Denkbaren : Abbilder im Denkbaren :: Originale im Sichtbaren : Abbilder im Sichtbaren.

Dabei gilt

|| 46 Wohlgemerkt unter Benennung der Liniensegmente gemäß der ursprünglichen und für Platon zeitgenössischen, dann aber aufgegebenen und spätestens mit Euklid verschwundenen mathematischen Konvention zur Bezeichnung geometrischer Entitäten im mathematischen Diagramm; sie zeigt sich hier in ἐφ’ οἷς; vgl. in analogem Kontext R. 534a5 f. (ἐπί in τὴν δ’ ἐφ’ οἷς ταῦτα ἀναλογίαν καὶ διαίρεσιν διχῇ ἑκατέρου; unten im Kontext zitiert) und siehe neben Federspiel 1992 auch Mugler 1958, 189 f. (wie sich zeigt, kann ἐπί in dieser Verwendung mit Genitiv oder Dativ stehen; beide PoliteiaStellen sind hier nicht verzeichnet, besser gesagt: für Platon sind überhaupt keine Belege angeführt) sowie Netz 1999a, 45 mit Anm. 88. Die Junktur ἀνὰ λόγον ist wie das Substantiv ἀναλογία bei Platon durchgängig als mathematischer Terminus benutzt: siehe Mourelatos 2014, 184 f. (vgl. die soeben zitierte Passage R. 534a5 f. sowie signifikant auch R. 508b12–c2 im Sonnengleichnis). 47 Die Herleitung reproduziert im Ergebnis den in der Forschung wohlbekannten Sachverhalt: vgl. Adam 1902, 2, 64 und Pritchard 1995, 112 f. Anm. 11. Allerdings werden hier nicht nur die genauen mathematischen Zusammenhänge offengelegt (und zwar allein im Rahmen antiker Mathematik, wenn auch konkret derjenigen Euklids), sondern auch, was der für das Verständnis zentrale Punkt ist, enger mit den sachlichen, philosophischen Zusammenhängen verbunden. Zur Bezeichnung der Segmente werden die Bezeichnungen für die entsprechenden Gegenstandsklassen des Höhlengleichnisses verwendet, ohne Berücksichtigung der (diesen eineindeutig zugeordneten) Zustände der Seele. Dieses Vorgehen rechtfertigt sich mit der festgestellten Parallelität der Gleichnisse und der Gleichsetzung von ontologischer und epistemologischer Dimension, zumindest in mathematischer Hinsicht. Das Ergebnis wäre angesichts dieses Umstands dasselbe.

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Denkbares = Originale im Denkbaren + Abbilder im Denkbaren Sichtbares = Originale im Sichtbaren + Abbilder im Sichtbaren.

Da weiter gilt Originale im Denkbaren : Abbilder im Denkbaren :: Originale im Sichtbaren : Abbilder im Sichtbaren,

ergibt sich mit Euklid, Elem. 5, 18 (Originale im Denkbaren + Abbilder im Denkbaren) : Abbilder im Denkbaren :: (Originale im Sichtbaren + Abbilder im Sichtbaren) : Abbilder im Sichtbaren.

Mit Euklid, Elem. 5, 16 folgt: (Originale im Denkbaren + Abbilder im Denkbaren) : (Originale im Sichtbaren + Abbilder im Sichtbaren) :: Abbilder im Denkbaren : Abbilder im Sichtbaren.

Da aber ex hypothesi gilt, dass (Originale im Denkbaren + Abbilder im Denkbaren) : (Originale im Sichtbaren + Abbilder im Sichtbaren) :: Originale im Sichtbaren : Abbilder im Sichtbaren,

folgt mit Euklid, Elem. 5, 9: Abbilder im Denkbaren = Originale im Sichtbaren.

Die zwei mittleren Liniensegmente sind gleich lang. Wie die spätere Aufnahme des Gleichnisses in R. 533e3–534a8 zeigt, war dies auch Platon bewusst: Ἀρέσκει οὖν, ἦν δ’ ἐγώ, ὥσπερ τὸ πρότερον, τὴν μὲν πρώτην μοῖραν ἐπιστήμην καλεῖν, δευτέραν δὲ διάνοιαν, τρίτην δὲ πίστιν καὶ εἰκασίαν τετάρτην καὶ συναμφότερα μὲν ταῦτα δόξαν, συναμφότερα δ’ ἐκεῖνα νόησιν καὶ δόξαν μὲν περὶ γένεσιν, νόησιν δὲ περὶ οὐσίαν καὶ ὅτι οὐσία πρὸς γένεσιν, νόησιν πρὸς δόξαν, καὶ ὅτι νόησις πρὸς δόξαν, ἐπιστήμην πρὸς πίστιν καὶ διάνοιαν πρὸς εἰκασίαν. τὴν δ’ ἐφ’ οἷς ταῦτα ἀναλογίαν καὶ διαίρεσιν διχῇ ἑκατέρου, δοξαστοῦ τε καὶ νοητοῦ, ἐῶμεν, ὦ Γλαύκων, ἵνα μὴ ἡμᾶς πολλαπλασίων λόγων ἐμπλήσῃ ἢ ὅσων οἱ παρεληλυθότες. „Es beliebt uns also“, sagte ich, „wie zuvor den ersten Teil ‚Wissen‘ [ἐπιστήμη] zu nennen, den zweiten ‚Verstand‘ [διάνοια], den dritten ‚Vertrauen‘ [πίστις] und ‚Vermutung‘ [εἰκασία] den vierten, die Summe48 von diesen [πίστις + εἰκασία = den untersten beiden Liniensegmenten] ‚Meinung‘ [δόξα], die Summe von jenen [ἐπιστήμη + διάνοια = den obersten beiden Liniensegmenten] ‚Denken‘ [νόησις] und zu sagen, dass Meinung [δόξα] bezüglich des Werdens [γένεσις], Denken

|| 48 Vgl. Mugler 1958, 396 zum Adjektiv συναμφότερος (diese Stelle ist nicht verzeichnet): „désignant la somme de deux grandeurs géométriques et faisant souvent fonction de symbole d’addition“.

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[νόησις] bezüglich des Seins [οὐσία] besteht und dass sich, wie sich Sein [οὐσία] zu Werden [γένεσις] verhält, so auch Denken [νόησις] zu Meinung [δόξα] verhält und dass sich, wie sich Wissen [ἐπιστήμη] zu Vertrauen [πίστις] verhält, so auch Verstand [διάνοια] zu Vermutung [εἰκασία] verhält. Die analogen Proportionen zwischen den Dingen, für die diese Dinge als Bezeichnungen verwendet werden, und die Teilung eines jeden Segments entzwei, des mit Meinung Verbundenen und des Denkbaren, wollen wir beiseitelassen, Glaukon, damit sie uns nicht mit einem Vielfachen an λόγοι [‚Worte‘ und ‚Verhältnisse‘] im Verhältnis zu den bereits behandelten anfüllen.“

In dieser Passage wird im Vergleich zur ursprünglichen Konstruktion der Linie in der letzten Proportion en passant, aber unmissverständlich intendiert das zweite und dritte Liniensegment miteinander vertauscht, denn es werden unter Setzung einer mathematischen relationalen Äquivalenz zwischen den kategorial getrennten, da epistemologischen bzw. ontologischen Konzepten von ‚Vertrauen‘ (πίστις) und ‚Werden‘ (γένεσις) einerseits und ‚Denken‘ (νόησις) und ‚Sein‘ (οὐσία) andererseits die folgenden Proportionen benannt: Sein [οὐσία] : Werden [γένεσις] :: Denken [νόησις] : Meinung [δόξα] Sein [οὐσία] : Werden [γένεσις] :: (Wissen [ἐπιστήμη] + Verstand [διάνοια]) : (πίστις [Vertrauen] + εἰκασία [Vermutung]) Wissen [ἐπιστήμη] : Vertrauen [πίστις] :: Verstand [διάνοια] : Vermutung [εἰκασία]

Die Vertauschung ist nur bei Längengleichheit der zwei mittleren Segmente korrekt (vgl. Euklid, Elem. 5, 9).49 Die dezidierte Umformulierung lässt nur einen Schluss zu: Platon war sich dieser Eigenschaft der Linie bewusst; man kann und darf diese also nicht als unbeachteten Fehler betrachten.50 Dieser Umstand ist um so rätselhafter, als mit der Vertauschung ebenfalls auszuschließen ist, dass Platon eine fortschreitende Zunahme des Grades an Wahrheit / Wirklichkeit und Deutlichkeit vom einen Ende der Linie bis zum anderen unterstellt, ja: überhaupt für richtig gehalten haben kann. Der erste Schritt zur Lösung des Problems besteht in der Erkenntnis, dass das Liniengleichnis eine weitere, angesichts der bisherigen Ergebnisse freilich nicht allzu überraschende mathematische Eigenheit zeigt: Obgleich die Pointe des Gleichnisses zu sein scheint, dass philosophische Sachverhalte mathematisch quantifiziert werden, ist es nicht nur der Fall, dass der absolute Wert der gesamten Proportionenkette unbestimmt bleibt, sondern auch, dass sogar alle beliebigen Längen, mit denen sich

|| 49 Siehe auch Frajese 1963, 128 und 142 f. sowie Aubenque 1992, 41 f. 50 Vgl. Robinson 1953, 194: Die zitierte Passage „seems to come in by mere association, to have no real relevance to its context, and to convey no real message in itself. It is just a set of useless proportions among a set of algebraical symbols of unknown meaning. Like the famous Number in Book VIII, it is a mathematical fancy which pleased Plato.“ Siehe Denyer 2007, 294 und vgl. oben Anm. 10. Keine Lösung ist angesichts von R. 511e2–4, den Grad an Deutlichkeit allein durch die lineare Anordnung der Segmente (und nicht durch ihre Länge) repräsentiert zu sehen (Delhey 2003, 237 f.); ebenso wenig liefert der Text Hinweise auf die Konstruktion verschiedener Linien (eine mit gleichen mittleren Segmenten, eine mit paarweise verschiedenen), wie es Brumbaugh 1951/2 vorschlägt.

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eine Gleichheit der zwei mittleren Segmente sowie eine exakte51 Gleichheit der Relationen der Segmente in den zwei übergeordneten Liniensegmenten (das heißt dem Denkbaren und dem Sichtbaren) untereinander und zu den untergeordneten Segmenten ergibt, zur Lösungsmenge gehören. Zum Beispiel lassen sich bei einer Linie der Länge 9 die Einzelsegmente korrekt mit einer Länge von 1, 2, 2 bzw. 4 bestimmen, denn es gilt, da 1+2 = 3 und 2+4 = 6, unter Einsetzung der Werte in das zugrunde liegende Proportionensystem 3:6 :: 1:2 :: 2:4. Ebenso lassen sich bei einer Linie der Länge 16 die Einzelsegmente korrekt mit einer Länge von 1, 3, 3 bzw. 9 bestimmen. Da nämlich 1+3 = 4 und 3+9 = 12, gilt 4:12 :: 1:3 :: 3:9. Allgemein erfüllen alle Quadrupel der Form (1, x, x, x²) bzw. deren Vielfache (a, ax, ax, ax²) die gegebenen Bedingungen (mit a, x als positiver reeller Zahl, auch für eine umgekehrte Zuordnung zu den Segmenten; es ist mathematisch also unerheblich, ob das Liniensegment des Intelligiblen oder das des Körperlichen länger oder kürzer ist).52 Da nämlich (x+x²) = x(1+x) gilt, gilt (in der gleichen Reihenfolge wie in den obigen konkreten Beispielen und erneut für alle Vielfache und in der Umkehrung) die allgemeine Formel (1+x):x(1+x) :: 1:x :: x:x² als in moderner Wiedergabe allgemeine Lösung für die Proportionenkette

|| 51 Eine ‚ungefähre Gleichheit‘ gemäß Dreher 1990 widerspricht der (sich ja auch in der Terminologie der Konstruktion widerspiegelnden) höchsten mathematischen Exaktheit der Proportionen im Rahmen antiker Mathematik. 52 Mathematisch liegt keine Einschränkung auf natürliche Zahlen vor, da jedes Teilungsverhältnis außer in zwei gleiche Hälften erlaubt ist und also ein Segment der Linie als Strecke eine positive reelle Zahl repräsentiert. Dies ist äquivalent dazu, nicht mit 1, sondern mit einer reellen Zahl als kleinstem Term zu operieren. Speziell aus den Lösungen mit nicht-natürlichen Zahlen ergeben sich interessante Implikationen zu den mathematischen Eigenschaften der Linie; dies betrifft auch die angesichts der als Lösungen identifizierten Quadrupel gegebene Verwandtschaft des Sachverhalts zu Euklid, Elem. 2, 4 (Ἐὰν εὐθεῖα γραμμὴ τμηθῇ, ὡς ἔτυχεν, τὸ ἀπὸ τῆς ὅλης τετράγωνον ἴσον ἐστι τοῖς τε ἀπὸ τῶν τμημάτων τετραγώνοις καὶ τῷ δὶς ὑπὸ τῶν τμημάτων περιεχομένῳ ὀρθογωνίῳ: „Wenn eine Strecke in beliebigem Verhältnis geteilt wird, ist das Quadrat auf der gesamten Strecke gleich den Quadraten auf den Segmenten zusammen mit zweimal dem von den Segmenten umfassten Rechteck“, algebraisch [mehr oder weniger: vgl. oben zur ‚geometrischen Algebra‘, speziell Anm. 36 mit Anm. 379] äquivalent zu (a+b)² = a² + 2ab + b²). Diese Proposition wäre hier entsprechend der Konstruktion der Linie zweimal auf das sich aus der ersten Anwendung der Proposition ergebende Diagramm angewendet; die philosophische Pointe in einem prinzipientheoretischen Rahmen wäre, dass sich die benannten Verhältnisse als zwei- (jedoch nicht ein-) dimensionale Größen schon durch die erste Teilung der Linie ergeben, mit offenkundigen Implikationen für die Funktion und Wirkweise des Prinzips der ‚Unbestimmten Zweiheit‘. Den Details kann hier nicht nachgegangen werden.

304 | Die Welt als Linie: Mathematische Modellierung im Liniengleichnis der Politeia Denkbares : Sichtbares :: Originale im Denkbaren : Abbilder im Denkbaren :: Originale im Sichtbaren : Abbilder im Sichtbaren.

Für die Länge der gesamten Linie gilt dabei ferner, dass sie (1+x)² bzw. a(1+x)² beträgt. Das Ergebnis zeigt allgemein und für das Beispiel x=3 (mit a=1) Abbildung 16. x² + x + x + 1 = (x + 1 )² = 16

x² + x = 12

x² = 9

x+1=4

x=3

x=3

1

Abb. 16: Die numerischen Relationen der Linie (mit x=3 und a=1)

Evident sind unbestimmt viele Lösungen möglich. Dies erscheint angesichts der Anweisung zu einer konkreten Konstruktion in R. 509d6–8 prima vista als merkwürdig, ebenso aus philosophischer Perspektive: Mit der Unbestimmtheit scheint sich keine philosophische Aussage zu verbinden. Freilich wäre es andererseits ebenso unplausibel, wenn Platon doch ein konkretes Verhältnis benannt hätte: Schließlich könnte es kaum sinnvoll sein, dass es zum Beispiel genau dreimal so viele Bilder der Formen wie Formen selbst gäbe oder, unter Berücksichtigung der parallelen epistemologischen Dimension, diese genau dreimal mehr als jene an der Wirklichkeit teilhätten. Damit scheint ein interpretatorisches Dilemma vorzulegen. Dies geht prima vista direkt auf den philosophischen Kern des Gleichnisses und mithin des verwendeten Modells zurück, nämlich seine mathematische Natur. Diese führt nicht nur zu fragwürdigen konkreten Konsequenzen wie der Längengleichheit der zwei mittleren Segmente, sondern auch zu einer Reihe von weiteren irritierenden Implikationen. Die mathematisierte Form des Gleichnisses, so ließe sich als Fazit ziehen, leistet nicht nur keinen eigenen Beitrag zum besseren Verständnis von Platons Ontologie und Epistemologie, sondern führt auch in schwerwiegende interpretatorische Probleme. Das Liniengleichnis als mathematisches Modell wäre in diesem Sinn als Fehlschlag zu werten. Platon erschiene in der Tat gewissermaßen als Wiedergänger des Philolaos. Die obige Analyse des Höhlen- und Sonnengleichnisses erweist das Gegenteil. Wie gesehen teilt das Liniengleichnis in direkter, expliziter Erweiterung des Sonnengleichnisses die Welt in Denk- und Wahrnehmbares und diese beiden Teile wiederum in zwei weitere Teile auf. Dabei herrscht eine exakte Korrespondenz zu den Verhältnissen in der Höhle. Zum einen entsprechen die zwei durch den ersten Schnitt erzeugten Segmente der Linie (als das Denkbare bzw. das Sichtbare = Wahrnehmbare identifiziert) dem gesamten Bereich außerhalb der Höhle bzw. dem gesamten Bereich innerhalb der Höhle; das eine dient als Original für die Abbildung durch das andere.

Die Mathematik der Linie | 305

Zum anderen haben alle vier durch den zweiten Schnitt erzeugten Subsegmente ebenfalls ein spezifisches Gegenstück im Höhlengleichnis: (a) die Formen korrespondieren mit den wirklichen Dingen außerhalb der Höhle und sind also als Originale im Denkbaren charakterisiert; (b) die mathematischen Gegenstände korrespondieren mit den Reflexionen im Wasser etc. außerhalb der Höhle und sind also als Abbildungen der Originale im Denken charakterisiert; (c) die natürlichen und künstlichen Dinge und Lebewesen der menschlichen Erfahrungswelt korrespondieren mit den künstlichen an der Wand entlang getragenen Gegenständen (aber eben auch den einen äquivalenten Seinsstatus besitzenden Gefangenen selbst, das heißt in ihrer körperlichen Dimension) innerhalb der Höhle und sind also zugleich als Abbildungen der Originale im Denkbaren als auch als Originale im Wahrnehmbaren charakterisiert; (d) die Schatten und Spiegelungen im wahrnehmbaren Bereich korrespondieren mit den Schatten an der Wand innerhalb der Höhle und sind also als Abbildungen der Originale im Wahrnehmbaren und also mittelbar als wahrnehmbare Abbildungen der Abbildungen der Originale im Denkbaren charakterisiert.53 Die Entsprechungen zeigt Abbildung 17.

|| 53 Auf den ersten Blick ist die letzte Gegenstandsklasse im Liniengleichnis auf Schatten und Spiegelungen eingeschränkt (R. 509d10–510a3: λέγω δὲ τὰς εἰκόνας πρῶτον μὲν τὰς σκιάς, ἔπειτα τὰ ἐν τοῖς ὕδασι φαντάσματα καὶ ἐν τοῖς ὅσα πυκνά τε καὶ λεῖα καὶ φανὰ συνέστηκεν, καὶ πᾶν τὸ τοιοῦτον, εἰ κατανοεῖς). Dies hat zu Kritik geführt, etwa bei Annas 1981, 248: „The lowest stage of the line, eikasia, is not a significant state in its own right. How much time do we spend looking at images and reflections, and how interesting is this?“ Tatsächlich verhält es sich jedoch anders: Einerseits sind im Höhlengleichnis die „Schatten“ das, was der Mensch in seinem gewöhnlich-natürlichen Zustand sieht (bzw. allgemeiner wahrnimmt; siehe oben, speziell mit Anm. 22). Andererseits wird prinzipiell jeder Körper, also auch der Verursacher jedweder Wahrnehmung, nach Platon von einer Fläche begrenzt (Men. 76a7: die Fläche als πέρας στερεοῦ), und diese Fläche wird von der Formulierung τὰ […] φαντάσματα καὶ ἐν τοῖς ὅσα πυκνά τε καὶ λεῖα καὶ φανὰ συνέστηκεν, καὶ πᾶν τὸ τοιοῦτον, εἰ κατανοεῖς prinzipiell mit umfasst – auch wenn uns Platon, wohl aus didaktischen Zwecken, durch die Exemplifizierung anhand spezieller, im Alltagsleben unbedeutender Fälle (‚Reflexionen im Wasser‘) zunächst auf die falsche Fährte lockt. So kann im Höhlengleichnis die Lokalisierung des Menschen in seinem natürlichen Zustand als Gefesselter in der Höhle (also die eigentliche, grundlegende condicio humana) um so effektvoller, da überraschender, und semantisch aufgeladener, da auf der vollständig entwickelten inhaltlichen Grundlage der vorherigen Gleichnisse, erfolgen (verräterisch ist im Rückblick die Formulierung πᾶν τὸ τοιοῦτον, εἰ κατανοεῖς). Abgesehen davon scheidet eine Trennung von gewöhnlicher Wahrnehmung und Spiegelungen hier schon deshalb aus, weil kein kategorialer Unterschied zwischen beidem besteht: Beim Sehen einer Spiegelung geschieht nach Platon exakt das, was auch beim gewöhnlichen Sehen geschieht, nur an einem wohldefinierten Ort: Allgemein treffen sich die Feuerstrahlen von Auge und Objekt in einem bestimmten Punkt, hier freilich speziell auf einer glatten Oberfläche (siehe insgesamt Ti. 45b2–46c6; vgl. unten Kap. 7.3 zur Sinneswahrnehmung im Timaios). So gibt das Liniengleichnis zwar keine konkrete (im Sinn von numerisch-exakte) Antwort auf die Frage, „what is the ratio in which the Line is successively divided“, doch ist eben andererseits nicht korrekt und übersieht sogar die zentrale philosophische Pointe, zu meinen, dass „it does not matter“ (Pritchard 1995, 96).

306 | Die Welt als Linie: Mathematische Modellierung im Liniengleichnis der Politeia

Die Sonne bewirkt

Das Gute bewirkt

GesehenWerden

Sehen

Denken

Wahrnehmbarer Bereich Werden und Meinung

GedachtWerden

Intelligibler Bereich Sein und Wissen

(4)

(3)

(2)

(1)

Bilder der physikalischen Objekte

Phys. Objekte

Mathematika

Formen

Eikasia

Pistis

Dianoia

Noesis

Schatten an der Wand

Objekte hinter Mauer

Reflexionen im Wasser

Reales

Abbildungen von Abbildungen (Abbildungen)

Abbildungen (Original)

Abbildungen

Original

Abb. 17: Die drei Gleichnisse im Liniengleichnis, in der ontologischen (fett), epistemologischen (kursiv) und modelltheoretischen (unterstrichen) Dimension

Im Ergebnis stellt sich der Zusammenhang der drei Gleichnisse untereinander dahingehend dar, dass das Denkbare des Liniengleichnisses die (dem Guten zugeordnete) Bedeutungsseite des Sonnengleichnisses sowie andererseits das Wahrnehmbare dessen (der Sonne zugeordnete) Bildseite expliziert und in einen größeren Zusammenhang (denkbarer und körperlicher Bereich in der jeweiligen Gesamtheit, das heißt zusammengenommen die gesamte Welt) aufnimmt, woraufhin in einem dritten, letzten Schritt das Höhlengleichnis die von der Linie repräsentierten Sachverhalte metaphorisch-bildhaft vor Augen führt (also als metaphor, die eine metaphor beinhaltet, die auf einem image beruht: siehe oben; die genauen Verhältnisse werden umfassend unten in Kap. 7.5 entfaltet). Wenngleich die drei Gleichnisse im Zuge dessen primär verschiedene Aspekte in den Vordergrund rücken und speziell das Höhlengleichnis mehr die ontologische und das Liniengleichnis mehr die epistemologische Dimension betont, macht dennoch das Liniengleichnis zugleich eine wichtige Aussage auch in ontologischer Hinsicht, welche gravierende Implikationen bezüglich der epistemologischen Dimension hat: Anders als das Höhlengleichnis, das ohne nähere Qualifizierung die einzelnen Gegenstandsklassen der Welt zuordnet, weist das Liniengleichnis diesen Gegenstandsklassen nicht nur ebenso ein spezifisches Segment der Linie zu, sondern es bestimmt für jedes Segment aufgrund der Konstruktion zugleich eine spezifische Länge, zwar nicht in absoluter quantitativ-numerischer, aber dennoch in relativer (proportionaler) qualitativ-quantitativer Weise. Im Ergebnis wird eine eindeutig bestimmte Proportionalität zwischen den Segmenten generiert, die in dieser Form weder im Höhlengleichnis noch im Sonnengleichnis abgebildet ist. Modelltheo-

Die Mathematik der Linie | 307

retisch: Während Sonnen- und Höhlengleichnis in dieser Hinsicht bloße images instituieren (und metaphorisierend zu philosophischen Zwecken nutzen), gibt sich das Liniengleichnis sogleich auf den ersten Blick als auf einem mathematischen diagram beruhend zu erkennen.54 Insofern für den explizierten Bildgehalt der drei Gleichnisse auf der Inhaltsseite der (ikonisch-modellhafte) Gegensatz von Original und Abbild konstitutiv ist und dieser bei Platon den Gegensatz von ‚einem‘ Original zu ‚unbestimmt vielen‘ Abbildungen impliziert, ist transparent, dass die quantitative Bestimmung der relativen Längen der Segmente intendiert mit dem jeweiligen Umfang der den Segmenten zugeordneten Gegenstandsklassen in Verbindung steht, mithin die Länge der Segmente als Repräsentation von deren relativem Umfang zu interpretieren ist, das heißt der Anzahl der Elemente in jeder kategorialen Menge. Diese Einsicht führt zu einem stimmigen Bild der quantitativen Relationen, die im Liniengleichnis direkt ablesbar ausgedrückt sind: Jeder einzelnen Form stehen (unabhängig davon, ob man die platonische Prinzipienlehre zugrunde legt oder nicht) unbestimmt viele körperliche Gegenstände gegenüber, und diesen stehen unbestimmt viele Abbilder als Wahrnehmungsinhalte gegenüber. Entsprechend ergibt sich sachlich das oben aufgefundene allgemeine Verhältnis zwischen den Liniensegmenten von (1, x, x, x²) bzw. von dessen Vielfachem (a, ax, ax, ax²) für den Fall, dass man die Gesamtheit der Formen als Menge mit Mächtigkeit a fasst (welche man selbstverständlich wiederum als Grundeinheit 1 bestimmen kann, so dass sich eine mathematisch-sachliche, relationale Äquivalenz zum ersten Quadrupel ergibt). Die spezifische Konstruktion der Linie ist einsichtig. Zugleich wird verständlich, warum die Verhältnisse zwischen den Segmenten zwar nicht numerisch, aber doch mathematisch in Form qualitativ-quantitativer Relationalität bestimmt ist: Das Liniengleichnis zeigt durch die mathematische und speziell geometrische und proportionentheoretische Formulierung, dass eines der beiden Elemente der jeweiligen Segmentpaarungen in Hinsicht auf seine Länge in unbestimmtem Verhältnis größer als das andere ist. Sachliche Grundlage ist die Original-Abbild-Relation, die zwischen den durch die jeweiligen Relata bezeichneten Gegenständen herrscht. Sie ist insbesondere für den Zusammenhang von Formen und körperlichen Dingen eine Grundgegebenheit in der platonischen Philosophie, denn es ist konstitutiv für die Form, ‚eine‘ zu sein und als solche im Gegensatz zu den ‚vielen‘ Einzeldingen zu stehen, welche die jeweilige Form ‚abbilden‘.55 Freilich ist ebenso evident, dass dieselben || 54 Die tatsächlichen Zusammenhänge stellen sich ein wenig komplexer dar, insbesondere weil sich das Sonnengleichnis schließlich ebenfalls als diagram erweist. Doch dieses Changieren zwischen diesen beiden Unterformen des icon ist ein wichtiger Aspekt der philosophischen, auf den Aspekt der Bildung ausgerichteten Pointe dieser Stelle: siehe die integrative Analyse unten in Kap. 7.5. 55 Einzelne Stellen für diesen Grundzug der platonischen Formenlehre anzuführen erübrigt sich. Man vergleiche aber (und diese Passage ist speziell als Teil der Politeia für das Liniengleichnis relevant) R. 595a–608c, insbesondere R. 595c–598d, sowie R. 476a5–8. Wie der spezifische Abbildungs-

308 | Die Welt als Linie: Mathematische Modellierung im Liniengleichnis der Politeia

Verhältnisse in Hinsicht auf die Relation zwischen diesen ‚vielen‘ Einzeldingen und ihren Repräsentationen in der menschlichen Wahrnehmung herrschen, ist doch die Wahrnehmung prinzipiell insbesondere perspektivenabhängig – und davon abgesehen schon ganz grundsätzlich wahrnehmungsmodusabhängig.56 Folglich gibt es jeweils unbestimmt viele Abbilder der objektiven Gegenstände der Wahrnehmung (den körperlichen Gegenständen), deren Menge selbst wiederum unbestimmt größer ist als die ihrer Entsprechungen im Denkbaren, der Formen. Wahrnehmungsinhalte sind also in doppelter Hinsicht gegenüber den Formen quantitativ dadurch charakterisiert, dass sie in unbestimmtem Verhältnis mehr sind. In entsprechender Weise eignet ihnen andererseits in geringerer Weise das Attribut der Wirklichkeit, der Klarheit und des Seins – jedenfalls dann, wenn ‚Wirklichkeit‘, ‚Klarheit‘ und ‚Sein‘ mittels des Paradigmas der Formen verstanden werden. Entscheidend ist aber, dass auch den Wahrnehmungsinhalten selbst, obgleich sie unbestimmt mehr sind als die jeweils sie hervorbringenden Gegenstände, das Attribut der ‚Einheit‘ eignet, sind sie doch jeweils, insofern sie in irgendeiner Weise existieren und erkennbar sind, ein einzelner (siehe oben). Den gesamten Sachverhalt zeigt Abbildung 18.

|| charakter zu verstehen ist, ist seit jeher in der Forschung umstritten; vgl. Patterson 1985 für einen Einblick in die Diskussion. Für den gegebenen Zusammenhang genügt der Umstand, dass sich die Abbildungsrelation aus den Gleichnissen und speziell dem Höhlengleichnis selbst ergibt, ebenso wie die Relation ‚Eines‘ – ‚Vieles‘. Was den Unterschied von Einzelgegenständen und Formen angeht, ist eine verbreitete Position, dass Erstere in einer ungefähren Weise an der Perfektion der Letzteren teilhaben (zwei gleiche Dinge sind ‚ungefähr‘ gleich). Ein alternatives Verständnis ist, dass die Unvollkommenheit der Einzelgegenstände allein in Hinsicht auf die spezifische Art und Weise besteht, wie sie gewisse Attribute besitzen, nicht in Hinsicht auf die Unvollkommenheit dieser Attribute selbst; siehe Nehamas 1999, 138–158, speziell 144: „When we say that particulars are only imperfectly F in comparison to the Form of F-ness, the imperfection belongs to the ‚being‘ rather to the ‚F‘ in ‚being F‘“. Konkret: „Whether sticks and stones appear to one person equal, to another person unequal; whether they appear equal to one thing, unequal to another thing; or whether they appear sometimes equal and sometimes unequal: none of these alternatives implies that their relative or temporary equality is only approximate“; kurz: „their imperfection […] consists in their being accidentally what the Forms are essentially“ (Nehamas 1999, 146 bzw. 154). Zum gesamten Problemkomplex vgl. unten Kap. 7. 56 Vgl. zur Modusabhängigkeit R. 530c9–d10 sowie die Entfaltung der Theorie der Sinneswahrnehmung im Timaios (siehe unten Kap. 7), zur Perspektivabhängigkeit exempli gratia die Behandlung der Wahrnehmung in Politeia X, speziell R. 597e–598d und R. 602c–d. Aus R. 598a–c ergibt sich, dass die in Politeia X behandelten Sachverhalte nicht nur die Dichtung, sondern auch die Wahrnehmung im Allgemeinen betreffen, nämlich als dasjenige, was die Dichtung als jeweils Erscheinendes ‚imitiert‘. Dichtung steht in diesem Sinne auf derselben ontologischen Stufe wie die Wahrnehmung selbst, nämlich als akustische Wahrnehmung; das heißt, sie produziert Wahrnehmungen durch Nachahmung der Erscheinungen, und zwar ausgehend von einer Abbildung (das heißt dem Einzelgegenstand) des wahren Seins (das heißt der Form). Lohnend, aber für den gegebenen Zusammenhang nicht notwendig wäre es, diese Zusammenhänge im Detail modelltheoretisch zu analysieren. Vgl. unten Anm. 117 und Anm. 777.

Die Mathematik der Linie | 309

Die Sonne bewirkt

Das Gute bewirkt GesehenWerden

Sehen

Denken

Wahrnehmbarer Bereich Werden und Meinung

GedachtWerden

Intelligibler Bereich Sein und Wissen

(4)

(3)

(2)

(1)

Bilder der physikalischen Objekte

Phys. Objekte

Mathematika

Formen

Eikasia

Pistis

Dianoia

Noesis

Schatten an der Wand

Objekte hinter Mauer

Reflexionen im Wasser

Reales

Abbildungen von Abbildungen (Abbildungen)

Abbildungen (Original)

Abbildungen

Original

VIEL VIEL

VIEL EINS

EINS VIEL

EINS EINS

Abb. 18: Die Linie und ihre qualitativ-quantitative Relationalität, in der ontologischen (fett), epistemologischen (kursiv), modelltheoretischen (unterstrichen) und quantitativen (Versalien) Dimension

Ohne dass dies methodologisch eine Vorbedingung der explizierten Deutung wäre, lässt sich der Sachverhalt kohärent im Rahmen der platonischen Prinzipienlehre in seiner philosophischen Pointe verstehen: Die Teilung der einen Ausgangslinie wird dadurch bewerkstelligt, dass in ihr mittels Applikation des Prinzips der ‚unbestimmten Zweiheit‘ (des wohlgemerkt ‚Großen und Kleinen‘, in welcher Bezeichnung sich ja die prinzipielle Ungleichheit der zwei in Einem umfassten Teile wesensmäßig ausdrückt, und zwar in quantitativer Hinsicht) zwei ungleich große Segmente erzeugt werden, die wiederum durch erneute Anwendung desselben Prinzips in jeweils zwei ungleich große Segmente geteilt werden. Dieses Verfahren weist im ersten Schritt dem Bereich des Denkbaren das Attribut der ‚Einheit‘ und dem Bereich des Körperlichen das Attribut der ‚unbestimmten Vielheit‘ zu, während im jeweils zweiten Schritt einem der Teilsegmente gleichfalls das Attribut der ‚Einheit‘ und dem anderen das Attribut der ‚unbestimmten Vielheit‘ zugewiesen werden.57 Im Ergebnis sind die For-

|| 57 Zwanglos folgt eine Erklärung für den oft als problematisch bewerteten Umstand, dass die Linie δίχα in zwei ungleiche Teile geteilt wird (vgl. oben Anm. 2): Das Adverb δίχα impliziert im Sinn von ‚entzwei‘ mathematisch eine exakte Gleichheit der zwei resultierenden Teile (siehe Mugler 1958, 146 f.: „Adv. indiquant que les deux parties d’une figure […], résultant d’une subdivision de cette figure, sont égales“; er postuliert an dieser Stelle einen „emploi archaïque“ [Mugler 1958, 415] und mit-

310 | Die Welt als Linie: Mathematische Modellierung im Liniengleichnis der Politeia

men ‚Einheiten‘ im Bereich der ‚Einheit‘, die mathematischen Gegenstände ‚unbestimmte Vielheiten‘ im Bereich der ‚Einheit‘, die empirischen Gegenstände ‚Einheiten‘ im Bereich der ‚unbestimmten Vielheiten‘ und die Wahrnehmungsinhalte ‚unbestimmte Vielheiten‘ im Bereich der ‚unbestimmten Vielheiten‘. Formal ergibt sich damit die oben mathematisch hergeleitete Gleichheit der zwei mittleren Liniensegmente auch in der philosophischen Dimension: Sowohl das zweite als auch das dritte Segment weist sowohl das Attribut der ‚Einheit‘ als auch das der ‚unbestimmten Vielheit‘ auf. Dies steht in Entsprechung zur oben vorgenommenen Explikation der semantischen Verhältnisse der in den drei Gleichnissen gegebenen metaphorischen Modelle. Entscheidend ist die Einsicht, dass, insofern im Höhlengleichnis der Gegensatz von Einem und Vielem mit dem Gegensatz von Original und Abbildung konvergiert, es sich sowohl bei den Spiegelungen im Wasser außerhalb der Höhle als auch bei den am Feuer entlanggetragenen Gegenständen innerhalb der Höhle gleichermaßen um direkte Abbildungen der als Originale fungierenden Formen handelt (die Gegenstände dieser Klassen in dieser Hinsicht also über eine identische Eigenschaft verfügen), im Gegensatz wohlgemerkt zu den Schatten an der Höhlenwand, die Abbildungen von Abbildungen sind (vgl. Abbildung 18). Dieses Ergebnis findet eine direkte und auf dieselben, in den Gleichnissen der Politeia im Bild ausgedrückten Zusammenhänge verweisende Bestätigung in einem notorischen, als problematisch geltenden Zeugnis bei Aristoteles zur Zwischenstellung der Gegenstände der Mathematik (μαθηματικά) zwischen den wahrnehmbaren, körperlichen Gegenständen und den Formen (Metaph. 987b14–18):58 || hin nicht-terminologischen Gebrauch; vgl. jedoch Men. 84e4–85a1), welche aber andererseits hier explizit als ungleich qualifiziert werden. Im Rahmen der Prinzipienlehre wäre eine solche Zweiteilung das natürliche Ergebnis, da das Prinzip der Zweiheit eben das Große-und-Kleine (μέγα καὶ μικρόν) ist und entsprechend (ansonsten läge ja in gewisser Hinsicht das Prinzip der Einheit vor) eine exakte Zweiteilung in zwei prinzipiell ungleiche Teile bewirkt; diese Ungleichheit kann sich geometrisch, da es sich um Linien handelt, euklidisch in nichts anderem als der Länge zeigen (vgl. oben mit Anm. 37). 58 Vgl. Metaph. 1028b30 f. Zur mutmaßlichen Zurückführung der Zwischenstellung der μαθηματικά auf diese Aristoteles-Stelle vgl. Krämer 1966, 53 und Martin 1953. Im Rahmen der explizierten Analyse ergibt sie sich aus der Sache selbst. Vgl. für weitere Stellen Ross 1953, 1, 166 (insgesamt 166–169) sowie Annas 1976, 19 Anm. 26; vgl. Gaiser 1968, 89–95 (weitere Stellen mit Diskussion 474–478. 490– 492. 537–540); für einen knappen Überblick zur Problematik siehe Annas 1976, 19–21. Der Text ist zitiert nach Primavesi 2012. Zur kontroversen Diskussion zur Stelle siehe Steel 2012b, 183–185 mit einem knappen Überblick (einschließlich paralleler Bezeugungen der Doktrin bei Aristoteles); siehe auch Boyle 1973 (mit weiterer Literatur: 3–6), Lafrance 1987, 235–246 (mit Bibliographie) sowie Horky 2013, 30–34. Im Übrigen ist auszuschließen, mit Horky 2013, 33 f. τὰ μαθηματικὰ τῶν πραγμάτων als eine Junktur zu verstehen, die auf die Gegenstände der Mathematik verweist, und diese Formulierung zugleich als problematisch zu sehen (33: „Part of the problem here is that the term τὰ μαθηματικὰ τῶν πραγμάτων […] is an Aristotelian construction that cannot be found anywhere in ancient philosophy outside Aristotle and his immediate associates“). Der Genitiv τῶν πραγμάτων gehört nicht nur aus inhaltlichen, sondern auch aus sprachlichen Gründen nicht zu τὰ μαθηματικά (der Genitiv müsste als partitiver Genitiv aufgefasst werden, doch auch dann wären τὰ μαθηματικά eine Klasse der πράγμα-

Die Mathematik der Linie | 311

ἔτι δὲ παρὰ τὰ αἰσθητὰ καὶ τὰ εἴδη τὰ μαθηματικὰ τῶν πραγμάτων εἶναί φησι μεταξύ, διαφέροντα τῶν μὲν αἰσθητῶν τῷ ἀΐδια καὶ ἀκίνητα εἶναι, τῶν δὲ εἰδῶν τῷ τὰ μὲν πόλλ’ ἄττα ὅμοια εἶναι τὸ δὲ εἶδος αὐτὸ ἓν ἕκαστον μόνον. Ferner sagt er [sc. Platon], dass abseits der wahrnehmbaren Dinge und der Formen die Gegenstände der Mathematik [τὰ μαθηματικά] eine Zwischenstellung innehätten; sie unterschieden sich von den wahrnehmbaren Dingen dadurch, dass sie ewig und unbeweglich seien, von den Formen dadurch, dass sie viele ähnliche Einzelgegenstände seien, während jede einzelne Form selbst einzig sei.

Platons mathematische Gegenstände seien weder mit den wahrnehmbaren, körperlichen Gegenständen gleichzusetzen noch handele es sich um Formen:59 Von den Letzteren unterschieden sie sich hinsichtlich des Gegensatzes ‚Eines‘ – ‚Vieles‘, von den ersteren aufgrund ihrer Ewigkeit und Unbeweglichkeit, und diese Differenz ist (implizit) äquivalent mit dem Unterschied zwischen Körperlichem und Intelligiblem.60

|| τα), sondern zu μεταξύ, das postpositiv verwendet (vgl. Aristoteles, APo. 84b12) von seinem Bezugswort durch dazwischentretende Verben getrennt ist, und zwar mit dem Zweck, das Wort μεταξύ am Satzende durch die Wortstellung hervorzuheben (vgl. sprachlich Aristoteles, LI 970b19 f.: ἔτι ἢ μηθὲν τῶν στιγμῶν ἔσται μεταξὺ ἢ γραμμή [„Ferner ist entweder nichts zwischen den Punkten oder eine Linie“]; vgl. allgemein Kühner & Gerth § 606, 7). Inhaltlicher Bezug des Wortes πράγματα sind vielmehr die durch τὰ αἰσθητά einerseits und τὰ εἴδη andererseits bezeichneten Gegenstandsklassen. Vgl. oben, speziell Anm. 31, Anm. 5138 und Anm. 5140. Man beachte Ross 1953, 166–169, insbesondere in Hinblick auf das Liniengleichnis; für ihn ist ein Grund für die Ablehnung der Zwischenstellung der mathematischen Gegenstände – die wohlgemerkt nicht nur für diese Stelle explizit eingeräumt wird: „There are passages in more than one dialogue which, if taken strictly, imply the existence of ‚intermediates‘ of the sort here described“ (167) –, dass „it would not be in his [sc. Platons] manner to introduce the new doctrine with so little indication of its novelty and so little attempt to indicate its meaning“ (168). Dieser Einwand überzeugt aus mehreren Gründen nicht: Erstens wäre dies durchaus nach Platons Art. Zweitens wird die Lehre in der Tat im Bild im Höhlengleichnis eingeführt, und zwar unter Zuweisung der auch von Aristoteles bezeugten Charakteristika der mathematischen Gegenstände. Drittens wird die Mathematik auch im Detail im Liniengleichnis erläutert und ausdrücklich als separater und spezifischer Bereich der Seele (Dianoia) bestimmt, unter expliziter Herausstellung der Gegenstände der Mathematik als einer eigenen Gegenstandsklasse. Das traditionelle (auch bei Ross angeführte: 168) Verständnis der zum Beleg des Gegenteils angeführten Stelle R. 510c1–511a2 ist sprachlich und inhaltlich nicht haltbar: siehe die detaillierte Analyse unten Kap. 6.5. Auch allgemein ist nicht plausibel, Aristoteles’ Zeugnis in dieser Hinsicht anzuzweifeln; vgl. pointiert Bostock 2009, 11 Anm. 8: „The claim is repeated in chapter 1 of his Metaphysics, book M, where he also describes how other members of Plato’s Academy reacted to this idea. He cannot just be making this up.“ 59 Vgl. Martin 1953; anders zum Beispiel Jackson 1881, 138, Cook Wilson 1904, 259, Cornford 1932, 38 f., Ross 1951, 58–67, Karasmanis 1988, 155–157, Krämer 1997, 193 f., Mittelstraß 1997, 240–244 und Burnyeat 2000, 34; vgl. in ähnlichem Sinn auch Ferguson 1963, 188 („our incorrect and incomplete representation of the idea“). Doch siehe hiergegen schon Brentlinger 1963, 156–159. Die (in diesem Sinn vorgenommene) Identifikation von Gegenständen des zweiten Liniensegments und μαθηματικά ist „the traditional nineteenth century view“ (Boyle 1973, 8 f.). Siehe auch Halper 2005. 60 Allein aus dem Gegensatz von ‚Einem‘ und ‚Vielem‘ ergibt sich, dass die mathematischen Gegenstände nicht ‚perfekte Instanzen‘ der dazugehörigen Form und also weniger ‚wirklich‘ sind (siehe et-

312 | Die Welt als Linie: Mathematische Modellierung im Liniengleichnis der Politeia

In Aristoteles’ Beschreibung zeigen sich diejenigen Proportionenverhältnisse, die dem Liniengleichnis (in den Begrifflichkeiten des Höhlengleichnisses) zugrunde liegen: Zu einer Form gehören unbestimmt viele μαθηματικά (als Spiegelungen im Wasser außerhalb der Höhle), und diese unterscheiden sich von den Dingen der werdenden Welt (den am Feuer entlanggetragenen Gegenständen innerhalb der Höhle) nicht durch den Umfang der durch sie gebildeten Klasse, sondern durch ihren Seinsstatus, nämlich als intelligible (seiende, außerhalb der Höhle befindliche) Gegenstände gegenüber körperlichen (werdenden, innerhalb der Höhle befindlichen) Gegenständen. Dieser Seinsstatus verbindet sie jedoch andererseits zugleich mit den Formen. In diesem Sinn lässt sich – wird das Beschreibungswerkzeug der platonischen Prinzipienlehre zur Verdeutlichung herangezogen – erkennen, dass die Formen durch Einheit charakterisiert sind; die mathematischen Gegenstände primär zwar ebenfalls durch Einheit, sekundär aber durch Zweiheit (Vielheit); und die körperlichen Gegenstände primär durch Zweiheit (Vielheit) und sekundär durch Einheit. Bei Aristoteles zeigen sich in Entsprechung zu den so weit aus den Gleichnissen gewonnenen Einsichten drei fundamentale Gegenstandsklassen, zu denen sich dann zusätzlich die Wahrnehmungsinhalte als vierte Klasse ergänzen lassen; diese werden freilich aus naheliegenden Gründen von Aristoteles hier nicht genannt, denn sie sind im primären Kontext irrelevant und haben auch keinen unabhängigen Seinsstatus eigenen Rechts. Die angeführten Gegenstandsklassen zeichnen sich durch eine unterschiedliche Kombination der Anwendung der zwei fundamentalen Prinzipien aus. Im Fall der von den zwei mittleren Liniensegmenten repräsentierten Klassen liegt eine umgekehrte Anwendung der (offenkundig nicht kommutativen) Prinzipien vor; hieraus resultieren essentielle ontologische Unterschiede,61 die mit den bisher erzielten Resultaten konvergieren. Diese Unterschiede werden im Modell der Linie transparent: Durch die erste Teilung sind die mathematischen Gegenstände zuerst einmal Gegenstände der Einheit (sind also intelligibel und ewig etc.), und sie werden erst in der zweiten Teilung zu ‚Vielheiten‘; die physikalischen Gegenstände sind durch die erste Teilung zuerst einmal Gegenstände der Vielheit (sind also körperlich-wahrnehmbar und vergänglich etc.) und werden erst in der zweiten Teilung zu ‚Einheiten‘. Welche philosophischen Implikationen sich für das Verständnis von Platons Position zur mathematischen Modellierung ergeben, wird sich im weiteren Verlauf der

|| wa Smith 1981, 131 gegen Adam 1902, 2, 64); hieraus ergibt sich folglich kein Gegenargument gegen die Annahme ihrer Zwischenstellung zwischen den Formen und den physikalischen Gegenständen. Aus ihrer Eigenschaft als Kopie wiederum folgt, dass es sich nicht um λόγοι von den Formen handeln kann (so Gallop 1965), denn diese sind jenen nicht ‚ähnlich‘. Schließlich folgt aus dem Umstand, dass die Gegenstände der Dianoia ‚Reflexionen‘ und mithin Abbilder der Formen sind (siehe etwa Smith 1981), nicht, dass es sich selbst um Formen handeln muss (ganz im Gegenteil). 61 Daher ist in der Semantik des Höhlengleichnisses der Unterschied vom zweiten und dritten Zustand „not necessarily on balance either an advance or a retreat; the change from fire to sun is an improvement but from solid to shadow a decline“ (Murphy 1951, 161 f.).

Die Mathematik der Linie | 313

Studie zeigen. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass die inhaltliche Konvergenz des Aristoteles-Zeugnis mit dem Liniengleichnis erweist, dass Aristoteles’ Beschreibung des (ontologischen) Orts von Platons μαθηματικά einschließlich ihrer Wesensbestimmung so weit als korrekt einzuschätzen ist.62 Die vorgeschlagene Deutung findet eine Stütze darin, dass auch im AristotelesZeugnis die mathematischen Objekte nicht mit den Formen identisch sind.63 Die Gegenstände der Mathematik sind nicht etwa ‚der‘ Kreis (also die platonische Form), sondern ‚ein‘ Kreis, und zwar nicht ein ‚körperlicher‘, empirisch realisierter Kreis, sondern ein abstrakter Kreis, der einerseits eine Abbildung der ‚Form‘ des Kreises ist, sich aber durch das Attribut der Vielheit gegenüber dem Attribut der Einheit auszeichnet, wenngleich nicht in einer qua Kreis essentiellen, sondern nur akzidentellen Weise. All dies ist der Fall für gerade diejenigen Kreise, die uns in der Mathematik euklidischen Typs als Modell des abstrakten Gegenstands der mathematischen Theorie in Form von Diagrammen und ihren Teilen begegnen: Dasselbe mathematische Objekt (‚der‘ Kreis) kann in Form zahlreicher Submodelle im Gesamtmodell (= Diagramm) realisiert sein (etwa die Kreise ΒΓΔ und ΑΓΕ in Euklid, Elem. 1, 1: siehe oben Kap. 3); diese (Sub-) Modelle besitzen aber vollständig und umfassend die relevanten Eigenschaften des mathematischen Objekts an sich, verfügen jedoch essentiell nicht über diejenigen Eigenschaften, die die Manifestation des Modells im Bereich des ‚Körperlichen‘ (das ‚gezeichnete‘ Diagramm) hinzufügt (das heißt qua icon zeigt). Das mathematische Diagramm euklidischen Typs erlaubt, über die universellen, aber spezifisch in eindeutiger Weise determinierten mathematischen Relationen zu sprechen || 62 Zumindest der Politeia nach zu urteilen. Dies wurde oft bezweifelt bzw. als nicht relevant für die Deutung des Liniengleichnisses beurteilt: vgl. Jackson 1881, 141, Krämer 1997, 193 f. und Mittelstraß 1997, 244; siehe auch oben Anm. 58 und unten Kap. 6.5. 63 Dies ist ein auch anderswo bei Aristoteles bezeugtes Charakteristikum der platonischen Konzeption von Mathematik; siehe, auch im Kontrast zu Aristoteles’ eigener Position, Annas 1976, 26–41, ferner Burnyeat 1987 und Modrak 1989; vgl. Katz 2012; zu Aristoteles’ Philosophie der Mathematik in Hinsicht auf deren Objekte siehe Mueller 1970, Lear 1982, Detel 1993, 1, 189–232, Hussey 1991, Bostock 2009, 1–32, Pettigrew 2009, Katz 2014, Humphreys 2017 und Katz 2018. Siehe Frede 2004, 35 für eine konzise Zusammenfassung der Unterschiede: „For Aristotle, very roughly speaking, there only are numbers and magnitudes because there are physical objects which come in numbers of a kind of object and in sizes. They thus presuppose physical objects. But given that mathematical objects constitute a domain with principles of its own, they can be studied independently of the objects of physics.“ Im letzten Punkt unterscheidet sich Aristoteles’ Position ebenso von der pythagoreischen Position; als solche ist sie eben (wie sich auch in der Diskussion bei Katz 2014 zeigt) post-platonisch; vgl. Detels 1993, 1, 207 Zusammenfassung eines der von Aristoteles vorgebrachten Argumente gegen Platons Philosophie der Mathematik: „Wenn die metaxy-Doktrin wahr ist, dann kann man, aufgrund der strikten Trennung von wahrnehmbaren und mathematischen Dingen, wahrnehmbare Dinge nur als physikalische ansehen. Aber dann bleibt der Gegenstandsbereich vor allem der angewandten mathematischen Wissenschaften unklar, denn sie richten sich doch wohl nicht auf wahrnehmbare Dinge als physikalische.“ Lohnend wäre, Aristoteles’ Position ausgehend von der hier erarbeiteten Perspektive auf Platon und Euklid neu zu untersuchen; dies kann hier nicht geleistet werden.

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und über sie nachzudenken. Dass genau dies nicht nur Euklids Praxis entsprach, sondern auch Platon zufolge in der Mathematik der Fall war und die Gegenstände der Mathematik gemäß den Gleichnissen paradigmatisch in eben diesen durch das Diagramm gegebenen mathematischen Modellen bestanden, wird sich im nächsten Abschnitt im Detail erweisen und die so weit erzielten Ergebnisse weiter bestätigen. Um ein Zwischenfazit zu ziehen: Der in diesem Abschnitt entwickelte mathematische Blick auf das Liniengleichnis hat gezeigt, dass wesentliche von der Forschung gesehene Schwierigkeiten des Liniengleichnisses in philosophisch stimmiger Weise gelöst werden können. Nicht nur hat sich erwiesen, dass zahlreiche Probleme, die die raumzeitliche Ausführung der Konstruktion der Linienteilung angehen, Scheinprobleme sind, insofern es sich eben um eine mathematische Linie handelt. Es hat sich ebenfalls und wichtiger gezeigt, dass die als problematisch geltende Gleichheit der zwei mittleren Segmente kein unbeabsichtigter Fehler ist, sondern einen wichtigen Zug der platonischen Formenlehre abbildet, nämlich die relative quantitative Relation zwischen den spezifischen Gegenstandsarten der gesamten platonischen Ontologie in Hinsicht auf die Original-Abbild-Relation. Speziell liegt ein Verweis auf das quantitative Verhältnis von ‚eins‘ zu ‚(unbestimmt) viel‘ vor, in Konvergenz mit der platonischen Prinzipienlehre – die selbst in der prima vista seltsamen Beschreibung der ‚Zweiteilung in ungleiche Teile‘, nämlich ein großes und ein kleines, bildlich, wenn auch versteckt abgebildet ist. In diesem Sinn erklärt sich schließlich die quantitative Unbestimmtheit der Länge der Linie und ihrer Segmente als Konsequenz aus dem zugrundeliegenden philosophischen Sachverhalt. Ein spezifisches Verhältnis (etwa der Goldene Schnitt)64 oder eine absolute Länge (außerhalb deren ein anderes Maß existiert, etwa eine Primzahl)65 hat nicht nur keine Grundlage im Text, sondern hätte auch die Aussage des Gleichnisses zerstört und wäre sachlich ohne Pointe. Die mathematisch-quantitative Ausgestaltung des Proportionensystems des Modells Liniengleichnis – das die Semantik aller drei Gleichnisse in einem einzigen Bild zu komprimieren vermag: vgl. Abbildung 18 – transportiert eine zentrale philosophische Aussage, die essentielle Charakteristika der Beschaffenheit der Welt und ihrer Teile mitsamt der Möglichkeit ihrer Erkenntnis offenlegt. Speziell in Hinsicht auf Theorie und Praxis der mathematischen Modellierung bei Platon ergibt sich das folgende Ergebnis: Platon hat zumindest mit der Linie in der Tat mathematische Modelle zum Ausdruck seiner Philosophie eingesetzt, und zwar speziell, um den relationalen Charakter der involvierten Gegenstände diagrammatisch in exakter Weise aufzuzeigen. Insofern der semiotische Gegenstand der Linie (und zugleich der anderen Gleichnisse) die gesamte Welt ist, ist diese mathematische Relationalität eine essentielle Eigenschaft der Welt. Schließlich erweist sich Platons

|| 64 Siehe Pomeroy 1971, 389 f., Des Jardins 1976, Dreher 1990, Vuillemin 1991 und Zhmud 1998, 243; zu einer Kritik auf anderer Grundlage siehe Balashov 1994. 65 Des Jardins 1976, 485 f.

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Konstruktion und Gebrauch des mathematischen Modells der Linie als sachgemäß in mathematischer Hinsicht, zumindest zeigt sich kein Grund zur Annahme, Platon seien mathematische Fehler und / oder Unachtsamkeiten unterlaufen. Ganz im Gegenteil erweist sich die von der Linie repräsentierte mathematische Relationalität als in philosophischer Hinsicht relevant und aussagekräftig – und diese Relationalität selbst hat einen Charakter, wie er uns in Euklids Elementen begegnet: Die Linie ist nicht eine partikulare, sondern eine universelle Linie, und die Teilungen werden nicht durch partikulare, sondern durch universelle Schnitte erzeugt. Dies steht in direktem Kontrast zu pythagoreischen mathematischen Modellen, wie sie sich bei Philolaos und Archytas zeigen oder für sie unterstellt werden müssen. Insofern ist die Linie ein Beispiel für denjenigen Charakter von mathematischen Objekten (Modellen und mithin Diagrammen), wie er sich aus Platons Explikation der Relationalität der Welt ergibt: Die Linie steht als mathematisches Modell zwischen den Gegenständen der körperlichen Welt und den Formen und besitzt als repräsentatives Meta-Modell mithin programmatisch eine ontologische Mittelstellung.

6.5 Die Linie zur Linie Im vorangehenden Abschnitt habe ich das mathematische Modell Liniengleichnis expliziert und im Rahmen einer Deutung der mathematisch-relationalen Eigenschaften des Modells im Zusammenhang mit den anderen beiden Gleichnissen gezeigt, dass die Linie sachadäquat fundamentale Grundzüge von Platons Philosophie repräsentiert, und zwar als ein, wenn auch dezidiert philosophisch interpretiertes, diagrammatisches Modell euklidischer Art. Ein wichtiges Ergebnis war, dass eine auffällige, bisher nicht verstandene und oftmals als grober Fehler beurteilte mathematische Eigenschaft der Linie entgegen dem ersten Eindruck philosophisch von hoher Relevanz ist, nämlich die Längengleichheit der beiden mittleren Segmente. Sie verbindet die Gegenstände des körperlichen Bereichs und die Gegenstände der Mathematik, und zwar in Hinsicht auf den Umfang der von ihnen gebildeten Gegenstandsklassen. Allerdings muss die philosophische Pointe dieser Position so weit noch als rätselhaft gelten. In diesem Abschnitt werde ich entsprechend den Sinn der Längengleichheit der mittleren Liniensegmente klären. Den Ausgang nimmt die Analyse von einer bisher ausgesparten, in der Forschung notorischen Passage im Liniengleichnis, in der Platon sein eigenes Verständnis des Segments des Denkbaren und seiner beiden Subsegmente expliziert, mithin eine eigene (Teil-) Interpretation des Liniengleichnisses vornimmt (R. 510b2–511c2). Platons Fokus liegt dabei auf einer genauen Differenzierung von Mathematik und Dialektik. Die Zielrichtung ist eine epistemologische, und die Explikation erfolgt in Hinsicht auf den Zustand der Seele und mithin die von ihr angewandte ‚Methode‘ im Prozess der Erkenntnis. Nachdem das vorangehende Kapitel Einblicke in die unmittelbare Praxis der mathematischen Modellierung bei Platon in einem philosophischen Kontext gegeben

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hat, stehen jetzt Einsichten zu Platons Theorie der mathematischen Modellierung an. Hieraus werden sich, insofern einerseits die Linie selbst ein mathematisches Modell ist und andererseits mathematische Modelle dem zweiten intelligiblen Liniensegment zugeordnet sind, in einem genuinen Rückkopplungsprozess Konsequenzen für unser Verständnis auch der Linie selbst ergeben. Dies betrifft insbesondere den epistemologischen Status derartiger mathematischer Modelle: Was genau ist der Grund dafür, so ist zu fragen, dass Platon sie (zumindest wie die Linie zur Darstellung zentraler Doktrinen) nutzt und für philosophisch wertvoll und zweckdienlich hält? Die Passage beginnt mit der allgemeinen, offenkundig intendiert kryptischen Beschreibung der spezifischen Art und Weise der Teilung des gesamten Segments des Denkbaren in zwei Teile (R. 510b2–8): Σκόπει δὴ αὖ καὶ τὴν τοῦ νοητοῦ τομὴν ᾗ τμητέον. – Πῇ; – ᾟ τὸ μὲν αὐτοῦ τοῖς τότε μιμηθεῖσιν ὡς εἰκόσιν χρωμένη ψυχὴ ζητεῖν ἀναγκάζεται ἐξ ὑποθέσεων, οὐκ ἐπ’ ἀρχὴν πορευομένη ἀλλ’ ἐπὶ τελευτήν, τὸ δ’ αὖ ἕτερον [τὸ] ἐπ’ ἀρχὴν ἀνυπόθετον ἐξ ὑποθέσεως ἰοῦσα καὶ ἄνευ τῶν περὶ ἐκεῖνο εἰκόνων, αὐτοῖς εἴδεσι δι’ αὐτῶν τὴν μέθοδον ποιουμένη. „Betrachte nun andererseits auch das Segment des Denkbaren in Hinsicht darauf, wie es zu segmentieren ist.“ – „Wie denn?“ – „Genau so, wie die Seele gezwungen ist, das eine von ihm auf der Grundlage von Setzungen [„Hypothesen“: ἐξ ὑποθέσεων] dadurch zu erforschen, dass sie die Abbildungen von eben als Bilder gebraucht und dabei nicht zum Anfang reist, sondern zum Ende; das andere wiederum dadurch, dass sie von einer Setzung aus zum voraussetzungslosen Anfang reist und ohne die Bilder über jenes mit den Formen selbst durch sie hindurch ihre Forschungsreise unternimmt.“

Die Dunkelheit der Beschreibung spiegelt sich in Glaukons Entgegnung, er habe noch nicht hinreichend verstanden, was Sokrates sagen wolle (R. 510b9).66 Gleichwohl lassen sich schon jetzt zwei Punkte festhalten, die für das Verständnis von Platons Differenzierung von Dialektik und Mathematik zentral sind: (1) Dialektik vollzieht eine Bewegung zum Guten als dem Anfang aller Erkenntnis und allen Seins, das heißt zur Sonne des Sonnen- und Höhlengleichnisses. Dieser Anfang ist ein absoluter, von nichts anderem abhängiger Anfang. Die von der Dialektik vollzogene Bewegung startet bei einer „Hypothesis“, was sich fürs Erste der grundlegenden Wortbedeutung entsprechend als (konkret verstandene) ‚Zugrundelegung‘ oder (mehr oder weniger äquivalent) als ‚Setzung‘ fassen lässt (zu diesem kontroversen Aspekt sogleich mehr);67 sie gelangt zum Guten systematisch dadurch, dass sie || 66 Zum Text siehe Slings 2005, 113. 67 Entsprechend der Grundbedeutung des Verbs ὑποτιθέναι von „place under“ (LSJ s. v.); dies entspricht der etymologisierenden Verwendung in R. 511b4 f.: τὰς ὑποθέσεις ποιούμενος οὐκ ἀρχὰς ἀλλὰ τῷ ὄντι ὑποθέσεις, οἷον ἐπιβάσεις τε καὶ ὁρμάς („die ‚Hypothesen‘ nicht Anfänge sein lassend, sondern tatsächlich ‚Zugrundelegungen‘ im Sinne von ‚Stufen‘ oder ‚Startpunkten‘“; die letzten beiden Wörter nehmen als Erklärungen einerseits die in der soeben angeführten Stelle und auch insgesamt im Liniengleichnis prominente Reisemetaphorik in der Beschreibung der Dialektik auf, verweisen an-

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ausschließlich mit den Formen mit Blick auf die Formen operiert, das heißt sowohl im Bereich des Intelligiblen als auch speziell im Bereich des ersten Liniensegments verbleibt. (2) Im letzten Punkt zeigt sich der essentielle Unterschied zwischen Dialektik und Mathematik, denn diese sei prinzipiell dazu gezwungen, ‚Hypothesen‘ (‚Setzungen‘) zu benutzen, um zu Erkenntnissen zu gelangen. Das Nutzen von ‚Hypothesen‘ wird explizit damit verbunden, dass Mathematik anders als Dialektik mit ‚Bildern‘ operiere; diese Bilder werden spezifisch bestimmt als diejenigen Bilder, ‚als (ὡς) welcher sie sich derjenigen Objekte, die damals durch Mimesis hergestellt worden sind (τοῖς τότε μιμηθεῖσιν), bedient (χρωμένη)‘.68 Wichtig ist, dass die fraglichen Objekte das Produkt der Mimesis sind, das Subjekt des Passivs also im Aktiv einem effizierten Akkusativobjekt äquivalent wäre, das vorliegende Partizip Passiv mithin effektiv die Bedeutung von μίμημα hat.69 Diese Deutung ist im Kontext auch deshalb angezeigt, weil das Adverb τότε direkt auf die unmittelbar vorangehende Differenzierung derjenigen Klassen von Objekten verweist, für die die beiden Subsegmente des das Wahrnehmbare repräsentierenden Liniensegments stehen, und hier konkret (in relationaler Parallelisierung von Intelligiblem und Körperlichem, entsprechend der Grundanlage des Liniengleichnisses) auf die mit (in derselben, freilich nicht von einem Deponens gebildeten, Passivkonstruktion mit äquivalenter Bedeutung) τὸ ὁμοιωθέν (R. 510a10) bezeichnete Klasse der als ähnliche Abbildungen hergestellten Objekte, im Gegensatz zu der durch τὸ ᾧ ὡμοιώθη (R. 510a10) bezeichneten Klasse der dazugehörigen Originale. Diese Klassen sind einerseits eindeutig mit ‚Bildern‘ identifiziert (R. 509d9– 510a3; sc. τὸ ὁμοιωθέν), andererseits mit den als Originalen hierzu dienenden Lebewesen, Pflanzen und künstlich hergestellten Gegenständen im Bereich des Körperlichen (R. 510a5 f.; sc. τὸ ᾧ ὡμοιώθη).

|| dererseits aber auch auf die in der Höhle implizierte Bewegung von unten nach oben; für diese braucht man außerhalb der Höhle ja in der Tat eine ‚Leiter‘ oder Ähnliches, befindet man sich doch dort auf dem ‚Boden‘ der ‚realen‘ Welt). 68 Zur Bedeutung der Junktur χρᾶσθαί τινι (ὥς) τινι siehe Kühner & Gerth § 425, 8: „sich eines Gegenstandes, gleichsam als Instruments, bedienen“; das ὡς ist, wie die Aufnahme der Formulierung wenig später zeigt, sprachlich nicht notwendig und mithin hier redundant. 69 Dass ein Deponens vor allem im Perfekt, aber auch im Aorist auch eine passive Bedeutung haben kann, ist unproblematisch; siehe allgemein Kühner & Gerth § 377, 4, insbesondere b, und vgl. speziell für μιμεῖσθαι Herodot 2, 78 und 2, 86 (beides Partizipien des Perfekts) sowie vor allem Lg. 668b6: μιμήσεως γὰρ ἦν, ὥς φαμεν, ὀρθότης, εἰ τὸ μιμηθὲν ὅσον τε καὶ οἷον ἦν ἀποτελοῖτο („Denn es lag ja, wie wir bekräftigen, die Korrektheit einer ‚Mimesis‘ dann vor, wenn das durch ‚Mimesis‘ Hergestellte in vollendeter Weise hergestellt wurde, soweit und wie es eben möglich war“; sachlich eindeutig fungiert das Partizip des Passivs hier als Gegenstück zu einem effizierten Akkusativobjekt in der aktivischen Konstruktion); vgl. die Diskussion der Mimesis in Politeia X (R. 595a–608c), wo die Gegenstände der Wahrnehmung und Dichtung als μιμήματα eigene, als solche unabhängig von ihren Originalen (sowohl im Körperlichen als auch im Intelligiblen) existierende Gegenstände sind. Anders Pritchard 1995, 92: „using as images those things which were then imitated“. Vgl. Yang 1999.

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Im Ergebnis werden die durch Mimesis hergestellten Gegenstände, das heißt die dem vierten Liniensegment zugeordneten ‚Bilder‘ und mithin, wie sich im Höhlengleichnis erwiesen hat, auf der Sachebene die menschlichen Wahrnehmungen, von der Mathematik „als Bilder“ behandelt (R. 510b4: τοῖς τότε μιμηθεῖσιν ὡς εἰκόσιν χρωμένη) und eben nicht als ‚Realität‘ (wie es eben andererseits die Höhlenbewohner für gewöhnlich tun).70 Dieser Umstand ist es, der die Mathematik „nicht an den Anfang, sondern an das Ende“ reisen lässt (R. 510b5 f.: οὐκ ἐπ’ ἀρχὴν πορευομένη ἀλλ’ ἐπὶ τελευτήν), nämlich konkret in den Begriffen des verwendeten Modells zu dem (in der räumlichen Parallelisierung mit der Höhle) ‚untersten‘, vierten Liniensegment. Spezifisch in diesem Gegensatz drücken sich das Wesen der Mathematik und ihre spezifische Differenz zur Dialektik aus, einschließlich des Umstands, dass sie „von Setzungen aus“ operiert.71 Ausgeschlossen ist damit die oft vorgebrachte Deutung, dass die ‚Setzungen‘ an dieser Stelle (von einem modernen Verstehenshorizont aus) in mathematisch-terminologischem Sinn als „(a) Begriffe, (b) Existenzsätze, (c) Definitionen“72 oder in logischem Sinn als „an assumption, something taken to be true or clear for purposes of an argument“ zu verstehen seien.73 Dies widerspräche insofern dem Text, als in ihm ausdrücklich von „Bildern“ die Rede ist, und diese haben kategorial nicht den Charakter logischer Prämissen (etc.). Davon abgesehen ist es an die-

|| 70 Man beachte R. 532a5–b2, wo in äquivalenter Beschreibung desselben Sachverhalts die unmissverständliche Formulierung ἄνευ πασῶν τῶν αἰσθήσεων (R. 532a6: „ohne jede Wahrnehmung(en)“) verwendet wird (und zwar im expliziten Gegensatz zu διὰ τοῦ λόγου [R. 532a6 f.: „vermittels des λόγος“], etymologisierend entsprechend dem Verb διαλέγεσθαι [R. 532a6]). Eine Wahrnehmung ist nicht das Wahrgenommene. 71 Die Reise führt nicht zu den Gegenständen des dritten Liniensegments; so zum Beispiel Adam 1902, 2, 66, Annas 1981, 248 („In CE the mind uses the contents of DC in turn as images“), Pritchard 1995, 92, Krämer 1997, 194 und Benson 2010, 195–198. Die Wörter ἀρχή (insbesondere angesichts von ἐπ’ ἀρχὴν ἀνυπόθετον) und τελευτή (nicht „conclusion“ wie zum Beispiel Boyle 1973, 5; auch nicht mit Benson 2010, 193 als „an answer to the question with which they began“; ähnlich von Fritz 1932, 160: „Lehrsätze als Feststellungen allgemein gültiger Relationen“; siehe insgesamt Lafrance 1994, 306 f.) sind im Kontext von Sonnen- und Liniengleichnis und ihrer jeweils spezifischen Semantik bildlich auf die vom Liniengleichnis repräsentierten Gegenstandsklassen (und also die entsprechenden Orte des Höhlengleichnisses) anzuwenden (anders etwa Lafrance 1994, 306 f.). 72 So die Gliederung bei Stahl 1956, 77 (siehe insgesamt 77–79); vgl. Netz 2003a, 297–300. Anders Mittelstraß 1965, 425; ihm zufolge seien „hier demnach gar keine Axiome verstanden, sondern eben jenes allzu selbstverständliche Sprechen von nicht-empirischen Gegenständen; und Platons Interesse bestünde mithin in diesem Zusammenhang allein darin, dieses Sprechen auf seine ungeklärten Voraussetzungen aufmerksam zu machen und selbst auf ein sicheres Fundament zu heben.“ Ähnlich Annas 1981, 274 f. Für einen Überblick zur Diskussion siehe Mittelstraß 1997, 236–243. 73 So Annas 1981, 277 als Wiedergabe des (sich anscheinend erst später herausbildenden) auf die Mathematik eingeengten Hypothesenbegriffs (vgl. Cornford 1932, 39–43). Damit dürfen wir auch nicht von einer Zweiteiligkeit einer etwaigen Kritik Platons ausgehen, insofern Mathematik „relies on visible diagrams, and it does not question its assumptions“ (Annas 1981, 278, insgesamt 277–279; vgl. insbesondere zum ersten Punkt Burnyeat 1987, Mueller 1992, 184–189 und Netz 2003a).

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ser Stelle Platons eigentlicher mathematiktheoretischer Punkt, dass es derartige Definitionen (etc.) zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der Regel ja eben nicht gibt (siehe unten). So ist aber schon sachlich von vornherein ausgeschlossen, dass die Mathematiker sie in ihrer (dann in diesem Sinn kritisierten) gewöhnlichen Praxis zu ‚Hypothesen‘ machen könnten, geschweige denn prinzipiell dazu „gezwungen“ wären. Die intendierte Dunkelheit der Ausführungen am Beginn der angeführten Passage nutzt Platon dazu, die Charakteristik der Mathematik vertieft zu behandeln. So antwortet Sokrates auf Glaukon, dass die folgenden Bemerkungen das Verständnis des Unterschieds von Mathematik und Dialektik erleichterten (R. 510c2–d3): οἶμαι γάρ σε εἰδέναι ὅτι οἱ περὶ τὰς γεωμετρίας τε καὶ λογισμοὺς καὶ τὰ τοιαῦτα πραγματευόμενοι, ὑποθέμενοι τό τε περιττὸν καὶ τὸ ἄρτιον καὶ τὰ σχήματα καὶ γωνιῶν τριττὰ εἴδη καὶ ἄλλα τούτων ἀδελφὰ καθ’ ἑκάστην μέθοδον, ταῦτα μὲν ὡς εἰδότες, ποιησάμενοι ὑποθέσεις αὐτά, οὐδένα λόγον οὔτε αὑτοῖς οὔτε ἄλλοις ἔτι ἀξιοῦσι περὶ αὐτῶν διδόναι ὡς παντὶ φανερῶν, ἐκ τούτων δ’ ἀρχόμενοι τὰ λοιπὰ ἤδη διεξιόντες τελευτῶσιν ὁμολογουμένως ἐπὶ τοῦτο οὗ ἂν ἐπὶ σκέψιν ὁρμήσωσι. „Ich glaube nämlich, dass du weißt, dass die Leute, die sich mit Geometrie, Berechnungen und derartigen Dingen beschäftigen, wenn sie das Ungerade und das Gerade, die Formen und die drei Arten der Winkel und andere hiermit verschwisterte Dinge in jeder Untersuchung zugrunde legen [= setzen], einerseits diese Dinge selbst so, als ob sie Wissen über sie hätten, zu ihren Setzungen machen und so keine Rechenschaft mehr weder sich selbst gegenüber noch anderen gegenüber über sie abzulegen für sinnvoll erachten, denn sie seien ja jedem offenbar, dass sie andererseits deshalb, weil sie von diesen Setzungen anfangend den Rest geradewegs durchgehen, im Konsens dort enden, zu dessen Erforschung sie sich aufgemacht hatten.“

Als charakteristisch für die Praxis der Mathematik gibt Sokrates an, dass man das Gerade und das Ungerade, geometrische Formen, die drei Formen des Winkels und alles Derartige so, als hätte man diesbezüglich Wissen, zugrunde lege, und zwar aus dem (subjektiven: ὡς) Grund, dass diese Dinge jedem offenbar seien. Diese Charakterisierung operiert (mindestens) in zwei Dimensionen: Zum einen verweist Platon mit λόγον […] διδόναι auf die Dialektik; hierdurch erhebt er implizit den Vorwurf, dass die zeitgenössischen (und dies meint wohl die außerakademischen) Mathematiker nicht zur Dialektik voranschreiten und insbesondere nicht die (platonisch verstanden) ‚Formen‘ der mathematischen Gegenstände erforschen.74 Die subjektive Einschätzung der Mathematiker, die Natur der mathematischen Gegenstände sei jedem offenbar, führt in diesem Sinne zu einem essentiellen Mangel an Wissen. Hieraus ergibt sich direkt Platons Forderung nach einer axiomatischen Grundlegung der Mathematik durch die Dialektik, wie in der Forschung seit jeher gesehen, wenn auch für die praktische Tätigkeit des Mathematikers euklidischen Typs als weniger relevant beur-

|| 74 In diesem Zusammenhang ist auch Euthd. 290b7–c6 zu verorten (siehe Hawtrey 1978 zur Stelle). Diese fügt sich in das oben zur Beschäftigung mit dem Problem der Würfelverdopplung sowie zu Eudoxos ‚Astronomie‘ erzielte Bild (siehe Kap. 5 und speziell Kap. 5.5).

