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German Pages 320 [346] Year 2014
Philosophische Bibliothek
Henri Bergson Materie und Gedächtnis
Meiner
H EN R I BERGSON
Materie und Gedächtnis Versuch über die Beziehung zwischen Körper und Geist
Aus dem Französischen neu übersetzt und herausgegeben von Margarethe Drewsen Mit einer Einleitung von Rémi Brague
FEL I X M EI N ER V ER L AG H A M BU RG
PH I L O S OPH I S C H E BI BL IO T H E K BA N D 6 6 4
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I N H A LT
Einleitung. Von Rémi Brague . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . vii 1. Zwischen Philosophie und experimenteller Psychologie vii | 2. Ein kompliziertes Werk ix | 3. Der Körper als hermeneutischer Schlüssel x | 4. Das Gehirn xiii | 5. Die Wahrnehmung xiv | 6. Das Gedächtnis xvii | 7. Raum, Zeit, Bewegung xix | 8. Geist und Materie xxii | 9. Bergsons Werkzeugkasten xxiv
Henri Bergson Materie und Gedächtnis Vorwort zur siebten Auflage (1911) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
Vorwort zur ersten Auflage (1896) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Erstes Kapitel Von der Selektion der Bilder für die Vorstellung. – Die Rolle des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 zweites Kapitel Vom Wiedererkennen der Bilder. Das Gedächtnis und das Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 drittes Kapitel Vom Fortleben der Bilder. Das Gedächtnis und der Geist . . . 171 viertes Kapitel Von der Abgrenzung und von der Fixierung der Bilder. Wahrnehmung und Materie. Seele und Körper. . . . . . . . . . . . 223 Zusammenfassung und Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
vi Inhalt
Nachwort der Übersetzerin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
EI N L EI T U NG
»das Materielose ist das Freie« (τὸ ἄυλόν ἐστι τὸ ἐλεύϑερον) Plotin, VI, 8 [39], 6, 26
A
ls Henri Bergson Ende 1896 Matière et mémoire1, sein zweites Werk, veröffentlichte, lag in Buchform nur seine Doktor arbeit, der ungeschickt benannte Essai sur les données immédiates de la conscience, vor. Seit 1890 war er als Gymnasiallehrer tätig, da im französischen Schulwesen damals wie heute ein verpflichtender philosophischer Unterricht in der Oberstufe die Bildung der Abiturienten verfeinern sollte. Mehr noch als heute war Ende des 19. Jahrhunderts eine Lehrtätigkeit in einem »Lycée« die unentbehrliche erste Etappe in einer akademischen Laufbahn. Ab Oktober 1890 lehrte Bergson am Pariser Elitegymnasium Henri IV, 1898–1900 als maître de conférences (etwa Außerordentlicher Professor) an der Ecole Normale Supérieure. Diese Position hatte er inne, bis er 1900 ans Collège de France gewählt wurde, wofür der Erfolg seines zweiten Buchs ausschlaggebend war. Das Erscheinen von Matière et mémoire war lediglich durch die teilweise Veröffentlichung einiger Kapitel in Zeitschriften angekündigt worden. 1. Zwischen Philosophie und experimenteller Psychologie Bergson hatte sich seit langem für psychologische Fragen interessiert. Zu den Themen, die er in seiner Lehrtätigkeit am Lycée behandelte, gehörte auch Psychologie. Der noch relativ junge Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit [im fol genden MM], Paris: Alcan 1896. 1
viii Einleitung
Wissenszweig hatte seinen Weg in das offizielle Programm des philosophischen Unterrichts gefunden. Schon 1883 übersetzte Bergson aus dem Englischen das Buch von James Sully über die Täuschungen der Sinne und des Geistes.2 Das erste Kapitel der Doktorarbeit befaßt sich mit den Lehren von William James, Gustav Theodor Fechner, Hermann von Helmholtz und anderen.3 Noch 1901 plädierte Bergson für das Weiterbestehen eines Lehrstuhls für experimentelle Psychologie am Collège de France.4 Im vorliegenden, entschieden philosophischen Buch führt Berg son Philosophen nur selten namentlich an. Unter den Griechen werden die Atomisten flüchtig erwähnt (81, 206). Plotin, dem er später seine ersten Vorlesungen am Collège de France (1897–1898 als Vertreter von Charles Lévêque, 1901–1902 als Professor für antike Philosophie) widmen sollte, fehlt ganz. Zenon von Elea wird dahingegen ausführlich gewürdigt und widerlegt (237 – 239). Unter den Neueren werden Descartes (5, 241), Leibniz (40, 241), Berkeley (4 f., 264 f.) und vor allem Kant (5, 27, 229 f., 232, 262, 279, 282 – 284) genannt, nicht immer mit Bezug auf ihre psychologischen Lehren, obwohl Bergson sie in seinen Vorlesungen sorgfältig behandelt hatte. Dagegen hat sich Bergson mit den jüngsten Ergebnissen der psychophysiologischen Forschung vertraut gemacht und zur aktuellen Forschung beigetragen, wie z. B. in einem scharfsinnigen Artikel von 1886 über das unbewußte Simulieren im Zustand der Hypnose.5 Sully, Illusions. A Psychological Study, New York: Appleton 1882; Les illusions des sens et de l’esprit, Paris: Germer Baillière 1883. 3 Essai sur les données immédiates de la conscience [im folgenden DI], Paris: Alcan 1889, S. 16–55. 4 Rapport sur le maintien d’une chaire de psychologie expérimentale et comparée (10. 11. 1901), in: Mélanges, hg. v. A. Robinet, Paris: P. U. F. 1972 [im folgenden Mélanges], S. 507–509. 5 De la simulation inconsciente dans l’état d’hypnotisme, Revue Philosophique XXII (1886), S. 525–531, jetzt in: Mélanges, S. 333–341. 2 James
Rémi Brague
ix
Im vorliegenden Werk zitiert er eine Fülle gelehrter Artikel in französischer, englischer und deutscher Sprache, die verschiedene Details gründlich beleuchten, z. B. das Phänomen der Aphasie. Im Kielwasser Newtons wollte bekanntlich David Hume die experimentale Methode in die Philosophie einführen.6 Bergson hat dem beigepflichtet, vielleicht mehr noch als der Schotte selbst. Das rührte von seiner methodischen Einstellung her, die darin bestand, sich eher mit Fakten als mit Theorien auseinanderzusetzen und die einer gewissen Trägheit oder Vornehmheit der Philosophen entgegentritt. Diese, schreibt Bergson bissig, haben sich allzuoft geweigert, ihre Hände mit Tatsachen zu besudeln.7
2. Ein kompliziertes Werk Materie und Gedächtnis ist ein schwieriges Werk. Bergson gibt eine gewisse Komplexität (complication) zu (11). Er hat versucht, den Weg zum Verständnis zu ebnen, gleichzeitig und nachträglich. So fügte er seinem Buch eine ungewöhnlich ausführliche Zusammenfassung hinzu, einen Schluß (277 – 305), der in seinen übrigen Werken entweder halb so lang ausfällt, wie in den früheren Données immédiates8 , oder gänzlich fehlt, wie in der Schöpferischen Evolution von 1907 und in den Deux sources von 1932. Ferner verfaßte er für die 1911 veröffentlichte siebte Auflage von Materie und Gedächtnis ein neues Vorwort, was er für kein anderes Werk tat. Ein nachträgliches Licht auf seine Thesen werfen die Vorträge über psychologische Themen, die der Philosoph nach dem Erscheinen des Buchs gehalten hat, wobei der lockerere gesprochene David Hume, A Treatise of Human Nature. Being an Attempt to Introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects (1738). 7 L’énergie spirituelle. Essais et conférences, Paris: Alcan 1919 [im folgenden ES], S. 38. 8 DI, S. 167–180. 6
x Einleitung
Stil zu einer größeren Klarheit beiträgt: Le Rêve (1901), L’effort intellectuel (1902), Le cerveau et la pensée: une illusion philosophique (1904), Le souvenir du présent et la fausse reconnaissance (1908), La conscience et la vie (1911), L’âme et le corps (1912), »Fantômes de vivants« et »recherche psychique« (1913). Diese Vorträge, die ich hier mit Absicht in der chronologischen Reihenfolge aufliste, hat Bergson später gesammelt und 1919 unter dem Titel L’énergie spirituelle veröffentlicht.9 Der relativ schmale Band bildet eine Art companion, dessen Lektüre man zum Einstieg in das schwierigere Werk Materie und Gedächtnis empfehlen kann. Als besonders hilfreich erweisen sich La conscience et la vie und L’âme et le corps, die Bergson, wahrscheinlich wegen ihrer größeren Lesbarkeit, an den Anfang seiner Sammlung stellte. Am Ende des Vorworts liefert uns Bergson als Hilfsmittel die zwei Prinzipien, die seine Leitfäden in der ganzen Untersuchung darstellen: den »nützlichen Charakter unserer wesensmäßig der Handlung zugewandten mentalen Funktionen« und, als Quelle mancher Scheinprobleme, die Versuchung, das, was in der Praxis gilt, auf die Ebene der Spekulation zu heben (11).
3. Der Körper als hermeneutischer Schlüssel Wozu dienen unsere geistigen Vermögen? Zum Leben. Einem Überblick über sein Gesamtwerk zufolge, den Bergson seiner letzten veröffentlichten Sammlung von Aufsätzen vorausschickt, ist der Leitfaden, den wir nie loslassen sollten, derjenige, den uns die Biologie liefert.10 Schon mit dem vorliegenden Werk, und erst recht mit dem elf Jahre späteren Hauptwerk Schöpferische Evolution, hat das Denken Bergsons eine reiche Ernte an experimentel 9
Vgl. oben, Anm. 7. La pensée et le mouvant. Essais et conférences [im folgenden PM], Paris: Alcan 1934, S. 54. 10
Rémi Brague
xi
lem Wissen über das Lebendige eingefahren, die dem damaligen Stand der biologischen Forschung entspricht. Dieser biologische Leitfaden bedeutet zuerst, daß der Ort des Seelenlebens kein in der Leere schwebendes Subjekt ist, sondern ein lebendiger Körper, ein Lebewesen, dessen Geistesvermögen diejenigen Vermögen fortführen, die bei einfacheren Tieren vorhanden sind. Bergson besteht auf der Kontinuität zwischen dem Menschen und allen anderen Lebewesen, auf der Kontinuität zwischen dem gesamten Lebensprozeß und den geistigen Tätigkeiten, die ihm dienen. Die Verhältnisse, die in unseren Vermögen zu beobachten sind, gelten auch von »eine[m] jeden Organismus« (209). So fordert z. B. die Ernährung »[b]eim Geringsten der Lebewesen« ein Suchen und eine Anstrengung, die auf den zu verzehrenden Gegenstand gerichtet ist.11 Diese Kontinuität erlaubt einem, gewisse intellektuelle Tätigkeiten besser zu verstehen. Als Beispiel kann man die sogenannte Abstraktion nehmen, die Fähigkeit, allgemeine Vorstellungen zu bilden. Wenn man versucht, sie zu erklären, gerät man leicht in einen Zirkel: Die Tätigkeit des Abstrahierens setzt nämlich voraus, daß man gerade den Begriff schon besitzt, den die Abstraktion erst liefern sollte. Die Schwierigkeit, den Zirkel zu vermeiden, rührt daher, daß man voraussetzt, daß das Erste, das wir kennen, eine Vielfalt von Gegenständen darstellt, die schon individualisiert sind. In der Tat ist dieses Erste »eine [dazwischen] […] liegende Erkenntnis, […] ein verschwommene[s] Gefühl von markanter Qualität oder von Ähnlichkeit« (200). Dies ist so, weil das Bedürfnis sich eben für Qualitäten interessiert, sich hingegen kaum um die Dinge kümmert, die deren Träger sind. Erst nachträglich spaltet sich die Qualität in abstrakten Begriff und Individuen. Materie und Gedächtnis [im folgenden MG], S. 246. Ob Bergson die später veröffentlichten Arbeiten des katalanischen Biologen Ramon Turró i Darder hat zur Kenntnis nehmen können, ist mir unbekannt. Vgl. Orígens del coneixement: la fam [1912], Barcelona: Edicions 62 1980. 11
xii Einleitung
Das Seelenleben des Menschen wird erst völlig verständlich, wenn man es auf dem Hintergrund des Fortschritts des Lebendigen überhaupt als Hervorbrechen, als Erblühen (éclosion) des Bewußtseins versteht, zu dem die Bildung lebendiger Körper parallel läuft (304). Nach Bergson ist nämlich das Bewußtsein »im Prinzip dem Leben koextensiv«12. In der Tat kann es aber einschlafen oder verschwinden. Es schaltet sich selbst dort aus, wo es nicht mehr nötig ist, wo z. B. das Tier zum Schmarotzer eines anderen Organismus wird,13 oder bei den Pflanzen, die generell als Parasiten der Erde gelten können.14 Wie jedes Lebewesen hat der Mensch Bedürfnisse (39, 80, 200) und sucht das Nützliche, indem er handelt. »[Das] fundamentale Gesetz des Lebens [ist] […] ein Gesetz des Handelns.« (191). Leben ist Handeln (246). »[D]ie Ausrichtung unseres Bewußtseins auf die Handlung [scheint] das fundamentale Gesetz unseres psychologischen Lebens zu sein« (224). So ist der Körper »ein Handlungszentrum« (280). Er richtet sich nach den Bedürfnissen, nach »d[en] Erfordernisse[n] der Handlung« (186). Der Körper ist nie ein unbeteiligter Zuschauer, sondern der Treffpunkt der Regungen und Handlungen und der Umschlagplatz, an dem sie einander bestimmen (216 f.). Diese Wechselwirkung geschieht vor allem im Gehirn, dem »Vermittler zwischen den Empfindungen und den Bewegungen« (221).
12
ES , S. 8.
13 Vgl. Schöpferische
Evolution, Hamburg: Meiner 2013 [im folgenden
SE], S. 132 f. 14 ES , S. 8, 10. Die Formel stammt von Johann Eduard Erdmann, Vor-
lesungen über akademisches Leben und Studium, Leipzig: Geibel 1858, S. 295.
Rémi Brague
xiii
4. Das Gehirn Mit dem Gehirn haben sich die Philosophen und Naturforscher seit geraumer Zeit befaßt. Seit Galen hatte es das Herz in der Rolle des Orts der geistigen Vermögen des Menschen endgültig verdrängt.15 Im Mittelalter gingen die Denker, ganz in Galens Fußstapfen, davon aus, daß das Gehirn aus mehreren hintereinander liegenden Kammern besteht, die den verschiedenen, einander ablösenden Gedankenvermögen entsprechen. Damit ähnelte das Leben des Geistes dem digestiven Verarbeitungsprozeß der Nährstoffe: Die Sinnesdaten wurden von der Einbildungskraft manipuliert und vom Verstand analysiert, um endlich im Gedächtnis aufbewahrt zu werden.16 Descartes versuchte, die Wirkung des Geistes auf den Körper durch die Bewegungen der Zirbeldrüse zu erklären.17 Mit Franz Joseph Gall (gest. 1828) wollte die Phrenologie eine Karte des Schädels zeichnen, auf der gewisse Punkte die Anwesenheit bestimmter Charakterzüge oder Begabungen ver raten sollten. Einen wesentlichen Schritt in Richtung wissenschaftlicher Strenge stellte die Entdeckung des französischen Arztes Paul Broca dar. 1861 stellte er fest, daß die Schädigung einer Zone der Großhirnrinde, des nach ihm benannten Broca-Areals, den Verlust der Sprachfähigkeit mit sich bringt. Weitere Entdeckungen, wie diejenigen von Paul Wernicke, schlossen sich in rascher Folge an. Heutzutage hat uns die Gehirnforschung, dank den Techniken der imagery, einen reichen Ertrag von Forschungsdaten geliefert. Das sog. mind-body-problem bleibt aber nach wie vor ungelöst, da diese Resultate verschieden interpretiert werden können. Vgl. z. B. Galen, On the Doctrines of Hippocrates and Plato, VII, 8, 3–7, hg. v. Phillip de Lacy, Berlin: Akademie-Verlag 1984, Bd. 2, S. 476. 16 Vgl. z. B. Avicennas De Anima […], 5, hg. v. F. Rahman, Oxford University Press 1959, S. 44, Z. 3–45, Z. 16. 17 Descartes, L’Homme [1633], in: Œuvres, hg. v. Paul Adam u. Jules Tannery, Paris: Vrin 1986, Bd. XI, S. 129 und passim. 15
xiv Einleitung
Bergson bevorzugt hier eine dualistische Lehre. Zwar bezweifelt er das Dasein einer gewissen Solidarität zwischen der Denktätigkeit und dem Gehirn keineswegs, denn er behauptet ja, daß diese vom Gehirn abhänge. Was aber bedeutet hier »abhängen«? Bergson gebraucht in diesem Zusammenhang gern das Bild eines Nagels, an dem ein Kleid hängt. Zwischen beiden besteht kein Verhältnis der Gleichheit, geschweige denn des Parallelismus.18 Bei Bergson läuft das rückhaltlose Ernstnehmen des Körpers parallel zu einer nüchternen Entmythisierung des Gehirns: Es ist ein Teil des Körpers, durch und durch physiologischer Natur und enthält als solches nur Materielles, d. h. Bewegungen, genauer noch elektrische Impulse. Es enthält keine Vorstellungen, es ist keineswegs der topos eidōn. Um Gilbert Ryles Scherz vom ghost in the machine in einem veränderten Sinn wiederaufzunehmen, treibt kein Gespenst in der Maschine sein Unwesen.
5. Die Wahrnehmung Da die geistige Tätigkeit ihren Anfang mit der Wahrnehmung nimmt, beginnt auch Bergson seine Untersuchungen mit ihr, wobei er dieselbe »biologische« Richtlinie geltend macht: Die Sinne dienen eher dem Leben als der Erkenntnis.19 Dabei knüpft er an eine Bemerkung an, die Malebranche in die französische philosophische Tradition eingebracht hat: Die »Sinneserkenntnisse […] müssen allein dem Erhalt unseres Lebens dienen«. So schreibt er, in einem Satz, den Bergson sich hätte aneignen können: Unsere Augen »sind uns nur gegeben, um alle Bewegungen unseres Körpers im Verhältnis zu den uns umgebenden Körpern zu
18 Bergson, 19
ES , S. 36 und MG, Vorwort, S. 6.
Le bon sens, Rede vom 30. 7. 1895, in: Mélanges, S. 361.
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xv
erhellen«.20 Bergson betont die »gänzlich nützlichkeitsbezogenen Ursprünge unserer Wahrnehmung der Dinge« (200). Gewöhnlich pflegen die Philosophen die Wahrnehmung als ein reines, interesseloses Zuschauen (theōria) zu behandeln: »[M]an [hält] die Wahrnehmung für eine Art kontemplative Betrachtung, […] man [schreibt] ihr immerfort einen rein spekulativen Zweck zu[…], […] man möchte, daß sie auf was weiß ich für eine interesselose Erkenntnis abzielt«.21 Nun ist die gelebte Wahrnehmung wesentlich interessiert, 22 da im Leben und für das Leben bestimmt. Nur das wird wahrgenommen, was »für unsere Bedürfnisse von Interesse […] sein« kann (260). Der schon zitierte Satz von Malebranche fährt fort, indem er auf die Bergsonsche Auffassung vorausweist: »Wenn der oder der Körper zu weit von uns entfernt wäre, um uns schaden zu können, oder, wenn er nah wäre, zu klein dazu, dann würden wir ihn zuverlässig aus dem Blick verlieren«.23 Indem er die Wahrnehmung ins Getriebe des Lebens zurücksetzt, verhindert Bergson, daß man die objektive Realität der Außenwelt und die subjektive innere Empfindung mit der Axt trennt, was die Philosophen gewöhnlich tun. Deswegen können sie unmöglich erklären, wie die Außenwelt die Empfindung erregen kann, oder umgekehrt, wie diese jene fassen kann. In jeder 20 Nicolas
Malebranche, Recherche de la vérité [1674], I, vi, 3, in: Œuvres, hg. v. Geneviève Rodis-Lewis, Paris: Gallimard, Bd. 1, S. 65; ferner: Entretiens sur la métaphysique et sur la religion [1688], V, viii, ebd., Bd. 2, S. 751. 21 MG, S. 76, vgl. auch 27, 175 f., 181, 206 f., 279 f. 22 MG, S. 37 – 39, 42 f., 55 f., 59, 63, 93 f., 183, 262. In meiner Einleitung zur neuen Übersetzung der Schöpferischen Evolution (Hamburg: Meiner 2013, S. IX f.) habe ich darauf hingewiesen, wie sehr die deutsche Philosophie in ihrer Hauptströmung die Auseinandersetzung mit Bergson vermieden hat. Als weiterer Beleg kann hier die Tatsache gelten, daß Jürgen Habermas in seiner Habilitationsschrift Erkenntnis und Interesse (1968) kein Wort über Bergson verliert. 23 Vgl. oben, Anm. 20.
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Wahrnehmungstheorie muß dann zwischen der von außen her unternommenen Beschreibung des wahrnehmenden Apparats und der Erfahrung des Erlebten eine Kluft gähnen, die man nur durch einen Sprung überbrücken kann. So schon bei Platon. Sein Timaios berichtet ausführlich über die Art und Weise, wie das sanfte Feuer in der Welt seinem Widerpart (»Bruder«) in den Augen begegnet und mit ihm in ein Ganzes zusammengerinnt, dann durch den ganzen Leib dringt usw. Dann schließt er das Ganze urplötzlich mit dem Satz ab: »Und das verursacht den Eindruck (aisthēsis), den wir ›sehen‹ nennen.«24 Bergson vermeidet die Schwierigkeit durch einen kühnen Schachzug: Er verwischt die Trennlinie zwischen Materie und Wahrnehmung. Zwischen beiden ist nur ein Gradunterschied vorhanden. »Wir versetzen uns […] von vornherein […] in die se[s] materiell[e] Universum« (71). »Unsere Wahrnehmung im Reinzustand würde […] wahrhaft Teil der Dinge sein.« (72). Das Wahrgenommene unterscheidet sich vom Realen nicht wie das Abbild vom Urbild, sondern wie der Teil vom Ganzen. Wir bilden uns mehr oder weniger spontan ein, vielleicht naiv die rein physiologische Tatsache der Anwesenheit von Löchern im Schädel ins Psychologische transponierend, daß die Sinnesorgane gleichsam Fenster darstellen, durch die Eindrücke in uns eintreten. Ganz im Gegenteil sind sie nach Bergson eher Hindernisse, wie Filter, die nur das zu uns durchlassen, worauf wir einen Einfluß ausüben können. Besser noch, sie sind Spiegel: »Gleich einem Spiegel werfen« die wahrgenommenen Gegenstände »meinem Körper seinen möglichen Einfluß zurück«.25 Folglich ist die Wahrnehmung wesentlich Unterscheidung: »das Unterscheiden im etymologischen Wortsinn«, oder Auslese (sélection), als schlösse sich Bergson in seiner Weise der Auffassung des Aristoteles an, für den die Wahrnehmung dem unterTimaios, 45d 2–3. MG, S. 19; vgl. auch SE , S. 22.