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teilt.75 Die oben in Kap. 5.5 in Hinblick auf Eudoxos erzielten Erkenntnisse zur Bedeutung der direkt auf Platon zurückzuführenden mathematischen Definition etwa des ‚Kreises‘ als breitenloser Linie zeigen aber im Gegenteil, dass überhaupt erst hierdurch in der historischen Entwicklung aus einer rein deskriptiven ‚Sternenkunde‘ eine ‚mathematische‘ Astronomie wurde, ja: werden konnte. In diesem Sinn ist es nicht entscheidend, dass beliebige ‚Definitionen‘ oder eine irgendwie geartete ‚Systematisierung‘ vorgenommen wurde (auch wenn Derartiges tatsächlich gegebenenfalls bis in das frühe 5. Jh. v. Chr. zurückverfolgbar sein könnte), sondern dass zielgerichtet eine explizite definitorische Bestimmung derjenigen für das jeweilige allgemeine Objekt spezifischen relationalen Eigenschaften in einem umfassenden systematischen Zusammenhang erfolgte, die zum Zweck der Mathematik euklidischen Typs mittels der Analyse einer entsprechend intendiert konstruierten qualitativ-quantitativen relationalen Struktur, also eines ‚Diagramms‘, als wahrheitsfähiger Aussagen zum Zweck der allgemeinen theoretischen Erkenntnis expliziert werden konnten.76 Wie gesehen ist Wahrheitsfähigkeit in diesem Kontext speziell mit einer erschöpfenden Binarität in einem spezifischen Merkmalsraum verbunden. Dies bedeutet in der Umkehrung jedoch nicht, dass die von Platon angeführten ‚Hypothesen‘ selbst diese axiomatische Grundlegung der Mathematik wären. Im Gegenteil ist der Gebrauch von ‚Hypothesen‘ in Form von ‚Bildern‘ ein notwendiger Bestandteil der Praxis der Mathematik ‚von Anfang bis Ende‘ und könnte mithin auch nicht durch eine Axiomatisierung beseitigt werden. Platon bringt folglich keine Kritik an der gegenwärtigen Praxis der Mathematik vor, sondern benennt eine ihrer essentiellen, ja: zentralen und explizit notwendigen Eigenschaften.77 || 75 Vgl. oben Kap. 1, insbesondere mit Anm. 1110. Dies ist nach Platon freilich noch weniger Menschen möglich als die Mathematik selbst: siehe R. 531d6–e5 (insbesondere μάλα γέ τινες ὀλίγοι ὧν ἐντετύχηκα [R. 531e1 f.]). Insbesondere in diesem Zusammenhang wird klar, dass das gesamte Projekt ein spezifisch platonisches ist. Es gibt keinen im historischen Kontext hinreichenden Grund, etwa mit Morrow 1968, 18 (vor dem Hintergrund von Proklos’ Mathematikerkatalog) den Ausgang bei der eigenständig entwickelten Motivation der ‚Mathematiker‘ in einer logisch einwandfreien, systematischen Begründung der Mathematik zu sehen. Hieran hatte allem Anschein nach niemand ein Interesse, zumindest nicht bis zur Zeit des Eudoxos (das heißt folglich Platons): vgl. oben Kap. 5.5. 76 Der sachliche Grund für die Axiomatisierung ist also, dass man über die Erkenntnis des ‚Wesens‘ einer (zumindest mathematischen) Sache versteht, was ihre spezifische Relationalität ist; dies deckt sich mit der Beschreibung durch Aristoteles in de An. 402b16–403a2 (wo die Kenntnis des Wesens und der in den gegebenen Beispielen evident relationalen Eigenschaften in signifikanter Weise reziprok ist; hier ist im Übrigen nicht mit Waschkies 1995, 116–119 impliziert, dass sich Euklid, Elem. 1, 32 direkt aus den genannten Definitionen ableiten lasse, sondern es unterliegt ein Zusammenhang wie oben in Kap. 3 expliziert). In diesem Sinn darf auch nicht die sogenannte ‚Lehre vom Geraden und Ungeraden‘ als Anfang der Mathematik euklidischen Typs (nämlich in der ersten Hälfte des 5. Jhs. v. Chr.) gewertet werden (Becker 1936b; siehe auch Knorr 1975, 131–169). 77 Zur Notwendigkeit siehe speziell R. 511a4 f. (ὑποθέσεσι δ’ ἀναγκαζομένην ψυχὴν χρῆσθαι περὶ τὴν ζήτησιν αὐτοῦ: „dass die Seele unter Notwendigkeit ‚Hypotheseis‘ in seiner Erforschung verwenden muss“) und R. 510b5 (ψυχὴ ζητεῖν ἀναγκάζεται ἐξ ὑποθέσεων: „die Seele ist gezwungen, von ‚Hypo-

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Was Platon konkret im Sinn gehabt haben könnte, liegt angesichts der Formulierung, dass die Mathematiker die in Form von Bildern vorliegenden mathematischen Objekte als ‚Hypothesen‘ verwenden (R. 510c6: ποιησάμενοι ὑποθέσεις αὐτά, welche Formulierung an sich ja schon gegen die Hypothese spricht, dass es hier um eine Axiomatisierung gehe) vor dem Hintergrund der obigen Ergebnisse zur Praxis der euklidischen Mathematik nicht fern: Zugrunde gelegt ist in jeder mathematischen Proposition ein mathematisches Modell, nämlich als deren unabdingbare materiale Grundlage, wie sie (in der idealtypischen Form) in der Proposition selbst in Ekthesis und Kataskeue erzeugt wird.78 Die dieses Modell konstituierenden mathematischen Objekte sind in ihrer kompositionalen holistischen Gesamtheit der Startpunkt des Beweises (R. 510d1: ἐκ τούτων δ’ ἀρχόμενοι), denn sie erschaffen die spezifische mathematische Konfiguration, aus der sich durch statische Analyse der involvierten relationalen Eigenschaften (R. 510d1 f.: τὰ λοιπὰ ἤδη διεξιόντες) der eigentliche ‚Beweis‘ ergibt – der sich unter diesen materialen Randbedingungen selbstverständlich (im Idealfall) logisch notwendig, da analytisch entfaltet (R. 510d2: τελευτῶσιν ὁμολογουμένως), und zwar mit genau demjenigen zu Beginn in Form der Protasis (bzw. dem Dihorismos) formulierten Ergebnis, um dessentwillen das materiale Modell zweckgerichtet erzeugt worden ist (R. 510d2 f.: ἐπὶ τοῦτο οὗ ἂν ἐπὶ σκέψιν ὁρμήσωσι).79 Im Beispiel der oben in Kap. 3.2 analysierten Proposition Euklid, Elem. 1, 1 waren die ‚Setzungen‘ etwa spezifische ‚gerade Strecken‘, ohne die der gesamte Beweis undurchführbar und mithin unmöglich wäre: Woran man den Beweis der aufgestellten Protasis jeweils konkret vollziehen möchte, muss man prinzipiell als gegeben (oder ‚gesetzt‘) voraussetzen. Dieser Charakter des zugrunde gelegten Modells als (im Sinn || theseis‘ ausgehend zu forschen“), und zwar unabhängig von einer etwaigen dialektischen Klärung der mathematischen Begrifflichkeiten. Dass Platon hier die Mathematiker kritisiere, ist impliziert bei Annas 1981, 278 f.: „Plato is criticizing geometers for taking for granted various basic truths and key concepts just because they seem to be so clearly given in experience. A diagram of a geometrical demonstration makes it seem obvious in a way that Plato distrusts: the clarity is given to the senses rather than deriving from a rigorous process of thinking through the matter. But whereas geometry leaves its assumptions ungrounded because their truth seems to be clearly given in experience […].“ Vgl. von Fritz 1961, 618, der die Passage nicht als Kritik auffasst, sondern als Hinweis auf die Verschiedenheit der Aufgaben des Mathematikers und des Philosophen. 78 Als problematisch könnte erscheinen, dass Platon in der zitierten Passage in Bezug auf diese Objekte den Singular verwendet. Allerdings lässt sich dies damit erklären, dass die Mathematiker insofern etwa ‚das Quadrat‘ dem Beweis unterlegen, als aus Platons Sicht die erzeugten Quadrate in gewisser Hinsicht eben nichts anderes als dieses ‚Quadrat‘ selbst sind, nur eben, mit dem Höhlengleichnis gesprochen, als (vervielfachende) Spiegelung im Wasser (und damit ontologisch ähnlich, aber nicht identisch). Zudem bereitet Platon in der Dialogsituation natürlich den Weg zu einer Frage nach der Definition (τί ἐστιν;) eines mathematischen Objekts. 79 Das Verb ὑποτίθεσθαι (mit dem Passiv ὑποκεῖσθαι) wird in diesem Sinn von ‚voraussetzen‘ regulär in der Mathematik gebraucht (vgl. Mugler 1958, 443 f.); Entsprechendes gilt für das Nomen ‚Hypothesis‘ (ὑπόθεσις). Vgl. für das Verb, wobei gemäß der Sprechsituation in der Regel das Passiv Verwendung findet, Euklid, Elem. 1, 26; 1, 29; 1, 48 und passim, für das Nomen Euklid, Elem. 10, 44; 10, 47.

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Platons) ‚Setzung‘ drückt sich sprachlich bei Euklid dadurch regelhaft aus, dass zu diesem Zweck durchgängig der Imperativ der dritten Person im Präsens verwendet wird (etwa ἔστω in Euklid, Elem. 1, 1). Das so erzeugte Modell hat jedoch den Charakter einer, wenn auch materialen, Bedingung des Beweises; dieser zeigt sich wiederum darin, dass die (mathematische) Protasis von Theoremen bei Euklid in der Regel als ἐάν-Bedingungsgefüge formuliert ist, wobei die (grammatikalische) Protasis sachlich gerade dem materialen Modell, das die Grundlage des Beweises bildet, entspricht.80 Eine notorische Stelle, für die die Methode der ‚Hypothesis‘ relevant ist, ist die zweite mathematische Stelle im Menon; hier findet sich sowohl das Nomen ὑπόθεσις (Men. 86e3. 4; 87a2) als auch das Verb ὑποτίθεσθαι (Men. 84b3 f.). Platon stellt das ‚Hypothesis‘-Verfahren der Geometer explizit mit dem Zweck vor, es als Modell für die Diskussion der behandelten philosophischen Frage zu nutzen (Men. 86e4–87b2): λέγω δὲ τὸ ἐξ ὑποθέσεως ὧδε, ὥσπερ οἱ γεωμέτραι πολλάκις σκοποῦνται, ἐπειδάν τις ἔρηται αὐτούς, οἷον περὶ χωρίου, εἰ οἷόν τε ἐς τόνδε τὸν κύκλον τόδε τὸ χωρίον τρίγωνον ἐνταθῆναι, εἴποι ἄν τις ὅτι „Οὔπω οἶδα εἰ ἔστιν τοῦτο τοιοῦτον, ἀλλ’ ὥσπερ μέν τινα ὑπόθεσιν προὔργου οἶμαι ἔχειν πρὸς τὸ πρᾶγμα τοιάνδε· εἰ μέν ἐστιν τοῦτο τὸ χωρίον τοιοῦτον οἷον παρὰ τὴν δοθεῖσαν αὐτοῦ γραμμὴν παρατείναντα ἐλλείπειν τοιούτῳ χωρίῳ οἷον ἂν αὐτὸ τὸ παρατεταμένον ᾖ, ἄλλο

|| 80 Vgl. oben mit Anm. 343. Aus dieser Perspektive erscheint die Gleichsetzung von ‚Hypothesen‘ mit logischen Prämissen (oder ähnlichem) als Missverständnis, das daraus resultiert, dass die spätere, moderne logische Verfasstheit von Mathematik – man braucht hier nicht nur, aber instruktiv an Hilberts Geometrie zu denken – in der Rückschau in das hineingelesen wird, was Platon in kategorial anderem Zusammenhang meint. Das Missverständnis ließe sich auch direkt auf eine Fehlinterpretation von Platons Philosophie der Mathematik aus Aristoteles’ (speziell in den Zweiten Analytiken entfalteter) Perspektive zurückführen, denn hier gibt es die μαθηματικά als eigenständig existierende Gegenstände ja nicht, sondern diese sind bloße Abstraktionen im Ausgang von den physikalischen Dingen und folglich rein logisch konstituiert (vgl. oben mit Anm. 63). Diese Zusammenhänge können hier nicht entfaltet werden. Festzuhalten ist allerdings, dass von einer höheren (modernen) Warte aus beide Perspektiven äquivalent sind, werden die konkreten mathematischen Objekte als Setzungen doch auch bei Platon durch sprachliche Mittel generiert und sind also letztlich auf diese mittelbar reduzierbar (was aber vice versa ebenso gilt). Gleichwohl verdeckte eine solche Reduktion den eigentlichen Punkt Platons, der im Verweis auf die konkrete Natur der mathematischen Objekte besteht, die sich eben von der reinen Intelligibilität einer Form kategorial unterscheidet. Franklin 2011 deutet den Verweis auf die Hypothesis im Liniengleichnis im Übrigen in ähnlichem Sinn wie hier als äquivalent zu einer geometrischen Ekthesis. Sein Ergebnis ist, dass „hypothesis studies particulars without explicit reference to universal properties“ (336), wobei die ‚Hypothesis‘ nichtsdestoweniger im Rahmen einer „predication of mathematical properties – odd, even, square, acute – to geometric figures characterized by these properties“ (343) gesehen wird. Hier hingegen wird, entsprechend der obigen Explikation des mathematischen Diagramms (Franklins Studie basiert auf Netz 1999a), jedoch dafür argumentiert, dass auch ‚Hypotheseis‘ sich nicht mit dem partikularen Einzelding, sondern mit dem universellen Intelligiblen beschäftigen, und zwar letztlich (und in der kunst- und zielgerechten Verwendung) als ‚Reflexion der Form‘, und das wiederum heißt als inhärent mit einer bildlichen Repräsentation im Bereich des Körperlichen verbunden (anders Franklin 2011, 345 f.: „I envision a method for giving proofs closely resembling those found in […] Euclid’s Elements, without the universal principles – definitions, postulates and common notions – offered at the beginning of Euclid’s work“).

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τι συμβαίνειν μοι δοκεῖ, καὶ ἄλλο αὖ, εἰ ἀδύνατόν ἐστιν ταῦτα παθεῖν. ὑποθέμενος οὖν ἐθέλω εἰπεῖν σοι τὸ συμβαῖνον περὶ τῆς ἐντάσεως αὐτοῦ εἰς τὸν κύκλον, εἴτε ἀδύνατον εἴτε μή.“ „Ich meine mit ‚von einer Hypothesis aus‘ genau die Art und Weise, wie ja die Geometer oftmals ihre Untersuchungen anstellen, nämlich wenn jemand sie etwas fragt – etwa zu einer Fläche, ob es möglich sei, dass man in diesen Kreis hier diese Fläche hier einbeschreiben könne –, man das Folgende sagen könnte: ‚Ich weiß noch nicht, ob es möglich ist, diese in einen solchen einzubeschreiben, aber ich glaube, dass ich hier und jetzt eine zweckdienliche ‚Hypothesis‘ für dieses Problem habe, und zwar die folgende: Wenn diese Fläche so ist, dass sie, wenn man sie entlang der gegebenen Linie hier81 aufspannt, um eine solche Fläche kleiner ist, wie es das Aufgespannte selbst ist, scheint es mir das eine Ergebnis zu geben und ein anderes wiederum, wenn es unmöglich ist, dass es diese Eigenschaften hat. Mittels einer ‚Hypothesis‘ möchte ich dir jetzt das Ergebnis zum Einbeschreiben der Fläche in den Kreis nennen, und zwar ob es möglich ist oder nicht.‘“

Zwar können die vieldiskutierten mathematischen Aspekte des in dieser Passage angesprochenen Problems hier nicht behandelt oder gar gelöst werden.82 Der entscheidende Punkt ist gleichwohl transparent: Was Sokrates mit ‚Hypothesis‘ meint, ist ebenfalls ein mathematisches Modell, und dieses Modell ist nicht auf ein einzelnes mathematisches Objekt beschränkt, sondern ist ein kompositionales Modell aus diagrammatischen Atomen von bestimmter mathematischer relationaler Qualität, die zusammen eine für die Durchführung des Beweises für zweckdienlich gehaltene mathematische Situation darstellen, das heißt das ‚Diagramm‘. Es zeigt sich eine direkte Entsprechung zur mathematischen Praxis der Mathematik euklidischen Typs: Ausgehend von der mathematischen Aufgabe (Protasis), die bestimmte gegebene Objekte involviert (hier einen Kreis, eine Fläche und eine gegebene Linie, auf die jeweils deiktisch-zeigend verwiesen wird, die also wie in Men. || 81 Das Pronomen αὐτοῦ fungiert hier als Demonstrativpronomen des Ortes (vgl. Kühner & Gerth § 419, 2 a), in Entsprechung zu den anderen Demonstrativpronomina in dieser Passage; anders (und stellvertretend für die communis opinio) exempli gratia Mueller 1992, 177: „alongside its given line“; Klein 1965, 206: „its (autou) given line“; Heath 1921, 1, 299: „the given straight line in the circle [τὴν δοθεῖσαν αὐτοῦ γραμμήν, the given straight line in it, cannot, I think mean anything but the diameter of the circle]“. Das Verständnis als Possessivpronomen(-äquivalent) hat oft irritiert, insofern γραμμή bei Euklid weder im Sinn von Durchmesser des Kreises noch im Sinn von Seite einer rechtwinkligen Fläche verwendet wird; vgl. Mugler 1958, 105–107. Gemeint ist an dieser Stelle (ungeachtet der konkreten Identifizierung) ‚die‘ im Sinn von ‚einer‘ gegebenen (und dadurch determinierten und mithin in artikulierter Form angeführten) Linie, entsprechend dem festgestellten Sprachgebrauch in Hinsicht auf die für den Beweis ‚gegebenen‘ mathematischen Objekte (siehe oben Kap. 3.2, speziell mit Anm. 327). An dieser Stelle rührt die Verwendung der Demonstrativpronomina aus der Gesprächssituation her, in Entsprechung zur ersten mathematischen Menon-Stelle (82a7–85b7): vgl. oben Kap. 4. 82 Ein Überblick zur Literatur kann nicht gegeben werden: „A comprehensive review of every existing interpretation would run a monograph length“ (Lloyd 1992, 168); vgl. aber (in der Regel mit Referat und Diskussion vorangehender Ansätze) Cook Wilson 1903, Heath 1921, 1, 298–303, Brumbaugh 1954, 32–38, Heijboer 1955, Klein 1965, 206 f., Sternfelt & Zyskind 1977, Meyers 1988, Lloyd 1992, Mueller 1992, 177–180, Menn 2002, Wolfsdorf 2008, Franklin 2010 und Iwata 2015.

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82a7–85b7 im Prozess des Sprechens gezeichnet oder zumindest imaginiert werden) – welche also als materiale Bedingung des potentiell folgenden Beweises dienen83 –, wird der Versuch gestartet, in Form einer Kataskeue ein spezifisches Diagramm zu konstruieren, und zwar mit dem Ausblick darauf, wenn dies gelingt, eine Antwort zur zugrunde liegenden Frage zu erhalten, und zwar durch Analyse der relationalen Struktur des resultierenden Diagramms in seiner Endkonfiguration. Die mathematische Pointe der Passage ist also (parallel zur folgenden intendierten philosophischen Anwendung in Men. 87d–89a, die die relationalen Implikationen des in der Bedingung gegebenen philosophischen diagrammatischen Modells expliziert),84 ein heuristisches Mittel für die Lösung der mathematischen Aufgabe zu gewinnen. So verwundert nicht, dass sich die Menon-Stelle einer genauen Bestimmung des mathematischen Problems und seiner Lösung zu entziehen scheint.85 Das Zeichnen || 83 Hier lässt sich die reguläre Verwendung des Konditionalsatzes in der Protasis einer Proposition bei Euklid feststellen. Dass dabei εἰ anstatt ἐάν benutzt wird, ist evident kein Problem. Dasselbe gilt in Hinsicht darauf, dass eher ein ‚Problema‘ vorliegt als ein ‚Theorema‘, welches bei Euklid jedoch in der Regel in Form einer reinen Infinitivkonstruktion in der Protasis eingeführt wird. Wie gesehen fungieren sachlich auch in diesen Fällen einzelne mathematische Objekte (Submodelle) als materiale Bedingung der Möglichkeit der Konstruktion. Im Ergebnis ist also nicht adäquat, den εἰ-Satz als rein logische Bedingung zu deuten, zumal nicht im Sinn von auf das einzelne mathematische Objekt bezogenen ‚Definitionen‘ (etc.) und ebenso nicht im Sinn eines mathematischen ‚Dihorismos‘ (welcher im Übrigen etwas anderes als der oben beschriebene Teil der Proposition ist) oder einer sogenannten ‚Analysis‘; vgl. Heath 1921, 1, 303 aus mathematischer Perspektive sowie Heitsch 1977 und Wolfsdorf 2008 aus logischer Perspektive; instruktiv ist Mueller 1992, 177: „Plato does not use the words ‚lemma,‘ ‚dihorismos,‘ ‚analysis,‘ or ‚synthesis‘ in their technical sense, but in the Meno, he invokes as a procedural precedent a mathematical practice of setting out the conditions under which a problem can be solved.“ Ähnlich Knorr 1985, 135–137 und Menn 2002; vgl. Iwata 2015; Knorr (a. a. O.) verbindet diese Verwendung des ‚Dihorismos‘ mit der Methode der ἀπαγωγή, also der Zurückführung eines Problems auf ein anderes, mithin dem Vorgehen, das für Hippokrates in Hinsicht auf die Würfelverdopplung überliefert ist (vgl. Iwata 2015). Gegen eine inferentielle Deutung siehe auch Franklin 2010. 84 Für eine Analyse in philosophischer Hinsicht vor dem Hintergrund des geometrischen Beispiels siehe Franklin 2010; zur Stelle siehe auch Rose 1970 und vgl. Scott 2006, 129–144, Wolfsdorf 2008 und Ebrey 2013, auch Landry 2012. Siehe knapp Vlastos 1988, 379–383, insbesondere 380 zum Nutzen der Methode: „one would be shifting definitively out of peirastic into demonstrative argument, and hence aiming to achieve in moral inquiry the certainty achievable in mathematical proof“. 85 Die Unterbestimmtheit zeigt sich schon im rein deiktischen Verweis auf die involvierten Flächen, insbesondere die einzubeschreibende Fläche, zu denen sich eben keine Aussage zu ihrer spezifischen Form finden. Siehe für einen Überblick zur Unterbestimmtheit Lloyd 1992, 166–168; er sieht dieses Merkmal des geometrischen Beispiels als die philosophische Pointe, entgegen der vorherrschenden Meinung in der Forschungsliteratur, die die Probleme der Passage auf Platons Unfähigkeit als Mathematiker oder den noch nicht hinreichend entwickelten Zustand der Mathematik seiner Zeit zurückführt (siehe Lloyd 1992 insgesamt); ähnlich Klein 1965, 206 f., Iwata 2015, 10–16 und auch Hallich 2013, 136 f., jedoch dahingehend, dass die „Opakheit […] Menons Bedürfnis nach pseudo-wissenschaftlichen Erklärungen befriedigt, gleichzeitig aber deren Untauglichkeit dargestellt werden soll“ (137); dies kann angesichts des weiteren Verlaufs des Gesprächs (und Men. 82a7–85b7) nicht überzeugen. Zur Unterbestimmtheit siehe auch Sternfelt & Zyskind 1977, 206 f. Relevant ist, dass die com-

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des Diagramms bis zum beschriebenen Punkt führt primär nur zum Aufzeigen einer möglichen Basis der Lösung für das Problem des Einbeschreibens der gegebenen Fläche in den gegebenen Kreis, für die dann verschiedene, nicht von vornherein determinierte aktuale Lösungen möglich wären (beides mutatis mutandis in Entsprechung zu Platons Lösung der Würfelverdopplung: vgl. Kap. 5.3). Oder es könnte sich gegebenenfalls ebenso gut – wie es ja wohl auch der Regelfall in der mathematischen Forschung gewesen sein dürfte – gar keine aktuale Lösung auf der Grundlage des spezifischen Diagramms ergeben. Zumindest ist dies (jedenfalls an der Oberfläche des Dialogs) für das nach dem mathematischen Muster erstellte ‚philosophische Diagramm‘ bezüglich der Tugend (ἀρετή) festzustellen, wie sich im weiteren Verlauf der Diskussion zeigt (Men. 89c–e, gefolgt von einer Begründung). Insofern könnten die Schwierigkeiten bezüglich der mathematischen Rekonstruktion der angeführten Stelle in der Tat eine Implikaton aus Platons (versteckten, aber signifikanten) Gründen für die Benutzung gerade dieses geometrischen Beispiels sein: Das Scheitern der philosophischen Bemühungen ist prägnant vorweggenommen im (wenn auch um der Pointe willen nicht aktual ausgeführten) Scheitern der mathematischen Bemühungen, sei es nur durch den Umstand, dass das Diagramm unterdeterminiert ist und das entscheidende Submodell analog zum philosophischen Problem noch ergänzt werden muss. Auch der Fortgang des Gesprächs zwischen Sokrates und Glaukon in der Politeia erweist die Adäquatheit des explizierten Verständnisses von ‚Setzungen‘ im Sinne eines relationalen ‚Diagramms‘. So erklärt Sokrates, nach dem eben diskutierten allgemeinen Hinweis dazu, dass ‚Setzungen‘ in der Mathematik notwendig seien, darauf aufbauend, was diese ‚Setzungen‘ in ontologischer Hinsicht seien (R. 510d5–511a2): [1] Οὐκοῦν καὶ ὅτι τοῖς ὁρωμένοις εἴδεσι προσχρῶνται καὶ τοὺς λόγους περὶ αὐτῶν ποιοῦνται, [2] οὐ περὶ τούτων διανοούμενοι, ἀλλ’ ἐκείνων πέρι οἷς ταῦτα ἔοικε, τοῦ τετραγώνου αὐτοῦ ἕνεκα τοὺς λόγους ποιούμενοι καὶ διαμέτρου αὐτῆς, [3] ἀλλ’ οὐ ταύτης ἣν γράφουσιν, καὶ τἆλλ’ οὕτως, αὐτὰ μὲν ταῦτα ἃ πλάττουσί τε καὶ γράφουσιν, [4] ὧν καὶ σκιαὶ καὶ ἐν ὕδασιν εἰκόνες εἰσίν, τούτοις μὲν ὡς εἰκόσιν αὖ χρώμενοι, ζητοῦντές τε αὐτὰ ἐκεῖνα ἰδεῖν ἃ οὐκ ἂν ἄλλως ἴδοι τις ἢ τῇ διανοίᾳ.

Wenngleich Platons Erklärung den Sachverhalt sehr komprimiert wiedergibt und sich auf den ersten Blick in verwirrender Weise auf insgesamt drei (und potentiell vier, wenn man die nicht explizit genannten Formen einbezieht) verschiedene ontologische Stufen ohne Zuhilfenahme strenger Terminologie bezieht, zeigt sich vor dem Hintergrund der Ergebnisse so weit die Möglichkeit eines transparenten Verständnis-

|| munis opinio das mathematische Problem bei allen Unterschieden der Rekonstruktion im Bereich der (späteren Theorie der) Kegelschnitte verortet (siehe für einen Überblick Iwata 2015, speziell 2–6). Für diese Theorie ist der erste fassbare (Proto-) Beleg die vom Eudoxos-Schüler (und möglicherweise, gegebenenfalls temporären, Akademie-Mitglied) Menaichmos vorgeschlagene Lösung der Würfelverdopplung (vgl. oben Kap. 5.3; siehe auch Proklos, in Euc. p. 111, 20–23). Dies erhärtet die Datierung des Menon in (grob) die 350er Jahre v. Chr. (siehe oben Kap. 4, speziell Anm. 42).

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ses. Dies erweist eine lineare Analyse des Satzes, gegliedert nach seinen (entsprechend im obigen Zitat markierten) Sinneinheiten: (1) So wie Glaukon wisse, dass die Mathematiker ‚Setzungen‘ benutzen, so wisse er auch (wie aus R. 510c2 zu ergänzen ist), dass sie sich zusätzlich (sc. zu den ‚Setzungen‘) auch „gesehener Form“ bedienten (R. 510d5: τοῖς ὁρωμένοις εἴδεσι προσχρῶνται) und ihre Argumentation mit Bezug auf diese führten (R. 510d5 f.: καὶ τοὺς λόγους περὶ αὐτῶν ποιοῦνται), das heißt, wie gesehen, den mathematischen Beweis nach dem Muster einer Proposition euklidischen Typs vollziehen. Hiermit verweist Sokrates auf seine Äußerung in R. 510b4–8 zurück, die Glaukon in ihrer komprimierten Form nicht verstanden hatte (R. 510b9). Daher sind die ‚gesehenen Formen‘ mit den in der Sinneswahrnehmung gegebenen Bildern der empirischen Welt zu identifizieren, mithin mit den durch das vierte Liniensegment repräsentierten Objekten. Der entscheidende Punkt ist, dass diese ‚gesehenen Formen‘ unmittelbar mit den ‚Setzungen‘ verbunden sind, wenngleich in diesem Zug zugleich ein neuer Aspekt angesprochen wird: Das ‚Gesetzte‘ scheint deshalb jedem in seiner Natur „offenbar“ zu sein, weil es ja offenbar „offenbar“ ist, nämlich als Gesehenes (allgemeiner Wahrgenommenes). Platon bezieht sich auf die Evidenz der Inhalte der Sinneswahrnehmung. (2) Gleichwohl sei es der Fall (hier kommt die hierarchische Strukturierung der Welt ins Spiel), dass die Mathematiker sich zwar vordergründig ausschließlich auf die ‚gesehenen Formen‘ beziehen (schließlich redeten sie von diesen im Rahmen ihrer Praxis), dass sie sich aber in der ‚Dianoia‘ (und damit ihrem explizit der Mathematik zugeordneten Teil des Denkens) tatsächlich nicht mit diesen um ihrer selbst willen beschäftigten (R. 510d6 f.: οὐ περὶ τούτων διανοούμενοι). Vielmehr befassen sie sich mit der Dianoia in ihren Ausführungen mit denjenigen Gegenständen, die diesen Bildern gleichen (R. 510d7 f.: ἀλλ’ ἐκείνων πέρι οἷς ταῦτα ἔοικε […] τοὺς λόγους ποιούμενοι, sc. διανοούμενοι). Diese Gegenstände werden sogleich (implizit) konkret identifiziert, denn es heißt, dass die Mathematiker ihre (vordergründig auf die ‚Bilder‘ bezogene) Argumentation ‚um des Quadrats selbst und der Diagonale selbst willen‘ führten (R. 510d7 f.: τοῦ τετραγώνου αὐτοῦ ἕνεκα […] καὶ διαμέτρου αὐτῆς); die ἕνεκα-Gruppe differenziert das eigentliche vom scheinbaren Objekt der Mathematik. Im Ergebnis ist gesagt, dass die Mathematiker sich mit den Gegenständen der Dianoia um der Gegenstände der Dianoia willen beschäftigen, sich zugleich aber immer auch (und dies ist entscheidend) auf die Gegenstände der Wahrnehmung beziehen. Was sind nun die Gegenstände der Mathematik? Zwar verwendet Platon das Pronomen αὐτός bekanntlich oft in Bezug auf Formen. Dies kann aber nicht der Fall sein, wenn er hier vom ‚Quadrat selbst‘ oder von der ‚Diagonale selbst‘ spricht.86 Ausge-

|| 86 So etwa Brentlinger 1963, 147 f., Annas 1981, 251 und Bostock 2009, 11. Diese Position wurde schon öfter kritisiert: vgl. M. Miller 2007, 319. Eine solche Deutung beruht auf einem Nichtbeachten des Kontexts; vgl. Brentlinger 1963, 147: Platon „asserts that the mathematician wants to learn of ‚the square itself‘ or ‚the diameter itself‘ (Rep. 510D), and then adds no qualification to these remarks“ (vgl. 149).

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schlossen ist dies deshalb, weil die mathematischen Objekte an dieser Stelle explizit der Dianoia zugewiesen werden, und diese ist, wie oben gesehen, ausdrücklich dem zweiten Liniensegment zugeordnet (siehe oben; vgl. speziell R. 511d6–e4). Dieser eindeutige Befund lässt sich nicht dadurch umgehen, dass man unterstellt, dass sich zweites und erstes Liniensegment nur durch die angewandte Methode unterschieden, die zugeordneten Objekte aber dieselben seien, nämlich Formen.87 Dies ist nicht nur aus den oben ausgeführten Gründen unmöglich, sondern auch angesichts des letzten Teiles der angeführten Passage (am Ende von [4]); dieser identifiziert sprachlich angesichts der Verwendung von Pronomina im Akkusativ Plural die Objekte der Dianoia unmissverständlich als Objekte (R. 511a1 f.: αὐτὰ ἐκεῖνα ἰδεῖν ἃ οὐκ ἂν ἄλλως ἴδοι τις ἢ τῇ διανοίᾳ) und weist ferner deren Schau explizit exklusiv der Dianoia zu (R. 511a1 f.: αὐτὰ ἐκεῖνα ἰδεῖν ἃ οὐκ ἂν ἄλλως ἴδοι τις ἢ τῇ διανοίᾳ). Folglich wäre, wenn als Objekte der Schau der Dianoia die Formen zu identifizieren wären, als Implikation daraus, dass die Dianoia diese Gegenstände schaut, effektiv kategorial ausgeschlossen, dass die Dialektik die Formen schaute, was absurd wäre. Folglich unterscheiden sich das zweite und erste Liniensegment nicht nur hinsichtlich der Methode, sondern auch hinsichtlich der Objekte.88 Das Pronomen αὐτός ist also in seiner Grundbedeutung verwendet, in der es in ausschließender Weise „stets einen entweder ausgedrückten oder gedachten Gegensatz zu etwas anderem“ bezeichnet.89

|| Irreführend ist anzunehmen, wir müssten erwarten, dass Platon hier, wenn er nicht die singuläre Form der mathematischen Objekte gemeint hätte, sondern die im Gegensatz dazu unbestimmt vielen mathematischen Objekte im Sinne des Aristoteles-Zeugnis, „plural expressions, such as ‚squares themselves‘“, verwendet haben müsste (so Bostock 2009, 11): Im einzelnen Diagramm, um das es Platon hier ja geht, liegt schließlich nicht zwingend eine Pluralität desselben Objekts, sondern in der Regel jeweils nur (zum Beispiel) ein einziges Quadrat vor. 87 Vgl. oben Kap. 6.4; vgl. Bostock 2009, 11 und Penner 2008, 252–257. Letzterer lehnt irreführend eine ontologische Stufung der Welt durch Platon ab, weil „we do not have four different ‚What is it?‘ question about objects of four different degrees of reality, but just one ‚What is it?‘ question“ (255 f.), und zwar deshalb, weil diese Frage ihre primäre Anwendung nur im Bereich der Formen habe; die Objekte der Sinneswahrnehmung etwa werden einfach wahrgenommen und mit einem Namen belegt. Dies impliziert aber nicht, dass man in der Wahrnehmung eine Definition etc. (des Äquivalents) der Form vornähme. Mit anderen Worten: Die Welt ist tatsächlich (auch aus den oben angeführten Gründen) in vier Objektklassen gestuft (der physikalische Gegenstand etwa ist nicht identisch mit der Form), und die Urteile der Seele sind für jede dieser Klassen epistemologisch spezifisch. 88 Vgl. Yang 1999. In jedem Fall ist ausgeschlossen, dass, falls Gegenstand der Tätigkeit der Mathematiker die durch das zweite Liniensegment repräsentierten Gegenstände sind, die als Bilder gebrauchten Gegenstände durch das dritte Liniensegment repräsentiert sind (so Ross 1951, 47), denn zwischen beiden besteht angesichts der Längengleichheit der Segmente keine Abbildbeziehung im Sinn der Höhle (mitsamt Relationen), wie sie οἷς ταῦτα ἔοικε (R. 510d7) notwendig impliziert; sollten die als Bilder gebrauchten Gegenstände durch das dritte Segment repräsentiert sein, müssten die Gegenstände der Mathematiker die Ideen sein, was aber wie gesehen ausgeschlossen ist. 89 So Kühner & Gerth § 468, insbesondere 2. Vgl. den parallelen Gebrauch in R. 525d6 im Fall der mathematischen Zahlen (περὶ αὐτῶν τῶν ἀριθμῶν ἀναγκάζει διαλέγεσθαι, mit der Notwendigkeit der

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Die von Platon angesprochenen Unterschiede haben sachlich eine exakte Entsprechung in der festgestellten Praxis bei Euklid: Wie gesehen ist diese immer auf ein Diagramm bezogen, und dieses Diagramm hat prinzipiell (zumindest potentiell) eine wahrnehmbare Repräsentation, das gezeichnete Diagramm. Eigentlicher Gegenstand des mathematischen Beweises ist aber nicht dieses gezeichnete Diagramm, sondern das abstrakte, nicht raumzeitlich gegebene Diagramm, das sich auf der Grundlage der mathematischen Relationen konstituiert, die die in der Modellierung involvierten mathematischen Objekte im Rahmen der kompositionalen Gesamtstruktur des Diagramms essentiell kennzeichnen. Genau dieses ‚mathematische‘ Modell mitsamt seinen Submodellen ist es aber, auf welches Platon hier abzielt. In diesem spezifischen Kontext bezeichnet er die involvierten Submodelle wie ein Quadrat als ‚das Quadrat selbst‘: Gemeint ist nicht die Form des Quadrats, sondern das mathematische Quadrat ‚selbst‘, und zwar in Abgrenzung und im Gegensatz zum abgeleiteten ‚Abbild‘ dieses Quadrats, das in der Wahrnehmung entgegentritt. (3) Zur Klarstellung werden die dianoetischen mathematischen Objekte unterschieden von einem weiteren Kandidaten, den man als das ‚Quadrat selbst‘ auffassen könnte, nämlich demjenigen Quadrat, das als gezeichnetes (oder wie auch immer instantiiertes: ἀλλ’ οὐ ταύτης ἣν γράφουσιν [R. 510e1, hier mit Bezug auf die Diagonale]) Quadrat (zumindest potentiell oder imaginiert etc.) empirisch, das heißt gegenständlich realisiert und zugleich als von der Wahrnehmung unabhängige (das heißt, zumindest als solcherart konzipierte) Entität im Bereich des Physikalischen vorhanden ist und als solche die kausale Ursache desjenigen ‚Bildes‘ ist, das als unmittelbarer Bezugspunkt der Erörterungen der Mathematiker dient. In Relation zu den ‚Bildern‘ in der Wahrnehmung hat es offenkundig ebenfalls den Status eines ‚Gegenstandes selbst‘, und ebenfalls gilt, dass diesem ‚Gegenstand selbst‘ die von ihm kausal abhängigen Bilder essentiell ‚ähnlich sind‘. Gleichwohl ist der eine (nämlich physikalische) ‚Gegenstand selbst‘ evident nicht mit dem anderen (nämlich dianoetischen) ‚Gegenstand selbst‘ identisch. Der ἀλλά-Satz hat die Funktion, unmissverständlich klarzustellen, dass sich die Unterscheidung der mathematischen Gegenstände selbst von den Bildern der mathematischen Gegenstände gerade nicht auf die Gegenstände des dritten Segments bezieht. Entsprechend verallgemeinert Platon sodann die zuerst beispielhaft auf die

|| Zuweisung zur Dianoia, auch angesichts der zusammenfassenden Wiederholung des Gedankens in R. 526a6 f., und im Kontext mit unmissverständlichem sachlichen Bezug auf λογισμοί, und zwar im ausdrücklichen Gegensatz zu einer mit körperlichen Zahlen hantierenden Mathematik: R. 525d6– 526a7); siehe unten Anm. 136. Vgl. R. 532a1–5, wo das Pronomen αὐτός im Kontext mehrmals eindeutig auf die Gegenstände verweist, die durch das dritte Liniensegment repräsentiert sind – und eben zugleich direkt anschließend R. 532a5–b2, wo das Pronomen in explizitem Kontrast dazu die Formen beschreibt. Ein mechanisches Verständnis von αὐτός im Sinn von ‚Form‘ führt auch in Fällen wie αὐτὸ τὸ εἶδος (Phd. 103e3) zu unhaltbaren Implikationen. Welche Bedeutung das Pronomen hat, muss in jedem einzelnen Fall interpretatorisch erschlossen werden.

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Diagonale bezogene Klarstellung durch καὶ τἆλλα οὕτως („und im Übrigen genauso“) mittels eines appositionellen Akkusativs mit sachlichem Bezug auf „diese Dinge selbst, die sie herstellen und zeichnen“, also die Gegenstände des dritten Liniensegments (R. 510e1 f.: καὶ τἆλλ’ οὕτως, αὐτὰ μὲν ταῦτα ἃ πλάττουσί τε καὶ γράφουσιν).90 Die etwas umständlich anmutende Ausführlichkeit der Darstellung ist vor dem Hintergrund der oben in Kap. 5 herausgearbeiteten methodologischen Diskussionen zur Grundlegung der Mathematik in dieser Zeit zu sehen, in denen sich Platons Position gerade in dieser Hinsicht von allen anderen Positionen unterschied, insbesondere von der traditionellen ‚Mathematik‘ und den pythagoreischen Ansätzen (vgl. auch oben Kap. 4.6). Ziel ist die Vermeidung von Missverständnissen. (4) Der Schluss des Satzes kehrt zum Ausgangspunkt des Gedankens zurück: Nicht von den mathematischen Gegenständen, sondern von den physikalischen ‚Gegenständen selbst‘ „stammen“, wie ein Relativsatz explikativ erläutert, „sowohl die Schatten und die Bilder im Wasser“ (R. 510e2 f.: ὧν καὶ σκιαὶ καὶ ἐν ὕδασιν εἰκόνες εἰσίν).91 Diese Feststellung stimmt exakt mit der Semantik der Gleichnisse und speziell des Liniengleichnisses überein und nimmt zudem wörtlich die Explikation der dem vierten Liniensegment zugeordneten Objekte auf, die dort ja entsprechend als ‚Bilder‘ der Gegenstände des dritten Liniensegments gezeigt und expliziert wurden (R. 509d10–510a3: λέγω δὲ τὰς εἰκόνας πρῶτον μὲν τὰς σκιάς, ἔπειτα τὰ ἐν τοῖς ὕδασι φαντάσματα […]). Der Relativsatz rückt vor Augen, woher die ‚Bilder‘ kommen – und zwar diejenigen Bilder, anhand deren die Mathematiker vordergründig (aber eben nicht tatsächlich, wie Platon betont) ihre Erörterungen anstellen. Dieser Gedanke wird durch die Partizipialgruppe τούτοις μὲν ὡς εἰκόσιν αὖ χρώμενοι (R. 510e3) an den Beginn der Erörterungen zur Mathematik angeschlossen, indem Sokrates sagt, dass die Mathematiker diese Dinge (die ‚Bilder‘) „wiederum als Bilder behandeln“: Auch wenn die Bedeutung dieser prima vista rätselhaften Charakterisierung noch immer nicht ganz klar ist, erweist sie sich als übereinstimmend mit der entsprechenden zuvor gemachten Äußerung (R. 510b4 f.) und mit dem Anfang des Satzes (R. 510d5). Sprachlich schließt sich das Partizip an das nächste passende finite Verb an, und zwar πλάττουσί τε καὶ γράφουσιν (R. 510e2); das Partizip ist Teil des Relativsatzes, der Teil der explanativen, durch καὶ τἆλλα οὕτως (R. 510e1) eingeleiteten Apposition ist; das Demonstrativum τούτοις (R. 510e3) bezieht sich andererseits auf καὶ σκιαὶ καὶ ἐν ὕδασιν εἰκόνες (R. 510e2 f.).92 Der explizite, durch die Setzung des Pronomens vorgenommene Bezug ist insofern sachlich erforderlich (oder zumindest zum Zweck des besseren Verständnisses angezeigt), als die durch das Partizip beschriebene Handlung sich sachlich dem physikalischen Herstellen und Zeichnen

|| 90 Zur Konstruktion vgl. Kühner & Gerth § 410 Anm. 21. 91 Im Kontext sachlich ‚werden erzeugt‘, vgl. Kühner & Gerth § 418, 1 b. Der Genitiv des Relativpronomens ist ein gewöhnlicher, unproblematischer partitiver Genitiv, abhängig von σκιαί und εἰκόνες. 92 Das Genus des Demonstrativums ist ein Neutrum entsprechend Kühner & Gerth § 370, 1 a β.

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der entsprechenden Gegenstände (des dritten Liniensegments) unterordnet: Die Mathematiker zeichnen „diese Dinge selbst“, behandeln dabei aber deren Bilder (Wahrnehmungen) als Bilder – und suchen eben danach, wie der lange Satz schließlich endet, „jene Dinge selbst zu sehen, die man nicht anders als mit der Dianoia sehen könnte“ (R. 511a1 f.: ζητοῦντές τε αὐτὰ ἐκεῖνα ἰδεῖν ἃ οὐκ ἂν ἄλλως ἴδοι τις ἢ τῇ διανοίᾳ; siehe oben [2]; das Partizip ζητοῦντες nimmt sachlich ἕνεκα aus R. 510d8 auf). Trotz der noch offenen sachlichen Fragen ist hinreichend deutlich, dass Platon in diesem komplexen Satz das Vorgehen der Mathematiker dadurch charakterisiert, dass er ihren Umgang mit den Objekten dreier ontologisch verschiedener Gegenstandsklassen (und unter Aussparung der Formen als vierter Gegenstandsklasse) kontrastiv expliziert und so komprimiert sein Verständnis der Natur der Mathematik aufzeigt: Die Mathematiker zeichnen ein Diagramm (drittes Segment), über dessen wahrgenommene Bilder (viertes Segment) sie reden, um Erkenntnisse über die mathematischen Gegenstände selbst (zweites Segment) zu gewinnen (und eben nicht, wie die Pythagoreer, über die physikalischen, gegenständlichen Diagramme ‚selbst‘ [drittes Segment]). Diese Beschreibung konvergiert mit der Explikation des mathematischen Diagramms bei Euklid: Auch dort konnte ein raumzeitliches Diagramm von seinem Sinneseindruck unterschieden werden, und ebenso dieses raumzeitliche von dem mathematischen Diagramm selbst; zugleich wurde für all diese drei Stufen eine jeweils ikonische, das heißt auf einer Ähnlichkeitsbeziehung basierende Abbildungsbeziehung festgestellt; und schließlich wurde als eigentlicher Gegenstand des mathematischen Beweises das abstrakte, ‚mathematische‘ Diagramm identifiziert.93 Die Übersetzung des schwierigen, für das Verständnis von Platons Philosophie der Mathematik zentralen Satzes in R. 510d5–511a2 ergibt sich so weit wie folgt: [1] Οὐκοῦν καὶ ὅτι τοῖς ὁρωμένοις εἴδεσι προσχρῶνται καὶ τοὺς λόγους περὶ αὐτῶν ποιοῦνται, [2] οὐ περὶ τούτων διανοούμενοι, ἀλλ’ ἐκείνων πέρι οἷς ταῦτα ἔοικε, τοῦ τετραγώνου αὐτοῦ ἕνεκα τοὺς λόγους ποιούμενοι καὶ διαμέτρου αὐτῆς, [3] ἀλλ’ οὐ ταύτης ἣν γράφουσιν, καὶ τἆλλ’ οὕτως, || 93 Die Formulierung des Satzes macht die Deutung unmöglich, dass „L2 and L3 [das heißt die beiden mittleren Liniensegmente, mit vertauschter Nummerierung] address exactly the same objects, but L3 abstracts from all but the mathematically relevant features“ (Burnyeat 1987, 229; diese und ähnliche Deutungen bilden eine ganze Klasse: vgl. Ross 1951, 1, 167 f., Fogelin 1971, Morrison 1977 und Wieland 1982, 208–212): Es liegen zwei ontologisch kategorial getrennte Objektklassen vor, die beide als ‚Gegenstände selbst‘ bezeichnet werden können und mithin eine unabhängige Existenz voneinander haben. Der entscheidende Punkt ist die (prinzipiell Nicht-Identität implizierende) Ähnlichkeit, denn über diese gelingt der Sprung aus der Höhle (siehe unten). Insgesamt ist es daher nicht korrekt zu sagen (und verfehlt Platons Explikation der mathematischen Objekte im Liniengleichnis), dass „Plato never explicitly puts the mathematical objects on a level inferior to the Forms. But, as Ross admits, ‚the logic‘ of Plato’s exposition ‚requires‘ that the objects of mathematics should be a separate class and Plato ‚speaks as if he did have some such class in mind‘“, dass es also Aristoteles war, der „attributes the doctrine of the intermediate status of mathematical objects to Plato, making explicit what the ‚logic of Plato’s argument requires‘“ (Steel 2012b, 184 bzw. 185). Diese Deutung widerspricht dem eindeutigen Ausdruck des separaten Seinsstatus der mathematischen Objekte im analysierten Satz.

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αὐτὰ μὲν ταῦτα ἃ πλάττουσί τε καὶ γράφουσιν, [4] ὧν καὶ σκιαὶ καὶ ἐν ὕδασιν εἰκόνες εἰσίν, τούτοις μὲν ὡς εἰκόσιν αὖ χρώμενοι, ζητοῦντές τε αὐτὰ ἐκεῖνα ἰδεῖν ἃ οὐκ ἂν ἄλλως ἴδοι τις ἢ τῇ διανοίᾳ. „Wohl auch, dass sie zusätzlich die gesehenen Formen [4. Segment] benutzen und ihre Erörterungen über diese anstellen, obgleich sie sich in ihrer ‚Dianoia‘ nicht mit diesen Gegenständen [4. Segment], sondern mit jenen Gegenständen [2. Segment] beschäftigen, denen diese Gegenstände [4. Segment] gleichen, und dabei ihre Erörterungen um des Quadrats selbst willen und der Diagonale selbst willen anstellen [2. Segment], aber nicht um desjenigen willen, das sie zeichnen [3. Segment],94 und im Übrigen genauso in Hinsicht auf alle diese Dinge selbst, die sie herstellen und zeichnen [3. Segment], von denen sowohl die Schatten als auch die Bilder im Wasser stammen [4. Segment], und diese [4. Segment] dabei einerseits abermals als Bilder behandeln und andererseits jene Dinge selbst zu sehen suchen, die man nicht anders sehen könnte als mit der Dianoia [2. Segment].“95

Die Pointe von Platons Beschreibung der Mathematik wird in dem hierauf folgenden Abschluss der gesamten Passage zum zweiten Liniensegment transparent. Dieser dient – nach einem emphatisch-affirmativen „Die Wahrheit sagst du, Sokrates“ (R. 511a2: Ἀληθῆ, ἔφη, λέγεις), offenkundig mit dem Zweck, Platons sachliche Position zur Mathematik zu bekräftigen – als ihre knappe Zusammenfassung; dabei wird der kryptisch formulierte Beginn der Passage wörtlich aufgenommen (R. 511a3–9): Τοῦτο τοίνυν νοητὸν μὲν τὸ εἶδος ἔλεγον, ὑποθέσεσι δ’ ἀναγκαζομένην ψυχὴν χρῆσθαι περὶ τὴν ζήτησιν αὐτοῦ, οὐκ ἐπ’ ἀρχὴν ἰοῦσαν, ὡς οὐ δυναμένην τῶν ὑποθέσεων ἀνωτέρω ἐκβαίνειν, εἰκόσι δὲ χρωμένην αὐτοῖς τοῖς ὑπὸ τῶν κάτω ἀπεικασθεῖσιν καὶ ἐκείνοις πρὸς ἐκεῖνα ὡς ἐναργέσι δεδοξασμένοις τε καὶ τετιμημένοις. „Ich sagte, dass diese Form intelligibel sei und dass die Seele gezwungen sei, Setzungen zu gebrauchen in Hinsicht auf ihre Erforschung, ohne zum Anfang zu gehen, als etwas, was nicht fähig ist, über die Setzungen hinaus aufzusteigen, und was als Bilder die von den Dingen unten gemachten Abbildungen selbst nutzt und jene Dinge, die im Vergleich mit jenen als anschaulich eingeschätzt und geehrt werden.“

Der mit dem zweiten Liniensegment und mithin ausdrücklich-ausschließlich mit der Mathematik – wie die abschließende Zustimmung Glaukons noch einmal unmissverständlich deutlich macht, nicht zuletzt unter Nutzung des markierten Verbs μανθάνειν (R. 510a10–b1: Μανθάνω, ἔφη, ὅτι τὸ ὑπὸ ταῖς γεωμετρίαις τε καὶ ταῖς ταύτης ἀδελφαῖς τέχναις λέγεις) – verbundene Zustand der Seele (wohlgemerkt einschließlich der ihnen zugeordneten, spezifischen Gegenstände) zeichnet sich dadurch aus, dass die Seele zu dessen Erforschung gezwungen sei, so Sokrates, ‚Setzungen‘ zu ver|| 94 Als zusätzliches Argument mag gelten, dass bei einer anderen Identifikation dieses Ausdrucks eine schwer zu erklärende unmotivierte Redundanz vorläge. 95 Im Rahmen der entwickelten Interpretation muss kein (strenger) Anakoluth unterstellt werden (siehe zum Beispiel Adam 1902, 2, 69 und Lafrance 1994, 334–339). Vgl. zur Stelle Barker 1978 und Yang 1999, auch Szlezák 1997, 214; die vorgeschlagene Deutung deckt sich in Teilen mit derjenigen Wielands 1982, 209 f. Zum Text selbst siehe Lafrance 1994, 303–305.

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wenden. Diese kennzeichnet essentiell, dass sie (1) als Bilder diejenigen Dinge gebraucht, die von ‚den Dingen unten‘ (das heißt im Körperlichen, in Vorwegnahme des Höhlengleichnisses; die konkrete Agensangabe erklärt sich dahingehend, dass die körperlichen Dinge selbst das Medium der Abbildung sein müssen) durch Abbildung erzeugt werden (das passive Partizip ἀπεικασθεῖσιν ist im Kontext parallel zu den anderen in dieser Passage verwendeten Partizipien des Passivs: siehe oben; die Agensangabe impliziert im Übrigen schon sprachlich einen ontologischen Unterschied zwischen τὰ κάτω [Gegenstände] und τὰ ἀπεικασθέντα [ähnliche Abbilder = Wahrnehmungen]); und (2) diejenigen Dinge, die im Vergleich mit jenen Dingen (den Abbildern = Wahrnehmungen) als „klar“ geschätzt und zugleich geehrt würden, angesichts der vorangehenden Ausführungen die Gegenstände der Mathematik, das heißt diejenigen Dinge, die man (allein) mit der Dianoia sieht.96 Der Satz nimmt folglich die getrennt in umgekehrter Reihenfolge vollzogene Explikation in R. 510d5–511a2 bzw. R. 510c1–d3 auf (wo sich die Gleichwertigkeit beider Aspekte sprachlich darin zeigt, dass die in der Exposition zweite Passage durch eindeutiges καὶ ὅτι […] προσχρῶνται [R. 510d5] angeschlossen wird, abhängig von aus R. 510d4 impliziertem οἶσθα). Mathematik zeichnet sich in diesem Sinn zusammengefasst dadurch aus, dass sie über intelligible Objekte spricht, aber anhand der (von physikalischen Gegenständen ausgehenden) Bilder des vierten Liniensegments, und zwar deshalb, weil Mathematik gar nicht anders möglich wäre: Insofern Mathematik gezwungen ist, Diagramme zu benutzen – und zwar im weitesten Sinne, denn zu den ‚Diagrammen‘ gehört für Platon, wie gesehen, ja ausdrücklich auch der sichtbare Himmel –, diese aber prinzipiell räumliche Relationalität besitzen, sind sie mit Körperlichkeit verbunden und, vermittelt hierüber, mit Wahrnehmbarkeit. Eben diese kann – und muss – aber nutzbar gemacht werden, um über intelligible Objekte selbst zu sprechen. Freilich zeigt sich ein Problem: Wenn Mathematik damit verbunden ist, dass sie die Abbilder physikalischer Gegenstände nutzt und zugleich hierüber in den Bereich der Dianoia und des Intelligiblen vordringt, wieso kritisiert Platon dann die (sowohl traditionelle als auch pythagoreische) Astronomie und Musiklehre seiner Zeit? Eine vollständige Antwort lässt sich noch nicht geben. So weit ist aber deutlich geworden, dass das Problem damit verbunden ist, dass man die körperlichen Gegenstände auf ihre ‚mathematische‘ Relationalität hin untersucht, und zwar um eines anderen mit etwas Körperlichem verbundenen Zwecks willen, zum Beispiel den Himmel um des Kalenderwesens betrachtet oder die kleinsten Intervalle zwischen Tönen rein empirisch bestimmt, mit der Folge, nicht zu ‚Problemen‘ vorzustoßen, also allge|| 96 Man beachte, dass die Grundbedeutung von ἐναργής „visible, palpable, in bodily shape“ ist (LSJ s. v.), wobei offenkundig die Körperlichkeit des Diagramms in der platonischen Ontologie eine zweigeteilte Körperlichkeit ist (Gegenstand selbst vs. Wahrnehmung des Gegenstands); es lässt sich in diesem Sinn eine (wie so häufig bei Platon) pointiert-paradoxale Umdeutung von Begrifflichkeiten feststellen, die freilich parallel zur Deutung des nicht-sichtbaren Bereichs des Intelligiblen außerhalb der Höhle als Bereich der Sonne und des Tageslichts erfolgt (und ebenso prägnant vice versa).

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meinen mathematischen Propositionen. Angesichts der Ergebnisse heißt dies, dass man nicht die richtigen ‚Hypothesen‘ (‚Setzungen‘) aufstellt, mithin nicht solche ‚Diagramme‘ (= Modelle) verwendet, die unmittelbar genuin universelle mathematische Relationen aufweisen, sondern nur solche Diagramme, die partikulare Relationen zeigen. In diesem Fall nämlich, so lässt sich schließen, ergeht es einem wie dem Sklaven in Men. 82a7–85b7, der eben lediglich im Bereich der (durch Zufall, aber nicht aufgrund eines methodologisch abgesicherten Zusammenhangs gegebenenfalls wahren) ‚Meinung‘ verbleibt, und zwar so lange, wie er ohne die erforderliche mathematiktheoretische Grundlegung mit Quadraten mit fester Seitenlänge hantiert. Die Ursache ist klar: Es ist in diesem Fall prinzipiell nicht möglich, die abstrakte Relationalität der mathematischen Objekte zu verstehen und dazu nutzen, so etwas wie einen mathematischen Beweis auszuführen. Was allein zugänglich ist, ist die auf den partikularen Einzelfall beschränkte Beobachtung, und ob diese tatsächlich irgendeine relevante mathematische Relationalität zeigt, ließe sich nicht erweisen. Angesichts dessen haben Platons Ausführungen in der untersuchten Passage zum zweiten Liniensegment (mindestens) zwei Stoßrichtungen: (1) Platon wirbt dafür, Mathematik nicht als auf das Körperliche ausgerichtete Kunst (τέχνη) zu betreiben, sei es zu rein praktischen Zwecken, sei es mit dem Zweck einer pythagoreischen ‚Vermessung‘ der Natur. Im Gegenteil müsse Mathematik rein theoretisch mit Blick auf universelle, nicht an den partikularen Einzelfall gebundene Relationalität betrieben werden, wenn auch mit einem gewissen und, wie sich zeigen wird, signifikanten Bezug zur empirischen Welt. (2) Platon wirbt dafür, die als ‚Hypothesen‘ (das heißt als und im Diagramm) zu nutzenden mathematischen Objekte nicht in ihrer durch das Wahrnehmbare gegebenen Konstitution unkritisch-unhinterfragt zu übernehmen, sondern ihr relationales Wesen exakt zu bestimmen, und zwar allem Anschein nach mittels der Dialektik; dies entspricht natürlich einer systematischen ‚Axiomatisierung‘ der Mathematik, zuerst durch eine genaue, nicht überlappende (also ‚dihairetische‘) definitorische Differenzierung der relevanten mathematischen Objekte anhand der in diesem Prozess als essentiell determinierten Relationen.97 Letzteres ist auch deshalb notwendig, weil sich, auch wenn sich in der Mathematik eine positive und hilfreiche Verwendung von ‚Bildern‘ zeigt, die das Körperliche mit dem Intelligiblen verbindet, mit diesem Umstand ein in Platons Augen entscheidender Nachteil verbindet: Prinzipiell kann Mathematik nicht zum „Anfang“, das heißt zum Guten und also zum obersten Ziel von Wissen überhaupt gelangen, denn || 97 Nicht zuletzt aus diesen beiden Gründen ist Bensons 2015, speziell 258 f., Vorschlag (ausführlicher Benson 2012), nur die gewöhnlich betriebene (und im Liniengleichnis kritisierte) Mathematik dem Liniensegment der Dianoia zuzuweisen, die richtig, ‚philosophisch‘ betriebene hingegen dem des Wissens, nicht haltbar. Gleichwohl ist Bensons 2012 Beschreibung der beiden grundlegenden Arten von Mathematik und Platons Position zu einer jeden von ihnen mit der hier entwickelten Rekonstruktion im Großen und Ganzen kompatibel. Zur Axiomatisierung der Mathematik bei Platon vgl. Hoffmann 2004.

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sie kommt wegen ihrer Gebundenheit an die Wahrnehmung prinzipiell nicht über die ‚Setzungen‘ hinaus, das heißt die über die Wahrnehmung zugänglichen Diagramme (Modelle) und mithin die Gegenstände des zweiten Liniensegments. Diese ‚Setzungen‘ sind die natürliche und aufgrund ihrer Natur nicht hintergehbare (und damit ‚notwendige‘) Grenze der Erkenntnis im Bereich der Mathematik. Dieser Mangel der Mathematik lässt sich aber vollständig heilen, und zwar durch die Dialektik (R. 511b2–c2). Sie verwendet die ‚Hypothesen‘ nicht als Anfang, sondern ‚in der Tat‘ als ‚Hypothesen‘ (R. 511b4: τὰς ὑποθέσεις ποιούμενος οὐκ ἀρχὰς ἀλλὰ τῷ ὄντι ὑποθέσεις) und nutzt sie dazu, Schritt für Schritt (und ‚Stufe um Stufe‘: οἷον ἐπιβάσεις τε καὶ ὁρμάς [R. 511b5]) zum ‚nicht mit einer Hypothesis verbundenen‘ Anfang (Ursache) von allem zu gelangen (R. 511b5 f.: ἵνα μέχρι τοῦ ἀνυποθέτου ἐπὶ τὴν τοῦ παντὸς ἀρχὴν ἰών), sc. der Sonne des Sonnengleichnisses, und von dort mittels der Formen eine Reise durch die Formen zu den Formen zu vollbringen (R. 511c1 f.: ἀλλ’ εἴδεσιν αὐτοῖς δι’ αὐτῶν εἰς αὐτά, καὶ τελευτᾷ εἰς εἴδη), und zwar in kontinuierlichem Abstieg von dort auf diesem Formen-Weg (R. 511b6 f.: ἁψάμενος αὐτῆς, πάλιν αὖ ἐχόμενος τῶν ἐκείνης ἐχομένων) zum „Ende“ (R. 511b8–c1: οὕτως ἐπὶ τελευτὴν καταβαίνῃ), das heißt vom Guten bzw. Einen hinunter zu den Sinneswahrnehmungen (man beachte R. 511e1 f.: τῷ τελευταίῳ [sc. Segment ordne die] εἰκασίαν [zu]), ohne sich aber im Gegensatz zur Mathematik dabei der Wahrnehmungsinhalte zu bedienen (R. 511c1: αἰσθητῷ παντάπασιν οὐδενὶ προσχρώμενος). Gemeint ist mit dem letzten Punkt eine vollständige Erklärung der Welt, wie sie in den Gleichnissen abgebildet ist. So offenbart die gesamte Aussage den spezifischen Nutzen der Mathematik: Insofern Mathematik die eigentlich dem Körperlichen angehörenden und von diesen verursachten Gegenstände des vierten Segments (die Wahrnehmungen) als Startpunkte verwendet und dabei ‚als‘ (sich durch Ähnlichkeit auszeichnende) Bilder und mithin (sekundär-) relationale Modelle für die Gegenstände des zweiten Segments auffasst und weiter die Forschenden dazu zwingt, diese Gegenstände entsprechend mit der Dianoia und nicht (wie ‚Bilder‘ für gewöhnlich) mit der Wahrnehmung (= ‚Eikasia‘) zu betrachten (R. 511c6–8: αἷς αἱ ὑποθέσεις ἀρχαί, καὶ διανοίᾳ μὲν ἀναγκάζονται ἀλλὰ μὴ αἰσθήσεσιν αὐτὰ θεᾶσθαι οἱ θεώμενοι) – denn die ‚Hypothesis‘ als solche ist eben im intelligiblen Bereich angesiedelt, auch wenn man zu ihrer Erforschung das wahrnehmbare Abbild im Körperlichen notwendig hinzunehmen muss –, wird die kategoriale ontologische Grenze vom Körperlichen ins Intelligible überschritten, wird man also aus seinen Fesseln in der Höhle befreit und gelangt ans Tageslicht des Intelligiblen, freilich zuerst einmal nur so weit, dass man die Spiegelungen im Wasser, die Abbilder der Formen, sehen kann: So weit ist man zwar befreit, verfügt aber noch nicht über ‚Verstand‘, denn man ist noch nicht zum ‚Anfang‘ (dem Guten) emporgestiegen (hat die Sterne etc. gesehen), sondern ist immer noch auf die ‚Hypothesen‘ angewiesen, deren man sich so eben prinzipiell nicht entledigen kann (R. 511c8–d2: διὰ δὲ τὸ μὴ ἐπ’ ἀρχὴν ἀνελθόντες σκοπεῖν ἀλλ’ ἐξ ὑποθέσεων, νοῦν οὐκ ἴσχειν περὶ αὐτὰ δοκοῦσί σοι, gesprochen von Glaukon, der Sokrates jetzt

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offenbar endlich verstanden hat).98 Den gesamten Zusammenhang führt Platon in einer wichtigen und vor allem eindeutigen Passage in Politeia VII (R. 532b6–d1) aus: Ἡ δέ γε, ἦν δ’ ἐγώ, λύσις τε ἀπὸ τῶν δεσμῶν καὶ μεταστροφὴ ἀπὸ τῶν σκιῶν ἐπὶ τὰ εἴδωλα καὶ τὸ φῶς καὶ ἐκ τοῦ καταγείου εἰς τὸν ἥλιον ἐπάνοδος, καὶ ἐκεῖ πρὸς μὲν τὰ ζῷά τε καὶ φυτὰ καὶ τὸ τοῦ ἡλίου φῶς ἔτι ἀδυναμία βλέπειν, πρὸς δὲ τὰ ἐν ὕδασι φαντάσματα †θεῖα καὶ σκιὰς τῶν ὄντων, ἀλλ’ οὐκ εἰδώλων σκιὰς δι’ ἑτέρου τοιούτου φωτὸς ὡς πρὸς ἥλιον κρίνειν ἀποσκιαζομένας, πᾶσα αὕτη ἡ πραγματεία τῶν τεχνῶν ἃς διήλθομεν ταύτην ἔχει τὴν δύναμιν καὶ ἐπαναγωγὴν τοῦ βελτίστου ἐν ψυχῇ πρὸς τὴν τοῦ ἀρίστου ἐν τοῖς οὖσι θέαν, ὥσπερ τότε τοῦ σαφεστάτου ἐν σώματι πρὸς τὴν τοῦ φανοτάτου ἐν τῶν σωματοειδεῖ τε καὶ ὁρατῷ τόπῳ. „Die Lösung von den Fesseln“, sagte ich, „und die Abwendung von den Schatten [≈ 4. Liniensegment] hin zu den Bildern [εἴδωλα, sc. der Formen] und zum Licht [beides ≈ 3. Liniensegment] und der Aufstieg aus der Höhle zur Sonne, dort zwar noch die Unfähigkeit, auf die Tiere, Pflanzen [sc. die Formen ≈ 1. Liniensegment] und das Licht der Sonne [sc. das Gute bzw. Eine] zu blicken, aber dennoch auf die †göttlichen Erscheinungen im Wasser und die Schatten der seienden Dinge [sc. auf die Gegenstände der Mathematik ≈ 2. Liniensegment, in explizite Modellrelation gesetzt zum 1. Liniensegment, den Formen] und nicht auf die Schatten der Abbilder [≈ 4. Liniensegment; wie soeben direkt beim 3. Liniensegment ist εἴδωλα verwendet, was den sachlichen Zusammenhang eindeutig macht], die vermittels eines anderen solchen Lichts [sc. des künstlichen Feuers in der Höhle = der ‚Sonne‘ im Körperlichen] im Vergleich zur Sonne [sc. der tatsächlichen ≈ dem Guten bzw. Einen] schattenhaft verdunkelt sind – diese ganze Tätigkeit der Künste, die wir durchgegangen sind [sc. die mathematischen Wissenschaften und diese allein: siehe unten Kap. 6.7], hat dieses Vermögen und führt das Beste in der Seele hin zur Betrachtung des Besten unter den seienden Dingen [sc. der Idee des Guten bzw. Einen im Intelligiblen], wie vorhin des Klarsten im Körper [sc. des Auges] hin zur Betrachtung des Scheinendsten im körperlichen und sichtbaren Ort [sc. der Sonne im Körperlich-Physikalischen].“

Während die Menschen in der Höhle „von Kindheit an“ (R. 514a5 f.: sie sind gefesselt ἐκ παίδων; siehe oben) nichts anderes tun, als die Schatten an der Höhle zu beobachten, seien es gerade die im Einzelnen behandelten τέχναι – das heißt ausschließlich die mathematischen Wissenschaften –, die eine Befreiung aus dieser Lage herbeiführen. Sie ermöglichen und bewirken den gesamten Prozess (1) der Lösung von den Fesseln, (2) der Umkehr zu den und der Schau der an der Mauer entlanggetragenen Gegenstände(n) und der Sonne sowie des Aufstiegs aus der Höhle an (3) das Tageslicht, wo man zwar noch nicht die wahren Dinge selbst einschließlich der Sonne zu sehen vermag, gleichwohl aber ihre Spiegelungen im Wasser und ihre Schatten. Erst an dieser Stelle, befreit und außerhalb der Höhle, sind die nunmehr ehemaligen gefangenen Menschen in der Lage, den Weg mittels der Dialektik fortzusetzen – und mit dieser dann wohlgemerkt bis zum letzten Ziel zu gelangen, dem Guten.

|| 98 Zu καίτοι νοητῶν ὄντων μετὰ ἀρχῆς (R. 511d2) als möglicher Interpolation siehe Slings 2005, 113– 119 (mit eher sprachlichen als sachlichen Gründen). Er versteht den Ausdruck (mit Waterfield) als „even though they are intelligible, when related to a starting-point“ (117) dahingehend, dass „the status of the mathematic objects is contingent upon their being or not being related to an ἀρχή“ (117).

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Der entscheidende Punkt ist das Nutzen von ‚Hypothesen‘ (Diagrammen), die universelle Sachverhalte repräsentieren. Ansonsten ergeht es einem wie den Gefangenen in der Höhle, die eine Kenntnis von Korrelationen haben, die sich in dem Verhalten der körperlichen Dinge zeigen, aber nicht über Wissen und noch nicht einmal über wahre Meinung über diese Dinge verfügen (R. 516c8–d7). Aus der Höhle durch eine solche Mathematik entkommen, ist es dann aber möglich, die ‚Hypothesen‘ hinter sich zu lassen und zu wahrem Wissen, den Formen, zu gelangen (R. 533c8–d4): Οὐκοῦν, ἦν δ’ ἐγώ, ἡ διαλεκτικὴ μέθοδος μόνη ταύτῃ πορεύεται, τὰς ὑποθέσεις ἀναιροῦσα, ἐπ’ αὐτὴν τὴν ἀρχὴν ἵνα βεβαιώσηται, καὶ τῷ ὄντι ἐν βορβόρῳ βαρβαρικῷ τινι τὸ τῆς ψυχῆς ὄμμα κατορωρυγμένον ἠρέμα ἕλκει καὶ ἀνάγει ἄνω, συνερίθοις καὶ συμπεριαγωγοῖς χρωμένη αἷς διήλθομεν τέχναις; „Führt nun nicht der dialektische Weg allein“, sagte ich, „in diese Richtung durch Aufhebung der vorausgesetzten Hypothesen zum Anfang selbst, damit dieser fest werde, und zieht und führt er nicht wahrhaftig das in barbarischem Schlamm vergrabene Auge der Seele sacht nach oben und benutzt dabei als Mitdienerinnen und Mithelferinnen bei der Herumwendung der Menschen diejenigen Künste, die wir durchgegangen sind [sc. die mathematischen Wissenschaften]?“

Der vermittelnde Status der ‚Künste‘, die Sokrates und Glaukon durchgegangen sind, das heißt der mathematischen Wissenschaften, hat seine Ursache im Umstand, dass Mathematik prinzipiell Körperliches und Intelligibles in sich vereint. Entsprechend benennt Platon diesen Zustand der Seele prägnant als ‚Dianoia‘ (R. 533d4–7): ἃς ἐπιστήμας μὲν πολλάκις προσείπομεν διὰ τὸ ἔθος, δέονται δὲ ὀνόματος ἄλλου, ἐναργεστέρου μὲν ἢ δόξης, ἀμυδροτέρου δὲ ἢ ἐπιστήμης. διάνοιαν δὲ αὐτὴν ἔν γε τῷ πρόσθεν που ὡρισάμεθα. „welche Künste wir aus Gewohnheit oftmals (Formen des) ‚Wissen(s)‘ genannt haben. Sie benötigen aber einen anderen Namen, klarer einerseits als ‚Meinung‘ [δόξα], dunkler andererseits als ‚Wissen‘ [ἐπιστήμη]. Vorhin haben wir sie als ‚Dianoia‘ [διάνοιαν] bestimmt, glaube ich.“99

Mathematik ist nicht mit dem Status von ‚Wissen‘ und also nicht mit dem höchsten epistemologischen Status verbunden, zugleich aber auch nicht mit dem Status von ‚Meinung‘, also einem epistemologischen Status, wie er sich dem Liniengleichnis zufolge mit dem Körperlichen verbindet. Der der Mathematik zugeordnete Status liegt dazwischen und trägt die Bezeichnung ‚Dianoia‘, mehr oder weniger ‚vermittelndes Denken‘. Doch obwohl, so Platon, die mathematischen Wissenschaften gleichsam im Traum vom Sein träumen, nämlich insofern sie die Hypothesen unbewegt lassen

|| 99 Der (ironisch-etymologisierende) Bezug ist auf die Stelle R. 511d3–5 im Liniengleichnis: διάνοιαν δὲ καλεῖν μοι δοκεῖς τὴν τῶν γεωμετρικῶν τε καὶ τὴν τῶν τοιούτων ἕξιν ἀλλ’ οὐ νοῦν, ὡς μεταξύ τι δόξης τε καὶ νοῦ τὴν διάνοιαν οὖσαν („Du scheinst mir den mit den geometrischen und derartigen Gegenständen verbundenen Zustand [sc. der Seele] ‚Dianoia‘ und nicht ‚Nous‘ zu nennen, nämlich insofern sich die ‚Dianoia‘ irgendwie zwischen ‚Doxa‘ und ‚Nous‘ befindet“).

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müssen, sind sie dennoch neben der Dialektik, die das Sein nicht im Traum, sondern wahrhaftig ergreift, die einzigen Künste, die sich mit dem Intelligiblen und nicht mit dem Körperlichen beschäftigen, sei es in der Form von Meinungen und Begierden oder in Bezug auf die Prozesse des Entstehens und Zusammensetzens oder die Sorge für das Wachsende und Zusammengesetzte (R. 533a7–c7). Dies erlaubt ein knappes Fazit: Mathematische Modellierung ist ein unabdingbares Moment im Prozess der Befreiung der Menschen aus der Höhle und ihrem Weg zur Erkenntnis des Guten; sie löst die Menschen aus den Fesseln und führt sie ans Tageslicht des Seins. Der methodische Kern ist die Modellierung universeller, nicht primär auf das Physikalische bezogener mathematischer Sachverhalte in Form von Diagrammen euklidischen Typs, also im Gegensatz zur traditionellen oder pythagoreischen ‚Mathematik‘. Der Mechanismus der Befreiung besteht darin, dass Mathematik Bilder des Körperlichen in einzigartiger Weise mit dem intelligiblen Sein verbindet, und zwar auf der Grundlage der fundamentalen ontologischen Verfasstheit der Welt. Voraussetzung für die Richtigkeit der mathematischen Forschung ist eine systematische Axiomatisierung der Mathematik, wie sie nicht nur von Platon im Liniengleichnis gefordert, sondern auch in den mathematikgeschichtlichen Zeugnissen belegt ist.100 Hieraus ergibt sich eine Antwort auf die Ausgangsfrage des Abschnitts, nämlich die danach, wie die Längengleichheit der beiden mittleren Segmente nicht nur mathematisch, sondern auch philosophisch zu verstehen ist: Einerseits steht das erste Liniensegment für die Formen, das dritte für die empirisch gegebenen Gegenstände und das vierte für die Abbilder dieser Gegenstände, den konkreten Inhalt der menschlichen Wahrnehmung, das zweite Segment hingegen für die Gegenstände der mathematischen Wissenschaften, die direkten Abbilder der Formen im Bereich des Denkbaren. Als Abbilder stehen diese Gegenstände im quantitativen Verhältnis von ‚unbestimmt viel‘ zu jedem einzelnen ihrer Originale; jeder einzelnen Form sind unbestimmt viele einzelne mathematische Gegenstände zugeordnet. Andererseits gilt Entsprechendes auch für die empirischen Gegenstände, denn diese sind ebenfalls direkte Abbilder der Formen, nur im Bereich des Körperlichen. Im Ergebnis ist den Formen nicht nur eine Art von Abbildung zugeordnet, sondern zwei: die mathematischen und die körperlichen Gegenstände, und zwar in demselben quantitativen Verhältnis. Folglich sind die durch das zweite Segment repräsentierten mathematischen Objekte als direkte Gegenstücke zu den durch das dritte Liniensegment repräsentierten körperlichen Objekten konzipiert, und zwar als diesen direkt zugeordnete intelligible || 100 Vgl. oben Kap. 5.5. Angesichts der dort sowie der allgemein zum Diagramm in Kap. 3 erzielten Ergebnisse erweist sich als Fehleinschätzung, einerseits eine mathematische Irrelevanz derartiger Definitionen anzunehmen und andererseits Platon kein genuines Interesse an einer Axiomatisierung der Mathematik zu unterstellen; vgl. Erler 2007, 516: „Zwar ändert sich für Mathematiker nach dem Rekurs auf das Voraussetzungslose an der Begründung ihrer Lehrsätze nur insofern etwas, als diese nun hinsichtlich ihrer mathematischen Prinzipien grössere Sicherheit gewonnen haben. […] Freilich lag ihm [sc. Platon] kaum an einer Entwicklung der Mathematik um ihrer selbst willen.“

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Gegenstände in einem relationalen Verhältnis von 1:1 mit entsprechend eineindeutiger Zuordnung.101 Die Implikation ist weitreichend: Alles, was in der körperlichen Welt erkennbar ist, mithin unter dem Einfluss des Prinzips der ‚Einheit‘ steht, verfügt über ein mathematisches Korrelat, und dies ist mit dem Seelenvermögen der Dianoia prinzipiell erfassbar. Als konkrete Aufgabe für die Dianoia stellt sich dann, die richtigen ‚Hypotheseis‘ (Diagramme) zu generieren, die die in der körperlichen Welt inhärente Rationalität hinreichend repräsentieren. Dies ist evident nicht möglich, wenn sich die Dianoia an den potentiell nicht-rationalen Prozessen des Körperlichen orientiert und also ihren Zweck primär darin sieht, das Körperliche selbst zu beschreiben, sei es auch mit Zahlen, sondern nur dann, wenn sie von der Dialektik gelenkt wird, und zwar nach Maßgabe der von dieser zu erforschenden und in der Form von Definitionen etc. zu bestimmenden essentiellen und nicht akzidentellen Relationalität der mathematischen Formen. Erst auf diesem Weg, so Platon, kann eine „Befreiung aus dem barbarischen Schlamm“ erfolgen und ist sichere, allgemeine Erkenntnis möglich.102 Entsprechend könnte sich der Eindruck ergeben, dass der Begriff des ‚mathematischen‘ Gegenstands umfassender zu verstehen ist, als gerechtfertigt erscheinen könnte (vgl. oben Kap. 6.2), und zwar als jedwedes mathematisch-relational verfasste Modell, und zwar letztlich all derjenigen Dinge, die im Körperlichen anzutreffen sind. Insofern diese Modelle jedoch prinzipiell auf genuin mathematische Gegenstände reduziert werden können, und zwar mit Hilfe der Dialektik, erweist sich dieser Einwand als Scheinproblem: Als Aufgabe stellt sich für Platon, die körperlichen Gegenstände vollständig auf die relevanten mathematischen Gegenstände zu reduzieren, und zwar, in der Position der Gefangenen, ausgehend allein von denjenigen Sinneseindrücken, die die körperlichen Gegenstände generieren, oder zum Zweck der erfolgreichen Forschung besser: ausgehend von den intendiert als ‚Hypothesen‘ hergestellten Modellen, sprich: den mathematischen (ein-, zwei- oder dreidimensionalen) Diagrammen universeller mathematischer Sachverhalte. In der Konsequenz sind die ma|| 101 Vgl. Pritchard 1995, 92. So erweist sich, dass die Proportionen der Linie nicht metaphorisch (im Sinn von ‚philosophisch nicht relevant‘) sind; vgl. von Fritz 1932, 157: „Doch ist die Größenproportion der Abschnitte der Strecke nur ein Symbol für ein ganz andersartiges Verhältnis zwischen diesen Bereichen und ihren Unterabteilungen. Dieses eigentlich gemeinte Verhältnis aber […]“. 102 Insofern erklärt sich, warum die intelligiblen Gegenstände der Dianoia nicht ontologisch oder epistemologisch ‚wirklicher‘ oder ‚klarer‘ und in diesem Sinne ‚wertvoller‘ als die Gegenstände der Pistis sind, wie ja die Längengleichheit der Liniensegmente impliziert. Dies ist kompatibel mit Platons Äußerungen zum Liniengleichnis, wie speziell Tait 2002, 17 Anm. 11 hervorhebt: Nur an einer einzigen Stelle wird die Dianoia als klarer etc. als etwas anderes bezeichnet (R. 533d5 f.: δέονται δὲ ὀνόματος ἄλλου, ἐναργεστέρου μὲν ἢ δόξης, ἀμυδροτέρου δὲ ἢ ἐπιστήμης; zur Übersetzung siehe oben), und hier liegt ein Bezug auf die Doxa insgesamt vor, das heißt den Bereich des Körperlichen einschließlich der Sinneswahrnehmungen (R. 534a2 f.). Ansonsten ist dieser Gegensatz einerseits auf die Paare auf der untersten Ebene der Linie sowie auf das Paar auf der oberen Ebene beschränkt, und zwar als direkte Folge der Teilung selbst: vgl. R. 510a8–10 sowie R. 509d8–510a3; siehe auch oben.