24 Platon, 25
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xvii
scheidenden Vermögen (kritikon) angehört.26 Die Wahrnehmung behält nur »die äußere Schale, die oberste Haut« eines materiellen Gegenstandes, wobei Bergson wohl auf die Lehre von der Wahrnehmung durch Häutchen (simulacra) anspielt, die er im von ihm 1883 zum Schulgebrauch herausgegebenen Lehrgedicht Lukrez’ vorfand.27 Das Behaltene, mithin das Wahrgenommene, ist das, worauf wir einwirken können.
6. Das Gedächtnis Wie es in einem so betitelten Werk zu erwarten war, übt das Gedächtnis eine Schlüsselfunktion aus: »Die Theorie des Gedächtnisses [bildet] […] das Zentrum unserer Arbeit« (288). Das Gedächtnis stellt nämlich den einzigen Fall dar, in dem man einem geistigen Vermögen einen Ort im Gehirn hat plausibel zuweisen wollen. Das, was am Beispiel des Gedächtnisses festgestellt wurde, wird man später auf den Rest der geistigen Tätigkeiten durch einen Schluß a fortiori erweitern dürfen. Daher »muß das Gedächtnis […] ein von der Materie absolut unabhängiges Vermögen sein« (82). Die Materie – etwa die Gehirnzellen – ist keinesfalls der Ort, wo die Erinnerungen wie in Waben untergebracht werden. Vielmehr ist sie für das Vergessen verantwortlich. Damit knüpft die Bergsonsche Auffassung des Gedächtnisses an eine philosophische Tradition in Frankreich an, nämlich die des einzigen Philosophen, der im gesamten Werk zustimmend zitiert wird und übrigens damals noch lebte: Felix Ravaisson (gest. 1900) (221). Das Gehirn dient nicht dazu, die Erinnerungen aufzuspeichern, sondern sie je nach dem jeweiligen möglichen Gebrauch MG, S. 39, vgl. auch 48, 52, 80, 288. Auslese/Selektion: MG, S. 281, 304. Aristoteles, De anima, II, 11, 424a 6; III, 9, 432a16. 27 MG, S. 37. Lukrez, IV, 216–238. Vgl. Mélanges, S. 292. 26
xviii Einleitung
abzurufen. Dem Gedächtnis eignet eine durch und durch praktische Funktion: Es soll nämlich der aktuellen Wahrnehmung den Schatz der vergangenen Erfahrung zur Verfügung stellen, um die künftige Handlung zu beleuchten, indem es ihr die verschiedenen Möglichkeiten vorstellt. Bergson zeigt, daß das Problem eines Ortes, an dem die Erinne rungen sich befinden sollen, ein falsch gestelltes ist. Deswegen ist dessen Lösung eher eine Auflösung. Das Vergangene ruht in sich selbst, genauso wie die sinnlich wahrnehmbare Welt. Wir haben keinen Grund, anzunehmen, daß das einmal Erlebte jetzt nicht mehr existiert, genauso wie es keinem einfallen würde, sich einzubilden, daß der Teil der Welt, den wir nicht sehen, zu existieren aufhört (181). Nun wird das zeitlich Vergangene abgeblendet, weil es zu nichts mehr dient, wohingegen das räumlich Ferne als Gegenstand eines virtuellen Bewußtseins fortbesteht, weil es der Gegenstand einer virtuellen Handlung bleibt. Einem anderen Bild zufolge, das Bergson sich möglicherweise bei Augustin28 geborgt hat, fragen wir uns nicht, wo die erste Silbe eines Worts, das wir soeben ausgesprochen haben, sich befindet, da wir sie eben im Gedächtnis behalten, zusammen mit dem Satz, dem das Wort angehört und dessen Zusammenhang ihm seinen vollen Sinn verleiht. Nun ist es, als bildete unser ganzes Leben einen solchen sehr langen, einzigen, zwar interpunktierten, aber nicht unterbrochenen Satz.29 Dem Gedächtnis eignet die Fähigkeit, das Vergangene abzublenden (obscurcir, masquer).30 So ist es, bei Bergson ein wenig wie bei Nietzsche, nicht nur ein Organ der Erinnerung, sondern ebensosehr des Vergessens, beidemal zugunsten des Lebens. 31 Bei den glücklicherweise äußerst seltenen Menschen, die wortConfessiones, X, xxvii, 35. ES , S. 55–57. 30 Ebd., S. 57. 31 Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, II : Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1, KSA, Bd. 1, S. 248–250. 28 Augustinus, 29 Bergson,
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wörtlich nichts vergessen können, liegt eine pathologische Störung vor, wie im Fall Solomon Weniaminowitsch Schereschewski (1886–1958), über den der sowjetische Psychologe Alexander R. Luria berichtet hat32 und dessen außerordentliche Begabung sich eher als ein Verhängnis auswirkte.
7. Raum, Zeit, Bewegung Nach einer uralten Klassifizierung entsprechen die verschiedenen Geistesvermögen je einer Dimension der Zeitlichkeit: die Wahrnehmung der Gegenwart, das Gedächtnis der Vergangenheit, die Erwartung (elpis) der Zukunft.33 Daher läßt sich eine Theorie des Gedächtnisses kaum von einer Theorie der Zeit trennen. So entwirft Bergson eine Theorie der Zeit und des Raums, die einen Mittelweg einschlägt zwischen Empirismus und einem Idealismus Kantischer Prägung. Man kann sie verstehen als eine Wiederholung der transzendentalen Ästhetik Kants in einer veränderten Perspektive, derjenigen der Handlung: Raum und Zeit sind »die Schemata unseres auf die Materie einwirkenden Handelns.«34 Obwohl Bergson seine eigene Auffassung von derjenigen Kants immer wieder abzuheben pflegt, wobei er des öfteren Kant unzureichend versteht, versucht er ab und zu, eine Art Ehrenrettung Kants durchzuführen, indem er hinter dem wirklichen Kant, so wie er ihn versteht, einen möglichen Kant entdeckt, der nur versäumt hat, seinen ursprünglichen Ansichten bis zum Ende zu fol32
Aleksandr Luria, Маленькая книжка о большой памяти (ум мнемониста), abrufbar unter: http://www.mnemotexnika.narod.ru/ izv_mn_05.htm. Deutsche Übersetzung: Kleines Porträt eines großen Gedächtnisses, in: Der Mann, dessen Welt in Scherben ging. Zwei neurologische Geschichten, dt. von Barbara Heitkam, Hamburg: Rowohlt 2000, S. 147–249. 33 Aristoteles, De memoria et reminiscentia, 1, 449b 27–28. 34 MG, S. 262, 256; SE , S. 233, 181.
xx Einleitung
gen. In Materie und Gedächtnis wird diese Methode nur skizziert, in der späteren Schöpferischen Evolution wird sie systematischer verfolgt.35 In dieser Theorie läuft der rote Faden im Werks Bergsons, die Intuition der Dauer und der Zusammenhang zwischen Zeit und Freiheit, immer noch unterirdisch. Das Urphänomen sei die Kontinuität des Werdens: »diese Kontinuität des Werdens, die die Wirklichkeit selbst ist« (178), »die lebendige Wirklichkeit« (172). Die gewöhnliche Auffassung zerlegt diese Kontinuität in eine Vielheit (172, 189 f.), weil diese Zerlegung dem praktischen Leben dient: »zugunsten der größeren Bequemlichkeit des praktischen Lebens« (207). Gegen diese Zerteilung des kontinuierlichen Lebensflusses ist nichts einzuwenden, solange sie auf der Ebene des praktischen Lebens bleibt, dem sie sehr effizient dient. Wenn sie aber vorgibt, das Wirkliche adäquat zu treffen, führt sie zu Mißverständnissen, die alle aus dem hervorquellen, »was man die Vorurteile der Handlung nennen könnte« (272). Im Unterschied zum abstrakten, geometrischen Raum ist die konkrete Ausgedehntheit (étendue) ebenso unteilbar (272) wie die konkrete Dauer (durée) gegenüber der abstrakten Zeit. In einem berühmten, aber dunklen Brief verteidigte schon Spinoza Thesen, die einen deutlichen Anklang an Bergson aufweisen, insbesondere die Unterscheidung zwischen Zeit und Dauer.36 Bergson erklärt aber darüber hinaus, warum wir einen Raum brauchen: weil wir das kontinuierliche Gewebe der Wirklichkeit in festumrissene Gegenstände zerteilen, um überhaupt handeln zu können, wobei wir eine ins Unendliche teilbare Größe voraussetzen müssen. Dieses neue Durchdenken des Raums und der Zeit führt zu einer neuen Auffassung der Bewegung. Nach Bergson sei ihr We35
MG, S. 268 Anm. 2, SE , S. 402–408. Brief an Ludwig Meyer (XII), 20.4.1663, in: Opera, hg. v.
36 Spinoza,
Vloten & Land, Den Haag: Nijhoff 1914, Bd. 3, S. 40–41.
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xxi
sen der »Zusammenhan[g] der Gegenwart und der Vergangenheit« (270). Nun bilden wir uns ein, sie bestünde aus unbeweg lichen Zuständen, so daß man nur durch einen Sprung von einem zum anderen fortschreiten könnte. Diese Täuschung rührt daher, daß wir die Bewegung mit dem durchschrittenen Raum verwechseln. Da der Raum zweifelsohne teilbar ist, stellen wir uns vor, eine Bewegung wäre ebenso teilbar wie die Strecke, die sie jeweils zurücklegt. Es fällt uns schwer, die Bewegtheit (mobilité) als solche zu denken, da wir spontan der Ruhe einen Vorrang gegenüber der Bewegtheit gewähren: Die Einbildungskraft kann nicht umhin, »die Ruhe für der Bewegtheit vorausliegend zu halten« (269), weil wir es in der Praxis bevorzugen, stillstehende Gegenstände zu manipulieren. Erst zehn Jahre später in der Schöpferischen Evolution wird die Kritik bis zum Ende fortgeführt.37 Hier begnügt sich Bergson mit einer erneuten Kritik der Paradoxien Zenons von Elea, die er schon im Erstlingswerk angegriffen hatte und die er immer wieder kritisiert.38 Das zieht eine bestimmte Ontologie nach sich, die Bergson nur in Umrissen darstellt. Das Gegenwärtige ist nicht das, was ist, sondern »das […], was entsteht« (190). Die Gegenwart ist der Zustand unseres Körpers (294), der ständig handelt. So ruht die Ontologie auf einer Theorie der Handlung, der Praxis. Man denkt an die eigenwillige, aber anregende Interpretation der Philosophie des jungen Marx durch Michel Henry.39
37
MG, S. 269; SE , S. 356–358. MG, S. 237 – 239.; DI, S. 84–86 ; SE , S. 349–354; vgl. noch La perception du changement, in: PM, S. 156, 160. [dt. Übers. von PM, S. 156 in: 38
Philosophie der Dauer, Hamburg: Meiner 2013, S. 155 f.] 39 Michel Henry, Marx. I: Une philosophie de la réalité, Paris: Gallimard 1976.
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8. Geist und Materie Nach Bergson steht zwar im Mittelpunkt der Untersuchungen die Vereinigung des Körpers und der Seele (5, 272). Über der engen psychologischen bzw. anthropologischen Frage waltet jedoch eine höhere und breitere Ebene, die metaphysischer Natur ist. Geist und Materie werden neu bestimmt. Das Geistige bekommt diskret eine neue Definition als das Virtuelle. Die Virtualität ist der Seinsmodus des Geistigen, »jen[e] Existenz, die den Dingen des Geistes eigen ist« (296). Der Geist, der sich im Virtuellen bewegt, um es fallweise verwirklichen zu können, ist wesentlich Freiheit (304 f.), nicht Erkenntnis. Dabei führt Bergson die Tendenz der neuzeitlichen Philosophie zu Ende, das Wesen des Geistigen nicht so sehr in der als theoretischem Intellekt verstandenen Vernunft, sondern vielmehr in der (übrigens auch als logos und »Vernunft« gelten könnenden) Freiheit zu suchen, wie dies etwa bei Rousseaus revolutionärer Bestimmung des Wesens des menschlichen animal rationale als dem freien Lebewesen und erst recht beim Kantischen Primat der praktischen Vernunft der Fall ist.40 Die Materie darf man nicht vereinfachend als den Widersacher des Geistes auffassen, sondern eher als dessen stillgelegte Form. »Die ausgedehnte Materie in ihrem Gesamtzusammenhang betrachtet, ist wie ein Bewußtsein, in dem sich alles ins Gleichgewicht bringt, kompensiert und neutralisiert«, »ein Bewußtsein, bei dem all seine möglichen Teile durch den Wirkungen immer gleichwertige Reaktionen einander gegenseitig ins Gleichgewicht bringen und sich so wechselseitig davon abhalten hervorzustechen«.41 So erscheint die Natur als ein neutralisiertes, Rousseau, Sur l’origine de l’inégalité, 1; in: Œuvres Complètes, hg. v. Bernard Gagnebin et al., Paris: Gallimard 1959, Bd. 3, S. 141; Kant, Kritik der praktischen Vernunft, hg. v. Karl Vorländer, Hamburg: Meiner 1929, S. 138–140 [Primat der reinen praktischen Vernunft]. 41 MG, S. 271, 288, vgl. auch 303 f. 40
Rémi Brague
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mithin latentes Bewußtsein. Man denkt an die Naturphilosophie der Jenaer Frühromantik oder des deutschen Idealismus, etwa an Novalis oder an Schellings Idee der Natur als einer »erstarrten Intelligenz«42. Diese Auffassung der Natur zieht einen Kehrsatz nach sich, der in Bergsons Werk erst später zum Vorschein kommt: Wenn die Natur geronnener Geist ist, dann ist auch die Selbsterkenntnis des Geistes, wo er im Menschen seinen Gipfel erreicht, ein Schlüssel zur Erkenntnis der natürlichen Begebenheiten. So bildet den Ausgangspunkt der späteren Schöpferischen Evolution eine Besinnung über unsere innere Erfahrung.43 Dabei erweist sich Bergson als ein Erbe der introspektiven Methode eines Maine de Biran, den er als die Quelle des französischen Spiritualismus anerkannte.44 Das lähmende Prinzip, das das Seiende zu einer geistlosen Materie gerinnen läßt, ist die Abwesenheit der Zeit. Die geistige Tätigkeit ist nämlich Erinnerung und Antizipation, Behalten und Vorgreifen. So kann Bergson die Materie als »einen im Augenblick gefangenen Geist oder einen Geist, dem das Gedächtnis fehlt« (mens momentanea seu carens recordatione) bezeichnen, nach einem Ausdruck des jungen Leibniz, auf den Bergson sich übrigens ausdrücklich bezieht.45 Der Geist ist in der Zeit zu suchen, nicht im Raum. So kann Bergson sein Unterfangen zusammenfassen: Es heißt die Optik des Raumes durch diejenige der Zeit ersetzen: »Die auf Subjekt und Objekt, auf deren Unterscheidung und Vereinigung bezogenen Fragen müssen eher in Abhängigkeit von der Zeit als in Abhängigkeit vom Raum gestellt werden« (79). 42 Vgl.
z. B. F. W. J. Schelling, Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses oder der Categorien der Physik [1800], § 63; Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 77. 43 SE , S. 11–17. 44 Besprechung von Paul Janet, Principes de métaphysique et de psychologie [1897], in: Mélanges, S. 408. 45 Leibniz, Theoria motus abstracti [um 1670]; Die Philosophischen Schriften, hg. v. C. J. Gerhardt, Bd. IV, S. 230; zitiert in Bergson, ES, S. 5.
xxiv Einleitung
9. Bergsons Werkzeugkasten Die Methode, die Bergson hier wie in den übrigen Werken anwendet, hat nichts Eigenwilliges an sich. Vielmehr besteht sie aus ganz klassischen Werkzeugen der Philosophie. In erster Linie die Analyse, das Zerlegen des scheinbar Einfachen: so z. B. der Wahrnehmung, so wie wir sie im alltäglichen Leben erfahren. Sie stellt kein elementares Baumaterial des Seelenlebens dar. Vielmehr besteht sie aus einer Mischung von reinem Wahrnehmen und reiner Erinnerung (74 f.). Bestimmte Denkoperationen setzt Bergson allerdings besonders gern ein. Zwei seien hier genannt: Erstens die Unterscheidung zwischen dem Gradunterschied und dem Wesensunterschied (22, 28, 39, 58, 61, 80, 178). Das, was gewöhnlich als eine schwächere oder stärkere Fassung eines Anderen gilt, erweist sich als von ihm durch einen Abgrund getrennt. So ist die Erinnerung keineswegs eine geschwächte Wahrnehmung, sondern ein Phänomen ganz anderer Art (74). Umgekehrt sind die Wahrnehmung und die wahrgenommenen Gegenstände nur graduell voneinander unterschieden. Zweitens die Umkehrung des Mehr-Weniger-Verhältnisses. Das, was als ein Mehr gilt, wird als ein Weniger entpuppt und um gekehrt. So ist z. B. die Vorstellung nicht mehr als das Seiende, sondern weniger. Sie ist nicht die Wiederholung oder Widerspiegelung (re-praesentatio) eines schon Gegebenen, sondern dessen Vereinfachung (36). Dieser Kunstgriff erreicht seinen Gipfel in der berühmten Kritik der Idee des Nichts in der Schöpferischen Evolution. Noch ein besonders beliebtes Vorgehen Bergsons sei genannt, das generell zu beobachten ist: Er begnügt sich so gut wie nie damit, Irrtümer zu entlarven. Er versucht, sie zu erklären, und gibt die Gründe an, die sie so gut wie unvermeidlich werden lassen. Dabei wird der Kantische »transzendentale Schein« in eine Art »praktischen Schein« transponiert.