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thematischen Gegenstände für Platon tatsächlich die Gegenstände der Mathematik euklidischen Typs oder die auf diese reduzierbaren relationalen Modelle. Vor diesem Hintergrund erweist sich als instruktives Indiz für die Richtigkeit der explizierten Deutung die bereits angesprochene, in der Forschung als irritierend geltende Vertauschung von ‚Pistis‘ (≈ 3. Liniensegment) und ‚Dianoia‘ (≈ 2. Liniensegment) in der Proportionenkette, die vor der Diskussion der Dialektik die Behandlung der mathematischen Wissenschaften in Politeia VII pointiert beschließt (R. 534a3–5): καὶ ὅτι οὐσία πρὸς γένεσιν, νόησιν πρὸς δόξαν, καὶ ὅτι νόησις πρὸς δόξαν, ἐπιστήμην πρὸς πίστιν καὶ διάνοιαν πρὸς εἰκασίαν. „Und dass, in welchem Verhältnis Sein (≈ 1. + 2. Liniensegment) zum Werden (≈ 3. + 4. Liniensegment) steht, ‚Denken‘ (≈ 1. + 2. Liniensegment) zu ‚Meinung‘ (≈ 3. + 4. Liniensegment) steht, und in welchem Verhältnis ‚Denken‘ (≈ 1. + 2. Liniensegment) zu ‚Meinung‘ (≈ 3. + 4. Liniensegment) steht, ‚Episteme‘ (≈ 1. Liniensegment) zu ‚Pistis‘ (≈ 3. Liniensegment) und ‚Dianoia‘ (≈ 2. Liniensegment) zu ‚Eikasia‘ (≈ 4. Liniensegment) stehen.“

Diese Vertauschung erweist nicht nur, dass Platon der Umstand der Längengleichheit der ‚Pistis‘ und ‚Dianoia‘ zugeordneten Liniensegmente bewusst gewesen sein muss, sondern sie fasst sogar den gesamten Nutzen der Mathematik für Platon pointiert zusammen: Genau so, wie die Einzeldinge Abbildungen der Formen sind, sind die von den Einzeldingen kommenden Sinneseindrücke Abbildungen der mathematischen Gegenstände. So eröffnet sich ein Weg, aus dem Bereich der Meinung innerhalb der Höhle in den Bereich des Wissens außerhalb der Höhle zu entfliehen, und zwar im Ausgang von den Sinneseindrücken. In der Tat: Angesichts der grundsätzlich gegebenen Fesselung der Gefangenen ist dies der einzige operationalisierbare Weg. Der sachliche Zusammenhang impliziert ein praktisches Forschungsprogramm, nämlich die vollständige mathematische Modellierung der gesamten Welt. Wie man sich diese vorzustellen hat, zeigt das letzte, dem Timaios gewidmete Kapitel dieser Studie. An dieser Stelle reicht ein Hinweis auf ein vieldiskutiertes instruktives Beispiel, die sogenannte ‚Rettung der Phänomene‘, die in der indirekten Tradition mit Platon verbunden ist. Wir lesen bei Simplikios (in Cael. p. 488, 14–24): ὁ δέ γε ἀληθὴς λόγος οὔτε στηριγμοὺς αὐτῶν ἢ ὑποποδισμοὺς αὐτῶν οὔτε προσθέσεις ἢ ἀφαιρέσεις τῶν ἐν ταῖς κινήσεσιν ἀριθμῶν παραδεχόμενος, κἂν οὕτω φαίνωνται κινούμενοι, οὐδὲ τὰς ὑποθέσεις ὡς οὕτως ἐχούσας προσίεται, ἀλλὰ ἁπλᾶς καὶ ἐγκυκλίους καὶ ὁμαλεῖς καὶ τεταγμένας τὰς οὐρανίας κινήσεις ἀπὸ τῆς οὐσίας αὐτῶν τεκμαιρόμενος ἀποδείκνυσι· μὴ δυνάμενοι δὲ δι’ ἀκριβείας ἑλεῖν, πῶς αὐτῶν διακειμένων φαντασία μόνον ἐστὶ καὶ οὐκ ἀλήθεια τὰ συμβαίνοντα, ἠγάπησαν εὑρεῖν, τίνων ὑποτεθέντων δι’ ὁμαλῶν καὶ τεταγμένων καὶ ἐγκυκλίων κινήσεων δυνήσεται διασωθῆναι τὰ περὶ τὰς κινήσεις τῶν πλανᾶσθαι λεγομένων φαινόμενα. καὶ πρῶτος τῶν Ἑλλήνων Εὔδοξος ὁ Κνίδιος, ὡς Εὔδημός τε ἐν τῷ δευτέρῳ τῆς Ἀστρολογικῆς ἱστορίας ἀπεμνημόνευσε καὶ Σωσιγένης παρὰ Εὐδήμου τοῦτο λαβών, ἅψασθαι λέγεται τῶν τοιούτων ὑποθέσεων Πλάτωνος, ὥς φησι Σωσιγένης, πρόβλημα τοῦτο ποιησαμένου τοῖς περὶ ταῦτα ἐσπουδακόσι, τίνων ὑποτεθεισῶν ὁμαλῶν καὶ τεταγμένων κινήσεων διασωθῇ τὰ περὶ τὰς κινήσεις τῶν πλανωμένων φαινόμενα.

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Die wahre Theorie akzeptiert weder Stillstand noch Retrogradation noch eine Addition oder Subtraktion der in den Bewegungen vorhandenen Zahlen, auch wenn sie sich in der Wahrnehmung derart bewegen, und sie strebt auch nicht ‚Hypotheseis‘ an, die solcherart sind, sondern sie erweist die Bewegungen am Himmel als einfach, kreisförmig, gleichförmig und geordnet, indem sie die Indizien nutzt, die sich aus ihrer Natur ergeben. Aber insoweit man nicht fähig war, genau zu erfassen, bei welcher Konfiguration dieser Bewegungen die Geschehnisse [denn tatsächlich] nur Erscheinung und nicht Wirklichkeit sind, war man darauf aus, herauszufinden, durch die ‚Zugrundelegung‘ [sc. ‚Hypothesis‘] welcher gleichförmiger, geordneter und kreisförmiger Bewegungen die Erscheinungen bezüglich der Bewegungen derjenigen Dinge, von denen man sagt, dass sie herumirren, bewahrt werden. Als erster von den Griechen soll, wie sowohl Eudemos im zweiten Buch der Geschichte der Astronomie berichtet als auch Sosigenes, der es von Eudemos genommen hat, Eudoxos von Knidos derartige ‚Hypotheseis‘ zu fassen bekommen haben, wobei Platon, wie Sosigenes sagt, dies als Problem denjenigen, die hierzu Forschungen betrieben haben, gestellt hat, nämlich bei der ‚Zugrundelegung‘ [sc. ‚Hypothesis‘] welcher gleichförmiger und geordneter Bewegungen die Erscheinungen bezüglich der Bewegungen der ‚Wandersterne‘ [sc. Planeten] bewahrt werden.103

Zwar scheint angesichts der Formulierung die Bezeugung der Verbindung der ‚Rettung der Phänomene‘ mit Platon bei Simplikios direkt wohl nur auf Sosigenes und nicht Eudemos zurückzugehen (und auf diesen gegebenenfalls nur mittelbar),104 doch

|| 103 Vgl. etwas später den Rückverweis bei Simplikios, in Cael. p. 492, 31–493, 5: καὶ εἴρηται καὶ πρότερον, ὅτι ὁ Πλάτων ταῖς οὐρανίαις κινήσεσι τὸ ἐγκύκλιον καὶ ὁμαλὲς καὶ τεταγμένον ἀνενδοιάστως ἀποδιδοὺς πρόβλημα τοῖς μαθηματικοῖς προὔτεινε, τίνων ὑποτεθέντων δι’ ὁμαλῶν καὶ ἐγκυκλίων καὶ τεταγμένων κινήσεων δυνήσεται διασωθῆναι τὰ περὶ τοὺς πλανωμένους φαινόμενα, καὶ ὅτι πρῶτος Εὔδοξος ὁ Κνίδιος ἐπέβαλε ταῖς διὰ τῶν ἀνελιττουσῶν καλουμένων σφαιρῶν ὑποθέσεσι („Schon vorher ist festgestellt worden, dass Platon den Bewegungen am Himmel zweifellos das Kreisförmige, Gleichförmige und Geordnete zuwies und als Problem den Mathematikern vorgab, unter der ‚Zugrundelegung‘ [sc. ‚Hypothesis‘] welcher gleichförmiger, kreisförmiger und geordneter Bewegungen die Erscheinungen in Hinsicht auf die ‚Wandersterne‘ [sc. Planeten] gerettet werden könnten, und dass als erster Eudoxos von Knidos das Problem mit der ‚Hypothesis‘ mittels der sogenannten ‚rückrollenden Kugeln‘ anging“). Vgl. oben Kap. 2 und Kap. 5.5 zu Eudoxos und zu der in Über Geschwindigkeiten entfalteten Theorie der homozentrischen Sphären, auch zur Datierung (ebenso nach der communis opinio spät, wohl frühestens die zweite Hälfte der 350er Jahre v. Chr.: siehe oben mit Anm. 5190). 104 Siehe Mittelstraß 1962, als Ausgangspunkt dafür, Platon jede Verbindung mit dem Programm der ‚Rettung der Phänomene‘ abzusprechen. Allerdings zeigt die Analyse hier, dass einer der sachlichen Gründe für diese Position, die mutmaßliche vollständige Zurückweisung der Sinneswahrnehmung durch Platon, nicht haltbar ist: Man beachte neben diesem Kapitel sowie oben Kap. 5.5 die Analyse zum Timaios in Kap. 7. Vgl. zur ‚Rettung der Phänomene‘ in Bezug auf Platon Knorr 1990, Hetherington 1996, Gregory 2003a, Guetter 2003, Zhmud 2005, Zhmud 2006, 86–89 und knapp Vlastos 2005, 110–112, der sich jedoch weniger skeptisch zeigt (ebenso Vlastos 1988, speziell 362 f.: „There is no good reason to doubt that Plato had been the first to project the idea” [362]; ebenso im Kontext eines historischen Abrisses der „mathematical bases of Greek cosmology“ Wright 1995, 145–162); siehe auch Goldstein & Bowen 1983 und Kouremenos 2015, 103–108 (108: „fanciful“, aber ohne triftigen Grund). Vor allem mit Bezug auf die moderne Physik diskutiert dieses Wissenschaftsprogramm Lloyd 1978; vgl. Duhem 1908 und Carrier 2005; instruktiv ist Goldstein 1997 zur späteren Variante bei Ptolemaios (mit signifikantem Unterschied zum hier vorliegenden Ansatz). Kouremenos 2015, 104 Anm. 2

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zeigt sich derselbe sachliche Zusammenhang, wie er für Platon erarbeitet wurde: Konfrontiert mit der in der Beobachtung des Himmels irregulären Bewegung der ‚Planeten‘ (das heißt ‚Wanderer‘) – sachlich verursacht dadurch, dass (die Newtonsche Physik zugrunde gelegt) das Zentrum der Bewegung der Planeten (grob gesprochen) der Masseschwerpunkt des mit der Sonne (und den anderen Planeten) gebildeten mechanischen Systems ist, mehr oder weniger also die Sonne selbst, wir die Planeten aber von der Erde aus beobachten, die eine ebensolche Bewegung vollführt, mithin die beobachtete resultierende Planetenbewegung aus einer kompositionalen Überlagerung mehrerer Bewegungen resultiert, die wiederum aus der Beobachterperspektive an die ‚Himmelskugel‘ projiziert wird –, stellt sich mathematisch das Problem, wie sich diese Bewegung als reguläre Bewegung beschreiben lässt, und zwar derart, dass die ‚Erscheinungen bewahrt werden‘, das heißt, nicht nur eine mögliche Beschreibung des Phänomens gegeben wird, sondern diese als Wiedergabe der tatsächlich vorliegenden Verhältnisse auch mit der Sinneswahrnehmung übereinstimmt.105 Bemerkenswert ist, dass eine solche mathematische Beschreibung der Bewegungen der Planeten im Zitat mit dem Terminus ‚Hypothesis‘ (hier mittels des entsprechenden Verbs) bezeichnet ist. In der Tat zeigt sich eine direkte Parallele zu derjenigen Methode, die Platon mit demselben Terminus im Liniengleichnis als grundlegend für die Mathematik beschreibt: Der Inhalt der Sinneswahrnehmung wird als Abbild nicht eines körperlichen Vorgangs, sondern eines intelligiblen, relationalen Sachverhalts interpretiert, der allein mit dem Instrumentarium der Mathematik ausdrückbar ist – nämlich als eine (möglicherweise kompositionale) einfache kreisförmige, gleichförmige Bewegung. Der einzige sachliche Unterschied ist, dass der Zusammenhang zwischen Sinneswahrnehmung, körperlichem Ereignis und mathematischer || deutet den Verweis auf die ‚Rettung der Phänomene‘ bei Simplikios dahingehend, dass dieser „seems to adopt the so-called instrumentalist interpretation“; dagegen steht der Text, insofern es eben darum geht, die ‚Wahrheit‘ herauszufinden und die ‚Wirklichkeit‘ zu ergründen, jenseits der und durch die ‚Phänomene‘ hindurch (Kouremenos’ Übersetzung a. a. O. verfehlt in dieser Hinsicht die Pointe). Die explizite Nennung von Sosigenes bei Simplikios könnte im Übrigen darauf beruhen, dass Simplikios Eudemos insgesamt nur aus zweiter Hand, und zwar nach Sosigenes zitiert: siehe Dicks 1959, 302. Dies müsste im konkreten Fall auch nicht verwundern, war diese Schrift des Sosigenes doch allem Anschein nach ausschließlich der Sphärentheorie gewidmet, wohl nicht nur bei Eudoxos, sondern auch in der Weiterentwicklung unter anderem durch Kallippos und Aristoteles: so bezeugt Proklos in Hyp. 4, 98, 2–4 eine Schrift des Sosigenes mit dem Titel περὶ τῶν ἀνελιττουσῶν σφαιρῶν (Über die rückrollenden Kugeln). Warum, so ist zu fragen, hätte Simplikios bei Vorliegen eines derartigen, auch spätere Entwicklungen abdeckenden Spezialtraktats im Regelfall noch direkt auf Eudemos als erste Quelle zurückgreifen sollen? Zu erwarten ist, dass dies nur dann erfolgte, wenn er ein frühes Ereignis nachdrücklich beglaubigen wollte, gegebenenfalls wegen der Wichtigkeit. Die Nutzung von Sosigenes’ Traktat impliziert also nicht schon an sich, dass Eudemos’ Schrift nicht mehr zugänglich war. 105 Inwiefern die zu gewissen Zeiten von der Erde aus sichtbaren rückwärtslaufenden Bewegungen der Planeten hierfür relevant (und ob sie überhaupt bekannt) waren, wurde jüngst in Frage gestellt: siehe für einen Überblick zur Diskussion Beere 2003, 4 f. und vgl. exempli gratia Yavetz 1998, Mendell 1998, Mendell 2000 und Yavetz 2001 sowie auch Bowen 2002 und Bowen 2013.

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‚Hypothesis‘ nicht so direkt und einfach geartet und zugänglich ist, wie es bisher Platons Ausführungen gemäß der Fall zu sein schien, etwa bei dem in R. 510d5–511a2 als Beispiel angeführten Quadrat oder der Diagonale. Zu dieser Frage wird Kap. 7 zum Timaios Aufschluss geben. Hier bleibt festzuhalten, dass Platon und nicht (1) die Pythagoreer und / oder (2) Eudoxos der wahrscheinliche Urheber der Maxime der Rettung der Phänomene war, mithin das Sosigenes(?)-Zeugnis bei Simplikios als zuverlässig gelten darf, und zwar aus philosophischen und mathematischen Gründen:106 (1) Nicht nur zeigt sich eine signifikante Parallele zum Liniengleichnis, sondern für diese Methode ist einerseits eine kategoriale Trennung der Sinneswahrnehmung von der mathematischen Beschreibung sowie dieser beiden von den körperlichen Ereignissen die notwendige Voraussetzung, andererseits müssen aber alle diese drei Ebenen im Sinne einer Abbildungsbeziehung miteinander verbunden sein. Grundlegend anders sind insbesondere die mathematischen Modelle der Pythagoreer direkte Repräsentationen einfacher Zahlenverhältnisse, die vollständig in der Sinneswahrnehmung aufgehen; in einem solchen Rahmen ist es von vornherein nicht möglich, ein mathematisches Modell zur Erklärung der Phänomene zu benutzen, das nur ‚ähnlich‘ und nicht im Wesentlichen ‚identisch‘ zu diesen ist – oder dessen Ähnlichkeit überhaupt irrelevant ist, wie es in der kosmologischen Spekulation der griechischen Naturphilosophie in der Regel festzustellen ist.107 Die ontologischen und epistemologischen Erfordernisse sind jedoch vollständig erfüllt durch eine philosophische Theorie, wie sie bei Platon in den Gleichnissen der Politeia entgegentritt, ja: diese scheint, insofern Platon als erster in der Geschichte der griechischen Philosophie einen intelligiblen Bereich sui generis und in intrikater Verbindung mit dem nicht-intelligiblen Bereich postuliert hat, überhaupt die erste derartige Theorie gewesen zu sein.108 Kurz: || 106 Zu Eudoxos als Urheber siehe insbesondere Goldstein & Bowen 1983, die in ihm denjenigen sehen, der eine mathematische Astronomie in Griechenland eingeführt habe. Wenn freilich Platon der Urheber ist, impliziert dies in Hinsicht auf sein Verhältnis zu den Fachmathematikern zumindest, dass „he must have been accepted by them as no dabbler in their business but as a student of their subject who understood it so well that his vision of progress in it might even be at certain points ahead of theirs“ (Vlastos 1988, 362 f.). Dasselbe gilt evident für Aristoteles: siehe unten mit Anm. 110. 107 So muss ausgeschlossen werden, dass das Programm der Rettung der Phänomene auf Pythagoreer des Endes des 5. Jhs. oder des Anfangs des 4. Jhs. v. Chr. zurückgeht: so Knorr 1990. Die von ihm S. 325 angeführte Passage Geminos 1, 19–21 ist angesichts der späteren Vermengung von pythagoreischer und platonischer Tradition von vornherein nicht beweiskräftig (vgl. oben Anm. 5142; siehe auch Kouremenos 2015, 107 f.), zumal sie keinen Zeitpunkt benennt und auch insgesamt, gerade im Vergleich mit der detaillierten Simplikios-Passage, auffällig unspezifisch ist. 108 Auch wenn nicht zuletzt durch Aristoteles’ Zeugnis unzweifelhaft ist, dass (der historische) Sokrates als erster die τί-Frage gestellt hat (vgl. Metaph. 987b1–7), ist ebenso unzweifelhaft, dass (der historische) Sokrates sie nicht im Sinn einer Frage nach der (platonischen) ‚Form‘ gestellt haben kann: Erst Platon hat ‚Definitionen‘ nicht in Bezug auf das Wahrnehmbare, sondern in Bezug auf das Intelligible eingeführt, ausdrücklich in Abkehr von Sokrates (jedenfalls nach demselben AristotelesZeugnis). Sokrates’ τί-Frage verbleibt trotz der scheinbaren Identität mit Platons τί-Frage (in den Begrifflichkeiten von Platons Ontologie) im Bereich des Werdens (Körperlichen). Dies impliziert, dass

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Angesichts des Zuschnitts seiner gesamten philosophischen Position konnte und musste Platon folglich die Phänomene retten; bei den Pythagoreern hingegen gab es in dieser Hinsicht schlicht nichts, was zu retten gewesen wäre. (2) Für Eudoxos ist für die frühe Zeit angesichts seines oben in Kap. 5.5 behandelten Modells der Himmelskugel im Enoptron keine Theorie anzunehmen, die den Erfordernissen genügt hätte. Vielmehr lassen sich in deren Rahmen die Planeten prinzipiell nur als ‚Wanderer‘ beschreiben.109 Das Modell ist schließlich nicht mehr als ein || sie weniger auf die Wesensbestimmung eines abstrakten (intelligiblen) Objekts abzielt als (möglicherweise) auf die Zuweisung eines partikularen (empirischen) Objekts zu der übergeordneten Klasse ähnlicher partikularer (empirischer) Objekte (dann im Sinn einer ‚Begrenzung‘ einer Klasse von Gegenständen, was auch etymologisch eine naheliegende Erklärung für die Wahl des Terminus ὁρισμός ergäbe); dies hat sich möglicherweise in der Erforschung der spezifischen Beschaffenheit (dem ποῖον) niederschlagen können: vgl. Döring 1987, insbesondere 93 f. Wie sich in diesem Fall alles im Einzelnen verhielte, ist freilich eine Frage, die hier nicht behandelt werden kann. 109 In der Tat scheint ja auch die Entdeckung, dass die Planeten keine ‚Wanderer‘ sind, erst in Platons Zeit gemacht worden zu sein: vgl. Lg. 821b3–822c6, wo explizit die traditionelle Irregularität der Bewegung der Planeten zurückgewiesen wird. Diese Stelle ist zwar nachweislich spät und (mehr oder weniger) auf den Beginn der 340er Jahre v. Chr. zu datieren, doch nicht unbedingt auf einen Zeitpunkt nach Erarbeitung von Eudoxos’ Theorie: siehe oben Anm. 103. In diesem Zusammenhang ist auch die Beschreibung der Bewegung der Himmelskörper im Mythos von Er in Politeia X zu lesen, die aber in jedem Fall vor den Nomoi zu datieren ist (R. 616b–617b; insgesamt R. 614a–621d); vgl. Knorr 1990, 313–317. Signifikant ist natürlich, wie Knorr 1990, 321 feststellt, dass „neither in the Republic nor the Timaeus, for instance, does Plato recognize the key features of Eudoxus’s scheme, since, as we have seen, Plato supposes the planets to move along paths compounded of only two circular motions, without the action of the additional spheres introduced by Eudoxus“. Die Modelle (zu ihren Unterschieden siehe Gregory 2003a, 6–10; vgl. Cavagnaro 1997) sind, wie Knorr zu Recht feststellt, nicht fähig, vollständig die Irregularität der Phänomene zu erklären (was aber auch Eudoxos’ Modell nicht tut, wie schon Simplikios unter Berufung auf Sosigenes feststellt: in Cael. p. 504, 16–20; vgl. Mourelatos 2001, 1 und Gregory 2003a, 21 f.; vgl. oben Anm. 5192), aber er übersieht den entscheidenden Punkt: Es handelt sich bei Platons Modell(en) zwar um ein einfachereres Modell als das des Eudoxos, und es ist offensichtlich ungenügend, die Phänomene zu erklären – aber gerade deshalb muss es eben einerseits vor Eudoxos’ Modell zu datieren, andererseits aber in genau demselben Forschungsprogramm der ‚Rettung der Phänomene‘ zu verorten sein, denn es basiert (und zwar wohlgemerkt als das erste derartige, positiv bezeugte Modell) in eindeutiger Weise auf kreisförmigen und gleichförmigen Bewegungen (vgl. Gregory 2003a). Dies spricht für die Korrektheit des bei Simplikios referierten historischen Zusammenhangs, zumindest was das Verhältnis von Platon und Eudoxos angeht. Anders Zhmud 1998 und Kouremenos 2015, insbesondere 62–70 (und 103–108), der (letztlich ohne sachlichen Grund, da auf fehlender Materialbasis) Eudoxos’ Sphärentheorie als Grundlage der Lösung des Problems der Würfelverdopplung sieht und diese als Hintergrund für Platons Programm der Reform der Astronomie in Politeia VII identifiziert. Zum Begriff des Planeten bei Platon siehe Vlastos 2005, 32 f. Anm. 19 (siehe auch 99 f.). Im oben angeführten Xenophon-Zitat zu Sokrates sind die Planeten im Übrigen noch ‚Wanderer‘: Sokrates habe abgelehnt, die Astronomie „bis zu dem Punkt zu erlernen, dass man die Dinge, die sich nicht in derselben Kreisbewegung befinden – sowohl die Planeten als auch die unsteten Sterne –, verstehe“ (Xenophon, M. 4, 7, 5: μέχρι τοῦ καὶ τὰ μὴ ἐν τῇ αὐτῇ περιφορᾷ ὄντα, καὶ τοὺς πλάνητάς τε καὶ ἀσταθμήτους ἀστέρας γνῶναι; für die gesamte Passage siehe oben Kap. 5.5); die Formulierung legt nahe, dass diese traditionelle Annahme wohlgemerkt noch als für

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‚Spiegel‘. Erst ein diagrammatisches Modell, wie es anscheinend in Eudoxos’ Phainomena konstruiert wird, erlaubt eine solche Beschreibung; hier werden die Phänomene konzeptuell von den zugrunde liegenden physikalischen Sachverhalten getrennt, wie sich ja schon im Namen spiegelt. Erst jetzt wäre die Voraussetzung für die ‚Rettung der Phänomene‘ der Himmelskugel gegeben gewesen. Die mathematische, das heißt spezifische relationale Form dieser Theorie geht aber, wie oben in Kap. 5.5 gezeigt, auf Platon und die Akademie zurück. Impliziert ist, dass Eudoxos selbst kein originäres Interesse an einer ‚Rettung der Phänomene‘ gehabt zu haben scheint. Eine solche Maxime ergibt sich weder aus seinen Forschungen vor dem Kontakt mit der Akademie noch wäre sie mit diesen kompatibel. Instruktiv ist die fassbare Modellierung der Sphären in Über Geschwindigkeiten, also derjenigen Theorie, auf die Simplikios verweist: Die Sphären beschreiben zwar jeweils die Bewegungen für die einzelnen Planeten, in der Kombination führen sie aber eben gerade nicht dazu, die ‚Phänomene‘ zu ‚bewahren‘, also den Sinneseindruck und die resultierende Gesamtbewegung der Himmelskörper im System (das heißt der physikalischen Welt, wie sie in der Beobachtung gegeben ist) unter Benennung der spezifischen Ursachen der jeweiligen Bewegung wiederzugeben; dies ist erst für (wohlgemerkt) Aristoteles’ Fortentwicklung des Modells der Fall.110 Wie könnte, so ist angesichts dessen zu fragen, Eudoxos Urheber des Programms der ‚Rettung der Phänomene‘ gewesen sein, wenn sein Ansatz die Phänomene eben nicht nur nicht rettet, sondern hieran faktisch auch überhaupt nicht interessiert war? Insgesamt bestätigen sich die oben in Kap. 5.5 erzielten Ergebnisse, insbesondere zu Platons Rolle als ‚Architekt der Wissenschaften‘, der in Hinsicht auf die Mathema|| Xenophon selbstverständlich betrachtet werden muss. Auch Anaxagoras, Demokrit, Hippokrates von Chios und einige der Pythagoreer haben Kometen und Planeten noch als dieselben Phänomene verstanden: siehe eindeutig Aristoteles, Mete. 342b25–344a4, insbesondere 342b25–343a4. Eine hiervon primär unabhängige Frage ist die nach der Periodizität der Planetenbewegung, wann sich also dasselbe kosmische Ereignis aus der Perspektive des Beobachters auf der Erde wiederholt. Hierbei handelt es sich aber lediglich um die Beobachtung von Korrelationen, welche also in den Bereich der rein beobachtenden ‚Sternenkunde‘ gehören. Kreisbewegungen sind hierfür erst einmal irrelevant; dies bestätigt sich in der Beobachtung, dass die Planetenbewegungen insgesamt für die frühe Zeit der griechischen ‚Sternenkunde‘ (das heißt konkret bis auf die Zeit des Eudoxos, also des späten Platon) nicht im Zentrum des Interesses gestanden zu haben scheinen: siehe Goldstein & Bowen 1983. 110 Siehe umfassend Beere 2003 und auch Bodnár 2005. Im direkten Fortgang der oben in Anm. 103 zitierten, auch in diesem Zusammenhang relevanten Simplikios-Stelle ist die Weiterentwicklung dieser Theorie durch Kallippos bezeugt (in Cael. p. 493, 5–11). Instruktiv ist, dass Kallippos diese Weiterentwicklung in Athen bei und mit Aristoteles vorgenommen haben soll. Erklärlich ist dies nur dann, wenn die Verbindung des Problems mit Platon historisch war, und dasselbe gilt für Aristoteles’ Interesse an dieser Theorie. Siehe insgesamt oben Kap. 5.5 mit Anm. 5190 und 5192, aber auch Bowen 2002, Bowen 2013, Judson 2015 sowie Kouremenos 2010. Es verkennt die Pointe der Fortentwicklung der Theorie durch Aristoteles in Hinsicht auf die ‚Rettung der Phänomene‘, festzustellen, dass mit ihr „doch das Verlangen nach einer einfachen Erklärung der Himmelserscheinungen auf diese Weise tief verletzt“ worden sei (so Jori 2009, 301, auch insgesamt 296–301).

Fazit | 345

tisierung der Forschung in Theorie und Praxis ein dezidiert ‚euklidisches‘ Programm verfolgte, oftmals im direkten Gegensatz zu den ‚Mathematikern‘.

6.6 Fazit Dieses Kapitel nahm seinen Ausgang von der Vermutung, dass das Liniengleichnis im sechsten Buch der Politeia für das Verständnis der mathematischen Modellierung bei Platon von hoher Bedeutung ist – nicht nur, weil Platon eine Linie als mathematisches Modell dazu nutzt, seine ontologische und epistemologische Position diagrammatisch-ikonisch auszudrücken, sondern auch, weil er das Modell der Linie zugleich selbstreflexiv dazu nutzt, exemplarisch seine theoretische Position zu Wesen und Funktion mathematischer Modelle zu explizieren. Im Zug der Analyse haben sich Einsichten zu wesentlichen Aspekten des Problemkomplexes der mathematischen Modellierung bei Platon gezeigt, auch mit Gewinn für die der gesamten Studie zugrundeliegende Frage nach der Verfasstheit der voreuklidischen Mathematik. In einem ersten Schritt (Kap. 6.2) wurde auf der Grundlage eines Überblicks zum Inhalt des Liniengleichnisses aufgezeigt, dass und warum es in der Forschung als problematisch gilt. Insbesondere ein spezifischer Aspekt hat dazu geführt, es als inadäquaten Ausdruck von Platons Philosophie anzusehen, nämlich die Längengleichheit der zwei mittleren Liniensegmente. Sie scheint einerseits eine Unvereinbarkeit mit den zwei benachbarten Gleichnissen der Politeia zu bedingen und erzeugt andererseits den Eindruck, dass Platon mathematische Sachverhalte in nicht sachgemäßer, irreführender und fehlerhafter Weise zu metaphorischen Zwecken benutzt hat. Insofern Platon explizit von einer semantischen Kompatibilität aller drei Gleichnisse ausgeht, wurden in einem zweiten Schritt (Kap. 6.3) die für das Verständnis des Liniengleichnisses relevanten Aspekte von Höhlen- und Sonnengleichnis erarbeitet. Eines der Ergebnisse war, dass beide Gleichnisse metaphorische Modelle darstellen, die einerseits eine Ähnlichkeit von wahrnehmbarer (physikalischer) Welt und intelligibler Welt, mithin eine ikonische (und also Modell-) Ähnlichkeit zwischen beiden Bereichen ausdrücken und in diesen beiden Bereichen selbst wiederum eine weitere ikonische (und also Modell-) Ähnlichkeit von Originalen und Abbildern postulieren, die wiederum mit einem numerisch gefassten Gegensatz von ‚eins‘ zu ‚unbestimmt viel‘ gleichgesetzt wird. Vor diesem Hintergrund hat ein dritter Schritt (Kap. 6.4) einen zweiten, genaueren Blick auf das Liniengleichnis geworfen und sich insbesondere der Erklärung des irritierenden Aspekts der Längengleichheit der beiden mittleren Liniensegmente gewidmet. Die Analyse hat ergeben, dass dieser Aspekt in philosophisch sinnvoller Weise und in Übereinstimmung mit den zwei anderen Gleichnissen darauf verweist, dass die sich in der Linie zeigenden relationalen Verhältnisse (unter anderem) ontologisch den Umfang der ihnen zugeordneten Gegenstandsklassen repräsentieren. Platon bedient sich, so das Ergebnis, mit der Linie eines mathematischen Modells, das die Welt

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als mathematischen Gegenstand mit spezifischen relationalen Eigenschaften diagrammatisch vor Augen führt. Ein letzter Schritt (Kap. 6.5) widmete sich der philosophischen Erklärung der auf den ersten Blick überraschenden sachlichen Konsequenz, dass die Klassen der Gegenstände der körperlichen Welt und der Gegenstände der Mathematik gleichumfänglich sind. Es wurde gezeigt, dass dieser Umstand den Kern des Verständnisses von Mathematik und mathematischer Modellierung bei Platon berührt, nämlich dahingehend, dass sich aus ihm die sachliche Grundlage dafür ergibt, dass die Menschen ihre aufgrund der condicio humana bestehenden Fesseln der Sinneswahrnehmung abstreifen können, um aus der Höhle zu entkommen, und zwar dadurch, dass sie im Bereich des Intelligiblen eine mathematische Repräsentation derjenigen körperlichen Gegenstände betrachten und analysieren, die mit der Sinneswahrnehmung selbst kompatibel sind. Anders ausgedrückt: Der Sprung ins Intelligible gelingt, wenn man die im Körperlichen von einem physikalischen Gegenstand als Abbild verursachte Sinneswahrnehmung nicht als Wirklichkeit, sondern als Abbild eines intelligiblen, ‚Wirkliches‘ repräsentierenden Dings interpretiert. Als Aufgabe der mathematischen Forschung stellt sich dann für Platon, nach dem Muster des augenscheinlich tatsächlich auf ihn zurückgehenden Forschungsprogramms der Rettung der Phänomene ein mathematisches Modell als ‚Hypothesis‘ zu konstruieren, das diesen Kriterien genügt, und zwar mit dem Zweck, entsprechend der euklidischen Praxis dessen relationale Struktur zu analysieren und so Wissen von den Eigenschaften der wirklichen Welt, wenn auch in ‚vermittelter‘ Form (per ‚Dia-noia‘), ‚gleichsam im Traum‘ zu erlangen: Schließlich sind auch die körperlichen Dinge Abbilder der Formen, und in dem durch Konstruktion und Analyse des Modells sich vollziehenden Sprung ins Intelligible erweist sich effektiv, welche von deren Eigenschaften tatsächlich rational sind und also zur Form gehören, das heißt ein ikonisches Äquivalent zur Rationalität der Formen darstellen, welche eben so mittelbar zugänglich wird. Dieser Zusammenhang wird im nächsten Kapitel mittels einer Analyse der mathematischen Modellierung im Timaios genauer beleuchtet werden. Hier lässt sich als Fazit und zugleich Bestätigung der Analyse des Liniengleichnisses so weit festhalten, dass die Linie selbst als Modell ein allererstes und pointiert-programmatisches Beispiel für den von Platon explizierten Sachverhalt ist:111 Evident ist die Linie ein diagrammatisches Modell, und als solches verfügt sie über eine mathematische Relationalität, konkret Proportionalität zwischen ihren Liniensegmenten. Als ein solches Modell repräsentiert die Linie ikonisch die gesamte Welt und offenbart hierdurch unter anderem (neben äquivalenten epistemologischen Verhältnissen in der Seele) in einer ontologischen Dimension deren relationale Verfasstheit in Bezug auf die für sie fundamentalen konstitutiven Gegenstandsklassen. Signifikant ist, dass dieses mathematische Modell zwischen Sonnen- und Höhlengleichnis entworfen wird – das || 111 Vgl. knapp Hahn 1983, allerdings mit anderer Deutung im gesamten Kontext.

Fazit | 347

heißt metaphorischen Modellen, die sich untergeordneter Modelle bedienen, die an ihrer Oberfläche dezidiert nicht mathematisch-relational, sondern wahrnehmungs‚bildlich‘ verfasst sind, mithin images und keine diagrams sind, konkret die ‚Sonne‘ im Sonnengleichnis und die ‚Höhle‘ im Höhlengleichnis. In diesem Kontext stellt die Linie in direkter und expliziter Folge des Sonnengleichnisses – das Bild wird wohlgemerkt durch den programmatischen, die epistemologische Kategorie des Intelligiblen aufnehmenden Imperativ ‚denke!‘ (R. 509d1: Nόησον) als erstes Wort eingeleitet – eine ‚Hypothesis‘ dar, die im Ausgang von unserem auf der Sinneswahrnehmung beruhenden Bild der körperlichen ‚Welt‘ eine intelligible, aber sachlich exakt äquivalente für die gesamte Welt stehende Relationalität in Form eines Modells entwirft – welches dann zum Zweck weiterer Erkenntnis im Zuge einer genauen Betrachtung seines ikonischen Charakters als Abbildung hinsichtlich seiner Relationalität analysiert wird, mit dem Ergebnis, dass sich durch das diagrammatische Bild hindurch signifikante, mathematische formulierte Einsichten in die fundamentale Konstitution und Erkennbarkeit der Welt zeigen. Doch nicht nur ist es der Fall, dass die so ausgedrückten und bildlich erfahr- und greifbaren Relationen aufgrund der expliziten Verbindung der Gleichnisse durch Platon auch auf Sonnen- und Höhlengleichnis Anwendung finden sollen, mithin auch hier äquivalente relationale Verhältnisse zu unterstellen sind, sondern ebenso, dass hierdurch die in diesen beiden metaphorischen Modellen semiotisch untergeordnet genutzten ikonischen ‚Bilder‘ (images) implizit den Status ‚wahrer Meinung‘ zugewiesen bekommen, äquivalent zu Men. 82a–85b (vgl. Kap. 4). So ist es vielleicht die Hauptpointe des Liniengleichnisses, dass es als mathematisches Modell programmatisch und mustergültig demonstriert, wie wir aus der Höhle gelangen: Gefangen in der Höhle und den Sinneseindrücken ausgesetzt bilden wir eine ‚Hypothesis‘ wie die Linie, die uns (unter Anleitung durch den Wissenden) aus der Höhle führt – und zwar als ein Modell, das die gesamte Welt auf das schlechthin einfachste, fundamentale und für alles Weitere konstitutive mathematische Objekt überhaupt reduziert, eine eindimensionale ‚Linie‘. Ist es doch der Fall, dass ‚Punkte‘, die potentiell einzigen Kandidaten für ein noch simpleres mathematisches Modell, für Platon nur virtuell-abgeleitet als Grenzen einer Linie existieren, jedenfalls dem ausdrücklichen Zeugnis des Aristoteles zufolge.112

|| 112 Siehe Aristoteles, Metaph. 992a19–22: ἔτι αἱ στιγμαὶ ἐκ τίνος ἐνυπάρξουσιν; τούτῳ μὲν οὖν τῷ γένει καὶ διεμάχετο Πλάτων ὡς ὄντι γεωμετρικῷ δόγματι, ἀλλ’ ἐκάλει ἀρχὴν γραμμῆς – τοῦτο δὲ πολλάκις ἐτίθει – τὰς ἀτόμους γραμμάς („Ferner woraus bestehen die Punkte darin? Gegen dieses Genos kämpfte Platon fortwährend, denn es sei eine geometrische Fiktion. Anstatt dessen nannte er – und dies hat er oft vorgebracht – Anfang [Prinzip] der Linie die ‚unteilbaren Linien‘“); siehe zur Stelle Ross 1953, 1, 203–208; vgl. Tarán 1981, 326 Anm. 133 und 457 f. Vgl. Euklids Definition, dass der Punkt dasjenige ist, „was keinen Teil hat“ (Euklid, Elem. 1, def. 1: Σημεῖόν ἐστι, οὗ μέρος οὐθέν) in Verbindung mit der Definition, dass „die Grenzen einer Linie Punkte sind“ (Euklid, Elem. 1, def. 3: Γραμμῆς δὲ πέρατα σημεῖα). Siehe zu dieser Stelle allerdings Waschkies 2000b, 42–49, aber auch andererseits

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Mathematischer Modellierung, so das Fazit, kommt eine zentrale Bedeutung in Platons Philosophie zu, speziell einer Form, die zwar wesentlich mit der Sinneswahrnehmung verbunden ist, sich aber zugleich dezidiert von einem pythagoreischen oder traditionellen Verständnis von Mathematik als auf partikulare körperliche Sachverhalte bezogen abwendet. Im Ergebnis präsentiert sie sich genau so wie die mathematische Modellierung bei Autolykos und Euklid, insbesondere in Hinsicht auf die Nutzung nicht partikularer, sondern universelle mathematische Sachverhalte repräsentierender Diagramme, die aus Subdiagrammen bestehen, die die universellen Objekte der mathematischen Theorie wie eine ‚Linie‘ repräsentieren. In Bezug auf die zugrundeliegende Fragestellung ist das Ergebnis eindeutig: Platon wirbt einerseits vehement für den Einsatz der Methodik der Mathematik euklidischen Typs einschließlich Modellgenerierung und -analyse, und zwar in einer Weise, die ein tiefes Verständnis der fachmathematischen Zusammenhänge erweist. Andererseits hat Platon für dieses Propagieren der Mathematik euklidischen Typs eine signifikante philosophische Motivation, die aus dem Kern der spezifisch platonischen ontologischen und epistemologischen Position resultiert, nämlich der Formenlehre, wie sie ihren Ausdruck in den drei Gleichnissen der Politeia findet.

6.7 Epilog: Die Befreiung aus dem barbarischen Schlamm Bevor ich einen abschließenden Blick auf die praktische mathematische Modellierung im Timaios werfe, möchte ich die Rolle der Mathematik im angesprochenen Bildungsprogramm in Politeia VII näher ergründen (insbesondere R. 522c–531d). Dies wird in Fortführung der in diesem Kapitel erzielten Erkenntnisse Einsichten dazu erlauben, welcher konkrete Mechanismus dafür verantwortlich ist, dass mathematische Modellierung den Aufstieg aus der Höhle bewirkt. Zudem wird sich zeigen, was Platon überhaupt unter ‚Mathematik‘ im Einzelnen versteht. Die Details des Bildungsprogramms werden nach Abschluss der Gleichniskette entfaltet. Die gesamte Passage beginnt jedoch schon in R. 502c9 (und eigentlich mit dem Beginn von Politeia VI), umfasst also auch die Gleichnisse selbst. Ziel ist, den Weg zu bestimmen, auf dem die zukünftigen Wächter und speziell Philosophenkönige zum höchsten Ziel der Erkenntnis geführt werden können, dem Guten, dem wichtigsten ‚Gegenstand des Lernens‘ (μέγιστον μάθημα; siehe R. 504e3–505b4);113 die Gleichnisse geben den ontologischen und epistemologischen Rahmen des ‚Bildungs‘|| Mugler 1969, 18–22, mit dem Hinweis, dass Platon im erhaltenen Werk nirgendwo von Punkten spreche (weder als στιγμή noch als σημεῖον). 113 Das Thema wird gesetzt in R. 502c9–d4: die Suche nach den „Beschäftigungen“ (ἐπιτηδεύματα) und „Gegenständen des Lernens“ (μαθήματα), die sicherstellen, dass die „Retter“ (σωτῆρες) in Kallipolis entstehen, das heißt die Philosophenkönige. Die Exposition wird sodann in R. 503d12–504a3 auf die „wichtigsten Gegenstände des Lernens“ (μέγιστα μαθήματα) zugespitzt.

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Programms. Ziel ist die Erschaffung von Herrschern, wie es sie bisher noch nicht gegeben habe (R. 498d7–499a3). Hierzu müsse die Erziehung radikal umgestaltet werden (R. 497e3–7, speziell 6: τοὐναντίον ἢ νῦν). Der angestrebte Effekt der Bildung ist entsprechend grundlegend „nicht das Herumwenden einer Scherbe, sondern das Herumführen der Seele aus einem gewissermaßen nächtlichen in den wahrhaftigen Tag, einen Aufstieg zum Sein, von dem wir sagen, dass er die wahre Philosophie sei“ (R. 521c5–8: Τοῦτο δή, ὡς ἔοικεν, οὐκ ὀστράκου ἂν εἴη περιστροφή, ἀλλὰ ψυχῆς περιαγωγὴ ἐκ νυκτερινῆς τινος ἡμέρας εἰς ἀληθινήν, τοῦ ὄντος οὖσαν ἐπάνοδον, ἣν δὴ φιλοσοφίαν ἀληθῆ φήσομεν εἶναι).114 Dabei müssen die angehenden Herrscher nicht nur die dem Aufstieg dienlichen Fertigkeiten im richtigen Alter erlernen (R. 502d2 f.), sondern sich auch auf jeder Stufe des Programms bewähren, um zur nächsten Stufe zugelassen zu werden (siehe R. 503d12–504a3 und passim, vor allem am Ende von Politeia VII). Dabei können aufgrund der strengen Erfordernisse an die Konstitution der Philosophenkönige nur wenige die letzte Stufe erreichen (die Erfordernisse werden ausführlich expliziert am Beginn von Politeia VI in R. 484a1–487a6, speziell der Zusammenfassung in R. 487a2–5; vgl. R. 491a7–b3) und das Gute schauen (R. 503b2– d11). Im Zuge dessen werden sie, so das Ergebnis, als ‚Liebhaber der Weisheit‘ (‚Philosophen‘ = Betreiber der ‚wahren Philosophie‘) nach Menschenmöglichkeit „geordnet“ und (im Kontext gleichbedeutend) „göttlich“, und zwar deshalb, weil sie sich „mit göttlichen Dingen voller Ordnung“ beschäftigen (R. 500d1 f.: Θείῳ δὴ καὶ κοσμίῳ ὅ γε φιλόσοφος ὁμιλῶν κόσμιός τε καὶ θεῖος εἰς τὸ δυνατὸν ἀνθρώπῳ γίγνεται) und diese hierbei zwangsläufig „nachahmen“ (R. 500b8–c7, speziell c7: μιμεῖσθαι ἐκεῖνο). Das Bildungsprogramm beginnt mit ‚musischer‘ Bildung (Mythen, Dichtung, Musik etc.) und Gymnastik (körperlichem Training) in der Kindheit, auf den ersten Blick ganz entsprechend der üblichen griechischen paideia (vgl. Politeia II–III, speziell R. 376e1–377b3; R. 403c8; R. 521d13–e3).115 Allerdings macht Platon nach der Einführung der Idee des Guten in Politeia VII deutlich, dass die traditionelle, schon in Politeia II–III grundlegend und scharf kritisierte Form von Bildung, etwa anhand von Homer (vgl. Politeia X),116 zum gegebenen Zweck prinzipiell nicht geeignet sei, denn sie führe nicht systematisch und sicher zum Guten, ja: könne es nicht einmal bestimmen (R. 521d13–522b6). So revidiert er den Inhalt der ersten Bildung im Kindesalter radikal dahingehend, dass man zwar mit musischen Inhalten und körperlichen Übungen in der Kindheit beginnen müsse, dass diese aber von Anfang an Mathematik beinhalten sollen, und zwar so viel wie nur irgend möglich, wenn auch anfangs und im Gegen|| 114 Die Metaphorik an dieser Stelle nimmt das Höhlengleichnis auf, speziell den Aspekt der Befreiung aus dem ‚Hades‘: siehe Männlein-Robert 2013. 115 Für einen Überblick zu Platons Äußerungen zu Erziehung und Bildung unter kontrastivem Einbezug anderer Dialoge siehe Kamtekar 2011. Man beachte auch die Studien, die das Höhlengleichnis im Kontext traditioneller Bildung diskutieren: siehe oben Kap. 6.3. Insgesamt zu Kindheit und Erziehung in der Antike siehe Evans Grubbs et al. 2014, speziell Patterson 2014 für die Nomoi. 116 Für einen Überblick siehe Halliwell 1997.

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satz zum Erwachsenenalter nur im Spiel, Letzteres mit dem Zweck, sie nicht als Zwang erscheinen zu lassen (so unmissverständlich R. 536b8–537a3).117 In Fortführung dieses Beginns sollen die jungen Menschen dann – nach zwei bis drei Jahren militärischer Ausbildung (R. 537a4–b6), entsprechend der griechischen Praxis, derzufolge mit diesem Schritt die Bildung insgesamt abgeschlossen war und man als Mann zum erwachsenen Vollbürger wurde118 – ihre Ausbildung durch ein zehnjähriges Studium der Mathematik im Alter von zwanzig bis dreißig Jahren fortsetzen (R. 537b8–c8). Wenn die jungen Menschen sich als fähig erweisen, die mathematischen Studien in ihrer inneren und in ihrer auf das Seiende gerichteten Verbundenheit und Systematik zu verstehen (speziell R. 537c1–3: τούτοις συνακτέον εἰς σύνοψιν οἰκειότητός τε ἀλλήλων τῶν μαθημάτων καὶ τῆς τοῦ ὄντος φύσεως), und sich auch insgesamt beweisen, sollen sie in einem nächsten Schritt im Alter von dreißig bis fünfunddreißig Jahren fünf Jahre lang Dialektik betreiben (R. 539d8–e2) und darauf hin geprüft werden, „wer fähig ist, von den Augen und der restlichen Wahrnehmung abzulassen und zum Sein selbst mit Wahrheit zu gelangen“ (R. 537c9–d8, speziell d5–7: τῇ τοῦ διαλέγεσθαι δυνάμει βασανίζοντα τίς ὀμμάτων καὶ τῆς ἄλλης αἰσθήσεως δυνατὸς μεθιέμενος ἐπ’ αὐτὸ τὸ ὂν μετ’ ἀληθείας ἰέναι). Alle diejenigen, die sich zusätzlich als gesetzestreu und moralisch exzellent erwiesen haben – ansonsten könnten sie wegen der gewaltigen Macht der Dialektik größten Schaden anrichten (R. 537d7–539e2)119 –, sollen für fünfzehn Jahre in die Höhle zurückkehren (R. 539e2– 540a4) sowie militärische und zivile Ämter in Kallipolis übernehmen (vgl. R. 519c–

|| 117 Diese radikale Forderung wird weitestgehend ignoriert: vgl. Mueller 1992, Kamtekar 2011 oder Erler 2007, 213: „Die Erziehung, die zum Aufstieg verhilft, besteht über Gymnastik und Musik hinaus in Arithmetik, Geometrie, Stereometrie und Astronomie […]. Hinzu kommt die Harmonielehre“ (meine Hervorhebung). Eine Erkenntnis dieses Umstands hat aber weitreichende Auswirkungen auf das Verständnis der Kritik, die Platon in Politeia II–III und X gegenüber der traditionellen Dichtung vorbringt; zum Hintergrund siehe Moss 2007. Eine Klärung würde hier zu weit führen. In diesem Zusammenhang stellt sich aber erneut die Frage, welchen Stellenwert speziell die Politeia selbst als Literatur hätte (vgl. Smith 1999 und Meinwald 2011 mit einer positiven Antwort). Eine Vermutung ist, dass sie wie alle Literatur als hörbare ‚Mimesis‘ dem vierten Liniensegment zugeordnet ist (und also mit dem Seelenstatus der εἰκασία verbunden ist), allerdings als (durch die Philosophie = Dialektik abgesicherte und auf dieser Grundlage operierende) Repräsentation von ‚wahrer Meinung‘ (freilich nicht reinen dianoetischen Relationen: vgl. Smith 1999, 133 f.) definitiv einen Platz in der frühen (proto-mathematischen) Erziehung in Kallipolis hätte. Man beachte auch Lear 2008, speziell zum Status des Höhlengleichnisses in dieser Hinsicht. Der Hintergrund ist der in R. 519a7–b6 angesprochene Zusammenhang (man beachte R. 519a7 f.: ἐκ παιδὸς εὐθύς). Siehe Tsouna 2013 mit ausführlicher Diskussion dazu, inwieweit Platons Dialoge in der Politeia implizit als Ersatz für die traditionelle Form von (falsch) ‚mimetischer‘ Literatur beworben werden; vgl. für ein instruktives Beispiel unten Kap. 7.5. 118 Vgl. die Ephebie in Athen; siehe Lattmann 2013 (mit weiterer Literatur). Dieser Schritt ist in Platons Bildungsprogramm aufgrund der körperlichen Strapazen ausdrücklich (und als wohlgemerkt einziger Schritt) ohne einen Anteil von Mathematik: siehe R. 537b1–6. 119 Für einen knappen Überblick zu Platons Ethik auch in dieser Hinsicht siehe Annas 2011, speziell zur Rolle des Guten White 2006.

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521b).120 Wer sich hier bewährt, soll im Alter von fünfzig Jahren das Gute schauen und nach diesem Vorbild die Stadt, ihre Bewohner und sich selbst in eine entsprechende Ordnung versetzen – und als Herrscher zugleich neue Wächter im Rahmen desselben Bildungsprogramms ausbilden und schließlich (unter Aufnahme des Gedankens der durch die Schau des Guten bewirkten ‚Gottgleichheit‘) zur ‚Insel der Seligen‘ übersiedeln, während ihnen in Kallipolis öffentlich Opfer dargebracht werden, entweder ‚als Glückseligen und Göttlichen‘ oder sogar, in Steigerung des ursprünglichen Gedankens, als ‚Gottheiten‘ (R. 540a4–c4; zum letzten b7–c2: θυσίας τὴν πόλιν δημοσίᾳ ποιεῖν, ἐὰν καὶ ἡ Πυθία συναιρῇ, ὡς δαίμοσι, εἰ δὲ μή, ὡς εὐδαίμοσί τε καὶ θείοις).121 Überrascht hat seit jeher die prominente Bedeutung der Mathematik in diesem Bildungsprogramm.122 Dies gilt um so mehr, als dieser Umstand nicht nur für uns, sondern auch und gerade im historischen Kontext seltsam, ja: abwegig gewirkt haben muss. Platon schlägt schließlich vor, dass sich die Zwanzig- bis Dreißigjährigen in der Blüte ihres Lebens mit nichts anderem als Mathematik beschäftigen, und dies nicht nur im Angesicht einer deutlich kürzeren Lebenserwartung als heute oder des aufgrund der politischen Verhältnisse gegebenen Erfordernisses, den Höhepunkt der körperlichen Kraft der militärischen Verteidigung der Polis zu widmen (wie es sich ja in Platons Programm spiegelt), sondern auch und vor allem deshalb, weil Platons Mathematik ausdrücklich nicht auf praktische Anwendung ausgerichtet ist – und dies vor dem Hintergrund, dass Platon allen Ernstes vorschlägt, nicht nur Homer (!) aus Kallipolis zu verbannen (Politeia II–III und X), sondern ihn sogar durch Literatur mit (wenn auch gegebenenfalls spielerisch-) mathematischem Inhalt zu ersetzen: Musste dies nicht als bizarr, ja – denken wir an die oben zitierte (wohlgemerkt apologetische) Passage aus Xenophons Memorabilia zu Sokrates (M. 4, 7, 4–6) – sogar als frevelhaft erscheinen, auch und gerade in einer genuin religiösen Dimension? Wie stark Platons Ansatz aus der Zeit fiel, zeigt sich instruktiv in einer Passage in Isokrates’ Antidosis (or. 15, 261–266). Diese Rede ist auf das Jahr 353 v. Chr. zu datie-

|| 120 Zur Notwendigkeit der Rückkehr der Philosophen in die Höhle und ihrer (scheinbaren) Problematik hinsichtlich der Konzeption von Gerechtigkeit in der Politeia siehe Kraut 1999 (mit Literatur); siehe auch Buckels 2013 (mit Berücksichtigung des Bildungsprogramms). Vgl. Krämer 1967, Brickhouse 1981, Spaemann 1997, Brown 2000, Wilberding 2004, Sedley 2007 und Caluori 2011. 121 Diskutiert wurde, wann die Schau des Guten erfolgt: nach den fünf Jahren Dialektik (also mit 35 Jahren) oder nach den fünfzehn Jahren praktischer Tätigkeit in Kallipolis (also mit 50 Jahren). Für die erste Position siehe Smith 2010, 95–98, für die zweite Reeve 1988, 195. Für die letztere könnte außer der Explizitheit der soeben angeführten Passage sprechen, dass das Gute auch im Körperlichen wirkt (man beachte, dass die Sonne dem Sonnengleichnis zufolge der ‚Abkömmling des Guten‘ ist: siehe oben Kap. 6.3) und es also plausibel wäre, wenn die Schau des Guten nicht auf das Intelligible beschränkt wäre, sondern auch das Körperliche einschlösse. Hier muss diese Frage nicht geklärt werden, auch wenn sich gegebenenfalls ein gewisser (wenn auch letztlich nicht unerklärbarer) Widerspruch zum Höhlengleichnis ergeben könnte. Gleichwohl steht fest, dass in jedem Fall, wenn auch nur für wenig(st)e Ausgewählte, am Ende des Bildungsprogramms die Schau des Guten erfolgt ist. 122 Siehe auch Burnyeat 2000, 1 sowie Huffman 2015, 211–217.

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ren,123 mithin in diejenige Zeit, die den bisherigen Resultaten zufolge für die Entwicklung der Fachmathematik entscheidend war und in der für Platon und die Akademie ein starkes und prominentes Engagement in dieser Hinsicht erwiesen werden konnte. Isokrates wendet sich allem Anschein nach direkt gegen Platon, indem er eine eigene Position zur Mathematik im Rahmen eines umfassenden Bildungsprogramms formuliert.124 Dies impliziert nicht, dass Mathematik allgemein für wichtig im Rahmen von Erziehung gehalten wurde, sondern dass Isokrates meinte (die genauen Umstände sind nicht relevant), auf Platons Wertschätzung der Mathematik antworten zu müssen. Dies ergibt sich transparent aus der spezifischen Entfaltung und Begründung des eigenen Ansatzes, der zwar pointiert konservativer als Platons Ansatz, aber eben doch nicht gänzlich traditionell ist. Insofern ist es angezeigt, die gesamte Stelle als direktes und unabhängiges Zeugnis zu Platons Mathematik zu berücksichtigen:125 Ἡγοῦμαι γὰρ καὶ τοὺς ἐν τοῖς ἐριστικοῖς λόγοις δυναστεύοντας καὶ τοὺς περὶ τὴν ἀστρολογίαν καὶ γεωμετρίαν καὶ τὰ τοιαῦτα τῶν μαθημάτων διατρίβοντας οὐ βλάπτειν, ἀλλ’ ὠφελεῖν τοὺς συνόντας, ἐλάττω μὲν ὧν ὑπισχνοῦνται, πλείω δ’ ὧν τοῖς ἄλλοις δοκοῦσιν. Οἱ μὲν γὰρ πλεῖστοι τῶν ἀνθρώπων ὑπειλήφασιν ἀδολεσχίαν καὶ μικρολογίαν εἶναι τὰ τοιαῦτα τῶν μαθημάτων· οὐδὲν γὰρ αὐτῶν οὔτ’ ἐπὶ τῶν ἰδίων οὔτ’ ἐπὶ τῶν κοινῶν εἶναι χρήσιμον, ἀλλ’ οὐδ’ ἐν ταῖς μνείαις οὐδένα χρόνον ἐμμένειν ταῖς τῶν μαθόντων διὰ τὸ μήτε τῷ βίῳ παρακολουθεῖν μήτε ταῖς πράξεσιν ἐπαμύνειν, ἀλλ’ ἔξω παντάπασιν εἶναι τῶν ἀναγκαίων. Ἐγὼ δ’ οὔθ’ οὕτως οὔτε πόρρω τούτων ἔγνωκα περὶ αὐτῶν, ἀλλ’ οἵ τε νομίζοντες μηδὲν χρησίμην εἶναι τὴν παιδείαν ταύτην πρὸς τὰς πράξεις ὀρθῶς μοι δοκοῦσιν γιγνώσκειν, οἵ τ’ ἐπαινοῦντες αὐτὴν ἀληθῆ λέγειν. Διὰ τοῦτο δ’ οὐχ ὁμολογούμενον αὐτὸν αὑτῷ τὸν λόγον εἴρηκα, διότι καὶ ταῦτα τὰ μαθήματα τὴν φύσιν οὐδὲν ὁμοίαν ἔχει τοῖς ἄλλοις, οἷς διδασκόμεθα. Τὰ μὲν γὰρ ἄλλα τότ’ ὠφελεῖν ἡμᾶς πέφυκεν, ὅταν λάβωμεν αὐτῶν τὴν ἐπιστήμην, ταῦτα δὲ τοὺς μὲν ἀπηκριβωμένους οὐδὲν ἂν εὐεργετήσειε πλὴν τοὺς ἐντεῦθεν ζῆν προῃρημένους, τοὺς δὲ μανθάνοντας ὀνίνησι· περὶ γὰρ τὴν περιττολογίαν καὶ τὴν ἀκρίβειαν τῆς ἀστρολογίας καὶ γεωμετρίας διατρίβοντες καὶ δυσκαταμαθήτοις πράγμασιν ἀναγκαζόμενοι προσέχειν τὸν νοῦν, ἔτι δὲ συνεθιζόμενοι μένειν καὶ πονεῖν ἐπὶ τοῖς λεγομένοις καὶ δεικνυμένοις καὶ μὴ πεπλανημένην ἔχειν τὴν διάνοιαν, ἐν τούτοις γυμνασθέντες καὶ παροξυνθέντες ῥᾷον καὶ θᾶττον τὰ σπουδαιότερα καὶ πλείονος ἄξια τῶν πραγμάτων ἀποδέχεσθαι καὶ μανθάνειν δύνανται. Φιλοσοφίαν μὲν οὖν οὐκ οἶμαι δεῖν προσαγορεύειν τὴν μηδὲν ἐν τῷ παρόντι μήτε πρὸς τὸ λέγειν μήτε πρὸς τὸ πράττειν ὠφελοῦσαν, γυμνασίαν μέντοι τῆς ψυχῆς καὶ παρασκευὴν φιλοσοφίας καλῶ τὴν διατριβὴν τὴν τοιαύτην, ἀνδρικωτέραν μέν, ἧς οἱ παῖδες ἐν τοῖς διδασκαλείοις ποιοῦνται, τὰ δὲ πλεῖστα παραπλησίαν·

|| 123 Too 2008, 1; zur Datierung vgl. die Testimonien in Mandilaras’ 2003 Edition. 124 Zum Platon-Bezug siehe Asper 2007, 151 Anm. 397 (und Anm. 396), auch Eucken 1983, 181 Anm. 47 und 187 Anm. 67; siehe Eucken 1983 zum Verhältnis von Isokrates zu den Philosophen seiner Zeit, speziell Platon. Vgl. später im Jahr 339 v. Chr. (zur Datierung siehe Roth 2003, 10; vgl. die Testimonien in Mandilaras’ 2003 Edition) Isokrates, or. 12 (Panathenaikos), 26–28: Hier erwähnt Isokrates nach Platons Tod keine positiven Aspekte mehr, sondern macht „eine sarkastische Bemerkung: Beschäftigungen wie Geometrie, Astrologie und die Kunst des Streitgesprächs […] halten die Jugend zumindest davon ab, Unsinn zu treiben“ (Roth 2003, 95 f.; zur Stelle 92–97, auch im Verhältnis zur Antidosis). 125 Zur Stelle siehe Too 2008, 218–220 (allerdings ohne dass der Bezug zu Platon festgestellt würde). Vgl. Isokrates, or. 12 (Panathenaikos), 26–28 und siehe die vorangehende Anm.

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Ich denke nämlich, dass diejenigen, die in Streitgesprächen gewandt sind und sich mit Astronomie, Geometrie und derartigen Gegenständen des Lernens beschäftigen, denjenigen, die mit ihnen zusammen sind, nicht schaden, sondern ihnen vielmehr nützen, zwar weniger als sie versprechen, aber mehr, als sie anderen zu tun scheinen. Die meisten Menschen nämlich sind der Meinung, dass es sich bei diesen Gegenständen des Lernens um Gequassel und Erbsenzählerei handele, denn keiner von ihnen sei im Privaten oder im Öffentlichen nützlich, sondern sie blieben nicht einmal für irgendeine Dauer in der Erinnerung der Lernenden, da sie uns weder im normalen Leben begleiten noch bei unseren Handlungen helfen, sondern von dem, was notwendig ist, gänzlich abgesondert sind. Ich aber urteile über diese Dinge weder so noch weit entfernt von diesen Leuten, sondern es scheinen mir diejenigen, die glauben, dass diese Bildung für unsere Handlungen in keiner Weise nützlich ist, richtig zu urteilen, und diejenigen, die sie loben, die Wahrheit zu sagen. Deshalb habe ich meine Rede als etwas vorgebracht, das nicht mit sich selbst konsistent ist, weil auch diese Gegenstände des Lernens selbst eine Natur haben, die in keiner Weise ähnlich zu den anderen Gegenständen des Lernens ist, die wir gelehrt werden. Denn die anderen nützen uns von Natur aus nur dann, wenn wir Wissen über sie erlangen, diese hingegen könnten in keiner Weise denjenigen nützen, die sie genau betrieben haben, außer denjenigen, deren Wahl es war, von ihnen her ihren Lebensunterhalt zu beziehen; wohl aber nützen sie denjenigen, die dabei sind, sie zu erlernen. Denn während man sich mit der Subtilität und der Exaktheit der Astronomie und der Geometrie beschäftigt und gezwungen ist, seinen Sinn auf schwer zu verstehende Dinge zu lenken, ferner sich auch daran gewöhnt, standhaft zu bleiben und Mühe auf sich zu nehmen bei den Dingen, die gesagt und bewiesen werden, und seinen Verstand nicht herumirren zu lassen, wird man in diesen Dingen geübt und geschärft, so dass man leichter und schneller die wichtigeren und wertvolleren Dinge ergreifen und lernen kann. Ich glaube nun nicht, dass man das, was gegenwärtig in nichts weder zum Reden noch zum Handeln nützlich ist, Philosophie nennen sollte. Freilich nenne ich die derart verfasste Beschäftigung Gymnastik der Seele und Vorbereitung auf die Philosophie, eine Beschäftigung, die zwar mehr für Männer geeignet ist als diejenige, die die Kinder in den Schulen betreiben, die aber dennoch im Großen und Ganzen dieser sehr ähnlich ist.

Isokrates referiert mit grundsätzlicher Zustimmung die allgemein verbreitete Einstellung, dass die mathematischen Wissenschaften – außer, wie er polemisch hinzufügt, für diejenigen, die ihren Lebensunterhalt mit ihr verdienen126 – keinen einzigen praktischen Nutzen hätten, sowohl für das Individuum als auch für die Gemeinschaft. Aus diesem Grund könne Mathematik an sich grundsätzlich keinen Wert als Teil der Bildung der jungen Menschen aus eigenem Recht haben. Gleichwohl billigt Isokrates ihr dennoch einen gewissen Nutzen zu; dieser ist aber rein indirekter Natur: Insofern Mathematik dazu zwinge, sich mit schwierigen Dingen in exakter Weise zu beschäftigen, schärfe sie den Geist und sei Gymnastik für die Seele. Dieses Training versetze in die

|| 126 Wenn die Passage tatsächlich gegen Platon gerichtet ist (und hieran zu zweifeln gibt es keinen Grund), impliziert dieser Schlenker, dass Mathematik nicht nur im Bildungsprogramm für Kallipolis wichtig war, sondern eben auch tatsächlich historisch einen Platz in der Akademie hatte; anders, aber ohne hinreichenden Grund etwa Zhmud (siehe oben Anm. 191). Gleichwohl impliziert dies natürlich nicht, dass das Programm speziell in Hinsicht auf die konkrete zeitliche Gestaltung des Curriculums identisch mit dem in Kallipolis gewesen sein müsste. Doch denke man daran, dass die Akademiegründung wohl in Verbindung mit Platons politischer Philosophie stand: siehe Müller 1994.

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Lage, besser als im vorherigen Zustand die wirklich wichtigen Dinge zu lernen – welche wohlgemerkt das eigentliche Ziel der Bildung seien. Mathematik ist Isokrates zufolge höchstens ein Instrument für das indirekte Erlangen eines kategorial anderen Zwecks; sie sei nicht (Teil der) Philosophie, sondern allenfalls deren Vorbereitung.127 Trotz aller Kritik bleibt jedoch deutlich, dass Isokrates der Mathematik damit eine weiter reichende Funktion zubilligt, als es zu seiner Zeit üblich war. Dies bestätigt die bisherigen Ergebnisse so weit, dass erstens eine theoretische (das heißt nicht primär auf praktische Anwendung ausgerichtete) Mathematik mit Sicherheit kein Bestandteil der gewöhnlichen griechischen paideia gewesen sein konnte, zumindest nicht zu Isokrates’ (und a fortiori auch nicht in der vorangehenden) Zeit in Athen, weder im Kindes- noch im Jugendlichen- noch im (frühen) Erwachsenenalter; dass zweitens eine solche theoretische Mathematik angesichts des Zuschnitts und Ziels der Polemik (welche ja insbesondere auf die Werbung für die eigene, in direkter Konkurrenz zur Akademie stehende Schule abzielte) zu dieser Zeit nur in der Akademie beheimatet gewesen sein dürfte; und dass drittens eine solche theoretische Mathematik im allgemeinen Verständnis als schlicht unnütz, ja (wie explizit gesagt ist) schädlich galt.128 Platons Bildungsprogramm (und -praxis) stellte in der Tat einen radikalen Angriff auf traditionelle Bildungsvorstellungen dar.129 Die Isokrates-Passage macht einen weiteren Punkt evident: Wenn Isokrates die Position entwickelt, die Beschäftigung mit Mathematik sei nützlich, weil sie eine Schärfung des Verstandes bewirke, die es leichter mache, in einem darauf aufbauenden Schritt dezidiert andersartige Dinge zu erlernen, wenn er also Mathematik eine rein instrumentelle Funktion zuweist und den Gegenständen der Mathematik selbst jedweden spezifischen Nutzen ausdrücklich abspricht, kann gerade dies nicht Platons eigene Position gewesen sein. Schließlich handelt es sich um Isokrates’ dezidierte Gegenposition, von ihm selbst explizit zwischen den Polen platziert (or. 15, 261).

|| 127 Vgl. die Notiz bei Aristoteles (Metaph. 996a29–b1), dass Philosophen wie Aristippos einen Erwerb mathematischer Kenntnisse gänzlich abgelehnt hätten, weil sie insbesondere nicht vom Guten und Schlechten handelten, mithin keinen Bezug zu ethischen Fragen hätten (a35–b1: τὰς δὲ μαθηματικὰς οὐθένα ποιεῖσθαι λόγον περὶ ἀγαθῶν καὶ κακῶν); vgl. Asper 2007, 152. Der soeben aufgezeigte Zusammenhang ist übrigens eine (mehr oder weniger) direkte und explizite unabhängige Bestätigung von Aristoteles’ Urteil, dass in der Akademie (wohl speziell zu dieser Zeit) „Philosophie zur Mathematik geworden ist“ (Metaph. 992a32 f.: γέγονε τὰ μαθήματα τοῖς νῦν ἡ φιλοσοφία). 128 Zur (kaum vorhandenen) mathematischen Bildung in klassischer Zeit siehe Mueller 1991a, 87 f. Gleichwohl könnte am Schluss der Isokrates-Passage ein Verweis auf das Erlernen einfacher praktischer Mathematik (insbesondere Rechnen) vorliegen. Vgl. Asper 2007, 147–173 sowie Asper 2003a. Zur Schädlichkeit vgl. Gaisers 1980 historische Kontextualisierung des Vortrags Über das Gute sowie das angeführte Xenophon-Zeugnis M. 4, 7, 4–6 zur Verteidigung des Sokrates in ähnlicher Hinsicht. 129 Vgl. Asper 2007, 171 Anm. 524: „Vergleiche mit den παιδεία-Konzeptionen des Sokrates, des Isokrates und der Sophisten zeigen, wie extravagant diese platonische Ansicht zunächst gewesen sein dürfte.“ Vgl. oben Kap. 4.6 und Kap. 5.5 zur Rolle der Mathematik in der ‚Sophistik‘ und also der Ausbildung der jungen Menschen, zumindest angesichts der behandelten Zeugnisse im 5. Jh. v. Chr.

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Dessen ungeachtet wird in der Forschung gemeinhin auch Platon allenfalls ein instrumentelles Verständnis des Nutzens der Mathematik zugesprochen: Für Platon, so die communis opinio, sei Mathematik nützlich, weil sie den Verstand lehre, abstrakt zu denken, und ihn in diesem Sinne schärfe;130 dementsprechend versetze sie die Seele in einen besseren, für Dialektik geeigneteren Zustand;131 und / oder sie gebe, in einer ähnlichen Erklärung, ein paradigmatisches Beispiel dafür, wie sich objektives Wissen in den anderen, wichtigen Bereichen des menschlichen Lebens erlangen lasse,132 gegebenenfalls weil mathematische und philosophische Erkenntnis vereint, dass sich in beiden Bereichen, obwohl kategorial verschieden, ähnliche oder parallele Muster zeigen, die in einer quasi-metaphorischen (also ‚un-eigentlichen‘) Weise aufeinander verweisen, wie etwa das Beispiel von ‚Einheit‘ und ‚Harmonie‘ zu belegen scheint;133 oder die (mit der Mathematik insgesamt identifizierte) geometrische Hypothesis-Methode erlaube in der Anwendung auf den ethischen Bereich, aus der moralischen Beliebigkeit auszubrechen und zu Wahrheit auch hier zu gelangen.134 Wenn dies richtig wäre, wäre nicht nur Isokrates’ Argumentation und speziell Platon-Kritik in ihrem direkten historischen Kontext seltsam, sondern in Bezug auf die Entfaltung des Bildungsprogramms in Politeia VII wäre sachlich tatsächlich rätselhaft, warum die Wächter volle zehn Jahre Mathematik betreiben sollten – täte es || 130 So Annas 1981, 273: „It is made very clear that the chief point of these studies is to encourage the mind in non-empirical and highly abstract reasoning. Plato is not so concerned to produce experts in these subjects as he is to produce people who are accustomed to a priori reasoning about subjects where most people comprehend only an empirical approach.“ Vgl. Erler 2007, 515: Die „propädeutische Aufgabe der mathematischen Disziplinen wird im Rahmen des Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnisses expliziert. […] Hier wie noch in Platons Spätwerk […] wird die Bedeutung der Mathematik weniger inhaltlich als vielmehr in ihrer Funktion als Propädeutik für die Ideenlehre hervorgehoben.“ 131 So etwa Kamtekars 2011, 353–355 Deutung, die letztlich jedoch wie die communis opinio instrumental ist: „This is not valuing mathematics in a content-indifferent way as a tool for sharpening the mind so that it can be exercised on other (intrinsically valuable) subjects but rather, thinking of intrinsic value as that which puts the soul in a better condition – which is what mathematics does“ (354). Auch hier ist Mathematik nur akzidentell zweckdienlich. 132 So Mittelstraß 1965, 425–429; der Nutzen von Mathematik bestehe für Platon darin, dass sie sich ebenfalls mit (einer wohlgemerkt eingeschränkten Zahl von) Formen beschäftige. Doch Gegenstand der Mathematik sind nicht die Formen selbst; siehe oben Kap. 6.4 und Kap. 6.5. 133 So etwas verkürzt Burnyeats 2000 Position; ähnlich Huffman 2015 (Mathematik habe instrumentalen Nutzen, mit ihr beginne aber auch die Erforschung des Intelligiblen; der Zusammenhang ist weniger metaphorisch, der konkrete Mechanismus bleibt dennoch dunkel). Insofern wäre Mathematik „worth studying because it cultivates an intellectual appreciation of beauty and order, thus preparing us for understanding the nature of the Forms“; die Länge des Studiums rühre daher, dass es eine „extraordinarily difficult transition from perceptible to intelligible“ gewährleisten müsste und „it is only after a long period of mathematical study that such a mindset starts to form“, nämlich die Erkenntnis „that there exists a distinct intelligible realm to which the sensible is merely an approximation“ (alle Zitate Scott 2011). Ähnlich ist Gaisers Position, dass „die Mathematik in ihrer Gesamtheit einen Vergewisserungsbereich für die philosophische Dialektik darstellt“ (Gaiser 1974, 77). 134 So Vlastos 1988.

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nicht (exempli gratia) auch ein einziges Jahr, gefolgt von vierzehn Jahren Dialektik, der erklärtermaßen eigentlichen Grundlage für die Schau des Guten, das Ziel des Bildungsprogramms und der platonischen Philosophie überhaupt? Warum muss denn sogar die gesamte kindliche Bildung im Sinne der Mathematik reformiert werden? Und auf welche Art und Weise könnte Mathematik denn überhaupt den menschlichen Verstand schärfen? Wäre nicht auch hierfür Dialektik weit besser geeignet? In der Tat zeigt sich in Politeia VII, dass ein instrumentales Verständnis der Mathematik im gewöhnlichen Sinn für Platon auszuschließen ist. Nirgendwo findet sich die Position, Mathematik sei deshalb zu betreiben, weil sie den Verstand schärfe, ohne substantiell und spezifisch etwas zum Erkenntnisprozess beizutragen. Vielmehr ist das genaue Gegenteil der Fall, wie schon die zitierte programmatische Passage zum Verhältnis von Mathematik und Dialektik zeigt (R. 533c8–e2): Dialektik „zieht und führt das in barbarischem Schlamm vergrabene Auge der Seele sacht nach oben und benutzt dabei als Mitdienerinnen und Mithelferinnen bei der Herumwendung der Menschen diejenigen Künste, die wir durchgegangen sind“ (R. 533d1–4: ἐν βορβόρῳ βαρβαρικῷ τινι τὸ τῆς ψυχῆς ὄμμα κατορωρυγμένον ἠρέμα ἕλκει καὶ ἀνάγει ἄνω, συνερίθοις καὶ συμπεριαγωγοῖς χρωμένη αἷς διήλθομεν τέχναις). Diese Künste sind ausschließlich die in Politeia VII behandelten mathematischen Disziplinen. Dialektik, so der notwendige Schluss, verrichtet ihr Werk unter substantieller und nicht verzichtbarer Mitwirkung der Mathematik. Diese dient freilich konkret als ‚Vorwort zur Dialektik‘ (R. 531d7: πάντα ταῦτα προοίμιά ἐστιν αὐτοῦ τοῦ νόμου ὃν δεῖ μαθεῖν; vgl. R. 531d6 und R. 532d7). Ihre Funktion ist, unter der Führung der Dialektik die Gefangenen in der Höhle aus ihren Fesseln zu befreien, sie umzuwenden, sie sich selbst und die an der Mauer entlanggeführten Gegenstände sehen zu lassen und sie schließlich hinauf ans Tageslicht zu führen, wo sie dann die Abbilder der Formen als Reflexionen im Wasser sehen (R. 532b6–d1: siehe oben Kap. 6.5 für die vollständige Stelle). In anderen Worten: Mathematik führt die Gefangenen vom Körperlichen zum Sein (R. 521c5–d5), und zwar über die körperlichen Abbildungen der Formen (≈ 3. Liniensegment) hin zu den intelligiblen Abbildungen der Formen (≈ 2. Liniensegment). Nur unter Mitwirkung der Mathematik kann die Dialektik die Gefangenen aus der Höhle führen; sie ist diejenige Kunst, die die Befreiung, Umwendung und Herausführung effektiv vollbringt. Dies impliziert notwendig, dass Mathematik eine direkte Vorform der eigentlichen Erkenntnis liefert und nicht bloß den Verstand schärft: Sie bewirkt die Schau von Abbildungen von Formen, wenn auch nicht die Schau von ihnen selbst. Mathematik ist das unabdingbare Bindeglied zwischen dem Inneren und dem Äußeren der Höhle, und zwar nicht nur als beliebige Methode, sondern in Hinsicht auf den spezifischen Inhalt der von ihr bewirkten Erkenntnis.135

|| 135 Miller 1999, speziell 84–87, interpretiert den Zusammenhang dahingehend, dass die Stufung der mathematischen Disziplinen eine zunehmende Reinigung der Seele bewirke, mit der Folge, dass man schließlich, auf der Stufe der Harmonielehre, gefasst als Proportionenlehre, die in den Formen ent-

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Wie Mathematik dies erreicht, wurde oben in der Deutung des Liniengleichnisses erarbeitet: Dadurch, dass Mathematik die Seele dazu bringt, von Körperlichem verursachte Sinneswahrnehmungen nicht als Bilder von Körperlichem, sondern als Bilder von Intelligiblem zu reinterpretieren (welches wohlgemerkt jenem in Hinsicht auf eine Ähnlichkeit äquivalent ist), wendet sie den Blick der Seele vom Körperlichen zum Intelligiblen – und insofern sie sich dabei insbesondere mit den mathematischen Gegenständen selbst beschäftigt, ‚reinigt‘ sie das ‚Auge der Seele‘ (R. 533d1–4 und vor allem R. 527d5–e3), denn dieses muss nicht die im Körperlichen materialisierten partikularen und mithin nicht notwendig rationalen Relationen studieren, sondern kann sich den reinen und universalen mathematischen Relationen zuwenden. Gleichwohl – und dies ist der entscheidende Punkt, weswegen die Herumwendung und Herausführung aus der Höhle überhaupt gelingen kann – bedingt die Basiertheit im Körperlichen, dass in diesem Prozess auch die sich im Körperlichen zeigenden mathematischen Relationen, jedenfalls insofern sie rational sind, relevant sind. Gerade dieser Umstand zeigt sich im Zug der detaillierten Entfaltung der mathematischen Disziplinen in R. 521c1–531d5, das heißt derjenigen ‚Künste‘ (τέχναι), die zu diesem Zweck (und mithin der Schau des Guten) als förderlich und zweckdienlich bestimmt werden, und zwar in ausschließlichem Sinn: Platon beginnt die Passage damit, als mögliche Kandidaten sowohl die Gymnastik als auch die Musik und Dichtung als auch alle weiteren traditionellen Künste auszuschließen (R. 521d13–522b6). Diese Tätigkeiten seien prinzipiell an das Körperliche gebunden; so stehe die Gymnastik dem Wachsen und Vergehen des Körpers vor (R. 521e1–522a1, speziell 521e2: σώματος γὰρ αὔξης καὶ φθίσεως ἐπιστατεῖ; betont mit mehrmaliger Verneinung), und die Musik / Dichtung erziehe als Gegenstück zur Gymnastik dezidiert nicht zum Wissen (ἐπιστήμη), wenn sie auch eine Harmonie des Körpers herbeiführen könne, und lehre sowohl Falsches als auch Wahres (R. 522a3–b4), verschaffe aber eben doch keine Kenntnis des Seins (R. 522a2–b1). Damit verbleibt, wie die verblüffte Reaktion Glaukons zeigt (R. 522b5 f.), nichts von der traditionellen Bildung. Sokrates’ Ausweg aus der aporetischen Situation ist, nicht nach Künsten zu suchen, die abseits von den ausgeschlossenen Künsten existieren – und die unmissverständliche Implikation ist, dass es sie eben tatsächlich nicht gibt –, sondern nach Künsten, die sich auf schlechthin alle Dinge erstrecken, also auch die Gegenstände der so weit ausgeschlossenen Künste (R. 522b7–9, speziell: τῶν ἐπὶ πάντα τεινόντων τι λάβωμεν). Diese Künste entstammen nun ausschließ|| haltenen Proportionen (das Gute) erkennen könne. Auch wenn dieser Vorschlag in die richtige Richtung weist (wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird), ist problematisch, dass bei Platon zwar eine systematische Entfaltung der mathematischen Disziplinen erfolgt, diese aber alle in gleichem Maße zur Reinigung (des Auges) der Seele beitragen (vgl. die oben zitierten Stellen und unten Kap. 7.3). Insgesamt löst sich damit ein gravierendes interpretatorisches Problem (und zwar insbesondere der enggeführt politischen Deutungen des Höhlengleichnisses): „How the future philosopher is first released is left mysterious in the cave simile“ (Sedley 2007, 265). Siehe für die Antwort unten Kap. 7.5.