H EN R I BERGSON
M AT ER I E U N D GEDÄCH T N IS
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ieses Buch behauptet die Realität des Geistes und die Realität der Materie und versucht die Beziehung zwischen beiden anhand eines präzisen Beispiels zu bestimmen: dem des Gedächtnisses. Es ist also ganz klar dualistisch. Auf der anderen Seite jedoch nimmt es Körper und Geist auf eine Weise in den Blick, durch die es die theoretischen Schwierigkeiten deutlich zu mindern, wenn nicht gar aufzuheben hofft, die der Dualismus schon von jeher aufgeworfen hat und die dazu führen, daß er – obgleich durch das unmittelbare Bewußtsein nahegelegt und vom gemeinen Menschenverstand angenommen – bei den Philosophen sehr gering geachtet wird. Diese Schwierigkeiten liegen zum größten Teil an der mal realistischen, mal idealistischen Konzeption, die man sich von der Materie bildet. Das Ziel unseres ersten Kapitels ist, zu zeigen, daß Idealismus und Realismus zwei gleichermaßen überspitzte Thesen sind, daß es falsch ist, die Materie auf die Vorstellung zu reduzieren, die wir von ihr haben, und ebenso falsch, aus ihr ein Ding zu machen, welches in uns Vorstellungen hervorbrächte, jedoch von anderer Natur wäre als diese. Die Materie ist für uns ein Gesamtzusammenhang von »Bildern«. Und unter »Bild« verstehen wir eine gewisse Existenz, die mehr ist als das, was der Idealist eine Vorstellung nennt, aber weniger als das, was der Realist ein Ding nennt – eine Existenz, die auf halbem Wege zwischen dem »Ding« und der »Vorstellung« angesiedelt ist. Diese Konzeption der Materie ist ganz einfach die des gemeinen Menschenverstandes. Man würde einen Menschen, dem philosophische Spekulationen fremd sind, in großes Erstaunen versetzen, wenn man ihm sagte, | daß der Gegenstand, den er vor sich hat, den er sieht und den er berührt, nur in seinem Geist und für seinen Geist existiert
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oder sogar noch allgemeiner, wie Berkeley es wollte, nur für einen Geist existiert. Unser Gesprächspartner würde immer vertreten, daß der Gegenstand unabhängig von dem Bewußtsein existiert, das ihn wahrnimmt. Doch andererseits würden wir diesen Gesprächspartner in ebenso großes Erstaunen versetzen, wenn wir ihm sagten, daß der Gegenstand gänzlich verschieden von dem ist, was man an ihm wahrnimmt, daß er weder die Farbe hat, die das Auge ihm verleiht, noch den Widerstand birgt, den die Hand an ihm erfährt. Diese Farbe und dieser Widerstand liegen für ihn im Gegenstand: Es sind nicht Zustände unseres Geistes, es sind die konstitutiven Elemente einer von der unseren unabhängigen Existenz. Für den gemeinen Menschenverstand existiert also der Gegenstand an sich selbst und ist außerdem an sich selbst pittoresk, so, wie wir ihn wahrnehmen: Er ist ein Bild, aber ein Bild, das an sich existiert. Dies ist genau der Sinn, in dem wir das Wort »Bild« in unserem ersten Kapitel verwenden. Wir stellen uns auf den Standpunkt eines Geistes, der von den Diskussionen der Philosophen nichts weiß. Dieser Geist würde natürlich glauben, daß die Materie so existiert, wie er sie wahrnimmt; und da er sie als Bild wahrnimmt, würde er aus ihr an sich selbst ein Bild machen. Mit einem Wort, wir betrachten die Materie vor jener Aufspaltung ihrer Existenz und ihrer Erscheinung, die der Idealismus und der Materialismus vorgenommen haben. Zweifellos ist es schwierig geworden, diese Aufspaltung zu vermeiden, seit die Philosophen sie einmal vollzogen haben. Wir bitten den Leser dennoch, sie zu vergessen. Wenn sich im Laufe dieses ersten Kapitels Einwände gegen diese oder jene unserer Thesen in seinem Geiste erheben, so untersuche er, ob diese Einwände nicht immer daraus geboren werden, daß er sich an den einen oder den anderen jener beiden Standpunkte zurückversetzt, über die wir ihn sich zu erheben bitten. Ein großer Fortschritt in der Philosophie wurde an dem Tag erreicht, als Berkeley | gegen die »mechanical philosophers« auf-
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wies, daß die sekundären Qualitäten der Materie mindestens ebensoviel Wirklichkeit besitzen wie die primären. Sein Unrecht bestand darin, zu glauben, daß man dafür die Materie ins Innere des Geistes verlegen und aus ihr eine reine Idee machen müsse. Zweifellos hat Descartes, als er sie mit der geometrischen Ausgedehntheit verschmelzen ließ, die Materie zu weit von uns weggesetzt. Doch hätte man, um sie näher an uns heranzurücken, keineswegs so weit gehen müssen, sie mit unserem Geist selbst in eins fallen zu lassen. Weil er aber so weit ging, sah sich Berkeley unfähig, den Erfolg der Physik zu erklären, und dazu gezwungen, während Descartes aus den mathematischen Beziehungen zwischen den Phänomenen deren Wesen selbst gemacht hatte, die mathematische Ordnung des Universums für ein reines Akzidens zu halten. Somit wurde die Kantische Kritik notwendig, um diese mathematische Ordnung zu begründen und unserer Physik wieder ein solides Fundament zu verschaffen – was ihr im übrigen nur dadurch gelingt, daß sie die Reichweite unserer Sinne und unseres Verstandes begrenzt. Die Kantische Kritik wäre, zumindest in diesem Punkt, nicht notwendig gewesen, der menschliche Geist wäre, zumindest in dieser Richtung, nicht dazu gebracht worden, seine eigene Reichweite zu begrenzen, und die Metaphysik wäre nicht der Physik geopfert worden, wenn man sich dazu entschlossen hätte, die Materie auf halbem Wege zwischen dem Punkt, zu dem Descartes sie wegschob, und demjenigen, zu dem Berkeley sie hinzog, zu belassen, das heißt letztlich dort, wo der gemeine Menschenverstand sie sieht. Und ebendort versuchen wir selbst sie zu sehen. Unser erstes Kapitel definiert diese Art und Weise, die Materie zu sehen; unser viertes Kapitel zieht die Konsequenzen daraus. Doch wie wir es zu Beginn ankündigten, behandeln wir die Frage der Materie nur, insoweit sie das Problem betrifft, das im zweiten und dritten Kapitel dieses Buches zur Sprache kommt, ebenjenes, das den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ausmacht: das Problem der Beziehung zwischen Geist und K örper. |
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Diese Beziehung ist, obwohl im Lauf der Philosophiegeschichte ständig von ihr die Rede war, in Wirklichkeit sehr wenig erforscht worden. Wenn man die Theorien beiseite läßt, die sich darauf beschränken, die »Vereinigung von Seele und Körper« als eine irreduzible und unerklärliche Tatsache festzustellen, und diejeni gen, die vage vom Körper als einem Werkzeug der Seele sprechen, dann bleibt kaum eine andere Konzeption der psychophysiologischen Beziehung als die »epiphänomenalistische« oder die »parallelistische« Hypothese, welche in der Praxis – will sagen in der Interpretation der einzelnen Tatsachen – eine wie die andere zu denselben Schlüssen führen. Ob man nämlich das Denken als eine schlichte Funktion des Gehirns und den Bewußtseins zustand als ein Epiphänomen des Hirnzustands betrachtet oder ob man die Zustände des Denkens und die Zustände des Gehirns für zwei Übersetzungen eines selben Originals in zwei verschiedene Sprachen hält, in beiden Fällen stellt man als Prinzip auf, daß wir, wenn wir in das Innere eines arbeitenden Gehirns eindringen und dem Wechselspiel der Atome, aus denen die Hirnrinde besteht, beiwohnen könnten und außerdem den Schlüssel der Psychophysiologie besäßen, in allen Einzelheiten wüßten, was sich in dem entsprechenden Bewußtsein abspielt. Tatsächlich ist es dies, was bei den Philosophen ebenso wie bei den Gelehrten die durchgängigste Anerkennung erfährt. Dennoch hätte man Anlaß, sich zu fragen, ob die Tatsachen, wenn man sie unvoreingenommen untersucht, tatsächlich eine derartige Hypo these nahelegen. Daß zwischen dem Bewußtseinszustand und dem Gehirn ein Zusammenhang besteht, das ist unbestreitbar. Doch besteht auch zwischen dem Kleidungsstück und dem Nagel, an dem es aufgehängt ist, ein Zusammenhang, denn wenn man den Nagel herausreißt, fällt das Kleidungsstück zu Boden. Würde man deshalb sagen, daß die Form des Nagels die Form des Kleidungsstücks abzeichnen oder uns in irgendeiner Weise erlauben würde, diese zu erahnen? So kann man daraus, daß die psychologische Tatsache an einem Hirnzustand hängt, | nicht
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auf den »Parallelismus« der beiden Reihen, der psychologischen und der physiologischen, schließen. Wenn die Philosophie vorgibt, diese parallelistische These auf die Daten der Wissenschaft zu stützen, dann begibt sie sich in einen wahren Circulus vitiosus: Denn wenn die Wissenschaft den Zusammenhang, welcher eine Tatsache ist, im Sinne eines Parallelismus interpretiert, der eine Hypothese ist (und eine ziemlich wenig verständliche Hypothese1), dann geschieht dies, bewußt oder unbewußt, aus Gründen philosophischer Natur. Es geschieht, weil sie durch eine gewisse Philosophie daran gewöhnt wurde, zu glauben, daß es keine einleuchtendere, den Interessen der positiven Wissenschaft gemäßere Hypothese gäbe. Sobald man nun aber, um das Problem zu lösen, präzise Angaben von den Tatsachen zu erlangen sucht, ist es das Gebiet des Gedächtnisses, in das man sich versetzt findet. Dies war zu erwarten, da die Erinnerung – wie wir im vorliegenden Werk zu zeigen versuchen – eben gerade den Schnittpunkt zwischen Geist und Materie darstellt. Doch ganz gleich aus welchem Grund: Niemand wird, glaube ich, abstreiten, daß in dem Gesamtzusammenhang von Tatsachen, die in der Lage sind, etwas Licht auf die psychophysiologische Beziehung zu werfen, jene, die das Gedächtnis betreffen, sei es im normalen oder im pathologischen Zustand, einen privilegierten Platz einnehmen. Nicht nur gibt es hier eine extreme Fülle von Belegen (man denke nur an die ungeheure Masse der über die verschiedenen Aphasien gesammelten Beobachtungen!), sondern es ist der Anatomie, der Physiologie und der Psychologie auch nirgends so gut gelungen, sich gegenseitig zu stützen, wie hier. Demjenigen, der ohne vorgefaßte Meinung auf dem Boden der Tatsachen an das antike Problem des Verhältnisses von Seele und Körper herangeht, scheint sich dieses Problem sehr bald um die Frage des Gedächtnisses, | und sogar 1
Diesen letzten Punkt haben wir in einem Artikel mit dem Titel: Le paralogisme psychophysiologique (Revue de métaphysique et de morale, November 1904) eingehender behandelt.
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spezieller noch des Wortgedächtnisses, zusammenzuziehen: Von dort aus muß zweifelsfrei das Licht ausgehen, das in der Lage ist, die dunkleren Seiten des Problems zu erhellen. Wir werden sehen, wie wir es zu lösen versuchen. Generell scheint uns der psychologische Zustand in der Mehrzahl der Fälle sehr weit über den Hirnzustand hinauszureichen. Will sagen, daß der Hirnzustand nur einen kleinen Teil von ihm abzeichnet, jenen, der in der Lage ist, sich in lokomotorische Bewegungen zu übersetzen. Man nehme ein komplexes Denken, das sich in einer Reihe abstrakter Überlegungen entfaltet. Dieses Denken ist von der Vorstellung von Bildern begleitet, zumindest von im Entstehen begriffenen. Und diese Bilder selbst werden nicht im Bewußtsein vorgestellt, ohne daß sich im Zustand einer Skizze oder Tendenz die Bewegungen abzeichnen, durch welche diese Bilder sich selbst im Raum vollziehen* 1 würden – will sagen, dem Körper diese oder jene Haltungen aufprägen und all das, was sie implizit an räumlicher Bewegung bergen, freisetzen. Und eben darin liegt nun unserer Meinung nach das, was der Hirnzustand stets von diesem sich entfaltenden komplexen Denken anzeigt. Wer ins Innere eines Gehirns eindringen und sich dessen gewahr werden könnte, was dort geschieht, wüßte wahrscheinlich über diese skizzierten oder vorbereiteten Bewegungen Bescheid; nichts aber beweist, daß er noch über etwas anderes Bescheid wüßte. Wäre er auch mit einer übermenschlichen Intelligenz begabt und besäße er auch den Schlüssel der Psychophysiologie, er wäre über dasjenige, was sich in dem entsprechenden Bewußtsein abspielt, doch nur gerade soweit aufgeklärt, wie wir es über ein Theaterstück durch das Kommen und Gehen der Schauspieler auf der Bühne wären. 1
Mit ›vollziehen*‹ wird hier und in der Folge (immer durch den Asterisk gekennzeichnet) das französische jouer wiedergegeben, wenn es im Sinne der in diesem und dem folgenden Absatz eingeführten Theaterstück-Metapher verwendet wird. Zu dieser Entscheidung s. das Nachwort der Übersetzerin, S. 311 ff. [A. d. Ü.]
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Das heißt, daß die Beziehung des Mentalen zum Zerebralen ebensowenig eine konstante wie eine einfache Beziehung ist. Je nach der Natur des Stückes, das gespielt wird, sagen die Bewegungen der Schauspieler mehr oder weniger darüber aus: fast alles, wenn es sich um eine | Pantomime handelt; fast nichts, wenn es eine feinsinnige Komödie ist. Ebenso enthält unser Hirnzustand mehr oder weniger von unserem mentalen Zustand, je nachdem, ob wir darauf aus sind, unser psychologisches Leben in einer Handlung nach außen treten zu lassen oder es zu einer reinen Erkenntnis zu verinnerlichen. Es gibt also letztendlich verschiedene Tonarten mentalen Lebens, und unser psychologisches Leben kann sich auf verschiedenen Höhen abspielen, mal dichter an der Handlung, mal weiter von ihr entfernt, je nach dem Grad unserer Aufmerksamkeit auf das Leben. Dies ist eine der Leitideen des vorliegenden Werks, und zwar ebenjene, die unserer Arbeit als Ausgangspunkt gedient hat. Was man gewöhnlich für eine größere Komplexität des psychologischen Zustands hält, erscheint uns von unserem Standpunkt aus wie eine größere Dehnung unserer gesamten Persönlichkeit, welche sich – normalerweise durch die Handlung fest zusammengezogen – je weiter sich der Schraubstock lockert, in dem sie sich komprimieren läßt, um so stärker ausdehnt und sich, stets ungeteilt, über eine um so beachtlichere Fläche erstreckt. Was man gewöhnlich für eine Störung des psychologischen Lebens selbst hält, eine innere Verwirrung, eine Krankheit der Persönlichkeit, erscheint uns von unserem Standpunkt aus wie eine Lockerung oder eine Pervertierung des Zusammenhangs, der dieses psychologische Leben an seine motorische Begleitung bindet, eine krankhafte Veränderung oder eine Abnahme unserer Aufmerksamkeit auf das äußere Leben. Diese These, ebenso wie jene übrigens, die darin besteht, die Lokalisation der Worterinnerungen zu bestreiten und die Aphasien ganz anders als durch diese Lokalisation zu erklären, wurde bei der ersten Veröffent lichung dieses Buches (1896) als paradox erachtet. Heute wird sie
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weit weniger so erscheinen. Die damals klassische, universell anerkannte und für unantastbar gehaltene Konzeption der Aphasie ist seit einigen Jahren heftig angegriffen worden, vor allem aus Gründen anatomischer Natur, aber zum Teil auch aus psychologischen Gründen, die von derselben Art sind wie jene, die wir schon seit | der damaligen Zeit vorgebracht haben.1 Und die so tiefgehende und originelle Studie, die Pierre Janet über die Neurosen angefertigt hat, hat ihn in den letzten Jahren durch die Untersuchung der »psychasthenischen« Formen der Krankheit auf ganz anderen Wegen dazu geführt, von jenen Erwägungen psychologischer »Spannung« und »Aufmerksamkeit auf die Wirklichkeit« Gebrauch zu machen, die man zunächst als metaphysische Ansichten einstufte.2 Ehrlich gesagt hatte man nicht völlig Unrecht, sie so einzustufen. Ohne der Psychologie, ebensowenig wie der Metaphysik, das Recht abzusprechen, sich zur unabhängigen Wissenschaft zu erheben, schätzen wir, daß jede dieser beiden Wissenschaften der anderen Probleme zu stellen hat und ihr in gewissem Maße helfen kann, diese zu lösen. Wie sollte es anders sein, wenn die Psychologie das Studium des menschlichen Geistes zum Gegenstand hat, insofern er für die Praxis nutzbringend funktioniert, und die Metaphysik nichts anderes ist als dieser selbe menschliche Geist, wenn er sich anstrengt, sich von den Bedingungen der nützlichen Handlung zu befreien und sich wieder als reine schöpferische Energie zu fassen? So manche Probleme, die einander fremd zu sein 1
Siehe dazu die Arbeiten von Pierre Marie und das Buch von F. Moutier, L’aphasie de Broca, Paris 1908 (insbesondere das VII. Kapitel). Wir können nicht auf die Einzelheiten der Forschungen und Kontroversen zu dieser Frage eingehen. Wir legen jedoch Wert darauf, den kürzlich erschienenen Artikel von J. Dagnan-Bouveret, L’aphasie motrice sous-corticale (Journal de psychologie normale et pathologique, Januar – Februar 1911) zu nennen. 2 P. Janet, Les obsessions et la psychasthénie, Paris: F. Alcan 1903 (insbesondere S. 474–502).
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scheinen, wenn man sich an den buchstäblichen Sinn der Begriffe hält, in denen diese beiden Wissenschaften sie stellen, erscheinen, wenn man so ihre innere Bedeutung vertieft, als eng benachbart und fähig, sich gegenseitig zu lösen. Wir hätten zu Beginn unserer Forschungen nicht geglaubt, daß es zwischen der Analyse der Erinnerung und den Fragen, die zwischen Realisten und Idea listen oder Mechanisten und Dynamisten in bezug auf die Existenz oder das Wesen der Materie entbrennen, irgendeine Verbindung geben könnte. Dennoch ist diese Verbindung real: Sie | ist sogar innig; und wenn man ihr Rechnung trägt, sieht sich ein metaphysisches Hauptproblem auf den Boden der Beobachtung versetzt, wo es fortschreitend gelöst werden können wird, anstatt immerfort die Streitigkeiten zwischen Schulen im geschlossenen Feld der reinen Dialektik zu nähren. Die Komplexität gewisser Teile des vorliegenden Werkes liegt an der unvermeidlichen Verflechtung von Problemen, die sich ergibt, wenn man die Philosophie von dieser Seite her angeht. Doch durch diese Komplexität, die von der Komplexität der Realität selbst herrührt, wird man, so glauben wir, mühelos hindurchfinden, wenn man an den beiden Prinzipien festhält, die uns selbst als Leitfaden in unseren Untersuchungen gedient haben. Das erste ist, daß die psychologische Analyse sich ohne Unterlaß an dem nützlichen Charakter unserer wesensmäßig der Handlung zugewandten mentalen Funktionen orientieren muß. Das zweite ist, daß die in der Handlung angenommenen Gewohnheiten, wenn sie in die Sphäre der Speku lation aufsteigen, dort künstliche Probleme schaffen und daß die Metaphysik damit beginnen muß, diese künstlich erzeugten Unklarheiten aufzulösen. |
VORWORT Z U R ER ST EN AU FL AGE (1896)
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er Ausgangspunkt unserer Arbeit war die Analyse, die man im dritten Kapitel dieses Buches finden wird. Wir zeigen in diesem Kapitel, an dem präzisen Beispiel der Erinnerung, daß dasselbe Phänomen des Geistes zugleich eine Vielzahl verschiedener Bewußtseinsebenen anspricht, die alle Zwischengrade zwischen dem Traum und der Handlung darstellen: Es ist die letzte dieser Ebenen und nur die letzte, auf der der Körper ins Spiel käme. Doch diese Konzeption der Rolle des Körpers im Leben des Geistes schien sehr zahlreiche Schwierigkeiten aufzuwerfen, die einen wissenschaftlicher, die anderen metaphysischer Natur. Es ist die Analyse dieser Schwierigkeiten ihrerseits, aus der der Rest des Buches hervorgegangen ist. Auf der einen Seite nämlich mußten wir die Theorien diskutieren, die im Gedächtnis nur eine Funktion des Gehirns sehen, und darum gewisse sehr spezielle Tatsachen der zerebralen Lokalisation aus nächster Nähe entschlüsseln: Dies ist zum Teil der Gegenstand unseres zweiten Kapitels. Doch andererseits konnten wir keine so scharfe Trennung zwischen der psychischen Aktivität und ihrer materiellen Entfaltung herstellen, ohne den drängender als je vor uns liegenden Einwänden verschiedener Art zu begegnen, die jeder Dualismus aufwirft. So waren wir gezwungen, eine vertiefte Untersuchung der Idee des Körpers zu unternehmen, die realistische und die idealistische Theorie der Materie miteinander zu konfrontieren, aus diesen die ihnen gemeinsamen Postulate zu extrahieren und schließlich zu untersuchen, ob man nicht, wenn alle Postulate eliminiert sind, die Unterscheidung von Körper und Geist klarer erfassen und zugleich tiefer ins Innerste des Mechanismus ihrer Vereinigung vordringen könnte.
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Vorwort zur ersten Auflage
So wurden wir Schritt für Schritt zu den allgemeinsten Problemen der Metaphysik gebracht. Doch hatten wir als Leitfaden, um uns durch diese metaphysischen Schwierigkeiten hindurchzuführen, jene selbe Psychologie, die uns mitten in sie hineingezogen hatte. Wenn es nämlich wahr ist, daß unsere Intelligenz unaufhaltbar danach strebt, ihre Konzeptionen zu materialisieren und ihre Träume zu vollziehen*, dann kann man vermuten, daß die so in der Handlung angenommenen Gewohnheiten, wenn sie bis zur Spekulation aufsteigen, die unmittelbare Erkenntnis, die wir von unserem Geist, von unserem Körper und von ihrem wechselseitigen Einfluß aufeinander hätten, schon an der Quelle trüben werden. Viele metaphysische Schwierigkeiten werden also vielleicht daraus geboren, daß wir Spekulation und Praxis durcheinanderbringen oder daß wir eine Idee in Richtung des Nützlichen treiben, wenn wir glauben, sie theoretisch zu vertiefen, oder schließlich daraus, daß wir die Formen der Handlung zum Denken verwenden. Wenn wir also die Handlung und die Erkenntnis sorgfältig gegeneinander abgrenzen, wird man sehen, wie sich etliche Unklarheiten aufhellen, sei es, daß gewisse Probleme zu ihrer Lösung gelangen, sei es, daß es keinen Anlaß mehr gibt, sie zu stellen. Dies ist die Methode, die wir schon auf das Problem des Bewußtseins angewendet haben, als wir versuchten, das innere Leben von den praktisch nützlichen Symbolen zu befreien, die es abdecken, um es in seiner flüchtigen Originalität zu erfassen. Es ist ebendiese Methode, die wir hier, sie erweiternd, wieder aufgreifen wollen, um uns dieses Mal mit ihr nicht mehr bloß ins Innere des Geistes, sondern an den Berührungspunkt zwischen Geist und Materie zu versetzen. Die so definierte Philosophie ist nur eine bewußte und reflektierte Rückkehr zu den Daten der Intuition. Sie muß uns durch die Analyse der Tatsachen und den Vergleich der Lehren zu den Schlußfolgerungen des gemeinen Menschenverstandes zurückbringen.