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lich dem Bereich der Mathematik; konkret handelt es sich um die folgenden fünf Disziplinen, die (mehr oder weniger) in dieser Reihenfolge erörtert werden: (1) Arithmetik oder Logistik (R. 522b–526c); diese Disziplin beschäftigt sich mit „dieser einfachen Sache, eins, zwei und drei zu unterscheiden“ (R. 522c5 f.: Τὸ φαῦλον τοῦτο […] τὸ ἕν τε καὶ τὰ δύο καὶ τὰ τρία διαγιγνώσκειν), „zusammengefasst Zahl und Rechnung“ (R. 522c6 f.: λέγω δὲ αὐτὸ ἐν κεφαλαίῳ ἀριθμόν τε καὶ λογισμόν); dies nutze (zusätzlich zu ihren gewöhnlichen Gegenständen) jede Form von (entsprechend der Stufung in den Gleichnissen) ‚Kunst‘ (τέχνη), ‚Dianoia‘ (διάνοια) und ‚Wissen‘ (ἐπιστήμη), so dass es von jedem zuallererst notwendigerweise zu erlernen sei (R. 522c1–3: τὸ κοινόν, ᾧ πᾶσαι προσχρῶνται τέχναι τε καὶ διάνοιαι καὶ ἐπιστῆμαι, ὃ καὶ παντὶ ἐν πρώτοις ἀνάγκη μανθάνειν); so müsse jede ‚Kunst‘ und jedes ‚Wissen‘ (wohlgemerkt unter Aussparung der ‚Dianoia‘) notwendigerweise dieser Dinge teilhaftig werden (R. 522c7 f.: πᾶσα τέχνη τε καὶ ἐπιστήμη ἀναγκάζεται αὐτῶν μέτοχος γίγνεσθαι). Gegenstand dieser Disziplin ist die ‚(An-) Zahl‘ (ἀριθμός), sowohl als einzelne Instanz als auch in Kombination, gefasst als spezifische Menge von minimalen (zumindest in Hinsicht auf Zählbarkeit) identischen Einheiten (R. 525c8–526b4).136 Entsprechend ist die erste Erscheinungsform dieser Disziplin als ‚Arithmetik‘ und die zweite als ‚Logistik‘, nämlich als ‚Kunst des Rechnens‘, bezeichnet.137 (2) Geometrie (R. 526c–527c): Diese Disziplin wird eingeführt als dasjenige, das direkt an Arithmetik und Logistik angrenze (R. 526c7 f.: τὸ ἐχόμενον τούτου).138 Sach-

|| 136 In R. 525d5 f. (Τοῦτο […] περὶ αὐτῶν τῶν ἀριθμῶν ἀναγκάζει διαλέγεσθαι: „Dies […] zwingt, sich über die Zahlen selbst zu unterhalten“) liegt erneut eine Verwendung des Pronomens αὐτός in Hinblick auf die Gegenstände der Dianoia und nicht auf die Formen vor (vgl. oben Kap. 6.4 und Kap. 6.5). Dies erweist sich in der späteren zusammenfassenden Wiedergabe des Gedankens, dass die Mathematiker „über diejenigen Zahlen sprechen, über die man nur mit der ‚Dianoia‘ denken kann und die man in keiner Weise anders ergreifen kann“ (R. 526a6 f.: περὶ τούτων λέγουσιν ὧν διανοηθῆναι μόνον ἐγχωρεῖ, ἄλλως δ’ οὐδαμῶς μεταχειρίζεσθαι δυνατόν). Diese Zahlen werden direkt davor definiert als diejenigen, „in denen die Eins so ist, wie ihr es schätzt, jede einzelne gänzlich gleich jeder zu jeder anderen und in nicht einmal einem kleinen Teil verschieden, und dies, ohne einen Teil in sich zu haben“ (R. 526a2–4: ἐν οἷς τὸ ἓν οἷον ὑμεῖς ἀξιοῦτέ ἐστιν, ἴσον τε ἕκαστον πᾶν παντὶ καὶ οὐδὲ σμικρὸν διαφέρον, μόριόν τε ἔχον ἐν ἑαυτῷ οὐδέν). Sachlich ähnlich ist Phlb. 56d–e. Anders deutet den Zusammenhang Mohr 1981, der hier die Zahlen als Formen deutet. Vgl. Euklids Definitionen am Beginn der arithmetischen Bücher der Elemente, zuerst der ‚Eins‘ (μονάς) als dasjenige, „in Bezug auf das jedes einzelne Ding ‚eins‘ genannt wird“ (Euklid, Elem. 7, def. 1: Μονάς ἐστιν, καθ’ ἣν ἕκαστον τῶν ὄντων ἓν λέγεται) und sodann der ‚Zahl‘ (ἀριθμός) als „aus Einsen zusammengesetzter Menge“ (Euklid, Elem. 7, def. 2: Ἀριθμὸς δὲ τὸ ἐκ μονάδων συγκείμενον πλῆθος). Vgl. Klein 1968, 46–60. 137 Mueller 1991a, 88–93 diskutiert ausführlich, ob die erste mathematische Disziplin eher ‚Arithmetik‘ oder ‚Logistik‘ zu nennen sei; siehe auch Klein 1968, 46–60 (insbesondere 60) zum Unterschied zwischen Arithmetik und Logistik. Vgl. Huffman 2005, 226 f. und 240–244. 138 Das Verb ἔχεσθαι hat im Medium die Grundbedeutung „hold oneself fast, cling closely“ (LSJ s. v.). Impliziert ist, dass die Geometrie die direkt und ohne Zwischenraum anschließende Disziplin ist (vgl. die Gleichsetzung von τὸ συνεχές und τὸ ἐχόμενον in Aristoteles, Ph. 226b20). Entsprechend erfolgt die Charakterisierung des Zusammenhangs aller weiteren mathematischen Disziplinen, und

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liche Grundlage der Charakterisierung ist, dass sich diese mathematische Disziplin der Ebene zuwendet (R. 528a9: ἐπίπεδον; R. 528d2 f.: τὴν μὲν γάρ που τοῦ ἐπιπέδου πραγματείαν γεωμετρίαν ἐτίθης; diese Formulierung könnte als implizite Bestätigung der Ergebnisse von Kap. 4.6 zu werten sein, nicht zuletzt angesichts des που), also dem Zweidimensionalen (R. 528b1: δευτέραν αὔξην; zu αὔξη siehe oben Anm. 551; vgl. Diogenes Laertios 3, 24). Die (basale) Zahl der Arithmetik / Logistik wird hierdurch implizit als eindimensionale Größe gefasst, mithin als Linie, entsprechend der Praxis in Euklids Elementen (vgl. die Diagramme in Euklid, Elem. 7–9), aber sehr wohl im Unterschied zur pythagoreischen Praxis, die eben Zahlen als (dann natürlich diskrete und nicht kontinuierliche) Konfiguration von ψῆφοι-‚Punkten‘ fasst.139 (3) Stereometrie (R. 528a–d): Diese Disziplin folgt unmittelbar auf die Geometrie (R. 528a7: τὸ ἑξῆς […] τῇ γεωμετρίᾳ). Wie gesehen widmet sie sich der dritten Dimension (R. 528b1: τρίτην, sc. αὔξην), das heißt dem Körper selbst und in Bezug auf sich selbst (R. 528a9–b1: στερεὸν […] αὐτὸ καθ’ αὑτό), der ‚Dimension des Würfels und demjenigen, das an Tiefe teilhat‘ (R. 528b2: τὴν τῶν κύβων αὔξην καὶ τὸ βάθους μετέχον; siehe zu βάθος und zur gesamten Stelle oben Anm. 551), und schließlich ‚der Erforschung der Dimension der Tiefe‘ (R. 528d8: τὴν βάθους αὔξης μέθοδον). (4) Astronomie (R. 527d–528a und R. 528d–530c): Diese Disziplin ist die mathematische Disziplin der „Ortsbewegung der Tiefe“ (R. 528d10: φορὰν […] βάθους) oder speziell „des Körpers in Drehbewegung“ (R. 528a9: ἐν περιφορᾷ ὂν […] στερεόν), baut also systematisch auf der Stereometrie auf. Sie ist auch definiert als die mathematische Wissenschaft der sichtbaren Ortsbewegung des Körpers (R. 530d6–9). (5) Harmonielehre (R. 530c–531c): Diese letzte mathematische Disziplin ist in Entsprechung zur zuletzt angeführten Bestimmung der Astronomie definiert als die hörbare Ortsbewegung des Körpers (ἐναρμόνιος φορά, siehe R. 530d6–9); insofern ist sie wie die Astronomie eine Erweiterung der Stereometrie. Wenngleich so weit einerseits nicht auszuschließen ist, dass Platon die Möglichkeit weiterer mathematischer Disziplinen in Abhängigkeit von spezifischen Formen der körperlichen Bewegung gesehen haben könnte (siehe R. 530c8–d8),140 steht andererseits doch fest, dass es ausschließlich die Mathematik ist, die in Politeia VII als zweckdienlich für die Erkenntnis des Seins (und also die Lösung der Gefangenen, den

|| dies verweist insbesondere auf die mathematische Dimensionenfolge (die genuin platonisch ist: siehe Huffman 1993, 362 f.; vgl. umfassend Gaiser 1968, speziell 52–59 und 107–110). Vgl. unten Anm. 143. 139 Zur sogenannten ψῆφοι-Arithmetik siehe (mit instruktivem Fallbeispiel) Waschkies 1971, insbesondere 342–352 (mit weiterer Literatur); vgl. oben Kap. 4.6. 140 Diese Passage wird zumeist ignoriert: vgl. Mittelstraß 1997, 230–236 und Böhme 2000, 88 f. Angesichts dessen und der entsprechenden Ableitung von Astronomie und Harmonielehre ist es nicht adäquat, anzunehmen, dass es in der Astronomie in mathematisch reiner Form „um Kommensurabilitäten, in der Harmonielehre um Proportionen“ gehe (Böhme 2000, 79; siehe auch 66–86 insgesamt zu Astronomie und Harmonielehre), zumal diese Leistung auch (und besser, da auf basalerem Niveau) von Geometrie und Arithmetik geleistet werden könnte (vgl. Euklid, Elem. 5–6 und 7–9).

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Aufstieg aus der Höhle und das Sehen der Abbildungen der Formen im Wasser) gilt.141 Der Begriff des ‚Mathema‘ (μάθημα) erfährt im Verlauf der Diskussion eine Engführung vom anfangs in Entsprechung zum Verb μάνθανειν generell verstandenen ‚Gegenstand des Lernens‘ zu einem speziell mathematischen Gegenstand (besonders prägnant in R. 534e2–535a1; sieht man davon ab, dass auch das Gute ein μάθημα ist: siehe R. 504e3–5 und R. 505a2).142 Die konkrete Entfaltung der für die Erkenntnis des Guten förderlichen ‚Gegenstände des Lernens‘ erweist in diesem Sinne, dass die im Liniengleichnis und im Fortgang explizit wie implizit vorgenommene Identifikation der der Dianoia zugeordneten Künste mit den mathematischen Wissenschaften als erschöpfend zu verstehen ist (siehe oben; insbesondere R. 510c2 f., R. 511a10–b1 und insgesamt R. 510b2–511a3; auch R. 511c6 f., R. 532b6–d1 und R. 533a10–d9). Die von Platon behandelten mathematischen Disziplinen werden in der gesamten Passage linear in systematischer Weise entfaltet, und zwar mehr oder weniger vom Einfachen zum Komplexen:143 Die Arithmetik behandelt die erste, die Geometrie die zweite, die Stereometrie die dritte Dimension, die Astronomie die sichtbare Bewegung in der dritten Dimension und die Harmonielehre die hörbare Bewegung in der dritten Dimension. Bemerkenswert ist, dass die letzten beiden mathematischen Disziplinen die zeitliche Dimension integrieren, da Bewegung auch in der Antike und speziell bei Platon durch die Zeit definiert ist.144 Damit sind sie in unmittelbarem Sinn

|| 141 Anders, aber eben nicht mit dem Text kompatibel, exempli gratia Sedley 2007, 262 f.: „Our woeful distance from fundamental truths could be illustrated in terms of mathematical education, as the mathematical focus of the ensuing educational program encourages us to do […]. Nothing in the text suggests that such a reading exhausts the simile’s meaning […]. Nevertheless, mathematical education is undoubtedly one of the image’s applications.“ 142 Eine derartige Engführung ist überhaupt erst für die erste Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. bezeugt: vgl. Vitrac 2005, 271–274. Neben Politeia VII ist ein weiteres Zeugnis Archytas, fr. 1; es stammt aus einer Schrift Περὶ μαθηματικῆς (siehe oben). In jedem Fall war Platon an dieser programmatischen Engführung des Begriffs beteiligt, wenn nicht sogar an entscheidender Stelle (siehe Vitrac 2005 speziell in Hinsicht auf das spätere Quadrivium). Hierfür spricht der Wortgebrauch im Rahmen der gesamten Entfaltung der konkreten Argumentation in Politeia VI–VII: Die Pointe ist die Einschränkung auf Mathematik, und diese ist im Kontext zweifellos intendiert pointiert-überraschend. Auch die mehrmalige Verwendung des Wortes in der zitierten Isokrates-Passage legt die spezifische Verbindung zur Akademie (und, zumindest zur Mitte des Jahrhunderts, eben nicht zum Pythagoreismus) nahe. 143 Instruktiv ist ein Vergleich mit der Entfaltung mathematischer Disziplinen im pythagoreischen Kontext bei Archytas (fr. 1, insbesondere 4–6; siehe Huffman 2005, 126–129): Auch wenn die Reihenfolge partiell durch den Argumentationskontext beeinflusst ist (die Harmonielehre ist das eigentliche Thema in Archytas’ folgenden Ausführungen), ergibt sie sich mit Astronomie – Geometrie – Zahlen – Musik. Insofern scheint die Zurückführung der Entfaltung der Disziplinen auf die Dimensionenfolge in der in der Politeia vorliegenden Form in der Tat platonisch zu sein; hierfür ist ebenfalls die Hinzufügung der Stereometrie ein Indiz, die bei Archytas (!) wohlgemerkt fehlt; vgl. oben mit Anm. 138. 144 Vgl. Ti. 38a5–7. Siehe zur Entfaltung Gaiser 1986, 101: „Die Notwendigkeit dieser Anordnung wird damit begründet, daß auf die Arithmetik, die es mit den nicht-räumlichen Zahlen zu tun hat, entsprechend der dimensionalen Raumstruktur die Planimetrie (Bereich des Linear-Flächenhaften)

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per definitionem mit dem Werden verbunden. Gleichwohl kann dies angesichts der Ergebnisse so weit nicht überraschen: Mathematik verbindet in sich das Körperliche und Seiende – und überführt das Erstere in das Letztere, und zwar durch den Mechanismus des Diagramms. In der Tat ist bemerkenswert, dass griechische mathematische Astronomie etwa bei Aristarchos oder Autolykos Bewegung gerade nicht in einer dynamischen Form fasst, wie etwa die moderne Physik in der Form von Differentialgleichungen, sondern als genuin statisches Diagramm, sowohl in der Konstruktion als auch in der Analyse (vgl. oben Kap. 3.3). Evident ist, dass die klassische griechische Mathematik ganz im Sinn Platons Bewegung auf Struktur reduziert – und so einen Schritt vom Werden zum Sein, vom Körperlichen zum Intelligiblen vollzieht. Dies deckt sich mit der kritischen Anmerkung Platons, dass die ‚Wissenschaft‘ (ἐπιστήμη) der Geometrie sich tatsächlich genau gegenteilig zu demjenigen Eindruck verhalte, der in den Ausführungen der sie Betreibenden erweckt werde (R. 527a1–5), denn „sie bringen alle ihre Reden als Handelnde und um der Handlung willen vor und sagen, dass sie quadrieren, anlegen und hinzufügen“ (R. 527a6–b1, hier a6–9: ὡς γὰρ πράττοντές τε καὶ πράξεως ἕνεκα πάντας τοὺς λόγους ποιούμενοι λέγουσιν τετραγωνίζειν τε καὶ παρατείνειν καὶ προστιθέναι).145 Verständlich ist diese Anmerkung nur, wenn Platon sich auf die praktische Geometrie, die (wenn auch theoretisch wie bei Theodoros etc. unterfütterte) ‚Landvermessung‘, bezieht, denn wenn er eine Geometrie euklidischen Typs vor Augen gehabt hätte, würde sich einerseits angesichts des dezidierten Fokus auf dem Beweis (das heißt der ‚Apodeixis‘) dieser Eindruck gar nicht erst ergeben, und andererseits müsste Platon nicht sogleich explizit feststellen, dass „dieses gesamte ‚Mathema‘, wie ich meine, um der Erkenntnis willen betrieben wird“ (R. 527a9 f.: τὸ δ’ ἐστί που πᾶν τὸ μάθημα γνώσεως ἕνεκα ἐπιτηδευόμενον). Die emphatische Affirmation durch Glaukon Παντάπασιν μὲν οὖν (R. 527b1) ist ebenso signifikant wie programmatisch: Platons Geometrie zielt auf die relationale Analyse von abstrakten statischen ‚mathematischen‘ Diagrammen ab, nicht auf die

|| und die Stereometrie (Bereich des Dreidimensional-Körperlichen) folgen, darauf Astronomie und Musiktheorie als die Wissenschaften von den (sichtbaren und hörbaren) Bewegungen der Körper. Das Anordnungsprinzip ist, wie man sieht, durchgehend dasselbe: ein konsequentes Fortschreiten vom Einfachen, Unausgedehnten, Begrenzten zum Räumlich-Ausgedehnten, Vielfachen und Wechselnden.“ Ähnlich Krämer 1966, 58 f.: „kontinuierliches Fortschreiten vom Einfacheren zum Komplizierteren, Abgeleiteten“ (58). Anders Miller 1999, 76 f.: „the middle three studies are all species of geometry whereas the first and fifth are arithmetical, focused on relations of whole numbers. Thus the five are ordered as a departure and return, in which, it seems, we begin and end with studies of whole numbers“. Diese Position verkennt aber (auch wenn sie zu Recht die Bedeutung der Sinneswahrnehmung betont), dass die Entfaltung Schritt für Schritt zum Körperlichen in seiner Wahrnehmbarkeit hinführt und diese nicht nur Ausgangs-, sondern auch Zielpunkt ist (vgl. unten). 145 Zu den Verben siehe Mugler 1958, 416 f. (τετραγωνίζειν) bzw. 333 (παρατείνειν; vgl. auch oben Kap. 6.5 mit der Analyse von Men. 86e4–87b2; bei Euklid ist der entsprechende Terminus παραβάλλειν) bzw. 367 f. (προστιθέναι; vgl. oben Kap. 4 zu Men. 82a7–85b7).

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möglichst korrekte, aber eben nicht analytische dynamische Manipulation und Vermessung physikalischer Gegenstände (oder ihrer Äquivalente). Dies führt zum letzten Punkt, der in diesem Abschnitt zu betrachten ist, nämlich dem konkreten Mechanismus, wie die Mathematik als Instrument der Dialektik die Umwendung der Seele zum Intelligiblen vollbringt. Instruktiv ist die Diskussion der Arithmetik, in Hinsicht auf die Platon diese Frage umfänglich erörtert (R. 523a–526c). Auch wenn nicht auf alle Details dieser teils schwierigen Passage eingegangen werden kann, lassen sich die folgenden, hier wesentlichen Punkte festhalten: Der spezifische Nutzen der Mathematik in der Erkenntnis des Seins wird ausgehend von der Sinneswahrnehmung entwickelt (R. 523a10–525c4).146 Die grundsätzliche Situation ist, dass die Wahrnehmung immer kontradiktorische Gegensätze in derselben Hinsicht darbietet (wie ja die Meinung, ‚Doxa‘, insgesamt: R. 479b–e, mit der wichtigen Implikation, dass die ‚Doxa‘ ihren Ausgang gerade von der Sinneswahrnehmung nimmt) und also jeder Wahrnehmungsinhalt in sich widersprüchlich ist (R. 523e1– 524a4). Dies hat zur Folge, dass die Seele in eine Aporie gerät, verletzt der Wahrnehmungsinhalt doch das (fundamentalste) logische Gesetz, nämlich das vom ausgeschlossenen Widerspruch; zum Beispiel wird etwas Hartes zugleich als weich und etwas Schweres zugleich als leicht vermeldet und jeweils vice versa (R. 524a5–10). Die sachliche Ursache ist, dass prinzipiell ein und dasselbe Wahrnehmungsorgan des Körpers den entsprechenden jeweils kontradiktorischen Qualitäten zugeordnet ist, etwa das Sehen zugleich den Qualitäten ‚groß‘ und ‚klein‘ oder das Fühlen zugleich den Qualitäten ‚weich‘ und ‚hart‘ (R. 523e1–524a4). Entsprechend ruft die Seele „Berechnung und Verstand“ hinzu, um zu prüfen, ob das Wahrgenommene „eins oder zwei“ sei (R. 524a5–c2). In der Folge wird der in der Wahrnehmung vermengte kontradiktorische Gegensatz entwirrt; so ist es etwa der Fall, dass im Gegensatz zum Sehen „das Denken gezwungen ist, das Große und Kleine nicht wie das Sehen in vermengter Form, sondern getrennt und jeweils für sich zu sehen“ (R. 524c6– 8: μέγα αὖ καὶ σμικρὸν ἡ νόησις ἠναγκάσθη ἰδεῖν, οὐ συγκεχυμένα ἀλλὰ διωρισμένα, τοὐναντίον ἢ ’κείνη) – ein Sachverhalt, der Platon wohlgemerkt anfügen lässt, dass es „mehr oder weniger ausgehend hiervon uns [sc. hinter der Maske des Sokrates Platon selbst] zuerst in den Sinn gekommen ist, zu fragen, was denn nun das Große und das Kleine sei“ (R. 524c10 f.: Οὐκοῦν ἐντεῦθέν ποθεν πρῶτον ἐπέρχεται ἐρέσθαι ἡμῖν τί οὖν ποτ’ ἐστὶ τὸ μέγα αὖ καὶ τὸ σμικρόν;), mit der Folge, dass „wir entsprechend || 146 Die Passage beinhaltet das notorische Fingerbeispiel (R. 523a10–525c4): siehe exempli gratia White 1989 und Horn 1997, speziell 302–304. Siehe zur Passage auch Harte 2011, 200, die darauf hinweist, dass im Fingerbeispiel nicht gesagt ist, dass aus philosophischer Sicht nicht alle Wahrnehmungen defizient seien, und in diesem Sinne die verbreitete Meinung zurückweist, dass impliziert sei, dass es nur Formen von Gegensätzen geben könne; Platons Punkt sei primär vielmehr die Charakterisierung der Wahrnehmung der gewöhnlichen Menschen (man beachte R. 523d3 f.: τῶν πολλῶν ἡ ψυχή [„die Seele der meisten Menschen“]). Für einen ersten Einblick in den philosophischen Hintergrund der Problematik (auf den hier nicht eingegangen werden kann) siehe Harte 2011, 201–206.

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das eine das Denkbare und das andere das Sichtbare genannt haben“ (R. 524c12 f.: Καὶ οὕτω δὴ τὸ μὲν νοητόν, τὸ δ’ ὁρατὸν ἐκαλέσαμεν). Der Zusammenhang ist im Kontext klar: Das Denkbare (τὸ νοητόν) einerseits ist das „Was“, mithin die Form, das „Sichtbare“ (τὸ ὁρατόν) andererseits „das Große und das Kleine“ und also das Körperliche (vgl. unten Kap. 7 zum Timaios).147 Modelltheoretisch stellt sich die Situation wie folgt dar: Die Sinneswahrnehmung konstruiert aufgrund ihrer fundamentalen Konstitution ein Modell des wahrgenommenen Gegenstands, das kontradiktorische Eigenschaften in derselben Hinsicht aufweist, und zwar potentiell in Hinsicht auf alle möglichen Parameter, die durch die in der Welt vorhandenen und letztlich im Körperlichen realisierten Qualitäten gegeben sind.148 Die Seele (und speziell ihr rationaler Teil) als diejenige Instanz, die dieses Modell nutzen möchte, muss zu diesem Zweck den Widerspruch auflösen, und zwar deshalb, weil das vom Modell repräsentierte Objekt als körperlich vorhandenes Objekt aus logischen Gründen nicht über beide kontradiktorischen Eigenschaften verfügen könnte. Hierbei muss sie die beiden relevanten Ausprägungen der Qualitäten durch ‚Berechnung‘ und ‚Verstand‘ separieren; die letzte Instanz ist die ‚Episteme‘ und operiert mit den Formen, die erste Instanz ist die ‚Dianoia‘ und operiert mit Mathematik. Der entscheidende Punkt ist transparent: Mathematik ist nützlich zur Erkenntnis des Seins, weil sie es vermag, die prinzipiell defiziente Sinneswahrnehmung durch Anwendung der ihr inhärenten mathematischen Relationen (wie hier der ‚Zahl‘ und also durch das ‚Zählen‘) auf diejenigen Dinge, die die Sinneswahrnehmungen verursachen (die physikalischen Gegenstände selbst), so zu erklären, dass die in ihr vorhandenen mathematischen Relationen selbst in der Form mathematischer Objekte in der Dianoia zugänglich werden. Exakt dies ist die Befreiung der (Seelen der) Gefangenen aus den Fesseln, nämlich der Körperlichkeit und mithin Wahrnehmung, die Umwendung zu den vor dem Feuer entlang getragenen Gegenständen, nämlich den physikalischen Gegenständen als Verursachern der Wahrnehmung, und schließlich der Aufstieg ans Tageslicht und dort das Schauen auf die Reflexionen der wirklichen Gegenstände im Wasser, nämlich die mathematischen Gegenstände. Die sachliche Grundlage ist, dass die im Intelligiblen vorhandenen mathematischen Relationen in der körperlichen Welt realisiert und vermittelt über die Wahrnehmung effektiv zugänglich sind – und diese im Gegenzug dazu genutzt werden kann und muss, den Bereich der Mathematik selbst zu ergründen. Entsprechend ist transparent, dass Platon keine prinzipiell anti-observationelle Mathematik (einschließlich Astronomie) befürwortet haben könnte. Vielmehr ist nur auf diesem Weg möglich, || 147 Dazu, dass diese Stelle sich naheliegend (und eigentlich unmissverständlich) im Kontext der Prinzipienlehre lesen lässt, siehe Horn 1995, 105. 148 Im Bereich des Sehens ist auch ein Grund, dass der mannigfaltige Wahrnehmungsinhalt selbst in seiner Gesamtheit verschiedene relationale Kontexte bereithält; vgl. White 1989, 57: „when we see Simmias standing next to Socrates it is acceptable to judge that Simmias is tall, whereas it is acceptable to judge that he is short when we see him standing next to Phaedo.“

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durch die Mathematik ‚eine Reinigung eines Instruments der Seele‘ zu vollbringen und es wieder sehen zu lassen, nämlich die ‚Wirklichkeit‘ (R. 527d5–e3); so kann sie der Dialektik als dasjenige dienen, was im Sinn des Höhlengleichnisses die Seele zum Sein nach oben zieht (etwa R. 525d5–8). Genau dieser Zusammenhang ist es, den Platon bei jeder einzelnen mathematischen Disziplin betont, oftmals mehrmals,149 und entsprechend ist das Erreichen eben dieses Ziels das Kriterium für die Aufnahme der jeweiligen ‚Kunst‘ in das gesamte Bildungsprogramm (siehe etwa R. 521d3 f.). Wichtig ist, dass Mathematik allein zu diesem Zweck betrieben werden muss – und eben nicht (nur) zu praktischen Zwecken: Auch wenn jeder Mensch immer schon über das Vermögen der ‚Dianoia‘ verfügt, muss sie gezielt dazu gebracht werden, gerade dorthin zu blicken, wohin sie blicken soll, nämlich ins Intelligible und zum Sein (R. 518d3–7). Auch dies ist ein durchgehendes Thema der gesamten Passage: So heißt es, die Arithmetik sei nicht primär um des Handels willen zu betreiben (R. 525c3 f.; R. 525d3) und nicht mit Blick auf Mengen (Zahlen) von körperlichen Gegenständen (R. 525d5–526b4); die Geometrie nicht um des praktischen Konstruierens willen (R. 527a6–9; siehe oben); die Astronomie nicht um des partikularen im Körperlichen realisierten Himmels und also um des Kalenders oder der Sternenbeobachtung willen (R. 527d5–528a5; R. 528e4–530b5); oder die Harmonielehre nicht um der einzelnen im Körperlichen realisierten Töne willen (R. 530e5–531c3).150 Freilich macht Platon in der Umkehrung ebenso (wenn auch ironisch gebrochen) deutlich, dass Mathematik selbstverständlich nützlich für praktische Zwecke sei. Er stellt dies für jede einzelne Disziplin explizit fest; schließlich sei ‚auch der zusätzliche Nutzen der Mathematik nicht gering‘ (so mit Bezug auf Geometrie in R. 527c3: καὶ γὰρ τὰ πάρεργα αὐτοῦ οὐ σμικρά): So sei die Arithmetik nützlich für die Kriegskunst, speziell zum Zählen und Aufstellen der Soldaten (R. 522c10–e4; R. 525b1 f.; R. 525c4 f.), sowie im Handel (R. 525c3 f.; R. 525d1 f., zumindest implizit), die Geometrie gleichfalls für die Kriegskunst und besonders zum Bau von Feldlagern etc. (R. 526c11–d7; R. 527c1–3), und die Astronomie für die Kenntnis des Kalenders und somit für Landwirtschaft und Seefahrt (R. 527d2–4). Offenkundig dienen diese Beispiele dazu, die rein praktische Nützlichkeit von Mathematik herauszustellen, und zwar nach den Kriterien der griechischen Kultur, wie sie sich in den zitierten Passagen aus Isokrates (or. 15, 261–266) oder Xenophon (M. 4, 7, 4–6) widerspiegeln. Allerdings belässt es Platon nicht dabei, sondern betont, dass es sich nur um einen kleinen Bereich der zu betreibenden Mathematik handele. Diese besteht dann aber selbstverständlich nicht in einer diagrammatischen Abbildung der körperlichen Dinge um ihrer selbst und ihrer

|| 149 Siehe speziell die folgenden Stellen: Arithmetik: R. 523a1–3; R. 524e1; R. 525b2–5; R. 525c4–6; R. 525d2 f.; R. 525d5–8; R. 526a8–b3; Geometrie: R. 526d8–e8; R. 527a9–b1; R. 527b6–11; Astronomie: R. 527d5–e3; R. 529b3–5 (vgl. R. 488d4–e2); Harmonielehre: R. 530e5–7; R. 531c6 f. 150 Vgl. mit direktem Bezug zu Platons Konzeption von Mathematik Klein 1968, 63–69; auch Asper 2007, 207 zur Stelle R. 527a6–9. Zur praktischen Arithmetik im klassischen Athen vgl. Cuomo 2013.

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direkten Manipulation und Vermessung willen, sondern darin, im Ausgang von den Inhalten der Sinneswahrnehmung sich mit den diesen entsprechenden universellen mathematischen Objekten zu befassen. Diese stehen zu jenen nur in einer Ähnlichkeits- und nicht in einer Identitätsrelation, und dies ist hinsichtlich ihrer mathematischen Verfasstheit von entscheidender Relevanz. Eine solche Form von Mathematik ist gerade diejenige Form von Mathematik, wie sie sich etwa in Euklids Elementen findet. Instruktiv, da eine Bestätigung der herausgearbeiteten Zusammenhänge in Bezug auf Platon, ist der Umstand, dass die dort verhandelten mathematischen Objekte selbst nicht wie in der modernen Mathematik durch das axiomatische Fundament willkürlich gesetzt und mithin effektiv postuliert werden, sondern dass sie im Gegenteil durch die Definitionen in ihrem unabhängig gegebenen Wesenskern erfasst werden sollen – und zwar in genau derjenigen Form, wie sie uns in der Natur entgegentreten und dort erforscht werden können. Mathematik euklidischen Typs ist in diesem Sinn eine genuin empirisch und mithin auf Sinneswahrnehmung basierte (wenn auch nicht auf diese reduzierte noch reduzierbare) mathematische Theorie der physikalischen Welt – das heißt, eine ‚intelligible‘ Beschreibung ihrer sich im Körperlichen manifestierenden und mittels der Sinneswahrnehmung zugänglichen mathematischen Relationalität.151 Dies entspricht exakt derjenigen Konzeption von Mathematik, die Platon in Politeia VII entfaltet. Das vermeintliche ‚Bildungs‘-Programm entpuppt sich als genuines ‚Wissenschafts‘-Programm – und das heißt als Programm der mathematischen Modellierung sowohl der physikalischen als auch der intelligiblen Welt in interdependenter Verschränkung.152 Auch wenn Mathematik für Platon also primär nicht unmit|| 151 Dass antike Mathematik euklidischen Typs eine letztlich empirische Natur hat, mithin auf eine abstrakte Beschreibung der physikalischen Welt in ihren Grundbestandteilen abzielt, ist ein Aspekt, der nicht überschätzt werden kann. Gerade aus einer zeitgenössischen Perspektive, speziell nach Hilbert 1899 bzw. Russell & Whitehead 1910–1913, wird Mathematik oft konzipiert als das deduktives System von logischen Folgerungen aus einem axiomatisch gesetzten Anfang, welcher also ein jeweils eigenes System einer spezifischen ‚Mathematik‘ definiert; je nach Wahl des Axiomensystems gibt es entsprechend etwa eine euklidische und eine nicht-euklidische Geometrie. Dies wäre nach antiken mathematischen Maßstäben absurd (vgl. Lattmann 2011 zu Tóth 2010): Zwar ist die antike Mathematik in gewissem Sinn in der Tat axiomatisch-deduktiv verfasst (vgl. Mueller 1981, auch Mueller 1969), das als Kriterium von Richtigkeit fungierende Fundament des Axiomensystems ist aber implizit durch die Verfasstheit der physikalischen Welt gegeben und nicht explizit und letztlich als prinzipiell arbiträre Grundlage gesetzt. Hieraus folgt, dass die Setzungen am Anfang etwa von Euklids Elementen kein geschlossenes System bilden (und bilden müssen) und mithin nicht die Gesamtheit der möglichen deduktiven Schritte implizit abschließend determinieren. Diese Fragen verweisen auf das weite Feld der allgemeinen Philosophie der Mathematik und können hier nur gestreift werden; für einen Überblick siehe Weyl 1966 (instruktiv speziell 34 f.), Shapiro 2005 und Bostock 2009 sowie Thiel 1995. 152 Unnötig vorsichtig ist Gregory 2000, 55 in dieser Hinsicht: „The question now is how we might employ a discipline for specific educational ends rather than how we might pursue an investigation. This means that we must be very cautious in drawing any conclusions concerning scientific method here.“ Gleichwohl scheint eine solche Vorsicht aus einem (fehlgeleiteten) instrumentalen Verständ-

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telbar von der empirischen Welt handelt und in ihr aufgeht, heißt dies in der Umkehrung nicht, dass die empirische Welt ohne Anteil an Mathematik wäre; dies wäre ein Fehlschluss. Vielmehr ist gerade der innere, auf einer Ähnlichkeit basierende Zusammenhalt der verschiedenen Ebenen der Welt ein entscheidendes Charakteristikum von Platons Mathematik und eine unabdingbare Bedingung für die Möglichkeit der Befreiung der Gefangenen aus der Höhle. Insofern erweist sich Mathematik als prinzipiell notwendig zur Befreiung des Auges der Seele aus dem barbarischen Schlamm.

|| nis des Nutzens von Mathematik zu rühren (vgl. ebenda: „The method of education is then to encourage the guardians to consider the intelligibles. Note that only part of the whole subject has this effect“). Siehe aber schon White 1975 für eine Perspektive, die die Verankerung der ‚euklidischen‘ und speziell platonischen Form von Mathematik in der Wahrnehmung betont, insbesondere im Vergleich mit der modernen Geometrie.

7 Die Welt als Linien: Mathematische Modelle im Timaios 7.1 Einführung Platons Dialog Timaios widmet sich der umfassenden Beschreibung und Erklärung der physikalischen Welt, des Innern der Höhle. Hierzu nutzt Platon mathematische Modelle. So beschreibt er die größten Strukturen im Kosmos einschließlich des Planetensystems mittels mathematischer Modelle und führt die vier traditionellen Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde auf die vier regulären mathematischen Körper Tetraeder (‚Pyramide‘), Oktaeder, Ikosaeder und Würfel zurück. Platon geht so weit, dass er detailliert den mathematischen Aufbau dieser Körper aus Seitenflächen und wiederum deren Konstruktion aus zwei Sorten elementarer Dreiecke beschreibt. Der Timaios beinhaltet in diesem Sinn eine mathematische Modellierung der gesamten körperlichen Welt vom Allerkleinsten bis zum Allergrößten.1 Wie ich in diesem letzten Abschnitt der Studie zeigen werde, ist der Timaios das Komplement zur Theorie der mathematischen Modellierung in Politeia VI–VII, nämlich als praktische Anwendung und Umsetzung der dort entfalteten Prinzipien der mathematischen Modellierung der physikalischen Welt. Das Ziel ist eine ‚Rettung der Phänomene‘: Die Objekte der Wahrnehmung werden (zumindest insofern es in einem solchen Dialog möglich ist: vgl. unten Kap. 7.5) hinreichend genau beschrieben und für die philosophische Erklärung der Welt nutzbar gemacht. Der Timaios ist einer der Schlüsseltexte, um das entfaltete Verständnis von Platons Theorie und Praxis der mathematischen Modellierung erweiternd abzusichern und Platons Motivation zum Propagieren einer Mathematik euklidischen Typs besser zu verstehen. Freilich ist der Dialog einer der meistdiskutierten und -rezipierten Werke Platons, Letzteres auch deshalb, weil er im Mittelalter in lateinischer Übersetzung mehr oder weniger das einzige zugängliche Werk Platons war.2 Aus diesem Grund wird es nicht möglich sein, diesen Dialog auch nur annähernd umfassend zu behandeln.3 Der Fokus wird erstens darauf liegen, in einem engen Rahmen die im gegebenen Zusammenhang relevanten Prinzipien, Ziele und Inhalte der mathematischen Modellierung der physikalischen Welt im Timaios zu rekonstruieren, und zwar mit einem Schwerpunkt auf den vier Elementen als den Grundbestandteilen der körper|| 1 Für einen Überblick zum Dialog siehe unter anderem Taylor 1928, Cornford 1937, Mohr 1985, Calvo & Brisson 1997, Johansen 2004 und Broadie 2012, speziell 7–83. Für eine Lektüre des Dialogs vor dem Hintergrund des Höhlengleichnisses siehe Johansen 2013 (freilich mit primär ethisch-politischem Verständnis des Bildes und abweichender Deutung des Innern der Höhle). 2 Siehe Zeyl 2000, xiv. 3 Instruktiv gibt einen Überblick zum komplexen und sachlich schwierigen Dialog sowie einen Einblick in Forschung und Rezeptionsgeschichte die Einleitung zu Zeyls 2000 Übersetzung (xiii–lxxxix). https://doi.org/10.1515/9783110616491-007

368 | Die Welt als Linien: Mathematische Modelle im Timaios

lichen Welt; und zweitens darauf, diese Einsichten in Hinsicht auf ihre Kompatibilität mit dem in den drei Gleichnissen und Politeia VI–VII insgesamt entwickelten Wissenschaftsprogramm der mathematischen Modellierung zu prüfen. Das Ziel ist eine Antwort auf die Frage, ob und inwiefern der Timaios als zweckadäquate praktische mathematische Modellierung der physikalischen Welt im Sinn Platons gelten darf. Die Praxis der mathematischen Modellierung im Timaios wird in zwei separaten, aber interdependenten Schritten untersucht werden: Erstens werde ich bestimmen, wie Platon die vier fundamentalen Elemente und ihre Interaktion konzipiert und die physikalische mit der mathematischen Dimension verbindet. Zweitens werde ich die Frage beantworten, ob und, wenn ja, welche Relevanz der menschlichen Wahrnehmung in Hinsicht auf diese Prozesse zukommt: Schließlich hat die Analyse zum Liniengleichnis die Wahrnehmung im Rahmen mathematischer Modellierung als methodisch unabdingbar erwiesen. Dies ist vor dem Hintergrund der rekonstruierten mathematikmethodologischen Diskussionen zur Mitte des 4. Jhs. v. Chr. auch insofern von Interesse, als der Dialog vorgeblich die Ansichten des ‚Pythagoreers‘ Timaios wiedergibt – welche sich aber in den relevanten Aspekten eindeutig als Platons eigene und vor allem mit dem Pythagoreismus unvereinbare Positionen herausstellen.4

7.2 Die Elemente als Modelle In der Beschreibung der physikalischen Welt geht Platon von Empedokles’ Lehre der vier Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde aus, die die Grundbestandteile der Welt

|| 4 Siehe hierzu Huffman 2013, 263–268; auch Cornford 1937, 2–4 und für die philosophischen Zusammenhänge Morrow 1968. Dieser grundlegende Sachverhalt wurde insbesondere von Taylor 1928 nicht erkannt. Auch wenn nicht im Detail diskutiert werden kann, welchen erkenntnistheoretischen Status im Rahmen des Liniengleichnisses der gesamte εἰκὼς λόγος des Pythagoreers Timaios hat (vgl. zum Gesamtproblem etwa Witte 1964 sowie den Überblick bei Zeyl 2000, xxxii f. und xx–xxv; siehe auch Johansen 2004, 48–68, Burnyeat 2005a, Betegh 2010, Mourelatos 2010 und Mourelatos 2014, 178– 190), ist im gegebenen Rahmen signifikant, dass sich eine eindeutige Konvergenz (eines Teils) seiner Inhalte mit Platons Forderungen an die mathematischen Wissenschaften in der Politeia zeigt; vgl. Karasmanis 1988, 162–170. In diesem Zusammenhang wurde oft vertreten, dass der Dialog nur eine nicht ernstzunehmende Spielerei sei, insofern Platon zufolge kein Wissen bezüglich des Bereichs des Werdens möglich sei: vgl. Sayre 2005, 240 und Mueller 1989, 23. Dieser Aspekt wird im Folgenden indirekt angesprochen werden; hier sei jedoch angemerkt, dass der Einwand angesichts der so weit gewonnenen Erkenntnisse am Problem vorbeigeht: Selbstverständlich kann der Dialog eine (‚bildhafte‘) Repräsentation ‚wahrer Meinung‘ sein und ist als solcher, ohne ‚Wissen‘ im eigentlichen Sinn zu sein, nicht per se falsch (ganz im Gegenteil); vgl. Men. 85c9–d1. In den Begrifflichkeiten der Gleichnisse gesprochen, dürfte der (Inhalt des) Timaios konkret im Bereich der εἰκασία anzusiedeln sein. In der Tat fehlt ja in jedem Fall der ‚euklidische‘ Beweis der im Dialog vorgenommenen mathematischen Modellierung (was natürlich auch für Sonnen- und Höhlen- sowie sogar Liniengleichnis gilt; vgl. unten Kap. 7.5). Ähnliches wäre zu Steel 2001 anzumerken, der, insofern das Zweck des Dialogs ein ethischer sei, die physikalischen Ausführungen im Detail mehr oder weniger als Spielerei deutet.

Die Elemente als Modelle | 369

bilden.5 Freilich leitet er die sachliche Adäquatheit dieser Annahme aus einem komplexen Geflecht spezifisch platonischer Prämissen ab: Die (physikalische) Welt sei körperlich und mithin sicht- und berührbar, Sichtbarkeit sei aber nur durch Feuer und Berührbarkeit nur durch etwas Festes und dieses nur durch Erde möglich, und andererseits sei die physikalische Welt eine Einheit, jede Einheit sei aber durch einen Mittelterm und speziell alles Körperliche durch zwei Mittelterme verbunden (vgl. oben Kap. 5 zur Würfelverdopplung); aus all dem (und weiteren Punkten) folge, dass zwischen Feuer einerseits und Erde andererseits zwei weitere Elemente anzunehmen seien, nämlich Luft und Wasser (Ti. 31b4–34b9).6 Die vier Elemente werden in einer (im Kontext der Geschichte der griechischen Philosophie in der Tat) „ungewöhnlichen Art der Erklärung“ (Ti. 53c1: ἀήθει λόγῳ) auf mathematische Objekte zurückgeführt, konkret auf diejenigen „Zahlen und Formen“, die ihnen der Demiurg am Beginn des Universums gab (Ti. 53b4 f.: ταῦτα πρῶτον διεσχηματίσατο εἴδεσί τε καὶ ἀριθμοῖς); zuvor hätten sich alle Dinge ohne „Proportion und Maß“ verhalten (Ti. 53a8: πάντα ταῦτ’ εἶχεν ἀλόγως καὶ ἀμέτρως), wie es freilich nur dann der Fall sei, wenn sich etwas in einem gottlosen Zustand befinde (Ti. 53b3 f.: διακείμενα ὥσπερ εἰκὸς ἔχειν ἅπαν ὅταν ἀπῇ τινος θεός).7 Impliziert ist, dass || 5 Zu Empedokles’ Vier-Elementen-Lehre siehe Primavesi 2008, 252–259; zu den Anklängen an Empedokles siehe Mortley 1969. 6 Der relationale Zusammenhang wurde kontrovers diskutiert: siehe für einen Einblick Pritchard 1990; vgl. Cornford 1937, 45–52. Legt man die Geometrisierung der Elemente im Sinn der regulären Körper zugrunde (siehe unten), lässt sich mathematisch keine Eigenschaft benennen, in Bezug auf welche Platon von einer Proportionalität gesprochen haben könnte (potentieller Kandidat wäre die Menge der Elemente, doch spricht Platon nicht von diesem Aspekt in dieser Hinsicht). Ein attraktiver Ausweg könnte darin bestehen, dass sich die Proportionalität auf die qualitativen Eigenschaften der Elemente bezieht; siehe Zeyl 2000, xxxix–xl: „If we think of the elements in terms of the traditional ‚opposites‘ […] of hot versus cold and wet versus dry, with fire (hot/dry) and earth (cold/dry) being the extreme opposites, their opposition might be mediated by air (hot/wet) and water (cold/wet) and the proportionality might be expressed as follows: hot/dry (fire) :: hot/wet (air) :: cold/wet (water) :: cold/dry (earth).“ In diesem Fall ergäbe sich der qualitative Unterschied in der Wirkung der Elemente zwar aus ihrer mathematischen Konstitution, diese Unterschiede wären aber nur qualitativ-quantitativ verantwortlich für die Unterschiede in den wahrnehmbaren und objektiv gegebenen Eigenschaften der Elemente (zum Zusammenhang vgl. die folgende Diskussion). Andererseits findet sich die explizite Angabe, der Demiurg habe die Proportionalität zwischen den Elementen in dem Maße eingerichtet, in dem sie überhaupt möglich gewesen sei: καὶ πρὸς ἄλληλα καθ’ ὅσον ἦν δυνατὸν ἀνὰ τὸν αὐτὸν λόγον ἀπεργασάμενος (Ti. 32b4 f.). Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass Platon wusste, dass eine genaue mathematische Proportionalität mit zwei numerisch-exakt bestimmten mittleren Proportionalen in Hinsicht auf mathematische Eigenschaften im Fall der regulären Körper unmöglich ist. Dass derartige quantitative Verhältnisse überhaupt im Interesse der mathematischen Forschung standen, zeigt freilich insbesondere Euklid, Elem. 13, 18. 7 In diesem Sinne nimmt Platon natürlich nicht nur Empedokles, sondern auch Demokrit auf: vgl. knapp für den Zusammenhang Artmann & Schäfer 1993, 257. Zu den Unterschieden zu Demokrits Atomlehre siehe insgesamt Nikolaou 1998, insbesondere die Übersicht 194–201. Instruktiv Morrow 1968, 23: „Plato’s theory is not atomism […] because his particles are divisible; and it is this very com-

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der physikalische Kosmos seit Anbeginn der Zeit, mithin als essentielle Eigenschaft, durch „Zahlen und Formen“ charakterisiert ist. Ausgehend davon, dass es sich bei den Elementen um Körper handele, wird abgeleitet, dass die Elemente prinzipiell spezifische mathematische, also geometrische Eigenschaften besitzen (Ti. 53c4–7): Πρῶτον μὲν δὴ πῦρ καὶ γῆ καὶ ὕδωρ καὶ ἀὴρ ὅτι σώματά ἐστι, δῆλόν που καὶ παντί· τὸ δὲ τοῦ σώματος εἶδος πᾶν καὶ βάθος ἔχει. τὸ δὲ βάθος αὖ πᾶσα ἀνάγκη τὴν ἐπίπεδον περιειληφέναι φύσιν· ἡ δὲ ὀρθὴ τῆς ἐπιπέδου βάσεως ἐκ τριγώνων συνέστηκεν. Zuerst einmal ist es jedem offenkundig, denke ich, dass Feuer, Erde, Wasser und Luft Körper sind. Aber jede Form des Körpers besitzt auch Tiefe, und es ist wiederum gänzlich notwendig, dass die Natur der Fläche die Tiefe umfasst. Die rechteckige Natur der ebenen Fläche ist aber zusammengesetzt aus Dreiecken.

Als Körper verfügen die Elemente über Tiefe; impliziert ist, dass sie die Eigenschaft besitzen, eine Fläche zu haben, nämlich als dasjenige, was sie umschließt und begrenzt.8 Jede rechteckige Fläche wiederum sei teilbar in Dreiecke.9 Sachlich liegt zugrunde, dass das Dreieck deshalb, weil „zwei gerade Linien keine Fläche umschließen“ (Euklid, Elem. 1, ax. 9, auch alternativ post. 6: καὶ δύο εὐθεῖαι χωρίον οὐ περιέχουσιν; vgl. oben Kap. 3.3), prinzipiell das minimal-mögliche zweidimensionale geradlinig begrenzte geometrische Objekt ist – und zugleich das erste aus sich selbst heraus hinreichend positiv bestimmte Objekt: Während eine Linie in der Länge unbestimmt ist, wird in einem Dreieck jede Seite durch die zwei anderen Seiten (relativ oder absolut) determiniert; die Relevanz im Kontext platonischer Philosophie ist evi-

|| plexity of their internal structure that makes them intelligible starting-points capable of serving as the building-stones that compose the gross bodies of sensible experience. For that role the atoms of Democritus were utterly unsuited; because of their indeterminateness of shape and size they were a barrier instead of an invitation to further inquiry.“ Zum Verhältnis von Platon und Demokrit siehe ausgehend von Diogenes Laertios 9, 40 auch Ferwerda 1972 (speziell 355–357 zum Timaios). Zur Problematik eines tatsächlichen derartigen präkosmischen Zustands siehe Strobel 2007, 291–296; für den gegebenen Zusammenhang ist diese Frage nicht relevant. 8 Vgl. Men. 76a1–7 und Euklid, Elem. 11, def. 2 (Στερεοῦ δὲ πέρας ἐπιφάνεια: „die Grenze eines Körpers ist eine Oberfläche“) in Verbindung mit Euklid, Elem. 11, def. 1 (Στερεόν ἐστι τὸ μῆκος καὶ πλάτος καὶ βάθος ἔχον: „ein Körper ist das, was Länge, Breite und Tiefe hat“); siehe zu diesen Definitionen und ihrer Bezeugung bei Platon und Aristoteles Heath 1926, 3, 262 f. Hier spricht im Übrigen das καί vor βάθος dagegen, dass die ‚Tiefe‘ schon alle drei Dimensionen beinhaltet; zum Terminus βάθος siehe oben Anm. 551. Vgl. Waschkies 1995, 115 mit Anm. 89. 9 In Euklids Elementen findet sich diese Einsicht insbesondere in Euklid, Elem. 1, 45, einer Proposition, mit deren Hilfe sich eine beliebige geradlinig begrenzte Fläche in ein flächengleiches Parallelogramm transformieren lässt; dieses wichtige Problem ist (in Verbindung mit Euklid, Elem. 1, 43 f.) eine der Grundlagen für die sogenannte ‚Flächenanlegung‘ und speziell für den Beweis von Euklid, Elem. 2, 14, das heißt der ‚Quadratur‘ einer beliebigen geradlinig begrenzten Fläche und mithin der geometrischen Konstruktion der mittleren Proportionale (vgl. oben mit Anm. 490; zu Euklid, Elem. 1, 45 vgl. die Anmerkungen Heaths 1926, 1, 346 f.; man beachte Proklos, in Euc. p. 422, 24–425, 6).

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dent.10 Alle Dreiecke sind nun Platon zufolge auf zwei grundlegende Formen reduzierbar, das heißt praktisch ebenfalls mittels einer Flächenzerlegung (Ti. 53c8–d4): τὰ δὲ τρίγωνα πάντα ἐκ δυοῖν ἄρχεται τριγώνοιν, μίαν μὲν ὀρθὴν ἔχοντος ἑκατέρου γωνίαν, τὰς δὲ ὀξείας, ὧν τὸ μὲν ἕτερον ἑκατέρωθεν ἔχει μέρος γωνίας ὀρθῆς πλευραῖς ἴσαις διῃρημένης, τὸ δ’ ἕτερον ἀνίσοις ἄνισα μέρη νενεμημένης. Alle Dreiecke nehmen ihren Anfang von zwei Dreiecken, wobei jedes von ihnen einen einzigen rechten Winkel hat und die anderen beiden Winkel als spitze Winkel; von diesen Dreiecken hat das eine auf jeder Seite einen Teil eines von gleichen Seiten zerteilten rechten Winkels und das andere ungleiche Teile eines von ungleichen Seiten aufgeteilten rechten Winkels.

Beide basalen Formen von Dreieck haben einen rechten Winkel und entsprechend zwei spitze Winkel (vgl. Euklid, Elem. 1, 32, auch Elem. 1, 17). Bei einem dieser Dreiecke sind die Schenkel gleich lang und also auch die spitzen Winkel gleich (vgl. Euklid, Elem. 1, 5), haben mithin die Größe der Hälfte eines rechten Winkels; bei dem anderen sind die Winkel und also auch die Längen der Schenkel ungleich (vgl. Euklid, Elem. 1, 18). Damit sind alle zweidimensionalen Flächen auf entweder das rechtwinklige gleichschenklige oder das rechtwinklige schiefe Dreieck zurückgeführt.11 Während es vom ersten Dreieck evident nur exakt eine Form gibt, gibt es vom anderen, insofern nämlich die Winkel an der Basis jeden beliebigen Wert außer 45° annehmen können, unbestimmt viele (Ti. 54a2: τὸ δὲ πρόμηκες ἀπεράντους, sc. φύσεις εἴληχεν). Gleichwohl sei eines dieser unbestimmt vielen schiefen Dreiecke ein ausgezeichnetes Dreieck, das von allen das „schönste“ sei (Ti. 54a5–b5, speziell a2 f.: προαιρετέον οὖν αὖ τῶν ἀπείρων τὸ κάλλιστον), nämlich dasjenige, „aus dem das gleichseitige Dreieck als drittes zusammengesetzt ist“ (Ti. 54a7: ἐξ οὗ τὸ ἰσόπλευρον τρίγωνον ἐκ τρίτου συνέστηκεν) und „dessen längere Seite jeweils die im Quadrat dreifache Länge im Verhältnis zur kürzeren hat“ (Ti. 54b4 f.: τὸ δὲ τριπλῆν κατὰ δύναμιν ἔχον τῆς ἐλάττονος τὴν μείζω πλευρὰν ἀεί).12 Das „schönste“ schiefe Dreieck ist

|| 10 Vgl. die Notiz in Aristoteles, Metaph. 1090b22–24, dass für die Vertreter der Formenlehre eines der konstitutiven Elemente der Fläche die Zahl 3 sei. Vielleicht ist auch ein Grund, dass das Dreieck die einfachste Form (neben den hierauf reduzierbaren Formen Rechteck einschließlich Quadrat sowie Sechseck) ist, mit dem sich eine Fläche vollständig ausfüllen lässt: vgl. Aristoteles, Cael. 306b5–7. 11 Ohne dass diese Zusammenhänge hier ausgeführt werden können (und müssten), ist transparent, dass sich auf der Grundlage der platonischen Prinzipienlehre eine naheliegende Erklärung für die Wahl speziell dieser Dreiecke ergäbe, auch und gerade in Angesicht der binären Parameter, die auf der Grundlage der Opposition gleich (= identisch) vs. ungleich (= nicht-identisch) operieren. Dasselbe gilt für das sogleich behandelte „schönste“ schiefe rechtwinklige Dreieck (vgl. die folgende Anm. 12). Angesichts dessen ist es nicht adäquat, Platon in Ti. 54a4 f. und b1 f. dahingehend zu verstehen, dass er „offenbar keine hinreichende Begründung [hatte] und […] deshalb auch die Annahme dieser beiden Dreiecke im Prinzip zur Disposition“ gestellt habe (so Böhme 2000, 303 f.). 12 Warum dieses schiefe Dreieck das schönste von allen schiefen Dreiecken ist, ist Gegenstand kontroverser Diskussion: siehe Gaiser 1968, 155–157, Artmann & Schäfer 1993 und Paparazzo 2015a. Zu

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also dasjenige Dreieck, für welches das Quadrat auf dem längeren Schenkel dreimal so groß ist wie dasjenige auf dem kürzeren Schenkel. Die Seiten dieses Dreiecks stehen zueinander im Verhältnis von 1 : √3 : 2 (da in moderner Notation gilt: [a] 1² = 1; [b] (√3)² = 3; [c] 1 + 3 = 4, ergibt sich die relative Länge der Seite des Quadrats auf der verbleibenden Dreiecksseite, also der Hypotenuse, als √4 = 2; vgl. Euklid, Elem. 1, 47). Aus diesen beiden Formen von Dreieck setzen sich alle Elemente zusammen (Ti. 54b2–6). Wichtig zu erkennen ist, dass diese Dreiecke nicht durch spezifische Seitenlängen und mithin absolute Größen definiert sind, wie man es etwa ausgehend von der modernen Physik erwarten könnte. Vielmehr sind sie einzig über die qualitativquantitative Relation der Seiten zueinander und, hiermit äquivalent, die relativen Winkelgrößen bestimmt, und diese können in potentiell jeder numerisch-konkreten Größe realisiert sein. Die Dreiecke sind über ihre relationale, rein im Rahmen mathematischer Theorie gegebenen „Form“ bestimmt. Dies entspricht nicht nur der Praxis der Mathematik euklidischen Typs, sondern ist zugleich ebenso inkompatibel mit einer (insbesondere ‚pythagoreischen‘) Praxis von Mathematik, die die konkreten Zahlen als in den körperlichen Dingen in direkter Weise manifestiert und als solche etwa als durch Messung zugänglich sieht (vgl. oben, insbesondere Kap. 4.6 und Kap. 5.5). Weiter ist festzuhalten, dass Platons Differenzierung der basalen Dreiecke speziell der in Euklids Elementen verwendeten basal-qualitativen Metrisierung des Winkels entspricht, insofern nämlich die grundlegende Unterscheidung bei Platon allein auf die binäre, wahrheitsfähig feststellbare Unterscheidung ‚rechter Winkel‘ vs. ‚nichtrechter‘ Winkel (und hier weiter binär ‚größer‘ vs. ‚kleiner‘) beziehungsweise auf einfache hierauf basierende Teilungen zurückgeführt werden kann – auf welche Teilungen Platon hier freilich auch explizit verweist (vgl. oben mit Anm. 340). Aus den zwei basalen Dreiecken werden dann zwei spezifische zweidimensionale Flächen konstruiert, einerseits das, wie gesehen, gleichseitige Dreieck, andererseits das Quadrat, und aus diesen wiederum vier reguläre (‚platonische‘) Körper (aus der Gesamtzahl von fünf: vgl. Euklid, Elem. 13, 18). Von ihnen setzen sich drei aus dem einen basalen Dreieck, nämlich dem „schönsten“ schiefen Dreieck, und eines aus dem anderen basalen Dreieck, nämlich dem gleichschenkligen Dreieck, zusammen (Ti. 54b8–c3). Die regulären Körper, die aus den Dreiecken entstehen, sind, der Reihenfolge nach, das Tetraeder oder die (mit der traditionellen, bei Platon einzig verwendeten Bezeichnung: Ti. 56b4 f.) ‚Pyramide‘, das Oktaeder, das Ikosaeder und der || beachten ist freilich, dass Platon von „schönsten“ Dreiecken explizit nur in Hinsicht auf das schiefe rechtwinklige Dreieck spricht (anders Artmann & Schäfer 1993, 256: „When constructing the latter, Plato singles out in Tim. 54a two types of right triangles and calls them ‚fairest‘“; auch Gaiser 1968, 146 und Morrow 1968, 23). Zu dieser Passage siehe jüngst Paparazzo 2015a, der darauf hinweist, dass aus der Eigenschaft des gleichseitigen Dreiecks, das „dritte“ Dreieck zu sein, nicht folgt, dass es aus „zwei“ entsprechenden gleichseitigen Dreiecken zusammengesetzt ist; vielmehr handelt es sich um die „dritte“ und evident abgeleitete Form von Dreieck. Beide Elementardreiecke zeichnet aus, dass sie sich in ähnliche Dreiecke zerlegen lassen, die zugleich gleich groß sind: siehe Pohle 1971, 45 f.

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Würfel.13 Ihre Konstruktion wird detailliert beschrieben (Ti. 54d5–55c6); betrachten wir exempli gratia die des Tetraeders als des kleinsten Körpers (Ti. 54d5–55a4): ἄρξει δὴ τό τε πρῶτον εἶδος καὶ σμικρότατον συνιστάμενον, στοιχεῖον δ’ αὐτοῦ τὸ τὴν ὑποτείνουσαν τῆς ἐλάττονος πλευρᾶς διπλασίαν ἔχον μήκει· σύνδυο δὲ τοιούτων κατὰ διάμετρον συντιθεμένων καὶ τρὶς τούτου γενομένου, τὰς διαμέτρους καὶ τὰς βραχείας πλευρὰς εἰς ταὐτὸν ὡς κέντρον ἐρεισάντων, ἓν ἰσόπλευρον τρίγωνον ἐξ ἓξ τὸν ἀριθμὸν ὄντων γέγονεν. τρίγωνα δὲ ἰσόπλευρα συνιστάμενα τέτταρα κατὰ σύντρεις ἐπιπέδους γωνίας μίαν στερεὰν γωνίαν ποιεῖ, τῆς ἀμβλυτάτης τῶν ἐπιπέδων γωνιῶν ἐφεξῆς γεγονυῖαν· τοιούτων δὲ ἀποτελεσθεισῶν τεττάρων πρῶτον εἶδος στερεόν, ὅλου περιφεροῦς διανεμητικὸν εἰς ἴσα μέρη καὶ ὅμοια, συνίσταται. Den Anfang wird die sowohl erste als auch in ihrer Zusammensetzung kleinste Form machen, diejenige, die als ihr Element dasjenige Dreieck hat, das eine Hypotenuse hat, die der Länge14 nach das Doppelte der kürzeren Seite ist. Wenn solche Dreiecke paarweise entlang der Basis [vgl. oben Anm. 472] zusammengefügt werden und dies dreimal geschieht, während sie die Basen und die kurzen Seiten an derselben Stelle wie in einem Punkt zusammenfügen, ist ein einziges gleichseitiges Dreieck aus sechs Dreiecken an der Zahl entstanden. Wenn vier gleichseitige Dreiecke zusammengesetzt werden, erzeugen sie für jeweils drei ebene Winkel einen Raumwinkel, welcher als nächstes in der Reihenfolge nach dem stumpfesten der ebenen Winkel kommt. Wenn vier solche Winkel hergestellt worden sind, ist die erste räumliche Form konstruiert, welche die gesamte Oberfläche [sc. der umschreibenden Kugel] in gleich große und ähnliche Teile teilt.

Die Beschreibung der mathematischen Konstruktion ist gedrängt. Hier müssen nicht alle Details geklärt werden.15 Wichtig ist das Folgende: Platon konstruiert das gleichseitige Dreieck, das die Seiten des Tetraeders bildet, aus genau sechs Dreiecken (das heißt drei Paaren) des schönsten schiefen Dreiecks (siehe Abbildung 19). || 13 Zu den Bezeichnungen der Körper siehe Waterhouse 1972, mit dem Ergebnis, dass einerseits die Bezeichnungen von ‚Pyramide‘ (πυραμίς) und ‚Würfel‘ (κύβος) traditionell sind, andererseits die der übrigen Körper (Oktaeder, Ikosaeder und Dodekaeder: ὀκτάεδρον, εἰκοσάεδρον bzw. δωδεκάεδρον) auf einen späten Zeitpunkt der Entdeckung verweisen: Offenkundig handele es sich um eigens gebildete Termini, die in ihrer technischen Gesuchtheit auf die systematische Erforschung und Erschließung der regulären Körper verweisen. In diesem Kontext sei das für Platon bezeugte ‚Tessareskaidekaeder‘ (Heron, Deff. 104) als Gegenbeispiel zu sehen, mit der Implikation, dass die Erforschung der Regularität mathematischer Körper und also ihre erschöpfende Identifizierung im Kontext der Akademie stattgefunden habe (schließlich wurden diese gewissermaßen irregulären regulären Körper systematisch erst von Archimedes identifiziert und erforscht); siehe Waterhouse 1972, 219–221. 14 Der Terminus μήκει (offenkundig im Gegensatz zu δυνάμει; vgl. äquivalent κατὰ δύναμιν in der oben zitierten Beschreibung desselben Dreiecks [Ti. 54b4 f.]; die Variante bestätigt die oben in Anm. 4 54 gegebene Bestimmung des Dativs μήκει) ist ein Beleg für das Vorliegen der Lehre der Inkommensurabilität, wie sie speziell die Theodorus-Passage im Theaitetos voraussetzt: siehe oben, insbesondere Kap. 4.6. 15 Siehe Cornford 1937, 216–218; zum Einbeschreiben des Tetraeders in die Kugel vgl. Euklid, Elem. 13, 13 (und Euklid, Elem. 13, 18). Für einen wichtigen Aspekt der Konstruktion siehe die Diskussion bei Popper 1970 und (anders und mit Aufarbeitung der Literatur) Paparazzo 2013. Man beachte, dass die Beschreibung des Raumwinkels eine exakte Entsprechung in der zweiten bei Euklid, Elem. 11, def. 11 gegebenen Definition hat (Heath 1926, 3, 267).

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2 √3 2

2

2 1

1

√3 √3

√3

1

1

√2 1

√2

1

√2

√2

1

1

Abb. 19: Die beiden Elementardreiecke (links); die aus ihnen konstruierten Seitenflächen; Konstruktion der Seitenflächen aus ‚Halbdreieck‘ bzw. ‚Halbquadrat‘; alternative Konstruktion exempli gratia

Wie oft verwundert festgestellt wurde, ist die Konstruktion komplizierter, als sie prima vista sein müsste: Dasselbe Ergebnis lasse sich auch mit einer geringeren Zahl von Elementardreiecken erzielen, nämlich exakt zwei (siehe Abbildung 19).16 Vorgeschlagen wurde, die Zahl von sechs Dreiecken als Beispiel zu interpretieren; dies impliziert, Platon räume implizit die Möglichkeit ein, es gebe auch Tetraeder-Seiten mit mehr oder weniger Elementardreiecken als sechs, auch deshalb, weil dies effektiv verschiedene Größen von Tetraedern erlaube, von der Platon an anderer Stelle ja explizit ausgeht (siehe Ti. 57c8–d6; siehe Abbildung 19).17 Diese Lösung hat jedoch kei-

|| 16 Siehe etwa Mueller 2000, 164; vgl. Cornford 1937, 210–212. Für einen Überblick zur Forschungsdiskussion siehe Lloyd 2005, insbesondere 459–461 zur sachlichen Problematik. 17 Für diesen Vorschlag siehe speziell Cornford 1937, 217 und 230–239; gleichfalls Vlastos 2005, 72– 79, Zeyl 2000, lxviii f. und auch Gaiser 1968, 146; siehe die kritische Diskussion bei Bodnár 2008. Man beachte, dass im Grundsatz selbstverständlich eine noch einfachere Variante möglich gewesen wäre, nämlich die Seitenfläche direkt als gleichseitiges Dreieck (oder Quadrat) zu erzeugen. Eine sachliche Notwendigkeit, auf diese Weise verschiedene Größen des Tetraeders zu erzeugen, um die verschiedenen Arten des Feuers zu erklären, ist im Übrigen nicht gegeben, zeigt doch Pohle 1971, dass in mathematischer Hinsicht die (in dieser Hinsicht entscheidenden) Volumenunterschiede vernachlässigbar wären; ebenso lassen sich in diesem Kontext auch nicht Fragen der theoretischen Ökonomie anführen, ohne die die Elemente in den makroskopischen Bereich vordrängen (was in Ti. 56b7–c3 als Möglichkeit ja explizit verneint wird). Ein noch schlagenderes Argument gegen diese Deutung ist, dass die Größenunterschiede zwischen den Instanzen derselben Körper (etwa Tetraeder) größer als zu den Instanzen anderer Körper (etwa Oktaeder) wären und also ebendiese Größenunterschiede zwischen den verschiedenen Arten von Körpern faktisch nicht und anders als von Platon ausdrücklich unter-

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ne Grundlage im Text, spricht Platon doch sowohl hier eindeutig von „sechs“ Elementardreiecken als auch an anderer Stelle nicht von irgendeiner anderen Zahl.18 In der Tat zeigt sich eine andere Erklärung, ausgehend von der Angabe εἰς ταὐτὸν ὡς κέντρον ἐρεισάντων (Ti. 54e1 f.): Sechs ist die geringste und einzige Zahl derartiger Dreiecke, bei denen in eindeutig determinierter Weise ein (und nur ein) exakter Mittelpunkt des resultierenden Dreiecks entsteht (dasselbe gilt mutatis mutandis für das Quadrat im Fall des Würfels). Dies hat zum einen die Konsequenz, dass der Mittelpunkt des umschreibenden Kreises definiert ist, und zwar als zugleich Mittelpunkt und mithin Schwerpunkt des Dreiecks (und hierüber indirekt auch der Mittelpunkt der umschreibenden Kugel).19 Zum anderen – und dies ist im Timaios als Exposition von Platons Theorie der physikalischen Welt der entscheidende Punkt – ist überhaupt erst auf diese Weise garantiert, dass die resultierende Seitenfläche physikalische Existenz besitzt: Die Ecken der Dreiecke finden sich an derselben und vor allem einen Stelle zusammen, und so liegt ein hinreichender Grund vor, dass das entstandene Dreieck eine (gewisse) Stabilität besitzt, die ihm eine (wenn auch als einem Objekt im Körperlichen lediglich transitorische) Existenz verleiht. Dies ist für keine andere Zahl von Elementardreiecken gegeben, und in jedem Fall nicht derart, dass nur eine einzige Konfiguration des resultierenden Dreiecks möglich wäre: Mit zwei Elementardreiecken gäbe es überhaupt keinen Mittelpunkt, und mit allen höheren passenden Zahlen von Elementardreiecken könnte es zwar einen Mittel- im Sinne eines Schwerpunkts geben, nicht alle Elementardreiecke würden jedoch in diesem und dann zur einzig möglichen Form der Konfiguration zusammenkommen. Die Sechszahl und mithin eine im Mathematischen gegebene Eigenschaft sorgt dafür, dass die Elementardreiecke eine spezifische andere Dreiecks- bzw. Vierecksform (sc. die Seitenflächen) und sekundär das Tetraeder (etc.) als körperliche Form bilden können.

|| stellt zum Zwecke der Erklärung der spezifischen Eigenschaften der Elemente genutzt werden könnten: siehe unten. Die Nicht-Beachtung der expliziten Aussagen zur Konstruktion bei Platon führen dazu, dass die Elementardreiecke fälschlich als „half of a square and half of an equilateral triangle“ identifiziert werden (so zum Beispiel Artmann & Schäfer 1993, 256 und Cornford 1937, 211–213; vgl. Proklos, in Euc. p. 383, 17–384, 4); vgl. Abbildung 19. 18 Vgl. Artmann & Schäfer 1993, 258: „The trouble with Cornford’s hypothesis is that Plato never mentions the possibility of composing equilateral triangles (or squares) in ways different from the one he elucidates.“ 19 Zum Mittelpunkt des Kreises siehe Paparazzo 2015c, in Verbindung mit einer ausführlichen und umfassenden Explikation der sich ergebenden mathematischen Implikationen, insbesondere in Hinsicht auf das Einbeschreiben der resultierenden Dreiecke in einen Kreis und den Zusammenhang mit der das Tetraeder umschreibenden Kugel (vgl. die zitierte Beschreibung der Konstruktion durch Platon selbst); zum Schwer- oder Gleichgewichtspunkt siehe Taylor 1928, 374 und Böhme 2000, 304 f.; knapp im Sinn einer Symmetrie Brisson 2003, 14. Ähnlich deutet Lloyd 2005 die Sechszahl dahingehend, dass sie in der Konstruktion die Symmetrie der Flächen garantiert und mithin jeden Körper gleich sein lässt, indem sie verhindert, dass die Seitenflächen in verschiedener Orientierung zusammenkommen (vgl. Lloyd 2007); dagegen Paparazzo 2015b. Zum Wort κέντρον vgl. Pietsch 2003, 306 f.

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Hieraus ergibt sich die wichtige Einsicht, dass Platons Vorgehen nicht primär mathematisch motiviert ist. Aus dieser Perspektive gäbe es in der Tat keinen hinreichenden Grund für die Sechszahl, und Platons Vorgehen wäre fragwürdig. Vielmehr wird die Mathematik dazu genutzt, ein genuin empirisch gegebenes Faktum zu erklären: das Vorhandensein von (hier speziell die Form von Tetraedern etc. besitzenden) Körpern. Im Ergebnis ist die Mathematik zwar zentral und unabdingbar für die Erklärung der physikalischen Natur, diese Erklärung ist aber nicht, wie oftmals unterstellt, ‚apriorisch‘ im Sinn eines (anti-observationellen) Desinteresses für die physikalischen Zusammenhänge (vgl. oben Kap. 5.5). Deren hinreichende Beschreibung stellt vielmehr das eigentliche Ziel der Theorie dar. Nach demselben Muster werden nach dem Tetraeder das Oktaeder und das Ikosaeder erzeugt: Das Oktaeder setzt sich aus denselben Elementardreiecken und also denselben Seitenflächen wie das Tetraeder zusammen, nur hat es acht davon und entsprechend sechs Raumwinkel, jeder gebildet aus vier Seitenflächen (Ti. 55a4–8). Auch das Ikosaeder besteht aus denselben Seitenflächen, ist folglich auch aus denselben Elementardreiecken zusammengesetzt, von denen es insgesamt also über „zweimal sechzig“ verfügt; die resultierende Raumwinkelanzahl ist zwölf, und sie werden jeweils von fünf gleichseitigen Dreiecken (Seitenflächen) gebildet; so ergeben sich insgesamt zwanzig Dreiecke als Seitenfläche, hier als „Basis“ bezeichnet (Ti. 55a8–b3, speziell b2: βάσις). Der vierte reguläre Körper ist der Würfel (Ti. 55b3–c4).20 Er ist nicht wie die anderen drei Körper aus den schiefen rechtwinkligen Dreiecken als Elementardreiecken und den aus ihnen zusammengesetzten Seitenflächen gebildet, sondern als einziger Körper aus dem gleichschenkligen Dreieck. Konkret kommen vier solche Dreiecke zusammen, und zwar mit ihren rechten Winkeln im Mittelpunkt des Quadrats (siehe Abbildung 19). Das Prinzip der Konstruktion der Seitenfläche des Quadrats ist dasselbe wie bei den anderen drei regulären Körpern, und jede Seitenfläche hat einen Mittelpunkt, der zum einen das Zentrum der Fläche selbst als auch des umschreibenden Kreises bildet (und dann ebenfalls mittelbar dabei hilft, das Zentrum der den Körper umschreibenden Kugel zu etablieren), zugleich aber einen hinreichenden Grund dafür liefert, dass die gesamte Fläche eine (körperlich-gewisse) Konstanz hat. Der Würfel hat sechs solcher Flächen (erneut als „Basis“ bezeichnet: Ti. 55c4) mit acht Raumwinkeln, die jeweils aus drei ebenen Winkeln erzeugt werden. || 20 Der fünfte reguläre Körper, das Dodekaeder, spielt keine Rolle in der Elementenlehre (Ti. 55c4– 6); siehe Paparazzo 2011. Welche konkrete Funktion auch immer er hat, könnte diese in Verbindung mit dem gesamten Kosmos stehen, und zwar angesichts der Formulierung konkret mit dem Tierkreis: vgl. Artmann & Schäfer 1993, 261, auch Cornford 1937 218 f. (quasi-kugelförmige Form). Alternativ wurde vorgeschlagen, dass das Dodekaeder jeden anderen regulären Körper räumlich umfassen kann (diese also in ihn eingefügt werden können) und es so der Fall sei, dass „it constitutes a geometrical matrix in the formation of the physical universe“ (Kotrč 1981, das Zitat 222). Für einen Überblick siehe Jori 2009, 206–209, auch Wilberding 2006, 13–16 (mit Verneinung der Bedeutung des Dodekaeders).

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Auf dieser Grundlage – mit einem kurzen Einschub dazu, ob es eine, unendlich viele oder entsprechend der Anzahl der regulären Körper fünf Welten gebe, mit dem Ergebnis, dass es aus nicht weiter ausgeführten prinzipiellen Gründen nur eine einzige geben dürfte (Ti. 55c7–d6)21 – weist Platon jedem einzelnen traditionellen ‚Element‘ einen spezifischen regulären Körper zu (Ti. 55d7 f.). Konkret paart Platon Feuer und Tetraeder (Pyramide), Luft und Oktaeder, Wasser und Ikosaeder sowie Erde und Würfel. Er belässt es aber nicht bei der bloßen Zuweisung, sondern begründet diese im Detail. Diese Begründungen sind instruktiv, denn sie geben einen Einblick in die tiefere Funktion und Bedeutung von Mathematik für Platons Beschreibung der physikalischen Welt, beleuchten mithin die sachliche Grundlage der spezifischen Form der von ihm verfolgten mathematischen Modellierung. Speziell zeigt sich, wie der Zusammenhang von physikalischem und mathematischem Bereich konzipiert ist. Den Anfang macht der Würfel, welche Beschreibung in die Zuweisung der übrigen Körper zu den übrigen Elementen übergeht (Ti. 55d8–56b6): γῇ μὲν δὴ τὸ κυβικὸν εἶδος δῶμεν· ἀκινητοτάτη γὰρ τῶν τεττάρων γενῶν γῆ καὶ τῶν σωμάτων πλαστικωτάτη, μάλιστα δὲ ἀνάγκη γεγονέναι τοιοῦτον τὸ τὰς βάσεις ἀσφαλεστάτας ἔχον· βάσις δὲ ἥ τε τῶν κατ’ ἀρχὰς τριγώνων ὑποτεθέντων ἀσφαλεστέρα κατὰ φύσιν ἡ τῶν ἴσων πλευρῶν τῆς τῶν ἀνίσων, τό τε ἐξ ἑκατέρου συντεθὲν ἐπίπεδον ἰσόπλευρον ἰσοπλεύρου τετράγωνον τριγώνου κατά τε μέρη καὶ καθ’ ὅλον στασιμωτέρως ἐξ ἀνάγκης βέβηκεν. διὸ γῇ μὲν τοῦτο ἀπονέμοντες τὸν εἰκότα λόγον διασῴζομεν, ὕδατι δ’ αὖ τῶν λοιπῶν τὸ δυσκινητότατον εἶδος, τὸ δ’ εὐκινητότατον πυρί, τὸ δὲ μέσον ἀέρι καὶ τὸ μὲν σμικρότατον σῶμα πυρί, τὸ δ’ αὖ μέγιστον ὕδατι, τὸ δὲ μέσον ἀέρι καὶ τὸ μὲν ὀξύτατον αὖ πυρί, τὸ δὲ δεύτερον ἀέρι, τὸ δὲ τρίτον ὕδατι. ταῦτ’ οὖν δὴ πάντα, τὸ μὲν ἔχον ὀλιγίστας βάσεις εὐκινητότατον ἀνάγκη πεφυκέναι, τμητικώτατόν τε καὶ ὀξύτατον ὂν πάντῃ πάντων, ἔτι τε ἐλαφρότατον, ἐξ ὀλιγίστων συνεστὸς τῶν αὐτῶν μερῶν· τὸ δὲ δεύτερον δευτέρως τὰ αὐτὰ ταῦτ’ ἔχειν, τρίτως δὲ τὸ τρίτον. ἔστω δὴ κατὰ τὸν ὀρθὸν λόγον καὶ κατὰ τὸν εἰκότα τὸ μὲν τῆς πυραμίδος στερεὸν γεγονὸς εἶδος πυρὸς στοιχεῖον καὶ σπέρμα· τὸ δὲ δεύτερον κατὰ γένεσιν εἴπωμεν ἀέρος, τὸ δὲ τρίτον ὕδατος. Erde lass uns also die Würfelform geben. Am unbeweglichsten von den vier Arten nämlich ist Erde und die am meisten modellierbare von den Körpern, und es besteht die Notwendigkeit, dass die Form mit den unerschütterlichsten Basen am meisten gerade so beschaffen ist. Einerseits ist als Basis der am Anfang zugrunde gelegten Dreiecke von Natur aus die Basis von gleich langen Schenkeln in höherem Maße unerschütterlich als die von ungleichen Schenkeln; andererseits hat die aus jedem von beiden konstruierte gleichseitige quadratische Fläche in notwendiger Weise sowohl in ihren Teilen als auch als ganze einen stabileren Stand als die gleichseitige dreieckige. Deshalb retten wir die Plausibilität der Beschreibung, wenn wir diese Form der Erde zuweisen, dem Wasser aber von den verbliebenen wiederum die am wenigsten bewegliche Form, die am leichtesten bewegliche dem Feuer und die mittlere der Luft sowie den kleinsten Körper dem Feuer, den größten wiederum dem Wasser und den mittleren der Luft sowie den spitzesten wiederum dem Feuer, den zweiten der Luft und den dritten dem Wasser. Was nun all diese Körper angeht, ist es notwendig, dass derjenige mit der geringsten Zahl von Basen von Natur aus der

|| 21 Siehe zur Stelle Paparazzo 2011 (mit weiterer Literatur); vgl. Parry 1979 und Patterson 1981, auch Cornford 1937, 219–221.