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ER ST E S K A PI T EL
Von der Selektion der Bilder für die Vorstellung. – Die Rolle des Körpers
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ir wollen für einen Augenblick so tun, als ob wir nichts von den Theorien über die Materie und den Theorien über den Geist wüßten, nichts von den Diskussionen über die Realität oder die Idealität der Außenwelt. So finde ich mich also umgeben von Bildern – im vagsten Sinne, in dem man dieses Wort nehmen kann –, wahrgenommenen Bildern, wenn ich meine Sinne öffne, nicht wahrgenommenen, wenn ich sie verschließe. Alle diese Bilder wirken und reagieren in all ihren Grundbestandteilen aufeinander, gemäß konstanten Gesetzen, die ich die Naturgesetze nenne, und da die perfekte Wissenschaft dieser Gesetze zweifellos erlauben würde, zu berechnen und vorauszusehen, was sich in jedem dieser Bilder abspielen wird, muß die Zukunft der Bilder in ihrer Gegenwart enthalten sein und kann dieser nichts Neues hinzufügen. Dennoch gibt es eines unter ihnen, das sich von allen anderen dadurch abhebt, daß ich es nicht nur von außen durch Wahrnehmungen, sondern auch von innen durch affektive Empfindungen kenne: das ist mein Körper. Ich untersuche die Bedingungen, unter denen diese affektiven Empfindungen auftreten: Ich stelle fest, daß sie sich immer zwischen die Schwingungen, die ich von außen empfange, und die Bewegungen, die ich ausführen werde, schalten, als ob sie | einen ungenau bestimmten Einfluß auf das letztendliche Vorgehen ausüben sollten. Ich lasse meine verschiedenen affektiven Empfindungen Revue passieren: Es scheint mir, daß jede von ihnen in ihrer Weise eine Einladung zum Handeln enthält, zugleich jedoch auch die Ermächtigung, zu warten und sogar gar nichts zu tun. Ich schaue genauer hin: Ich entdecke begonnene, aber nicht ausgeführte Bewegungen, das Angezeigtsein einer mehr oder weniger nützlichen Entscheidung, nicht aber den Zwang, der die Wahl ausschließt. Ich rufe
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Die Rolle des Körpers
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meine Erinnerungen wach und vergleiche sie: Ich erinnere mich, daß ich überall in der organisch-strukturierten Welt ebendieses Empfindungsvermögen genau in dem Moment auftauchen zu sehen glaubte, in dem die Natur, nachdem sie dem Lebewesen die Fähigkeit verliehen hat, sich im Raum zu bewegen, der Spezies durch die Empfindung die generellen Gefahren signalisiert, die sie bedrohen, und die Vorsichtsmaßnahmen, die es zu treffen gilt, um ihnen zu entkommen, den Individuen überläßt. Ich befrage schließlich mein Bewußtsein über die Rolle, die es sich in der affektiven Empfindung zuschreibt: Es antwortet, daß es tatsächlich in Form von Gefühl oder Empfindung jedem Vorgehen beiwohnt, zu dem ich die Initiative zu ergreifen glaube, und daß es im Gegenzug erlischt und verschwindet, sobald meine Aktivität automatisch wird und erklärt, seiner somit nicht mehr zu bedürfen. Entweder also trügt hier aller Augenschein, oder der Akt, zu dem der affektive Zustand führt, gehört nicht zu denen, die sich, wie eine Bewegung aus einer Bewegung, streng aus den vorheri gen Phänomenen ableiten lassen würden, und folglich fügt er dem Universum und dessen Geschichte wahrhaftig etwas Neues hinzu. Halten wir uns an den Augenschein; ich werde schlicht und rein das formulieren, was ich fühle und was ich sehe: Alles spielt sich so ab, als ob in diesem Gesamtzusammenhang von Bildern, den ich das Universum nenne, nichts wirklich Neues entstehen könne, außer auf dem Weg über gewisse Bilder, deren Grundtypus mir durch meinen Körper geliefert wird. | Nun studiere ich an Körpern, die dem meinen ähnlich sind, die Beschaffenheit von diesem besonderen Bild, das ich meinen Körper nenne. Ich bemerke afferente Nerven, die die Schwingungen an die Nervenzentren weiterleiten, des weiteren efferente Nerven, welche vom Zentrum ausgehen, die Schwingungen zur Peripherie führen und Körperteile oder den gesamten Körper in Bewegung versetzen. Ich befrage den Physiologen und den Psycho logen darüber, wozu diese beiden bestimmt sind. Sie antworten, daß, während die zentrifugalen Bewegungen des Nervensystems
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eine Ortsbewegung des Körpers oder der Körperteile hervorrufen können, die zentripetalen Bewegungen, oder zumindest einige bestimmte unter ihnen, die Vorstellung von der Außenwelt ins Leben rufen. Was soll man davon halten? Die afferenten Nerven sind Bilder, das Gehirn ist ein Bild und auch die durch die sensiblen Nerven weitergeleiteten und sich im Gehirn ausbreitenden Schwingungen sind wiederum Bilder. Wenn dieses Bild, das ich zerebrale Schwingung nenne, äußere Bilder erzeugen soll, müßte es sie in der ein oder anderen Weise enthalten, und die Vorstellung des gesamten materiellen Universums müßte in derjenigen dieser molekularen Bewegung impliziert sein. Nun würde es aber schon genügen, eine solche Annahme auszusprechen, um ihre Absurdität zu entdecken. Es ist das Gehirn, das Teil der materiellen Welt ist, und nicht die materielle Welt, die Teil des Gehirns ist. Löscht man das Bild, das den Namen materielle Welt trägt, so vernichtet man auf denselben Schlag das Gehirn und die zerebralen Schwingungen, die Teile davon sind. Nimmt man im Gegenteil an, daß sich diese beiden Bilder, das Gehirn und die zerebralen Schwingungen, in nichts auflösen, so wird man der Voraussetzung nach nur diese ausgelöscht haben, das heißt ziemlich wenig, ein unbedeutendes Detail in einem unermeßlich großen Gemälde. Das Gemälde in seiner Gesamtheit, das heißt das Universum, bleibt vollständig bestehen. | Aus dem Gehirn die Bedingung für das Gesamtbild zu machen heißt wahrhaft, sich selbst zu widersprechen, da das Gehirn der Voraussetzung nach ein Teil dieses Bildes ist. Weder die Nerven noch die Nervenzentren können also das Bild des Universums bedingen. Verweilen wir bei diesem letzten Punkt. Hier haben wir also die äußeren Bilder, dann meinen Körper und schließlich die Modifikationen, die durch meinen Körper den umgebenden Bildern beigebracht werden. Ich verstehe gut, wie die äußeren Bilder das Bild beeinflussen, das ich meinen Körper nenne: Sie übertragen Bewegung auf ihn. Und ich verstehe auch, wie dieser Körper die
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äußeren Bilder beeinflußt: Er gibt ihnen Bewegung zurück. Mein Körper ist also im Gesamtzusammenhang der materiellen Welt ein Bild, das wie die anderen wirkt, indem es Bewegung empfängt und wieder abgibt, mit diesem alleinigen Unterschied vielleicht, daß mein Körper in einem gewissen Maße die Art und Weise zu wählen scheint, in der er wieder abgibt, was er empfängt. Wie aber sollten mein Körper im allgemeinen und mein Nervensystem im besonderen das Ganze oder einen Teil meiner Vorstellung des Universums erzeugen? Man mag nun sagen, mein Körper sei Materie oder er sei Bild – das Wort ist mir gleich. Wenn er Materie ist, dann ist er Teil der materiellen Welt, und die materielle Welt existiert folglich um ihn herum und außerhalb von ihm. Ist er Bild, so kann dieses Bild nur das wiedergeben, was man in es hineingelegt hat, und weil es der Voraussetzung nach das Bild meines Körpers allein ist, wäre es absurd, daraus das des ganzen Universums ziehen zu wollen. Mein Körper, ein Gegenstand, der dazu bestimmt ist, Gegenstände zu bewegen, ist also ein Handlungszentrum; er wüßte keine Vorstellung ins Leben zu rufen. Wenn aber mein Körper ein Gegenstand ist, der in der Lage ist, eine reale und neue Wirkung auf die Gegenstände auszuüben, die ihn umgeben, dann muß er | ihnen gegenüber eine privilegierte Position besetzen. Im allgemeinen beeinflußt ein beliebiges Bild die anderen Bilder in einer determinierten, sogar berechenbaren Weise, in Übereinstimmung mit dem, was man die Naturgesetze nennt. Da es nicht wählen muß, braucht es auch nicht die umgebende Region zu erkunden, noch sich im vorhinein an mehreren bloß möglichen Wirkungen zu versuchen. Das notwendige Wirken wird sich von selbst vollziehen, wenn seine Stunde geschlagen hat. Ich habe aber angenommen, daß die Rolle des Bildes, das ich meinen Körper nenne, darin besteht, auf die anderen Bilder einen realen Einfluß auszuüben und folglich sich zwischen mehreren verschiedenen materiell möglichen Vorgehensweisen zu entscheiden. Und da ihm diese Vorgehensweisen zweifellos durch den
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mehr oder weniger großen Nutzen suggeriert werden, den es aus den umgebenden Bildern ziehen kann, muß sich in dem Gesicht, das diese Bilder meinem Körper zeigen, in irgendeiner Weise der Nutzen abzeichnen, den mein Körper aus ihnen ziehen könnte. Tatsächlich beobachte ich, daß die Größe, die Form, ja sogar die Farbe der äußeren Gegenstände sich modifiziert, je nachdem ob mein Körper sich ihnen annähert oder sich von ihnen entfernt, daß die Stärke der Gerüche und die Intensität der Klänge mit der Entfernung zu- und abnimmt, daß schließlich diese Entfernung selbst vor allem das Maß repräsentiert, in dem die umgebenden Körper vor dem unmittelbaren Einwirken meines Körpers sicher sind. In dem Maße, in dem mein Horizont sich weitet, scheinen sich die Bilder, die mich umgeben, auf einem einheitlicheren Hintergrund abzuzeichnen und mir indifferent zu werden. Je mehr ich diesen Horizont verenge, um so deutlicher staffeln sich die Gegenstände, die er umfaßt, nach der mehr oder weniger großen Leichtigkeit, mit der mein Körper sie berühren und bewegen kann. Gleich einem Spiegel werfen sie meinem Körper seinen möglichen Einfluß zurück; sie ordnen sich nach der zunehmenden oder abnehmenden Macht meines Körpers. Die | Gegenstände, die meinen Körper umgeben, reflektieren das mögliche Einwirken meines Körpers auf sie. Ich werde nun, ohne die anderen Bilder anzurühren, dasjenige leicht modifizieren, welches ich meinen Körper nenne. In diesem Bild werde ich in Gedanken all die afferenten Nerven des zere brospinalen Systems durchtrennen. Was wird geschehen? Ein paar Skalpellschnitte werden ein paar Faserbündel durchtrennt haben: Der Rest des Universums und sogar der Rest meines Körpers werden bleiben, was sie waren. Die vorgenommene Veränderung ist also unbedeutend. Tatsächlich aber erlischt »meine« gesamte »Wahrnehmung«. Untersuchen wir also näher, was sich gerade ereignet hat. Da sind die Bilder, aus denen sich das Universum im allgemeinen zusammensetzt, dann jene, die meinem Körper
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benachbart sind, und schließlich mein Körper selbst. In diesem letzten Bild besteht die gewöhnliche Rolle der zentripetalen Nerven darin, Bewegung zum Gehirn und zum Rückmark weiterzuleiten; die zentrifugalen Nerven senden diese Bewegung wieder zurück zur Peripherie. Das Durchtrennen der zentripetalen Nerven kann also nur einen einzigen wirklich verständlichen Effekt hervorrufen, der darin besteht, den Strom, der von der Peripherie über das Zentrum wieder zur Peripherie verläuft, zu unterbrechen und folglich es meinem Körper unmöglich zu machen, aus dem Umfeld der Dinge, die ihn umgeben, die Qualität und Quantität an Bewegung zu schöpfen, die nötig ist, um auf diese einzuwirken. Dies ist etwas, was die Handlung, und nur die Handlung, betrifft. Und dennoch ist es meine Wahrnehmung, die erlischt. Was hat das zu sagen, wenn nicht, daß meine Wahrnehmung eben gerade nach Art eines Schattens oder Reflexes im Gesamt der Bilder die virtuellen oder möglichen Handlungen meines Körpers abzeichnet? Nun ist aber das System von Bildern, in dem das Skalpell nur eine unbedeutende Veränderung vorgenommen hat, das, was man im allgemeinen die materielle Welt nennt; und auf der anderen Seite ist das, was gerade | erloschen ist, »meine Wahrnehmung« der Materie. Daraus ergeben sich vorläufig diese beiden Definitionen: Ich nenne Materie das Gesamt der Bilder und Wahrnehmung der Materie diese selben, nun auf die mögliche Handlung eines gewissen bestimmten Bildes, meines Körpers, bezogenen Bilder. Wir wollen diesen letzteren Bezug vertiefen. Ich betrachte meinen Körper mit den zentripetalen und zentrifugalen Nerven und den Nervenzentren. Ich weiß, daß die äußeren Gegenstände den afferenten Nerven Schwingungen aufprägen, die sich zu den Zentren fortpflanzen, daß diese Zentren der Schauplatz sehr vielfältiger molekularer Bewegungen sind und daß diese Bewegungen von der Natur und der Position der Gegenstände abhängen. Ändert man nun die Gegenstände, modifiziert ihren Bezug zu meinem Kör-
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per, so ist in den inneren Bewegungen meiner Wahrnehmungszentren alles anders. Doch auch in »meiner Wahrnehmung« ist alles anders. Meine Wahrnehmung ist also Funktion dieser molekularen Bewegungen, sie hängt von ihnen ab. Wie aber hängt sie von ihnen ab? Man wird vielleicht sagen, daß sie sie übersetzt und daß ich mir letzten Endes nichts anderes vorstelle als die molekularen Bewegungen der Hirnsubstanz. Wie aber könnte diese Aussage den geringsten Sinn haben, da doch das Bild des Nervensystems und seiner inneren Bewegungen der Voraussetzung nach nur das eines bestimmten materiellen Gegenstandes ist und ich mir das materielle Universum in seiner Totalität vorstelle? Freilich versucht man hier, die Schwierigkeit zu umgehen. Man zeigt uns ein Gehirn, das in seinem Wesen dem Rest des materiellen Universums analog ist, ein Bild also, wenn das Universum Bild ist. Anschließend aber, da man will, daß die inneren Bewegungen dieses Gehirns die Vorstellung der gesamten materiellen Welt erschaffen oder bewirken – ein Bild, das jenes der zerebralen Schwingungen unendlich weit überragt –, | gibt man vor, in diesen molekularen Bewegungen wie auch in der Bewegung im allgemeinen nicht mehr Bilder wie die übrigen zu sehen, sondern etwas, das mehr oder weniger als ein Bild wäre, auf jeden Fall von anderer Natur als das Bild und aus dem die Vorstellung durch ein wahres Wunder hervorginge. Die Materie wird so zu etwas von der Vorstellung radikal Verschiedenem, von dem wir folglich keinerlei Bild haben; ihr gegenüber setzt man ein bilderleeres Bewußtsein, von dem wir uns keinerlei Idee bilden können; und am Ende erfindet man, um das Bewußtsein zu füllen, ein unverständliches Wirken dieser Materie ohne Form auf dieses Denken ohne Materie. Die Wahrheit aber ist, daß die Bewegungen der Materie als Bilder sehr klar sind und daß es keinen Anlaß gibt, in der Bewegung etwas anderes zu suchen als das, was man dort sieht. Die einzige Schwierigkeit bestünde darin, aus diesen sehr speziellen Bildern die unendliche Vielfalt der Vorstellungen ins Leben zu rufen; warum aber sollte man dies im Sinn haben, wenn doch
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nach Meinung aller die zerebralen Schwingungen Teil der materiellen Welt sind und diese Bilder folglich nur eine sehr kleine Ecke der Vorstellung einnehmen? – Was also sind nun diese Bewegungen, und welche Rolle spielen diese speziellen Bilder bei der Vorstellung des Ganzen? – Darüber kann für mich kein Zweifel bestehen: Es sind Bewegungen im Inneren meines Körpers, die dazu bestimmt sind, die Reaktion meines Körpers auf das Wirken der äußeren Gegenstände vorzubereiten, indem sie sie beginnen. Selbst Bilder, vermögen sie keine Bilder zu erschaffen; doch wie ein Kompaß, den man fortbewegt, zeigen sie stets die Position eines bestimmten Bildes, meines Körpers, in Bezug zu den umgebenden Bildern an. Im Gesamtzusammenhang der Vorstellung machen sie sehr wenig aus; doch sind sie von größter Wichtigkeit für jenen Teil der Vorstellung, den | ich meinen Körper nenne, da sie in jedem Augenblick dessen virtuelle Vorgehensweisen skizzieren. Es gibt folglich zwischen der sogenannten perzeptiven Fähigkeit des Gehirns und den Reflexfunktionen des Rückenmarks nur einen Gradunterschied, und es kann dort auch keinen Wesensunterschied geben. Das Rückenmark verwandelt die erfahrenen Reize in ausgeführte Bewegungen; das Gehirn führt sie zu schlicht im Entstehen begriffenen Handlungen fort; doch im einen wie im anderen Fall besteht die Rolle der Nervenmaterie darin, Bewegungen zu leiten, miteinander zu kombinieren oder zu blockieren. Woher also kommt es, daß »meine Wahrnehmung des Universums« von den internen Bewegungen der Hirnsubstanz abzuhängen scheint, sich zu verändern scheint, wenn sie variieren, und zu erlöschen, wenn diese getilgt werden? Die Schwierigkeit dieses Problems rührt vor allem daher, daß man sich die graue Substanz und ihre Modifikationen wie Dinge vorstellt, die sich selbst genügen und die sich vom Rest des Universums isolieren lassen würden. Materialisten und Dualisten kommen in diesem Punkt im Grunde überein. Sie betrachten gewisse molekulare Bewegungen der Hirnmaterie für sich genommen: So sehen die einen in unserer bewußten Wahrnehmung ei-
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nen Phosphorschein, der diesen Bewegungen folgt und ihre Spur erhellt; die anderen lassen unsere Wahrnehmungen in einem Bewußtsein abrollen, welches fortwährend molekulare Schwingungen der kortikalen Substanz auf seine Weise zum Ausdruck bringen würde: Im einen wie im anderen Fall sind es Zustände unseres Nervensystems, die durch die Wahrnehmung abgebildet oder übersetzt sein sollen. Läßt sich aber ein Nervensystem denken, das ohne den Organismus lebt, der es nährt, ohne die Atmosphäre, in der dieser Organismus atmet, ohne die Erde, die diese Atmosphäre umhüllt, und ohne die Sonne, um die die Erde kreist? Allgemeiner: Impliziert nicht die Fiktion eines isolierten materiellen Gegenstands eine Art Absurdität, da dieser | Gegenstand seine physikalischen Eigenschaften aus den Beziehungen bekommt, die er mit allen anderen unterhält, und jede seiner Bestimmungen, folglich sogar seine Existenz, dem Platz verdankt, den er im Gesamtzusammenhang des Universums einnimmt? Sagen wir also nicht, daß unsere Wahrnehmungen einfach von den molekularen Bewegungen der Hirnmasse abhängen. Sagen wir lieber, daß sie mit ihnen variieren, daß aber diese Bewegungen selbst untrennbar mit dem Rest der materiellen Welt verknüpft bleiben. Es geht dann folglich nicht mehr bloß darum, wie unsere Wahrnehmungen mit den Modifikationen der grauen Substanz zusammenhängen. Das Problem erweitert sich und stellt sich auch in viel klareren Begriffen. Da ist also ein System von Bildern, das ich meine Wahrnehmung des Universums nenne und das sich bei leichten Variationen eines gewissen privilegierten Bildes, meines Körpers, von Grund auf vollständig verändert. Dieses Bild nimmt das Zentrum ein; nach ihm richten sich alle anderen; mit jeder seiner Bewegungen ändert sich alles, als ob man ein Kaleidoskop gedreht hätte. Und da sind auf der anderen Seite dieselben, nun aber je auf sich selbst bezogenen Bilder; einander gegenseitig zweifellos beeinflussend, doch derart, daß die Wirkung immer proportional zur Ursache bleibt: Das ist das, was ich das Universum nenne. Wie läßt sich nun erklären,
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daß diese beiden Systeme koexistieren und daß dieselben Bilder im Universum relativ unveränderlich und in der Wahrnehmung unendlich veränderlich sind? Das zwischen Realismus und Idealismus, vielleicht sogar zwischen Materialismus und Spiritualismus hängende Problem stellt sich also, unserer Meinung nach, folgendermaßen: Woher kommt es, daß dieselben Bilder gleichzeitig in zwei verschiedene Systeme eingehen können, eines, in dem jedes Bild für sich selbst variiert, und zwar in dem wohldefinierten Maß, in dem es das reale Wirken der umgebenden Bilder erfährt, das andere, in dem alle für ein einziges variieren, und dies in dem wechselnden Maß, | in dem sie das mögliche Wirken jenes privilegierten Bildes reflektieren? Jedes Bild ist einigen Bildern innerlich und anderen äußerlich; doch von dem Gesamtzusammenhang der Bilder kann man nicht sagen, daß er uns innerlich oder äußerlich sei, da Innerlichkeit und Äußerlichkeit nur Beziehungen zwischen Bildern sind. Sich zu fragen, ob das Universum nur in unserem Denken existiert oder außerhalb von ihm, heißt also, das Problem in Begriffen zu stellen, die jede Lösung unmöglich machen, vorausgesetzt sie wären überhaupt verständlich; es heißt sich zu einer fruchtlosen Diskussion verdammen, in der die Begriffe Denken, Existenz und Universum notwendig von beiden Seiten in ganz verschiedenen Sinnen gebraucht werden. Um diesen Streit zu entscheiden, muß man zunächst einen gemeinsamen Boden finden, auf dem der Kampf entbrennt, und da wir, nach Meinung der einen wie der anderen, die Dinge nur in Form von Bildern erfassen, müssen wir das Problem in Abhängigkeit von Bildern stellen, und nur von Bildern. Nun bestreitet aber keine einzige philosophische Lehre, daß dieselben Bilder gleichzeitig in zwei unterschiedene Systeme eingehen können, das eine, das zur Wissenschaft gehört und in dem jedes Bild, da es allein auf sich selbst bezogen wird, einen absoluten Wert behält, das andere, das die Welt des Bewußtseins ist und in dem sich alle Bilder nach einem zentralen Bild, unserem Körper, richten und dessen Variationen folgen. Die zwischen
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Realismus und Idealismus stehende Frage wird damit sehr klar: In welchem Verhältnis stehen diese beiden Systeme von Bildern zueinander? Und es ist leicht zu sehen, daß der subjektive Idealismus darin besteht, das erste System aus dem zweiten abzuleiten, und der materialistische Realismus darin, das zweite aus dem ersten zu ziehen. Der Realist geht nämlich vom Universum aus, das heißt von einem Gesamtzusammenhang in ihren gegenseitigen Bezügen durch unwandelbare Gesetze regierter Bilder, in welchem die Wirkungen ihren Ursachen proportional bleiben | und dessen Charakteristikum darin besteht, kein Zentrum zu haben: Alle Bilder rollen auf einer selben, sich endlos erstreckenden Ebene ab. Doch muß er freilich gezwungenermaßen feststellen, daß es außer diesem System noch Wahrnehmungen gibt, das heißt Systeme, in denen diese selben Bilder auf ein einziges unter ihnen bezogen sind, sich um dieses herum auf verschiedenen Ebenen staffeln und sich durch leichte Modifikationen dieses zentralen Bildes in ihrem Gesamt umgestalten. Diese Wahrnehmung ist es, von der der Idealist ausgeht, und in dem System von Bildern, das er als gegeben nimmt, gibt es ein privilegiertes Bild, seinen Körper, nach dem sich die anderen Bilder richten. Doch sobald er die Gegenwart an die Vergangenheit rückbinden und die Zukunft vorhersehen will, ist er freilich gezwungen, diese zentrale Position aufzugeben, alle Bilder wieder auf dieselbe Ebene zu versetzen, anzunehmen, daß sie nicht mehr für ihn, sondern für sich selbst variieren, und sie zu behandeln, als ob sie Teil eines Systems wären, in dem jede Veränderung das exakte Maß ihrer Ursache angibt. Nur unter dieser Bedingung wird die Wissenschaft vom Universum möglich; und da diese Wissenschaft existiert, da es ihr gelingt, die Zukunft vorherzusehen, ist die Hypothese, auf die sie sich gründet, keine arbiträre Hypothese. Nur das erste System ist der gegenwärtigen Erfahrung gegeben; doch glauben wir an das zweite allein dadurch, daß wir die Kontinuität der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft behaupten. So setzt man im Idea-
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lismus wie im Realismus eines der beiden Systeme und versucht, das andere daraus abzuleiten. Doch bei dieser Ableitung können weder Realismus noch Idealismus zum Ziel gelangen, da keines der beiden Systeme von Bildern im anderen impliziert ist und jedes von ihnen sich selbst genügt. Wenn man jenes System von Bildern als gegeben nimmt, das kein Zentrum hat und in dem jedes Element seine absolute Größe und seinen absoluten Wert besitzt, | dann sehe ich nicht, warum dieses System sich ein zweites zur Seite stellt, in dem jedes Bild einen unbestimmten und allen Wechselfällen eines zentralen Bildes unterworfenen Wert annimmt. Man müßte also, um die Wahrnehmung zu erzeugen, irgendeinen Deus ex machina heraufbeschwören, wie beispielsweise die materialistische Hypothese des Epiphänomen-Bewußtseins. Man wird unter all jenen absolute Veränderungen aufweisenden Bildern, die man zuerst gesetzt hatte, jenes auswählen, das wir unser Gehirn nennen, und wird den inneren Zuständen dieses Bildes das einzigartige Privileg verleihen, sich – man weiß nicht, wie – mit der diesmal relativen und variablen Reproduktion aller anderen aufzudoppeln. Freilich gibt man dann vor, dieser Vorstellung keinerlei Bedeutung beizumessen und darin nur einen Phosphorschein zu sehen, den die zerebralen Vibrationen hinter sich zurücklassen würden: Als ob die Hirnsubstanz und die zerebralen Vibrationen, die in jene Bilder gefaßt sind, aus denen sich diese Vorstellung zusammensetzt, von anderer Natur sein könnten als diese! Jeder Realismus würde also aus der Wahrnehmung ein Akzidens und folglich ein Mysterium machen. Nimmt man jedoch umgekehrt ein System instabiler Bilder als gegeben, die um ein privilegiertes Zentrum geordnet sind und sich bei unmerklichen Verlagerungen dieses Zentrums zutiefst modifizieren, dann schließt man gleich zu Beginn die Ordnung der Natur aus, jene Ordnung, die indifferent ist gegenüber dem Punkt, an den man sich versetzt, und dem Ende, an dem man anfängt. Man wird diese Ordnung nur wiederherstellen können, indem man seinerseits einen Deus ex machina
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heraufbeschwört und durch eine arbiträre Hypothese was weiß ich für eine prästabilierte Harmonie zwischen den Dingen und dem Geist oder zumindest, um mit Kant zu sprechen, zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstand annimmt. Es ist die Wissenschaft, die damit zum Akzidens würde und ihr Erfolg ein Mysterium. – Man wüßte also weder das erste System von Bildern aus dem zweiten abzuleiten noch das zweite aus dem ersten, und jene beiden | gegenteiligen Lehren, der Realismus und der Idealismus, stolpern also, wenn man sie endlich auf denselben Boden zurückversetzt hat, in entgegengesetzter Richtung über dasselbe Hindernis. Geht man nun hinter diese beiden Lehren zurück, so entdeckt man ein gemeinsames Postulat, das wir wie folgt formulieren würden: Die Wahrnehmung hat ein gänzlich spekulatives Interesse; sie ist reine Erkenntnis. Die ganze Diskussion dreht sich um den Rang, den man dieser Erkenntnis gegenüber der wissenschaftlichen Erkenntnis zuschreiben soll. Die einen nehmen die von der Wissenschaft geforderte Ordnung als gegeben und sehen in der Wahrnehmung nur eine verschwommene und vorläufige Wissenschaft. Die anderen setzen zuerst die Wahrnehmung, erheben sie zum Absoluten und halten die Wissenschaft für einen symbolischen Ausdruck des Wirklichen. Doch für die einen wie für die anderen bedeutet wahrnehmen vor allem erkennen. Nun ist es aber dieses Postulat, das wir bestreiten. Es wird durch die, sei es selbst oberflächlichste Untersuchung der Struktur des Nervensystems in der Reihe der Tiere widerlegt. Und man kann es nicht akzeptieren, ohne das dreifache Problem der Materie, des Bewußtseins und ihrer Beziehung zutiefst zu verdunkeln. Folgt man nämlich Schritt für Schritt den Fortschritten der äußeren Wahrnehmung von der Monere bis zu den höheren Wirbeltieren, so sieht man, daß die lebende Materie schon im Zustand einfacher Protoplasmamasse bereits reizbar und kontraktil ist, daß sie dem Einfluß äußerer Stimulanzien unterliegt und daß sie darauf mit mechanischen, physikalischen und chemischen Reak-
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tionen antwortet. Je höher man in der Reihe der Organismen aufsteigt, um so stärker sieht man die physiologische Arbeit sich aufteilen. Nervenzellen treten auf, werden vielseitiger und tendieren dazu, sich zu einem System zusammenzuschließen. Gleichzeitig reagiert das Tier mit variationsreicheren Bewegungen auf die äußeren Reize. Doch selbst wenn sich die empfangene Schwingung nicht | sofort zu einer vollzogenen Bewegung fortsetzt, scheint es, als warte sie nur auf die Gelegenheit dazu, und derselbe Eindruck, der dem Organismus die umgebenden Modifikationen übermittelt, bewegt ihn dazu oder bereitet ihn darauf vor, sich diesen anzupassen. Bei den höheren Wirbeltieren wird die Unterscheidung zwischen dem reinen Automatismus, der seinen Sitz vor allem im Rückenmark hat, und der willensgesteuerten Aktivität, die das Eingreifen des Gehirns erfordert, zweifellos radikal. Man könnte sich einbilden, daß sich der empfangene Eindruck, anstatt sich weiterhin in Bewegungen zu entfalten, zu Erkenntnis vergeistigt. Doch es genügt, die Struktur des Gehirns mit jener des Rückenmarks zu vergleichen, um sich davon zu überzeugen, daß zwischen den Funktionen des Gehirns und der Reflextätigkeit des Rückenmarksystems nur ein Unterschied der Komplexität und kein Unterschied des Wesens vorliegt. Was nämlich geschieht bei der reflexmäßigen Handlung? Die durch den Reiz übertragene Zentripetalbewegung wird, vermittelt durch die Nervenzellen des Rückenmarks, sofort zu einer Zentrifugalbewegung reflektiert, die zu einer Kontraktion der Muskeln führt. Und worin besteht nun andererseits die Funktion des zerebralen Systems? Anstatt sich direkt zu den motorischen Zellen des Rückenmarks fortzupflanzen und dem Muskel eine notwendige Kontraktion zu vermitteln, steigen die von den Randbezirken kommenden Schwingungen zunächst bis zum Zerebrum auf und laufen dann wieder hinunter zu jenen selben motorischen Zellen des Rückenmarks, die in der reflexmäßigen Bewegung zum Einsatz kamen. Was haben sie auf diesem Umweg gewonnen, und was haben sie aus den sogenannten sensiblen Zellen der Hirnrinde geholt? Ich
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begreife nicht und ich werde niemals begreifen, daß sie dort die mirakulöse Kraft schöpfen sollen, sich zur Vorstellung von Dingen zu verwandeln, und ich halte im übrigen diese Hypothese für unnötig, wie wir bald sehen werden. Was ich mir aber sehr gut vorstellen kann, ist, daß jene Zellen der verschiedenen sogenannten sensorischen Areale der Hirnrinde, die | zwischen die letzten Verästelungen der zentripetalen Nervenfasern und die motorischen Zellen im Bereich der Rolando-Furche1 geschaltet sind, den empfangenen Schwingungen erlauben, nach Belieben diesen oder jenen motorischen Mechanismus des Rückenmarks zu erreichen und so ihren Effekt zu wählen. Je mehr solcher Zellen dazwischentreten, um so mehr amöbenhafte Fortsätze werden sie ausbilden, die zweifellos in der Lage sind, sich einander in diversen Weisen anzunähern, um so zahlreicher und vielfältiger werden auch die Wege sein, die sich einer selben von der Peripherie kommenden Schwingung eröffnen können, und um so mehr Bewegungssysteme wird es folglich geben, zwischen denen ein selber Reiz die Wahl läßt. Das Gehirn muß daher unserer Meinung nach nichts anderes als eine Art zentrales Telefonbüro sein: Seine Rolle besteht darin, »zu verbinden« oder warten zu lassen. Es fügt dem, was es empfängt, nichts hinzu, da aber die letzten Ausläufer aller Wahrnehmungsorgane dort ankommen und alle motorischen Mechanismen des Rückenmarks und des verlängerten Rückenmarks dort ihre festen Vertreter haben, bildet es wirklich ein Zentrum, in dem der von der Peripherie ausgehende Reiz sich mit diesem oder jenem gewählten und nicht mehr aufgezwungenen motorischen Mechanismus in Verbindung setzt. Da sich aber andererseits in dieser Substanz eine ungeheure Vielzahl motorischer Wege einer selben von der Peripherie ausgehenden Schwingung eröffnen können, und zwar alle zugleich, hat diese ist hier der untere Teil des Gyrus praecentralis. Im Deutschen wird die Rolando-Furche heute üblicherweise »Zentralfurche« genannt. [A. d. Ü.] 1 Gemeint
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Schwingung die Möglichkeit, sich darin endlos aufzuspalten und folglich sich in unzähligen motorischen Reaktionen zu verlieren, die schlicht im Entstehungszustand verbleiben. So besteht die Rolle des Gehirns mal darin, die empfangene Bewegung an ein gewähltes Reaktionsorgan weiterzuleiten, mal darin, dieser Bewegung die Gesamtheit der motorischen Wege zu eröffnen, damit sie dort all die möglichen Reaktionen, die sie in sich birgt, sich abzeichnen läßt und damit sie sich, indem sie sich so zerstreut, selbst analysiert. Mit anderen Worten, das Gehirn scheint uns in bezug auf die empfangene Bewegung ein Analyseinstrument | und in bezug auf die ausgeführte Bewegung ein Selektionsinstrument zu sein. Doch im einen wie im anderen Fall beschränkt sich seine Rolle darauf, Bewegung weiterzuleiten und aufzuteilen. Und ebensowenig in den oberen Zentren der Hirnrinde wie im Rückenmark arbeiten die Nervenelemente im Hinblick auf Erkenntnis: Sie skizzieren lediglich auf einen Schlag eine Vielheit von möglichen Handlungen oder organisieren eine von ihnen. Das besagt, daß das Nervensystem nichts von einem Apparat hat, der dazu dienen würde, Vorstellungen herzustellen oder selbst nur vorzubereiten. Seine Funktion besteht darin, Reize zu empfangen, motorische Apparate zu generieren und einem gegebenen Reiz die größtmögliche Anzahl solcher Apparate zu präsentieren. Je mehr es sich entwickelt, um so zahlreicher und entfernter werden die Punkte des Raumes, die es mit immer komplexeren motorischen Mechanismen in Verbindung bringt: So wächst der Spielraum, den es unserem Handeln läßt, und gerade darin besteht seine wachsende Perfektion. Wenn aber in der gesamten Reihe der Tiere, von ihrem einen bis zu ihrem anderen Ende, das Nervensystem im Hinblick auf eine immer weniger notwendige Handlung konstruiert ist, muß man dann nicht annehmen, daß die Wahrnehmung, deren Fortschritt sich durch den des Nervensystems bestimmt, ebenso vollständig auf die Handlung ausgerichtet ist und nicht auf die reine Erkenntnis? Und muß folglich der wachsende Reichtum dieser Wahrnehmung selbst nicht ein-
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fach den wachsenden Anteil an Indeterminiertheit symbolisieren, die dem Lebewesen in der Wahl seines Verhaltens gegenüber den Dingen zugestanden wird? Gehen wir also von dieser Indeterminiertheit als dem wahren Prinzip aus. Untersuchen wir, nachdem wir diese Indeterminiertheit einmal gesetzt haben, ob man nicht aus ihr die Möglichkeit und sogar die Notwendigkeit der bewußten Wahrnehmung ableiten könnte. Mit anderen Worten, nehmen wir dieses System miteinander zusammenhängender und wohlverbundener Bilder, das man die materielle Welt nennt, und stellen wir uns | hie und da in diesem System von der lebenden Materie dargestellte Zentren wirklicher Handlung vor: Ich sage, daß sich um jedes dieser Zentren herum von seiner Position abhängige und mit dieser variierende Bilder anordnen müssen; ich sage folglich, daß sich die bewußte Wahrnehmung ereignen muß und daß es darüber hinaus möglich ist, zu verstehen, wie diese Wahrnehmung auftaucht. Beachten wir zuerst, daß ein strenges Gesetz den Umfang der bewußten Wahrnehmung an die Handlungsstärke knüpft, über die das Lebewesen verfügt. Wenn unsere Hypothese begründet ist, dann erscheint diese Wahrnehmung in genau dem Moment, in dem eine von der Materie empfangene Schwingung sich nicht in einer notwendigen Reaktion fortsetzt. Im Fall eines rudimentären Organismus bedürfte es freilich einer unmittelbaren Berührung des reizvollen Gegenstands, damit die Schwingung erzeugt wird, und dann vermag die Reaktion kaum auf sich warten zu lassen. So ist bei den niederen Arten der Tastsinn passiv und aktiv zugleich; er dient dazu, eine Beute zu erkennen und sie zu ergreifen, dazu, die Gefahr zu spüren und Anstrengungen zu unternehmen, ihr aus dem Wege zu gehen. Die vielfältigen Fortsätze der Protozoen und die Ambulakralfüßchen der Stachelhäuter (Echinodermata) sind ebensosehr Organe der Fortbewegung wie der Tastwahrnehmung; der Nesselapparat der Hohltiere (Coelenterata) ist zugleich ein Wahrnehmungsinstrument und ein Verteidigungsmittel. Mit einem Wort, je unmittelbarer die Reaktion
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sein soll, desto mehr muß die Wahrnehmung einer einfachen Berührung ähneln, und der komplette Prozeß von Wahrnehmung und Reaktion unterscheidet sich dann folglich kaum von dem mechanischen Impuls, auf den eine notwendige Bewegung folgt. Doch im selben Maße, in dem die Reaktion unsicherer wird und dem Zögern mehr Raum läßt, wächst auch die Entfernung, in der das Wirken des für es interessanten Gegenstandes auf das Tier spürbar wird. Durch den Gesichtssinn und das Gehör setzt es sich mit einer immer | größeren Zahl von Dingen in Beziehung und erfährt immer entferntere Einflüsse; und sei es, daß diese Gegenstände ihm einen Vorteil verheißen, sei es, daß sie es mit einer Gefahr bedrohen, die Erfüllung der Verheißungen und der Drohungen rückt immer weiter hinaus. Der Anteil an Unabhängigkeit, über den ein Lebewesen verfügt, oder, wie wir sagen werden, die Zone der Indeterminiertheit, die seine Aktivität umgibt, erlaubt also a priori die Zahl und die Entfernung der Dinge abzuschätzen, mit denen es in Beziehung steht. Welcher Art diese Beziehung auch ist, welcher Art also das innerste Wesen der Wahrnehmung auch sein mag, man kann festhalten, daß der Umfang der Wahrnehmung das genaue Maß der Indeterminiertheit der darauffolgenden Handlung angibt und folglich dieses Gesetz aussprechen: Die Wahrnehmung verfügt genau in dem Verhältnis über den Raum, in dem die Handlung über die Zeit verfügt. Warum aber nimmt dieser Bezug des Organismus zu den mehr oder weniger weit entfernten Gegenständen die spezifische Form einer bewußten Wahrnehmung an? Wir haben untersucht, was in dem organisch-strukturierten Körper vor sich geht; wir haben Bewegungen gesehen, die weitergeleitet oder blockiert wurden, in vollzogene Handlungen verwandelt oder zu im Entstehen begriffenen Handlungen zerstreut. Diese Bewegungen schienen uns die Handlung, und nur die Handlung, zu betreffen; sie bleiben dem Prozeß der Vorstellung absolut fremd. Wir haben sodann die Handlung selbst betrachtet und die Indeterminiertheit, von der sie umgeben ist, eine Indeterminiertheit, die in der Struktur des
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Nervensystems impliziert ist und im Hinblick auf welche dieses System viel eher konstruiert worden zu sein scheint als im Hinblick auf die Vorstellung. Von dieser als eine Tatsache anerkannten Indeterminiertheit konnten wir auf die Notwendigkeit einer Wahrnehmung schließen, das heißt einer variablen Beziehung zwischen dem Lebewesen und den mehr oder weniger weit entfernten Einflüssen der Gegenstände, die für es von Interesse sind. Woher kommt es, daß diese Wahrnehmung Bewußtsein ist, und warum spielt sich alles so ab, | als ob dieses Bewußtsein aus den inneren Bewegungen der Hirnsubstanz geboren würde? Um auf diese Frage zu antworten, werden wir zunächst die Bedingungen, unter denen die bewußte Wahrnehmung sich vollzieht, stark vereinfachen. Tatsächlich gibt es keine Wahrnehmung, die nicht von Erinnerungen durchtränkt ist. Unter die unmittelbaren und gegenwärtigen Daten unserer Sinne mischen wir tausend und abertausend Einzelheiten unserer vergangenen Erfahrung. Zumeist verdrängen diese Erinnerungen unsere realen Wahrnehmungen, von denen wir dann nur einige Andeutungen zurückbehalten, schlichte »Zeichen«, die dazu bestimmt sind, uns alte Bilder in Erinnerung zu rufen. Dies ist der Preis für die Bequemlichkeit und die Schnelligkeit der Wahrnehmung; doch daraus werden auch die Illusionen aller Arten geboren. Nichts hindert einen daran, diese ganz von unserer Vergangenheit durchdrungene Wahrnehmung durch die Wahrnehmung zu ersetzen, die ein reifes und ausgebildetes, aber in der Gegenwart eingeschlossenes und von der Aufgabe, sich ganz seinem äußeren Gegenstand anzumessen, gänzlich, bis zum Ausschluß jeglicher anderen Tätigkeit absorbiertes Bewußtsein hätte. Wird man uns sagen, daß wir eine willkürliche Hypothese aufstellen und daß diese ideale Wahrnehmung, die durch die Elimination der individuellen Akzidenzien erreicht wurde, überhaupt nicht mehr der Realität entspreche? Wir hoffen aber gerade zu zeigen, daß die individuellen Akzidenzien auf diese unpersönliche Wahrnehmung gepfropft sind, daß diese Wahrnehmung gerade die Basis
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unserer Erkenntnis der Dinge ist und daß man, eben weil man diese verkannt hat, weil man sie nicht von dem unterschieden hat, was die Erinnerung dort hinzufügt oder davon wegschneidet, die Wahrnehmung im ganzen zu einer Art innerer und subjektiver Schau gemacht hat, die sich von der Erinnerung lediglich durch ihre größere Intensität unterscheiden würde. Dies wird also unsere erste Hypothese sein. Doch wird sie naturgemäß eine andere nach sich ziehen. So kurz man nämlich eine Wahrnehmung auch ansetzt, wird sie doch immer eine gewisse Dauer einnehmen und folglich | eine Anstrengung des Gedächtnisses erfordern, die eine Vielheit von Momenten sich ineinander erstrecken läßt. Selbst die »Subjektivität« der Empfindungsqualitäten besteht, wie wir zu zeigen versuchen werden, in einer Art Kontraktion des Realen, die durch unser Gedächtnis vorgenommen wird. Kurz, das Gedächtnis unter diesen beiden Formen, insofern es einen Boden unmittelbarer Wahrnehmung mit einem Teppich von Erinnerungen bedeckt und auch insofern es eine Vielzahl von Momenten zusammenzieht, bildet den Hauptbeitrag des individuellen Bewußtseins in der Wahrnehmung, die subjektive Seite unserer Erkenntnis der Dinge; und indem wir diesen Beitrag vernachlässigen, um unsere Idee klarer werden zu lassen, werden wir auf dem Weg, den wir eingeschlagen haben, wesentlich weiter voranschreiten, als angemessen ist. Wir werden dies jedoch ausgleichen können, indem wir danach unseren Weg wieder ein Stück zurückgehen und, insbesondere durch die Wiedereingliederung des Gedächtnisses, dasjenige korrigieren, was unsere Schlußfolgerungen an Überzogenem aufweisen könnten. Man darf in dem Folgenden also nur ein schematisches Exposé sehen, und wir bitten den Leser, daß er vorläufig unter Wahrnehmung nicht meine konkrete und komplexe Wahrnehmung verstehe, jene, die durch meine Erinnerungen aufgebläht wird und immer ein gewisses Maß an Dauer aufweist, sondern die reine Wahrnehmung, eine Wahrnehmung, die eher de jure als de facto existiert, jene, die ein Wesen besäße, das sich dort befindet, wo ich bin, lebt, wie ich
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lebe, jedoch gänzlich in der Gegenwart aufgehend und – durch die Elimination des Gedächtnisses in all seinen Formen – dazu fähig, eine zugleich unmittelbare und momenthafte Schau der Materie zu erlangen. Versetzen wir uns ins Feld dieser Hypothese und fragen wir uns, wie sich dann die bewußte Wahrnehmung erklärt. Das Bewußtsein herzuleiten wäre ein sehr gewagtes Unterfangen, aber das ist hier auch wirklich gar nicht nötig, da man, indem man die materielle Welt setzt, schon einen Gesamtzusammenhang von Bildern als gegeben nimmt und | es im übrigen unmöglich ist, etwas anderes als gegeben zu nehmen. Keine einzige Theorie der Materie entkommt dieser Notwendigkeit. Reduziert man die Materie auf Atome in Bewegung, so lassen sich diese Atome, seien sie auch aller physikalischen Qualitäten bar, doch nur in bezug auf eine mögliche Schau und eine mögliche Berührung bestimmen, wobei jene ohne Licht und diese ohne Materialität erfolgen würde. Wenn man das Atom zu Kraftzentren verdichtet oder es in Wirbel auflöst, die in einem kontinuier lichen Fluidum ihre Kreise ziehen, so lassen sich dieses Fluidum, diese Bewegungen und diese Zentren selbst nur in bezug auf einen machtlosen Tastsinn, einen wirkungslosen Antrieb und ein farbloses Licht bestimmen; es sind wiederum immer noch Bilder. Es ist wahr, daß ein Bild sein kann, ohne wahrgenommen zu sein; es kann gegenwärtig sein, ohne vorgestellt zu sein;1 und es scheint 1
Im Französischen haben »gegenwärtig« (présent) und »vorgestellt« (représenté) denselben Wortstamm, wodurch diese Argumentation im Original notwendig einen anderen Klang hat als in der Übersetzung. Das sich in dieser Hinsicht anbietende deutsche Wortpaar ›gegenwärtig‹ – ›vergegenwärtigen‹ scheidet hier aber als Übersetzung aus, weil dadurch die Einheit des sonst mit ›vorstellen‹ – und Vorstellung (repré sentation) – zu übersetzenden Begriffs verlorenginge und weil ›vergegenwärtigen‹ im Deutschen impliziert, daß etwas, was nicht gegenwärtig ist, (wieder) in die Gegenwart geholt wird, was im obigen Kontext offensichtlich widersinnig wäre. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich an dieser Stelle für die Substantive dieser Gegenüberstellung (présence
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eben gerade, als gäbe die Distanz zwischen diesen beiden Begriffen, Gegenwärtigkeit und Vorstellung, den Abstand zwischen der Materie selbst und der bewußten Wahrnehmung an, die wir von ihr haben. Doch wir wollen diese Dinge1 näher untersuchen und sehen, worin genau diese Differenz besteht. Wenn mehr in dem zweiten Term läge, als im ersten, wenn man, um von der Gegenwärtigkeit zur Vorstellung überzugehen, etwas hinzufügen müßte, wäre die Entfernung unüberwindlich und der Übergang von der Materie zur Wahrnehmung bliebe von einem undurchdringlichen Geheimnis umhüllt. Es verhielte sich anders, wenn man auf dem Wege der Verringerung vom ersten zum zweiten Term übergehen könnte und die Vorstellung eines Bildes weniger wäre als dessen bloße Gegenwart; denn dann würde es genügen, daß die gegenwärtigen Bilder gezwungen wären, etwas von sich selbst aufzugeben, damit ihre schlichte Gegenwart sie in Vorstellungen verwandeln würde. Hier ist nun das Bild, das ich einen materiellen Gegenstand nenne; ich habe die Vorstellung von ihm. Woher kommt es, daß es an sich nicht das zu sein scheint, was und représentation). Das Französische unterscheidet zwischen la présence (die Gegenwart/Gegenwärtigkeit/Anwesenheit) und le présent (die Gegenwart als Zeitdimension/das Gegenwärtige; s. dazu Nachwort d. Ü., S. 314). Für beide Begriffe lautet das Adjektiv présent. Wenn man also présence, wie es sich in dieser Passage anbieten würde, mit ›Anwesenheit‹ und dementsprechend présent mit ›anwesend‹ übersetzt, fehlt zum einen die in allen Formen im Wortstamm deutlich anklingende zeitliche Komponente und zum anderen ergäbe sich beim Adjektiv das Problem einer uneinheitlichen Übersetzung, welche hier besonders störend wäre, da in Bergsons Argumentation beide Sinne fließend ineinander übergehen. Aus diesem Grund wird présence im Folgenden ebenfalls mit ›Gegenwart‹ wiedergegeben, lediglich dort, wo sich nicht aus dem Kontext erschließen läßt, daß im Französischen présence stehen muß, wird es mit ›Gegenwärtigkeit‹ übersetzt. [A. d. Ü.] 1 In der ersten Ausgabe von Matière et mémoire (I) steht hier statt »diese Dinge« nur »die Dinge«. Zu den bisherigen Ausgaben von Matière et mémoire siehe unten S. 315 f. [A. d. Ü.]