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am leichtesten bewegliche ist, und zwar als derjenige, der überall am schärfsten und spitzesten von allen ist, und außerdem, dass er der leichteste ist, und zwar als derjenige, der aus der geringsten Zahl derselben Teile zusammengesetzt ist; und dass der zweite sich in zweiter Weise in Hinsicht auf dieselben Dinge verhält, und der dritte in dritter Weise. Sei also gemäß der richtigen sowie gemäß der plausiblen Erklärung die körperlich-fest gewordene Form der Pyramide Element und Same des Feuers. Als die zweite in Hinsicht auf das Werden lass uns die der Luft nennen, und als die dritte die des Wassers.

Die Zuweisung der (physikalischen) Erde zum (mathematischen) Würfel basiert auf der Ähnlichkeit von Eigenschaften, und zwar gemäß der ‚Notwendigkeit‘ (ἀνάγκη) auf der Grundlage der mathematischen Beschaffenheit der Körper in Hinsicht auf ihre spezifische qualitativ-quantitative Relationalität im relativen Vergleich.22 Ausgangspunkt ist offenbar die in der Wahrnehmung gegebene Beobachtung, dass die Erde über ein relativ höchstes Maß an Unbeweglichkeit und Formbarkeit verfügt. Diese physikalische Eigenschaft wird mathematisch mittels der Zuweisung dadurch erklärt, dass der Würfel über die stabilsten Basen verfüge, und zwar deshalb, weil einerseits die Elementardreiecke, die die Seitenflächen des Würfels bilden, ihrerseits Basen haben, die stabiler sind, nämlich weil die ihnen zugeordneten Schenkel dieselbe Länge haben; und weil andererseits ein Quadrat insofern stabiler sei, als es als gleichseitige Fläche über mehr Ecken als ein gleichseitiges Dreieck verfüge; so sei der Würfel als Ganzes als auch in Hinsicht auf seine Teile (die Seitenflächen) der stabilste reguläre Körper. In der Folge werden die übrigen drei, im Vergleich mit der Erde instabileren Körper den drei verbliebenen Elementen zugeordnet, welchen wiederum das Attribut der relativ größeren Instabilität zugewiesen wird, und zwar in proportionaler Weise. Im Rückgriff auf den Anfang der Passage folgt zugleich eine relativ höhere Beweglichkeit, und hier wiederum werden die einzelnen Elemente gerade demjenigen Körper zugeordnet, der in Entsprechung zu seiner Konstitution über ein in der Beobachtung gegebenes relativ verschiedenes Maß an Beweglichkeit verfügt: Feuer ist beweglicher als Luft und Luft ist beweglicher als Wasser (und dieses wiederum beweglicher als Erde). Im Ergebnis wird dem Feuer das Tetraeder, der Luft das Oktaeder und dem Wasser das Ikosaeder zugewiesen. Im Zuge dessen wird auch die Beweglichkeit auf einen genuin mathematischen Grund zurückgeführt. Speziell führt Platon an, dass ein Element desto beweglicher ist, je weniger Seitenflächen es hat. Hiermit einher geht, dass die Winkel der physikalischen Körper ‚schärfer‘ (und der mathematischen Körper ‚spitzer‘) sind, das heißt die Eigenschaft haben, anderes leichter zerteilen zu können. Entsprechendes gilt für zwei weitere Eigenschaften, die in exakt analoger Parallelität stehen, nämlich Größe und Schwere; diese haben ihre sachliche Ursache darin, dass eine andere Anzahl von Dreiecken in die Konstruktion der jeweiligen Körper eingeht; es wird also ein weiterer mathematischer Parameter identifiziert.

|| 22 Zur Rolle der ‚Notwendigkeit‘ in dieser Hinsicht siehe Johansen 2004, 98; vgl. unten Kap. 7.3.

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Insgesamt ergibt sich eine über die verschiedenen Parameterdimensionen hinweg konsistente Reihung der vier Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde in Hinsicht auf spezifische, als physikalisch relevant bestimmte Eigenschaften. Die Parallelität der Parameter ist sachlich begründet in der mathematischen Konstruktion der jeweiligen Körper. Die Parameter sind konkret Form und Anzahl der Seitenflächen, woraus sich sekundär Eigenschaften wie Schärfe, Größe und Schwere ableiten. Eine wichtige Einsicht folgt: Die Zuweisung der Elemente zu den Körpern erfolgt im Ausgang von empirischen Kriterien, etwa (wie explizit angeführt wird) gegeben durch die Beobachtung, dass Erde am wenigsten beweglich und Feuer am beweglichsten ist; oder dass Luft leichter als Wasser und Feuer leichter als Erde ist. Die Zuweisung hat jeweils den Zweck, im dadurch aufgespannten relationalen Gesamtsystem die empirisch beobachtbaren Umstände zu erklären, und zwar durch das Benennen eines hinreichenden, klar definierten Grundes, der in der materialen Konstitution der Elemente nachvollziehbar und objektiv in seiner Wirkung feststellbar ist. Die physikalische Modellierung der Welt hat eine klare Fundierung in der Sinneswahrnehmung, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen basiert sie auf der physikalischen Welt; zum anderen soll sie sie erklären, und zwar derart, dass sie empirisch mittels Beobachtung überprüft werden kann.23 Ein weiterer Punkt folgt: Die Eigenschaften, die der Zuweisung von Element und Körper zugrunde liegen, sind physikalische Attribute, etwa Schwere, Beweglichkeit oder Formbarkeit. Über diese Attribute verfügen nur die physikalischen Körper, nicht die mathematischen Körper: So ist das Oktaeder mathematisch gesehen nicht schwerer als das Tetraeder (oder leichter oder gleich schwer), denn Schwere ist keine mathematische Kategorie. Wohl aber unterscheiden sie sich im Volumen oder in der Anzahl der Seitenflächen, und es sind gerade diese Eigenschaften, die in der Erklärung der Elemente als mathematisches Äquivalent gedeutet werden. Auf den ontologischen Unterschied wird mehrmals explizit verwiesen, insbesondere mit dem Schlüsselwort ‚werden‘ (γίγνεσθαι, und zwar in Ti. 55e2: γεγονέναι τοιοῦτον; Ti. 56b5: στε|| 23 Vgl. Phdr. 268e1–6 vor dem Hintergrund von Vlastos 1980; vgl. aus verschiedenen Blickwinkeln Gregory 2000, 48–73. Generell ist die Meinung verbreitet, dass Platon Sinneswahrnehmung insgesamt ablehne, vor allem im Bereich der Naturerklärung; siehe Modrak 2006 für einen (differenzierten) Überblick zu den einschlägigen Dialogen. Vgl. Modrak 2006, 133: Platons „frequent denigrating remarks about perceptible objects […] have led many scholars to conclude that he allows perception little or no epistemic role in cognition and that its only role is to contribute to delusory opinions.“ Vgl. Burnyeat 2005b speziell zur mathematischen Disziplin der Optik, welche allem Anschein nach zwar in der Akademie betrieben wurde, die aber scheinbar insofern mit Platons Zielen inkompatibel sei, als sie „would undo the good work by focusing the mind on ὁρώμενα, or rather – and worse – on the appearances of visible things“ (36; dort auch Belege für das Studium der Optik in der Akademie; man beachte speziell Suda φ 418 s. v. φιλόσοφος zu Philippos von Opus’ Schriften Ὀπτικά und Ἐνοπτικά in jeweils zwei Büchern und den relevanten, oben in Kap. 1.2 angeführten Abschnitt in Philodemos, Acad. Ind. p. 152 f.); entsprechend möchte Burnyeat in Ti. 46a–b „a polemic against the idea of a mathematics of visual appearances“ erkennen (47 f.). Siehe auch oben Kap. 5.5 und Kap. 6.7.

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ρεὸν γεγονός, beide Male mit direktem Bezug auf das ‚Werden‘ = die Manifestation des mathematischen Körpers im Physikalischen). In der Folge wird ein Attribut des physikalischen Bereichs auf ein als entsprechend gedeutetes Attribut des mathematischen Bereichs abgebildet, und zwar mit dem Zweck der kausalen Erklärung. Dies muss allerdings nicht zwangsläufig in eineindeutiger Weise geschehen, sondern ein mathematisches Attribut kann gegebenenfalls auch für mehrere physikalische Attribute ursächlich sein: Zum Beispiel sind die mathematischen Parameter Volumen und Anzahl der Seitenflächen (die freilich ihrerseits auf denselben Umstand der mathematischen Konstruktion zurückzuführen sind) beide mit physikalischer Schwere und Beweglichkeit (etc.) korreliert; dasselbe gilt für die Spitzigkeit der Raumwinkel, denen das physikalische Attribut der Schärfe entspricht. Daher sind, obwohl die physikalischen Eigenschaften der Elemente ursächlich auf die spezifische mathematische Verfasstheit der regulären Körper zurückgeführt werden, diese beiden Formen des Körpers nicht in allen Aspekten gleich. Folglich liegt keine Identitäts-, sondern eine Ähnlichkeitsrelation vor und mithin eine ikonische, das heißt Modellrelation, freilich in einem eineindeutigen Eins-zu-eins-Verhältnis, in dem die für die physikalischen und mathematischen Körper charakteristischen Attribute in Form relationaler Qualitäten direkt und (zumindest in ihrer Gesamtheit) eindeutig aufeinander abgebildet werden. Die Elemente sind ‚diagrammatische‘ Modelle (diagrams) der mathematischen Körper (und vice versa). Im Ergebnis wird, insofern im Mathematischen bestimmte und numerisch determinierte Möglichkeiten der Form, die ein regulärer Körper haben kann, gegeben sind (nämlich fünf), eine dieser Formen aufgrund ihrer spezifischen mathematischen Attribute als Modell für ein unabhängig hiervon, nämlich durch die Empirie identifiziertes (und aus der philosophischen Tradition bekanntes) und in seiner im Vergleich mit den anderen Elementen relativen qualitativen Beschaffenheit als entsprechend eingestuftes Element ‚gesetzt‘, wie im gegebenen Beispiel das Tetraeder für das Feuer (Ti. 56b3–5: ἔστω δὴ […] τὸ μὲν τῆς πυραμίδος στερεὸν γεγονὸς εἶδος πυρὸς στοιχεῖον […]) – und zwar wohlgemerkt gerade als „Form, die körperlich geworden ist“. Alle von Platon im Rahmen der Modellierungsrelation verwendeten Qualitäten sind wie in der Mathematik euklidischen Typs nicht numerisch-exakt, sondern qualitativ-quantitativ bestimmt, etwa als Reihenfolge von Spitzigkeit (analog zu Schärfe oder Beweglichkeit); und sie sind ebenso wie dort gewonnen aus der Analyse der Körper als konstruierter und mithin statischer Struktur, das heißt in der Form, wie sie im mathematischen Diagramm entgegentreten, und zwar bemerkenswerterweise auch in Hinsicht auf diejenigen Eigenschaften, die im physikalischen Bereich der Dynamik der Körper zugeordnet sind, wie etwa die für Platon physikalische Eigenschaft par excellence, die Beweglichkeit (da verbunden mit der Bewegtheit). Insofern wird – in Entsprechung zur Praxis der Mathematik euklidischen Typs – die Dynamik des Physikalischen auf die Statik des Mathematischen zurückgeführt. Dies gilt auch und noch instruktiver für einen weiteren Aspekt der platonischen Elementenlehre, die Interaktion der Elemente einschließlich ihrer Transformation in-

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einander: Ein in der Wahrnehmung gegebenes Faktum ist ihre kontinuierliche Verwandlung ineinander in Form eines Kreislaufs (Ti. 49b7–c7; vgl. Ti. 49c1: ὁρῶμεν, von welchem Prädikat die Beschreibung des Kreislaufs syntaktisch abhängt; und Ti. 49d1: φανταζομένων),24 und zwar von dem einen zu dem anderen Element in der natürlichen Rangfolge Feuer, Luft, Wasser und Erde (Ti. 48b7–d3). Platon nimmt offensichtlich vorsokratische Theorien auf, insbesondere die des Anaximenes (und Empedokles).25 Gleichwohl macht er deutlich, dass diese Theorie zu revidieren ist, ausgehend von der allgemeinen Feststellung, dass das Phänomen der konstanten Verwandlung der Elemente ineinander prinzipiell inkompatibel mit einer Theorie der Konstanz der Elemente und also ihrem fundamentalen Charakter als ‚Elemente‘ sei (Ti. 49c7–d3).26 In diesem Sinn reformuliert Platon die ursprünglich vorgebrachte Theorie, und zwar mit dem Ziel, die Verwandlung der Elemente auf ihre spezifischen und das heißt hier Struktur-Eigenschaften zurückzuführen und mithin einen dynamischen körperlichen Prozess auf eine statische Eigenschaft, die wiederum eine aufgrund des Kriteriums der Ähnlichkeit identifizierte äquivalente Eigenschaft des jeweiligen mathematischen Modells (Objekts) ist: Die Verwandlung der Elemente ineinander vollzieht sich dadurch, dass die Elemente in die Seitenflächen aufgebrochen werden und sich neu zusammensetzen; aus einem größeren Element kann eine entsprechend größere Zahl kleinerer Elemente entstehen oder aus einer entsprechenden Zahl von kleineren Elementen ein größeres Element (Ti. 56c8–57c6). Dabei herrscht eine Konstanz der Anzahl der Seitenflächen (und äquivalent Elementardreiecke); diese werden im Prozess des Werdens nicht zerstört oder erschaffen und sind mithin ein permanenter Bestandteil der physikalischen Welt; sie selbst haben allerdings nicht den Charakter eines Körpers, denn ihnen fehlt als Fläche evident die dritte Dimension (‚Tiefe‘).27 Aus der Verschiedenheit der Elementardreiecke ergibt sich, dass die anfänglich uneingeschränkt formulierte Theorie der Elementenmutation (wohlgemerkt als γένεσις klassifiziert: siehe Ti. 54b7 f. und Ti. 54d3)28 dahingehend revidiert wird, dass nicht alle Elemente sich ineinander verwandeln können, sondern dies nur für Feuer, Luft und Wasser gilt (Ti. 54b5–8). Diese sind nämlich aus demselben Elementardreieck gebildet, während das vierte Element Erde aus einem anderen Elementardreieck

|| 24 Zur Rolle der Wahrnehmung in dieser Passage siehe Gregory 2000, 194. 25 Siehe White 2008, 117 f. Zu Empedokles siehe unten Anm. 29 und vgl. oben mit Anm. 5. 26 Vgl. unten mit Anm. 37; siehe für einen Einblick in die Diskussion Mohr 1985, 85–138. 27 Grundeinheit der Elementumwandlung sind allem Anschein nach die Seitenflächen der Elemente, „which, as far as one can tell from the Ti[maios], are never broken up in the physical processes“ (Mueller 2000, 167). Dies ist ein weiterer Grund gegen die Annahme, dass die Seitenfläche der verschiedenen Formen eines einzigen Elements aus einer unterschiedlichen Anzahl von Elementardreiecken gebildet wird: vgl. oben mit Anm. 17 sowie unten Anm. 33. 28 Das ‚Werden‘ besteht aufgrund der spezifischen Natur der Elemente in der Zusammenfügung der aus den Elementardreiecken gebildeten Seitenflächen; in der Tat entstehen die Elemente hierdurch. Anders Mohr 1985, 108 Anm. 2.

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besteht (Ti. 54b8–c5).29 Bei der Verwandlung der Elementarteilchen spielen sich Prozesse wie die folgenden ab, allesamt zurückgeführt auf basale physikalische und über das mathematische Modell mathematisch fundierte Eigenschaften (Ti. 56d1–e7): γῆ μὲν συντυγχάνουσα πυρὶ διαλυθεῖσά τε ὑπὸ τῆς ὀξύτητος αὐτοῦ φέροιτ’ ἄν, εἴτ’ ἐν αὐτῷ πυρὶ λυθεῖσα εἴτ’ ἐν ἀέρος εἴτ’ ἐν ὕδατος ὄγκῳ τύχοι, μέχριπερ ἂν αὐτῆς πῃ συντυχόντα τὰ μέρη πάλιν συναρμοσθέντα αὐτὰ αὑτοῖς γῆ γένοιτο – οὐ γὰρ εἰς ἄλλο γε εἶδος ἔλθοι ποτ’ ἄν – ὕδωρ δὲ ὑπὸ πυρὸς μερισθέν, εἴτε καὶ ὑπ’ ἀέρος, ἐγχωρεῖ γίγνεσθαι συστάντα ἓν μὲν πυρὸς σῶμα, δύο δὲ ἀέρος· τὰ δὲ ἀέρος τμήματα ἐξ ἑνὸς μέρους διαλυθέντος δύ’ ἂν γενοίσθην σώματα πυρός. καὶ πάλιν, ὅταν ἀέρι πῦρ ὕδασίν τε ἤ τινι γῇ περιλαμβανόμενον ἐν πολλοῖς ὀλίγον κινούμενον ἐν φερομένοις μαχόμενον καὶ νικηθὲν καταθραυσθῇ, δύο πυρὸς σώματα εἰς ἓν συνίστασθον εἶδος ἀέρος· καὶ κρατηθέντος ἀέρος κερματισθέντος τε ἐκ δυοῖν ὅλοιν καὶ ἡμίσεος ὕδατος εἶδος ἓν ὅλον ἔσται συμπαγές. Erde einerseits, wenn sie auf Feuer trifft und von seiner Schärfe aufgelöst wird, dürfte sich fortbewegen – sei es, dass sie gerade im Feuer selbst aufgelöst wurde oder in einer Masse von Luft oder Wasser –, bis ihre Teile im Zusammentreffen miteinander an irgendeiner Stelle wieder Erde werden, indem sie selbst mit sich selbst wieder zusammengefügt werden; sie könnten nämlich niemals in eine andere Form übergehen. Wenn aber andererseits Wasser durch Feuer (oder auch durch Luft) zerstückelt wird, ist es möglich, dass, wenn die Teile zusammenkommen, ein einzi-

|| 29 Dass Erde aus dem Verwandlungskreislauf ausgeschlossen ist, hat zu Kritik schon in der Antike geführt; siehe etwa Aristoteles, Cael. 306a1–20: Aristoteles kritisiert Platon dafür, dass er, wohlgemerkt ohne dies zuzugestehen, philosophische Prinzipien über die Sinneswahrnehmung gestellt habe. Siehe knapp Cornford 1937, 216. Allerdings lässt sich dieser Widerspruch dahingehend auflösen, dass Platon, wie auch diese Stelle zeigt, angenommen zu haben scheint, dass die Sonderstellung der Erde sehr wohl mit den Phänomenen vereinbar ist und entsprechend die Möglichkeit der Verwandlung in und aus Erde für ihn tatsächlich nur scheinbar zu bestehen schien, etwa ausgehend von einem (und dann erklärt als) Erde-Wasser-Gemisch, in der der Erdteil bestehen bleibt, während der Wasserteil sich verwandelt (siehe Mueller 2000, 170–174). Der Nicht-Einschluss der Erde in den Verwandlungskreislauf ist in diesem Sinn ein intendiertes Merkmal der Elementenlehre und kein Fehler (so etwa Freeland 2006, 210 unter Verkennung eben dieser Pointe: „The work offers no explanation, nor can it successfully explain the interchanges of all the primitive elements, since earth, with its distinctive cubical construction, is explicitly left out“; fälschlich merkt Böhme 2000 an, Platon „bemerkt diesen Mangel seiner Theorie (Timaios, 54b,c) und stellt sie deshalb ausdrücklich für Verbesserungen zur Disposition (Timaios, 54a4–b3)“; die angeführten Stellen verweisen jedoch zum einen nur auf die spezifische Auswahl des „schönsten“ schiefen rechtwinkligen Dreiecks, zum anderen sind sie offenbar nicht wörtlich als Hinweis auf irgendeine Defizienz der Theorie zu verstehen). Im Gegenteil ist eine andere Interpretation des Sachverhalts möglich und angezeigt: Die mathematisch fundierte Perspektive zeigt, dass die traditionelle Theorie falsch sein muss, und fordert dazu auf, eine mit den ‚wahren‘ Verhältnissen kompatible Erklärung zu finden (was Platon dann angesichts der angeführten Passage gelungen wäre). Dies impliziert jedoch nicht, dass Beobachtung irrelevant wäre, denn ganz im Gegenteil gilt, dass die vorgeschlagene Erklärung der Beobachtung hinreichend genügen muss (wenn es auch der gänzlich unproblematische Fall ist, dass Beobachtung nicht der Ausgangspunkt der spezifischen Theorieänderung war). Zum Kreislauf der Elemente bei Empedokles siehe Palmer 2016 und Primavesi 2016; das Prinzip der kontinuierlichen Umwandlung geht schon weiter zurück, gegebenenfalls bis zu Anaximenes und Thales; vgl. Wöhrle 2013.

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ger Körper Feuer entsteht oder zwei Körper Luft. Die Teilungsprodukte der Luft könnten, wenn sie aus einem Teil aufgelöst wurde, zu zwei Körpern Feuer werden. Und andererseits, wann immer ein wenig Feuer, wenn es von viel Luft und Wasser oder vielleicht Erde umgeben wird und in diesen, die sich bewegen, bewegt wird, kämpfend und besiegt zerbrochen worden ist, treten zwei Körper Feuer zu einer Form Luft zusammen; und wenn Luft besiegt und zerteilt worden ist, wird aus zwei ganzen und einem halben Körper eine einzige ganze Form Wasser zusammengefügt werden.

Die Zurückführung der physikalischen Eigenschaften auf korrespondierende mathematische Eigenschaften erklärt nicht nur das allgemeine Verhalten der Elemente, sondern auch die Umstände ihrer Verwandlung ineinander, denn entsprechend der Konstruktion der Elemente aus einer unterschiedlichen Anzahl von Elementardreiecken ergeben sich Äquivalente von Elementen, die auseinander entstehen können. So kann aus zwei Körpern Feuer ein Körper Luft entstehen, denn Feuer ist als Tetraeder aus 4 Seitenflächen (= 24 Elementardreiecken) und Luft als Oktaeder aus 8 Seitenflächen (= 48 Elementardreiecken) gebildet. Dies wurde in der Forschung oftmals als Platons ‚Chemie‘ beschrieben.30 Wenngleich Platons Beschreibung durch das Aufstellen mathematischer Gleichungen, die für die einzelnen Verwandlungsprozesse charakteristisch sind, in der Tat an eine moderne (Proto-) Chemie erinnert, bestehen dennoch fundamentale Unterschiede, nicht zuletzt sachlich dahingehend, dass das zugrunde liegende Prinzip der Umwandlung ist, dass diese (modern gesprochen) einem Erhaltungssatz der Oberfläche folgt.31 Auf diesen und weitere Unterschiede muss hier nicht eingegangen werden,32 zumal der entscheidende Punkt ein anderer ist: Was Platon vornehmlich interessiert, ist, dass die in der Wahrnehmung gegebene Möglichkeit der Verwandlung einzelner Elemente ineinander zurückgeführt wird auf eine physikalische Eigenschaft der Körper, die selbst auf einen mathematischen Sachverhalt zurückgeführt wird – und dieser Sachverhalt ist beschrieben nicht mit Bezug auf einen partikularen empirischen Sachverhalt, sondern auf universelle Struktureigenschaften der involvierten mathematischen Modelle. Das letzte Beispiel zeigt, dass nicht nur der Zusammenhang von physikalischer und mathematischer Eigenschaft für Platon wichtig ist, sondern auch ein unabdingbarer entsprechender Zusammenhang mit der Sinneswahrnehmung. Dass dies ein entscheidender Zug von Platons mathematischer Modellierung im Timaios ist, er-

|| 30 Siehe Mueller 2000; auch Cornford 1937, 224–230, Bruins 1951, Visintainer 1998 und Lloyd 2007. Der sozusagen ‚chemische‘ Charakter von Platons Theorie tritt bei (quasi-) mathematischen Wiedergaben wie etwa durch Vlastos 2005, 70–72 hervor. Vgl. Böhme 2000, 308 (der allerdings zur Vorsicht mahnt): „Platon gibt […] einige Beispiele […], die wir, wenn wir Wasser mit W, Feuer mit F, und Luft mit L bezeichnen, folgendermaßen formalisieren können: 1 W = 1 F + 2 L[,] 1 L = 2 F[,] 2½ L = 1 W“. 31 Siehe Vlastos 2005, 89 f. 32 Ebenso nicht auf die praktischen Probleme, die sich hinsichtlich der Verwandlungen ergeben, insbesondere deshalb, weil die (‚mythische‘) Darstellung im Timaios in zahlreichen Punkten unterdeterminiert ist: siehe Sayre 2003, 69–71 sowie auch Cornford 1937, 224–230.

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weist sich im Detail daran, dass umfänglich gerade diejenigen Gegenstände in ihrer spezifischen Verfasstheit und ihrem Verhalten beschrieben werden, die in der Wahrnehmung gegeben sind – und die Mannigfaltigkeit dieser Gegenstände ebenfalls auf einen physikalischen Sachverhalt zurückführt wird, der seine Grundlage im Mathematischen hat: In der Welterschaffung wurde eine bestimmte Anzahl von verschieden großen Elementardreiecken erzeugt, und so gibt es von demselben Element kleinere und größere Formen; dieser Umstand führt, in Verbindung mit einer spezifischen und ebenfalls in (einer im Vergleich mit anderen qualitativ-quantifizierbaren) Mischung der Elemente und der aus ihnen zusammengesetzten Stoffe, zu einer Mannigfaltigkeit verschiedener Erscheinungsformen der Stoffe insgesamt (Ti. 57c7–d6).33

|| 33 Siehe Lloyd 2009 für einen Überblick zur kontroversen Diskussion dieses Zusammenhangs. Lloyd 2009, 13–18 ist zuzustimmen, dass Platon hier weder von einer Unbegrenztheit oder Unendlichkeit der Zahl verschiedener Elementardreiecke noch von der verschiedener Formen desselben Elements spricht (so Visintainer 1998 und Miller 2003; gegen die Unendlichkeit Vlastos 1967, 205 f. Anm. 8), sondern von der der Mischungen von Elementen verschiedener Größe; angesichts der folgenden Ausführungen bei Platon ist „Mischung“ hier allerdings nicht als „referring to something more like our idea of chemical combination“ (16 Anm. 12) zu verstehen, sondern unspezifisch als (mehr oder weniger eng, fest etc. zusammenhängende) Ansammlung von Teilchen, entweder einer einzigen Sorte oder verschiedener Sorten und in beiden Fällen von derselben und / oder unterschiedlicher Größe. Andererseits ist Lloyd 2009, 18–25 (mit Rückgriff auf Cornford 1937, 230–239) nicht darin zuzustimmen, dass Platon an dieser Stelle die Unterschiede in der Größe der Elemente auf die unterschiedliche Anzahl von Elementardreiecken zurückführt, aus denen die Seitenflächen bestehen; dies ist aus den oben in Anm. 17 ausgeführten Gründen unmöglich (die Äquivalenzen von Elementardreiecken und Seitenflächen sind explizit genannt und lassen sich nicht damit abtun, dass Platon bei seinen Lesern hinreichend Geometriekenntnisse vorausgesetzt habe, die einen expliziten Hinweis unnötig gemacht hätten). Entsprechend verbleibt nur die Möglichkeit, dass die Elementarteilchen darum verschieden groß sind, weil die Seitenflächen und mithin die Elementardreiecke verschiedene Größen haben. Die von Lloyd 2009, 20–24 (teils mit Cornford a. a. O.) angeführten Gründe hiergegen sind nicht stichhaltig: Das Eindringen in die Zwischenräume zwischen anderen Teilchen erfordert nicht, dass die Struktur statisch bleibt, sondern es ist anzunehmen, dass etwa Feuer sich den Weg freischneiden kann; zwar wäre angesichts der Elemententransformation impliziert, dass sich aus einer Größe des einen Elements in der Tat nur die den relativen Verhältnissen entsprechende Größe des anderen Elements bilden kann, doch spricht gegen die Annahme einer solchen Doktrin zumindest nicht die Exposition bei Platon (die unterschiedliche Anzahl etwa von Formen von Feuer, Luft und Wasser beruht in jedem Fall auch darauf, dass explizit Mischungen von Luft- bzw. Wasserteilchen auch unterschiedlicher und nicht nur identischer Größe sowie mit anderen Elementen berücksichtigt werden); die Beschreibung in Ti. 54c6–d2 ist unproblematisch, da nur auf die reversible Verwandlung bezogen (große Körper in viele kleine und viele kleine in einen großen, wobei die Unbestimmtheit auch darauf beruht, dass die Anzahlen zwischen Feuer und Luft und zwischen Luft und Wasser verschieden sind); die Verflüssigung von Metall ist anders als die von Eis (die ‚Auflösung‘ ist einerseits ein Aufbrechen der festen Struktur, andererseits eine Transformation in Luft, selbstverständlich entsprechend der Sinneswahrnehmung); der Verweis auf ‚Form‘ und ‚Zahl‘ in Ti. 53b4 f. nimmt die spezifische mathematische Konstruktion vorweg und lässt sich nicht auf verschiedene Zahlen von Elementardreiecken in den verschiedenen Formen desselben Elements beziehen. Im Ergebnis, und dies ist eine wichtige Bestätigung der Ausführungen so weit, gibt es angesichts der Beschreibung der Arten des Feuers exakt

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So gibt es zum Beispiel die folgenden Formen der Elemente in Abhängigkeit von der Größe der Elemente: An Feuer gibt es die Flamme (φλόξ); das von der Flamme ausgehende Feuer, das nicht brennt und das Sehen ermöglicht; und das glimmende Feuer in der Asche (Ti. 58c6–d1). Luft gibt es von der reinsten Form, dem „Aither“ (αἰθήρ), bis zur schmutzigsten, dem Nebel (ὁμίχλη) und der Dunkelheit (σκότος); es gibt auch Formen ohne eigenen Namen (Ti. 58d1–4). Wasser gibt es in zwei grundlegenden Formen, nämlich „flüssiges“ (ὑγρός) und „verflüssigbares“ (χυτός) (Ti. 58d4– 5); flüssiges Wasser besteht aus ungleich großen und kleinen Wasserteilchen, was zu einer hohen Beweglichkeit führt, und diese (beobachtbare) physikalische Eigenschaft wiederum wird mathematisch auf die Nicht-Gleichförmigkeit und die grundsätzliche Konfiguration der Oktaeder-Form zurückgeführt (Ti. 58d5–8); beim verflüssigbaren Wasser handelt es sich um Metalle (Ti. 58d8–59a8). || drei Größen dieses Elements und mithin von Elementardreiecken. Dies entspricht direkt der qualitativ-quantitativen Verfasstheit der involvierten mathematischen Relationalität, insbesondere insoweit die Differenzierung verschiedener Größen eines jeden Elements lediglich nach den Kriterien ‚kleiner‘ vs. ‚gleich groß‘ vs. ‚größer‘ erfolgt; alle (im Fall des Feuers drei) Varianten eines jeden Elements sind damit kleiner bzw. größer als alle (im Fall des Feuers drei) Varianten eines jeden anderen Elements. Eine transparente Folge ist, dass es zugleich eine absolut bestimmte Größe der physikalischen Elementardreiecke (und mithin Elemente) geben muss (anders etwa Visintainer 1998; vgl. dagegen Lloyd 2007), wobei weiter die kleinste Größe durch minimale Seiten gebildet sein müsste – eventuell in der Tat die „unteilbaren Linien“ (ἄτομοι γραμμαί), die Aristoteles für Platon bezeugt (vgl. oben Anm. 6112; anders etwa Drummond 1982; vgl. Aristoteles, LI 968a14–18 [zur Frage der Authentizität der Schrift und Einzelfragen siehe Heath 1949, 255–257]; dies würde im Übrigen den Plural τὰς ἀτόμους γραμμάς in Aristoteles, Metaph. 992a19–22 erklären; hinzuzufügen sind noch die durch die anderen Körper gegebenen Linien)? Die feste minimale Längeneinheit würde im Schritt in den intelligiblen Bereich der Mathematik im oben in Kap. 6 skizzierten Sinn aufgehoben und in die nicht-partikulare relative Proportion überführt. In jedem Fall wäre angesichts der Verschiedenheit der Elemente zu postulieren, dass es nicht nur eine einzige Sorte ‚unteilbare Linie‘ gäbe, sondern in allen basalen Maßen, nämlich damit auch die inkommensurablen Verhältnisse abgedeckt wären. In einem solchen Kontext hätte ein Forschungsprojekt stehen können, wie es sich in Euklid, Elem. 10 zeigt. Insofern weiter die dort erforschten inkommensurablen Größen auch für die Konstruktion der regulären Körper relevant sind, könnte die angesichts der chronologischen Entwicklung der Proportionentheorie schwer verständliche Information, dass gerade Theaitetos für einen Großteil der Propositionen in Euklid, Elem. 10 verantwortlich sei (vgl. Σ Euklid, Elem. 10, 62), verständlich werden, nämlich abermals als Re-Interpretation der früheren Fragen der Mathematik als mit denselben theoretischen Sachverhalten beschäftigt, wie es für den Fall der Inkommensurabilität insgesamt aufgezeigt wurde (siehe oben Kap. 4.6). Hier könnte sich dann schließlich Platons Interesse für den „Schnitt“ (τομή = „Teilung“, dann als gewöhnlicher proportionentheoretischer Terminus im Bereich der Geometrie, das heißt mit Bezug auf die Linie; vgl. Euklid, Elem. 2, 4; so ja auch durchgängig im Liniengleichnis: R. 509d6 f. [4x: τετμημένην; τμήματα; τέμνε; τμῆμα]; R. 509d10 [τμῆμα]; R. 510a5 [τὸ ἕτερον, sc. τμῆμα]; R. 510b2 [2x: τομήν; τμητέον]; R. 511b2 [τμῆμα]; R. 511d6–e2 [τμήμασι und 4x der zu den Ordinalzahlen zu ergänzende Singular τμήματι]; vgl. oben Kap. 6) und dessen Erforschung einordnen lassen (vgl. oben Kap. 1.2 und speziell die entsprechende Notiz in Proklos, in Euc. p. 67, 2–8). Angesichts der eindeutigen textlichen Belege gibt es keinen hinreichenden Grund, mit etwa Morrow 1968, 18 den „Schnitt“ eingeengt als ‚Goldenen Schnitt‘ zu verstehen. Vgl. zum Gesamtzusammenhang Gaiser 1968, 158–163.

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Aus der unterschiedlichen Größe resultieren nicht nur verschiedene Formen der Elemente selbst, sondern diese können sich auch in verschiedenster Weise miteinander mischen. Zum Beispiel ergeben sich unterschiedliche Stoffe in Abhängigkeit davon, aus welchen Wasserteilchen sich ein Stoff zusammensetzt (Ti. 59a8–c5): So ist Gold dasjenige verflüssigbare Wasser, das sich aus den homogensten und feinsten Teilchen zusammensetzt; ähnlich ist die Erklärung im Fall von Stahl oder Kupfer, wobei Letzteres dichter und härter (wenn auch leichter) durch die Beimischung von Erde ist, durch deren Abscheidung es wiederum zu Grünspan wird. Ähnlich wird die flüssige Form des Wassers beschrieben (Ti. 59d2–e5): Sie ist charakterisiert durch eine Beimischung von Feuer, das es beweglicher macht; wenn das Feuer (und die Luft) es verlässt, wird es komprimiert und homogener; je nach Ort ist dieses Wasser Hagel oder Eis, und je nach Vollständigkeit dieses Prozesses ist dieses Wasser Schnee oder Tau. Es gibt auch Erklärungen für andere Formen des Wassers (Ti. 59e5–60b5), nämlich solche, die mit anderen Elementen, vornehmlich Erde, gemischt sind. Sie heißen „Säfte“ (χυμοί) und unterscheiden sich durch den Grad des Anteils dieser anderen Stoffe. Die meisten seien zwar bisher ohne Namen, doch werden mit Wein, Öle, Honig und Säure (ὀπός) vier spezifische Formen benannt. Entsprechende Erklärungen finden sich ferner für das Element Erde, unter anderem mit Bezug auf Steine und ihre verschiedenen Qualitäten und Arten wie Ton, Lava, Soda und Salz (Ti. 60b6–e2); und Mischungen aus Erde und Wasser (Ti. 60e2–61c2). Die Darstellung im Timaios ist, trotz der Fülle an Einzelerklärungen, bei Weitem nicht vollständig (vgl. Ti. 59c5–7); der Anspruch der Theorie ist, die gesamte Welt erklären zu können, und zwar in potentiell erschöpfend-systematischer und mithin konsistenter Weise. Die systematische Kohärenz ist nicht nur in der horizontalen Dimension gefordert – nämlich dahingehend, dass prinzipiell alle Erklärungen miteinander kompatibel sein müssen –, sondern auch in der vertikalen Dimension, denn Platons Theorie operiert, entsprechend den bisherigen Einsichten, integrativ auf drei miteinander verbundenen Ebenen: Erstens soll (und muss) dasjenige erklärt werden, was wir wahrnehmen, etwa die Schwere oder Leichtigkeit eines Stoffes oder seine Farbe (wie die Gelbheit im Falle von Gold); die Notwendigkeit der Erklärung ergibt sich unmittelbar daraus, dass diese Phänomene in der Wahrnehmung gegeben sind. Zweitens soll die objektive Eigenschaft des Stoffes erklärt werden, etwa die Dichte; sie wiederum ist mit der Wahrnehmung derart verbunden, dass sie jene in der Interaktion der Körper ursächlich erzeugt. Drittens soll eine mathematische Ursache für diese physikalische Eigenschaft benannt werden, etwa die spezifische Form der die Stoffe bildenden mathematischen Körper. Alle drei (transparent kategorial getrennten) Ebenen stehen in einer Abbildungsbeziehung, nämlich derart, dass die Eigenschaften der einen Dimension eindeutig auf diejenige der direkt ursächlich wirkenden Dimension abgebildet werden, etwa ‚Leichtigkeit‘ – ‚viele (durch Feuer) gefüllte Löcher im Stoff‘ – ‚spezifische Form der Körper, beruhend auf den relativ großen Abständen zwischen den gleichen Körpern (etwa beim Oktaeder)‘. Diese Abbildungsbeziehung ist relational-ikonisch (diagrammatisch), denn sie beruht auf einer Ähnlich-

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keit hinsichtlich von Relationen. Die verschiedenen Bereiche werden aufgrund einer (durch das Gesamtsystem in relativem Sinn gegebenen) relationalen Strukturgleichheit aufeinander abgebildet, und zwar im Sinn einer eineindeutigen Identifikation.34

|| 34 Das heißt genauer auf der Seite der physikalischen Attribute zumindest eines Bündels von Eigenschaften, kann doch eine einzige mathematische Eigenschaft für mehrere physikalische Eigenschaften ursächlich sein. Angesichts der gesamten Situation ergibt sich eine klare Antwort darauf, was „the ‚ontological status‘ of the geometrical objects of Plato’s physics“ ist, konkret also, ob sie „mathematical or physical entities“ seien (Mueller 2000, 163): Es gibt eine klar definierte, unterschiedliche Funktion für beide, und zwar gerade insoweit sie ontologisch kategorial getrennten Bereichen angehören. Die Pointe ist also nicht, dass „this question cannot be answered precisely because Plato wants to depict a transition from the intelligible to the sensible world“ (Mueller 2000, 163). Im Gegenteil kann in Platons Theorie das Letztere nur aufgrund einer klaren Differenzierung der Ebenen geleistet werden; so resultiert keine nicht-kausale, nicht-repräsentationale Beziehung zwischen diesen Ebenen und speziell Formen und Körpern, wie sie Prince 2014 vorschlägt. Zu einer Identifikation von Wahrnehmungsinhalt und physikalischer Struktur siehe im Übrigen Kung 1989 (die auch darauf verweist, dass speziell Aristoteles einer derartigen Identifikation ablehnend gegenüberstand); Morrow 1968 unterscheidet ebenfalls zu Recht und instruktiv die drei Ebenen der Erklärung. Insgesamt besteht ein fundamentaler Unterschied zur atomistischen Naturerklärung, speziell bei Demokrit. Instruktiv ist Theophrasts Gegenüberstellung (Sens. 60 f.; zur Stelle und ihrem Kontext siehe auch Ganson 1999, 206–210; vgl. Ferwerda 1972, speziell 341 f.): Δημόκριτος δὲ καὶ Πλάτων ἐπὶ πλεῖστόν εἰσιν ἡμμένοι, καθ’ ἕκαστον γὰρ ἀφορίζουσι· πλὴν ὁ μὲν οὐκ ἀποστερῶν τῶν αἰσθητῶν τὴν φύσιν, Δημόκριτος δὲ πάντα πάθη τῆς αἰσθήσεως ποιῶν. […] Δημόκριτος μὲν οὖν οὐχ ὁμοίως λέγει περὶ πάντων, ἀλλὰ τὰ μὲν τοῖς μεγέθεσι τὰ δὲ τοῖς σχήμασιν ἔνια δὲ τάξει καὶ θέσει διορίζει. Πλάτων δὲ σχεδὸν ἅπαντα πρὸς τὰ πάθη καὶ τὴν αἴσθησιν ἀποδίδωσιν, ὥστε δόξειεν ἂν ἑκάτερος ἐναντίως τῇ ὑποθέσει λέγειν. ὁ μὲν γὰρ πάθη ποιῶν τῆς αἰσθήσεως καθ’ αὑτὰ διορίζει τὴν φύσιν· ὁ δὲ καθ’ αὑτὰ ποιῶν ταῖς οὐσίαις πρὸς τὰ πάθη τῆς αἰσθήσεως ἀποδίδωσι („Demokrit und Platon haben sich hiermit am meisten beschäftigt, denn sie haben die einzelnen Aspekte im Detail differenziert, außer dass der eine [sc. Platon] von den Dingen der Wahrnehmung nicht die spezifische Natur fortgenommen hat und Demokrit alle zu Zuständen der Wahrnehmung gemacht hat. […] Während nun Demokrit einerseits nicht in der gleichen Weise über all diese Dinge spricht, sondern die einen über die Größe, die anderen über die Form und einige andere wiederum über Anordnung und Position bestimmt, erklärt Platon andererseits beinahe alle Dinge der Wahrnehmung mit Blick auf die Zustände und die Wahrnehmung, so dass jeder von ihnen im Gegensatz zu seiner Grundannahme zu sprechen scheint. Der eine nämlich [sc. Demokrit] bestimmt die Natur der Zustände der Wahrnehmung, indem er sie zu eigenständig existierenden Entitäten macht; der andere [sc. Platon] macht die Dinge der Wahrnehmung zu eigenständig existierenden Entitäten und erklärt sie mittels ihrer realen Eigenschaften mit Blick auf die Zustände der Wahrnehmung“). Der Unterschied zu Platons Ansatz beruht selbstverständlich auf der allgemeinen Maxime, dass für Demokrit alle Wahrnehmung ausschließlich auf Konvention beruht und dezidiert keine Eigenschaft der physikalischen Welt ist: Δημόκριτος δὲ ὁτὲ μὲν ἀναιρεῖ τὰ φαινόμενα ταῖς αἰσθήσεσι καὶ τούτων λέγει μηδὲν φαίνεσθαι κατ’ ἀλήθειαν, ἀλλὰ μόνον κατὰ δόξαν, ἀληθὲς δὲ ἐν τοῖς οὖσιν ὑπάρχειν τὸ ἀτόμους εἶναι καὶ κενόν· ‚νόμωι θερμόν, νόμωι ψυχρόν, νόμωι χροιή, ἐτεῆι δὲ ἄτομα καὶ κενόν‘ (Diels & Kranz 68 A9 [= Sextus Empiricus, M. 7, 135]: „Demokrit negiert mitunter die in der Wahrnehmung erscheinenden Dinge und sagt, dass keines von ihnen in Wirklichkeit in der Wahrnehmung erscheine, sondern nur der Meinung nach und dass es der Wirklichkeit entspreche, dass es in der Realität Atome und Leeres gebe: ‚Nach Konvention warm, nach Konvention kalt, nach Konvention Farbe, in Wahrheit aber Atome und Leeres‘“; vgl. Diels & Kranz 68 A125 und ein-

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Im Ergebnis erweist sich, dass Platons Elemententheorie dem Zweck dient, die physikalische Welt umfassend zu erklären, und zwar sowohl in Hinsicht darauf, woraus sie besteht, als auch in Hinsicht darauf, wie sich diese Bestandteile in der Interaktion zueinander verhalten. Insgesamt strebt Platon eine systematische Theorie des Bereichs der ‚Notwendigkeit‘ an (ἀνάγκη; Ti. 47e–69a).35 Diese Theorie bedient sich zur Erklärung von physikalischen Sachverhalten im Sinn einer Ursache genuin mathematischer Sachverhalte, nämlich der relationalen Eigenschaften von mathematischen Körpern an sich und in Relation zueinander. Ein Aspekt dieser Erklärung ist die Abbildung von dynamischer Interaktion auf statische Struktur, und zwar als ‚euklidisches‘ Diagramm, in dem die physikalischen Gegenstände das körperliche Gegenstück zum abstrakten mathematischen Sachverhalt sind. Beide Ebenen haben spezifische, nicht-identische, aber sehr wohl genuin ‚ähnliche‘ Eigenschaften.

7.3 Der Mensch in der Welt Ausgangspunkt für ein Verständnis der physikalischen Welt ist die Wahrnehmung. In ihr sind Phänomene wie Schwere gegeben und der menschlichen Seele zugänglich, und von ihr ausgehend versucht sie, diese Phänomene mittels der ‚Setzung‘ einer mathematischen (intelligiblen) relationalen Struktur so zu beschreiben und mithin zu erklären, dass sie mit einer physikalischen Entität in Hinsicht auf ihre Struktur so korrespondiert, dass sich die Interaktion dieses physikalischen Körpers im körperlichen Bereich so erschließen lässt, dass es möglich wird, auch die von diesem Körper physikalisch verursachte Wahrnehmung zu beschreiben und zu erklären. Die Bedeutung der Wahrnehmung in epistemologischer Hinsicht – und also als Ausgangspunkt jeglicher mathematischer Modellierung im Bereich des Physikali-

|| deutig A6, A7, A8, A9 [mit einem anderen Zitat der Stelle] sowie A10). Eine genaue Diskussion dieser Zusammenhänge führt hier zu weit. Angesichts der Zeugnisse ist jedoch transparent, dass es bei Demokrit im Unterschied zu Platon prinzipiell keinen (und erst recht keinen eineindeutigen) Bezug der Wahrnehmung zu den wahrgenommenen Gegenständen (und vice versa) gibt (und geben kann) und a fortiori auch nicht zu irgendeiner (zusätzlichen) mathematischen Beschreibungsebene. Vgl. Ganson 1999, 213 (mit Bezug auf die instruktive Stelle Aristoteles, Metaph. 1009b7–12): „Democritus’ reasoning about variability indicates an epistemic gap between us and the world around us. For without trust in our senses, how are we to go about determining what external objects are like?“ Für einen Einblick in die Debatte zu Demokrit siehe Ganson 1999 und Pasnau 2007. Der Unterschied zwischen Platon und Demokrit wird oftmals nicht hinreichend beachtet; vgl. Cornford 1937, 260 f. (trotz des Verweises auf die unmissverständliche Theophrast-Stelle). Zu Theophrasts (durch Aristoteles vermittelter) Rezeption des Timaios in De sensibus siehe McDiarmid 1959. 35 Zum Verhältnis von ‚Notwendigkeit‘ (ἀνάγκη) zum ‚Verstand‘ (νοῦς) als einer der zwei Ursachen im gesamten physikalischen Geschehen siehe grundlegend Cornford 1937, 159–177; die genauen (und komplexen) Verhältnisse sind für den soeben explizierten Sachverhalt nicht weiter entscheidend. Siehe auch Morrow 1950, Strange 1985 und Adamson 2011 und vgl. das folgende Kap. 7.3.

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schen – erklärt, warum Platon sie umfassend und im Detail im Timaios behandelt, und zwar als physikalisches Phänomen als genuine Interaktion von Körpern. Die relevante Passage (speziell Ti. 61c3–69a5) beginnt mit einer aufschlussreichen Einleitung (Ti. 61c3–d5): Es sei notwendig zu erörtern, aufgrund welcher Ursachen die Elemente in Hinsicht auf ihre „Gestalten, Vereinigungen und Veränderungen“ (Ti. 61c3: σχήμασι κοινωνίαις τε καὶ μεταλλαγαῖς, also die hier so weit diskutierten Aspekte der Elemententheorie) Körper und Seele des Menschen affizieren; grundsätzlich sei nämlich der Fall, dass mit den Elementen notwendig und immer Wahrnehmung verbunden sei (Ti. 61c6: πρῶτον μὲν οὖν ὑπάρχειν αἴσθησιν δεῖ τοῖς λεγομένοις ἀεί). Doch ist andererseits ebenso der Fall – und im gegebenen Zusammenhang entscheidender –, dass auch die menschliche Seele und mithin der Mensch selbst immer und überall der Wahrnehmung ausgesetzt ist, und zwar gerade aufgrund der physikalischen Konstitution des menschlichen Körpers selbst (Ti. 42a3–b2):36 ὁπότε δὴ σώμασιν ἐμφυτευθεῖεν ἐξ ἀνάγκης, καὶ τὸ μὲν προσίοι, τὸ δ’ ἀπίοι τοῦ σώματος αὐτῶν, πρῶτον μὲν αἴσθησιν ἀναγκαῖον εἴη μίαν πᾶσιν ἐκ βιαίων παθημάτων σύμφυτον γίγνεσθαι, δεύτερον δὲ ἡδονῇ καὶ λύπῃ μεμειγμένον ἔρωτα, πρὸς δὲ τούτοις φόβον καὶ θυμὸν ὅσα τε ἑπόμενα αὐτοῖς καὶ ὁπόσα ἐναντίως πέφυκε διεστηκότα, ὧν εἰ μὲν κρατήσοιεν, δίκῃ βιώσοιντο, κρατηθέντες δὲ ἀδικίᾳ. Wenn sie [sc. die Seelen] also aus Notwendigkeit in Körper eingepflanzt werden und das eine zu ihrem Körper kommt und das andere von ihm fortgeht, dürfte es notwendig sein, dass zuerst für alle eine einzige Wahrnehmung aus den gewaltsamen Affizierungen als etwas zusammen Eingepflanztes entsteht, zweitens ein Verlangen gemischt mit Freude und Schmerz und zusätzlich zu diesen Furcht und Mut und alles, was diesen folgt und was auch immer von Natur aus diesen entgegengesetzt gegenübersteht; wenn sie sie beherrschen, dürften sie in Gerechtigkeit leben, wenn sie aber beherrscht werden, in Ungerechtigkeit.

Insofern sich die Seele notwendig vermittels (oder als) Körper materialisiert, ist sie an einen individuellen Körper gebunden; dieser ist, da aus Elementarteilchen bestehend, prinzipiell der Interaktion mit anderen Körpern ausgesetzt (vgl. Ti. 43b–c), und zwar, da es für Platon keinen leeren Raum gibt (Ti. 58a7–c4),37 an jeder Stelle und zu || 36 Vgl. Ti. 69c5–d6 mit der Beschreibung der Konstruktion des menschlichen Körpers, mit dem die unsterbliche Seele als Vehikel ausgestattet wird. Zur Parallelität beider Passagen siehe Cornford 1937, 281 Anm. 3 sowie Johansen 2004, 145–150 (er urteilt 148 korrekt, dass „the lesser gods create the necessary affections not directly or as such but indirectly by inserting the immortal soul in the body“; allerdings wird nicht klar genug, dass eben dies impliziert, dass es sich um ein fundamentales Charakteristikum des Menschen als eines individuellen Lebewesens handelt; zu Recht weist er jedoch Cornfords 1937, 147 f. negative Interpretation zurück, die die genannten Affizierungen lediglich als „indispensable tools for man if he is to survive on earth“ [so Johansens 2004, 147 Wiedergabe] versteht). Zu den Sinneswahrnehmungen im Timaios siehe auch O’Brien 1997 und Brisson 1997. 37 Einer der Kernpunkte von Platons Theorie des ‚Platzes‘ (χώρα) ist, dass es keinen ‚leeren Raum‘ gibt, sondern überall χώρα ‚ist‘ und diese überall ‚gefüllt‘ ist (die Motivation der Theorie besteht, in jedem Fall per Implikation, mutatis mutandis in den von Aristoteles speziell in Ph. 209a2–30 ausge-

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jedem Zeitpunkt.38 Die menschliche Seele ist kontinuierlich der Wahrnehmung ausgesetzt, sei es, dass sie von außerhalb des Körpers wie beim Sehen, sei es, dass sie von innerhalb des Körpers wie bei Freude, Schmerz, Verlangen etc. kommt.39

|| führten Gründen); Bewegung erfolgt in der Form des Platztausches: Ti. 79a–80c; vgl. Mueller 2000, 171 und 174–176, auch Cornford 1937, 315–327. Auch im Prozess der körperlichen Interaktion und Elemententransformation (vgl. die Beispiele bei Vlastos 2005, 88–90) entstehen keine (kleinen) Lücken, denn die gesamte Welt ändert kontinuierlich unter Bewahrung ihrer kugelförmigen Form in instantaner Reaktion ihr Volumen (Ti. 58a4–7, mit expliziter Feststellung, dass keine Lücken verbleiben: ἡ τοῦ παντὸς περίοδος […] κυκλοτερὲς οὖσα […] σφίγγει πάντα καὶ κενὴν χώραν οὐδεμίαν ἐᾷ λείπεσθαι); dies wird oftmals übersehen: vgl. Vlastos 2005, 89–91; die exakte Kugelförmigkeit ergibt sich explizit aus Ti. 62c8–63b1, speziell 62d1 und 63a5; die hier gegebene Definition einer Kugel (oder konkret des Kugelförmigen [σφαιροειδές]) ist mittelbar mathematisch äquivalent zur Definition in Euklid, Elem. 13, def. 14, insofern sie über die Drehung eines Halbkreises um seinen Durchmesser erfolgt; dieselbe Definition wie im Timaios liegt in Aristoteles, Cael. 297a23–25 und Metaph. 1033b14 vor, nämlich als dreidimensionales Äquivalent zur (‚euklidischen‘) Definition eines Kreises (vgl. oben Anm. 322). Zumal aus dem Sprechen von ‚Zwischenräumen‘ (διάκεινα) in einigen Stoffen nicht unmittelbar folgt, dass es sich um etwas (absolut) ‚Leeres‘ handelt (vgl. Ti. 60e4 f. und Ti. 61b4 f.; diese Schlussfolgerung zieht Gregory 2000, 217 f.), denn selbstverständlich können sich hier prinzipiell auch andere Stoffe (Elementarteilchen) befinden. Der Passus zur χώρα ist schwierig und wurde kontrovers diskutiert; für einen Einblick in die lebhafte Debatte siehe Cherniss 1954, Zeyl 1975, Silverman 1992, Hunt 1998, Gregory 2000, 214–240, Gregory 2003b, Miller 2003, Sayre 2003, Strobel 2007, 267–315, Harte 2010, Mueller 2010, Zeyl 2010, Johansen 2015 und Buckels 2016. Für den vorliegenden Zusammenhang muss die Passage nicht im Detail erörtert werden, weil sie letztlich nur das Verhältnis von zugrunde liegender basaler ‚Materie‘ und / oder Ort der ‚Materie‘ zu den ‚Elementen‘ als stofflichen Grundbausteinen der physikalischen Körper, nicht jedoch deren grundlegende, geometrische Konstitution betrifft. Es ergeben sich jedoch selbstverständlich Auswirkungen darauf, welchen konkreten ontologischen Status ‚Körper‘ haben; vgl. für eine Entfaltung der Problemlage Silverman 1992. Mit jeder Interpretation (speziell Körper entweder als eigenständige Objekte aufzufassen; oder als Bündel von Qualitäten, Letzteres mit umstrittenem Substrat) ist aber die durch die Gleichnisse in der Politeia im explizierten Sinn gegebene Original-Modell-Relation kompatibel. Aus der Antwort auf diese Frage ergeben sich Konsequenzen für unser Verständnis der Formen und des Mechanismus der Teilhabe der Phänomene an ihnen, nicht jedoch hinsichtlich des Vorliegens und der Beschaffenheit des grundlegenden Modellierungssachverhalts. Das Wesen der Formen steht aber außerhalb dessen, was in dieser Studie geklärt werden kann, auch wenn sich relevante Konsequenzen in dieser Hinsicht ergeben. In jedem Fall soll, wenn ich von ‚Teilchen‘ spreche, dies nicht als Urteil in ontologischer Hinsicht verstanden werden, sondern ist vornehmlich erst einmal der Einfachheit der Darstellung geschuldet. 38 Die Affizierung der Seele beruht also primär nicht nur auf der spezifischen (linearen) Bewegung der Elemente im Gegensatz zur spezifischen (zyklischen) Bewegung des unsterblichen Teils der Seele (so Johansen 2004, 145 f.); zudem ist es der Fall, dass auch wenn in der Tat hauptsächlich lineare Prozesse involviert sind, auch die Wahrnehmung zyklischer Bewegung möglich ist, und dies wohlgemerkt in einer entscheidenden Hinsicht: siehe unten. Vgl. (aus einer etwas negativeren Perspektive) Phd. 81b–83e, wo der Körper speziell in Bezug auf die Sinneswahrnehmung als Gefängnis der Seele beschrieben wird, diese also ein Charakteristikum des Menschen ist, das aus seiner grundsätzlichen Verfasstheit herrührt; vgl. hierzu oben die Anmerkungen zum Höhlengleichnis in Kap. 6.3. 39 Sinneswahrnehmung im engen Sinne ist, entsprechend dem geläufigen Verständnis des Terminus αἴσθησις, auf die von außen mit dem Körper (und also mittelbar der Seele) interagierenden Körper

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Allerdings garantiert dieser Umstand auf der anderen Seite, dass Wahrnehmung (zumindest potentiell) die physikalische Welt vollständig erfassen kann; mit den Elementarteilchen ist schließlich prinzipiell Wahrnehmung verbunden und also Wahrnehmbarkeit gegeben (Ti. 61c6: πρῶτον μὲν οὖν ὑπάρχειν αἴσθησιν δεῖ τοῖς λεγομένοις ἀεί; vgl. oben).40 Gleichwohl ist es nicht der Fall, dass der Wahrnehmungsinhalt identisch mit dem sie verursachenden körperlichen Ding selbst ist. Diese Möglichkeit ist angesichts des grundlegenden Mechanismus der Wahrnehmung auch ausgeschlossen: Die zur Wahrnehmung führende Interaktion mit der körperlichen Welt vollzieht sich an spezifischen Orten des Körpers, den einzelnen Sinnesorganen; diese sind aber nicht das, was wahrnimmt, sondern das, wodurch wahrgenommen wird, und also ein spezifisches Instrument der Seele zum Zweck der Wahrnehmung.41 Folglich vollzieht sich Wahrnehmung nicht direkt, sondern ist vermittelt, und zwar über und durch körperliche Prozesse: Ein spezifisches körperliches Ereignis findet an einem Sinnesorgan statt, und der Körper ist durch eine diesem Ereignis entsprechende Bewegung seiner Teilchen affiziert und in eine eigene Bewegung versetzt, die aufhört, wenn sie an der Seele anlangt (Ti. 64b3–6).42 Der Wahrnehmungsinhalt steht in einer ikonischen und also Modell-Beziehung zu seinem Verursacher – und wenn auch in der Tat eine Nicht-Identität besteht und zugleich eine Transformation körperlicher Prozesse aufgrund von Wechselwirkung stattfindet, sind beide Relata der Modellrelation doch in jedem Fall in einer spezifischen Weise essentiell ‚ähnlich‘, denn durch die physikalischen Wahrnehmungsprozesse werden relevante Attribute in Hinsicht auf ihre Qualität aufeinander (physikalisch in Form dynamischer körperlicher Bewe|| beschränkt: siehe Ti. 43b5–c7. Anders Johansen 2004, 145, der das Wort hier als „generic term for the affections caused by the human body“ versteht, also verursacht sowohl von außen als auch von innen. Letzteres entspricht der Position im Theaitetos, wenngleich auch hier die zwei Gruppen klar getrennt werden (Tht. 156a2–c6). In der Differenzierung von ‚Wahrnehmung‘ und ‚Freude, Schmerz, (und wohlgemerkt) Verlangen‘ lässt sich die binäre Differenzierung des sterblichen Teils der Seele wiedererkennen; dies wäre dann kategorial zurückgeführt auf die körperliche Interaktion mit Körpern außerhalb des menschlichen Körpers vs. innerhalb des menschlichen Körpers (oder eben, platonisch gefasst, πρὸς ἕτερον vs. πρὸς αὑτό). Diese Frage kann hier nicht im Einzelnen geklärt werden. 40 Dies ist der tiefere Grund für die Gleichsetzung von Körperlichkeit und Wahrnehmbarkeit: vgl. oben, speziell Kap. 6.3. Daher ist es irreführend festzustellen, dass (um exemplarisch eine verbreitete Position anzuführen) „the three terms ‚visible,‘ ‚touchable,‘ and ‚somatic‘ are not on the same level, for that something has body is an inference from its being visible and touchable. Something, moreover, might be bodily without being visible, a smell for example“ (Benardete 2012, 153). Insbesondere Sichtbarkeit (aber auch die Äquivalente in Bezug auf die anderen Sinnesorgane) steht insgesamt für Wahrnehmbarkeit, und diese Wahrnehmbarkeit ist ontologisch eine Implikation der Körperlichkeit. 41 So allgemein diskutiert in Tht. 184b–185a; siehe zur Stelle Burnyeat 1976. Vgl. im Timaios etwa exempli gratia das Sehen Ti. 45c2–d3 und siehe oben Kap. 7.2. 42 Vgl. die Beschreibung des grundlegenden Mechanismus durch Brisson 1997, 311: „La sensation est affaire de communication. Ce qui est communiqué c’est la propriété que manifeste un objet, par l’intermédiaire d’un mouvement qui trouve sa source à l’extérieur. Et la transmission de ce mouvement se fait de façon mécanique […]“.

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gung) in eindeutiger Weise abgebildet. Das Ergebnis ist ein image, schließlich beinhaltet (repräsentiert) der Sinneseindruck lediglich die rohen, von den physikalischen Prozessen generierten Sinnesdaten. Diese Sinnesdaten bilden weiter ihr Objekt nur partiell ab, unter anderem deshalb, weil sie an einen spezifischen Wahrnehmungsmodus und dessen physikalische Verfasstheit (und Limitationen) gebunden sind. Welche Verhältnisse im Einzelnen herrschen, zeigt instruktiv ein Blick auf die körperlichen Ursachen der Wahrnehmung. Sie werden von Platon im Detail beschrieben und erklärt.43 Den Anfang macht die Wahrnehmung „heiß“ (θερμόν) und „kalt“ (ψυχρόν): Die physikalische Grundlage der Wahrnehmung „heiß“ (Ti. 61d5–62a5) ist, dass Feuer unseren Körper zerteilt und zerschneidet (Ti. 61d6 f.: τὴν διάκρισιν καὶ τομὴν αὐτοῦ περὶ τὸ σῶμα ἡμῶν γιγνομένην; das [körperlich] Prozesshafte zeigt sich emblematisch am Partizip); die Wahrnehmung hat den Charakter des Scharfen (ὀξύ); dies wird verursacht durch die spezifische Gestalt (Form) des Feuers, speziell die Feinheit der Seiten, die Spitzigkeit der Ecken, die Kleinheit der Teilchen und die Geschwindigkeit ihrer Bewegung, welche Eigenschaften allesamt für die in relativ hohem Maß gegebene Fähigkeit zum Schneiden ursächlich sind (Ti. 61e2–62a1: τὴν δὲ λεπτότητα τῶν πλευρῶν καὶ γωνιῶν ὀξύτητα τῶν τε μορίων σμικρότητα καὶ τῆς φορᾶς τὸ τάχος, οἷς πᾶσι σφοδρὸν ὂν καὶ τομὸν ὀξέως τὸ προστυχὸν ἀεὶ τέμνει). Dem steht die Wahrnehmung „kalt“ gegenüber (Ti. 62a5–d6), die dadurch hervorgerufen wird, dass das uns umgebende Feuchte (das zum überwiegenden Teil aus dem Element Wasser besteht) in den menschlichen Körper eindringt und so die kleineren Teilchen herausdrängt, dabei aber unfähig ist, deren Platz einzunehmen; im Ergebnis wird das in uns befindliche Feuchte komprimiert und so in einen Zustand geringerer Bewegungsfähigkeit versetzt, denn es verfügt hierdurch über einen höheren Grad an Uniformität; alles aber, was in unnatürlicher Weise komprimiert wird, habe den Drang, dieser Kompression entgegenzuwirken; so drückt das Feuchte in uns nach außen, welcher Kampf und welche Erschütterung in uns ein Zittern erzeugt und als Kälte wahrgenommen wird. Die Erklärung der Wahrnehmungen „heiß“ und „kalt“ fügt sich in das festgestellte Muster ein: Einer Wahrnehmungsqualität wird ein physikalischer Prozess zugeordnet, der in der Interaktion physikalischer Körper besteht und in seiner spezifischen Dynamik zur Erklärung auf die durch die allgemeine Theorie postulierten mathematischen Attribute der im Rahmen der Elementenlehre involvierten mathematischen Körper zurückgeführt wird. Ursache der Wahrnehmung ist ein körperliches Ereignis, das selbst den durch die Elementenlehre determinierten Bedingungen körperlicher Interaktion unterliegt und also in seiner ursächlichen Dimension auf mathematische Attribute von Körpern zurückgeführt wird. Dieses physikalische Ereignis manifestiert sich aktual erst dann, wenn die körperliche Interaktion stattfindet; entscheidend ist also die (sich im Zeitlichen unhintergehbar dynamisch vollziehende) Kombination || 43 Zur Frage der Namen der Sinnesqualitäten siehe Hirsch 1997.

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der Elementarteilchen in einer gewissen (prinzipiell transienten, das heißt ‚werdenden‘) Struktur.44 In diesem Sinn erklärt Platon alle weiteren Wahrnehmungen als körperliche Interaktionsprozesse der Elemente, zuerst „hart“ und „weich“ (Ti. 62b6–c3),45 „schwer“ und „leicht“ (Ti. 62c3–63e8), „rau“ und „glatt“ (Ti. 63e8–64a1) sowie Freude und Schmerz (Ti. 64a2–65b2). Diese Wahrnehmungen sind auf den ganzen Körper bezogen. In einem weiteren Schritt werden Wahrnehmungen erklärt, die ihren Platz in einzelnen Sinnesorganen haben (Ti. 65b4–68d7), zuerst der Geschmackssinn in der Zunge (Ti. 65c1–66c7), sodann der Geruchssinn (Ti. 66d1–67a6).46

|| 44 Aus anderer Perspektive beleuchtet Platon das Problem in Tht. 156a–158a. Wichtig ist hier die Unterscheidung zwischen der aktiven und der passiven Dimension der Wahrnehmung; beide sind logisch nicht ohne die andere denkbar und aktual immer als etwas, das als solches prinzipiell zugleich mit dem anderen entsteht, im Prozess der Wahrnehmung gegeben (Tht. 157a4–7; auch Tht. 156d3–6), mit der Folge, dass keine (physikalische) Sache als Wahrgenommenes für sich allein und unabhängig existiert, sondern immer für jemanden (Tht. 157a8–b3, insbesondere a8–b1: οὐδὲν εἶναι ἓν αὐτὸ καθ’ αὑτό, ἀλλά τινι ἀεὶ γίγνεσθαι; auch Tht. 156e8–a1); alles dieses werde (entstehe) also in der Verbindung miteinander aus der Bewegung heraus (Tht. 157a1 f.: ἐν δὲ τῇ πρὸς ἄλληλα ὁμιλίᾳ πάντα γίγνεσθαι καὶ παντοῖα ἀπὸ τῆς κινήσεως). In diesem Sinne sei das Aktive und das Passive für sich nicht sicher zu beschreiben, denn beides entsteht als solches immer erst zusammen mit dem anderen. Dies wird im Timaios zwar einerseits grundsätzlich ebenfalls festgestellt, aber zugleich dadurch methodologisch in der Exposition umgangen, dass die eine Seite ‚gesetzt‘ wird, um die andere Seite zu beschreiben (und dann vice versa); siehe hierzu die Einleitung zur Theorie der Sinneswahrnehmung in Ti. 61c3–d5 (speziell d3 f.: ὑποθετέον δὲ πρότερον θάτερα, τὰ δ’ ὑποτεθέντα ἐπάνιμεν αὖθις; die hier vorliegende ‚Hypothesis‘ ist durchaus im oben explizierten Sinn zu verstehen, nämlich als ‚Setzung‘ der relevanten relationalen Struktur). Dies bestätigt die obige Deutung des Höhlengleichnisses (siehe Kap. 6.3). Auch Cornford 1937, 258–268 zieht die Theaitetos-Stelle zur Erklärung der Timaios-Stelle heran, allerdings nicht unter hinreichender Berücksichtigung der verschiedenen kategorialen Dimensionen der in der physikalischen Erklärung involvierten Mechanismen. Wichtig ist, dass im Theaitetos eine eindeutige Eineindeutigkeit der Verbindung von Wahrnehmungen in den einzelnen Sinnesmodi und den involvierten physikalischen Prozessen festgestellt wird (Tht. 156d3–e1). 45 Hier zeigt sich die physikalische Grundlage des in Politeia VII im Finger-Beispiel (R. 523a10– 525c4) gemachten Arguments, dass die Sinneswahrnehmung prinzipiell kontradiktorische Eindrücke vermelde (vgl. oben mit Anm. 6146): Als hart wird ein Gegenstand empfunden, welchem das menschliche Fleisch weicht, als weich derjenige, der unserem Fleisch weicht; Härte und Weichheit existieren nicht unabhängig von den Gegenständen, sondern sind Phänomene der Interaktion von Körpern und also genuin relative Prozesse – und unterstehen ein und demselben Wahrnehmungsorgan. 46 Dass festgestellt wird, dass es keine Klassen von Gerüchen gibt, insofern die involvierten Elemente nicht kommensurabel zu den die Wahrnehmung zur Seele leitenden Gefäßen sind, und also Gerüche nur wahrgenommen werden, wenn Verwandlungen von Luft zu Wasser und vice versa stattfinden, ist nicht dahingehend zu verstehen, dass es eine irreguläre Zwischenform von Element gäbe (die also nicht in der Form eines Äquivalents zu einem mathematischen regulären Körper vorläge; siehe zum Gesamtproblem oben Kap. 7.2): Vlastos 1967 zeigt, dass hier anscheinend ein Verweis auf die Verwandlung der aggregierten Gesamtmenge vorliegt, das heißt auf „transitional states through which a mass of air would pass in the course of changing into water, the air-component steadily decreasing as air-corpuscles keep turning into water complexes“ (so die spätere Wiedergabe der Posi-

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Platons Ausführungen zu den beiden letzten und wichtigsten Formen der Wahrnehmung, nämlich (1) Hören und (2) Sehen, geben wichtige Einsichten in das spezifische Profil und den Zweck von mathematischer Modellierung im Timaios: (1) Das Hören (Ti. 67a7–c3) wird erklärt als Schlag durch Luft auf das Gehirn mittels des Ohres und die darauf folgende Weiterleitung durch das Blut zum Bereich nahe der Leber. Schnelle Schläge werden als „hoch“ wahrgenommen, langsamere in proportionaler Weise als „tief“; reguläre als „glatt“ und irreguläre als „rau“ sowie starke als „laut“ und weiche als „leise“.47 Auch hier wird (a) eine spezifische Wahrnehmung auf (b) einen dynamischen physikalischen Prozess zurückgeführt, der wiederum auf den spezifischen Eigenschaften der involvierten physikalischen Körper basiert, denen schließlich (c) eine spezifische mathematische Eigenschaft der jeweils eineindeutig zugeordneten mathematischen Objekte zugewiesen wird, die in analoger Entsprechung zur physikalischen Interaktion in einer statischen relationalen Struktur (= Diagramm) abgebildet wird, Letzteres hier vornehmlich bezogen auf die Anzahl in verschiedenen Aspekten, und zwar in quantitativer Relation zu einer entsprechenden anderen Anzahl (nämlich von Schlägen im gleichen Zeitabstand; von Zeit zwischen Schlägen; und von Körpern).48 So eröffnet sich eine genuin mathematisch fundierte Erklärung des Phänomens der Harmonie (Ti. 80a3–b8).49 Instruktiv ist ein Vergleich mit pythagoreischen Theorien zur Harmonielehre, speziell bei Archytas, zumindest insofern wir sie in fr. 1 fassen können: Zwar ist Archytas an der Beschreibung derselben Phänomene interessiert, und es finden sich in physikalischer Hinsicht ähnliche Erklärungen wie im Timaios, und all dies unter Einschluss auch relationaler Beschreibungen. Der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass diese Beschreibungen auf der physikalischen Ebene verbleiben und nicht nur einen primär deskriptiven Charakter haben, sondern gerade nicht die mathematischen Eigenschaften der involvierten körperlichen Dinge zur Erklärung heranziehen, ja: derartige Eigenschaften überhaupt nicht erwähnen. Im Gegenteil basiert die Identifizierung des jeweils relevanten physikalischen Wirkmechanismus – letztlich in der Tradition von Anaxagoras’ methodologischem Prinzip, dass „die Phänomene eine Schau des Verborgenen“ (ὄψις ἀδήλων τὰ φαινόμενα) seien (siehe oben Kap. 1.3) – auf einem qualitativen Analogieschluss im Ausgang von sichtbaren und beobachtbaren Prozessen, welcher eben auch einzig in diesem ontologischen Bereich verbleibt. Instruktiv ist der Beginn von Archytas’ Theorie der Harmonielehre (Z. 7–22):50 || tion in Vlastos 2005, 113); die Kommensurabilität besteht dann in Hinsicht auf die Viskosität des wahrgenommenen Stoffes (also Elementengemischs). Anders etwa Cornford 1937, 272–275, der hier „particles of a third class“ (273) als ursächlich sieht und dies dahingehend deutet, dass „Plato is here disclosing a further feature of that ‚longer account‘ which he held in reserve“ (274). 47 Zu den (Problemen in Hinsicht auf die) physiologischen Details siehe Lautner 2005. 48 Zum ersten Fall siehe Cornford 1937, 321 f. 49 Siehe Cornford 1937, 320–326. 50 Zur Stelle siehe Huffman 2005, 129–148 und Bowen 1982, zum Beginn der Schrift oben Kap. 5.3.2.

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πρᾶτον μὲν οὖν ἐσκέψαντο, ὅτι οὐ δυνατόν ἐστιν εἶμεν ψόφον μὴ γενηθείσας πληγᾶς τινων ποτ’ ἄλλαλα. πλαγὰν δ’ ἔφαν γίνεσθαι, ὅκκα τὰ φερόμενα ἀπαντιάξαντα ἀλλάλοις συμπέτῃ. τὰ μὲν οὖν ἀντίαν φορὰν φερόμενα ἀπαντιάζοντα αὐτὰ αὐτοῖς συγχαλᾶντα, τὰ δ’ ὁμοίως φερόμενα, μὴ ἴσῳ δὲ τάχει, περικαταλαμβανόμενα παρὰ τῶν ἐπιφερομένων τυπτόμενα ποιεῖν ψόφον. πολλοὺς μὲν δὴ αὐτῶν οὐκ εἶναι ἁμῶν τᾷ φύσει οἵους τε γινώσκεσθαι, τοὺς μὲν διὰ τὴν ἀσθένειαν τᾶς πλαγᾶς, τοὺς δὲ διὰ τὸ μᾶκος τᾶς ἀφ’ ἁμῶν ἀποστάσιος, τινὰς δὲ καὶ διὰ τὰν ὑπερβολὰν τοῦ μεγέθεος· οὐ γὰρ παραδύεσθαι ἐς τὰν ἀκοὰν ἁμῖν τὼς μεγάλως τῶν ψόφων, ὥσπερ οὐδ’ ἐς τὰ σύστομα τῶν τευχέων, ὅκκα πολύ τις ἐκχέῃ, οὐδὲν ἐγχεῖται. τὰ μὲν οὖν ποτιπίπτοντα ποτὶ τὰν αἴσθασιν ἃ μὲν ἀπὸ τᾶν πλαγᾶν ταχὺ παραγίνεται καὶ , ὀξέα φαίνεται, τὰ δὲ βραδέως καὶ ἀσθενέως, βαρέα δοκοῦντι εἶμεν. αἰ γάρ τις ῥάβδον λαβὼν κινοῖ νωθρῶς καὶ ἀσθενέως, τᾷ πλαγᾷ βαρὺν ποιήσει τὸν ψόφον· αἰ δέ κα ταχύ τε καὶ ἰσχυρῶς, ὀξύν. Zuerst haben sie sich also überlegt, dass es nicht möglich ist, dass es ein Geräusch gibt, wenn es nicht einen Schlag von Dingen aneinander gibt, und sie sagten, dass es einen Schlag gebe, wann immer bewegte Dinge sich begegnen und miteinander zusammenstoßen. Die in entgegengesetzter Bewegung bewegten Dinge machen ein Geräusch, wenn sie in der gegenseitigen Begegnung abbremsen, und die in gleicher Art und Weise, aber nicht in derselben Geschwindigkeit bewegten Dinge, wenn sie von den sie überholenden Dingen eingeholt und getroffen werden. Tatsächlich könnten viele von diesen Geräuschen aufgrund unserer Natur nicht erkannt werden, die einen wegen der Schwäche des Schlags, die anderen wegen der Größe des Abstandes von uns, und einige auch wegen des Übermaßes an Größe. Nicht nämlich könnten die gewaltigen Töne in unser Gehör eindringen, wie ja auch nichts in schmale Gefäße eingeschenkt wird, wann immer man eine große Menge einschenkt. Von den Tönen, die zu unserem Gehör gelangen, erscheinen diejenigen, die von den Schlägen ausgehend schnell und stark ihren Weg zurücklegen, als hoch, während diejenigen, die langsam und schwach ihren Weg zurücklegen, als tief erscheinen. Denn wenn jemand einen Stock nimmt und ihn kraftlos und schwach bewegt, produziert er durch den Schlag einen tiefen Ton, wenn aber schnell und kraftvoll, einen hohen.

Der Unterschied zu Platon ist evident: Archytas führt das (Wahrnehmungs-) Phänomen der hohen und tiefen Töne zwar auf physikalische Prozesse zurück und impliziert dabei sogar einen relationalen (gegebenenfalls als Proportion ausdrückbaren) Zusammenhang zwischen Tonhöhe und Stärke des verursachenden, die Luft in Bewegung versetzenden Schlags (an der vorliegenden Stelle in jedem Fall in allgemeiner Weise, gegebenenfalls numerisch-quantifiziert im verlorenen Teil der Schrift),51 doch trotz allem beruht die Identifizierung dieses Zusammenhangs auf einem reinen Analogieschluss, der seine Grundlage im makroskopischen, den Sinnen direkt zugänglichen Bereich hat – und als solcher methodologisch nicht abgesichert, sondern spekulativer Natur ist, und zwar, insofern etwas anderes zur Erklärung herangezogen wird, als metaphorisches Modell, das ferner als Submodell nicht ein relationales diagram, sondern ein bildliches image umfasst: Der ‚Beweis‘ des unterstellten Zusammenhangs ist der Verweis auf das Bild eines geschwungenen Stocks (Z. 20–22). Inso-

|| 51 Zur Entsprechung von Platons und Archytas’ Theorie in dieser Hinsicht siehe Huffman 2005, 130 f., zu Unterschieden im Detail 135 f.; vgl. Bowen 1982, 92–94. Im (nicht zitierten) Rest der Passage (Z. 18–43) erörtert Archytas gehörte Töne und die physikalische Ursache von ‚hoch‘ und ‚tief‘.