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es für mich ist? Es liegt daran, daß es mit der Totalität der anderen Bilder zusammenhängt und sich in denen, | die ihm folgen, fortsetzt, ebenso wie es jene fortführte, die ihm vorausgingen. Um seine schlichte und reine Existenz in eine Vorstellung zu verwandeln, würde es genügen, auf einen Schlag das, was ihm folgt, das, was ihm vorhergeht, sowie auch das, was es ausfüllt, auszulöschen und nur die äußere Schale, die oberste Haut von ihm zu behalten. Was dieses, das gegenwärtige Bild, die objektive Realität, von einem vorgestellten Bild unterscheidet, ist die Notwendigkeit, in der es sich befindet, mit jedem seiner Punkte auf alle Punkte der anderen Bilder einzuwirken, die Totalität dessen, was es empfängt, weiterzugeben, jeder Wirkung eine gleichwertige und gegensätzliche Reaktion entgegenzusetzen, kurz, nur ein Weg zu sein, über den in alle Richtungen die Modifikationen laufen, die sich in der unermeßlichen Weite des Universums ausbreiten. Ich würde es zur Vorstellung umwandeln, wenn ich es isolieren könnte, wenn ich vor allem seine Hülle isolieren könnte. Die Vorstellung ist durchaus da, aber immer virtuell und – im selben Moment, in dem sie in den Akt übergehen würde – durch den Zwang, sich in etwas anderem fortzusetzen und zu verlieren, neutralisiert. Um diese Umwandlung zu erreichen, braucht man den Gegenstand nicht zu erhellen, sondern muß im Gegenteil einige seiner Seiten verdunkeln, ihn um den größten Teil seiner selbst verringern, derart, daß das Relikt, anstatt wie ein Ding in die Umgebung eingepaßt zu bleiben, sich von dieser abhebt wie ein Gemälde. Wenn nun aber die Lebewesen »Indeterminiertheitszentren« im Universum darstellen und wenn der Grad dieser Indeterminiertheit sich an der Zahl und der Gehobenheit ihrer Funktionen bemißt, dann begreift man, daß ihre bloße Gegenwart der Auslöschung all jener Teile der Gegenstände gleichkommen kann, die für ihre Funktionen nicht von Interesse sind. Sie würden in gewisser Weise diejenigen unter den äußeren Wirkungen, die ihnen gleichgültig sind, durch sich hindurchgehen lassen; die anderen, so isolierten, werden eben durch ihre Iso-
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lierung selbst zu »Wahrnehmungen«. Für uns wird sich also alles so abspielen, | als ob wir das Licht, das von den Oberflächen ausstrahlt, wieder auf sie zurückwerfen würden, ein Licht, das, hätte es sich immer weiter ausgebreitet, niemals offenbar geworden wäre. Die Bilder, die uns umgeben, werden unserem Körper das Gesicht zuzuwenden scheinen, das ihn interessiert, dieses Mal jedoch beleuchtet; sie heben von ihrer Substanz das ab, was wir im Vorüberziehen festgehalten haben, das, was wir zu beeinflussen vermögen. Einander gegenüber aufgrund des radikalen Mechanismus, der sie bindet, indifferent, zeigen sie sich wechselseitig alle ihre Gesichter zugleich, was letztlich bedeutet, daß sie untereinander mit all ihren elementaren Bestandteilen wirken und reagieren und daß folglich kein einziges von ihnen wahrgenommen wird noch bewußt wahrnimmt. Stoßen sie jedoch im Gegenteil irgendwo auf eine gewisse Spontaneität der Reaktion, so wird ihr Wirken im selben Maße verringert, und diese Verringerung ihres Wirkens ist eben gerade die Vorstellung, die wir von ihnen haben. Unsere Vorstellung der Dinge würde also letztlich daraus geboren, daß diese sich an unserer Freiheit reflektieren. Wenn ein Lichtstrahl von einem Milieu in ein anderes übergeht, so wird er dieses im allgemeinen mit geänderter Richtung durchqueren. Es kann jedoch die jeweilige Dichte der zwei Milieus so ausfallen, daß es für einen bestimmten Einfallswinkel keine mögliche Brechung mehr gibt. Dann kommt es zur Totalreflexion. Es bildet sich ein virtuelles Bild des Lichtpunkts, welches in gewisser Weise die Unmöglichkeit symbolisiert, in der sich die Lichtstrahlen befinden, ihren Weg weiterzuverfolgen. Die Wahrnehmung ist ein Phänomen derselben Art. Das, was gegeben ist, ist die Totalität der Bilder der materiellen Welt mitsamt der Totalität ihrer inneren Elemente. Wenn man jedoch Zentren wahrhafter, das heißt spontaner Aktivität annimmt, dann scheinen die Strahlen, die dorthin gelangen und für diese Aktivität von Interesse wären, anstatt diese Zentren zu durchqueren, | zurückzukommen und die Konturen des Gegenstandes n achzuzeichnen,
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der sie aussendet. Darin läge nichts Positives, nichts, was zu dem Bild hinzukäme, nichts Neues. Die Gegenstände würden nur etwas von ihrem realen Wirken aufgeben, um so ihr virtuelles Wirken, das heißt im Grunde den möglichen Einfluß des Lebewesens auf sie, abzubilden. Die Wahrnehmung ähnelt also durchaus diesen Phänomenen der Reflexion, die von einer verhinderten Lichtbrechung herrühren; es handelt sich gleichsam um einen Luftspiegelungseffekt. Das läuft darauf hinaus, daß für die Bilder zwischen sein und bewußt wahrgenommen sein ein schlichter Unterschied des Grades und nicht des Wesens besteht. Die Realität der Materie besteht in der Totalität ihrer Elemente und deren Wirkungen aller Art. Unsere Vorstellung von der Materie ist das Maß unseres möglichen Einwirkens auf die Körper; sie ergibt sich aus der Elimination dessen, was für unsere Bedürfnisse und, allgemeiner, unsere Funktionen nicht von Interesse ist. In einem gewissen Sinne könnte man sagen, daß die Wahrnehmung irgendeines unbewußten materiellen Punktes in ihrer Momenthaftigkeit unendlich viel umfassender und vollständiger ist als die unsere, da dieser Punkt das Wirken aller Punkte der materiellen Welt auffängt und weitergibt, während unser Bewußtsein davon nur bestimmte Teile von bestimmten Seiten her erreicht. Das Bewußtsein besteht – im Fall der äußeren Wahrnehmung – eben genau in dieser Auswahl. Doch gibt es in dieser notwendigen Armut unserer bewußten Wahrnehmung etwas Positives, das schon den Geist ankündet: es ist das Unterscheiden1 im etymologischen Wortsinn. 1 Das
Verbalnomen »Unterscheiden« steht hier und in der Folge für discernement (in Abgrenzung zu ›Unterscheidung‹ für distinction/différenciation). Discernement von discerner, lat. discernere, cernere, hat ein ebenso breites Bedeutungsspektrum wie diese beiden lateinischen Verben. Es bedeutet ›Unterscheiden‹ im Sinne des Voneinanderscheidens und -absonderns, der unterscheidenden Auswahl, und dies sowohl im visuellen Sinne (eine Gestalt ausmachen, erkennen) als auch im geistigen Sinne (unterscheidendes Erkennen, oft in bezug auf die Erkenntnis bzw.
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Die ganze Schwierigkeit des uns beschäftigenden Problems rührt daher, daß man sich die Wahrnehmung als einen photogra phischen Anblick der Dinge vorstellt, der von einem bestimmten Punkt mit einem speziellen Apparat, wie eben dem Wahrnehmungsorgan, aufgenommen wird und der | dann in der Hirnsub stanz durch was weiß ich für einen chemischen und psychischen Elaborierungsprozeß entwickelt würde. Wie aber vermag man nicht zu sehen, daß die Photographie, wenn es da eine Photographie gibt, schon aufgenommen und schon abgezogen wurde, im Inneren der Dinge selbst und für alle Punkte des Raumes? Keine Metaphysik, selbst keine Physik kann sich diesem Schluß entziehen. Wenn man das Universum aus Atomen zusammensetzt, so werden in jedem von ihnen in Qualität und Quantität und je nach der Entfernung variierend die von allen Atomen der Materie ausgeübten Wirkungen spürbar. Und nimmt man Kraftzentren, so lenken die von allen Zentren in alle Richtungen ausgesandten Kraftlinien auf jedes Zentrum die Einflüsse der gesamten materiellen Welt. Und seien es schließlich Monaden, so wäre, wie Leibniz es wollte, jede Monade der Spiegel des Universums. Alle Welt stimmt also in diesem Punkte überein. Allein, wenn man einen beliebigen Ort des Universums betrachtet, so kann man sagen, daß das Wirken der gesamten Materie dort ohne Widerstand und ohne Verlust hindurchgeht und daß die Photographie des Ganzen dort lichtdurchlässig ist: Es fehlt hinter der Photoplatte ein schwarzer Schirm, auf dem das Bild sich abheben würde. Unsere »Zonen der Indeterminiertheit« würden in gewisser Weise die Rolle dieses Schirmes spielen. Sie fügen dem, was ist, nichts hinzu; sie bewirken lediglich, daß das reale Wirken hindurchgeht und das virtuelle Wirken zurückbleibt. Unterscheidung von Gut und Böse angewandt). Als Substantiv wird es zudem für die Bezeichnung des entsprechenden geistigen Vermögens verwendet und läßt sich dann mit Urteils- oder Unterscheidungsvermögen übersetzen. [A. d. Ü.]
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Dies ist keine Hypothese. Wir beschränken uns darauf, die Gegebenheiten zu formulieren, ohne die keine Theorie der Wahrnehmung auskommen kann. In der Tat wird kein Psychologe an das Studium der äußeren Wahrnehmung herantreten, ohne zumindest die Möglichkeit einer materiellen Welt zu setzen, das heißt im Grunde die virtuelle Wahrnehmung aller Dinge. In dieser schlicht möglichen materiellen Masse wird man jenen spe ziellen Gegenstand isolieren, den ich meinen Körper nenne, und in diesem Körper die Wahrnehmungszentren: Man wird mir zeigen, wie die Schwingungen | von einem beliebigen Punkt im Raum kommen, sich entlang der Nerven fortpflanzen und die Zentren erreichen. Doch hier vollzieht sich ein wahrer Theaterstreich. Diese materielle Welt, die den Körper umgibt, diesen Körper, der das Gehirn beherbergt, dieses Gehirn, in dem man Zentren unterschied, all diese befiehlt man brüsk hinfort; und wie mit einem Zauberstab läßt man nun wie etwas absolut Neues die Vorstellung von dem auftauchen, was man zuvor gesetzt hatte. Diese Vorstellung schiebt man aus dem Raum hinaus, damit sie nichts mehr mit der Materie gemein hat, von der man ausgegangen war: Was die Materie selbst betrifft, so würde man dieser gerne entraten, kann dies jedoch nicht, da ihre Phänomene unter sich eine so strenge und gegenüber dem Punkt, den man als Ursprung wählt, so indifferente Ordnung aufweisen, daß diese Regelmäßigkeit und diese Indifferenz wahrhaft eine unabhängige Existenz konstituieren. Man muß sich also wohl oder übel darein ergeben, das Gespenst der Materie zurückzubehalten. Immerhin wird man sie aller Qualitäten entkleiden, die Leben schenken. In einem amorphen Raum wird man Figuren ausschneiden, die sich bewegen; oder auch (was ungefähr auf dasselbe hinausläuft) sich Größenverhältnisse ausmalen, die sich zwischen ihnen ausbilden, Funktionen, die sich weiterentwickeln, indem sie ihren Inhalt entfalten: Fortan wird sich die mit den abgezogenen Häuten der Materie befüllte Vorstellung in einem inextensiven Bewußtsein frei entfalten. Doch mit dem Zuschneiden ist es nicht
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getan, man muß auch zusammennähen. Man muß nun erklären, wie jene Qualitäten, die man von ihrer materiellen Unterlage abgelöst hat, wieder mit dieser zusammenfinden. Jedes Attribut, um das man die Materie schmälert, vergrößert den Abstand zwischen der Vorstellung und ihrem Gegenstand. Wenn man diese Materie zu etwas Unausgedehntem macht, wie wird sie dann die Ausdehnung erhalten? Wenn man sie auf homogene Bewegung reduziert, woraus wird dann die Qualität geboren? | Und vor allem: Wie soll man sich einen Bezug zwischen dem Ding und dem Bild, zwischen der Materie und dem Denken vorstellen, da jeder von diesen beiden Termen per definitionem nur das besitzt, was dem anderen fehlt? So sprießen mit jedem Schritt die Schwierigkeiten und jede Anstrengung, die man unternimmt, um eine von ihnen auszuräumen, vermag sie lediglich in viele weitere aufzu lösen. Was dagegen verlangen wir? Einfach nur, auf jenen Zauberstreich zu verzichten und weiter auf dem Weg voranzuschreiten, den man zunächst eingeschlagen hatte. Man hatte uns gezeigt, wie die äußeren Bilder die Sinnesorgane erreichen, die Nerven modifizieren und ihren Einfluß ins Gehirn fortpflanzen. Nun verfolge man dies bis zum Ende. Die Bewegung wird die Hirnsubstanz durchqueren, nicht ohne darin zu verweilen, und dann zu einer willensgesteuerten Handlung erblühen. Damit haben wir den ganzen Mechanismus der Wahrnehmung. Was die Wahrnehmung selbst, als Bild, betrifft, so braucht man deren Genese nicht nachzuzeichnen, da man sie von vornherein gesetzt hat und sie im übrigen gar nicht nicht setzen konnte: Denn hat man etwa nicht, indem man das Gehirn als gegeben nahm, indem man das geringste Quentchen von Materie als gegeben nahm, die Totalität der Bilder als gegeben genommen? Was man folglich zu erklären hat, ist nicht, wie die Wahrnehmung ins Leben gerufen wird, sondern wie sie sich begrenzt, da sie de jure das Bild des Ganzen wäre, sich aber de facto auf das reduziert, was für uns von Interesse ist. Doch wenn sie sich eben dadurch vom reinen und einfachen Bild unterscheidet, daß ihre Teile sich um ein variables Zentrum an-
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ordnen, dann begreift man ihre Begrenztheit mühelos: De jure unbegrenzt, beschränkt sie sich de facto darauf, den Anteil an Indeterminiertheit abzuzeichnen, der dem Vorgehen jenes speziellen Bildes belassen ist, das wir unseren Körper nennen. Und folglich zeigt umgekehrt die Indeterminiertheit der Bewegungen des Körpers, so wie sie sich aus der Struktur der grauen Substanz des Gehirns ergibt, das exakte Maß des Umfangs | unserer Wahrnehmung an. Man darf sich also nicht wundern, wenn sich alles so abspielt, als ob unsere Wahrnehmung aus den inneren Bewegungen des Gehirns resultieren würde und in gewisser Weise aus den kortikalen Zentren hervorginge. Sie kann unmöglich daher kommen, da das Gehirn ein Bild ist wie die anderen, eingehüllt in die Masse der anderen Bilder, und es wäre absurd, daß das Behältnis aus dem Inhalt hervorginge. Doch da die Struktur des Gehirns den genauen Plan der Bewegungen abgibt, zwischen denen man die Wahl hat, und da andererseits jener Teil der äußeren Bilder, der auf sich selbst zurückzukommen scheint, um so die Wahrnehmung zu konstituieren, eben gerade all die Punkte des Universums abzeichnet, auf welche diese Bewegungen Zugriff hätten, entsprechen bewußte Wahrnehmung und zerebrale Modifikation einander strikt. Die wechselseitige Abhängigkeit dieser beiden Terme rührt also schlicht daher, daß sie beide Funktion eines dritten sind: der Indeterminiertheit des Wollens. Man nehme zum Beispiel einen Lichtpunkt P, dessen Strahlen auf die verschiedenen Punkte a, b, c der Netzhaut einwirken. In diesem Punkt P lokalisiert die Wissenschaft Schwingungen mit einer bestimmten Amplitude und einer bestimmten Dauer. In diesem selben Punkt P nimmt das Bewußtsein Licht wahr. Wir nehmen uns vor, im Laufe dieser Studie zu zeigen, daß beide recht haben und daß es keinen wesensmäßigen Unterschied zwischen diesem Licht und diesen Bewegungen gibt, sofern man der Bewegung die Einheit, Unteilbarkeit und qualitative Heterogenität zurückgibt, die eine abstrakte Mechanik ihr verwehrt, und sofern man des weiteren in den Empfindungsqualitäten lauter durch
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unser Gedächtnis vollzogene Kontraktionen sieht: Wissenschaft und Bewußtsein würden im Momenthaften zur Deckung kommen. Beschränken wir uns vorläufig darauf, zu sagen, daß der Punkt P Lichtschwingungen auf die Netzhaut sendet, ohne hier den Sinn der Worte zu sehr zu vertiefen. | Was wird geschehen? Wenn das visuelle Bild des Punktes P nicht gegeben wäre, dann gäbe es Anlaß zu erforschen, wie es sich bildet, und man stünde sehr schnell vor einem unlösbaren Problem. Aber wie man es auch anfängt, man kann sich gar nicht hindern, es von Anfang an zu setzen: Die einzige Frage ist also, warum und wie dieses Bild dazu ausgewählt wird, Teil meiner Wahrnehmung zu werden, wo doch eine Unendlichkeit anderer Bilder davon ausgeschlossen bleiben. Nun aber sehe ich, daß die vom Punkt P auf die verschiedenen Retinakorpuskeln übertragenen Schwingungen zu den subkortikalen und kortikalen optischen Zentren geleitet werden, oft auch zu weiteren Zentren, und daß diese Zentren sie mal zu motorischen Mechanismen weiterleiten und mal vorläufig aufhalten. Es sind also durchaus die betroffenen Nervenelemente, die der empfangenen Schwingung ihre Wirksamkeit verleihen; sie symbolisieren die Indeterminiertheit des Wollens; von ihrer Unversehrtheit hängt diese Indeterminiertheit ab; und folglich wird jede Schädigung dieser Elemente, indem sie unsere mögliche Handlung schmälert, im gleichen Maß die Wahrnehmung schmälern. Mit anderen Worten, wenn es in der materiellen Welt Punkte gibt, an denen die aufgefangenen Schwingungen nicht mechanisch übertragen werden, wenn es, wie wir es sagten, Zonen der Indeterminiertheit gibt, dann müssen diese Zonen eben gerade auf dem Weg dessen anzutreffen sein, was man den sensomotorischen Prozeß nennt; und folglich muß sich alles so abspielen, als ob die Strahlen Pa, Pb, Pc im Lauf dieses Weges wahrgenommen und anschließend auf P projiziert wurden. Und mehr noch, wenn diese Indeterminiertheit auch etwas ist, das sich dem Experiment und der Berechnung entzieht, so verhält es sich nicht so mit den Nervenelementen, von denen der Eindruck
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aufgefangen und übertragen wird. Es sind also diese Elemente, mit denen sich die Physiologen und Psychologen werden befassen müssen; nach ihnen werden sich alle Einzelheiten der äußeren Wahrnehmung richten und durch sie sich erklären. | Wenn man will, könnte man sagen, daß sich der Reiz, nachdem er an diesen Elementen entlang gelaufen ist und das Zentrum erreicht hat, dort in ein bewußtes Bild umwandelt, das danach im Punkt P veräußerlicht wird. Doch, wenn man sich so ausdrückt, beugt man sich schlicht den Forderungen der wissenschaftlichen Methode; man beschreibt in keiner Weise den realen Prozeß. Tatsächlich gibt es kein inextensives Bild, das sich im Bewußtsein bilden und dann auf P projiziert werden würde. Die Wahrheit ist, daß der Punkt P sowie die Strahlen, die er aussendet, die Netzhaut und die betroffenen Nervenelemente ein zusammenhängendes Ganzes bilden, daß der Lichtpunkt P Teil dieses Ganzen ist und daß das Bild von P sehr wohl in P und nirgends anders gebildet und wahrgenommen wird. Wenn wir uns die Dinge so vorstellen, dann tun wir nichts anderes, als zu der naiven Überzeugung des gemeinen Menschenverstandes zurückzukehren. Anfangs haben wir alle geglaubt, daß wir in den Gegenstand selbst eindringen, daß wir ihn in ihm wahrnehmen und nicht in uns. Wenn der Psychologe eine so einfache, dem Wirklichen so nahekommende Idee verschmäht, so liegt das daran, daß der intrazerebrale Prozeß, dieser winzige Teil der Wahrnehmung, ihm das Äquivalent der gesamten Wahrnehmung zu sein scheint. Würde man den wahrgenommenen Gegenstand auslöschen, dabei aber diesen internen Prozeß bewahren, so scheint ihm das Bild des Gegenstandes fortzubestehen. Und sein Glaube ist leicht erklärt: Es gibt zahlreiche Zustände, wie z. B. Halluzination oder Traum, in denen Bilder auftauchen, die in allen Punkten die äußere Wahrnehmung nachahmen. Da in einem solchen Fall der Gegenstand verschwunden ist, während das Gehirn bestehenbleibt, schließt man daraus, daß das Hirnphänomen für die Erzeugung des Bildes ausreicht. Doch darf man nicht
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vergessen, daß in all den psychologischen Zuständen dieser Art das Gedächtnis die Hauptrolle spielt. Nun aber werden wir weiter unten zu zeigen versuchen, daß, wenn man die Wahrnehmung, so wie wir sie verstehen, einmal zugesteht, das Gedächtnis auftreten muß | und daß dieses Gedächtnis ebensowenig wie die Wahrnehmung selbst seine reale und vollständige Bedingung in einem Hirnzustand hat. Ohne noch mit der Untersuchung dieser beiden Punkte zu beginnen, wollen wir uns darauf beschränken, eine sehr einfache Beobachtung darzulegen, die im übrigen nicht neu ist. Bei vielen Blindgeborenen sind die Sehzentren intakt: Dennoch leben und sterben sie, ohne jemals ein visuelles Bild geformt zu haben. Ein solches Bild kann also nur dann erscheinen, wenn der äußere Gegenstand eine Rolle gespielt hat, zumindest ein erstes Mal: Er muß folglich, zumindest das erste Mal, tatsächlich in die Vorstellung eingegangen sein. Nun aber verlangen wir für den Augenblick gar nichts anderes, da es die reine Wahrnehmung ist, die wir hier behandeln, und nicht die durch das hinzutretende Gedächtnis komplexer gestaltete Wahrnehmung. Wenn man also den Beitrag des Gedächtnisses zurückweist und die Wahrnehmung im Rohzustand in den Blick nimmt, muß man gezwungenermaßen anerkennen, daß es niemals ein Bild ohne Gegenstand gibt. Sobald man aber den intrazerebralen Prozessen den äußeren Gegenstand zur Seite stellt, der deren Ursache ist, verstehe ich sehr gut, wie das Bild dieses Gegenstandes mit ihm und in ihm gegeben ist, wie es hingegen aus der zerebralen Bewegung geboren werden sollte, verstehe ich überhaupt nicht. Wenn eine Schädigung der Nerven oder der Zentren den Weg der Nervenschwingungen unterbricht, wird die Wahrnehmung im selben Maße geschmälert. Soll uns das wundern? Die Rolle des Nervensystems besteht darin, diese Schwingungen zu nutzen und sie in real oder virtuell vollzogene praktische Schritte umzuwandeln. Wenn aus dem einen oder anderen Grund der Reiz nicht mehr durchkommt, wäre es seltsam, wenn die entsprechende Wahrnehmung noch stattfände, da diese Wahrnehmung
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unseren Körper dann mit Punkten des Raumes in Beziehung setzen würde, die ihn nicht mehr direkt dazu einladen würden, eine Wahl zu treffen. Wenn man den optischen Nerv eines Tieres durchtrennt, dann überträgt sich die von dem Lichtpunkt ausgehende Schwingung nicht mehr auf das | Gehirn und von dort auf die motorischen Nerven; das Band, das unter Einschluß des optischen Nervs den äußeren Gegenstand mit den motorischen Mechanismen des Tieres verband, ist zerrissen: Die visuelle Wahrnehmung ist folglich machtlos geworden, und in dieser Machtlosigkeit besteht gerade die Unbewußtheit. Daß die Materie ohne das Zutun eines Nervensystems und ohne Sinnesorgane wahrgenommen werden könnte, ist nicht theoretisch undenkbar; es ist aber praktisch unmöglich, weil eine Wahrnehmung dieser Art zu nichts dienen würde. Sie wäre einem Geisterwesen und nicht einem lebenden, das heißt handelnden Wesen angemessen. Man stellt sich den lebenden Körper wie einen Staat im Staate1 vor, das Nervensystem wie ein separates Wesen, dessen Funktion zunächst darin bestünde, Wahrnehmungen zu erstellen und dann Bewegungen zu erschaffen. In Wahrheit spielt mein Nervensystem, das zwischen die Gegenstände, die meinen Körper in Schwingungen versetzen, und jene, die ich beeinflussen könnte, geschaltet ist, die Rolle eines einfachen Leiters, der Bewegung überträgt, aufteilt und hemmt. Dieser Leiter setzt sich aus einer ungeheuren Vielzahl von Fäden zusammen, die von der Peripherie zum Zentrum und vom Zentrum zur Peripherie gespannt sind. So viele von der Peripherie zum Zentrum laufende Fäden es gibt, so viele Punkte des Raumes gibt es, die an meinen Willen appellieren und sozusagen eine elementare Frage an meine motorische Aktivität stellen können: Jede gestellte Frage ist eben gerade das, was man eine Wahrnehmung nennt. Auch wird die Wahr1
Die kritische Ausgabe verweist hier für die Herkunft des Begriffs auf Spinoza, Ethik, Buch III, Vorwort. Bergson greift diesen Begriff am Ende des Buches nochmals auf (s. hier S. 303 und die dortige Anmerkung 2). [A. d. Ü.]
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nehmung jedesmal um eines ihrer Elemente beschnitten, wenn einer der sogenannten sensiblen Fäden durchtrennt wird, da dann irgendein Teil des äußeren Gegenstandes die Macht verliert, an die Aktivität zu appellieren, und ebenso jedesmal, wenn eine f este Gewohnheit angenommen wurde, denn in diesem Fall läßt die schon ganz fertige Replik die Frage unnötig werden. Das, was im einen wie im anderen Fall verschwindet, ist die sichtbare Reflexion der Schwingung auf sich | selbst, die Rückkehr des Lichtes zu dem Bild, von dem es ausgeht, oder vielmehr diese Aufspaltung, dieses Unterscheiden, das bewirkt, daß aus dem Bild die Wahrnehmung heraustritt. Man kann also sagen, daß die Einzelheiten der Wahrnehmung sich exakt nach denen der sogenannten sensiblen Nerven gestalten, daß jedoch die Wahrnehmung in ihrer Gesamtheit den wahren Grund ihrer Existenz in der Tendenz des Körpers hat, sich zu bewegen. Was über diesen Punkt im allgemeinen Illusionen entstehen läßt, ist die augenscheinliche Indifferenz unserer Bewegungen gegenüber dem Reiz, der zu ihnen Anlaß gibt. Es scheint, daß die Bewegung meines Körpers, durch die ich einen Gegenstand erreiche und modifiziere, dieselbe bleibt, ob mir nun das Gehör seine Existenz kundgetan hat oder ob er mir durch den Gesichtsoder Tastsinn offenbart wurde. Meine motorische Aktivität wird also zu einer separaten Entität, einer Art Reservoir, aus dem die Bewegung nach Belieben hervorgeht, immer dieselbe für eine selbe Handlung, ganz gleich, durch welche Bildgattung ihr Zustandekommen auch angeregt wurde. Die Wahrheit aber ist, daß der Charakter äußerlich identischer Bewegungen innerlich modifiziert ist, je nachdem, ob sie die Replik auf einen visuellen, tastsinnlichen oder auditiven Eindruck darstellen. Ich erblicke eine Vielzahl von Gegenständen im Raum; jeder von ihnen erregt als visuelle Form meine Aktivität. Wenn ich nun plötzlich das Augenlicht verliere, verfüge ich zweifellos noch über dieselbe Quantität und Qualität von Bewegungen im Raum; doch diese Bewegungen können nicht mehr anhand der visuellen Ein-
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drücke koordiniert werden; sie werden künftig zum Beispiel Tast eindrücken folgen müssen, und es wird sich zweifellos im Gehirn eine neue Anordnung abzeichnen: Die Protoplasmafortsätze der motorischen Nervenelemente in der Hirnrinde werden mit einer diesmal sehr viel weniger großen Anzahl jener Nervenelemente in Verbindung stehen, die man als sensorische bezeichnet. Meine Aktivität ist also durchaus wirklich geschmälert, und zwar in dem Sinne, daß, | wenn ich auch dieselben Bewegungen hervorzubringen vermag, die Gegenstände mir weniger Anlaß dazu bieten. Und folglich bestand der wesentliche, tiefgreifende Effekt jener jähen Unterbrechung der optischen Leitung darin, einen ganzen Teil der Anregungen meiner Aktivität auszulöschen: Nun ist aber diese Anregung, wie wir gesehen haben, die Wahrnehmung selbst. Wir legen hier den Finger auf den Irrtum derer, die die Wahrnehmung aus der sensorischen Schwingung im eigentlichen Sinne entstehen lassen und nicht aus einer Art Frage, die an unsere motorische Aktivität gestellt wird. Sie lösen diese motorische Aktivität vom Wahrnehmungsprozeß ab, und da sie die Austilgung der Wahrnehmung zu überleben scheint, schließen sie daraus, daß die Wahrnehmung in den sogenannten sensorischen Nervenelementen lokalisiert ist. Die Wahrheit aber ist, daß sie ebensowenig in den sensorischen wie in den motorischen Zentren ist; sie gibt das Maß der Komplexität von deren Beziehungen an und existiert dort, wo sie erscheint. Die Psychologen, die die Kindheit studiert haben, wissen sehr gut, daß unsere Vorstellung anfangs unpersönlich ist. Erst nach und nach und kraft vieler induktiver Schlüsse macht sie sich unseren Körper als Zentrum zu eigen und wird unsere Vorstellung. Der Mechanismus dieses Vorgangs ist im übrigen leicht zu begreifen. Im selben Maße, in dem mein Körper sich im Raum fortbewegt, variieren alle anderen Bilder; dieses eine hingegen bleibt invariabel. Daher muß ich schon ein Zentrum daraus machen, auf das ich alle anderen Bilder beziehen werde. Mein Glaube an eine Außenwelt kommt nicht und kann nicht daher kommen, daß ich
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inextensive Empfindungen aus mir heraus projiziere: Wie sollten diese Empfindungen Ausdehnung erlangen, und woher könnte ich den Begriff der Äußerlichkeit ziehen? Wenn man aber zugesteht, daß der Gesamtzusammenhang der Bilder von Anfang an gegeben ist, so wie es die Erfahrung bezeugt, dann sehe ich durchaus, wie mein Körper schließlich dazu kommt, in diesem Gesamtzusammenhang | eine privilegierte Position einzunehmen. Und ich verstehe auch, wie dann der Begriff des Inneren und des Äußeren geboren wird, der zu Beginn lediglich die Unterscheidung zwischen meinem Körper und den übrigen Körpern ist. Geht man nämlich von meinem Körper aus, so wie man es gewöhnlich tut, so wird man mir nie begreiflich machen, wie sich an der Oberfläche meines Körpers empfangene Eindrücke, die zudem nur diesen Körper betreffen, für mich als unabhängige Gegenstände konstituieren und eine Außenwelt bilden. Nimmt man im Gegenteil die Bilder im allgemeinen als gegeben, so wird sich mein Körper letzten Endes notwendig inmitten von ihnen als etwas Unterschiedenes abzeichnen, da sie sich ohne Unterlaß verändern, während er invariabel bleibt. Die Unterscheidung von Innerem und Äußerem wird sich so auf die von Teil und Ganzem zurückführen lassen. Als erstes gibt es den Gesamtzusammenhang der Bilder; in diesem Gesamtzusammenhang gibt es »Handlungszentren«, an denen sich die Bilder, die von Interesse sind, zu reflektieren scheinen: Auf diese Weise werden die Wahrnehmungen geboren und die Handlungen vorbereitet. Mein Körper ist das, was sich im Zentrum dieser Wahrnehmungen abzeichnet; meine Person ist das Wesen, auf das man diese Handlungen beziehen muß. Die Dinge werden klarer, wenn man auf diese Weise von der Peripherie der Vorstellung zum Zentrum fortschreitet, so wie das Kind es tut und wie die unmittelbare Erfahrung und der gemeine Menschenverstand es uns nahelegen. Alles verdunkelt sich hingegen und die Probleme multiplizieren sich, wenn man mit den Theo retikern versucht, vom Zentrum zur Peripherie voranzuschreiten. Woher kommt dann also diese Idee einer Außenwelt, die künst-
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lich Stück für Stück aus inextensiven Empfindungen konstruiert wird, bei denen man weder versteht, wie es ihnen gelingen soll, eine ausgedehnte Fläche zu bilden, noch, wie sie anschließend aus unserem Körper herausprojiziert werden sollen? Warum will man, entgegen allem Augenschein, daß ich von meinem bewußten Ich zu meinem Körper voranschreite und dann von meinem Körper zu den übrigen | Körpern, während ich mich tatsächlich von vornherein in die materielle Welt im allgemeinen versetze, um dann fortschreitend jenes Handlungszentrum abzugrenzen, das ich meinen Körper nennen werde, und ihn so von all den übrigen zu unterscheiden? Es sind in diesem Glauben an den am Anfang inextensiven Charakter unserer äußeren Wahrnehmung so viele Illusionen vereint, und man wird in dieser Idee, daß wir rein interne Zustände aus uns herausprojizieren, so viele Mißverständnisse, so viele schiefe Antworten auf schlecht gestellte Fragen finden, daß wir nicht den Anspruch erheben können, auf einen Schlag dort Licht hinein zu bringen. Wir hoffen, daß es nach und nach aufleuchten wird, je klarer wir hinter diesen Illusionen die metaphysische Verwechslung der ungeteilten Ausgedehntheit und des homogenen Raumes und die psychologische Verwechslung der »reinen Wahrnehmung« und des Gedächtnisses hervortreten lassen werden. Darüber hinaus jedoch sind sie auch an reale Tatsachen geknüpft, auf die wir jetzt schon hinweisen können, um deren Interpretation geradezurücken. Die erste dieser Tatsachen ist, daß unsere Sinne einer Schulung bedürfen. Weder dem Gesichtssinn noch dem Tastsinn gelingt es sofort, seine Eindrücke zu lokalisieren. Dazu ist eine Reihe von Annäherungen und induktiven Schlüssen nötig, durch welche wir nach und nach unsere Eindrücke miteinander koordinieren. Von dort springt man dann zur Idee wesensmäßig inextensiver Empfindungen, welche die Ausgedehntheit konstituieren würden, indem sie sich nebeneinanderreihen. Wer aber sähe nicht, daß in ebenjener Hypothese, die wir uns zu eigen gemacht haben, unsere Sinne gleichermaßen der Schulung bedürfen – zweifellos
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nicht, um mit den Dingen überein zu kommen, dafür aber um miteinander in Einklang zu kommen? Hier haben wir also inmitten aller Bilder ein bestimmtes Bild, das ich meinen Körper nenne und dessen virtuelle Handlung sich durch eine augenscheinliche Reflexion der umgebenden Bilder auf sie selbst Ausdruck verleiht. So viele Arten | möglicher Handlung es für meinen Körper gibt, so viele verschiedene Reflexionssysteme wird es für die anderen Körper geben, und jedes dieser Systeme wird einem meiner Sinne entsprechen. Mein Körper benimmt sich also wie ein Bild, das andere reflektiert und sie dabei unter dem Gesichtspunkt der verschiedenen auf sie auszuübenden Wirkungen analysiert. Und folglich symbolisiert jede der Qualitäten, die meine unterschiedlichen Sinne im selben Gegenstand wahrnehmen, eine bestimmte Richtung meiner Aktivität, ein bestimmtes Bedürfnis. Werden nun all diese Wahrnehmungen eines Körpers durch meine verschiedenen Sinne, miteinander vereint, das vollständige Bild dieses Körpers liefern? Zweifellos nicht, da sie aus dem Gesamtzusammenhang herausgepflückt sind. Alle Einflüsse aller Punkte von allen Körpern wahrzunehmen hieße, in den Zustand eines materiellen Gegenstandes hinabzusinken. Bewußt wahrnehmen heißt auswählen, und das Bewußtsein besteht vor allem in diesem praktischen Unterscheiden. Die verschiedenen Wahrnehmungen desselben Gegenstandes, die meine verschiedenen Sinne mir liefern, werden also miteinander vereint nicht das vollständige Bild des Gegenstandes rekonstituieren; sie bleiben voneinander durch Zwischenräume getrennt, die in gewisser Weise das Maß für ebenso viele Lücken in meinen Bedürfnissen sind: Und um diese Zwischenräume zu füllen, ist eine Schulung der Sinne nötig. Diese Schulung hat zum Ziel, meine Sinne untereinander zu harmonisieren, zwischen ihren Daten eine Kontinuität wiederherzustellen, die durch ebenjene Diskontinuität der Bedürfnisse meines Körpers unterbrochen wurde, kurz: das Ganze des materiellen Gegenstandes annäherungsweise zu rekonstruieren. So erklärt sich in unserer Hypothese die Notwendigkeit einer Schu-
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lung der Sinne. Vergleichen wir diese Erklärung mit der vorangegangenen. In der ersten fügen sich inextensive Empfindungen des Gesichtssinns mit inextensiven Empfindungen des Tastsinns und der anderen Sinne zusammen, um durch ihre Synthese die Idee eines materiellen Gegenstandes zu liefern. Doch erstens sieht man | nicht, wie diese Empfindungen Ausdehnung erwerben könnten, noch insbesondere, wie, ist diese Ausdehnung einmal de jure erworben, sich die de facto auftretende Vorliebe von dieser oder jener unter ihnen für diesen oder jenen Punkt des Raumes erklären ließe. Und des weiteren kann man sich fragen, durch welch glückliche Übereinkunft, kraft welcher prästabilierten Harmonie sich diese verschiedenartigen Empfindungen miteinander koordinieren, um einen stabilen und fortan verfestigten Gegenstand zu bilden, welcher meiner und der Erfahrung aller Menschen gemein ist und gegenüber den anderen Gegenständen jenen unbeugsamen Regeln unterworfen, die man die Naturgesetze nennt. In der zweiten hingegen sind die »Daten unserer verschiedenen Sinne« Qualitäten der Dinge, die zunächst vielmehr in ihnen als in uns wahrgenommen werden: Ist es erstaunlich, daß sie wieder zueinanderfinden, wo doch allein die Abstraktion sie voneinander getrennt hat? – In der ersten Hypothese ist der materielle Gegenstand nichts von dem, was wir wahrnehmen: Man setzt auf die eine Seite das Bewußtseinsprinzip mitsamt den Empfindungsqualitäten, auf die andere Seite eine Materie, über die man nichts zu sagen vermag und die man durch Negationen definiert, weil man sie zuvor all dessen entkleidet hat, was sie offenbar werden läßt. In der zweiten ist eine immer tiefergehende Erkenntnis der Materie möglich. Weit davon entfernt, von dieser etwas Wahrgenommenes wegzustreichen, müssen wir im Gegenteil alle Empfindungsqualitäten einander annähern, ihre Verwandtschaft wiederfinden und zwischen ihnen die Kontinuität wiederherstellen, die unsere Bedürfnisse unterbrochen haben. Unsere Wahrnehmung der Materie ist dann nicht mehr relativ und auch nicht subjektiv, zumindest im Prinzip und wenn man,
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wie wir bald zeigen werden, von der affektiven Empfindung und vor allem dem Gedächtnis einmal absieht; sie ist schlicht durch die Vielheit unserer Bedürfnisse aufgespalten. – In der ersten Hypothese ist der Geist ebenso unerkennbar wie die Materie, da man ihm die undefinierbare Fähigkeit zuschreibt, Empfindungen hervorzurufen – man weiß nicht, woher – und sie – man weiß nicht, warum – in einen Raum zu projizieren, | wo sie dann Körper bilden würden. In der zweiten ist die Rolle des Bewußtseins sauber definiert: Bewußtsein bedeutet mögliche Handlung; und die erworbenen Formen des Geistes, jene, die uns sein Wesen verschleiern, müssen im Lichte dieses zweiten Prinzips ausgeschaltet werden. So sieht man in unserer Hypothese die Möglichkeit durchscheinen, den Geist klarer von der Materie zu unterscheiden und eine Annäherung dieser beiden vorzunehmen. Doch lassen wir diesen ersten Punkt beiseite und kommen wir zum zweiten. Die zweite der ins Feld geführten Tatsachen besteht in dem, was man lange Zeit »die spezifische Nervenenergie« nannte. Man weiß, daß die Reizung des Sehnervs durch einen äußeren Stoß oder durch elektrischen Strom eine visuelle Empfindung ergibt und daß einen derselbe elektrische Strom, wenn man ihn auf den Hörnerv oder den Zungen-Rachen-Nerv (Nervus glossopharyngeus) leitet, einen Geschmack wahrnehmen oder einen Ton hören läßt. Von diesen sehr besonderen Tatsachen geht man zu jenen beiden sehr allgemeinen Gesetzen über, daß unterschiedliche Ursachen, die auf denselben Nerv wirken, dieselbe Empfindung erregen und daß dieselbe Ursache, wenn sie auf verschiedene Nerven wirkt, unterschiedliche Empfindungen hervorruft. Und aus ebendiesen Gesetzen folgert man, daß unsere Empfindungen schlicht Signale sind und daß die Rolle jedes Sinnes darin besteht, sich im Raum vollziehende homogene und mechanische Bewegungen in seine eigene Sprache zu übersetzen. Daher schließlich die Idee, unsere Wahrnehmung in zwei unterschiedene Teile zu spalten, die fortan unfähig sind, wieder zueinan-
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derzufinden: auf der einen Seite die homogenen Bewegungen im Raum, auf der anderen die inextensiven Empfindungen im Bewußtsein. Es ist nicht an uns, in das Studium der physiologischen Probleme einzusteigen, die die Interpretation der beiden Gesetze aufwirft: In welcher Weise man diese Gesetze auch versteht, sei es, daß man die spezifische Energie den Nerven zuschreibt, | sei es, daß man sie in die Zentren zurückverlegt, man stößt auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Doch sind es ebendiese Gesetze selbst, die immer problematischer erscheinen. Schon Lotze hegte den Verdacht, sie seien falsch. Er wollte ihnen erst Glauben schenken, wenn man ihm zeigte, »daß Schallwellen dem Auge eine Lichtempfindung brächten oder daß Lichtschwingungen das Ohr einen Ton hören ließen«1. Die Wahrheit ist, daß alle ins Feld geführten Tatsachen sich letztlich auf einen einzigen Typus zurückzuführen scheinen: Der einzelne Reiz, der in der Lage ist, unterschiedliche Empfindungen hervorzubringen, und die vielfältigen Reize, die in der Lage sind, eine selbe Empfindung zu erzeugen, sind entweder elektrischer Strom oder eine mechanische Ursache, die in der Lage ist, im Organ eine Modifikation des elektrischen Gleichgewichts zu bewirken. Nun aber kann man sich fragen, ob der elektrische Reiz nicht verschiedene Komponenten enthielte, welche objektiv Empfindungen unterschiedlicher Art entsprächen, und ob die Rolle jedes Sinnes nicht einfach darin bestünde, aus dem Ganzen die Komponente herauszuziehen, die ihn anspricht: Dann wären es sehr wohl dieselben Reize, die dieselben Empfindungen bewirken, und verschiedene Reize, die unterschiedliche Empfindungen hervorrufen. Um es präziser Lotze, Métaphysique, S. 526 f. [Die angeführte Passage ist auch in der frz. Übersetzung kein wörtliches Zitat. Der entsprechende Satz bei Lotze lautet: »Man weiß Nichts von Schallwellen, die im Auge Lichtempfindung oder von Lichtwellen, die im Ohre Töne erzeugt hätten; die Hauptstütze der Annahme liegt in den häufigen Lichtempfindungen, die durch Stoß und Druck so wie durch elektrische Reizung im Auge entstehen.« Lotze, Metaphysik, Leipzig 1879, S. 508. A. d. Ü.] 1
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zu fassen: Es läßt sich schwerlich annehmen, daß zum Beispiel das Elektrisieren der Zunge nicht chemische Modifikationen verursachen würde; nun sind es aber diese Modifikationen, die wir durchweg als Geschmäcker bezeichnen. Und wenn andererseits der Physiker das Licht mit einer elektromagnetischen Störung gleichzusetzen vermochte, so könnte man umgekehrt sagen, daß dasjenige, was er hier eine elektromagnetische Störung nennt, Licht ist, derart daß dasjenige, was der optische Nerv objektiv in der Elektrisierung wahrnähme, durchaus Licht wäre. Für keinen einzigen Sinn erschien die Lehre von der spezifischen Energie | sicherer begründet als für das Ohr: Nirgends sonst ist auch die reale Existenz der wahrgenommenen Sache wahrscheinlicher geworden. Wir werden auf diese Tatsachen nicht näher eingehen, da man ihre Darlegung samt eingehender Diskussion in einem kürzlich erschienenen Werk findet.1 Beschränken wir uns auf den Hinweis, daß die Empfindungen, von denen man hier spricht, nicht von uns außerhalb unseres Körpers wahrgenommene Bilder, sondern vielmehr in unserem Körper selbst lokalisierte affektive Empfindungen sind. Nun ergibt sich aber aus der Natur und der Bestimmung unseres Körpers, wie wir sehen werden, daß jedes seiner sogenannten sensiblen Elemente seine reale eigene Wirkung auf die von ihm normalerweise wahrgenommenen äußeren Gegenstände hat, die von derselben Art sein muß wie seine virtuelle Wirkung, so daß man auf diese Weise verstehen würde, warum jeder der sensiblen Nerven gemäß einem bestimmten Modus der Empfindung zu schwingen scheint. Doch um diesen Punkt zu erhellen, ist es angebracht, die Natur der affektiven Empfindung zu vertiefen. Und eben dadurch werden wir zu dem dritten und letzten Argument geführt, das wir untersuchen wollten. Dieses dritte Argument wird daraus gezogen, daß man in unmerklichen Graden von dem Vorstellungszustand, der Raum ein1
Schwarz, Das Wahrnehmungsproblem, Leipzig 1892, S. 313 f.