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fern die Passage in exakt dieser Weise fortfährt (siehe etwa Z. 17 f. in Hinsicht auf die Nichtwahrnehmbarkeit starker Töne das Bild des Befüllens eines Gefäßes mit enger Öffnung; vgl. Z. 24–27 für das parallele Beispiel eines Wurfgeschosses),52 ist dieses (spekulative) Vorgehen allem Anschein nach die grundlegende Methode, auf der Archytas’ physikalische Theorie fußt. An der Frage, warum der festgestellte Sachverhalt speziell bei Tönen vorliegt, ist Archytas nicht interessiert, und es findet ebenso keine unmittelbare Zurückführung der Erklärung auf die spezifischen Eigenschaften der im physikalischen Prozess involvierten körperlichen Dinge selbst statt. Dies unterscheidet Archytas’ Theorie nicht nur von derjenigen Theorie, die Platon im Timaios expliziert, sondern es ist auch der Fall, dass sich Platon in Politeia VII mit seiner oben diskutierten Kritik gerade gegen einen solchen Ansatz wendet (siehe Kap. 5.5): Die ‚mathematische‘ Beschreibung der physikalischen Welt verbleibt bei Archytas im Bereich des Physikalischen und beschreibt dort allenfalls einfach ausdrückbare Korrelationen zwischen Körpern, identifiziert aber keine spezifischen, auf mathematischen Sachverhalten beruhenden Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge in methodologisch abgesicherter Weise – und das heißt für Platon letztlich in der Form diagrammatischer Modelle, die die relevanten Zusammenhänge auf die relationalen Eigenschaften der im Diagramm in Verbindung gebrachten mathematischen Objekte zurückführt. Dieses Beispiel zeigt noch einmal deutlich, dass die im Timaios explizierte physikalische Theorie nicht pythagoreisch, sondern platonisch ist, trotz der Präsentation durch den (fiktionalen) Pythagoreer Timaios (vgl. oben mit Anm. 4). Doch erlaubt gerade die ‚Pythagoreisierung‘ der Darstellung, die spezifischen Unterschiede zwischen Platon und den Pythagoreern zu erkennen. (2) Die letzte und wichtigste der von Platon behandelten Formen der Wahrnehmung ist das Sehen, hier speziell unter dem Aspekt der Farbe betrachtet, einschließlich der separat hiervon erklärten Wahrnehmungen „hell“ und „dunkel“ (Ti. 67c4– 68d7). Diese Theorie operiert in derselben Weise wie diejenigen zu den anderen Formen der Sinneswahrnehmung und muss also hier nicht im Detail diskutiert werden.53 || 52 Zu diesen und den weiteren metaphorischen Modellen der Passage vgl. Bowen 1982, 89–91. 53 Zur Stelle siehe Ierodiakonou 2005; allerdings sind im gegebenen Zusammenhang entscheidende Punkte nicht hinreichend behandelt. Konkret ist (wie bei Cornford 1937, 276–278) nicht erklärt, dass und wie Platon zwei basale Parameter der Farbwahrnehmung unterscheidet, nämlich ‚weiß‘ – ‚transparent‘ – ‚schwarz‘ und ‚hell‘-‚grell‘ – ‚rot‘ – [nicht realisiert = ‚schwarz‘]: Wenn einerseits der Sehstrahl auf gleich große Teilchen trifft, sind diese nicht sichtbar (‚transparent‘); wenn sie größer sind, wird der Sehstrahl kontrahiert (‚schwarz‘); wenn sie kleiner sind, wird er erweitert (‚weiß‘). Hiervon unabhängig ist als zweiter Parameter die Heftigkeit der Bewegung der vom gesehenen Körper ausgehenden Feuerteilchen; Platon beginnt (Ti. 67e6–68b1) mit der aufgrund der Geschwindigkeit (denn die Winkel sind gleich) schneidenderen Bewegung (Ti. 67e6: τὴν δὲ ὀξυτέραν φοράν) ‚der einen‘ der verbleibenden zwei Sorten von Feuerteilchen (Ti. 67e6 f.: καὶ γένους πυρὸς ἑτέρου; nicht mit Cornford 1937, 277 „of a different variety of fire“ [meine Hervorhebung]); diese Sorte ist evident die kleinere, denn wenn sie auf den Sehstrahl trifft, erweitert sie ihn, und zwar anders als die Feuerteilchen ohne heftige Bewegung bis hin zu den Augen (Ti. 67e7 f.: προσπίπτουσαν καὶ διακρίνουσαν τὴν ὄψιν μέχρι

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Wichtiger ist die an früherer Stelle erfolgende grundlegende Erklärung des mit dem Sehen verbundenen physikalischen Mechanismus (Ti. 45b2–46c6): Eine bestimmte || τῶν ὀμμάτων). Die entstehende Wahrnehmung ist (grelle) Helligkeit. Hiervon unterschieden ist die Wahrnehmung ‚rot‘, die entsteht, wenn die ‚zwischen diesen liegende Sorte von Feuerteilchen‘ (also die verbleibende, dritte) involviert ist (Ti. 68b1–5, speziell 1: τὸ δὲ τούτων αὖ μεταξὺ πυρὸς γένος) und wohlgemerkt ebenfalls direkt ins Auge gelangt (Ti. 68b1–3: πρὸς μὲν τὸ τῶν ὀμμάτων ὑγρὸν ἀφικνούμενον καὶ κεραννύμενον αὐτῷ, στίλβον δὲ οὔ). Im Kontext ist deutlich, dass der Bezug des Demonstrativpronomens einerseits durch die soeben behandelte Sorte und Bewegung gegeben ist, andererseits durch die aus dem Vorangehenden zu ergänzende, größere und mithin den Sehstrahl bis zum Auge hin kontrahierende Sorte (die aus transparenten Gründen ohne weitere Erklärung nicht weiter behandelt wird; ‚schwarz‘ ist deshalb schwarz, weil der Sehstrahl kontrahiert wird, und wenn er an irgendwo kontrahiert ist, kann er nicht mehr weiter ‚bis zum Auge hin‘ kontrahiert werden; andernfalls wäre die ursprüngliche Wahrnehmung eben nicht ‚schwarz‘; entsprechend fährt Platon direkt mit der Mischung von ‚hell‘-‚grell‘ und ‚rot‘ = ‚orange‘ fort). Für alle diese drei Farbwahrnehmungen gilt, dass im Unterschied zu ‚weiß‘ – ‚transparent‘ – ‚schwarz‘ die Bewegung heftig ist (das heißt gemäß dem Kriterium, dass die Bewegung sich bis zum Auge selbst erstreckt und dort unmittelbar eine Wirkung ausübt); die Teilchen selbst und ihre Unterschiede sind dieselben (kleiner vs. gleich groß vs. größer). Der Zweck des Vorgehens ist klar: Nicht nur ist möglich, den in der Wahrnehmung gegebenen Gegensatz zwischen bloßer Formwahrnehmung und dem zur Farbwahrnehmung gehörenden Parameter ‚Helligkeit‘ zu repräsentieren, sondern überhaupt das Phänomen ‚Farbe‘ selbst im gegebenen Rahmen zu erklären. Die erste Unterscheidung liefert schließlich nur ein Kontinuum zwischen ‚weiß‘ und ‚schwarz‘ (also in der Mischung unter Einschluss von ‚grau‘; dabei wird die dritte Ausprägung ‚transparent‘ benötigt, um überhaupt das Sehen zu erklären, konkret den Umstand, dass das diesem Feuerteilchen entsprechende Sonnenlicht nicht alles überdeckt und so das Sehen selbst unmöglich machte; dies widerspräche ja nicht zuletzt der Empirie), und aufgrund der Unterscheidung nur dreier Größen von Feueratomen bedarf es eines zweiten Parameters, welcher aber kategorial andersartig sein muss (und also nicht auf der Größe basieren kann). Im Ergebnis ist es Platon auf diese Weise möglich, alle Farben hinreichend zu erklären, und zwar (wie sich ebenfalls aus der Empirie ableiten lässt) als unterschiedliche Mischungen von vier grundlegenden Farben, das heißt entsprechenden (und sich entsprechend verhaltenden) Feuerteilchen (Ti. 68b5–d7). Mithin zeigt sich ein transparenter Grund für Platons Vorgehen; insbesondere ist es nicht der Fall, dass „the addition of ‚bright‘ or ‚flashing‘ is puzzling“ (so Cornford 1937, 277; bei Ierodiakonou 2005 nicht weiter diskutiert). Signifikant und eine Bestätigung der Ergebnisse zur Bedeutung der Wahrnehmung ist, dass dieser zweite Parameter auf Platon selbst zurückzugehen scheint, und zwar dann mit dem Zweck, eine hinreichende Erklärung der Farb-‚Phänomene‘ zu geben; vgl. die instruktive Beschreibung bei Theophrast (Sens. 59): Ἐμπεδοκλῆς δὲ καὶ περὶ τῶν χρωμάτων, καὶ ὅτι τὸ μὲν λευκὸν τοῦ πυρὸς τὸ δὲ μέλαν τοῦ ὕδατος. οἱ δ’ ἄλλοι τοσοῦτον μόνον, ὅτι τό τε λευκὸν καὶ τὸ μέλαν ἀρχαί, τὰ δ’ ἄλλα μειγνυμένων γίνεται τούτων („Empedokles hat auch über die Farben gesagt, dass das Weiße vom Feuer und das Schwarze vom Wasser komme; die anderen haben nur so viel gesagt, dass sowohl das Weiße als auch das Schwarze ‚Prinzipien‘ seien, die anderen Farben hingegen entstünden, wenn diese gemischt würden“). Zum sachlichen Hintergrund in Hinsicht auf die ‚Farb‘-Wahrnehmung vgl. Hose 2016; in diesem Zusammenhang erklärt sich die Verbindung von ‚hell‘ und ‚rot‘ in Platons Erklärung. Wichtig ist schließlich, dass Platon durch die Zurückführung auf die von den Körpern ausgehenden Ströme von Feuerteilchen letztlich „colour as a property a body has independently of any observer“ ausweist, im Gegensatz zu Demokrit, für den Farbe nur etwas Subjektives und lediglich eine von uns den Dingen zugewiesene Eigenschaft ist (Ierodiakonou 2005, 229–232, das Zitat 230). Siehe in Hinsicht auf Demokrit Pasnau 2007, zum Vergleich auch Hirsch 1993; vgl. oben Anm. 34.

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Art von Feuer hat die Eigenschaft, nicht zu brennen, sondern sanftes Licht zu geben, und aus diesem Feuer besteht einerseits das Tageslicht und andererseits das reine Feuer im Menschen und, von diesem gebildet und vom Auge ausgehend, ein Strahl aus Feuer. Im Tageslicht verschmilzt dieser Sehstrahl in der Sehrichtung mit dem Tageslicht und trifft auf (und das heißt berührt) die Objekte der physikalischen Welt, genauer die von diesem ausgehenden Feuerteilchen; aufgrund seiner Homogenität und aufgrund der Gleichartigkeit der ihn bildenden Feuerteilchen mit den von den gesehenen Objekten ausgehenden Feuerteilchen (vgl. Ti. 31b4–6) ist der Sehstrahl in exakt derselben Weise affiziert wie jedes dieser Objekte, und entsprechend wird die mitausgeführte Bewegung durch den gesamten Körper bis zur Seele geleitet (Ti. 45c7– d3). Wichtig ist dies nicht nur deshalb, weil sich eine spezifische physikalische Erklärung des behandelten Phänomens zeigt, die ursächlich auf der Grundlage der Elementenlehre auf mathematische Relationen zurückführbar ist, sondern vor allem durch den – für das Verständnis von Platons Theorie und Praxis der mathematischen Modellierung zentralen – Umstand, dass die Seele durch das Sehen als den einzigen Wahrnehmungsmodus einen zwar prinzipiell vermittelten, aber in der Transformation potentiell nicht verfälschenden (und mithin phänomenal sozusagen ‚direkten‘) Zugang zu den wahrgenommenen Körpern hat, wenn auch nur in Hinsicht auf ihre sichtbaren Bewegungen und also wohlgemerkt nicht in Hinsicht auf ihre körperliche Konstitution selbst etc. und, auf der anderen Seite, nur in Hinsicht auf die sichtbare Bewegung in ihrer Komposition, also noch nicht analysiert in ihre gegebenenfalls vorliegenden Komponenten. Dieses Charakteristikum des Sehens ist dafür verantwortlich, dass Platon (neben dem Hören: Ti. 47c4–e2) das Sehen als die bedeutendste Form der Wahrnehmung ansieht – und ihr sogar zuspricht, dass bei ihr die gesamte Philosophie ihren Anfang genommen habe (Ti. 46e3–47e5, speziell Ti. 47a1–7): ὄψις δὴ κατὰ τὸν ἐμὸν λόγον αἰτία τῆς μεγίστης ὠφελίας γέγονεν ἡμῖν, ὅτι τῶν νῦν λόγων περὶ τοῦ παντὸς λεγομένων οὐδεὶς ἄν ποτε ἐρρήθη μήτε ἄστρα μήτε ἥλιον μήτε οὐρανὸν ἰδόντων. νῦν δ’ ἡμέρα τε καὶ νὺξ ὀφθεῖσαι μῆνές τε καὶ ἐνιαυτῶν περίοδοι καὶ ἰσημερίαι καὶ τροπαὶ μεμηχάνηνται μὲν ἀριθμόν, χρόνου δὲ ἔννοιαν περί τε τῆς τοῦ παντὸς φύσεως ζήτησιν ἔδοσαν· Das Sehen ist meiner Theorie zufolge als die Ursache des größten Nutzens für uns entstanden, weil keine der jetzt über das Universum vorgebrachten Theorien hätte vorgebracht werden können, wenn wir nicht die Sterne oder die Sonne oder den Himmel gesehen hätten. Wie es aber jetzt der Fall ist, sind der Tag und die Nacht, die Monate und die Umläufe der Jahre, die Tag-undNacht-Gleichen und die Sonnenwenden gesehen worden und haben einerseits die Zahl herbeigebracht und uns andererseits eine Vorstellung von der Zeit sowie die Erforschung der Natur des Universums gegeben.

Das Sehen war unabdingbar für die (erste) Erkenntnis der physikalischen Welt, und zwar weil es ermöglicht hat, die Bewegungen der Himmelskörper zu sehen; dies hat über die Wahrnehmung von deren (im Beispiel angeführter) Periodizität schließlich insbesondere zu Platons Theorie der physikalischen Welt (und der Welt insgesamt)

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geführt.54 In den Begrifflichkeiten der Höhle hat das Sehen die entscheidende Grundlage dafür gelegt, aus dem Innern der Höhle entfliehen zu können, und zwar konkret über den Weg der ‚astronomischen‘ Forschung (oder für den Anfang wohl eher: der ‚Sternenkunde‘). Dieser Sachverhalt verweist einerseits angesichts der Periodizität auf die Beschreibung der Gefangenen, die Preise und Ehrungen dafür erhalten, die Regularitäten auf der Höhlenwand vorherzusagen (R. 516c8–e2);55 andererseits (und hiermit verbunden, da dies aufnehmend) auf das Bildungsprogramm in Politeia VII und speziell die dort gegebene Definition der Astronomie als derjenigen mathematischen Disziplin, die sich mit dem ‚Körper in sichtbarer (Dreh-) Bewegung‘ beschäftigt. Die aufscheinende Parallelität von Politeia und Timaios erlaubt eine Vertiefung des Verständnisses von Grundlage, Methode und Ziel von Platons Projekt der mathematischen Modellierung der physikalischen Welt. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis des sachlichen Hintergrunds der Hochschätzung des Sehens. Sie beruht darauf, dass die Seele mit ihrer Verkörperung im physikalischen Bereich in Unordnung geraten ist: Bei der Erschaffung des Menschen wurde der göttliche Seelenteil in den aus den vier Elementen gebildeten Körper eingefügt, unter Hinzufügung der zwei sterblichen Seelenteile (Ti. 42e5–43a6).56 So wurden die „kreisförmigen Bewegungen der unsterblichen Seele in den Körper hineingebunden“ (Ti. 43a4–6, speziell 4 f.: τὰς τῆς ἀθανάτου ψυχῆς περιόδους ἐνέδουν εἰς […] σῶμα), einen (mit Anklang an Heraklit) „großen Fluss, in den eingebunden sie weder herrschten noch beherrscht wurden“ (Ti. 43a6 f.: αἱ δ’ εἰς ποταμὸν ἐνδεθεῖσαι πολὺν οὔτ’ ἐκράτουν οὔτ’ ἐκρατοῦντο) und von dem sie „mit Gewalt fortgerissen wurden und [anderes] mit sich rissen“ (Ti. 43a7: βίᾳ δὲ ἐφέροντο καὶ ἔφερον), mit der Folge, dass sich das gesamte Lebewesen bewegte und, wie || 54 Dies ist der wahre Grund dafür, dass wir Augen (und Ohren) haben; siehe für den in der teleologischen Grundkonzeption verankerten Gesamtzusammenhang Steel 2001. Vgl. R. 530d6–9. 55 So erweisen sich die an der Mauer entlanggetragenen Gegenstände selbst (unter anderem, aber prominent) als die Sterne und andererseits ihre Schatten an der Mauer (unter anderem, aber prominent) als die ‚Phänomene‘ (im Sinn der entsprechenden antiken Gattung: siehe oben Kap. 5.5). Sie sind beseelt (mit Teilen der Weltseele) und mit einem entsprechenden, wahrnehmbaren Körper ausgestattet: Ti. 41d8–e2 (dabei ist jeder einzelne Stern individuell beseelt: „bei der Konstruktion des Ganzen teilte er [sc. der Demiurg] Seelen in exakt gleicher Zahl zu den Sternen ein und wies jede jedem zu, und indem er diese in jene wie in ein Gefährt setzte, offenbarte er die Natur des Ganzen“ [Ti. 41d8– e2: συστήσας δὲ τὸ πᾶν διεῖλεν ψυχὰς ἰσαρίθμους τοῖς ἄστροις, ἔνειμέν θ’ ἑκάστην πρὸς ἕκαστον, καὶ ἐμβιβάσας ὡς ἐς ὄχημα τὴν τοῦ παντὸς φύσιν ἔδειξεν]); auch Ti. 42d4 f. (wo die „Instrumente der Zeit“ [ὄργανα χρόνου] natürlich neben dem Mond die anderen Sterne und Planeten sind). Dies bestätigt die oben entwickelte Deutung des entsprechenden Abschnitts des Höhlengleichnisses (siehe Kap. 6.3). 56 Vgl. Ti. 73b1–e1 zur Konstruktion des Marks als Sitzes der sterblichen Teile der Seele (und zum Gehirn als spezieller Form des Marks als Sitzes des unsterblichen Teils der Seele); zur spezifischen Konstitution dieser Seelenteile siehe die Diskussion bei Karfik 2005. Hier muss die Diskussion darum, ob und gegebenenfalls wann Platon eine zwei- oder dreiteilige Seelenlehre vertreten habe, nicht kümmern (vgl. den Überblick bei Miller 2006, 286–289): Die Angaben im Timaios sind sowohl unmissverständlich (siehe etwa Ti. 89e3–5) als auch in den hier wesentlichen Punkten kompatibel mit denjenigen in der Politeia (siehe knapp Lorenz 2006, 74 f.).

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impliziert ist, keine stationäre Drehbewegung mehr stattfand (Ti. 43a7 f.: ὥστε τὸ μὲν ὅλον κινεῖσθαι ζῷον), mithin die Bewegung ungeordnet und irrational nach Zufall (Ti. 43b1 f.: ἀτάκτως μὴν ὅπῃ τύχοι προϊέναι καὶ ἀλόγως) herumirrend in allen sechs Richtungen sich vollzog (Ti. 43b2–5). Ursächlich sind die Sinneswahrnehmungen (αἰσθήσεις), verstanden in allgemeinem Sinn als alles, was von außen auf den Körper einwirkt (Ti. 43b5–e4; vgl. oben mit Anm. 39). Die so bewirkte Unordnung in den Kreisbewegungen hat aber nicht nur direkte Auswirkungen auf die Bewegungen des Menschen, sondern auch auf die Beurteilung der Sinneswahrnehmung durch den unsterblichen Seelenteil; es gibt keine herrschende Kreisbewegung, und die von außen kontinuierlich einströmenden Wahrnehmungen herrschen, anstatt beherrscht zu werden (Ti. 43e4–44b1). Der Mangel an Verstand ist sogleich mit der Geburt, das heißt der Verkörperung im physikalischen Bereich, gegeben, sowohl grundsätzlich als auch im individuellen Fall (Ti. 44a7–b1: καὶ διὰ δὴ ταῦτα πάντα τὰ παθήματα νῦν κατ’ ἀρχάς τε ἄνους ψυχὴ γίγνεται τὸ πρῶτον, ὅταν εἰς σῶμα ἐνδεθῇ θνητόν). Freilich bessert sich dieser Zustand nach und nach, wenn der Mensch wächst, denn es strömen immer weniger Teilchen aufgrund der Bedürfnisse des Wachstums und der Ernährung in den Körper ein; die Kreisbewegungen nehmen, mehr und mehr ungestört, wieder ihre natürliche Bewegung an, der Mensch wird verständiger und rationaler (Ti. 44b1–7). Allerdings, und dies ist entscheidend, bedürfen sie, um die aus der Verkörperung resultierende Verstandeslosigkeit gänzlich zu heilen und „der größten Krankheit zu entfliehen“, der „richtigen Bildungsnahrung“ (Ti. 44b8–c2: ἂν μὲν οὖν δὴ καὶ συνεπιλαμβάνηταί τις ὀρθὴ τροφὴ παιδεύσεως, ὁλόκληρος ὑγιής τε παντελῶς, τὴν μεγίστην ἀποφυγὼν νόσον, γίγνεται); andernfalls werden sie nach ihrem Tod „uneingeweiht und ohne Verstand in den Hades eintreten“ (Ti. 44c2–4, speziell 3 f.: ἀτελὴς καὶ ἀνόητος εἰς Ἅιδου πάλιν ἔρχεται).57 Welcher Art diese Bildung ist, skizziert Platon am Ende des Dialogs, nachdem er die Beschreibung der physikalischen Konstitution der gesamten Welt und des Menschen abgeschlossen hat (Ti. 89d2–90d7): Man dürfe sich nicht gänzlich den Bedürf|| 57 Letzteres verweist auf das Ende des Timaios, wo von der Rangfolge der Lebewesen und ihrer Verwandlung ineinander nach dem Tod die Rede ist (Ti. 90e1–92c3). Diese erfolgt ausschließlich nach dem Kriterium, welchen Grad an Verstand und Unverstand ein Lebewesen im Leben gezeigt hat (speziell Ti. 92c2 f.). Mehr noch verweist Platon auf (hiermit nicht inkompatible) Vorstellungen, die im Mythos von Er in Politeia X angesprochen werden (R. 614a–621d); man beachte die ausführliche Beschreibung der Wahl des neuen Lebens durch die Seelen in R. 617d2–620d5 (die eben darauf beruht, welches Leben man gelebt hat, denn dies führt zu einer habituellen Änderung des Zustands der Seele; die Lotterie ist nicht entscheidend: siehe Ilievski 2017). Siehe für den Zusammenhang Robinson 1990, zum Mythos von Er Halliwell 2007. Das Ziel ist, dorthin zu gelangen, wo die Seelen ihren natürlichen Platz haben, am Himmel (und so in der Weltseele aufzugehen?; schließlich ist diese nicht der ‚Wahrnehmung‘ ausgesetzt, da ja nichts außerhalb existiert). Vgl., wenn auch mit anderem Fokus als beim Mythos von Er, Phdr. 245c–249d, speziell 246e–248a. Zur ‚Verstandeslosigkeit‘ (ἄνοια) als der spezifischen Krankheit der Seele mit den zwei Unterformen ‚Wahnsinn‘ (μανία) und ‚mangelnder Bildung‘ (ἀμαθία) siehe Lautner 2011 und auch Cornford 1937, 343–349.

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nissen der beiden untersten Seelenteile hingeben, denn dies binde die Seele an den menschlichen Körper und mithin allgemein das Körperliche (Ti. 90b1–6), sondern derjenige, der ‚sich mit Eifer um die Liebe des Lernens und um wahre Gedanken bemüht sowie den unsterblichen Seelenteil trainiert‘ (Ti. 90b6–c1: τῷ δὲ περὶ φιλομαθίαν καὶ περὶ τὰς ἀληθεῖς φρονήσεις ἐσπουδακότι καὶ ταῦτα μάλιστα τῶν αὑτοῦ γεγυμνασμένῳ), müsse „Unsterbliches und Göttliches denken“ (Ti. 90c1: φρονεῖν […] ἀθάνατα καὶ θεῖα) und werde so zwangsläufig (das heißt garantiert) im höchsten menschenmöglichen Grad Unsterblichkeit (ἀθανασία) erlangen, mithin gottgleich (auch, weil man durch die Pflege des Göttlichen wohlgeordnet ist und der Gott dann in einem selbst wohnt: ἀεὶ θεραπεύοντα τὸ θεῖον ἔχοντά τε αὐτὸν εὖ κεκοσμημένον τὸν δαίμονα σύνοικον ἑαυτῷ [Ti. 90c4 f.]) und „in außerordentlichem Maße glückselig werden“ (Ti. 90c5 f.: διαφερόντως εὐδαίμονα εἶναι; insgesamt Ti. 90b6–c6). Hierzu gebe es für alle Menschen nur einen einzigen Weg, wie Platon am eigentlichen Höhepunkt des gesamten Dialogs Timaios ausführt (Ti. 90c6–d7):58 θεραπεία δὲ δὴ παντὶ παντὸς μία, τὰς οἰκείας ἑκάστῳ τροφὰς καὶ κινήσεις ἀποδιδόναι. τῷ δ’ ἐν ἡμῖν θείῳ συγγενεῖς εἰσιν κινήσεις αἱ τοῦ παντὸς διανοήσεις καὶ περιφοραί· ταύταις δὴ συνεπόμενον ἕκαστον δεῖ, τὰς περὶ τὴν γένεσιν ἐν τῇ κεφαλῇ διεφθαρμένας ἡμῶν περιόδους ἐξορθοῦντα διὰ τὸ καταμανθάνειν τὰς τοῦ παντὸς ἁρμονίας τε καὶ περιφοράς, τῷ κατανοουμένῳ τὸ κατανοοῦν ἐξομοιῶσαι κατὰ τὴν ἀρχαίαν φύσιν, ὁμοιώσαντα δὲ τέλος ἔχειν τοῦ προτεθέντος ἀνθρώποις ὑπὸ θεῶν ἀρίστου βίου πρός τε τὸν παρόντα καὶ τὸν ἔπειτα χρόνον. Es gibt in Hinblick auf jeden [Seelenteil] nur eine einzige Art der Pflege für jeden: jedem die für ihn spezifischen Arten der Ernährung und Bewegung zu geben. Diejenigen Arten der Bewegung, die mit dem Göttlichen in uns verwandt sind, sind die Gedanken und Kreisbewegungen des Alls. Jeder muss, indem er diesen folgt und die Kreisbewegungen, die bei der Geburt in unserem Kopf zerstört wurden, mittels des genauen Erlernens der Harmonien und Kreisbewegungen des Alls zurechtrückt, das Denken an das Gedachte angleichen in Entsprechung zu dessen ursprünglicher Natur und, wenn er dies getan hat, das Ziel erreichen desjenigen besten Lebens, das den Menschen von den Göttern vorgesetzt worden ist für die gegenwärtige und die zukünftige Zeit.

Der Weg zur (überhaupt menschenmöglichen) Göttlichkeit führt über die Astronomie. Sie nimmt ihren Ausgang vom Sehen. Den Anfang macht die Betrachtung der Kreisbewegungen des Himmels in der Sinneswahrnehmung; angesichts des physikalischen Mechanismus, der der Sinneswahrnehmung des Sehens unterliegt, beginnt dies den Prozess, die Kreisbewegungen des unsterblichen Seelenteils wiederherzustellen (Ti. 47b5–c4):

|| 58 Zum letzten Punkt vgl. Zeyl 2000, lxxxvii: Auf die Passage folgen nur noch, gewissermaßen als Appendix, die Ausführungen zur Erschaffung von Frauen und nicht-menschlichen Lebewesen (siehe Cornford 1937, 354 f.; siehe 292 f. für eine Erklärung für diese Anordnung). Die menschliche Seele ist freilich, insofern sie aus den drei Seelenteilen besteht, prinzipiell an das Körperliche gebunden und kann diesem nicht entfliehen: siehe Robinson 1990; vgl. R. 611a4–8 zur Konstanz der Zahl der Seelen. Zur Stelle siehe auch Sedley 1997 (mit instruktivem Vergleich mit Aristoteles) und Carone 1997.

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ἀλλὰ τούτου λεγέσθω παρ’ ἡμῶν αὕτη ἐπὶ ταῦτα αἰτία, θεὸν ἡμῖν ἀνευρεῖν δωρήσασθαί τε ὄψιν, ἵνα τὰς ἐν οὐρανῷ τοῦ νοῦ κατιδόντες περιόδους χρησαίμεθα ἐπὶ τὰς περιφορὰς τὰς τῆς παρ’ ἡμῖν διανοήσεως, συγγενεῖς ἐκείναις οὔσας, ἀταράκτοις τεταραγμένας, ἐκμαθόντες δὲ καὶ λογισμῶν κατὰ φύσιν ὀρθότητος μετασχόντες, μιμούμενοι τὰς τοῦ θεοῦ πάντως ἀπλανεῖς οὔσας, τὰς ἐν ἡμῖν πεπλανημένας καταστησαίμεθα. Aber hierfür, so sei von uns gesagt, ist dies die Ursache zu diesem Zweck, nämlich dass der Gott für uns das Sehen erfand und uns mit ihm beschenkte, damit wir die Kreisbewegungen des Verstands [νοῦς] im Himmel genau erblicken und für die Kreisbewegungen des Denkens [der wohlgemerkt διανόησις] bei uns nutzen – welche mit jenen verwandt sind, und zwar als gestörte mit ungestörten – und, wenn wir sie ganz genau erlernt haben und einen Anteil erlangt haben an der Richtigkeit von Berechnungen gemäß der Natur, in Nachahmung der Kreisbewegungen des Gottes, die gänzlich ohne Herumirren sind, auf diese Weise die Kreisbewegungen in uns, die in einem Zustand des Herumirrens sind, wiederherstellen.

Dafür, dass die Menschen die astronomischen Kreisbewegungen zu sehen beginnen können, ist speziell durch die Sonne gesorgt (Ti. 39b2–c2): Sie ist das sichtbare grundlegende Maß (Ti. 39b2: μέτρον ἐναργές) der Bewegung und Geschwindigkeit aller Himmelskörper; sie wurde zu diesem Zweck erschaffen, „damit sie im höchsten Maße den Himmel mit Licht erfüllt und all diejenigen Lebewesen an der Zahl teilhaben, denen dies zukommt, indem sie sie von der Kreisbewegung des Selben und des Ähnlichen erlernen“ (Ti. 38b5–c1: ἵνα ὅτι μάλιστα εἰς ἅπαντα φαίνοι τὸν οὐρανὸν μετάσχοι τε ἀριθμοῦ τὰ ζῷα ὅσοις ἦν προσῆκον, μαθόντα παρὰ τῆς ταὐτοῦ καὶ ὁμοίου περιφορᾶς). Die Sonne hat im mathematischen Sinn die Funktion der ‚Eins‘, nämlich als das grundlegende Maß aller Bewegung (vgl. Euklid, Elem. 7, def. 1 in Verbindung mit def. 2). Dies entspricht den semantischen Verhältnissen im Sonnengleichnis, insbesondere in Hinsicht auf die Parallelisierung mit dem Guten (und dann auch aus dieser Perspektive zugleich ‚Einen‘, nämlich als dessen „Abkömmling“ [ἔκγονος]: vgl. oben Kap. 6.3). Die von der Sonne gemessene Kreisbewegung ist freilich nichts anderes als die grundlegende, fundamentale Bewegung der Weltseele des Kosmos: Diese bewegt sich in kreisförmiger Bewegung (Ti. 34a8–35a1), und zwar als untrennbare Mischung von „dem Selben“, „dem Anderen“ und „Sein“ (Ti. 35a1–8), aufgeteilt in verschiedenen Proportionen in sieben ungleiche Teile, die musikalischen Intervallen und speziell dem Abschnitt einer Tonleiter im Umfang einer Oktave entsprechen (Ti. 35b1– 36b6) und sich in gegensätzlicher Richtung und in unterschiedlichen, aber dennoch proportionalen Geschwindigkeiten bewegen, in Entsprechung nämlich zu den sichtbaren Bewegungen der Himmelskörper (Ti. 36c7–d7).59 || 59 Hier zeigt sich eine musikalische Dimension, die die Astronomie mit der Harmonielehre verbindet: siehe Creese 2010, 156–162 (sowie 126 f.), auch Kytzler 1959 und Sier 2010. Die astronomischen Partien im Timaios (insbesondere Ti. 29d–40d) sind in der Forschung ausführlich und kontrovers diskutiert worden. Hier sind die Einzelheiten nicht relevant: siehe für einen Überblick Cornford 1937, insbesondere 33–137. Speziell zu den (in der Wahrnehmung irregulären) Planetenbewegungen (vgl. etwa Ti. 40c5) siehe unter anderem Vlastos 2005, 106–108, auch Guetter 2003; zu weiteren zentralen

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Vor diesem Hintergrund zeigt die Sonne die eigentliche Kreisbewegung der Weltseele wahrnehmbar an, und dies gilt aufgrund von deren Konstitution ebenso für das Maß der kosmischen Bewegungen insgesamt, die sich in weiteren, kompliziert-komplexen Periodizitäten offenbaren: ‚Aus dieser Kreisbewegung der einzigen und klügsten Umdrehung entstanden Tag und Nacht‘ (Ti. 38c1 f.: νὺξ μὲν οὖν ἡμέρα τε γέγονεν οὕτως καὶ διὰ ταῦτα, ἡ τῆς μιᾶς καὶ φρονιμωτάτης κυκλήσεως περίοδος), und ebenso zeigt etwa der Mond den Monat an, wenn er seine eigene Kreisbewegung vollendet und die Sonne einholt, oder die Sonne das Jahr, wenn sie ihren eigenen Kreis durchquert hat; Entsprechendes ließe sich auch für die anderen Planeten feststellen, nur mache man dies wegen der komplizierten Verhältnisse kaum und es gebe bisher noch keine Namen für diese Umläufe (Ti. 39c3–e2)60 – wie ja auch für die übrigen Bewegungen der Himmelskörper insgesamt (Ti. 40c3–d5), welche die „Zahlen der Zeit“, das heißt die zeitlichen Abläufe im gesamten Kosmos anzeigen, erschaffen und bewahren (Ti. 38c6: εἰς διορισμὸν καὶ φυλακὴν ἀριθμῶν χρόνου γέγονεν).61 Zwar ist Ausgangspunkt der Erkenntnis all dessen in der Tat die Beobachtung der Sonne, aber hiermit ist die Aufgabe noch nicht bewältigt. Im Gegenteil sind die benötigten astronomischen Einsichten nicht einfach zu erlangen – wie schon die in diesem Abschnitt des Timaios vorgenommene komplexe Beschreibung (der Details und Komponenten) der Bewegungen der Himmelskörper selbst und eben die Aussparung der noch schwierigeren und / oder noch überhaupt nicht bekannten und benannten Periodizitäten handgreiflich demonstriert.62 Dies verweist auf den entscheidenden Punkt: Das von der Sinneswahrnehmung ausgehende und letztlich auf ihr basierende (da eben mit den Periodizitäten der ‚sichtbaren‘ Himmelskörper beschäftigte) Verständnis der Kreisbewegungen am Himmel kann zwar helfen, den Prozess der Wiederherstellung der Kreisbewegungen im Menschen zu beginnen und ist und bleibt ihr Ausgangs- und Bezugspunkt, allein ist sie jedoch nicht hinreichend – sind doch schon im relativ einfachen Fall der Sonne die Bewegungen in der Sinneswahrnehmung im Laufe des Jahres von Tag zu Tag verschieden und also insgesamt gewiss || Problemen in dieser Hinsicht siehe Zeyl 2000, xliv–l und vgl. die folgende Anm. 60. Siehe auch oben das Ende von Kap. 6.5. Relevant ist selbstverständlich, dass die Kreisbewegung die ausgezeichnete Bewegung im Körperlichen ist: Lg. 893b–894c; vgl. Pietsch 2003. 60 Dazu, dass Platon die Regularität der Bewegung an dieser Stelle voraussetzt, siehe Vlastos 2005, 101 f. Zum implizierten ‚Großen Jahr‘ (speziell im Vergleich mit Ti. 22c–d) siehe van der Sluijs 2006. Siehe allgemein auch van der Waerden 1952; in der Zusammenstellung der Zeugnisse dort wird deutlich, dass in der (insbesondere pythagoreischen) Tradition das ‚Große Jahr‘ nur durch die periodische Wiederkehr derselben (Planeten-) Konstellation definiert war, das heißt durch das Kriterium der erneuten Anwesenheit der Planeten an einer bestimmten Stelle des Himmels nach einer gewissen Zeit; dies impliziert nicht, dass sich die Planeten in der Zwischenzeit auf gleichförmigen (Kreis-) Bewegungen befinden müssen (pace van der Waerden 1952, 131), sondern ist ein Zeugnis für eine ereignis-, das heißt korrelationsbasierte Astronomie. Hierin unterscheidet sich die angeführte Timaios-Stelle. 61 Siehe Sattler 2010; zu Platons Zeittheorie siehe Mesch 1997 und umfassend Schmidt 2012. 62 Zu dieser wichtigen Stelle siehe Vlastos 2005, 50 f.

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nicht ohne Weiteres als einfache Kreisbewegungen (um die Erde) der Beschreibung zugänglich.63 In diesem Sinn erfordert die wahre Erkenntnis der astronomischen Verhältnisse eine dezidiert theoretische Mathematik – und zwar exakt eine solche Mathematik, wie sie das gesamte Bildungsprogramm in Politeia VII beschreibt:64 (1) Nicht nur umfasst ein mathematisches Verständnis der Bewegungen der Himmelskörper als Astronomie als Mathematik des dreidimensionalen Körpers in sichtbarer Bewegung auch die anderen mathematischen Disziplinen Arithmetik, Geometrie und Stereometrie (entsprechend der Herleitung in Politeia VII), sondern gefordert ist auch die musikalische Harmonielehre als Mathematik des dreidimensionalen Körpers in hörbarer Bewegung. Schließlich bewegen sich die Himmelskörper periodisch, mithin in der zeitlichen Dimension exakt-proportional aufeinander abgestimmt, in Entsprechung zur Konstitution der Weltseele (vgl. oben und siehe Ti. 38c6; vgl. Ti. 36e6–37a1: λογισμοῦ δὲ μετέχουσα καὶ ἁρμονίας, bezogen auf den Körper des Alls). (2) Allerdings darf die geforderte Form von Mathematik nicht in der Beobachtung, also auf der Stufe der Wahrnehmung verbleiben, sondern muss – wenn auch unhintergehbar ausgehend von dieser, da sie ja erst den Zugriff auf die Kreisbewegungen der göttlichen Himmelskörper ermöglicht – mit der ‚Setzung‘ einfacher regulärer mathematischer Objekte operieren, die die scheinbaren Bewegungen in die wahren, intelligiblen Bewegungen, das heißt die mathematischen Zusammenhänge überführt. Sachlich entspricht dies dem Programm der ‚Rettung der Phänomene‘. (3) In diesem Sinn muss schließlich eine reine theoretische Mathematik euklidischen Typs betrieben werden: Man muss verstehen, welche mathematischen Objekte es überhaupt gibt, wie also die Objekte der physikalischen Welt im Bereich des Intelligiblen repräsentiert sind, und zwar als ‚Reflexionen der Formen im Wasser‘. Mathematische Bildung ist die unabdingbare Voraussetzung für die Erkenntnis der Bewegungen am Himmel, deren Beobachtung in der Sinneswahrnehmung wiederum andererseits der Ausgangs- und Referenzpunkt jeglicher mathematischer Forschung ist, sind doch diese Bewegungen überhaupt nur durch die Sinneswahrnehmung zugänglich. Damit aber ist ebenso vorausgesetzt, dass nicht nur die periodischen Bewegungen der Himmelskörper, sondern auch die physikalische Konstitution der gesamten Welt mathematisch beschrieben werden muss, einschließlich des Menschen und der Organe seiner Sinneswahrnehmung. Hieraus erklärt sich speziell das Erfordernis einer mathematisch fundierten Theorie der Elemente als der fundamentalen Bausteine der physikalischen Welt, ganz so, wie im Timaios ausgeführt.

|| 63 Vgl. Lloyd 1970, 85 f.; siehe auch Vlastos 2005, 32–35. 64 Siehe für eine Diskussion des hier als notwendig beschriebenen Bildungsprogramms Carone 1997 (überraschenderweise ohne Verweis auf Politeia VII) und Cavagnaro 1997 (allerdings besteht der von ihr behauptete Unterschied zu Politeia VII tatsächlich nicht, denn auch dort ist Astronomie, wie gesehen, ein integraler Bestandteil des Bildungsprogramms).

Fazit | 405

Erst auf der Grundlage einer derart betriebenen Mathematik ist es schließlich möglich, Philosophie und mithin ‚Dialektik‘ zu betreiben, das eigentliche Ziel der gesamten Bemühungen: Schließlich wurde diese den Menschen von den Göttern zu eben diesem Zweck gegeben und stellt das höchste Gut für sterbliche Wesen dar (Ti. 47a7–b2: ἐξ ὧν ἐπορισάμεθα φιλοσοφίας γένος, οὗ μεῖζον ἀγαθὸν οὔτ’ ἦλθεν οὔτε ἥξει ποτὲ τῷ θνητῷ γένει δωρηθὲν ἐκ θεῶν). Schließlich vermag sie es, am Ende zum absoluten Anfang selbst zu gelangen, nämlich über eine Reduktion des in der Harmonielehre und der Astronomie gegebenen komplexen Zusammenhangs der Bewegungen der gesamten Welt über die einzelnen Dimensionen zur ersten Dimension und mithin zur Zahl – und letztlich zur Erkenntnis, dass und vor allem wie die Welt ‚eine‘ ist. Mit dieser Erkenntnis (oder besser: Schau) aber, so entsprechen sich Timaios und Politeia explizit und unmissverständlich, wird der Mensch zu einem Gott.

7.4 Fazit Um ein Fazit zu ziehen: Platon beschreibt im Timaios alle physikalischen Prozesse als Interaktion von Elementarteilchen. Das spezifische Verhalten dieser Teilchen beruht auf ihren Eigenschaften als physikalischen Körpern, die eine Entsprechung in den qualitativ-quantitativ relationalen (und eben nicht numerisch-exakten) Eigenschaften von ihnen aufgrund beobachtbarer physikalischer Eigenschaften dieser Körper als korrespondierend gesetzten mathematischen (regulären) Körpern haben. Diese relationalen Eigenschaften besitzen die mathematischen Körper sowohl (potentiell) an sich als auch (aktual) aufgrund ihrer Verbindung mit anderen mathematischen Körpern, das heißt sowohl als eigenständige Objekte als auch aufgrund ihrer Kombination in eine diagrammatische Struktur. Die sich zeigenden mathematischen Eigenschaften werden im Sinn einer Ursache für korrespondierende physikalische Eigenschaften gedeutet; diese wiederum rufen in der Interaktion mit den Sinnesorganen (nach demselben Prinzip) sekundär spezifische, als solche eindeutig kausal bestimmte Wahrnehmungsinhalte hervor (nämlich als physikalische Prozesse). Entsprechend nimmt das Projekt der Beschreibung der physikalischen Welt seinen Ausgang von der Sinneswahrnehmung und ist insofern von dieser in einer unhintergehbaren Weise abhängig. Schließlich präsentiert sich die körperliche Welt direkt nur in der Sinneswahrnehmung, und sie determiniert aufgrund ihrer physikalischen Verfasstheit, welche Eigenschaften wie wahrgenommen werden (können). Aus diesem Grund erweist sich eine physikalische Theorie der Sinneswahrnehmung als unabdingbar, um über die Klärung der hierbei involvierten Prozesse zu den relevanten physikalischen und in einem weiteren Schritt zu den mit ihnen verbundenen mathematischen Eigenschaften der beteiligten Körper vordringen zu können. In diesem Prozess wird die nur in Form von kontradiktorischen Sinneseindrücken erfahrbare Dynamik der physikalischen Welt auf eindeutige und nicht-widersprüchliche physikalische Eigenschaften der Körper selbst – und das heißt: ihrer statischen Struktur,

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aus der sich diese Eigenschaften in der dynamischen Interaktion mit anderem Körperlichen ergeben – und diese auf die Statik der mathematischen Objekte und Sachverhalte, fassbar im mathematischen Diagramm, zurückgeführt.65 Insgesamt umfasst die platonische Physik in diesem Sinne unhintergehbar drei ikonisch aufeinander abgebildete Dimensionen: die der Sinneswahrnehmung, die der körperlichen Prozesse und die der mathematischen Sachverhalte – und zusätzlich natürlich als vierte ebenfalls die der Formen, sind die mathematischen Objekte doch den Gleichnissen der Politeia zufolge (essentiell als ähnlich konstituierte) ‚Reflexionen der Formen im Wasser‘. Im ursächlichen Einbezug einer eigenständig existierenden mathematischen Dimension – konkret verstanden als Bereich mit von den physikalischen Dingen ontologisch unabhängigen Gegenständen, die zu diesen in einer Relation von Kausation und nicht Korrelation stehen –, unterscheidet sich Platons Ansatz kategorial von den bekannten pythagoreischen Ansätzen, etwa bei Archytas, für den die Mathematik letztlich lediglich eine rein deskriptive, korrelative Beschreibung der beobachtbaren physikalischen Prozesse mit der Hilfe von Zahlen gewesen zu sein scheint, ohne dass dies jedoch irgendeine Ursächlichkeit für die physikalischen Prozesse impliziert hätte; diese wurde im Gegenteil spekulativ mittels metaphorischer Modelle zu bestimmen versucht, die ein (per Definition nicht-relational konstituiertes) image umfassen. Ähnliches gilt einerseits ebenso für Demokrits Physik, die weder die eigenständige mathematische Ebene kennt noch überhaupt an einer spezifischen Erklärung der Sinneswahrnehmung interessiert ist (oder diese angesichts des grundsätzlichen Zuschnitts der Theorie überhaupt leisten könnte); andererseits aber auch und erst recht für die traditionellen Formen von ‚Mathematik‘, etwa die ‚Landvermessung‘ oder ‚Sternenkunde‘ (vgl. oben Kap. 4.6 und Kap. 5.5): Sie scheinen als empirisches Erfahrungswissen überhaupt nicht den Anspruch auf Erklärung erhoben zu haben, sondern waren nur auf die gelingende Nutzung von direkt beobachteten Korrelationen aus, etwa zur Optimierung des Kalenderwesens, der Sicherheit in der Seefahrt oder der Verbesserung des ästhetischen Eindrucks von Bauwerken.66 Auf der anderen Seite zeigt sich zugleich ein deutlicher Unterschied zur modernen Naturwissenschaft, insofern bei Platon (unter anderem) die Reduktion auf statische mathematische Sachverhalte, die in der spezifischen Form der involvierten mathematischen Objekte begründet sind, und eben dezidiert (und gewollt) keine dynamische Beschreibung von Prozessen erfolgt, etwa in Form von Differentialgleichungen; der Begriff des moder|| 65 Vgl. Kung 1989 (allerdings ohne Trennung der gegenständlich-physikalischen von der mathematischen Dimension) sowie White 1989. 66 Dies schließt natürlich nicht aus, dass ein Interesse daran bestanden haben könnte, die Kenntnis dieser Korrelationen ausgehend von dezidiert theoretischen Erwägungen zu optimieren, gegebenenfalls unter Nutzung von partikularen Diagrammen: Exakt dies lässt sich ja allem Anschein nach für das (späte) 5. Jh. v. Chr. feststellen; siehe oben, insbesondere Kap. 4.6 und Kap. 5.5. Hieraus folgt aber nicht, dass diese Tätigkeiten Mathematik ‚euklidischen‘ Typs gewesen wären.

Fazit | 407

nen Naturgesetzes ist Platon fremd.67 Dies verweist jedoch auf den hier interessierenden Punkt: Platons Physik beruht auf und ist kompatibel mit der methodologischen Praxis der mathematischen Modellierung, wie sie sich als für die Mathematik euklidischen Typs charakteristisch erwiesen hat. Im Ergebnis erweist sich die im Timaios explizierte praktische mathematische Modellierung der Welt in der Tat als direkte und exakte Anwendung der in der Politeia entfalteten Theorie der mathematischen Modellierung, und zwar zu genau demselben Zweck wie dort entfaltet: nämlich der Erkenntnis der physikalischen Welt im Ausgang von der Sinneswahrnehmung, um, aus deren Fesseln befreit, aus der Höhle in den Bereich des Intelligiblen zu entfliehen und dort schließlich zur Schau des Guten selbst als der höchsten Erkenntnis überhaupt zu gelangen. Wie in der Politeia wird der Mensch im Bereich des Physikalisch-Körperlichen lokalisiert, und seine Fesselung erweist sich als durch einen fundamentalen und unhintergehbaren Aspekt der condicio humana bedingt, nämlich die Verkörperung der Seele, aufgrund deren es nur mehr möglich ist, die Reflexionen an der Schattenwand, das heißt Sinneswahrnehmungen wahrzunehmen – die aber nur (und zugleich doch auch) ikonische Abbildungen der eigentlichen physikalischen Gegebenheiten sind. Aus diesem Zustand befreit die Gefangenen das Studium von Mathematik ‚euklidischen‘ Typs; sie erlaubt, nicht zuletzt als Mathematik des Dreidimensionalen, mithin des ‚gereinigten‘ Bereichs des Körperlichen, durch den Sprung ins Intelligible die wirkliche, ‚rationale‘ Konstitution der physikalischen Welt zu erschließen und zu verstehen. Die sachliche Grundlage ist, dass aufgrund der fundamentalen Beschaffenheit der Welt jedem physikalischen ‚Gegenstand‘ ein spezifischer mathematischer Gegenstand entspricht, dessen relationale Verfasstheit – die eben nicht numerisch-exakte, sondern qualitativ-quantitative Relationen ausmachen – die spezifischen Ursachen des Verhaltens im Bereich des Körperlichen bedingt, und zwar in einer allgemeinen und nicht an den partikularen Einzelfall gebundenen Weise. So macht das Betreiben theoretischer Mathematik ‚euklidischen‘ Typs einerseits die allgemeinen Eigenschaften der mathematischen Objekte an sich zugänglich, andererseits wird es aber gerade hierdurch – und zwar speziell durch die im Zuge dessen erfolgende Elimination des Beitrags der ἀνάγκη (‚Notwendigkeit‘), die sich nicht zuletzt in den in der Sinneswahrnehmung involvierten Prozessen manifestiert, mit der Folge der Verwirrung des Denkens und somit der Krankheit des unsterblichen Seelenteils des Menschen, der ‚Verstandeslosigkeit‘ und ‚Ungelehrtheit‘ – möglich, das Wirken des νοῦς (der ‚Ratio‘) in der physikalischen Welt zu erkennen, verkörpert in der Bewegung der Weltseele, die sich am reinsten in der Sonne und der komplexen Kompositionalität der Bewegungen der übrigen Himmelskörper offenbart.68

|| 67 Zu diesem Unterschied vgl. (wenn auch aus anderer Perspektive) von Fritz 1961, speziell 632–636. 68 Siehe auch Strange 1985, speziell in Hinsicht auf die ethische Dimension (besonders 34). Der konkrete Zusammenhang ist wohl der, dass die primäre Bewegung der Seele als desjenigen, was prinzi-

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All diese, ein langes Studium der Mathematik ‚euklidischen‘ Typs in all ihren Formen erfordernden Mühen legen die Grundlage dafür, in einem letzten Schritt die wahren Prinzipien, die diesen komplexen Bewegungen zugrunde liegen, zu erkennen – und also die Rationalität nicht nur der sichtbaren Welt, sondern vermittelt über diese ‚Reflexionen im Wasser‘ zuerst auch das Wesen der Formen und am Schluss sogar des Guten selbst, desjenigen Prinzips also, das Sein und Wahrheit ursächlich hervorbringt – und zwar exakt so, wie im physikalischen Bereich als dessen Abkömmling gerade die Sonne Werden und Wahrnehmung ursächlich hervorbringt, nämlich als Hüterin der Zahl der Zeit durch die periodische Überführung des Kosmos in sich selbst, um ihn immer wieder aufs Neue mit sich selbst ‚eins‘ werden zu lassen.

7.5 Epilog: Der Weg auf und ab Ausgehend von den Erkenntnissen zur mathematischen Modellierung im Timaios erweist sich in der Rückschau, dass der von Platon als grundlegend dargestellte epistemische Prozess einschließlich seiner Basis in der condicio humana in den drei Gleichnissen der Politeia nicht nur theoretisch beschrieben, sondern unmittelbar im Akt der ikonischen Modellierung mimetisch-selbstreflexiv praktisch nachvollzogen wird, und zwar vermittels des Instruments eines komplexen, mindestens vierschichtigen metaphorischen Modells, das metaphorische Modelle umfasst, die bildliche, diagrammatische und metaphorische Modelle umfassen, von denen wiederum letztere weitere ikonische Modelle umfassen. Zum Abschluss dieser Studie werde ich diesen Zusammenhang durch einen letzten, integrativen Blick auf die Gleichniskette aufzeigen. Die eindrucksvolle unmissverständliche Konvergenz von Inhalt und Form wird eine inhaltliche Bestätigung der entfalteten Interpretation von Politeia VI–VII aus einer dezidiert literaturbezogenen Perspektive liefern, und zwar speziell in Hinsicht auf Wesen, Funktion und Bedeutung von Mathematik für Platon und in der Implikation ebenso auf seine Rolle im historischen Prozess der Erfindung der Mathematik ‚euklidischen‘ Typs. Zugleich bestätigt sich exemplarisch die Einsicht, dass Platons Schriften auch und gerade als Text nur auf dem Fundament eines hinreichend durch ein modernes (wissenschaftsphilosophisch-) theoretisches Instrumentarium gesicherten Verständnisses der philosophischen sowie hier speziell mathematischen Sachzusammenhänge hermeneu-

|| piell allein Bewegung initiieren kann, von den sekundären Bewegungen in der Modellierung des Körperlichen geschieden werden, mit dem Ergebnis eines direkten Zugriffs auf die primären und also eigentlich rationalen Bewegungen; vgl. Lg. 893b–895b und Ti. 46c–e; siehe Gaiser 1968, 173–201 und Horn 2005, auch Pietsch 2003; siehe aus anderer Perspektive Lautner 2011. Im Höhlengleichnis entspricht dies dem Umstand, dass die Menschen, die die Dinge hinter der Mauer entlangtragen, offenkundig die verkörperten und wahrnehmbaren, aber alle Bewegung verursachenden Seelen sind (sei es der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, der Himmelskörper oder der Weltseele). Vgl. oben Anm. 55.

Epilog: Der Weg auf und ab | 409

tisch angemessen verstanden werden können – und dass andererseits diese Sachzusammenhänge selbst, da in der Form genuin literarischer Texte gegeben, ebenfalls nur auf einem solchen integrativ-philologischen Weg freigelegt werden können.69 (1) Die Gleichniskette der Politeia – die ja den Zweck hat, das Gute zu bestimmen und den Weg dorthin aufzuzeigen – beginnt, wie sich vor dem Hintergrund der Erkenntnisse zum Timaios zeigt, nicht ohne Grund und Pointe gerade mit dem SonnenGleichnis: Uneingeweiht in Platons Philosophie sind wir als Leserinnen und Leser der Politeia wie die Menschen in der Höhle gefesselt und blicken vor uns an die Wand, wo sich die ‚Phänomene‘ der Sinneswahrnehmung zeigen. Hier sehen wir (im Modus des ‚Hörens‘, da es sich bei der Politeia ja um ‚Literatur‘ handelt) die Sonne selbst. Sie zeichnet sich, wie Platon selbst das Bild expliziert, dadurch aus, dass sie in einer spezifischen Relation zu den Elementen der beiden fundamentalen Gegenstandsklassen des körperlichen Bereichs steht, einerseits den durch das ‚Sehen‘ gegebenen Schatten an der Höhlenwand (stellvertretend für die Wahrnehmung in konkreter Hinsicht) und andererseits dem ‚Gesehenen‘ (den physikalischen Dingen, die diese Schatten = Wahrnehmungsinhalte erzeugen). Die spezifische Relationalität ist die Grundlage dafür, dass die Sonne in Verbindung mit den grundlegenden Gegenstandsklassen des körperlichen Bereichs als ‚Bild‘ für das Intelligible dient. So wird uns dessen grundlegende relationale Beschaffenheit im Sonnengleichnis bildlich vor Augen geführt, und zwar im Rahmen einer Metapher, die die beiden ontologisch verschiedenen Bereiche mit ihren jeweils sich entsprechenden Teilen als ähnlich deutet. Das mit dem Sonnengleichnis gegebene Bild des Körperlichen (speziell der Sonne) auf der Höhlenwand vor uns ist zwar nicht das Körperliche (speziell die Sonne) ‚selbst‘. Aber indem wir in ihm die spezifische relationale Konstitution des Körperlichen wahrnehmen, beginnt der Prozess unserer Befreiung aus den Fesseln: In der Betrachtung des Bildes gewinnen wir eine ‚wahre Meinung‘ und erschließen einen Aspekt der hinter der Wahrnehmung stehenden ‚wahren‘ Realität des Werdenden – reagieren aber, wie von Glaukon als unserem Vertreter im Dialog gespiegelt und wie die Gefangenen in der Höhle, mit aporetischem Staunen (R. 509c1–4). Gleichwohl sollten wir, obwohl das Bild die Relationen nur feststellt und offenkundig nicht belegt (das heißt keinen λόγος gibt), dennoch bis auf Weiteres ‚Vertrauen‘ in die gewonnenen Einsichten haben, jedenfalls solange wir uns Platons Führung an-‚vertrauen‘. (2) Insofern die für die Befreiung aus den Fesseln der Wahrnehmung relevanten Relationen im Ausgang von etwas genuin Körperlichem gewonnen wurden und auf diesem beruhen, handelt es sich nicht um ‚Wissen‘, ja: nicht einmal um etwas genuin Intelligibles. Der Status der Einsichten so weit ist offenkundig der von ‚wahrer Meinung‘. Zu etwas Intelligiblem werden sie jedoch mit dem nächsten Schritt, dem Liniengleichnis, und zwar als expliziter direkter Fortführung des Sonnengleichnisses:

|| 69 Die folgenden Ausführungen sind Wiedergabe und Zusammenfassung der bisherigen Resultate, und zwar in Anwendung auf die Gleichnisse; für die Herleitung siehe insbesondere Kap. 6.

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Wir ‚denken‘ – das allererste Wort des eigentlichen Liniengleichnisses ist wohlgemerkt der Imperativ νόησον (R. 509d1) – uns ein Diagramm und setzen also eine ‚Hypothesis‘, die die relevanten Relationen in der Form eines genuin intelligiblen Objekts repräsentiert, konkret eine mathematische Linie, die in zwei ungleiche Teile geteilt ist, welche wiederum in demselben Verhältnis geteilt sind. In genau diesem Moment führt uns Platon – nachdem wir im und durch das Sonnengleichnis durch das ‚Sehen‘ der physikalischen Relationalität im Bild schon aus unseren Fesseln befreit und zum Feuer (= der physikalischen Sonne und also der Sonne des Sonnengleichnisses) herumgewendet wurden – aus der Höhle, und wir blicken nach dem anstrengenden, mathematischen Aufstieg (konkret der Konstruktion der Linie) auf eine Spiegelung im Wasser. Konkret sehen wir dort, wie im Traum, das ‚Eine‘ und mithin ‚Gute‘: Die Linie repräsentiert schließlich die gesamte, einzige Welt, und zwar mitsamt der von diesem Einen implizierten ‚unbegrenzten Zweiheit‘, die von der mathematischen Segmentierung in ‚zwei ungleiche Hälften‘ repräsentiert wird, ontologisch entsprechend der grundlegenden Segmentierung der Welt in Gegenstandsklassen (und epistemologisch in Entsprechung zu den dazugehörigen Vermögen der Seele).70 Dieses mathematische Objekt können wir dann in seiner spezifischen Konstitution durch mathematische Forschung weiter in exakter und hinreichender Weise exakt (qualitativ-) quantitativ ergründen und verstehen, etwa in Hinsicht auf seine Proportionali-

|| 70 Man beachte das aufschlussreiche Ende des Sonnengleichnisses (R. 509c1–11): Glaukon ist überwältigt von der Schönheit der Sonne und bittet Sokrates, nicht aufzuhören und alles ganz genau zu erklären; dieser erwidert, er müsse vieles auslassen, „doch gleichwohl werde ich aus eigenem Willen nichts weglassen von all dem, was zum gegenwärtigen Zeitpunkt möglich ist“ (R. 509c9 f.: ὅμως δέ, ὅσα γ’ ἐν τῷ παρόντι δυνατόν, ἑκὼν οὐκ ἀπολείψω), von Glaukon bestätigend-auffordernd durch Μὴ γάρ (R. 509d11) aufgenommen. Dies ist jedoch, trotz der Gesprächsoberfläche (R. 509c6: ἀπολείπεις; R. 509c7: ἀπολείπω; R. 509c8: παραλίπῃς; R. 509c10: ἀπολείψω), weniger eine sogenannte „Aussparungsstelle“ (so etwa Szlezák 1993, 99 f.) als vielmehr die (durch die auffallende Wiederholung ironisch hervorgehobene) narrative Vorbereitung darauf, dass es jetzt (wenn auch indirekt und / oder gemäß eindeutiger Implikation), soweit es eben möglich ist, tatsächlich um das ‚Gute‘ = ‚Eine‘ geht, nämlich im Liniengleichnis: Νόησον τοίνυν (R. 509d1, mit einem Verständnis der Partikel gemäß Denniston 1950, 569–574 in ‚logischem‘ Gebrauch, dann am ehesten gemäß [3]: „responding to an invitation to speak“ [571 f.], und zwar als konditionierte Folgerung aus der Gesprächssituation: „‚then‘, ‚well then‘, ‚well now‘“ [568]). Sokrates’ Aufforderung ist sachlich die Antwort auf Glaukons Bitte, nicht aufzuhören, sondern „den Vergleich in Hinsicht auf die Sonne noch einmal durchzugehen“ (R. 509c5 f., speziell: τὴν περὶ τὸν ἥλιον ὁμοιότητα αὖ διεξιών). Das Liniengleichnis ist folglich eine exakte Wiederholung des Sonnengleichnisses, nur eben jetzt im genuin Intelligiblen. Damit aber ist das ‚Gute‘ (= die Sonne) per Implikation gerade dasjenige, was die Verstehbarkeit der konkreten Relationalität der ontologischen und relationalen Segmentiertheit der Welt (ebenso wie zuvor die der mathematischen Segmentiertheit der Linie selbst) verstehbar macht. Insgesamt erweist sich die Linie damit als Abbild der Dialektik der Prinzipienlehre aus Einheit und Zweiheit; dies konvergiert mit der Aristoteles zufolge von Platon und in der Akademie vertretenen Ansicht, dass die Linie die Zwei sei (vgl. zum Beispiel Metaph. 1036b12–17; siehe zu dieser Stelle knapp Strobel 2007, 310 und Bostock 1994, 160–162).

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tät; ein Beispiel ist selbstverständlich die, wie sich oben ja auch durch eigenes Nachrechnen ergeben hat, exakte Gleichheit der mittleren Segmente.71 Allerdings handelt es sich so weit nur um mathematisches, nicht philosophisches und mithin letztes Wissen. Dieses wird allgemein erst durch die dialektische Fortführung der mathematischen Studien gefunden.72 Platon führt uns entsprechend praktisch-mimetisch vor, was wir uns darunter vorzustellen haben. Wie der Mathematiker Platon es nämlich grundsätzlich zu tun hat, übergibt er die Linie dem Dialektiker Platon, indem er die genuin mathematischen Segmente der Linie explizit mit epistemologischen und ontologischen Begrifflichkeiten belegt. Damit beginnt unsere dialektische ‚Forschungsreise‘, die von einer (mathematischen) ‚Hypothese‘ (dem Diagramm und also ‚mathematischen Modell‘ der Linie) ihren Anfang nimmt, diese aber durch den Akt der Gleichsetzung als genuine ‚Hypothese‘ und ‚Startpunkt‘ fasst und in einen dialektischen Rahmen überführt. Das zweischichtige ‚metaphorische Modell‘ der Linie, in dem ein dyadisch-relational bestimmtes diagram dazu benutzt wird, eingebettet in eine metaphor für etwas anderes (die gesamte ‚Welt‘) zu stehen, wird zu einem genuin ‚diagrammatischen‘ Modell, das seine metaphorische Einbettung abgestreift hat und also einen direkten Zugriff auf die Relationalität der eigentlich interessierenden Entitäten (der Formen) ermöglicht.73 Gleichwohl, nehmen wir die Parallelität der Bereiche innerhalb und außerhalb der Höhle ernst, können wir die Formen selbst nicht sehen, sondern eben nur über sie sprechen (oder, anders ausgedrückt: einen λόγος geben) – sehen können wir nur ihre Reflexionen im Wasser, die mathematischen Gegenstände. || 71 Der erste, im Sonnengleichnis abgebildete Schritt entspricht dem Weg des Sklaven im Menon aus den ‚falschen Meinungen‘ über die ‚Aporie‘ zu den ‚wahren Meinungen‘, also dem an der Textoberfläche repräsentierten Erkenntnisprozess des Sklaven; der (hier entsprechend mögliche) Ausgang aus der Höhle ist zugleich auf der dem Gespräch mit dem Sklaven unterliegenden genuin mathematischen Ebene abgebildet (wenn auch im konkreten Fall nicht von ihm erreicht, denn er müsste, wie ausdrücklich festgestellt, noch weitere derartige Forschung betreiben), denn diese behandelt das Quadrat dezidiert als ‚mathematisches‘ (und eben nicht ‚physikalisches‘) Quadrat. Für die Zusammenhänge im Einzelnen siehe oben Kap. 4. Insofern ferner bei Platon allgemein die ‚Anamnesis‘ der ‚Dianoia‘ zugeordnet zu sein scheint (siehe knapp Tanner 1970, 83–85), bestätigt sich auch aus dieser anderen Perspektive die hier gegebene Explikation des grundsätzlichen Prozesses der Wissensgewinnung im Timaios und ebenso des Aufstiegs aus der Höhle in der Politeia. 72 Die weiteren Ausführungen zu Punkt (2) verweisen auf den Bereich von Formen und Dialektik. Insofern diese Studie diesen Bereich so weit im Großen und Ganzen ausgespart und nur wo notwendig einbezogen hat, sind sie weniger Zusammenfassung und Wiedergabe oben erzielter Ergebnisse denn Explikation der (wenn auch im Kontext eindeutigen und teils notwendigen) Implikationen aus den bisherigen Einsichten. Eine genaue Klärung muss an anderer Stelle erfolgen. 73 Erst jetzt liegt eine wissenschaftliche Theorie im eigentlichen, nicht mehr ‚metaphorischen‘ Sinn vor. Diese Zusammenhänge können hier nicht ausgeführt werden. Gleichwohl ist ein direkter Vergleich mit den anderen diskutierten Ansätzen instruktiv, sowohl der metaphorisch-pythagoreischen bzw. -naturphilosophischen als auch der deskriptiv-beobachtenden (oder -herstellenden) natur-‚wissenschaftlichen‘ Tradition.

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Die dialektische, ohne Wahrnehmung sich vollziehende Forschungsreise nimmt ihren Anfang bei und mit spezifischen Formen, führt allein durch diese hindurch und endet schließlich wieder in ihnen. Auf eine solche Reise führt uns Sokrates am Ende des ‚Liniengleichnisses‘ (also am Ende von Politeia VI), wenn wir mit ihm und Glaukon die Formen des epistemischen Bereichs in ihrer philosophischen Relationalität anordnen. Diese Relationalität ist diejenige Relationalität, die, insofern das mathematische Ausgangsdiagramm die gesamte Welt repräsentiert, das ‚Eine‘ und also das ‚Gute‘ repräsentiert, hier als ontologisch-epistemologisch wohlgeordnetes ‚Ganzes‘,74 unter direkter Aufnahme der Inhalte des Sonnengleichnisses. Insofern dieses ‚Ganze‘ / ‚Eine‘ weiter in der integrierten relationalen Qualität der gesamten, alle in dieser Hinsicht relevanten Formen umfassenden Struktur besteht, ist es auch ‚jenseits‘ dieser Formen selbst, nämlich als die spezifische Art ihrer relationalen Verknüpfung; es handelt sich um eine genuin dyadische Qualität. ‚Gut‘ ist dieses = ‚Ganze‘ = ‚Eine‘ dann deshalb, weil in dieser eindeutig bestimmten dyadisch-relationalen Struktur jeder einzelne Teil ‚das Seinige tut‘, mithin seine spezifische Funktion im wohldefinierten Gegensatz zu allen anderen Teilen erfüllt.75 Platonische Philosophie (‚Dialektik‘) bedient sich offenkundig derselben Methodik der ‚diagrammatischen‘ Modellierung wie die Mathematik ‚euklidischen‘ Typs einschließlich der Nutzung derselben Form qualitativ-quantitativer Relationalität, nur, insofern Gegenstand alle eigentlichen, wirklichen (da insbesondere einzigartigen und nicht in multipler Ausführung vorliegenden) Objekte (sc. Formen) im Bereich des Intelligiblen sind, für die diese Relationalität gilt, ‚im Wachen‘. Dabei ist es wie in der Mathematik gerade die qualitativ-quantitative Relationalität, deren Erkenntnis das Ziel der Forschung darstellt. Speziell die Erkenntnis des Guten ergibt sich damit (wie per Implikation jede Erkenntnis im Bereich der Formen) als (inhaltlich nicht auf die Gegenstände der Mathematik beschränktes, sondern die Form allgemeiner dyadischer Relationalität annehmendes) Äquivalent zu einem Diagramm euklidischen Typs, nämlich als holistische (= ‚eine‘ und systemische) Struktur (dyadischer) Relationalität. So ist mit Platon ‚die Philosophie‘ in der Tat, wie Aristoteles kritisch anmerkt (Metaph. 992a32 f.), zu (einer Form von) ‚Mathematik‘ geworden – aber eben in einem ganz und gar anderen Sinn als bei den Pythagoreern. Zugleich aber ist (und

|| 74 Siehe speziell R. 511d6–e5. Das in Satzanfangsstellung stark betonte μανθάνω im letzten Satz des Liniengleichnisses und also des gesamten sechsten Buches (R. 511e5) muss hier nicht speziell auf die μαθηματικά bezogen werden, denn das ‚Gute‘ ist ja hier durchgängig das μέγιστον μάθημα. Dies lässt sich also als signifikanter verborgener Hinweis deuten und also als Bestätigung der Deutung. 75 Dies ist natürlich die grundlegende Definition der Gerechtigkeit in der Politeia, des Inbegriffs des Guten, etwa in R. 433a8–b1 (und passim): „Und gewiss haben wir auch dies schon von vielen anderen gehört und auch selbst schon oft gesagt, nämlich dass ‚Gerechtigkeit‘ gerade darin besteht, das Eigene zu tun und nicht Vieles“ (Καὶ μὴν ὅτι γε τὸ τὰ αὑτοῦ πράττειν καὶ μὴ πολυπραγμονεῖν δικαιοσύνη ἐστί, καὶ τοῦτο ἄλλων τε πολλῶν ἀκηκόαμεν καὶ αὐτοὶ πολλάκις εἰρήκαμεν). Für eine prinzipiell relationale Deutung der Idee des Guten vgl. aus anderer Perspektive Hoffmann 2004, 241 f.

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dies verweist auf die andere, wissenschaftshistorische Dimension der vorliegenden Studie) die Mathematik genuin ‚philosophisch‘ geworden: Nur die ‚richtig‘ betriebene, im Sinne Platons reformierte Mathematik führt zum eigentlichen philosophischen Ziel und ist insofern zweckmäßig. (3) Vom Ziel der philosophischen Reise, dem Guten, führt uns der Weg mit dem Höhlengleichnis wieder zurück in die Höhle, den Bereich der ‚Bilder‘ der Wahrnehmung, programmatisch eingeleitet durch den an erster Inhaltsstelle stehenden Imperativ ἀπείκασον (R. 514a1), unmissverständlich ein wörtlicher Verweis auf den Seelenzustand der ‚Eikasia‘ ‚am Ende‘, das heißt der Wand der Höhle und also der Sinneswahrnehmung: „erstelle jetzt ein Bild“. Entsprechend behandelt das Höhlengleichnis nicht nur Fragen der ‚Bildung‘ (und letztlich, wie sich im Laufe von Politeia VII eindeutig zeigt, ausschließlich der mathematischen Bildung), sondern thematisiert programmatisch die politische Betätigung, die zur Einführung der zweckdienlichen, speziell mathematischen Bildung in Kallipolis führen soll, also diejenige Tätigkeit im Bildungscurriculum von Politeia VII, die direkt nach der Schau des Guten im Intelligiblen für fünfzehn Jahre erfolgen soll.76 Bevor Sokrates uns hierzu die genauen Anweisungen gibt, sehen wir (von den Fesseln befreit, nach draußen gelangt und nach der Schau des Guten jetzt zurückgekehrt, um die anderen Gefangenen zu befreien, zum Beispiel ebenso wie Sokrates beginnend mit der Weitergabe der Kette der drei Gleichnisse) den gesamten Zusammenhang des ‚Einen‘ in bildlicher Form, nämlich dem ‚Höhlengleichnis‘ (oder besser: bildlich-ikonischen Höhlen-Metapher) vor uns an der Wand, ergänzt wohlgemerkt um die erst jetzt, das heißt nach der Schau des ‚Guten‘ auf dem skizzierten Weg, mögliche Außenbetrachtung des ‚Menschen‘ (= Gefangenen = unser selbst) in der condicio humana, ‚von Kindheit an das ganze Leben hindurch‘ gefesselt im Körperlichen und ausgeliefert den Sinneswahrnehmungen – aber möglicherweise fähig und bereit, sich durch Mathematik befreien zu lassen, vorbereitet durch mathematisch fundierte Bilder, Spiele und Mythen in der Kindheit wie den Gleichnissen selbst und sodann systematisch gebildet durch genuin mathematische Studien, wie sie in Politeia VII umfassend vom Ein- bis zum Dreidimensionalen in den verschiedenen Modi der wahrnehmbaren Bewegung entfaltet werden, in Entsprechung zu allen möglichen Manifestationen des ‚Rationalen‘ im Bereich des Körperlichen. So vollziehen wir unsere Reise in exakter Parallelität zur metaphorischen Transformation, die aus der ‚Sonne‘ als dem Ausgangsbild auf der Höhlenwand am Beginn der Gleichniskette die ‚wirkliche Sonne‘ = das Gute am Ende der Gleichniskette macht und so den Begriff

|| 76 Die politische Seite der Bildung muss natürlich exakt der auf die individuelle Seele bezogenen Dimension der Bildung entsprechen, entsprechend der strikten Stadt-Seele-Analogie, die der gesamten Politeia unterliegt (für einen Überblick siehe Blössner 2007). Dieser Umstand wird insbesondere von den ‚politischen‘ Deutungen des Höhlengleichnisses nicht hinreichend berücksichtigt: siehe oben Kap. 6.3.

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der Realität radikal im Sinn von Platons Philosophie umdeutet, und zwar wesentlich über die Schnittstelle des mathematischen Modells der Linie selbst. Sachliche Grundlage des (Erfolgs des) gesamten Prozesses ist, dass jedes Intelligible eine Entsprechung im rationalen Körperlichen hat (und vice versa), mithin eine eineindeutige Beziehung besteht, die den Aufstieg prinzipiell garantiert. Voraussetzung für den Aufstieg ist dann natürlich eine vollständige Beherrschung der Mathematik, wie sie vielleicht in zehn Jahren des intensiven Studiums auch von manchen begabten Menschen tatsächlich erreicht werden kann. Die detaillierten gesetzgeberischen Maßnahmen, die dies sicherstellen sollen, werden uns von Sokrates selbst in der Entfaltung des Bildungsprogramms kundgetan, das heißt dann, wenn er uns wieder in die Höhle zurückgeführt hat und es eben für ihn dem Bildungsprogramm selbst zufolge die Zeit ist, Kallipolis in einem möglichst optimalen Zustand für die nächste Generation der Wächter zurückzulassen. So ist zum Abschluss dieser Betrachtungen nicht nur transparent, welche sachliche Bedeutung Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis in einer ontologischen und epistemologischen Dimension insbesondere in Hinsicht auf die Bedeutung der Mathematik haben, sondern auch in einer literarischen Dimension, warum Platon die Gleichnisse in exakt der gegebenen Reihenfolge expliziert: Sie bilden in ihrer Gesamtheit den vollständigen und hinreichenden Weg der ‚Bildung‘ und also ‚Befreiung‘ der Wächter einschließlich ihrer hierauf aufbauenden Tätigkeit in Kallipolis ab, und zwar nicht nur als äußere Beschreibung, sondern als angedeutete, (quasi-) simulierte Form der ‚Befreiung‘ selbst, unter direktem, selbstreflexivem Rückgriff auf die jeweils spezifisch relevanten ontologischen Objekte und epistemologischen Methoden des Denkens selbst, die den jeweiligen Gleichnissen zugrunde liegen. Die Gleichniskette dient als mimetisches Modell der Befreiung der Gefangenen aus der Höhle, das heißt der Menschen im Allgemeinen und speziell „uns“ als Leserinnen und Leser der Politeia, und zwar durch die Philosophie, ganz im Sinn des Mythos von Er, speziell abgebildet im und durch den philosophischen Dialog in hörbarwahrnehmbarer, der ‚Eikasia‘ zugänglicher Form. Diese Philosophie bedient sich in unhintergehbarer Weise der Mathematik ‚euklidischen‘ Typs als eines unabdingbaren und zur Befreiung aus den Fesseln, Herumwendung von der Höhlenwand und Herausführung aus der Höhle einzig wirksamen Werkzeugs, und dieses Werkzeug seinerseits bedient sich als des Kerns seiner Methodik des mathematischen Modells euklidischen Typs. Ein erstes, programmatisches Beispiel eines solchen Modells ist, ganz im Sinne des Timaios, im unmittelbaren Ausgang von Sonnengleichnis als Abbildung der Sonne und der mit ihr verbundenen Phänomene als Abbildung ihrer intelligiblen Entsprechungen die Linie des Liniengleichnisses, und zwar als ein oder vielleicht sogar das basale, da eindimensionale mathematische Modell des ‚Einen‘ und mithin ‚Guten‘. Am Ende dieser Studie steht damit eine wichtige Erkenntnis zum Charakter der drei Gleichnisse und hierüber paradigmatisch von (Teilen von) Platons Dialogen als Literatur, welche ohne die genaue Explikation der philosophischen und mathemati-

Epilog: Der Weg auf und ab | 415

schen Zusammenhänge unmöglich gewesen wäre: Sie erweisen sich als mimetisches Abbild nicht nur der Form, sondern auch des Inhalts der eigentlichen und hier sogar höchsten platonischen Philosophie, und zwar im Status von Wahrnehmung, zugeordnet dem Seelenzustand der ‚Bildwahrnehmung‘ = ‚Eikasia‘ (εἰκασία) und sicht- und hörbar auf der Höhlenwand. Im Gegensatz etwa zu Homer stellen sie dezidiert die ‚Wahrheit‘ dar, repräsentieren also ‚wahre Meinung‘, und zwar deshalb, weil sie, wie es ja insgesamt der Fall in der ‚Bildung‘ sein soll, mathematische Relationalität abbilden.77 Als Wahrgenommenes bewirken sie, wie beim Sklaven des Menon, die Hinwendung zur Philosophie, zumindest die Abkehr von der Höhlenwand; Platons Ziel ist nicht nur theoretische, sondern programmatisch praktische Protreptik.78 So dient die Kette der Gleichnisse in der Politeia als sinnenfälliges (metaphorisches) Abbild von Platons Philosophie:79 Schließlich hat Sokrates mit uns als Leserinnen und Lesern || 77 Hierzu ist nicht notwendig, dass die Dialoge (und ihre Teile) selbst mathematisch strukturiert wären (auch wenn dies nicht implizieren soll, dass dies nicht der Fall sein könnte, zumal insofern eine gewisse sachliche Motivation darin bestünde, dass das Gegenmittel gegen das ‚Herumirren der Wahrnehmung‘ und speziell des Sehens das Zählen, Wiegen, Rechnen etc., kurz das ‚Maß‘ [μέτρον] ist: R. 602c4–603a8; auch hier ist ein nur exemplarisches Anführen dieser Tätigkeiten im Kontext eindeutig auszuschließen). Derartiges wurde etwa von Kennedy 2010 vorgeschlagen; dagegen Gregory 2012. Die Diskussion der Dichtung in Politeia X zeigt (R. 595a–608c), dass diese als Form der direkten Sinneswahrnehmung konzipiert ist, nämlich als μίμησις im Bereich der (oder als) ἀκοή (eindeutig R. 603b7 f.), vergleichbar gemalten Bildern im Bereich der ὄψις; so sind, um nur einige Beispiele anzuführen, Dichtungen „Erscheinungen“ (R. 599a3: φαντάσματα) und „Bilder“ (R. 600e5: εἴδωλα), Maler und Dichter haben zum Dargestellten dieselbe Relation (R. 597d10 f.), und die Darstellungsmittel der Dichter sind „Namen“ und „Verben“, mit denen sie die Dichtung wie ein Bild mit Farben herstellten (R. 601a5 f.: τοῖς ὀνόμασι καὶ ῥήμασιν ἐπιχρωματίζειν). Der entscheidende Mechanismus ist, dass in der Dichtung Menschen dargestellt sind, die in einer gewissen, moralisch bestimmten Weise handeln, und die Wahrnehmung das (gesehen oder gehört etc.) Wahrgenommene ‚mimetisch‘ nachbildet und also die Seele selbst in entsprechender Weise verfasst sein und in der Folge handeln lässt: für den Zusammenhang siehe unmissverständlich R. 603b7–e1. Vgl. oben Anm. 656 und Anm. 6117. 78 Zum ersten Aspekt siehe Yunis 2007. 79 Der mimetische Nachvollzug der philosophischen Inhalte in der Darbietung ist ein grundlegender Zug des platonischen Dialogs als Literatur und also zugleich vollzogener Philosophie. Dieser wurde schon für andere Dialoge aufgezeigt; vgl. Klein 1965 für den Menon (siehe speziell 3–31 mit über diesen Dialog hinausweisenden Anmerkungen), Miller 2004 für den Politikos und Miller 1986 für den Parmenides. Siehe auch Szlezák 1993 und Hösle 2004, 55–87; für den literargeschichtlichen Kontext vgl. Föllinger & Müller 2013. Dabei ist es regelhaft, dass der eigentliche Bereich der Dialektik ausgespart wird: siehe Klein 1965, 27; gleichwohl ist er hier unmissverständlich angedeutet. Für die Gleichniskette der Politeia wurde dieser Umstand noch nicht herausgearbeitet, insbesondere deshalb nicht, weil, wie die Diskussion oben ergeben hat, die philosophischen und mathematischen Zusammenhänge einschließlich der Beziehung der Gleichnisse untereinander noch nicht hinreichend verstanden wurden. Im Rückblick zeigt sich dasselbe Ergebnis für die in Kap. 4 behandelte mathematische Menon-Stelle (82a7–85b7), in der sich Leserin und Leser in der Rolle des Sklaven wiederfinden, die durch Sokrates zu ‚wahrer Meinung‘ gebracht werden, und zwar gerade durch die von Platon der (dann: ‚bildlichen‘) Oberfläche des Gesprächs unterlegte mathematische Relationalität (vgl. Klein 1965, nach dessen Gliederung des Dialogs sich diese Stelle signifikanterweise an der Schnittstelle von ἀμαθία

416 | Die Welt als Linien: Mathematische Modelle im Timaios

den gesamten Weg der Erkenntnis von der Höhlenwand bis zur wirklichen Sonne hinauf und wieder hinab beschritten.

|| und δόξα befindet; bei ihm fehlt aber insbesondere die hier herausgearbeitete euklidisch-mathematische Dimension). Die mathematische Relationalität findet dann im Verlauf der dynamischen ‚Lehrstunde‘ nach und nach eine wahrnehmbare Abbildung im statischen, ‚wahren‘ wie ‚wirklichen‘ mathematischen Modell euklidischen Typs – das aber für den Sklaven so weit eben nur als nicht-euklidisches, partikulares Diagramm zugänglich ist, fehlt ihm doch für das Verständnis der eigentlichen mathematischen Zusammenhänge die hierfür erforderliche Ausbildung.

8 Ergebnisse Die vorliegende Studie hat in Kap. 1.1 ihren Ausgang von der Beobachtung genommen, dass die klassische, insbesondere von Euklids Elementen repräsentierte griechische Mathematik zwar einen immensen, kaum zu überschätzenden Einfluss auf die moderne Zivilisation ausgeübt hat, dass aber die genauen Umstände der Herausbildung und Entwicklung dieser spezifischen Form von Mathematik noch immer im Dunkeln liegen, trotz anhaltender und intensiver Bemühungen der Forschung. Als Hauptursache wurde identifiziert, dass zwar zahlreiche Zeugnisse zur frühen griechischen Mathematik vorliegen, etwa zu Thales, dass aber fast alle diese Zeugnisse aus der Perspektive derjenigen Mathematik verfasst sind, die sich in Euklids Elementen manifestiert und in Aristoteles’ Zweiten Analytiken wissenschaftstheoretisch begründet ist, oftmals insbesondere deshalb, weil sie sich als vermittelt durch den Peripatetiker Eudemos von Rhodos erweisen und / oder nur bei spätantiken Autoren fassbar sind. Entsprechend zeigt sich in diesen Zeugnissen nur ein quantitativer, nicht aber ein signifikanter qualitativer Unterschied zwischen früher und klassischer griechischer Mathematik. So sind diese Zeugnisse keine Hilfe bei der Beantwortung der Frage, wann und wie sich die klassische griechische Mathematik herausgebildet hat und sich gegebenenfalls von einer praktischen und mit einzelnen Fallbeispielen operierenden Mathematik, wie sie etwa in Ägypten betrieben wurde, zu einer theoretischen, auf den Beweis universeller mathematischer Erkenntnis ausgerichteten und erst in dieser Form als Vorbild und Paradigma moderner Wissenschaftlichkeit fungierenden Mathematik euklidischen Typs entwickelt hat. Als möglichen Ausweg aus dieser Problematik habe ich in Kap. 1.2 vorgeschlagen, die umfangreichen und reichhaltigen Zeugnisse zur Mathematik zu nutzen, die sich bei Platon finden lassen. Zwar wird Platon gemeinhin nicht als Mathematiker im eigentlichen Sinn angesehen. Unstrittig ist jedoch, dass Platon einerseits ein umfassendes und nachhaltiges Interesse an Mathematik zeigt, sowohl direkt in seinem Werk als auch indirekt in der Bezeugung bei anderen Autoren, Letzteres insbesondere in Hinsicht auf den Umstand, dass ihm in zahlreichen Zeugnissen ein wesentlicher Anteil an der Herausbildung der Mathematik als Fachwissenschaft zugesprochen wird; und dass Platon andererseits ein Autor ist, dessen Wirken in eine Zeit vor unter anderem Euklid, Aristoteles und Eudemos fällt. Insgesamt, so die Überlegung, wäre mit Platon der Zugriff auf das früheste verfügbare authentische Material aus erster Hand eines in jedem Fall in irgendeiner Weise mit der Fachmathematik verbundenen Autors möglich, und dies könnte gegebenenfalls auf sichererer Materialbasis als bisher den voreuklidischen Zustand der Mathematik offenlegen helfen, und zwar auch dann, wenn die Vorbehalte in der Forschung gegenüber dem Philosophen Platon als jemandem, dessen Kenntnisse von und Einfluss auf die Fachmathematik seiner Zeit in den antiken Zeugnissen überschätzt wurden, korrekt sein sollten. Allerdings hat Platon aus den entfalteten Gründen schon oft im Fokus der Forschung gestanden. So https://doi.org/10.1515/9783110616491-008

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habe ich material- und wissenschaftsbezogene Gründe identifiziert, die eine adäquate und zielführende Nutzung des mit Platon verbundenen Materials zur Lösung der aufgeworfenen Frage – ebenso wie überhaupt das Verständnis von Platons Beziehung zur Mathematik – bisher erschwert oder sogar verhindert haben. Vor diesem Hintergrund habe ich in Kap. 1.3 den Vorschlag entwickelt, das Material aus einem bisher nicht hinreichend berücksichtigten Blickwinkel zu untersuchen, nämlich nicht in Hinsicht auf den konkreten Inhalt von Platons fachmathematischem Wissen – also die Frage nach dem Was zu stellen –, sondern in Hinsicht auf die sich bei ihm zeigende konkrete mathematische Praxis und ihren Zweck – also nach dem Wie und Wozu von Mathematik für Platon zu fragen. Als geeignete theoretische Grundlage einer derartigen Analyse habe ich eine semiotische Modelltheorie auf der Basis der von Charles S. Peirce entwickelten Zeichentheorie identifiziert, und zwar deshalb, weil sich Wissenschaft und insbesondere Mathematik sowohl in einer allgemeinen Hinsicht als auch speziell in einem griechischen Kontext als essentiell modellbasiert erweisen lassen. Schließlich habe ich vielversprechende Textpassagen und mathematische Problemkomplexe aus Platons Werk und der indirekten Tradition benannt, die Einblicke in Platons Theorie und Praxis der mathematischen Modellierung geben könnten und daher in dieser Studie untersucht werden sollten. Als Grundlage der Analyse wurde sodann in Kap. 2 der gewählte modelltheoretische Ansatz im Detail expliziert. Modelle wurden in diesem Rahmen bestimmt als icons und also als Zeichen, die ihr Objekt aufgrund einer Ähnlichkeitsrelation in Bezug auf ihre Qualität repräsentieren, und zwar vermittels einer eigenen als äquivalent bestimmten wahrnehmbaren Qualität, sowohl allgemein als auch hinsichtlich einzelner relevanter Attribute und Relationen. Im Einzelnen konnten erschöpfend drei Formen von Modellen unterschieden werden, nämlich images, diagrams und metaphors; sie unterscheiden sich in Hinsicht darauf, welchen relationalen Charakter die für die ikonische Ähnlichkeitsrelation relevante dargestellte Qualität des Objekts und also auch die wahrnehmbare relevante Qualität des Modells selbst hat (monadisch, dyadisch bzw. triadisch, entsprechend einer ein-, zwei- bzw. dreistelligen Relation). Diese Modelltheorie habe ich in Kap. 3 dazu genutzt, ein gesichertes Verständnis davon zu erarbeiten, wie sich Modellierung in der griechischen Fachmathematik manifestiert und ob sie sich überhaupt als relevant und zweckdienlich für die Erforschung der methodischen Praxis der Mathematik insgesamt erweisen lässt. Ausgehend von dem grundlegenden Sachverhalt, dass jeder mathematische Beweis bei Euklid ein Diagramm enthält, wurde in Kap. 3.2 anhand einer Analyse der ersten Proposition in Euklids Elementen gezeigt, dass einerseits das antike mathematische Diagramm ein diagram im Sinn von Peirce und mithin ein genuin dyadischrelationales Modell ist; und dass andererseits jeder Beweis aus den beiden konstitutiven Bestandteilen Modellgenerierung (Ekthesis und Kataskeue) und Modellanalyse (Apodeixis) besteht, eingebettet in eine eröffnende Behauptung des jeweils zu beweisenden allgemeinen mathematischen Sachverhalts (Protasis mit Anbindung des erzeugten Modells im Dihorismos vor der Modellanalyse) und eine abschließende Fest-

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stellung des Erfolgs des Beweises (Symperasma). Die erzeugten und analysierten Modelle repräsentieren als Zeichen (wobei ein wahrnehmbares von einem abstrakten Modell, das heißt dem semiotischen Objekt des ersteren, zu unterscheiden ist) kompositional-komplexe, aus diagrammatischen Modellen der basalen Objekte der mathematischen Theorie bestehende mathematische Sachverhalte. Diese Diagramme werden mit dem Zweck konstruiert, bisher unbekannte relationale Eigenschaften dieser Objekte durch die (Einbettung in eine) spezifische relationale Struktur des holistischen Gesamtdiagramms sichtbar bzw. überhaupt erst verfügbar zu machen. Die Analyse dreier weiterer Fallbeispiele in Kap. 3.3 hat gezeigt, dass die an einem ‚Problem‘ und also dem Beweis der Möglichkeit einer mathematischen Konstruktion gewonnenen Einsichten mutatis mutandis auch für ‚Theoreme‘ und also den Beweis der Richtigkeit einer mathematischen Behauptung bezüglich spezifischer relationaler Eigenschaften mathematischer Objekte gelten. Insofern Problem und Theorem die beiden Grundformen der euklidischen Proposition sind, wurde damit das Diagramm aus der modelltheoretischen Perspektive als unabdingbar für den mathematischen Beweis in der klassischen griechischen Mathematik bestimmt. Ferner wurde herausgearbeitet, dass der Gegenstand des mathematischen Beweises nicht in einer (gegebenenfalls abstrahierten) Identitäts-, sondern in einer genuinen Ähnlichkeitsrelation zum wahrnehmbaren Diagramm steht, mit der Implikation, dass sich semiotisches Zeichen und Objekt in Hinsicht auf ihre Eigenschaften zwar mehr oder weniger stark unterscheiden, diese aber im Akt der Modellnutzung mittels einer Abbildungsrelation als äquivalent bestimmt werden. Insofern zwei der Fallbeispiele von Autolykos von Pitane stammten, hat sich schließlich ergeben, dass die aufgezeigte modellbasierte Methodik spätestens schon in der zweiten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. Anwendung fand, also bereits vor Euklid. Die Mathematik euklidischen Typs geht also nicht auf Euklid selbst zurück. Im abschließenden Kap. 3.4 habe ich gezeigt, dass die Diagramme in der Mathematik euklidischen Typs und mit ihnen die Beweise weder partiell noch insgesamt für partikulare mathematische Sachverhalte stehen, sondern genuin universeller Natur sind, mithin die mit den einzelnen mathematischen Objekten verbundenen universellen Relationen der mathematischen Theorie selbst repräsentieren; diese Relationen haben ferner grundsätzlich einen qualitativ-quantitativen und keinen numerisch-exakten Charakter, weisen also Parameter auf, deren Werteräume auf in der Regel zwei oder drei Ausprägungen reduziert sind, die aber ihrerseits den gesamten Bereich des Parameters abdecken, ihn mithin vollständig repräsentieren und als solche wahrheitsfähig determinierbar sind. Insgesamt, so das Ergebnis des Kapitels, hat sich mathematische Modellierung als der zentrale Bestandteil der Methodik der griechischen Fachmathematik erwiesen, und zwar noch vor ihrer ansonsten als charakteristisch geltenden axiomatisch-deduktiven Verfasstheit: Mathematische Modellierung in der rekonstruierten Form berührt nicht nur wie diese die Organisation von fachmathematischem Wissen in systematischen Strukturen (‚Elementen‘-Sammlungen) und wäre in diesem Sinne ein eher sekundäres (wenn auch wichtiges) Charakteristikum,

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das in den überlieferten Zeugnissen zudem nicht zwingend fassbar wäre, insofern es entweder implizit gegeben (Axiome, Definitionen etc.) oder im Laufe der Überlieferung verloren gegangen sein könnte (wie die Struktur der Satzsammlungen), ohne dass dies merkliche Auswirkungen auf die mathematische Einsicht selbst hätte, sondern sie macht den Kern der mathematischen Tätigkeit überhaupt aus, ohne den schlicht kein einziger Beweis in diesem Rahmen möglich wäre. Ausgehend von dem gesicherten Verständnis davon, was die klassische griechische Fachmathematik in charakteristischer Weise auszeichnet und also welche Funktion mathematischer Modellierung in ihr zukommt, insbesondere in Hinsicht auf das methodisch zentrale Diagramm, habe ich in Kap. 4 mittels einer genauen Lektüre das Diagramm zur Verdopplung des Quadrats im Menon untersucht und in seiner konkreten Form erschlossen, das erste authentisch literarisch, wenn auch nicht in seiner ikonischen Form überlieferte Diagramm der griechischen Mathematik überhaupt. In drei Schritten, die den philosophischen Argumentationsstufen ‚falsche Meinung‘ (Kap. 4.2), ‚Aporie‘ (Kap. 4.3) und ‚wahre Meinung‘ (Kap. 4.4) folgten, wurde das Diagramm aus dem Text heraus hermeneutisch stimmig rekonstruiert. Dabei hat sich erwiesen, dass mutatis mutandis – das heißt unter Berücksichtigung der Dialogsituation, einschließlich des Aspekts des aus transparenten Gründen in fachmathematischen Traktaten in der Regel nicht überlieferten Experimentierens mit dem ikonischen Modell Diagramm – sich einerseits exakt die herausgearbeitete spezifische Struktur des fachmathematischen Beweises in der Menon-Stelle wiederfindet, nämlich insbesondere als Generierung des Ausgangsmodells (in einer Quasi-Ekthesis) gefolgt von einem als relationale Modellanalyse (als Quasi-Apodeixis) durchgeführten Beweis des gesuchten mathematischen Sachverhalts, für den experimentierend eine passende Ergänzung des Ausgangsmodells (in einer Quasi-Kataskeue) gesucht wird; und dass das in diesem Prozess erzeugte Diagramm andererseits exakt derjenigen Form von Diagramm entspricht, die in der Mathematik euklidischen Typs Verwendung findet. Dies betrifft insbesondere (1) den Umstand, dass das Diagramm als kompositionale Struktur aus einzelnen, relational bestimmte mathematische Objekte repräsentierenden Diagrammatomen ein mathematisches Relationengefüge repräsentiert, das gezielt zum Zweck des Beweises des aufzuzeigenden mathematischen Zusammenhangs generiert und analysiert wird; (2) den Umstand, dass das erzeugte und analysierte Modell dezidiert nicht partikulare, sondern universelle Relationen repräsentiert, mithin von den abstrakt-universalen Gegenständen der mathematischen Theorie selbst handelt; und (3) den Umstand, dass der Beweis explizit und zielgerichtet von einer technischen Definition eines mathematischen Objekts (des Quadrats) ausgeht, die die derartigen, für dieses Objekt charakteristischen und essentiellen universellen Relationen bestimmt und also für die universell gültige Modellanalyse verfüg- und nutzbar macht. Im Ergebnis konnte Platon aufgrund positiver Evidenz aus erster Hand als Vertreter einer ‚euklidischen‘ Methode der griechischen Mathematik identifiziert werden, und zwar angesichts der verfügbaren Zeugnisse allem Anschein nach als der allererste fassbare Vertreter überhaupt.

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In Hinsicht auf die zugrunde liegende Fragestellung war dieses Ergebnis prima vista negativ, insofern es impliziert, dass die Untersuchung von Platons Mathematik selbst keinen Einblick in die (konzeptuell) vor-euklidische Mathematik erhoffen lässt. Dieser erste Eindruck hat sich jedoch als falsch erwiesen: In der untersuchten MenonPassage hat sich nicht nur die Mathematik euklidischen Typs gezeigt, sondern zugleich auch Reflexe einer anderen, früheren Form von Mathematik; diese operiert zwar ebenso mit Diagrammen und setzt also eine ähnliche Form mathematischer Modellierung ein, basiert aber lediglich auf partikularen Relationen und ist also nicht auf die Erforschung der universalen Eigenschaften abstrakter mathematischer Objekte ausgerichtet. In diesem Sinn wurde in Kap. 4.6 ausgehend von der Theaitetos-Stelle zur Inkommensurabilität das Bild einer solchen Mathematik rekonstruiert. Dabei wurde die Vermutung entwickelt, dass gerade die Gegenüberstellung der Mathematik euklidischen (und also platonischen) Typs und einer konkret vom Mathematiker Theodoros repräsentierten älteren, vor-‚euklidischen‘ Mathematik Platons Darstellungsziel an dieser Stelle gewesen sein dürfte. Unter Einschluss einer Analyse relevanter Zeugnisse zu anderen ‚Mathematikern‘ wie Demokritos und Meton (sowie Sokrates?) wurde das Ergebnis erzielt, dass eine derartige ursprüngliche Mathematik in Form der ‚Geometrie‘ zu diesem frühen Zeitpunkt wohl tatsächlich noch die (gegebenenfalls technisch professionalisierte) ‚Kunst der Landvermessung‘ war. Hierauf aufbauend habe ich in Kap. 5 die historische Tiefendimension der methodischen Praxis der griechischen Mathematik in einem weiteren, dezidiert theoretischen Rahmen anhand einer Analyse der Versuche der Lösung der Verdoppelung des Würfels, des sogenannten ‚Delischen Problems‘, erschlossen, speziell in Hinblick auf die Platon in den Zeugnissen in dieser Hinsicht zugesprochene wissenschaftsorganisatorische Funktion und die in diesem Kontext belegten methodologischen Diskussionen. In einem ersten Schritt wurde in Kap. 5.2 die Geschichte der Beschäftigung mit dem mathematischen Problem aufgearbeitet und mit Blick auf die durchgängig in den Testimonien bezeugte Verbindung zur Akademie geprüft, sowohl durch eine direkte Auswertung der relevanten Texte als auch unabhängig davon unter Berücksichtigung relevanter archäologischer und historischer Zeugnisse. Dies hat das folgende Ergebnis erbracht: Die mathematische Beschäftigung mit der Würfelverdoppelung hatte in der Tat den in den Anekdoten geschilderten historischen Kontext und lässt sich mit hoher Sicherheit eng auf die 350er Jahre v. Chr. datieren. Hieraus ergaben sich als wichtige mathematikhistorische Folgerungen, dass einerseits alle bekannten frühen Lösungen des Problems einschließlich derjenigen des Archytas und des Eudoxos in diesen Zeitraum datiert werden müssen, sie also als Zeugnisse für eine Praktizierung von Mathematik euklidischen Typs vor Platon auszuschließen sind; dass die Geometrie des Dreidimensionalen (Stereometrie) insgesamt in Entsprechung zu Platons Zeugnis in der Politeia nicht sehr weit entwickelt war; und dass schließlich der Akademie und speziell Platon eine wichtige wissenschaftsorganisatorische Funktion im Kontext der damaligen Mathematik zugesprochen werden muss. Dies erstreckt

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sich insbesondere auf die bekannten Fach-‚Mathematiker‘, in Entsprechung unter anderem zu Proklos’ Mathematikerkatalog. In diesem sachlich und chronologisch abgesicherten allgemeinen wissenschaftshistorischen Rahmen hat ein zweiter Schritt in Kap. 5.3 die für Platon bezeugte eigene Lösung und die ebenfalls in den Zeugnissen genannten methodologischen Diskussionen mit Archytas, Eudoxos und Menaichmos untersucht, mit dem Ergebnis, dass sowohl die Zuweisung der überlieferten Lösung an Platon als glaubhaft gelten muss, wenn auch nicht als endgültige mathematische Lösung, sondern als (intendiert) heuristisches Instrument zum Finden einer solchen; und dass zum anderen die Platon zugeschriebene Zurückweisung mechanischer Lösungen exakt im Kontext der im vorangehenden Kapitel herausgearbeiteten Differenz zwischen einer von Platon propagierten theoretisch orientierten, mit universellen mathematischen Gegenständen operierenden Mathematik euklidischen Typs einerseits und einer traditionellen und pythagoreischen praktisch orientierten, mit partikularen empirischen Gegenständen andererseits beschäftigten Mathematik stand. Dieser Unterschied manifestiert sich insbesondere in der Art des jeweils verwendeten relationalen Modells, nämlich einerseits ein mathematisches, andererseits ein direkt vermessbares physikalisches. Diese Deutung wurde abschließend durch eine Diskussion der relevanten Äußerungen Platons in Politeia VII zu Astronomie und musikalischer Harmonielehre in kontrastivem Vergleich mit den fassbaren frühen fachwissenschaftlichen Zeugnissen in Kap. 5.5 bestätigt: Erstens wurde erwiesen, dass auch hier der eigentliche mathematische Gegenstand für Platon das (im diagrammatischen Modell entsprechend repräsentierte) universale qualitativ-quantitativ quantifizierte mathematische Objekt ist, während dies in den kritisierten Formen der Mathematik das partikulare, numerisch-exakt quantifizierte partikulare Objekt ist. Dies betrifft insbesondere den Charakter des mathematischen ‚Beweises‘, der entgegen der Praxis speziell bei Euklid nur mehr als quantitative deskriptive Beschreibung eines primär nicht-mathematischen partikularen empirischen Sachverhalts zu verstehen ist. Zugleich wurde zweitens demonstriert, dass sich Platon mit seiner Kritik einerseits gegen eine traditionelle Form von ‚Sternenkunde‘ wendet, auch in ihrer numerisch-quantifizierten Form, wie sie etwa bei Meton, Euktemon, Oinopides oder Eudoxos begegnet. Insbesondere die eingehende Diskussion der Zeugnisse zu Eudoxos hat durch einen Vergleich der (spärlichen Überreste der) beiden Fassungen derselben Schrift Enoptron bzw. Phainomena die Einsicht erbracht, dass sogar noch Eudoxos anfangs dieser deskriptiv-sternenkundlichen Tradition zuzurechnen ist und erst unter Platons Einfluss eine in euklidischem Sinn mathematisierte Astronomie zu betreiben begann, und zwar recht genau datierbar auf ungefähr die 350er Jahre v. Chr. (oder etwas später), also exakt den für die Beschäftigung mit der Würfelverdopplung als relevant erkannten Zeitraum. Ein ähnliches Bild zeigte sich andererseits auch für die mathematische Harmonielehre, in Hinsicht auf die sich Platon gegen die Pythagoreer und insbesondere noch Archytas wendet, wo sich in der Tat bis weit in das 4. Jh. v. Chr. hinein ausschließlich eine nichteuklidisch-mathematische Behandlung der relevanten Sachverhalte zeigt. Im

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Ergebnis hat dies die so weit erarbeiteten Resultate eindeutig bestätigt: Anders als für Platon ist unabhängig von und vor Platon keine Mathematik euklidischen Typs belegbar, hier speziell im Bereich von Astronomie und Harmonielehre sowie nicht in der pythagoreischen Tradition. Positiv, ausschließlich und reichhaltig zeigen sich jedoch die von Platon ausdrücklich kritisierten Formen von praktischer Mathematik. Nachdem Kap. 4 und Kap. 5 einen Fokus auf Platons praktische Modellierungstätigkeit gelegt hatten, auch in ausdrücklichem Kontrast zur nicht-platonischen Modellierungstätigkeit in der Mathematik außerhalb der Akademie, habe ich in Kap. 6 einen Blick auf Platons Theorie der mathematischen Modellierung geworfen, konkret anhand einer textnahen Analyse des Liniengleichnisses. Dieses mathematische Modell wurde von Platon als Ausdruck zentraler Inhalte seiner ontologischen und epistemologischen Position in einem dezidiert philosophischen Kontext insbesondere dazu genutzt, eine theoretische Bestimmung der Praxis mathematischer Modellierung und mithin des essentiellen Kerns von Mathematik insgesamt vorzunehmen, ausdrücklich im Kontrast zur eigentlichen Philosophie (‚Dialektik‘). Ein erster Schritt hat in Kap. 6.2 die Problematik des Liniengleichnisses herausgearbeitet und speziell die Längengleichheit der beiden mittleren Segmente als Stein des Anstoßes identifiziert. Sie wurde in der Forschung oftmals dahingehend gedeutet, dass sich mit ihr Platons mathematische Inkompetenz erweise, ebenso wie sein mangelndes Interesse an der Mathematik selbst, missbrauche er doch mathematische Sachverhalte ohne Rücksicht auf ihre Details in metaphorischer Weise für andere, rein philosophische Zwecke. Als Grundlage einer neuen Perspektive auf das Gleichnis wurde sodann in Kap. 6.3 dessen direkter Kontext unter Zuhilfenahme der entfalteten modelltheoretischen Perspektive erschlossen, konkret Höhlen- und Sonnengleichnis, und zwar als von Platon selbst intendierte Rahmung des Liniengleichnisses. Unter anderem hat sich erwiesen, dass diese Gleichnisse in eindeutiger, konsistenter und miteinander kompatibler Weise eine Unterteilung der Welt in vier kategorial getrennte Gegenstandsklassen ausdrücken, nämlich (1) Formen, (2) mathematische Gegenstände, (3) physikalische Gegenstände an sich und schließlich (4) von ihnen ausgehende Wahrnehmungsinhalte; und dass alle diese vier Gegenstandsklassen allein und in spezifischer Kombination in einem Geflecht von Original-Abbild-Beziehungen und mithin ikonischen Modellrelationen zueinander stehen. Ausgehend von diesen Einsichten wurde in Kap. 6.4 das Liniengleichnis neu betrachtet. Die Analyse hat in Übereinstimmung mit den beiden anderen Gleichnissen eine neue Deutung der Längengleichheit der beiden mittleren Segmente erbracht, mit dem Ergebnis, dass sie den gleichen (abstrakt-) numerischen Umfang der ihnen zugeordneten Gegenstandsklassen ausdrückt, also der mathematischen Gegenstände einerseits und der physikalischen Gegenstände an sich andererseits, und zwar sachlich dahingehend, dass beide Klassen von Platon als direkt in einem 1:1-Verhältnis aufeinander abgebildete intelligible bzw. körperliche Repräsentationen der Formen bestimmt wurden. Im Zuge dessen wurden auch Einblicke in die spezifische mathematische Verfasstheit der Linie als eines diagrammatischen Modells gewonnen, unter

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anderem dahingehend, dass ihre Relationalität qualitativ-quantitativer Natur ist, es sich also um eine Linie genuin ‚euklidischen‘ Typs handelt. In Kap. 6.5 wurde die philosophische Pointe der quantitativen Gleichsetzung von mathematischen Objekten und physikalischen Gegenständen ergründet. Im Zuge einer kontrastiven Diskussion von Mathematik und Dialektik wurde offengelegt, inwiefern und wozu mathematische Modelle für Platon nützlich sind: Nur sie ermöglichen, der Höhle zu entkommen und den Schritt ins Intelligible zu bewerkstelligen, und zwar im Ausgang von den Sinneswahrnehmungen physikalischer Dingen – freilich nur dann, wenn man die mathematischen Modelle korrekt einsetzt, das heißt ausschließlich mit Blick auf die intelligiblen Relationen selbst, das heißt konkret nicht mit Blick auf solche Relationen, wie sie in der traditionellen ‚Landvermessung‘ oder ‚Sternenkunde‘ oder in der pythagoreischen oder einer anderen Tradition stehenden Musiklehre verwendet wurden. Sie dürfen nach Platon vielmehr nur in Hinsicht auf exakt solche Relationen verwendet werden, wie sie in der Modellierungspraxis der Mathematik euklidischen Typs anzutreffen sind. Der von Platon gesehene Nutzen solcher Modelle, so hat sich gezeigt, wird durch die Linie selbst handgreiflich vor Augen geführt, denn inmitten von Sonnen- und Höhlengleichnis demonstriert sie konkretexemplarisch als mathematisches Modell den Aufstieg aus der Höhle und bereitet den direkt folgenden Abstieg in die mit dem Höhlengleichnis selbst gegebene ‚Höhle‘ vor. Im Zuge dessen wurde schließlich der Hypothesis-Begriff im Liniengleichnis (und in der relevanten zweiten mathematischen Menon-Stelle) grundsätzlich als ‚Setzung‘ eines Diagramms (das heißt der Modellierung eines mathematischen Sachverhalts) expliziert, oder allgemeiner: als ‚Setzung‘ einer sich durch universelle relationale Eigenschaften der konstitutiven Objekte auszeichnenden, zum Zweck der Erkenntnis relevanter Relationen zu analysierenden holistischen Struktur, und zwar dezidiert auch im Ausgang von einem im Physikalischen gegebenen Phänomen. Vor diesem Hintergrund wurde die indirekte Überlieferung zur ‚Rettung der Phänomene‘ als auf Platon selbst zurückgehend bestimmt, nicht nur deshalb, weil sich eine direkte Konvergenz mit Platons theoretischer Position ergibt, sondern auch, weil alle anderen bekannten mathematiktheoretischen Positionen dieser Zeit mit diesem Forschungsprogramm nicht kompatibel waren, zumindest nicht konzeptuell zu der diesem zugrundeliegenden Frage geführt hätten. In jedem Fall konnte ausgeschlossen werden, dass das Programm auf Eudoxos oder die Pythagoreer zurückgeht. Abschließend habe ich in Kap. 6.7 einen Blick auf das Bildungsprogramm in Politeia VII geworfen, das die Gleichnisse durch eine eingehende Diskussion zu den fünf mathematischen Disziplinen Arithmetik / Logistik, Geometrie, Stereometrie, Astronomie und Harmonielehre aufnimmt und fortsetzt. Diese Analyse hat die Frage beantwortet, wie genau Platon zufolge die Befreiung der Gefangenen und deren Aufstieg aus der Höhle mittels der Mathematik gelingen kann. Dabei hat sich erneut erwiesen, dass eine Übereinstimmung der verwendeten Modelle bei Platon und Euklid hinsichtlich ihrer relationalen Beschaffenheit besteht. Im Zuge dessen haben sich außerdem weitere relevante Einsichten zu verschiedenen Auffassungen zur Nützlich-

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keit von Mathematik in Platons Zeit gezeigt, und zwar speziell bei Isokrates und erneut aus den 350er Jahren v. Chr., auch im Kontrast zu einer noch konservativeren Sicht, wie sie der traditionellen ‚Landvermessung‘ und ‚Sternenkunde‘ entspricht. Alle diese Positionen stehen in scharfem Kontrast nicht nur zu derjenigen Platons, sondern auch zur euklidischen Praxis von Mathematik. Das letzte Kap. 7 hat die umfassende praktische Modellierung der physikalischen Welt in Platons Timaios untersucht und insbesondere geprüft, ob diese als Anwendung der in der Politeia und speziell im Liniengleichnis explizierten Theorie der mathematischen Modellierung gelten darf. Ein erster Schritt hat in Kap. 7.2 den Blick auf Platons Lehre von den Elementen geworfen, aus denen alle körperlichen Gegenstände bestehen, und zwar konkret in Hinsicht auf ihre Konstitution und Interaktion. Dabei hat sich erwiesen, dass Platon im Ausgang von der Sinneswahrnehmung mathematische Modelle postuliert, deren relationale Eigenschaften in eindeutiger Weise eine hinreichende Ursache für die Eigenschaften der die jeweilige Sinneswahrnehmung durch ihre Interaktion generierenden physikalischen Körper geben sollen. Die relationalen Eigenschaften des mathematischen Modells sind nicht numerisch-exakter, sondern rein qualitativ-quantitativer Natur, und zwar mit einem der Mathematik euklidischen Typs entsprechenden Parameterraum; außerdem manifestieren sie sich gerade dann, wenn die Modelle mit anderen kombiniert werden, mithin im Kontext einer genuin diagrammatischen Struktur, welche sich sekundär wiederum physikalisch als körperliche Interaktion manifestiert. Im Zuge dessen wird die genuine Dynamik der (‚werdenden‘) körperlichen Welt auf die statische Struktur des (‚seienden‘) mathematischen Diagramms zurückgeführt, unter exakter Wahrung der Phänomenalität. Insbesondere im Einbezug der Sinneswahrnehmung unterscheidet sich Platons Theorie der physikalischen Welt grundlegend von Demokrits Atomlehre. Ausgehend von der Theorie der Sinneswahrnehmung als eines spezifischen physikalischen Interaktionsprozesses wurden in einem zweiten Schritt in Kap. 7.3 Funktion und Bedeutung der Sinneswahrnehmung insgesamt beleuchtet. Erwiesen wurde, dass eine solche Theorie für Platon ein unabdingbarer Bestandteil jedweder physikalischer Theorie ist: Nur über die Erklärung der hier involvierten physikalischen Prozesse ist es möglich, überhaupt zu den eigentlichen Eigenschaften der physikalischen Körper vorzudringen; so erweist sich eine umfassende Beschreibung des körperlichen Bereichs im explizierten Sinn als notwendig. Eine Untersuchung der einzelnen Wahrnehmungsmodi hat insbesondere zwei Ergebnisse erbracht: Einerseits wurde im Bereich des Hörens erneut aufgezeigt, dass eine solche mathematisch fundierte physikalische Theorie, die die Ursache physikalischer Prozesse in direkter (das heißt ‚diagrammatischer‘ und nicht ‚metaphorischer‘) Weise auf mathematische Zusammenhänge zurückführt, genuin platonisch war und zumindest insbesondere für die pythagoreische Tradition verneint werden muss. Andererseits hat sich im Bereich des Sehens erwiesen, dass Körper zwar vermittelt, aber in gewisser Weise dennoch unverfälscht schon in der Wahrnehmung zugänglich sind, nämlich in Hinsicht auf

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ihre sichtbare körperliche Bewegung. Insofern wurde transparent, warum für Platon das Sehen als der Anfang jeder Wissenschaft und Philosophie galt – aber eben andererseits in der Tat nur als der Anfang: Um zum Guten und zugleich zum glücklichsten, ja: sogar im eigentlichen Sinn göttlichen Leben zu gelangen, ist es erforderlich, eine umfassende mathematische Beschreibung der Welt vorzunehmen. Allem Anschein nach heißt dies aber nichts anderes, als Mathematik nach dem Muster der euklidischen Elemente zu betreiben, und zwar in Übereinstimmung mit derjenigen Welt, die sich mittels der Sinneswahrnehmung erschließen lässt, das heißt unter Setzung der entsprechenden mathematischen Hypothesen sich als kompatibel mit und erklärbar aus diesen erweist. So stellt sich die Aufgabe, für alle rationalen physikalischen Sachverhalte ein mathematisches Modell zu bestimmen und die mathematischen Objekte selbst in ihrer Relationalität vollständig zu erschließen, zwar nicht als Selbstzweck, aber eben doch als notwendige und hinreichende Grundlage für die sich hieran anschließende Dialektik, den Inbegriff und Kern platonischer Philosophie: Mathematik euklidischen Typs wurde damit zu einem integralen Bestandteil der Philosophie. Im abschließenden Kap. 7.5 hat eine zusammenfassende Rückschau auf Politeia VI–VII gezeigt, dass hier nicht nur, wie so weit schon insbesondere in Kap. 6 erschlossen, der Prozess der Befreiung der Gefangenen mit nachfolgendem Aufstieg ins Intelligible theoretisch thematisiert ist, sondern zugleich das gesamte Bildungsprogramm von Geburt (= Verkörperung der Seele) bis zum Ende der politischen Betätigung in Kallipolis (und somit zugleich schriftstellerisch in Athen?) selbstreflexiv-mimetisch im Vollzug der Darstellung praktisch-modellhaft gespiegelt ist: Die literarische Präsentation der philosophischen Zusammenhänge durch Platon führt die Leserin in einer metaphorischen, dem tatsächlichen Bildungsprogramm (und also der eigentlichen platonischen Philosophie) entsprechenden Reise zum Guten selbst und sodann wieder zurück in die Höhle, und zwar im Ausgang von der Schau der Sonne auf der Höhlenwand und dem Fassen einer wahren Meinung zu den sich mit ihr essentiell verbindenden relationalen Verhältnissen im Physikalischen (Sonnengleichnis); über den Aufstieg aus der Höhle und das Erblicken der wahren Relationalität der gesamten, ‚einen‘ Welt in der Form des mathematischen Modells (‚Hypothesis‘) der Linie bis zur Schau der der mathematischen äquivalenten philosophischen, unverstellten Relationalität in einer dieses Modell (‚Hypothesis‘) als Startpunkt nutzenden dialektischen Betrachtung der involvierten epistemologischen Formen und des Guten / Einen selbst, nämlich als purer Relationalität „jenseits“ dieser Formen in Form einer holistischen, in diesem Fall ‚all‘-umfassenden Struktur, formal in Entsprechung zur Relationalität eines mathematischen Diagramms euklidischen Typs (Liniengleichnis); und schließlich der Rückkehr in die Höhle, um dort auf der Grundlage einer durch das Bild der Höhle selbst gewonnenen Erkenntnis zur grundlegenden condicio humana, die ihrerseits in der Rückschau den Mechanismus der Befreiung, den Aufstieg aus und die Rückkehr in die Höhle metaphorisch-selbstreflexiv spiegelt (Höhlengleichnis), diejenige Bildung nicht nur in Kallipolis, sondern entsprechend der Thematik der Politeia auch in der eigenen Seele einzurichten, die den Aufstieg aus

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der Höhle fest institutionalisiert und hierdurch, das heißt durch die entsprechende Habitualisierung an das menschenmöglich Göttliche garantiert: das umfassende Studium der Mathematik euklidischen Typs, und zwar vom Eindimensionalen (Arithmetik) über das Zweidimensionale (Geometrie) bis zum Dreidimensionalen an sich (Stereometrie) sowie in wahrnehmbarer und speziell sichtbarer und hörbarer Bewegung (Astronomie bzw. Musiklehre), auf der Grundlage von spielerischer Mathematik in den Mythen der Kindheit (Rest von Politeia VII). Die Erkenntnis der mimetischen, sich in einem hochkomplex-mehrschichtigen, ineinander verschachtelten Geflecht von metaphorischen, diagrammatischen und bildlichen Modellen vollziehenden Konvergenz von semantischem Inhalt und selbstreflexiver praktischer Demonstration dieses Inhalts selbst liefert eine eindrucksvolle und vor allem unmissverständliche Bestätigung der hier explizierten Deutung insgesamt, und zwar aus einer dezidiert hermeneutischen Perspektive, die durch eine genaue Lektüre den Sinn des Textes in seiner literarischen, philosophischen und mathematischen Dimension erschlossen hat. Am Beginn dieser Studie habe ich Erkenntnisse in vier Dimensionen in Aussicht gestellt, konkret (1) der wissenschafts- und speziell mathematikhistorischen, (2) der philosophiehistorischen, (3) der literarhistorischen und schließlich (4) der wissenschaftsphilosophischen und speziell modelltheoretischen. Diese Hoffnung hat sich angesichts der erzielten Ergebnisse erfüllt, und zwar gerade durch die enge und integrative Verknüpfung der unterschiedlichen, aber komplementären Perspektiven auf das textliche Material. Nur auf diesem Weg war es möglich, zu neuen Einsichten zu gelangen, die Antworten auf bisher ungelöste Fragen der Forschung geben. Ich ziehe abschließend ein kurzes systematisches Resümee hinsichtlich jedes einzelnen Aspekts (in umgekehrter Reihenfolge): (4) Wissenschaftsphilosophisch und speziell modelltheoretisch hat diese Studie die von Björn Kralemann und mir entwickelte semiotische Modelltheorie in ihrer Anwendung auf konkretes Material einer umfassenden praktischen Prüfung unterzogen. Sie hat sich insbesondere auf der Grundlage der allgemeinen Definition des Modells als eines spezifischen, konkret ikonischen Zeichens als hinreichend leistungsfähig und adäquat erwiesen, das zu untersuchende Material zu beschreiben und in seinem Modellcharakter kontrastiv zu erschließen. Dies betrifft sowohl die verschiedenen praktischen antiken Modelle aus dem Bereich von insbesondere Mathematik, Naturphilosophie und Philosophie als auch die impliziten und expliziten antiken Theorien des Modells und seiner Nutzung. Als besonders nützlich hat sich die Unterscheidung der drei Modellformen image, diagram und metaphor erwiesen, ebenso wie die Beschreibung der Metapher als eines Modells, das integrativ ein zweites untergeordnetes Modell umfasst. Für beide Aspekte ist die Erschließung der spezifischen literarischen Präsentation von Politeia VI–VII ein instruktiver Beleg, deren komplexes Modellgeflecht sich schwerlich auf anderem Weg entwirren ließe. In diesem Sinn erscheint es als lohnend, hierauf aufbauend weitere Modellverwendungen in der Antike in den Blick zu nehmen und, wie hier schon in Ansätzen geschehen, auch in ihrem Unterschied zu Modellen in der modernen Naturwissenschaft zu erschließen. Eine

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derartige historische Dimension könnte auch einen genuinen Beitrag zur zeitgenössischen Diskussion zum Modell in der Wissenschaftsphilosophie leisten. (3) Literarhistorisch konnten Erkenntnisse in verschiedenen Bereichen erzielt werden: Erstens wurden zentrale Passagen des platonischen Werkes hermeneutisch adäquater als zuvor in ihrem Sinn und ihrer Form als Text erschlossen, darunter so viel diskutierte Stellen wie das Liniengleichnis und die mathematischen Passagen im Menon und im Theaitetos. Das bei Weitem wichtigste Resultat in dieser Hinsicht dürfte jedoch die Einsicht sein, dass die gesamte Passage zu den Gleichnissen und zum Bildungsprogramm in Politeia VI–VII mimetisch den in ihr selbst explizierten philosophischen Inhalt abbildet und als in (bildlich-) metaphorischer Weise den ‚echten‘, also allem Anschein nach ‚akademischen‘ Bildungsprozess (= Philosophie) bis hin zur Idee des Guten direkt zeigendes Bild fungiert. Die Erkenntnis, dass in dieser gesamten Passage die Form den Inhalt exakt, direkt und unmittelbar sowohl im Ganzen als auch in allen seinen Teilen spiegelt, sichert und bestätigt nicht nur die erarbeitete Interpretation des Textes selbst (und hierdurch von Platons Position zur Fachmathematik und ihrer Entwicklung, insoweit es sich aus dieser Passage ergibt), sondern erweist auch den im konkreten Fall gewählten integrativ-philologischen Interpretationsansatz als zielführend und sachlich angezeigt: Nur auf diesem Weg konnte aufgezeigt werden, dass Platon hier tut, was er sagt, und sagt, was er tut. Damit ergibt sich aus der hermeneutischen Erschließung dieser für Platons Philosophie so zentralen Passage ein vertieftes, genuines Verständnis der Politeia als eines Werks philosophischer Literatur. Zugleich mahnt dieses Beispiel, dass bei Platon nicht selten das Verständnis des Textes nur Hand in Hand mit einer Erschließung des konkreten philosophischen und mathematischen Inhalts gehen kann (und vice versa). Entsprechendes gilt auch für die mathematische Menon-Stelle zur Quadratverdopplung. Daneben haben sich literarhistorische Einsichten zu konkreten Einzelaspekten gezeigt, darunter zur Datierung einzelner platonischer Dialoge (Menon, Theaitetos und Politeia, mit direkten Implikationen für hier nicht behandelte Dialoge mit entsprechendem mathematischen Inhalt in Hinsicht auf die relevanten Probleme, insbesondere die Inkommensurabilität) und zur konkreten Art und Weise der Fiktionalisierung der Gesprächssituation (in der mathematischen Passage) im Theaitetos, welche eben nicht als unmittelbar historischer Bericht, sondern als Teil eines zielgerichtet konstruierten philosophischen Arguments zu verstehen ist, das die in der Diskussion zusammengebrachten Positionen anachronistisch-ahistorisch in den Figuren personifiziert sein lässt. Außerdem wurden Erkenntnisse zu anderen Autoren mitsamt ihren Schriften gewonnen, nicht zuletzt zu Eratosthenes’ Platonikos und Eudoxos’ Enoptron / Phainomena, sowie zu den mathematischen Autoren Euklid und Autolykos, hier speziell in Hinsicht auf den zentralen Baustein der literarischen Gattung der Elementenschriften, die mathematische Proposition, und zwar sowohl zu ihrem Aufbau als auch zu dem Verhältnis von Text und Diagramm (in Bezug auf Letzteres einschließlich einiger allgemeiner Parameter ihrer kritischen Edition). Schließlich hat sich, und dies weist auf den nächsten Punkt voraus, ein sichererer allgemeiner

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Verstehensrahmen für die mathematischen Passagen in Platons Werk insgesamt ergeben, insbesondere indem, zumindest den hier behandelten Stellen nach zu urteilen, ihre Forderung nach bzw. Basiertheit auf einer genuinen ‚Euklidizität‘ erwiesen werden konnte. In diesem Sinn erscheint eine Erweiterung der hier begonnenen Untersuchung auf vielversprechende derartige Passagen als lohnend. (2) Philosophiehistorisch wurde nicht nur mit Platons mathematischer Modellierung in theoretischer wie in praktischer Dimension ein, wie sich herausgestellt hat, in der Tat zentraler Aspekt der Philosophie Platons besser erschlossen, sondern im Zuge dessen konnte auch die gesamte (zumindest in der Politeia und im Timaios zugrunde liegende) ontologische und epistemologische Position Platons besser als zuvor bestimmt werden, und zwar vermittels einer genauen Lektüre der Gleichnisse als Text. Die Erkenntnisse betreffen zum einen die umstrittene Existenz der Gegenstände der Mathematik (μαθηματικά); ihre Zwischenstellung zwischen den körperlichen Dingen und den Formen; und ihre essentielle und unabdingbare Funktion im Erkenntnisprozess im Allgemeinen und der Mechanismus ihrer zieladäquaten Nutzung im Speziellen. Insofern konnte, zumindest für Politeia und Timaios, Mathematik euklidischen Typs (und die in diesem Rahmen stattfindende genuin mathematische Modellierung) als integraler Bestandteil und Ausdruck der platonischen Philosophie erwiesen werden, und zwar exakt in der in der Politeia theoretisch explizierten und praktisch vorgeführten Art und Weise. In jedem Fall konnte erwiesen werden, dass Platon die Mathematik euklidischen Typs sachgemäß nutzte, wenn auch zu einem höheren Zweck, nämlich als einen elementaren Schritt hin zum Guten (Einen). Diese Einsicht hat gewichtige Konsequenzen für unser Verständnis von Platons ‚ungeschriebener‘ (aber eben doch insbesondere in der Politeia im mimetischen Nachvollzug direkt durch das metaphorische Modell hindurch deutlich, unmissverständlich und umfänglich in ihren Inhalten fassbarer) Lehre und der essentiellen Rolle der Mathematik in ihr, auch in Hinblick auf die philosophisch-mathematische Forschung in der Akademie. Hieraus ergeben sich schließlich direkte Konsequenzen für die Beurteilung des Zeugniswertes der bei Aristoteles gegebenen Testimonien zu diesem Themenkomplex; sie haben sich, soweit hier behandelt, als kompatibel mit der aus Platons Texten selbst erschlossenen platonischen Position erwiesen. (1) Wissenschafts- und speziell mathematikhistorisch sind die fachmathematischen Praktiken und methodologischen Diskussionen der ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. greifbarer geworden, und zwar auf der Grundlage umfangreichen, sicheren und authentischen Materials aus erster Hand. Auf diesem Weg konnte wie erhofft ein recht klares Bild von denjenigen Prozessen gewonnen werden, die zur Ausbildung der Mathematik euklidischen Typs geführt haben, also zu derjenigen Form von Mathematik, die als dezidiert wissenschaftliche Mathematik mutatis mutandis die moderne Zivilisation dominiert. Erstens ist als Ergebnis festzuhalten, dass Platon positiv gesichert und eindeutig ein Vertreter der Mathematik ‚euklidischen‘ Typs ist. Nicht nur das: Er zeigt ein tiefes Verständnis von spezifischer Charakteristik und Methodik dieser Form von Mathema-

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tik, und sie findet eine gezielte Verwendung in eben dieser spezifischen Ausformung als zentraler und unverzichtbarer Baustein seiner Philosophie, sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht, mustergültig repräsentiert in Form und Inhalt von Politeia VI–VII. Die zentralen Besonderheiten dieser Mathematik sind die Nutzung von diagrammatischen Modellen, die universelle Relationen repräsentieren; der Charakter dieser Relationen als qualitativ-quantitativer und nicht numerisch-exakter Relationen; die explizite Axiomatisierung der mathematischen Objekte mit Hilfe und auf der Grundlage derartiger universeller Relationen, in Abkehr von einer primären Fundiertheit mathematischer Objekte in der physikalischen ‚Realität‘; das Interesse am Beweis und nicht an der Produktion; und schließlich die Allgemeingültigkeit des durch die relationale Analyse des mathematischen Modells gewonnenen Beweises. Zweitens ist als Ergebnis festzuhalten, dass eine solche Mathematik positiv durch authentisches Material aus erster Hand außerhalb und vor Platon für keinen einzigen ‚Mathematiker‘ bezeugt ist. Zwar lassen sich verschiedene Traditionen von Mathematik vor und neben Platon ausmachen. Zu nennen ist einerseits ‚Mathematik‘ in den herstellenden und messenden Künsten wie Landvermessung, Sternenkunde, Handwerk, Ingenieurswesen etc., sei es traditionell als reines, implizit-mathematisches Beobachtungs- und Erfahrungswissen (bezeugt schon bei Hesiod) oder mit fortschreitender Zeit technisch fortschrittlicher numerisch-messend (von vielleicht Thales über sicher Eupalinos, Oinopides, Hippokrates und Theodoros bis Eudoxos); und andererseits die pythagoreische Tradition, repräsentiert von insbesondere Philolaos und Archytas. Aber bei allen Unterschieden in Methode und Gegenstandsbereich im Detail eint all diese Formen von Mathematik, dass sie die Charakteristika der ‚euklidischen‘, von Platon vertretenen Mathematik eben gerade nicht aufweisen. Insbesondere nutzen sie, soweit sich das aufgrund positiver Evidenz feststellen lässt, ausschließlich partikulare diagrammatische Modelle, die vollständig und unmittelbar in der physikalischen Realität aufgehen und als physikalische Objekte (sei es skaliert, sei es direkt) exakt messbar sind. Der Grund ist transparent: Das Interesse besteht in der direkten Erfassung, Beschreibung und / oder Manipulation der relevanten physikalischen Gegenstände. Ein eindrückliches Beispiel ist Eudoxos, der noch zur Mitte des 4. Jhs. v. Chr. nachweislich in dieser Tradition steht. Der letzte Punkt führt zum dritten Ergebnis: An Eudoxos erweist sich, dass eine Reformierung der Mathematik im euklidischen Sinn positiv gesichert erst für Platon festzustellen ist, und zwar nicht nur in Hinsicht auf seine programmatischen Forderungen insbesondere in der Politeia, sondern auch konkret in Hinsicht auf die Auswirkungen seiner Zusammenarbeit mit Eudoxos, in dessen astronomischem Werk sich Platons Forderung einer Axiomatisierung der Mathematik im Sinne einer ausschließlichen Fundierung in universellen, in dihairetischer Weise gewonnenen qualitativ-quantitativen Relationen direkt in der Überarbeitung ein und derselben Schrift recht exakt zur Mitte des 4. Jhs. v. Chr. dingfest machen lässt. Angesichts dieser zeitlichen Verhältnisse müssen wir insbesondere auch für Hippokrates von Chios annehmen, dass er im 5. Jh. v. Chr. noch in eben dieser früheren Tradition stand. Seine ‚Ele-

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mente‘ (und per Implikation auch die späterer Autoren) waren dann – gewiss erfunden aus dem Streben nach Differenzierung, ebenso gewiss wohl in einem ‚sophistisch‘-‚technischen‘ Kontext – zwar mit großer Sicherheit ein ‚mathematisches‘ Handbuch als Sammlung einzelner ‚Sätze‘, diese Sätze widmeten sich aber nicht dem Auffinden universeller mathematischer Erkenntnis, gewonnen am abstrakten Diagramm qualitativ-quantitativer Relationalität mit dem Ziel des allgemeingültigen, wahren Beweises, sondern (wie sich vermuten lässt) der Darstellung des kunstgerechten, beeindruckenden und erfolgreichen Vollbringens von anspruchsvollen praktischen Aufgaben mit der Hilfe numerisch-exakter Messung (mit dem Zweck der sophistischen ‚Bildung‘). Die Gattung der ‚Elemente‘ hätte sich, ausgehend von diesem Anfang, zu einem späteren Zeitpunkt radikal gewandelt, zwar nicht in ihrem Aufbau, ihrem grundsätzlichen Gegenstandsbereich und schließlich auch nicht in ihrer Diagrammbasiert- und -orientiertheit, wohl aber in dem spezifischen Charakter der verwendeten und interessierenden Relationen – dies aber mit der weitreichenden Folge, dass es von da an nicht mehr um praktische, sondern um theoretische Ziele ging: Das exakt-numerische Messen und Manipulieren prima vista ‚mathematischer‘, aber dann doch empirisch-physikalischer Objekte wurde abgelöst vom universellen Beweisen wahrheitsfähiger qualitativ-quantitativer mathematischer Sachverhalte. Unter der Decke äußerlicher Kontinuität hatte sich ein revolutionärer Paradigmenwechsel vollzogen, mit dem sich der Kern mathematischer Praxis grundlegend gewandelt hatte. Als entscheidender Zeitraum für diesen Wandel konnte die Zeit der (späten) 360er / 350er Jahre v. Chr. erwiesen werden, eine Zeit, in der sich nicht nur aus Platons Dialogen, sondern auch aus unabhängigen Zeugnissen eine rege mathematische Forschungstätigkeit für die Akademie feststellen lässt. In der Tat finden sich die für das neue mathematische Forschungsprogramm unabdingbar benötigten axiomatisierenden Definitionen universeller mathematischer Objekte positiv gesichert erst bei Platon, ganz in Entsprechung zu Aristoteles’ explizitem Zeugnis, dass überhaupt erst Platon das Projekt der Definition angegangen sei; und an Eudoxos hat sich andererseits ebenso gezeigt, dass ohne derartige Definitionen eine Mathematik euklidischen Typs im Sinn einer ‚beweisenden‘ Mathematik im historischen methodologischen Kontext schlicht prinzipiell nicht möglich gewesen wäre. Zumindest hätte sie nicht so aussehen können, wie sie in Euklids Elementen entgegentritt. Dasselbe gilt mutatis mutandis für die erst für Platon bezeugte Postulierung eines vom physikalischen Bereich kategorial getrennten Bereichs des Intelligiblen, die ja (ungeachtet der Möglichkeit hiervon abweichender mathematikphilosophischer Ansätze, wie etwa desjenigen des Aristoteles, der ja aber im Zuschnitt gerade dezidiert post-platonisch ist und als solcher eben keine Entsprechung im Zeitraum vor Platon hat) im mathematikgeschichtlichen Kontext das erste Mal die sichere konzeptuelle Grundlage dafür schafft, von solchen universellen Relationen systematisch sprechen und solche universellen Modelle konstruieren zu können – und vor allem: dies überhaupt zu wollen. Hieraus folgt das vierte Ergebnis: In der für uns fassbaren Geschichte der frühen griechischen Mathematik kann allein für Platon ein hinreichender Grund dafür be-

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nannt werden, eine Mathematik euklidischen Typs betreiben und propagieren zu wollen. Zum einen konnte aufgezeigt werden, dass eine solche Mathematik angesichts der spezifischen ontologischen und epistemologischen Position Platons einen entscheidenden und vor allem in ganzer Breite substantiellen Beitrag zur Erkenntnis leistete und als einziges Instrument der Befreiung aus den Fesseln der Höhle ein entscheidender und unabdingbarer Schritt von der Sinneswahrnehmung zum höchsten Wissen war – welches seinerseits in Platons Augen eben anders prinzipiell gar nicht erreichbar gewesen wäre. Zum anderen, und dies ist im historischen Kontext ein vielleicht noch stärkeres Argument, stellt sich die Frage (und müsste in jedem Fall beantwortet werden), wer denn überhaupt außer Platon eine solche Mathematik hätte gutheißen können – das heißt von denjenigen Mathematikern, für die das Betreiben einer Mathematik euklidischen Typs nicht schon von vornherein aufgrund der erhaltenen Zeugnisse positiv ausgeschlossen werden konnte. Anders und spezifischer gefragt: Wer denn außer Platon hätte überhaupt irgendeinen Nutzen darin sehen können, eine seit Jahrhunderten, im griechischen Raum möglicherweise schon seit Thales praktizierte und spätestens mit Eupalinos von Samos direkt bezeugte und dann mit Hippokrates von Chios (oder in Ansätzen gegebenenfalls schon früher) literarisch-‚kunst‘-fertig gewordene Mathematik, mit der sich die physikalische Welt in allen drei Dimensionen und in der Zeit mit stetig wachsendem Erfolg (im Rahmen der damals erreichbaren Messgenauigkeit) exakt numerisch und mit hohem praktischen Nutzen in allen relevanten Bereichen des alltäglichen Lebens vermessen ließ, für eine Mathematik einzutauschen, die aufgrund ihrer methodologischen Verfasstheit in Verbindung mit ihrem dezidiert erkenntnisorientierten Ziel im spezifischen historischen (auch logisch-theoretischen) Kontext in einer radikalen Beschneidung des Werteraums die verfügbaren Parameter auf basale qualitativ-quantitative Relationstupel wie ‚kleiner als‘ vs. ‚gleich groß‘ vs. ‚größer als‘ reduzierte? Also eine zweifellos praktisch-nutzbringende Mathematik, mit der man messen, herstellen und das wirkliche Leben tatkräftig verbessern konnte, gegen eine Mathematik, die nichts als wahre Beweise lieferte – und zwar von allgemeinen Aussagen zu abstrakten Objekten, die als solche allein im Bereich des Denkens existierten, abgesondert von jedweder greifund erfahrbarer ‚Wirklichkeit‘? Das Ergebnis ist eindeutig: Wir müssen die Erfindung der Mathematik euklidischen Typs in der Tat Platon zuweisen. Sie lässt sich, wenn auch in Ansätzen gegebenenfalls schon etwas früher beginnend, recht genau auf den Zeitraum der 360er und 350er Jahre v. Chr. datieren. Nur diese Deutung ist mit den positiv nicht nur bei und zu Platon, sondern auch für die anderen Autoren seiner eigenen und der ihm vorangehenden Zeit gegebenen Zeugnissen kompatibel. Entsprechend können wir das Fehlen direkter, nicht von der späteren antiken Mathematikgeschichtsschreibung euklidisch überformter Zeugnisse für eine etwaige vor- und außerplatonische Mathematik euklidischen Typs als direkten Reflex der historischen Entwicklung selbst deuten: Erst Platon erschuf die Mathematik euklidischen Typs. Sie wurde zum Zweck der Erkenntnis aus der Muße heraus geboren in der Akademie.

Literaturverzeichnis Abkürzungen Die Abkürzung antiker Werke folgt LSJ; falls sich dort keine Abkürzung findet, werden die vollen Titel verwendet. Platons Werke sind ohne Autornamen zitiert; Euklids Elemente als Elem. Querverweise auf Fußnoten beziehen sich in der Regel auf dasselbe Kapitel; andernfalls benennt eine vorangestellte hochgestellte Zahl das entsprechende Kapitel. Übersetzungen sind, soweit nicht anders vermerkt, meine; dasselbe gilt für Hervorhebungen in Zitaten (außer natürlich aus der antiken Literatur).

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Primärliteratur Soweit nicht anders angegeben, sind die Texte nach den gängigen Standardausgaben angeführt und zitiert. Mitunter ist stillschweigend die Interpunktion modifiziert; Sprecherwechsel in Platons Dialogen sind in der Regel nicht durch Absatz, sondern Gedankenstrich markiert. Im Folgenden sind nur die weniger gebräuchlichen Autoren und Werke aufgeführt, die öfter zitiert wurden, und falls von den Standardausgaben abgewichen wurde. Die Aristoteles-Kommentatoren sind nach CAG zitiert. https://doi.org/10.1515/9783110616491-009

434 | Literaturverzeichnis

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Indizes Die folgenden vier Indizes zu Sachen, Namen, griechischen Wörtern / Wendungen und Stellen sind als komplementär zueinander konzipiert. Das Sachregister erschließt selektiv und thematisch sortiert relevante inhaltliche Aspekte des Buches als systematische Ergänzung von Inhaltsverzeichnis und Zusammenfassungen. Die Register zu Namen und Stellen streben Vollständigkeit an, außer dass im ersten Fall aus naheliegenden Gründen Platon und Euklid nicht bzw. nicht erschöpfend berücksichtigt wurden. Im Stellenregister stehen umfassendere Stellen vor weniger umfassenden.

Sachen Akademie – als Ort der Forschung 23–27, 41, 178, 181, 186, 193, 195–197, 207–212, 242–244, 354, 379, 421 f., 429, 431 – Bildungsprogramm 26, 353 f., 428; siehe auch Bildung, platonische Archäologisches / Historisches – Apollon-Tempel (Delos) (GD 42) 201–206 – Apollon-Tempel (Delphi) 202, 204 – Apsiden-Bau (Delos) (GD 39) 202 f. – Artemision (Ephesos) 36, 161 – Bauzeichnungen 162 – Hörneraltar (Delos) 199, 202–206 – Münzen 159 – Naopoioi 201–204, 206 – Parthenon (Athen) 211 – Theater von Epidauros 211 – Tunnel des Eupalinos (Samos) 15, 36, 161–163, 175 – Verhältnis Delos – Athen 199–202, 205 – Zeusaltar (Olympia) 204 – siehe auch Praktische Mathematik, Architektur Arithmetisches – Berechnung 125 f., 130 f., 136, 142 f., 169, 174, 221, 328, 358, 362 f., 402 – Gerades / Ungerades 21, 319 f., 322 – ‚Hochzeitszahl‘ (Platon) 29, 302 – perfekte Zahl 21 – Primzahl 314 – psephoi 159, 359 – pythagoreische Tripel 26 – Quadratzahl 151–159 – Rechteckzahl 157 f. – Zahl 1, 5, 21, 26, 29, 137 f., 157 f., 163, 226 f., 245, 247, 266–269, 292, 302 f., https://doi.org/10.1515/9783110616491-010

313 f., 319 f., 322, 327 f., 340, 342, 358–361, 363 f., 369 f., 372, 379, 384, 398, 402 f., 405 f., 408 – ‚Zahl des Tyrannen‘ (Platon) 29 – siehe auch unter Definitionen Astronomisches – Äquator 61 f., 256–258 – Auf- und Untergänge 227 f., 251 f., 254– 256, 259 – Drehbewegung 211, 245, 248, 251, 263, 340–344, 359, 390, 398–405, 407 f., 413 – Ekliptik 253 – Erde 55, 64 f., 260, 341, 344, 404 – Fixsterne 55, 62, 64, 211, 227 f., 244 f., 247, 251–254, 262, 281, 398 f., 402– 404, 407 f.; siehe auch Sternbilder – Großes Jahr 163, 253, 403 – Himmelskartierung 61 f., 66–68, 163, 254 f., 261–264 – Himmelskreise 61 f., 106, 254–262 – Himmelskugel 61 f., 64, 66–68, 106, 259– 262, 264, 341, 343 f. – Horizont 100 f., 253, 259 f. – Jahreslänge 173, 253 f. – Kalender 56, 61 f., 168, 173, 228, 247, 250–256, 259–261, 263, 332, 344, 364, 398, 403, 406 – Koluren siehe Astronomisches, Stutzschwanzkreise – Kometen 344 – Kosmos 22, 37, 55 f., 64, 67 f., 226 f., 247 f., 250 f., 272, 367, 370, 376 f., 388, 398 f., 402 f., 408 – Milchstraße 253

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– Mond 55, 64 f., 211, 258, 262, 398 f., 402– 404, 407 f. – Neigung der Himmelsachse 253 – Parapegma 163, 254 – Planeten 37, 251, 254 f., 262, 340 f., 343 f., 367, 398 f., 402–404, 407 f. – Präzession 261 – Relation Erde – Mond / Sonne 64 f. – Retrogradation 340 f. – Sonne 55, 64 f., 211, 253–258, 262, 272 f., 280 f., 285, 288 f., 290–292, 299, 306, 309, 332, 335, 341, 351, 398, 402–404, 407–410, 413 f., 426 – Sonnenuhr 173 – Sonnenwende 61, 173, 256–259, 262, 398 – Sternbilder 55 f., 59, 62, 66, 245, 251– 256, 258 f., 263; siehe auch Fixsterne – Stutzschwanzkreise 62, 258–260 – Tag-und-Nacht-Gleiche 61 f., 256–258, 398 – Tierkreis 61, 253, 256 f., 259, 376 – Wendekreis 61, 256–258, 260 f. – Zeit 263, 360, 398 f., 403 f., 408 – siehe auch unter Definitionen Bildung – Isokrates 351–355, 424 f. – platonische 20 f., 26, 30 f., 37, 43, 280, 286, 297, 348–366, 368, 399–405, 412–416, 424–428; siehe auch Akademie, Bildungsprogramm – Sokrates 250 f., 354, 421 – sophistische 152, 169–172, 354, 430 f. – traditionelle 23, 169–172, 283–285, 349– 354, 357, 421, 424 f. Datierung (Personen) – Apollonios 197 – Archytas 193 – Attalos 257 – Autolykos 2 – Demokrit 166 – Diokles 197 – Eratosthenes 180 – Eudemos 4 – Eudoxos 159, 193–196, 255 f., 260 f. – Euklid 2 – Eutokios 180

– Heron 197 – Hippokrates 7 – Leon 12 – Menaichmos 193 – Meton 173 f. – Nikomedes 197 – Pappos 179, 197 – Philon 197 – Proklos 6 – Ptolemaios III.–V. 180 – Sporos 197 – Thales 4 – Theaitetos 152 f., 159 f. – Theodoros 152 f., 160 Datierung (Sachen) – Exhaustionsmethode 164 – Inkommensurabilität 117, 139, 152, 155 f., 158–160, 178, 194, 236, 238, 385 – Mathematik euklidischen Typs 1–17, 29, 43, 83, 105 f., 147, 150–153, 160, 175 f., 208, 229, 242, 250, 263, 269 f., 320, 406, 419–425, 429–432 – platonische Körper 19 f., 26 – Quadratrix 19 – Würfelverdopplung (Lösungen) 193–197, 206 f., 236, 421 f.; siehe auch Würfelverdopplung, Geschichte Datierung (Schriften / Texte) – Aristophanes, Vögel 7, 173 – Aristophanes, Wolken 170 – Autolykos, Über Auf- und Untergänge 2 – Autolykos, Über die rotierende Kugel 2 – Eratosthenes’ Brief an Ptolemaios 180 – Eudoxos, Enoptron / Phainomena 256, 259–261 – Eudoxos, Octaeteris 255 – Eudoxos, Über Geschwindigkeiten 254 f., 340, 343 – Euklid, Elemente 2 – Isokrates, Antidosis 351 f. – Isokrates, Panathenaikos 352 – Platon, Menon 117, 138, 325, 428 – Platon, Nomoi 195 – Platon, Politeia 209 f., 343, 428 – Platon, Theaitetos 152 f., 428 – Platons Schriften (allgemein) 38, 117, 161, 209 f. – Ps.-Platon, Sisyphos 158 f., 194

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Definitionen – alogos (verhältnislos) 139 – Diagonale 144 – Dreieck 147 – Durchmesser 4, 144 – dynamis 154, 157 f. – gerade 262 – gerade Linie 80, 86, 147, 174, 262 f., 347 f. – geradlinig begrenzte Fläche 147 – Horizont 259 – kommensurabel / inkommensurabel 138 – Körper 370 – Kreis 80, 256 f., 259, 262 f., 320, 390 – Kugel 390 – Länge (mekos) 157 f. – Linie 79 f., 147, 257, 259, 262 – Meridian 259 – monas 358 – Oberfläche 305, 370 – promekes (länglich) 157 f. – Proportion 159 – Punkt (semeion / stigme) 80, 347 f. – Quadrat 128, 147 – Quadratzahl 157 f. – Raumwinkel 373 – Rechteck 124, 147 – Rhombus 147 – rhetos (sagbar) 139 – rund 262 f. – Tierkreis 259 – Umfang 80, 256 f. – Viereck 147 – Wendekreis 259 – Winkel 92, 147 – Zahl 138, 358 – siehe auch Mathematik euklidischen Typs, Definitionen Delisches Problem siehe Würfelverdopplung Diagramme, mathematische – abgebildete Relationen 76–81, 84–89, 102, 109–115, 147–149, 315, 419 f., 422, 430, 432 – als diagrams 71 f., 76–89, 114–116, 161 f., 418 – als holistisch-kompositionale Struktur 77–81, 85–89, 94 f., 101, 105, 114, 116, 321, 419 f., 425 f.

– als images 161 – als ‚lettered diagrams‘ 72, 77 f., 111, 129 f., 148 – Bezeichner 77 f., 81 f., 84, 94 f., 101, 111, 122, 124, 129 f., 147 f., 300 – Beziehung zum Text 40, 43, 71, 74 f., 78– 89, 98 f., 114–116, 118 f., 122, 146–148, 236, 418–420, 428 – Diagrammatome / Subdiagramme 79–81, 84–89, 94 f., 98, 101 f., 105, 111, 114, 147 f., 313, 323 f., 328, 419 f. – für numerisch-exakte Größen 36, 128 f., 148, 154–156, 160–163, 165, 168, 170, 184, 246, 269, 332 f., 361 f., 372, 421 f., 430 – Gegeben-Sein 73, 81–84, 86–89, 93 f., 101, 105, 109, 321–323; siehe auch Proposition, mathematische, als Wenndann-Gefüge – gezeichnete / gedruckte 78–80, 88 f., 98 f., 103–105, 109–112, 114–116, 245– 247, 313, 328–332, 419 – in moderner Mathematik 69 f. – Konventionalität 76–79, 114 f. – kritische Edition 40, 73 f., 87–89, 114 f., 118 f., 125, 129 f., 146, 213, 235 f., 420, 428 – modelltheoretische Ansätze 39, 72, 89 – ‚pop up objects‘ 81, 85 – semiotische Ansätze 39, 72, 85, 115 f., 418–420 – semiotisches Objekt 72, 77–81, 88 f., 98, 105, 110, 114, 245–247, 313 f., 419 f. – statischer Charakter 88, 103 f., 114, 361, 380, 425 – syntaktische Attribute 105, 112 – topologische Ansätze 39, 102, 104, 110, 115 – und Experiment 115, 146, 149, 150, 175, 267, 420; siehe auch Modelle, und Experiment – und neues Wissen 85 f., 88 f., 115, 419; siehe auch Modelle, und neues Wissen – und Variablen 108–111 – und Zeigegesten 85, 111, 122–125, 129 f., 133–137, 140 f., 143, 147 f., 166, 323 f. – Universalität 74–76, 107 f., 110–114, 128 f., 131, 148 f., 419 f., 422, 430

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Elementenlehre (Platon) 29, 37, 43, 294, 367–388, 404, 425 f. – Dimensionen der Erklärung 383–388, 394, 405 f., 425 – Elementardreiecke 367, 371–377, 381– 385 – Erde 37, 367–370, 377–379, 381–383, 386, 399 – Farbe 396 f. – Feuer 37, 367–370, 374, 377–386, 392, 396–399, 410 – Interaktion 380–383, 388–393, 405, 425 – Kreislauf 381–383 – Lücken 384, 386, 389 f. – Luft 37, 367–370, 377–379, 381–386, 393 f., 399 – Mischungen 384–386, 393 f. – Sorten / Größen 374 f., 381, 384–386, 393 f., 396 f. – Transformation 37, 380–384, 390 – Wasser 37, 367–370, 377–379, 381–386, 392–394, 397, 399 – siehe auch Philosophisches (Platon), Hören und Platz und Sehen und Wahrnehmung | Platonische Körper Formen der Mathematik – ägyptische 5, 10 f., 14 f., 23, 126, 162, 165 f., 174 f., 255, 261, 417 – babylonische 2, 10 f., 14 f., 23, 159, 208, 211, 260–262 – chinesische 2, 8 – pythagoreische 3, 29, 31, 159, 178, 234, 246, 250, 266, 268 f., 272, 315, 329 f., 332 f., 337, 342 f., 348, 359 f., 368, 372, 406, 411, 422–424, 430 – sophistische 170, 184 f. – voreuklidische 3–17, 39, 41–44, 151–156, 159 f., 169, 175 f., 242–244, 269 f., 329, 332, 337, 417, 421 – siehe auch Mathematik euklidischen Typs, spez. und moderne Mathematik | Philosophie der Mathematik | Praktische Mathematik Geo- / Stereometrisches – Achse 61, 103, 111, 194, 253 – Basis 4, 84, 91, 93 f., 97, 134, 163 f., 167, 185, 236, 371, 373, 376–378

– Breite siehe Mathematische Probleme, Dimensionenfolge – Diagonale 119, 122, 126–132, 137, 139, 142–145, 148, 153, 159, 168, 185, 194, 207, 326, 328 f., 331, 342 – Dreieck 4 f., 8, 21, 26, 73–75, 78, 82, 84– 86, 89, 91, 93 f., 96–98, 143 f., 147, 155, 161, 163, 167, 174 f., 211, 215, 223, 232, 236, 254, 278, 297, 367, 370–378, 381–385 – Durchmesser 4 f., 8, 144, 185, 323, 326, 390 – Ein-Fuß-Linie siehe ποδιαία – Fläche 91, 97 f., 119, 122–126, 128, 130– 138, 140–145, 147, 154, 157, 167, 174, 181, 184, 195, 200, 203, 208, 211, 323– 325, 370–372, 376–378, 381 – Form 1, 245, 248, 257, 269, 319, 369–373, 375–380, 382–385, 387, 389 f., 392, 397, 406 – Großkreis 61 f., 100, 254–256 – Hypotenuse 144, 372 f. – Kegel 163 f., 166 f., 177, 185, 201, 203, 205, 223 – Körper 157, 163, 178, 181–184, 186, 189, 195, 200 f., 206 f., 210 f., 221, 223, 229, 244, 247, 249, 305, 359, 361, 367, 369 f., 372–381, 383–389, 392–394, 399, 404 f.; siehe auch Geo- / Stereometrisches, Würfel | Platonische Körper – Kreis 4 f., 8–10, 21, 61 f., 64, 66, 73, 78– 80, 82, 84 f., 96, 100, 103 f., 106, 108, 110, 116, 126, 161, 163, 167, 172 f., 175, 177, 184 f., 202 f., 208, 223, 245, 251, 253–263, 313, 323–325, 340 f., 343 f., 375 f., 390, 399–404; siehe auch Geo- / Stereometrisches, Großkreis – Kugel 61, 64, 100–103, 106, 111, 126, 163, 223, 254, 259–261, 340, 344, 373, 375 f., 390 – Länge siehe Inkommensurabilität | Mathematische Probleme, Dimensionenfolge – Linie (gerade) 4, 21, 37, 73, 78–82, 84, 86 f., 89, 91, 93, 95–98, 107, 109, 111, 125, 130 f., 133–144, 147, 152, 154 f., 157 f., 160–163, 165, 167 f., 174, 177, 181 f., 185, 213–215, 233, 235–237, 246, 253, 259, 262 f., 271, 273, 275– 278, 296 f., 299–304, 306 f., 309–311,

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314–316, 320 f., 323, 338, 345–348, 359, 370, 385, 410 f., 414, 424, 426; siehe auch Geo- / Stereometrisches, runde (oder krumme) Linie und unteilbare Linien – Mittelsenkrechte 125–127, 132, 142 f. – Oberfläche 103, 213, 223, 305, 367, 370, 373–376, 378 f., 380 f., 383 f. – Parallelogramm 144, 370 – Pol 61 f., 103, 258 f. – Prisma 164, 185, 201 – Punkt 73, 78, 80–82, 86 f., 91, 95, 97, 100, 102 f., 111, 213 f., 236–238, 243, 347 f., 359, 373 – Pyramide 163 f., 185, 200; siehe auch Platonische Körper, spez. Tetraeder – Quader 164, 185, 200 f. – Quadrat 21, 40, 43, 117–145, 147 f., 150 f., 153 f., 156 f., 159, 168, 172, 178, 182, 185, 194, 200, 205, 207, 214, 267, 278, 303, 321 f., 326–328, 331, 333, 342, 370–372, 374–378, 411, 420; siehe auch Quadratverdopplung – Quadratrix 19 – Radius 73, 110 – Raumwinkel 21, 373, 376, 378, 396 – Rechteck 130 f., 133, 154, 156 f., 174, 208, 303, 323, 370 f. – Rhombus 126 f. – runde (oder krumme) Linie 21, 80, 163, 182, 196 f., 221, 224, 234, 255, 262; siehe auch Geo- / Stereometrisches, Linie (gerade) – Sechseck 371 – Seite 82, 91, 119, 123–128, 130–141, 144 f., 148 f., 153–155, 157, 168, 177, 181, 184–186, 194, 200, 207, 323, 333, 370–373, 377 f., 385 – Tiefe siehe Mathematische Probleme, Dimensionenfolge – Umfang 80, 100, 103 f. – unteilbare Linien 347 f., 385 – Viereck 119, 121–124, 126–128, 147, 157, 375 – Volumen 130, 163–165, 177, 182 f., 185, 200, 208, 374 f., 379 f., 390 – Winkel 4–6, 9, 21, 66, 84, 91–93, 102, 109, 123, 128, 141 f., 144 f., 147 f., 155, 163, 175, 177, 213–215, 235, 253 f., 319,

371–373, 376, 380; siehe auch Geo- / Stereometrisches, Raumwinkel – Winkel, gemischter 163 – Würfel 9, 19, 37, 40, 43, 177 f., 181–187, 191–197, 199–201, 203, 205–207, 209 f., 212, 217, 220, 222–224, 226, 228–231, 239, 242 f., 359, 367, 373, 375–379, 382; siehe auch Platonische Körper | Würfelverdopplung – Zentrum 8, 73, 125 f., 263, 375 f. – Zylinder 163 f., 167, 182, 185, 223, 228 – siehe auch unter Astronomisches | Definitionen Historisches siehe Archäologisches / Historisches Höhlengleichnis 37, 43, 63, 245, 271, 276, 279–297, 304–312, 314–318, 321, 332, 334, 342, 345–350, 355, 358, 364, 367, 399, 408, 423–425, 428 f. – als Modell 289 f., 295 f., 306 f., 345–347, 368, 413–416, 424, 426 f. – Bildseite 280–282, 286 f., 347 – ontologische Dimension 282–289, 300, 306, 423, 431 f. – Original-Abbildungs-Relation 285, 287– 290, 298, 307 f., 345, 423 – politische / poetologische Deutungen 284–286, 349, 357, 367, 413 – Rückkehr in Höhle 281 f., 351, 413 f., 424, 426 f. – und condicio humana 283 f., 305, 346, 407, 413, 426 – siehe auch Liniengleichnis | Philosophisches (Platon) | Sonnengleichnis Inkommensurabilität 21, 28, 30, 151–160, 178, 194 f., 200, 207 f., 238, 266, 385, 421, 428 – als praktische Schwierigkeit 154 f., 158, 168 f., 264 f. – kubische 139 – Spirale des Theodoros 154 f. – Terminologie 137–140, 157 f., 373 – theoretische Grundlagen 139, 155 f., 158– 160, 169, 385 – siehe auch Datierung (Sachen), Inkommensurabilität | Definitionen | Proportionentheoretisches

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Liniengleichnis 28, 37 f., 43, 63, 75, 121, 271–348, 355, 385, 423–425 – als Modell 37 f., 43, 271–279, 296, 299– 310, 312, 314–316, 337, 345–347, 368, 409–414, 416, 423 f., 426 f. – Bildseite 273, 280 – epistemologische Dimension 274–277, 297–300, 306 f., 314–322, 325–339, 345 f., 356 f., 411, 423, 431 f. – integrative Deutung 43, 271, 279–281, 285, 304–307, 309, 314 f., 345–347, 407–409, 423 f., 426–429 – Konstruktion 273, 278 f., 302 f., 307–310, 314 f., 338 – mathematische Eigenschaften 29, 273, 277–279, 296 f., 300–310, 314 f., 338 f., 345 f., 423 – ontologische Dimension 273 f., 276 f., 297–300, 306–308, 312–314, 318, 327, 330, 345 f., 411, 423, 431 f. – Original-Abbildungs-Relation 275–277, 300 f., 304–310, 314, 317 f., 337, 423 f. – Problematik 29, 271–273, 277–279, 304, 314, 345, 423 – und Würfelverdopplung 217 – siehe auch Höhlengleichnis | Philosophisches (Platon) | Sonnengleichnis Literarisches (Platon) – Anachronismus 153, 159 f., 428 – Aussparungsstelle 410 – Dialogsituation 117, 120–122, 124, 129 f., 140, 145 f., 420, 428 – Fiktionalisierung 152 f., 159 f., 209, 428 – Mimesis 350, 408–416, 426–429 – Protreptik 121, 413–416, 426–428 Mathematik euklidischen Typs – axiomatisch-deduktive Methodik 1 f., 5, 10, 12–15, 28 f., 35, 69–72, 80, 87 f., 94, 96 f., 106 f., 116, 147, 161, 229, 319–322, 333, 337, 365, 417, 419 f., 430 f.; siehe auch Definitionen | Mathematik euklidischen Typs, Axiome und Beweis und Definitionen – Axiome 12, 106, 108, 149, 318, 365, 420 – Bedeutung 1 f., 417 – Bedeutung von Diagrammen 11, 35, 39, 43, 69–72, 75, 321, 328, 418–420, 430 f.

– Beweis 1–5, 7 f., 14 f., 69 f., 74 f., 84 f., 88, 108–110, 112 f., 146 f., 165 f., 168 f., 235, 269, 321 f., 361 f., 417–420, 422, 430–432; siehe auch Proposition, mathematische, spez. Apodeixis – Charakteristik 1–3, 5, 13 f., 23, 29, 34 f., 39, 43, 129, 184, 240, 269 f., 323 f., 417, 419 f., 429 f., 432 – Definitionen 13, 25, 29, 79–81, 86, 88, 92, 98, 106, 109–112, 119–121, 129, 147, 153, 168, 174, 259, 262 f., 318–320, 324, 333, 338, 365, 420, 430 f. – empirische Natur 108, 365 f. – Überlieferung 2–6, 9 f., 31, 33 f., 40–43, 117 f., 145 f., 161, 175, 178–180, 183, 230, 233, 417, 420, 429 f., 432 – und moderne Mathematik 1 f., 29, 31 f., 39, 69–71, 74, 80, 102, 104, 108–111, 113, 115, 177, 196, 322, 361, 365 f., 406 f., 417 – siehe auch Datierung (Sachen), Mathematik euklidischen Typs | Diagramme, mathematische | Proposition, mathematische | Mathematische Disziplinen Mathematische Disziplinen – Arithmetik 5, 7, 16, 19 f., 22, 69, 129, 131, 152, 210 f., 227, 248, 259, 269, 292, 319, 350, 358–362, 364, 404, 424, 427 – Astronomie 6 f., 18 f., 152 f., 163, 170–173, 210 f., 223, 226–228, 244–265, 267– 270, 292, 319 f., 332, 342–344, 350, 352 f., 359–361, 363 f., 399, 401–405, 422–424, 427 – Geodäsie 174, 230 – Geometrie 2, 5–8, 12, 16–20, 22, 24 f., 70, 117, 152–154, 160, 163, 169–175, 189, 208, 210 f., 215, 220 f., 223 f., 227, 229 f., 245 f., 248 f., 269, 274, 292, 297, 319, 321–323, 339, 350, 352 f., 358–362, 364, 404, 421, 424, 427 – Harmonielehre 20, 152, 223, 227–229, 244, 249, 264–269, 332, 350, 356, 359–361, 364, 402, 404, 422–424, 427 – Maßtheorie 25 – Mechanik 25, 177 f., 189, 221, 223, 228– 230, 241, 243 – Optik 25, 379 – Proportionentheorie 3, 16, 26, 32, 69, 117, 155, 158, 164, 218, 236, 264 f., 356, 385

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– Stereometrie 18, 20, 194 f., 208–212, 223, 229 f., 243, 248 f., 264, 350, 359–361, 404, 421, 424, 427 – siehe auch unter Praktische Mathematik Mathematische Instrumente – Astrolabium 254 – Gnomon 253 – Lineal 168, 171–174, 177, 213–215, 223, 233, 238 – Zirkel 168, 171, 173, 177, 223, 233 – zur Würfelverdopplung 40 f., 177 f., 182, 186, 214, 216 f., 220–226, 228, 232– 234, 237–239, 422; siehe auch Würfelverdopplung, Platons Lösung Mathematische Methoden – Analysis 23–26, 241, 324 – Anthyphairesis 155, 211 – Dihorismos 25 f., 324 – Exhaustionsmethode 164, 166 f. – Flächenanlegung 21, 200, 238, 361, 370 – ‚geometrische Algebra‘ 31 f., 70 f., 115, 208, 303 – Hypothesis-Verfahren siehe Philosophisches (Platon), Hypothesis – Kegelschnitte 27, 177, 237 f., 243, 245, 325; siehe auch Würfelverdopplung, Eudoxos’ Lösung und Menaichmos’ Lösungen – Kongruenzmethode 8, 92, 97 – mechanische 130, 165, 234 f., 240 – reductio ad absurdum 20, 69, 76, 97–99, 135 – Reduktion 183 f., 324 – Schnitt 23 f., 26, 385 – Symmetriebetrachtung 8 Mathematische Probleme – antike Klassifikation 177 – Dimensionenfolge 21, 138, 194 f., 211, 358–361, 370, 381 – Einbeschreiben in Kreis 126, 323–325, 375 f. – Einbeschreiben in Kugel 373, 375 f. – Gleichheit 21 – Quadratur des Kreises 9 f., 18 f., 173–175, 177, 184, 208 – Quadratur geradlinig begrenzter Flächen 154, 157, 200, 208, 361, 370 – Quadratur von Möndchen 9, 12, 72, 183 f., 253

– Rettung der Phänomene 37, 339–346, 367, 404, 424 – ‚Satz des Pythagoras‘ 14, 126, 155, 174 – Verhältnis Kegel – Zylinder 163–165, 185 – Verhältnis Kreissegment – Quadrat 184 f. – Verhältnis Pyramide – Prisma 163–165, 185 – Winkeldreiteilung 9, 175, 177 – Winkelgeschwindigkeit 21, 103 – Winkelhalbierung 109, 175 – Winkelmessung 92, 102, 128, 144 f., 175, 253, 372 – siehe auch Inkommensurabilität | Quadratverdopplung | Würfelverdopplung Modelle – als Abbildung 66 f. – als icons 35 f., 38 f., 45 f., 50, 418, 427 f. – als Muster 60 – Automaten 281 – Bedeutung für Wissenschaft 35 f., 59 f., 418, 427 f. – bildliche 53–57, 427; siehe auch Semiotisches, image – diagrammatische 35–40, 43, 418, 427, siehe auch Diagramme, mathematische | Semiotisches, diagram – Eigenschaften qua icon 66 – Gebrauch 45 f., 50; siehe auch Semiotisches, Zeichenverwendung – gegenständliche 224 f., 229, 231 f., 234, 243 f., 248, 422 – heuristische 232–235, 241–243, 324 f., 422 – in Tekmerienmethode 35, 394 – mathematische siehe Modelle, diagrammatische – metaphorische 35 f., 394–396, 406, 408 f., 411, 413, 418, 427; siehe auch Semiotisches, metaphor – Modellattribute 66–68 – Original-Abbild-Relation 48–50, 54 f., 63, 65, 67 f. – Skalen- 36, 162 f., 178, 200 f., 207 f., 211, 229, 246, 430 – syntaktische Attribute 66–68 – Theorieansätze 35 f., 38 f., 42, 44 f., 66 f., 109 f., 418, 427 f. – und Beschreibungen 56 f.

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– und Experiment 60, 67, 225; siehe auch Diagramme, mathematische, und Experiment – und neues Wissen 58 f., 62, 67 f.; siehe auch Diagramme, mathematische, und neues Wissen – und Theorie 66 f., 109 f. – siehe auch Archäologisches / Historisches, Bauzeichnungen | Diagramme, mathematische | Semiotisches Musiktheoretisches – chromatische Systeme 266 – diatonische Systeme 266 – enharmonische Systeme 266 – Intervall 265–268, 332, 402 – Lautstärke 395 – Oktave 265 f., 402 – pyknon 266, 268 – Quarte 266 – Quinte 266 – tetraktys 266 – Tonhöhe 228, 268, 394 f. Philosophie der Mathematik – aristotelische 22, 26, 109 f., 313, 322, 387, 431 – moderne 2, 32, 70, 108, 322, 365; siehe auch Mathematik euklidischen Typs, und moderne Mathematik – Proklos 23, 83, 109 f. – pythagoreische 22, 226–229, 234, 243 f., 266, 268 f., 288, 313, 342 f., 360, 372, 424 – stoische 167 – siehe auch unter Liniengleichnis | Philosophisches (Platon) Philosophisches (andere) – Atomtheorie 166 f., 369 f., 387 f., 406, 425 – Elementenlehre (Empedokles) 368 f., 381 f. – Flusstheorie (Heraklit) 293 f., 399 – Harmonielehre (pythagoreische) 265 f., 268 f., 394–396, 405 f., 424 f. – Kosmologie 36, 64, 169, 250 f., 342 – Mimesis (Pythagoreer) 287 f.; siehe auch Philosophie der Mathematik, pythagoreische

– Naturphilosophie (pythagoreische) 226– 229, 250–252, 333, 342 f., 368, 422– 425 – Naturphilosophie und Experimente 267 – Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch (Aristoteles) 20, 293 – Tekmerienmethode 35, 394–396 – Viele, das (Pythagoreer) 295 Philosophisches (Platon) – Allgemeine Bedeutung der Mathematik 17–23, 27–30, 33, 37 f., 417 f. – Anamnesislehre 30, 117, 119 f., 127, 145, 411 – chora 294, 389 f. – Definitionen 321, 342 f. – Dialektik 21, 31, 271, 274, 297–299, 315– 319, 327, 333–339, 350 f., 355 f., 362, 364, 405, 410–415, 423 f., 426 – Dianoia 245, 275 f., 278 f., 297–299, 301 f., 306, 309, 311 f., 326–328, 330– 334, 336, 338 f., 346, 350, 358, 360, 362–364, 411 – Dichtung als Wahrnehmung 308, 317, 350, 368, 409, 414–416 – Dichtungskritik 285 f., 308, 349–351, 357 – Doxa 120, 275 f., 291, 294, 298–302, 306, 309, 333, 336–339, 347, 350, 362, 411, 416, 420; siehe auch Philosophisches (Platon), wahre Meinung – Eikasia 276, 285, 299, 301 f., 305 f., 309, 334, 339, 350, 368, 413 f., 415 f.; siehe auch Philosophisches (Platon), Wahrnehmung – Eine, das 22, 292–295, 307–314, 334 f., 337 f., 345, 355, 402, 405, 408, 410, 412–414, 426, 429; siehe auch Philosophisches (Platon), Prinzipienlehre – Episteme 121, 127, 145 f., 149, 275 f., 278 f., 291, 294, 298 f., 301 f., 306, 309, 319, 333 f., 336, 338 f., 357 f., 361, 363, 368, 409, 411 – Form 29 f., 38, 274–278, 283, 287–293, 295–299, 304–317, 319 f., 322, 325– 328, 330, 334–337, 339, 342, 346, 348 f., 355 f., 358, 360, 362 f., 390, 404, 406, 408, 411 f., 423, 426, 429 – Formenlehre 33, 38, 272–274, 277, 282– 284, 287 f., 295, 307 f., 314, 327, 342, 348, 355

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– Göttliches 22, 221, 290, 349, 351, 369, 399, 401 f., 404 f., 426 f. – Große-und-Kleine, das siehe Philosophisches (Platon), Viele, das – Gute, das 22, 30, 272, 280, 288, 290– 294, 299, 306, 309, 316, 334–337, 348–351, 354, 356 f., 360, 402, 405, 407–410, 412–414, 426, 428 f., 432; siehe auch Philosophisches (Platon), Prinzipienlehre – Harmonie 355, 394, 401–405 – Hören 268, 283 f., 290, 359, 394–396, 398, 409, 415, 425–427; siehe auch Philosophisches (Platon), Wahrnehmung – Hypothesis 20, 30, 113, 117, 293, 316– 326, 331–334, 336–338, 340–342, 346 f., 355, 388, 393, 404, 410 f., 424, 426 – Intelligibles 221, 226–228, 245 f., 272– 274, 276, 278, 280, 282–284, 289– 292, 296–306, 308 f., 311 f., 315–317, 322, 326, 331–338, 341–343, 345–347, 351, 355–357, 361–377, 385, 387, 404, 407, 409 f., 412–414, 423 f., 431 f.; siehe auch Philosophisches (Platon), Form und Formenlehre und Mathematika – Körperliches 38, 221, 224, 226–228, 234, 238, 245–247, 272–274, 276, 278–280, 282–292, 294, 296 f., 299–301, 303– 313, 315, 317, 322, 327–339, 341 f., 344–348, 351, 356 f., 359–365, 367– 370, 372, 375–401, 403–410, 413 f., 423–426, 429, 431; siehe auch Philosophisches (Platon), Wahrnehmung – Mathematika 226–228, 274, 276, 278 f., 288 f., 296–299, 305, 310–316, 321, 326–332, 334–339, 346, 348, 356– 358, 360, 363, 387 f., 404, 406–408, 410 f., 423 f., 429 – Mimesis 265, 308, 317 f., 349 f., 415 f. – Mythos von Er 343, 400, 414 – Notwendigkeit 378, 388 f., 407 – Pistis 121, 276, 278 f., 299, 301 f., 306, 309, 312, 338 f., 409 – Platz siehe chora – Prinzipienlehre 33, 292–295, 303, 307, 309 f., 312, 314, 362 f., 371, 410, 429;

siehe auch Philosophisches (Platon), Eine, das und Gute, das und Viele, das – Rationalität des Kosmos 248, 338, 388, 400–405, 407 f., 413 f., 426 f. – Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch 293, 362 f. – Seele 244 f., 248, 275, 278, 284, 291, 293 f., 298–300, 311, 315 f., 320, 327, 331 f., 335 f., 338, 346, 349 f., 355–357, 362–364, 366, 388–391, 393, 398– 401, 407 f., 410, 413, 415 f.; siehe auch Philosophisches (Platon), Weltseele – Sehen 245, 283–285, 290 f., 299, 305 f., 309, 359, 362 f., 369, 385, 390 f., 394, 396–399, 401 f., 409 f., 415, 425, 427; siehe auch Philosophisches (Platon), Wahrnehmung – Sein 222, 245, 273, 276, 278, 280, 283, 291–294, 296, 298 f., 302, 306, 308 f., 312, 316, 335–337, 339, 349 f., 356 f., 359, 361–364, 402, 408, 425 – Sichtbares siehe Philosophisches (Platon), Körperliches und Sehen – τί-Frage 321, 327, 342 f. – Vermögen 298–300 – Viele, das 295, 303, 307–314, 337, 345, 410; siehe auch Philosophisches (Platon), Prinzipienlehre – wahre Meinung 119–121, 127, 141, 145 f., 149, 333, 336, 347, 350, 368, 409, 411, 415, 420, 426; siehe auch Philosophisches (Platon), Doxa – Wahrheit / Wirklichkeit 29, 245–247, 275 f., 279, 287, 289, 291, 293–296, 299, 302, 304, 308, 311, 338, 341, 346, 350, 355, 363 f., 408 f., 415 – Wahrnehmung 37, 120–122, 131, 145, 221, 244 f., 247–249, 267 f., 272, 278, 283– 287, 290, 293 f., 297, 299, 305–310, 312 f., 317 f., 326–328, 330–335, 337– 342, 344, 346–348, 350, 357, 361–363, 365–369, 376, 378 f., 381–384, 386– 409, 412–416, 423–427, 432; siehe auch Philosophisches (Platon), Eikasia und Hören und Körperliches und Sehen – Weltseele 399 f., 402–404, 407 f. – Werden 222, 272 f., 275 f., 278 f., 291, 293 f., 299, 301 f., 306, 309, 312, 337,

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339, 342, 357, 361, 368, 378–381, 393, 400, 405 f., 408 f., 425 – siehe auch Elementenlehre (Platon) | Höhlengleichnis | Liniengleichnis | Sonnengleichnis Platonische Körper 14, 19, 21, 27, 29, 37, 210, 367, 369, 372–388, 393, 404 f. – als Elemente 367 f., 377–380 – Dodekaeder 19, 37, 373, 376 – Ikosaeder 19, 37, 367, 372 f., 376–379 – Konstruktion 367, 373–375, 383; siehe auch Elementenlehre (Platon), Elementardreiecke – Oktaeder 19, 37, 367, 372–374, 376–379, 383, 385 f. – proportionaler Zusammenhang 29, 369 – Terminologie 373 – Tessareskaidekaeder 27, 373 – Tetraeder 19, 37, 367, 372–380, 383 – und archimedische Körper 373 – siehe auch Elementenlehre (Platon) | Geo- / Stereometrisches, spez. Würfel Praktische Mathematik 6–8, 10, 15 f., 153, 162 f., 166, 168 f., 230, 234, 243 f., 313, 328, 332 f., 337, 348, 354, 361 f., 364 f., 406, 411, 417, 422, 430–432 – Architektur 14–16, 36, 161–163, 187, 189, 207 f., 211 – Arithmetik 364; siehe auch Arithmetisches, Berechnung – Landvermessung 5, 11, 15 f., 126, 160, 166, 169–175, 184 f., 208, 230, 361 f., 364, 421, 424 f. – Sternenkunde 99, 169–172, 228, 248, 250–254, 260, 263, 320, 343 f., 364, 399, 403, 422, 424 f. – siehe auch unter Formen der Mathematik | Mathematische Disziplinen Proportionentheoretisches – Analogie 21, 273, 290 f., 299 f., 302, 306 – Goldener Schnitt 314, 385 – Mittelwert 21, 26, 268 – mittlere Proportionale (eine) 135, 178, 185, 195, 198, 208, 218, 236, 369 f.; siehe auch Inkommensurabilität | Quadratverdopplung – mittlere Proportionale (zwei) 26, 29, 178, 181–183, 185 f., 195, 197, 200, 207 f., 213–215, 221, 224 f., 228 f., 231–233,

235–237, 240, 369; siehe auch Inkommensurabilität | Würfelverdopplung – Proportion 155, 158 f., 218, 369 – superpartikulare Proportion 268 – siehe auch Inkommensurabilität | Musiktheoretisches | ἄλογος | ἄρρητος | δυνάμει | δύναμις | μήκει | μῆκος | πηλίκος | προμήκης | ῥητός und unter Definitionen Proposition, mathematische 1 f., 5, 11–15, 69, 248 f., 263, 267 f., 333, 418 f. – als Element 12, 72, 107, 116 – als Wenn-dann-Gefüge 84, 93–96, 111 f., 321–324 – Apodeixis 83–86, 88, 91–93, 95, 97, 101 f., 105, 130, 146, 150, 225, 233, 238, 321, 361, 418, 420 – Dihorismos 82–84, 91–95, 101, 132, 321, 418 – Ekthesis 81–87, 89, 91–95, 101 f., 108, 111 f., 122–125, 127, 129 f., 145–147, 225, 231–233, 238, 243, 321 f., 418, 420 – Gliederung 82 f., 89 f., 93, 101, 105 f., 114–116, 146, 234, 418–420, 428 – Kataskeue 82–87, 89, 92, 95, 101, 112, 146, 150, 224 f., 231–234, 237 f., 240 f., 243, 321, 324, 418, 420 – Problem 75, 82 f., 88, 90, 92–96, 103, 114–116, 122, 193, 231, 249, 324, 419 – Protasis 82–89, 91–96, 101, 107, 112, 122, 124, 233, 321–324, 418 – Symperasma 83, 85 f., 91–93, 95 f., 101, 146, 419 – Theorem 69, 75, 82–84, 88, 90–96, 114– 116, 122, 249, 322, 324, 419 – Variabilität 92 f., 101 – siehe auch Diagramme, mathematische | Mathematik euklidischen Typs Quadratverdopplung 21, 30, 40, 43, 87, 117–151, 156, 267, 420 f. – als Finden einer mittleren Proportionale 178, 185, 195 – und Würfelverdopplung 178, 182 f. – siehe auch Inkommensurabilität | Proportionentheoretisches, mittlere Proportionale (eine)

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Schriften / Texte – Arat, Phainomena 106, 256 f., 259, 262 – Archimedes, Methodos 130, 163–165, 180, 234 f., 240 – Archimedes, Sandrechner 104, 239 – Archytas, Über die Mathematik 227–229, 360, 394–396 – Aristarch, Über die Größen und Abstände von Sonne und Mond 104 – Aristoteles, Metaphysik M–N 22, 26, 240, 311 – Aristoteles, Zweite Analytiken 1 f., 322, 417 – Aristoxenos, Elementa harmonica 268 – Autolykos, Über Auf- und Untergänge 1 f., 99, 105–107, 223, 259, 428 – Autolykos, Über die rotierende Kugel 1 f., 99, 105–107, 223, 259, 428 – Elementenschriften 9, 11–17, 24, 28, 72, 99, 105, 107, 116, 161, 167, 229, 419 f., 428, 430 f. – Eratosthenes’ Brief an Ptolemaios 180– 192, 196–198, 200, 222 f., 225 f., 239 f. – Eratosthenes, Platonikos 187–191, 193, 195–198, 200 f., 212, 216, 218 f., 222 f., 230, 428 – Eudoxos, Enoptron / Phainomena 61 f., 106, 254–264, 269 f., 343 f., 422, 428, 430 – Eudoxos, Octaeteris 62, 254 f., 261 – Eudoxos, Über Geschwindigkeiten 254 f., 340, 343 f. – Euklid, Data 81 f., 87 f. – Euklid, Phainomena 106, 259, 263 f. – Euklid, Sectio canonis 268 f. – Geminos, Elementa astronomiae 254 – Hesiod, Astronomie 252 – Hesiod, Theogonie 36 – Hesiod, Werke und Tage 251 f., 260, 264 – Platon, Menon 415 – Platon, Parmenides 294, 415 – Platon, Politikos 415 – Platon, Symposion 294 – Platon, Timaios 19 f., 37 f., 43, 248, 272, 284, 294, 339, 363, 367–408, 411, 414, 425 f., 429 – Platons Vortrag Über das Gute 22, 292, 354 – Ps.-Platon, Sisyphos 194

– Ptolemaios, Almagest 260 – Sosigenes, Über die rückrollenden Kugeln 341 – siehe auch Datierung (Schriften / Texte) Semiotisches – Abduktion 67, 150 – Ähnlichkeit 48–52, 54–61, 63, 65–67 – argument 60 f. – Definition des Zeichens 46–48 – diagram 36, 50–53, 57–66, 418, 427; siehe auch Diagramme, mathematische | Modelle, diagrammatische – dicisign 60 f. – dyadische Relation 51–53, 57–59, 65, 418 – existential graphs 60 – Formen des Zeichens 48–50 – icon 49–66, 68, 418, 427 – image 36, 50–57, 59, 63–66, 418, 427; siehe auch Modelle, bildliche – index 49 f., 57 f., 60, 65, 77 f. – interpretant 46–49, 60 – Kategorienlehre 51–53 – metaphor 36, 50–53, 62–66, 418, 427; siehe auch Modelle, metaphorische – monadische Relation 51–54, 65, 418 – Multimedialität 65 – Objekt 46–49 – Potentialität 52, 60 f. – Qualität 51–53, 418 – Repräsentamen / Zeichen 46–49, 60 – rheme 60 f. – symbol 49 f., 56–58, 63, 65, 77 f. – Terminologie 52 f. – token 87 – triadische Relation 51–53, 65, 418 – type 87 – Zeichen und ‚Realität‘ 46–49, 57–62, 67 f. – Zeichenverwendung 45–47, 50, 54 f., 58, 61, 63, 66 f., 419 – siehe auch Diagramme, mathematische | Modelle Sonnengleichnis 37, 43, 271–273, 279–281, 283, 285, 290–296, 299 f., 304–307, 309 f., 312, 314–316, 318, 334, 342, 345–348, 351, 355, 358, 402, 423–425, 428 f. – als Modell 291 f., 295 f., 306 f., 345–347, 368, 409 f., 414, 416, 424, 426 f. – Bildseite 280, 290–292, 306, 347

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– siehe auch Höhlengleichnis | Liniengleichnis | Philosophisches (Platon) Stereometrisches siehe Geo- / Stereometrisches Wissenschaftstheoretisches – Wissenschaftliche Revolution 2, 10, 31 f., 34 f., 158, 166, 176, 229 f., 270, 430– 432 – Wissenschaftliche Theorie 1 f., 11, 13 f., 35, 69, 411 – siehe auch Modelle | Wissenschaftsgeschichtsschreibung, moderne Wissenschaftsgeschichtsschreibung, antike – Archimedes 164 f. – Charakter 3 f., 10, 31, 188, 191, 238, 266 – Historizität von Anekdoten 22, 183, 209 f. – Index Academicorum 20, 24 f., 240, 264 – Mathematikerkatalog (Proklos) 10–15, 17– 20, 23 f., 27, 152, 195 f., 320, 421 f. – peripatetische (spez. Eudemos) 3–9, 11, 18 f., 24 f., 183, 191 f., 230, 240, 266, 340 f., 417 – Problematik 3 f., 9–14, 417 Wissenschaftsgeschichtsschreibung, moderne 9, 13 f., 16, 20 f., 28, 31–35, 38 f., 69–71, 164, 192 – der Mathematikgeschichtsschreibung 31 f. – ‚Grundlagenkrise‘ 28 f., 32, 159 – siehe auch Mathematische Methoden, ‚geometrische Algebra‘

Würfelverdopplung 9 f., 18, 26 f., 40 f., 43, 140, 177–244, 319, 421 f. – als Finden zweier mittlerer Proportionaler 178, 181–188, 195, 197, 200, 207 f., 324, 369 – archäologische / historische Zeugnisse siehe unter Archäologisches / Historisches – Archytas’ Lösung 27, 180–182, 186, 189, 191, 193, 197 f., 207, 210 f., 215, 217, 219–226, 229 f., 236 f., 239, 242, 421 – Eratosthenes’ Lösung 179–182, 186, 190 f., 198, 222, 231, 239 – Eudoxos’ Lösung 27, 180, 182, 186, 189, 193, 196–198, 207, 210, 215–226, 230, 239, 242 f., 255, 343, 421 – Geschichte 178–188, 196, 206 f., 421 f. – Herons Lösung 180, 214 – Menaichmos’ Lösungen 27, 180–182, 186, 189, 193, 197 f., 207, 215, 217, 219–226, 230, 235–240, 242 f., 325 – Platons Lösung 26, 177–180, 197, 213– 244, 325, 422 – sachliche Schwierigkeit 177 – und Quadratverdopplung siehe dort – weitere Lösungen 180, 196 f., 217 f. – siehe auch Datierung (Sachen), Würfelverdopplung (Lösungen) | Inkommensurabilität | Proportionentheoretisches, mittlere Proportionale (zwei) | Mathematische Instrumente, zur Würfelverdopplung

Namen Aischylos 182 Ameristos 11 Amphiktyonen 199–201, 203 Amyklas 23 Anacharsis 7 Anaxagoras 11, 17 f., 35, 166, 253, 344, 394 Anaximander 64, 66, 250, 253, 259 Anaximenes 381 f. Antiphon 9, 64 Apollodoros 166 Apollonios 180, 191, 197, 238 Aratos 106, 256 f., 259–262 Archimedes 2, 73, 104, 130, 163–165, 180, 197, 234 f., 237, 239 f., 373

Archytas 12, 18, 23, 26 f., 41, 178, 180–182, 186, 189–194, 196–198, 207, 210 f., 215–217, 219–234, 236–244, 268 f., 315, 360, 394–396, 406, 421 f., 430 Aristarchos 104, 361 Aristippos 354 Aristophanes 7, 170, 172 f., 253 Aristoteles 1–4, 9 f., 15, 17–20, 22, 26–28, 32 f., 38, 63 f., 75, 109 f., 113, 128 f., 150 f., 160 f., 170, 174, 191, 226 f., 240, 255, 259, 263, 269, 275, 292 f., 295, 310–313, 320, 322, 327, 330, 341 f., 344, 347, 354, 382, 385, 387 f., 401, 410, 412, 417, 429, 431

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Aristoxenos 75, 265, 292 Arkesilaos 2 Athenaios 23 Attalos 257, 259, 260–262 Autolykos 1–3, 69, 72, 74, 76, 83, 90, 93, 99, 101 f., 105 f., 112, 114–116, 147, 149, 151, 154, 161, 223, 259, 263 f., 269, 348, 361, 419, 428 Boethius 268 Bryson 10 Chrysippos 166 f. Deinostratos 12, 23 Demokritos 19, 163–169, 184 f., 235, 253 f., 344, 369 f., 387 f., 397, 406, 421, 425 Dikaiarchos 24 f. Diokles 180, 197, 215, 235 Dionysios 22 Diophantos 15 Dositheos 254 Eleaten 3, 7 Empedokles 4, 36, 63 f., 368 f., 381 f., 397 Eratosthenes 104, 179–193, 195–198, 200– 202, 206, 212, 215–219, 222 f., 225, 228, 231, 234, 238–241, 428 Eudemos 4, 6–9, 11–13, 18 f., 24, 183, 191 f., 196, 211, 230, 237, 240, 253, 340 f., 417 Eudoxos 12, 16, 19, 23–27, 37, 41, 61 f., 66 f., 106, 117, 155, 158 f., 164 f., 174, 178, 180–182, 185 f., 189, 193–198, 207, 210, 215–225, 230–234, 236, 238 f., 241–244, 254–265, 269, 319 f., 325, 340–344, 421 f., 424, 428, 430 f. Euklid 1–5, 11 f., 14, 16–19, 27 f., 44, 72, 78, 92, 99, 108, 129 f., 150 f., 198, 268, 300, 417, 419, 428 Euktemon 254, 422 Eupalinos 15, 36, 161–163, 175, 430, 432 Euripides 182 Eutokios 180, 191, 196 f., 210, 212–217, 220, 222, 230, 232 f., 235, 237 f., 240–242 Galen 2 Gelon II. 239 Geminos 18

Harpedonaptai 165 f. Helikon 195, 198, 215 Herakleides 26 Heraklitos 399 Herakliteer 293 Hermippos 23 Hermotimos 12 Herodot 7 Heron 15, 180, 197, 214 Hesiod 36, 251–253, 260, 264, 430 Hipparchos 256–260, 262 Hippias 7, 19, 152, 170, 253 Hippokrates 3, 5, 7, 9, 11 f., 14 f., 17 f., 25, 72, 153, 181, 183–187, 192 f., 196, 200, 207, 253, 324, 344, 430–432 Homer 253, 349, 351, 415 Isokrates 351–355, 364, 425 Kallippos 254, 341, 344 Kallistratos 194 Leodamas 12, 23 f., 27 Leon 12, 14 f., 23 Leukippos 253 Mamerkos / Mamertios 11, 17 f. Maussolos 196, 261 Menaichmos 12 f., 23, 26 f., 180–182, 186, 189, 193, 195, 197 f., 207, 215 f., 219– 225, 230–244, 249, 325, 422 Menelaos 217 Meton 172 f., 253 f., 421 f. Nikomedes 180, 197 Oinopides 11, 17 f., 253, 259, 422, 430 Pappos 177, 179 f., 196 f., 218 Philippos 11, 18 f., 23 f., 26, 240, 262, 379 Philodemos 24 f., 240 Philolaos 18, 29, 173, 220 f., 226–228, 251, 304, 315, 430 Philon 180, 197 Phrynichos 173 Plotinos 22 Plutarch 197 f., 210, 222–225, 228–232, 234, 238 f., 241, 243 f. Porphyrios 18

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Proklos 6 f., 10–15, 17–25, 27 f., 83, 93, 96, 109, 152, 193, 195 f., 253, 320, 341, 422 Protagoras 75, 99, 174 Ptolemaios 173, 260, 340 Ptolemaios III. / IV. 180–182, 190, 197, 222 f., 239 Ptolemaios IV. / V. 180 Pythagoras 7, 11, 17 f., 20, 220, 228 Pythagoreer 18 f., 22, 37, 117, 158, 226 f., 246, 250–252, 265 f., 268 f., 288, 330, 342–344, 368, 396, 412, 422, 424, 430 Simplikios 9, 339–344 Sokrates 152 f., 156, 169–172, 185, 250 f., 253, 265, 342 f., 351, 354, 421 Sokrates, der Jüngere 156–159, 163, 168 Sophisten 170–173, 185, 285, 354 Sophokles 182 Sosigenes 340–343 Speusippos 23, 26, 193, 249, 292

Sporos 180, 191, 197 Stesichoros 11 Thales 3–9, 11, 14 f., 17, 19, 31, 34, 44, 162 f., 165, 173 f., 184, 253, 382, 417, 430, 432 Theaitetos 3, 12, 19, 23, 152–160, 163, 168, 210, 385 Theodoros 12, 17, 19, 152–163, 166, 168 f., 174 f., 184, 228, 246, 266, 361, 421, 430 Theodosius 179 Theon 179, 189, 198, 200, 218 f. Theophrast 387 f., 397 Theoudios 12, 14 f., 23 Thrasyllos 166 Xenokrates 26, 292 Xenophon 169 f., 172, 185, 250 f., 344, 351, 364

Griechische Wörter / Wendungen αἴσθησις 390 f. ἄλογος 138 f. ἀνὰ λόγον / ἀναλογία 300 ἀνάγκη 378, 388, 407 ἀνάλυσις 23 f. ἀνάμνησις 117, 411 ἀνυπόθετον 293, 334 ἀπάγειν / ἀπαγωγή 183, 324 ἀπόδειξις 7, 82–85, 165 f., 269 ἀριθμός 137, 157 f., 358 ἄρρητος 138 f. ἀρχή 318 ἄτομοι γραμμαί 347 f., 385 αὔξη 194 f., 359 αὐτός 288, 326–330, 358 αὐτοῦ 323 βάθος 194 f., 211, 359, 370 γένεσις 301 f., 339, 381 γεωδαισία 174, 230 γεωμετρία 172, 174 f., 230 γιγνώσκειν 120 γνώμων 253 γραμμή 79 f., 257, 259, 262, 323 γράφειν 101 f., 154

δεῖ 94 διὰ μέσου 124–132 διάγειν 195 f. διάγραμμα 69, 246 διάκεινα 390 διάμετρος 144 διάνοια 245, 275, 278 f., 299, 301 f., 336, 339, 358 διδόναι 81, 87 f., 94 διορισμός 82–84 δίχα 273, 309 f. δόξα 301 f., 336, 339 δυνάμει 137–140, 373 δύναμις 152–159, 298 f. δωδεκάεδρον 373, 376 ἐάν 93, 95 f., 133, 322, 324 εἰκασία 276, 285, 299, 301 f., 339, 368, 413–416 εἰκοσάεδρον 373 εἰκώς 368 ἐκ παίδων 282 f. ἔκθεσις 81–83, 160 ἐκτίθεσθαι 160 ἐν γωνίᾳ 142 ἐναργής 332

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ἔνοπτρον / κάτοπτρον 261, 264 f., 343 f. ἐπί τινος / τινι 300 ἐπίπεδον 370 f. ἐπιστήμη 299, 301 f., 336, 339, 358 ἐπιφάνεια 370 ἔστω 81, 101 f., 108, 322 εὐθεῖα γραμμή 80, 262 f. ἔχειν 84, 123 f. ἔχεσθαι 358 ζῳδιακός 259 θεώρημα 12, 90, 249 ἴσος 6 κάθετος 253 κανών 174 κατασκευή 82–84, 234 κέντρον 375 κοιναὶ ἔννοιαι 149 κόλλοπες 267 κόλουρος (κύκλος) 258 f. κύβος 373 κύκλος 64, 80, 174, 257, 259, 262 λέγω ὅτι 94 λογίζεσθαι 131 λόγος 273, 302 μάθημα 348, 352 f., 360 f., 412 μαθηματικά 310–314, 322, 412, 429 μέγεθος 137 μέθεξις 287 f. μεσότης 218 μεταξύ 311 μέτρον 402, 415 μήκει 117, 137–140, 152–154, 156–158, 373 μῆκος 79 f., 138, 157 μίμησις 287 f., 349 f., 415 f. μονάς 358 ναοποιός 201 f. νόησις 299, 301 f., 339 ὀκτάεδρον 373 ὁμοῖος 6 ὁρατόν (τό) 272 f. ὁρισμός 342 f.

οὐσία 302, 339 πάθημα 299 παρά τινι 196 παραβάλλειν 361 παράδειγμα 36, 161 f. παρατείνειν 361 περί τινα 222 πηλίκος 137, 140 πίστις 278 f., 299, 301 f., 339, 409 ποδιαία 152, 154, 158, 160–162, 168 ποιῆσαι 90 ποῖον 137 προαιρεῖσθαι 152 προβάλλειν 249 πρόβλημα 23, 90, 249 προμήκης 156 προσαναπληροῦν 142 πρότασις 83 πυκνόν 268 πυραμίς 373 ῥητός 138 f. σαφής / σαφήνεια 275 σημεῖον 80, 347 f. σοφός 170 στερεός 370, 380 στιγμή 347 f. στοιχεῖον 12 f. στρογγύλος 262 f. συμμετρία 248 συμπέρασμα 82 f., 85 f. συναμφότερος 301 συνιστάναι 247 σφαιροειδής 390 τελευτή 318 τεσσαρεσκαιδεκάεδρον 27, 373 τετραγωνίζειν 157, 361, 370 τετράγωνον 122 f. τετράγωνον χωρίον 119, 122 f., 131, 133 τί 137 τμῆμα 385 τομή 23 f., 26, 385 τυχών 112 f. ὑπόθεσις 316 f., 321–326 ὑποτιθέναι / ὑποτίθεσθαι 316 f., 321

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φαινόμενα 262 φορά 211, 359 φροντιστής 170

χώρα 294, 389 f. χωρίον 119, 123, 133 ψῆφοι 159, 359

χρᾶσθαί τινι (ὥς) τινι 317

Stellen Achilleus Tatios – Intr. Arat. – 27, 4 f. 259 – 27, 13–19 258 Ailian – VH – 10, 7 253 – 13, 12 173 Alexander von Aphrodisias – in Metaph. – p. 74, 3–76, 5 227 Amphis (Kassel & Austin) – Amphikrates – fr. 6 292 Anaxagoras (DK 59) – B21a 35 Anaximander (Wöhrle) – Ar 57 (DK 12 A21) 64, 259 – Ar 58 (DK 12 A21) 64 – Ar 60 (DK 12 A22) 65 – Ar 101 (DK 12 A10) 64 f. – Ar 185 (DK 12 A19) 64 Anonymus – Prolegomena in Platonis philosophiam – 5, 13–24 26, 188, 198, 203 Antiphon (DK 87) – A13 9 – B32 64 Apollonios – H. – 2, 32 142 Aratos – 467 f. 257 – 497–499 261 – 498 f. 257 – 708–714 257 Archimedes – Eratosth. – fol. 46V+43R 1, 33–2, 19 (p. 83, 18– 84, 3 Heiberg) 130, 234 f.

– fol. 46V+43R 2, 20–32 (p. 84, 3–10 Heiberg) 163–165 – Sph. Cyl. – 1, praef., p. 9, 1–11 165 Archytas (Huffman) – fr. 1 227–229, 268, 360, 394 – fr. 1, 4–6 360 – fr. 1, 7–22 394–396 – fr. 1, 17 f. 396 – fr. 1, 18–43 395 – fr. 1, 20–22 395 – fr. 1, 24–27 396 – fr. 2 268 – fr. 3 269 – fr. 4 269 – A10a 229 – A16 268 – A17 268 – A18 268 – A19 268 – A19a 268 – A19b 268 – A19c 268 Aristophanes – Av. – 992–1020 7, 11 – 992–1009 172 f. – 998 173 – Nu. – 200–207 170–172, 250, 253 Aristoteles – APo. – 73b25–74a3 113 – 74a4–b4 113 – 75b37–76a3 10 – 76b35–77a4 160 – 76b42 160 – 84b12 311 – 97b31–39 36, 64 – APr. – 49b33–50a4 160

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– Cael. – 289a11–13 245 – 291b11 f. 245 – 297a2–6 260 – 297a23–25 390 – 300a14–19 227 – 306a1–20 382 – 306b5–7 371 – de An. – 402b16–403a2 320 – 434a13–20 157 – EE – 1247a17–20 16, 185 – LI – 968a14–18 385 – 968b16–21 139 – 970b19 f. 311 – Metaph. – 981b23–25 5 – 983a24–993a27 4 – 985b23–986a21 227 – 987a22–25 269 – 987a29–990a32 22 – 987a29–988a17 295 – 987b1–7 170, 342 – 987b9–14 287 – 987b14–18 310–313 – 987b25–27 295 – 987b27–29 227 – 988a14–17 292 – 990a18–32 227 – 992a19–22 347, 385 – 992a32 f. 22, 354 – 996a29–b1 354 – 997b26 174 – 997b34–998a6 75, 174 – 997b35–998a4 174 – 1005b8–1011b22 293 – 1005b8–23 293 – 1009b7–12 388 – 1014a35–b2 13 – 1020a7–14 195 – 1028b30 f. 310 – 1033b14 390 – 1036b12–17 410 – 1051a21–33 86 – 1052b31–33 160 – 1073b17–1074a14 255 – 1073b19 259

– 1078a14–23 160 – 1078a19 f. 161 – 1080b16–33 227 – 1089a20–26 160 – 1090a20–b5 226 f. – 1090b22–24 371 – Mete. – 342b25–344a4 344 – 357a24–28 36, 64 – 362a32–b16 61 – Ph. – 185a14–20 9, 184 – 209a2–30 389 – 209a4–6 195 – 217b29–224a17 263 – 226b20 358 – 231a21–234b9 263 – Pol. – 1259a5–18 7 – Pr. – 956a11–14 22 – Protreptikos – fr. 5 17 – fr. 8 17 – Top. – 100a27–b23 85 – 139b32–140a2 36, 64 – 143b11–144a4 262 Aristoxenos – Harm. – p. 6, 10–19 266 – p. 39, 8–40, 4 22, 292 – p. 42, 13–21 75 – p. 78, 13–16 268 Asklepios von Tralleis – in Nicom. Ar. – p. 61 26, 188, 198 Autolykos von Pitane – Sph. – 1 105 f., 129 – 2 263 – 3 74, 102–105, 111, 114, 223, 259 – 8 74, 99–102, 105, 114, 259 Boethius – De institutione musica – p. 285, 7–286, 19 268

482 | Indizes

Censorinus – 19, 2 253 Cicero – De re publica – 1, 17, 29 22 Clemens von Alexandria – Strom. – 1, 15, 69, 5 165 Demokrit (DK 68) – A1 165, 166 – A4 166 – A5 166 – A6 388 – A7 388 – A8 388 – A9 387 – A10 388 – A96 253 – A125 387 – B11l 163 – B12–15b 168 – B26f–28 168 – B155 166 f. – B299 165 Derkyllides (bei Theon von Smyrna) – p. 198, 14 7 Diodorus Siculus – 1, 98, 3 253 – 12, 36 173 – 14, 11, 5 166 Diogenes Laertios – 1, 23 6, 7 – 1, 24 f. 4 – 1, 24 5 – 1, 37 f. 4 – 2, 103 156 – 3, 6 156 – 3, 24 21, 24, 26, 156, 359 – 3, 37 195 – 4, 29 2 – 4, 44 2 – 8, 83 228 – 8, 86 193 – 8, 90 255 – 9, 34 166 – 9, 35 165 f. – 9, 39 166 – 9, 40 370

– 9, 41 166 – 9, 43 166 – 9, 47, 17–48, 6 163 Empedokles (DK 31) – B55 64 Eudemos von Rhodos (Wehrli) – fr. 133–149 4 – fr. 133 12 – fr. 146 64 Eudoxos von Knidos (Lasserre) – T4 255 – T7 255 – T12–20 255 – D6–15 254 – D7 260 – D17 254 – fr. 1–271 254 – fr. 1–120 61, 254 – fr. 1–3 61 – fr. 1 255, 257 – fr. 2 260 f. – fr. 3–9 257 – fr. 3a 260 – fr. 4 256 f. – fr. 5 257 – fr. 7 260 – fr. 8 260 – fr. 10 61 – fr. 16 61 – fr. 33 254 – fr. 36 256, 262 – fr. 37 256, 262 – fr. 52 256 – fr. 53 256 – fr. 62–80 106 – fr. 62 257 – fr. 63a 257, 259 – fr. 63b 257, 259 – fr. 64 61 – fr. 65 f. 61 – fr. 67 f. 257 – fr. 67 254, 260–262 – fr. 68 254, 260 f. – fr. 69 61 f. – fr. 72 61 – fr. 74 61 – fr. 76–78 61 – fr. 76 f. 254

Indizes | 483

– fr. 77 f. 258 – fr. 78 61 f. – fr. 79 61 – fr. 110 257 – fr. 111 256 f. – fr. 112a 256 f. – fr. 112b 256 f. – fr. 121–126 254 – fr. 127 f. 254 – fr. 129–269 62, 254 – fr. 270 f. 254 Euklid – Dat. – def. 1 123 – 25 87 – 26 87 – Elem. – 1–4 9, 16 – 1–2 92 – 1 13 f., 32, 93 f., 149 – 1, def. 1–4 147 – 1, def. 1 347 – 1, def. 2 79 f., 257 – 1, def. 3 80 – 1, def. 4 80, 263 – 1, def. 5–7 147 – 1, def. 8–12 92, 147 – 1, def. 13 147 – 1, def. 15 80, 257 – 1, def. 17 4 – 1, def. 19 147 – 1, def. 20 f. 147 – 1, def. 22 128, 147 – 1, post. 1–3 94, 96 – 1, post. 1 95, 97 – 1, post. 4 92 f., 145 – 1, ax. 4 92 – 1, ax. 9 97, 370 – 1, 1–3 94, 96 – 1, 1 73–75, 78 f., 81–86, 88–90, 93, 108, 110–112, 114, 313, 321 f., 418 – 1, 3 95 – 1, 4 8, 82, 84, 90–99, 114, 123, 132, 135, 143 – 1, 5 4, 93–95, 113, 124, 371 – 1, 6 84, 93 – 1, 7 93, 143 – 1, 8 8, 92 f., 143 – 1, 9–12 94

– 1, 10 82 – 1, 12 253 – 1, 13–15 93 – 1, 15 4 – 1, 16–20 93 – 1, 17 371 – 1, 18 371 – 1, 21 82, 93 – 1, 22 f. 94 – 1, 23 253 – 1, 24–28 93 – 1, 25 84 – 1, 26 4, 6, 321 – 1, 29 f. 93 – 1, 29 215, 232, 321 – 1, 31 85, 94 – 1, 32–40 93 – 1, 32 215, 232, 320, 371 – 1, 34 123, 142, 144 – 1, 37 144 – 1, 41 93 – 1, 42 94 – 1, 43 f. 370 – 1, 43 93, 123, 144 – 1, 44–46 94 – 1, 45 370 – 1, 46 123, 147 – 1, 47 f. 14 – 1, 47 93, 372 – 1, 48 93, 321 – 2 32, 70 f., 115, 200, 208 – 2, 1 115 – 2, 4 303, 385 – 2, 4 porisma 123 – 2, 7 f. 126 – 2, 14 157, 200, 208, 370 – 3, def. 7 163 – 3, 1 85 – 3, 6 82 – 3, 16 163 – 3, 25 142 – 3, 31 163 – 4, 10 93 – 5–6 359 – 5 32, 69 – 5, def. 1–4 159 – 5, def. 3–5 158 – 5, def. 3 140 – 5, def. 4 185

484 | Indizes

– 5, def. 5 236 – 5, 9 301 f. – 5, 16 301 – 5, 18 301 – 6, 1 236 – 6, 2 236 – 6, 4 215, 232, 236 – 6, 8 porisma 236 – 6, 10 273 – 6, 13 135, 236 – 7–9 69, 129 f., 296, 358 f. – 7, def. 1 f. 138 – 7, def. 1 358, 402 – 7, def. 2 358, 402 – 7, 1 129 – 8, 2 128 – 9, 36 21 – 10 123, 159, 385 – 10, def. 2 138 – 10, def. 3 139 – 10, def. 4 139 – 10, 1 f. 155 – 10, 1 155, 159, 185 – 10, 2 159 – 10, 5 f. 155 – 10, 9 155, 159 – 10, 44 321 – 10, 47 321 – 11, def. 1 195, 370 – 11, def. 2 370 – 11, def. 11 373 – 11, 33 185 – 12, 2 123, 185 – 13, def. 14 390 – 13, 12 139 – 13, 13 373 – 13, 14 139 – 13, 15 139 – 13, 16 139 – 13, 17 126, 139 – 13, 18 139, 369, 372 f. – Phaen. – praef. 66–69 259 – praef. 70 259 – praef. 72 f. 259 – Sect. Can. – 3 268

Euripides – Ba. – 395 170 Eutokios – in Archim. Sph. Cyl. – p. 56, 1–106, 24 27, 180 – p. 56, 1–12 180 – p. 56, 13–58, 14 26, 212, 214–220 – p. 60, 4 214 – p. 82, 1–84, 11 235 – p. 84, 12 191, 230 – p. 88, 3–96, 27 180, 190 f., 215 – p. 88, 3–90, 13 181–188 – p. 90, 1 200 – p. 90, 2–4 196 – p. 90, 8–11 222, 239 – p. 90, 13–27 182 – p. 90, 30–92, 24 190 – p. 92, 25–94, 7 222 – p. 96, 10–27 190 – p. 96, 16–19 222, 239 – p. 96, 17 238 Geminos – 1, 19–21 342 – 5, 49 258 – 5, 51 f. 259 Herodot – 1, 74 7 – 1, 75 7 – 2, 78 317 – 2, 86 317 – 2, 109 5, 174 Heron – Bel. – p. 33, 54–34, 42 214 – Deff. – 45 124 – 104 27, 373 – 135, 7 f. 174 – 136, 1 5, 18 f. – 137, 1 83 – 138, 5 174 – 138, 7 f. 174 – Geom. – p. 21, 7 135 – p. 57 f. 26

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– Metr. – 1, praef. p. 2, 1–11 5 – 1, praef. p. 2, 11–4, 4 185 – 1, praef. p. 2, 11–19 165 Hesiod – Op. – 383–395 251 f. – 383–387 251 – 414–421 251 – 417–419 252 – 479–482 251 – 564–570 251 f. – 572 252 – 597–617 251 – 598 252 – 609 f. 252 – 615 f. 252 – 619 f. 252 Hipparchos – in Arati et Eudoxi Phaenomena – 1, 2, 2 256 f. – 1, 2, 22 257, 261 – 1, 3, 9 f. 257, 261 f. – 1, 9, 1 f. 257, 259 – 2, 3, 12 256 f. – 2, 3, 29 f. 257 – 2, 3, 29 257 Hippokrates von Chios (DK 42) – A2 16, 185 Homer – Il. – 18, 478–608 55 f., 59, 253 – Od. – 5, 272–277 252 f. Inscriptions de Délos (ID) – 98 199, 201 – 104–4 201–203, 205 – 104–5 201 f. – 104–6 201 f. – 104–22 201 – 104–23 201 – 104–24 + Δ613 201 f. Isokrates – Panathenaikos (or. 12) – 26–28 352 – Antidosis (or. 15) – 261–266 351–354, 360, 364 – 261 354

Iulian – Contra Heraclium – 237D, 2, 1, p. 87 f. 22 Kallimachos (Asper) – Ap. – 61–64 203 f. – fr. 151, 52–63 8 Kleomedes – De motu circ. – 1, 10, 52 104 Leukippos (DK 67) – A1 253 – A27 253 Oinopides von Chios (DK 41) – A2 18 – A7 253 – A8 253 – A9 253 – A10 253 – A13 253 – A14 253 Olympiodoros – in Grg. – 41, 8 p. 214, 6 f. 22 Pappos – Coll. – 3, p. 30–70 180 – 3, p. 30–48 177 – 3, p. 86, 19–88, 4 26 – 8, p. 1068–1072 180 – 8, p. 1070, 7 178 – in Euc. X – p. 1, 1–2 26 – p. 1, 9, 13 26 Philippos von Opus (Lasserre) – fr. 15a 240 Philodemos – Acad. Ind. – p. 152 f. 17, 20, 24–26, 209, 264, 379 Philolaos (Huffman) – fr. 4 226 – fr. 6/6A 173 – A7a 221

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Philoponos – in APo. – p. 102, 12–23 26, 188, 198, 203 – p. 111, 19–114, 17 10 – in Ph. – p. 31, 1–32, 3 10, 184 – p. 31, 3–9 16, 185 Phrynichos (Kassel & Austin) – Monotropos – fr. 22 173 Platon – Ap. – 24b8–c3 170 – 24c4–26c3 170 – Chrm. – 165e–166b 21 – Cra. – 432a–d 286 – 436d2–4 113 – Def. – 20, 411c11 13 – Ep. – 7, 342b–343c 21 – 13, 360c2–4 195 – Epin. – 981c–992a 20 – 981c 21 – 990c–992a 21 – 990d6–e1 200 – Euthd. – 290b7–c6 210, 319 – Euthphr. – 12d 21 – Grg. – 451a–c 21 – 451c8 f. 211 – 453e 21 – 508a 21 – Hp. Ma. – 303b–c 21 – Hp. Mi. – 366c5–369a2 19 – 366c5 f. 19 – 367d6 19 – 367e8–368a1 19 – 368d2–4 19 – Lg. – 668b6 317 – 747b 20

– 817e–822b 20 f. – 819c7–820e7 195 – 819d–e 158 – 821b3–822c6 343 – 893b–895b 408 – 893b–894c 403 – 893b–d 21 – 893c–e 263 – 893e–894b 21 – 896d 21 – Men. – 73e–74b 21 – 75b–76e 21 – 76a1–7 370 – 76a7 305 – 82a7–85b7 20 f., 30, 40, 87, 111, 117– 119, 145–150, 157, 159, 161, 163, 175, 178, 182 f., 209, 218, 222, 225, 228, 240, 267, 323 f., 333, 347, 361, 415, 420 f., 428 – 82a7–e11 119 – 82a7–b2 119 – 82b3 119 – 82b4 f. 119 – 82b6–8 119 – 82b8–c2 127 – 82b9–c5 144 f. – 82b9 f. 119–123, 133 – 82b9 131 – 82b10–c1 123 f., 143 f. – 82c2 f. 124–126, 131, 137 – 82c3 f. 128 f., 144 – 82c4 130 – 82c5–d4 132 – 82c5–8 131 – 82c5 f. 130 f. – 82c6–8 130 – 82c6 137 – 82d1–4 130 – 82d1 131 – 82d3 137 – 82d4 131 – 82d5–7 124, 132, 144 – 82d7 f. 132 – 82d7 137 – 82d8–e2 132 – 82d8–e1 140 – 82d8 137 – 82e2–5 136

Indizes | 487

– 82e2 f. 132 – 82e3 140 – 82e4–13 132 – 82e4 f. 121 – 82e4 120 – 82e12–84c9 119, 132 – 82e12 f. 132 – 82e14–83a1 132 – 83a1–3 124, 132 f. – 83a3 f. 133 – 83a4–6 133 – 83a6–b1 133 – 83b1–3 133 f. – 83b1 f. 133 f. – 83b1 133 – 83b3 f. 134 f., 143 – 83b5–c3 135 – 83b5 137 – 83b6 f. 135 – 83b7 135 – 83c3–6 135 – 83c3 f. 137 – 83c6 f. 135 – 83c7–d1 135 – 83d1–5 135 – 83d2 120 – 83e1 f. 135 – 83e1 137 – 83e2–4 136 – 83e4 f. 136 – 83e5–8 136 – 83e7 f. 137 – 83e8 f. 136 – 83e9 f. 136 – 83e9 137 – 83e11–84a1 136 f., 140 – 83e11 137 – 84a1 f. 137 – 84a1 137 – 84a3–d2 137, 140 f. – 84b3 f. 322 – 84c1 f. 137–140 – 84c4–6 141 – 84c4 150 – 84c10–85b7 119 – 84c10–d2 121, 141 – 84d3–85b7 141 – 84d3–e1 142 – 84d3 f. 141

– 84d4–8 142 – 84d5 141 – 84d6 f. 141 f. – 84d7 141 – 84d8–e2 142 – 84d8–e1 142 – 84e1 f. 142 – 84e1 141 – 84e2 f. 142 – 84e4–85b7 126 – 84e4–85a1 123, 143, 310 – 84e4 f. 142 – 85a2 f. 143 – 85a4 f. 143 – 85a4 137, 143 – 85a5 f. 143 – 85a7 143 – 85a8 f. 144 – 85a8 143 f. – 85a9–b1 144 – 85b1–3 144 – 85b1 f. 137 – 85b2 f. 131 – 85b4–6 144 – 85b4 131, 144 – 85b8–86c3 145 – 85c6 f. 120 – 85c7 127, 145 – 85c9–d1 145, 368 – 85d3 f. 121 – 85d12–e6 120 – 86a6–9 120 – 86e3 322 – 86e4–87b2 20 f., 27, 30, 117, 161, 238, 322–325, 361, 424, 428 – 86e4 322 – 87a2 322 – 87d–89a 324 – 88b7 f. 124 – 89c–e 325 – Phd. – 73c5–d1 283 – 74a–75d 21 – 75a5–8 283 – 75b10 f. 284 – 75c4 f. 284 – 75c6–d6 284 – 75d8 282 – 76a5 282

488 | Indizes

– 78d10–79a10 283 – 79c2–8 283 – 81b–83e 284, 390 – 96d–97b 21 – 96e–97e 20 – 101b–102a 21 – 103e–104b 21 – 103e3 328 – Phdr. – 238a4 122 – 245c–249d 400 – 246e–248a 400 – 268e1–6 379 – 274c–275d 5 – Phlb. – 11a–14b 294 – 16b–18d 295 – 22b6 282 – 25a–e 21 – 51b–d 21 – 51c 21 – 56b4–c2 15 – 56d–e 358 – Plt. – 262c–263a 21 – 266a–b 21 – 283c–285c 21 – Prm. – 132d–133a 38 – 137e 21 – 137e1–3 262 f. – 137e3 f. 262 – 140b–d 21 – 143d–144a 21 – 145b 21 – 150a1–6 263 – 151a–e 21 – 158b–d 21 – Prt. – 356e–357b 21 – R. – 376e1–377b3 349 – 377c1–c6 283 – 400d10–e7 283 – 403c8 349 – 403d1 f. 283 – 433a8–b1 412 – 436b9–c2 293 – 436c–437a 293

– 476a5–8 307 – 477c1–478e6 298 – 477c1–4 299 – 478a4–c8 299 – 478b11–c1 294 – 479b–e 362 – 484a1–487a6 349 – 487a2–5 349 – 488d4–e2 364 – 491a7–b3 349 – 497e3–7 349 – 498d7–499a3 349 – 500b8–c7 349 – 500d1 f. 349 – 502c9–d4 348 – 502c9 348 – 502d2 f. 349 – 503b2–d11 349 – 503d12–504a3 348 f. – 503e–506e 294 – 504c 21 – 504e3–505b4 348 – 504e3–5 360 – 504e4 292 – 505a2 360 – 505e1 f. 294 – 506d–509c 272 f., 280, 290 – 506d5–507a6 290 – 506e2 290 – 507a7–b7 290 – 507b1–10 295 – 507b8–10 290 – 507b8 f. 283 – 507c1–5 290 – 507c6–508a8 290 – 507c6–508a3 283 – 507c6–8 299 – 508a2 290 – 508a4 f. 290 – 508a7 290 – 508a9–b11 290 – 508a9 290 – 508b12–c2 290 f., 300 – 508b13–c1 290 – 508c4–d2 291 – 508d3–9 291 – 508d3 f. 291 – 508d3 291 – 508d5 291

Indizes | 489

– 508d10–509a5 291 – 508d10–e4 299 – 508e1 f. 291 – 508e2 f. 291 – 509a6–10 291 – 509b1–9 291 – 509b8 f. 291, 294 – 509b9 292 – 509c1–11 410 – 509c1–4 409 – 509c5 f. 279 f., 410 – 509c6 410 – 509c7 410 – 509c8 410 – 509c9 f. 410 – 509c10 410 – 509d–511e 20 f., 28 f., 37, 271 f., 279 – 509d1–5 272 – 509d1 347, 410 – 509d6–8 273, 304 – 509d6 f. 385 – 509d8–511e5 274 – 509d8–510a3 338 – 509d9–510a3 275, 317 – 509d10–510a3 305, 329 – 509d10 385 – 509d11 410 – 510a5 f. 317 – 510a5 385 – 510a8–10 275, 338 – 510a9 f. 299 f. – 510a10–b1 331 – 510a10 317 – 510b2–511e5 30 – 510b2–511c2 315 – 510b2–511a3 360 – 510b2–8 316 f. – 510b2 385 – 510b4–8 326 – 510b4 f. 329 – 510b4 318 – 510b5 f. 318 – 510b5 320, 321 – 510b9 316, 326 – 510c1–511a2 311 – 510c1–d3 21, 28, 332 – 510c2–d3 319 – 510c2 f. 360 – 510c2 326

– 510c6 321 – 510d1 f. 321 – 510d1 321 – 510d2 f. 321 – 510d2 321 – 510d4 332 – 510d5–511a2 274, 325–332, 342 – 510d5 f. 326 – 510d5 326, 329, 332 – 510d6 f. 326 – 510d7 f. 326 – 510d7 327 – 510d8 330 – 510e1 f. 328 f. – 510e1 328 f. – 510e2 f. 329 – 510e2 329 – 510e3 329 – 511a1 f. 297 f., 327, 330 – 511a2 331 – 511a3–9 331 – 511a4 f. 320 – 511a7 296 – 511a10–b1 297, 360 – 511b2–d5 297 – 511b2–c2 334 – 511b2 385 – 511b3 298 – 511b4 f. 316 f. – 511b4 334 – 511b5 f. 334 – 511b5 334 – 511b6 f. 292, 334 – 511b8–c1 334 – 511c1 f. 297, 334 – 511c1 334 – 511c3–e5 299 – 511c4–6 298 – 511c6–8 334 – 511c6 f. 360 – 511c8–d2 334 f. – 511d2 335 – 511d3–5 297, 336 – 511d6–e5 275 f., 412 – 511d6–e4 275, 299 f., 327 – 511d6–e2 385 – 511d7 299 – 511d8 296 – 511e1 f. 334

490 | Indizes

– 511e2–4 302 – 511e5 412 – 514a–517a 280 – 514a1 f. 279 f. – 514a1 413 – 514a2–515c3 281 – 514a2 285 – 514a5 f. 335 – 514a5 282 f. – 514b9–515a1 288 – 514c1–515a1 286 – 514c1 289 – 515a2 f. 283 – 515a4–b2 283 f. – 515a5 285 – 515a7 289 – 515a9–b1 282 – 515b7–9 283 – 515c1 f. 287 – 515c4–e4 281 – 515e5–516c3 281 – 516a6–8 288 f. – 516a8–b2 288 – 516a8 288 – 516c4–517a7 281 f. – 516c8–e2 399 – 516c8–d7 336 – 517a8–b6 279 f. – 517a8–b3 291 – 517b1–3 285 – 517b4–6 292 – 518d3–7 364 – 519a7–b6 350 – 519a7 f. 350 – 519c–521b 351 – 521c1–531d5 357 – 521c5–d5 356 – 521c5–8 349 – 521d1 f. 298 – 521d3 f. 364 – 521d13–522b6 349, 357 – 521d13–e3 349 – 521e1–522a1 357 – 521e2 357 – 522a2–b1 357 – 522a3–b4 357 – 522b–526c 358 – 522b5 f. 357 – 522b7–9 357

– 522c–531d 20 f., 31, 37, 43, 348, 404 – 522c1–3 358 – 522c5 f. 358 – 522c6 f. 358 – 522c7 f. 358 – 522c10–e4 364 – 523a–526c 362 – 523a1–3 364 – 523a10–525c4 362, 393 – 523d3 f. 362 – 523e1–524a4 362 – 524a5–c2 362 – 524a5–10 362 – 524c6–8 362 – 524c10 f. 362 – 524c12 f. 362 f. – 524e1 364 – 525b1 f. 364 – 525b2–5 364 – 525c3 f. 364 – 525c4–6 364 – 525c4 f. 364 – 525c8–526b4 358 – 525d1 f. 364 – 525d2 f. 364 – 525d3 364 – 525d5–526b4 21, 364 – 525d5–8 364 – 525d5 f. 358 – 525d6–526a7 328 – 525d6 327 – 526a2–4 358 – 526a6 f. 328, 358 – 526a8–b3 364 – 526c–527c 358 – 526c7 f. 358 – 526c11–d7 364 – 526d8–e8 364 – 527a1–b10 249 – 527a1–5 361 – 527a6–b1 361 – 527a6–9 21, 364 – 527a9–b1 364 – 527a9 f. 361 – 527b1 361 – 527b6–11 364 – 527c1–3 364 – 527c3 364 – 527d–528a 359

Indizes | 491

– 527d2–4 250, 364 – 527d5–528a5 364 – 527d5–e3 357, 364 – 528a–d 359 – 528a6–c7 194 – 528a6–b4 211 – 528a7 359 – 528a9–b1 359 – 528a9 359 – 528b1 195, 359 – 528b2 195, 359 – 528b3–d1 208–212, 264 – 528b3 f. 194 – 528b3 209 – 528b5–c7 249 – 528d–530c 359 – 528d2 f. 359 – 528d8 f. 208 – 528d8 195, 359 – 528d10 211, 223, 359 – 528e–530c 244 – 528e4–530b5 364 – 529a1–7 244 – 529a1 250 – 529a6 f. 250 – 529a10–c2 244 f. – 529b3–5 364 – 529c6–d5 245 – 529d7–530a2 245 f., 264 – 530a4–b4 247 f. – 530b6–c4 248 f. – 530b6 f. 249 – 530c–531c 265, 359 – 530c8–d8 359 – 530c9–d10 308 – 530d6–9 223, 359, 399 – 530e3–531a3 265 f. – 530e5–531c3 364 – 530e5–7 364 – 531a4–b1 266 f. – 531b2–c4 267 f. – 531c1–5 249 – 531c2 249 – 531c6 f. 364 – 531d6–e5 320 – 531d6 356 – 531d7 356 – 531e1 f. 320 – 532a1–5 328

– 532a2 f. 299 – 532a5–b2 318, 328 – 532a6 f. 318 – 532a6 318 – 532b6–d1 279 f., 335, 356, 360 – 532c4 f. 298 – 532d7 356 – 532d8 298 – 533a7–c7 337 – 533a7 299 – 533a10–d9 360 – 533c8–e2 30, 356 – 533c8–d4 336 – 533d1–4 356 f. – 533d4–7 336 – 533d5 f. 338 – 533e3–534a8 273, 279, 299, 301 f. – 533e8 299 – 534a2 f. 338 – 534a3–5 339 – 534a5 f. 300 – 534d 21 – 534e2–535a1 360 – 536b8–537a3 350 – 537a4–b6 350 – 537b1–6 350 – 537b8–c8 21, 350 – 537c1–3 350 – 537c9–d8 350 – 537d7–539e2 350 – 539d8–e2 350 – 539e2–540a4 350 – 540a4–c4 351 – 546a–d 21, 29 – 587b–588a 29 – 587d–588a 21 – 595a–608c 307, 317, 415 – 595c–598d 307 – 596d8–e8 265 – 597d10 f. 415 – 597e–598d 308 – 598a–c 308 – 599a3 415 – 600a4–6 7 – 600e5 415 – 601a5 f. 415 – 602c–d 308 – 602c4–603a8 415 – 603b7–e1 415

492 | Indizes

– 603b7 f. 415 – 611a4–8 401 – 614a–621d 343, 400 – 616b–617b 343 – 617d2–620d5 400 – Smp. – 189e 21 – Sph. – 235d–236a 21 – Tht. – 145a6 152 – 145a7 f. 152 – 147d–148b 21, 30, 137, 139, 152, 159– 163, 168 f., 175, 200, 209, 225, 266, 421, 428 – 147d3–6 130 – 147d4–e1 152–156, 158 f. – 147d4 154 – 147e5–148b2 156–158 – 148a–b 21 – 148b2 139 – 156a–158a 393 – 156a2–c6 391 – 156d3–e1 393 – 156d3–6 393 – 156e8–a1 393 – 157a1 f. 393 – 157a4–7 393 – 157a8–b3 393 – 174a4–b1 174 – 181c–183c 293 – 183a–b 294 – 183a2–7 294 – 184b–185a 391 – 185c–d 21 – 198a–199c 21 – 204b–c 21 – 210d 153 – Ti. – 22c–d 403 – 28b7–c1 272 – 29b–c 21 – 29d–40d 402 – 31b–32c 21, 29 – 31b4–34b9 369 – 31b4–32c1 195 – 31b4–6 398 – 31b4 f. 272 – 32b3 218

– 32b4 f. 369 – 34a8–35a1 402 – 35a–36d 21 – 35a1–8 402 – 35b1–36b6 402 – 36c7–d7 402 – 36e6–37a1 404 – 37c6–38b5 263 – 37e1 f. 263 – 38a5–7 360 – 38b5–c1 402 – 38c1 f. 403 – 38c6 403 f. – 39b2–c2 402 – 39b2 402 – 39c3–e2 403 – 40c3–d5 403 – 40c5 402 – 41d8–e2 399 – 42a3–b2 284, 389 – 42d4 f. 399 – 42e5–43a6 399 – 43a4–6 399 – 43a6 f. 399 – 43a7 f. 400 – 43a7 399 – 43b1 f. 400 – 43b–c 389 – 43b2–5 400 – 43b5–e4 400 – 43b5–c7 391 – 43c–d 21 – 43e4–44b1 400 – 44a7–b1 400 – 44b1–7 400 – 44b8–c2 400 – 44c2–4 400 – 45b2–46c6 305, 397 – 45c2–d3 391 – 45c7–d3 398 – 46a–b 379 – 46c–e 408 – 46e3–47e5 284, 398 – 47a1–7 398 f. – 47a7–b2 405 – 47b5–c4 401 f. – 47c4–e2 398 – 47e–69a 388 – 48b7–d3 381

Indizes | 493

– 49b7–c7 381 – 49c1 381 – 49c7–d3 381 – 49d1 381 – 51e6–52a7 283 – 52c2–5 286 – 53a–57d 21 – 53a8 369 – 53b3 f. 369 – 53b4 f. 369, 384 – 53c–55c 19, 27 – 53c1 369 – 53c4–7 370 f. – 53c8–d4 371 – 54a2 371 – 54a4–b3 382 – 54a4 f. 371 – 54a5–b5 371 f. – 54a7 371 – 54b1 f. 371 – 54b2–6 372 – 54b4 f. 371 – 54b5–8 381 – 54b7 f. 381 – 54b8–c5 382 – 54b8–c3 372 – 54c6–d2 384 – 54d3 381 – 54d5–55c6 373 – 54d5–55a4 373, 375 f. – 54d7 138 – 54d8 144 – 54e1 f. 375 – 55a–b 21 – 55a4–8 376 – 55a8–b3 376 – 55b3–c4 376 – 55c4–6 376 – 55c4 376 – 55c7–d6 377 – 55d7 f. 377 – 55d8–56b6 377 f. – 55e2 379 – 56b3–5 380 – 56b4 f. 372 – 56b5 379 – 56b7–c3 374 – 56c8–d2 381 – 56d1–e7 382 f.

– 57c7–d6 384 – 57c8–d6 374 – 58a4–7 390 – 58a7–c4 389 – 58c6–d1 385 – 58d1–4 385 – 58d4–5 385 – 58d5–8 385 – 58d8–59a8 385 – 59a8–c5 386 – 59c5–7 386 – 59d2–e5 386 – 59e5–60b5 386 – 60b6–e2 386 – 60e2–61c2 386 – 60e4 f. 390 – 61b4 f. 390 – 61c3–69a5 389 – 61c3–d5 389, 393 – 61c3 389 – 61c6 389, 391 – 61d5–62a5 392 – 61d6 f. 392 – 61e2–62a1 392 – 62a5–d6 392 – 62b6–c3 393 – 62c3–63e8 393 – 62c8–63b1 390 – 62d1 390 – 63a5 390 – 63e8–64a1 393 – 64a2–65b2 393 – 64b3–6 391 – 65b4–68d7 393 – 65c1–66c7 393 – 66d1–67a6 393 – 67a7–c3 394 – 67c4–68d7 396 – 67e6–68b1 396 – 67e6 f. 396 – 67e6 396 – 67e7 f. 396 – 68b1–5 397 – 68b1–3 397 – 68b5–d7 397 – 69b 21 – 69c5–d6 389 – 73b1–e1 399 – 79a–80c 390

494 | Indizes

– 80a3–b8 394 – 87c–d 21 – 89d2–90d7 400 – 89e3–5 399 – 90b1–6 401 – 90b6–c6 401 – 90b6–c1 401 – 90c1 401 – 90c4 f. 401 – 90c5 f. 401 – 90c6–d7 401 – 90e1–92c3 400 – 92c2 f. 400 Plinius – HN – 36, 82 7 Plutarch – Alc. – 17, 5 f. 173 – De adulatore et amico – 52D–E 22 – De communibus notitiis – 1079E–F 166 f. – De E apud Delphos – 386D11–E10 26, 188, 198 – De exilio – 607F 18 – De genio Socratis – 579A8–D3 26, 188, 195, 197 f. – De sollertia animalium – 983D–E 204 – 983E 204 – Dion – 13, 4 22 – 14, 2 22 – 19, 6 195 – Marc. – 14, 8–12 26, 188 – 14, 8 239 – 14, 9 f. 241 – 14, 9–12 221 f., 224 f. – Nic. – 13, 7 f. 173 – Platonicae quaestiones – 1001D–E 277 – Quaestiones convivales – 718B–C 22 – 718E–F 26, 188, 220–222, 224 f. – 719F–720C 22

– Septem sapientium convivium – 147A 7 – Solon – 2, 8 16, 185 Porphyrios – in Harm. – p. 113, 27–115, 24 26 Proklos – Hyp. – 4, 98, 2–4 341 – in Euc. – p. 64, 16–68, 23 12 – p. 64, 16–65, 7 5 – p. 65, 11–66, 4 12 – p. 65, 15–21 20 – p. 65, 21–66, 4 253 – p. 65, 3–11 5, 11 – p. 65, 7–66, 8 17 – p. 66, 4–8 12 – p. 66, 6 f. 152 f. – p. 66, 8–68, 6 17 – p. 66, 8–14 17 f., 20 f., 209 – p. 66, 9 f. 193 – p. 66, 14–68, 5 23 – p. 66, 14–18 12, 23 – p. 66, 20–22 12 – p. 67, 2–8 23 f., 385 – p. 67, 3 23 – p. 67, 4 12, 15 – p. 67, 6–8 26 – p. 67, 8–12 193 – p. 67, 9 f. 23 – p. 67, 9 23 – p. 67, 14 f. 12 – p. 67, 15 15 – p. 67, 19 f. 23, 195 f. – p. 67, 20 f. 12 – p. 67, 24–68, 1 23 – p. 68, 4–6 19 – p. 68, 20–23 14, 19 – p. 72, 23–73, 14 12 – p. 72, 23 f. 13 – p. 77, 7–81, 22 90 – p. 77, 7–79, 2 96 – p. 77, 15–78, 8 249 – p. 78, 8–13 249 – p. 111, 20–23 325 – p. 157, 10 f. 4, 7 – p. 203, 1–205, 12 83

Indizes | 495

– p. 203, 5–17 83 – p. 203, 17–205, 12 93 – p. 205, 13–210, 16 83 – p. 207, 4–25 109 – p. 211, 18–212, 4 26 – p. 211, 19–23 24 – p. 212, 24–213, 11 183 – p. 250, 20–251, 2 4 – p. 261, 23 144 – p. 283, 7–10 253 – p. 299, 1–5 4 – p. 333, 5 f. 253 – p. 352, 13–18 7 – p. 352, 14–18 4 – p. 383, 17–384, 4 375 – p. 422, 24–425, 6 370 – p. 428, 7–429, 8 26 – in R. – 1, 289, 6–18 277 – Theol. Plat. – 1, 6 f. 22 Protagoras (DK 80) – B7 75, 99, 174 Ps.-Platon – Amat. – 132a5–b3 18 – Sis. – 388c–d 194 – 388e 159 – 388e3–7 194 – 388e8–11 137, 194, 210 Ps.-Plutarch – De musica – 1139B–1140B 26 Ptolemaios – Alm. – 3, 1, p. 205–207 173 Scholia (Σ) – Aristophanes, Av. – 997 173 – Euklid, Elem. – 1, 149 26 – 10, 62 19, 27, 155, 159, 385 Sextus Empiricus – M. – 7, 135 387

Simplikios – in Cael. – p. 488, 14–24 37, 339–342 – p. 492, 31–493, 5 340 – p. 493, 5–11 344 – p. 504, 16–20 343 – in Ph. – p. 53, 26–69, 34 9 – p. 54, 20–55, 24 9 – p. 61, 5–9 185 – p. 151, 6–19 292 Strabon – 2, 5, 3 61 Suda – θ 205 s. v. Θέων 179 – π 265 s. v. Πάππος 179 – φ 418 s. v. φιλόσοφος 379 Thales (Wöhrle) – Th 10 (DK 11 A5) 7 – Th 11 (DK 11 A6) 7 – Th 18 7, 173 – Th 19 (DK 11 A9) 174 – Th 22 7 – Th 28 (DK 11 A10) 7 – Th 52 (DK 11 A3a) 8 – Th 66 4 – Th 67 4 – Th 92 5 – Th 107 (DK 11 A21) 7 – Th 119 (DK 11 A21) 7 – Th 167 (DK 11 A17) 7 – Th 237 (DK 11 A1) 4, 6 f. – Th 380 (DK 11 A11) 5 – Th 381–384 (DK 11 A20) 4 – Th 384 (DK 11 A20) 7 Themistios – in APo. – p. 19, 11–20 10 – in Ph. – p. 4, 2–8 10 Theon von Smyrna – p. 2, 3–12 26, 188 f., 198, 200, 219 – p. 2, 7 200 – p. 2, 9 200 – p. 132, 2–4 258 – p. 198, 14–16 253

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Theophrast – Sens. – 59 397 – 60 f. 387 Valerius Maximus – Factorum et dictorum memorabilia – 8, 12, ext. 1 26, 188, 198 Vitruv – De architectura – 9, praef. 13 f. 26, 188, 198

Xenophon – M. – 1, 1, 11–15 251 – 4, 2, 10 153 – 4, 7, 2–6 169 – 4, 7, 2 f. 169 f., 172 – 4, 7, 4–6 171, 250 f., 351, 354, 364 – 4, 7, 5 343 f.