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nimmt, zu dem affektiven Zustand übergeht, der unausgedehnt erscheint. Von dorther schließt man auf die natürliche und notwendige Ausdehnungslosigkeit jeder Wahrnehmung, wobei die Ausgedehntheit zur Empfindung hinzuträte und der Wahrnehmungsprozeß in einer Veräußerlichung interner Zustände bestünde. Der Psychologe geht nämlich von seinem Körper aus, und da die an der Peripherie dieses Körpers empfangenen Eindrücke ihm für die Rekonstitution des gesamten materiellen Universums zu genügen scheinen, reduziert er das Universum zunächst auf seinen Körper. Doch diese erste Position ist nicht zu halten; sein Körper hat weder mehr noch weniger und kann auch nicht mehr und nicht weniger | Realität haben als alle anderen Körper. Man muß also weiter voranschreiten, die Anwendung des Prinzips bis zum Ende verfolgen und, nachdem man das Universum auf die Oberfläche des lebendigen Körpers eingeschrumpft hat, diesen Körper selbst zu einem Zentrum zusammenziehen, das man letzten Endes als unausgedehnt annehmen wird. Dann wird man von diesem Zentrum aus die inextensiven Empfindungen ausgehen lassen, die sozusagen anschwellen, zunehmend an Ausdehnung gewinnen und schließlich zuerst unseren ausgedehnten Körper ergeben und dann alle anderen materiellen Gegenstände. Doch diese seltsame Annahme wäre unmöglich, wenn es nicht eben gerade zwischen den Bildern und den Ideen, diese unausgedehnt und jene ausgedehnt, eine Reihe von mehr oder weniger verschwommen lokalisierten Zwischenzuständen gäbe: die affektiven Zustände. Unser Verstand stellt, seiner gewohnten Illusion nachgebend, jenes Dilemma auf, daß ein Ding entweder ausgedehnt sei oder nicht; und da der affektive Zustand nur vage an der Ausgedehntheit teilhat und unzulänglich lokalisiert ist, schließt er daraus, daß dieser Zustand absolut inextensiv ist. Dann aber müssen sich die aufeinanderfolgenden Grade der Ausdehnung und die Ausgedehntheit selbst durch was weiß ich für eine erworbene Eigenschaft inextensiver Zustände erklären; die Geschichte der Wahrnehmung wird die von internen und inextensiven Zu-
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ständen, die sich ausdehnen und nach draußen projizieren. Sollen wir dieser Argumentation eine andere Form verleihen? Es gibt kaum eine Wahrnehmung, die nicht durch eine Verstärkung des Einwirkens ihres Gegenstandes auf unseren Körper affektive Empfindung, oder spezieller: Schmerz werden kann. So geht man unmerklich von der Berührung der Nadel zum Stich über. Umgekehrt fällt der abnehmende Schmerz mehr und mehr mit der Wahrnehmung seiner Ursache zusammen und veräußerlicht sich sozusagen zur Vorstellung. Es scheint also durchaus so, als bestünde ein Unterschied des Grades und nicht des Wesens zwischen der affektiven Empfindung und der Wahrnehmung. Nun ist aber die erstere aufs Innigste an meine persönliche Existenz geknüpft: Was wäre | nämlich in der Tat ein von dem Subjekt, das ihn empfindet, abgelöster Schmerz? Es muß sich also, so scheint es, mit der zweiten ebenso verhalten, und die äußere Wahrnehmung muß durch die Projektion der harmlos gewordenen affektiven Empfindung in den Raum entstehen. Realisten und Idealisten kommen in dieser Art zu denken überein. Diese sehen im materiellen Universum nichts anderes als eine Synthese subjektiver und inextensiver Zustände; jene fügen hinzu, daß es hinter dieser Synthese eine unabhängige Realität gibt, die ihr entspricht; doch die einen wie die anderen schließen aus dem graduellen Übergang von der affektiven Empfindung zur Vorstellung, daß die Vorstellung des materiellen Universums relativ und subjektiv ist und daß sie sozusagen aus uns hervorgetreten ist, statt daß wir uns zuerst aus ihr herausgeschält hätten. Bevor wir diese anfechtbare Interpretation einer zutreffenden Tatsache kritisieren, wollen wir zeigen, daß sie weder die Natur des Schmerzes noch jene der Wahrnehmung zu erklären vermag, ja daß es ihr noch nicht einmal gelingt, sie zu erhellen. Daß es wesensmäßig an meine Person gebundenen affektiven Zuständen, die zudem zerrinnen würden, wenn ich verschwände, allein durch den Effekt einer Intensitätsminderung gelingen soll, Ausdehnung zu erwerben, einen bestimmten Platz im Raum einzu-
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nehmen und eine stabile Erfahrung zu begründen, die immer mit sich selbst und der Erfahrung der anderen Menschen im Einklang ist, das ist es, was man uns schwerlich verständlich machen wird. Was man auch tut, man wird dazu gebracht werden, den Empfindungen unter der einen oder anderen Form zunächst die Ausdehnung und dann die Unabhängigkeit zurückzugeben, ohne die man auskommen wollte. Doch andererseits wird auch die affektive Empfindung in dieser Hypothese kaum klarer als die Vorstellung. Denn wenn man nicht versteht, wie die affekti ven Empfindungen, indem sie an Intensität verlieren, zu Vorstellungen werden, so begreift man ebensowenig, wie dasselbe Phänomen, das | zunächst als Wahrnehmung gegeben war, durch ein Anwachsen der Intensität zu affektiver Empfindung wird. Im Schmerz liegt etwas Positives und Aktives, das man schlecht erklärt, wenn man mit gewissen Philosophen behauptet, er bestehe in einer verschwommenen Vorstellung.1 Doch da liegt noch nicht die Hauptschwierigkeit. Daß die gradweise Steigerung des Reizes schließlich die Wahrnehmung in Schmerz verwandelt, ist unbestreitbar; es ist deshalb aber nicht weniger wahr, daß diese Verwandlung sich von einem ganz bestimmten Moment an abzeichnet: Warum eher dieser Moment als ein anderer? Und welches ist der besondere Grund, der bewirkt, daß ein Phänomen, dem ich zuerst als gleichgültiger Zuschauer gegenüberstand, für mich plötzlich ein vitales Interesse erlangt? In dieser Hypothese begreife ich also weder, warum in jenem bestimmten Moment eine Intensitätsminderung im Phänomen ihm ein Recht auf Ausdehnung und auf eine augenscheinliche Unabhängigkeit verleiht, noch warum ein Intensitätszuwachs eher im einen statt im anderen Moment jene neue Eigenschaft erschafft, die Quelle positiver Handlung ist und die man Schmerz nennt. 1
Die kritische Ausgabe verweist hier auf Descartes, der in der VI. Me ditation die Sinneserkenntnis und insbesondere die Empfindungen als »verschwommen« oder »verworren« (confus) bezeichnet. Vgl. Descartes, Meditationen, Hamburg 2009, S. 87 f. [A. d. Ü.]
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Kommen wir nun also zu unserer Hypothese zurück und zeigen wir, wie die affektive Empfindung zu einem bestimmten Moment aus dem Bild hervorgehen muß. Wir werden auch verstehen, wie man von einer Wahrnehmung, die Ausgedehntheit einnimmt, zu einer affektiven Empfindung übergeht, die man für inextensiv hält. Doch sind hier ein paar Vorbemerkungen über die reale Bedeutung des Schmerzes unentbehrlich. Wenn ein fremder Körper einen der Fortsätze der Amöbe berührt, dann zieht sich dieser Fortsatz zurück; jeder Teil der Proto plasmamasse ist also gleichermaßen fähig, den Reiz zu empfangen und auf ihn zu reagieren; Wahrnehmung und Bewegung sind hier in einer einzigen Eigenschaft verschmolzen: der Kontraktilität. Doch je komplexer der Organismus wird, um so stärker teilt sich die Arbeit auf und | differenzieren sich die Funktionen, und die auf diese Weise gebildeten anatomischen Elemente verlieren ihre Unabhängigkeit. In einem Organismus wie dem unseren sind die sogenannten sensiblen Fasern ausschließlich damit betraut, Reize zu einer Zentralregion weiterzuleiten, von der aus sich die Schwingung zu motorischen Elementen fortpflanzt. Es scheint also, als hätten sie auf individuelles Wirken verzichtet, um als vorgeschobene Wachposten an den Bewegungen des ganzen Körpers mitzuwirken. Doch bleiben sie darum, für sich genommen, nicht weniger jenen selben Ursachen von Zerstörung ausgesetzt, die den Organismus in seiner Gesamtheit bedrohen: Und während dieser Organismus die Fähigkeit besitzt, sich zu bewegen, um der Gefahr zu entgehen oder seine Verluste wieder wettzu machen, behält das sensible Element die relative Bewegungslosigkeit, zu der die Arbeitsteilung es verdammt. So wird der Schmerz ins Leben gerufen, der, unserer Meinung nach, nichts anderes ist als eine Anstrengung des geschädigten Elementes, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen – eine Art motorische Tendenz auf einem sensiblen Nerv. Aller Schmerz muß also in einer Anstrengung bestehen, und zwar in einer machtlosen Anstrengung. Aller Schmerz ist eine lokale Anstrengung, und ebendiese Isolierung
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der Anstrengung selbst ist die Ursache ihrer Machtlosigkeit, weil der Organismus aufgrund des Zusammenhangs seiner Teile nur noch zu Gesamteffekten taugt. Und daß die Anstrengung lokal ist, ist auch der Grund, warum der Schmerz absolut disproportioniert zu der Gefahr ist, in der sich das Lebewesen bewegt: Die Gefahr kann tödlich sein und der Schmerz leicht; der Schmerz kann unerträglich sein (wie bei Zahnschmerzen) und die Gefahr unbedeutend. Es gibt also und muß einen ganz bestimmten Moment geben, in dem der Schmerz einsetzt: Es geschieht, wenn der betroffene Teil des Organismus den Reiz, statt ihn aufzunehmen, abwehrt. Und es ist nicht nur ein Gradunterschied, der die Wahrnehmung von der affektiven Empfindung trennt, sondern ein Wesensunterschied. | Dies einmal festgehalten, hatten wir den lebendigen Körper als eine Art Zentrum betrachtet, von dem aus auf die umgebenden Gegenstände die Wirkung reflektiert wird, die diese Gegenstände auf es ausüben: In dieser Reflexion besteht die äußere Wahrnehmung. Doch dieses Zentrum ist kein mathematischer Punkt: Es ist ein Körper, der wie alle Körper der Natur dem Wirken äußerer Ursachen ausgesetzt ist, die ihn zu zersetzen drohen. Wir haben gerade gesehen, daß er dem Einfluß dieser Ursachen Widerstand leistet. Er beschränkt sich nicht darauf, das von außen kommende Wirken zu reflektieren; er kämpft und absorbiert so einen Teil dieses Wirkens. Darin würde die Quelle der affektiven Empfindung liegen. Man könnte also metaphorisch sagen, daß, wenn die Wahrnehmung das Maß für die Reflexionskraft des Körpers darstellt, die affektive Empfindung das Maß seiner Absorptionskraft angibt. Doch das ist nur eine Metapher. Man muß die Dinge von Näherem betrachten und sich klar machen, daß die Notwendigkeit der affektiven Empfindung aus der Existenz der Wahrnehmung selbst entspringt. Die Wahrnehmung, so wie wir sie verstehen, ermißt unser mögliches Einwirken auf die Dinge und dadurch auch umgekehrt das mögliche Einwirken der Dinge auf uns. Je grö-
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ßer das Handlungspotential des Körpers ist (symbolisiert durch eine höhere Komplexität des Nervensystems), um so weiter ist das Feld, das die Wahrnehmung umfaßt. Die Entfernung, die unseren Körper von einem wahrgenommenen Gegenstand trennt, gibt also tatsächlich die mehr oder weniger unmittelbare Bedrohung durch eine Gefahr, die mehr oder weniger nahe Erfüllung einer Verheißung an. Und folglich drückt unsere Wahrnehmung eines von unserem Körper unterschiedenen und von ihm durch einen Zwischenraum getrennten Gegenstandes immer nur eine virtuelle Handlung aus. Je mehr jedoch die Entfernung zwischen diesem Gegenstand und unserem Körper abnimmt, je unmittelbarer, mit anderen Worten, die Gefahr wird und je näher die Verheißung rückt, um so mehr tendiert die virtuelle Handlung dazu, sich in eine reale zu verwandeln. Gehen wir nun zum Grenzfall über und nehmen wir an, daß die Entfernung gleich | Null wird, das heißt der wahrzunehmende Gegenstand mit unserem Körper zusammenfällt, das heißt also unser eigener Körper der wahrzunehmende Gegenstand ist. Dann ist es nicht mehr eine virtuelle Handlung, sondern eine reale Handlung, die diese ganz spezielle Wahrnehmung ausdrücken wird: Eben darin besteht die affektive Empfindung. Unsere Empfindungen verhalten sich also zu unseren Wahrnehmungen wie die reale Handlung unseres Körpers zu seiner möglichen oder virtuellen Handlung. Seine virtuelle Handlung betrifft die anderen Gegenstände und zeichnet sich in diesen Gegenständen ab – seine reale Handlung betrifft ihn selbst und zeichnet sich folglich in ihm selbst ab. Kurzum spielt sich also alles so ab, als ob durch eine wahrhafte Rückkehr der realen und virtuellen Handlungen zu ihren Anwendungs- oder Ursprungspunkten die äußeren Bilder durch unseren Körper in den ihn umgebenden Raum reflektiert würden und die realen Handlungen durch ihn im Inneren seiner Substanz festgehalten. Und das ist der Grund, warum seine Oberfläche, die gemeinsame Grenze des Äußeren und des Inneren, das einzige Stück Ausgedehntheit ist, das zugleich wahrgenommen und gefühlt wird.
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Das läuft immer wieder darauf hinaus, daß meine Wahrnehmung außerhalb meines Körpers, meine affektiven Empfindungen hingegen in meinem Körper sind. Ebenso wie die äußeren Gegenstände durch mich dort wahrgenommen werden, wo sie sind, in sich und nicht in mir, werden meine affektiven Zustände dort empfunden, wo sie auftreten, das heißt in einem bestimmten Punkt meines Körpers. Man betrachte nun dieses System von Bildern, das sich die materielle Welt nennt. Mein Körper ist eines von ihnen. Um dieses Bild herum ordnet sich die Vorstellung an, das heißt sein möglicher Einfluß auf die anderen. In ihm tritt die affektive Empfindung, das heißt seine aktuelle auf ihn selbst gerichtete Anstrengung, auf. Im Grunde ist genau dies der Unterschied, den jeder von uns ganz natürlich und spontan zwischen einem Bild und einer Empfindung macht. Wenn wir sagen, daß das Bild außerhalb von uns existiert, dann | verstehen wir darunter, daß es unserem Körper äußerlich ist. Wenn wir von der Empfindung als von einem inneren Zustand sprechen, dann wollen wir sagen, daß sie in unserem Körper entspringt. Und das ist der Grund, warum wir behaupten, daß die Totalität der wahrgenommenen Bilder auch dann bestehenbleibt, wenn unser Körper verschwindet, wogegen wir unseren Körper nicht auslöschen können, ohne daß auch unsere Empfindungen verschwinden. Damit erahnen wir schon die Notwendigkeit einer ersten Korrektur unserer Theorie der reinen Wahrnehmung. Wir sind bei unseren Überlegungen so verfahren, als ob unsere Wahrnehmung ein Teil der Bilder sei, der so, wie er ist, von ihrer Substanz abgelöst wurde, als ob sie sich, wenn sie das virtuelle Einwirken des Gegenstandes auf unseren Körper oder dasjenige unseres Körpers auf den Gegenstand ausdrückt, darauf beschränken würde, vom Gesamtgegenstand den Aspekt zu isolieren, der uns an diesem interessiert. Doch muß man berücksichtigen, daß unser Körper kein mathematischer Punkt im Raum ist und daß seine virtuellen Handlungen von realen Handlungen durchtränkt sind und dadurch an Komplexität gewinnen, oder mit anderen
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Worten: daß es keine Wahrnehmung ohne affektive Empfindung gibt. Die affektive Empfindung ist also das, was wir vom Inneren unseres Körpers dem Bild der äußeren Körper beimengen; sie ist das, was man zuerst aus der Wahrnehmung herauslösen muß, um die Reinheit des Bildes wiederzufinden. Der Psychologe aber, der die Augen vor dem Wesensunterschied und dem Funktionsunterschied zwischen Wahrnehmung und Empfindung verschließt – von denen diese eine reale, jene eine bloß mögliche Handlung in sich schließt –, vermag zwischen ihnen nur noch einen Gradunterschied festzustellen. Die Tatsache ausnutzend, daß die Empfindung (aufgrund der verschwommenen Anstrengung, die in ihr liegt) nur vage lokalisiert ist, erklärt er diese sogleich für inextensiv und macht fortan aus der Empfindung im allgemeinen das Grundelement, mit dem wir auf dem Wege der Zusammenfügung die äußeren Bilder erhalten. Die Wahrheit ist, daß die affektive Empfindung nicht die Ur-Materie ist, aus der die Wahrnehmung | gemacht ist, sondern sehr viel eher die ihr beigemengte Verunreinigung. Wir erfassen hier an seiner Wurzel den Irrtum, der den Psychologen dazu bringt, Zug um Zug die Empfindung als inextensiv und die Wahrnehmung als ein Konglomerat von Empfindungen zu betrachten. Dieser Irrtum wird, wie wir sehen werden, unterwegs durch Argumente bestärkt, die er aus einer falschen Konzeption der Rolle des Raumes und der Natur der Ausgedehntheit zieht. Darüber hinaus sprechen aber noch schlecht interpretierte Tatsachen für ihn, deren Untersuchung jetzt gleich angebracht ist. Erstens scheint es, daß die Lokalisation einer affektiven Empfindung an einem Ort des Körpers eine echte Schulung erfordert. Es verstreicht eine gewisse Zeit, ehe es dem Kind gelingt, den Finger genau auf den Punkt der Haut zu legen, an dem es gestochen wurde. Die Tatsache ist unbestreitbar, doch alles, was man daraus schließen kann, ist, daß ein Herantasten notwendig ist, um die Schmerzeindrücke der Haut, die gestochen wurde,
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mit den Eindrücken des Muskelsinnes zu koordinieren, der die Bewegungen des Armes und der Hand steuert. Unsere internen affektiven Empfindungen unterteilen sich, wie unsere äußeren Wahrnehmungen, in verschiedene Gattungen. Diese Gattungen sind, wie jene der Wahrnehmung, diskontinuierlich, getrennt durch Zwischenräume, die durch die Schulung ausgefüllt werden. Daraus folgt keineswegs, daß es nicht für jede Gattung affektiver Wahrnehmung eine unmittelbare Lokalisation gewisser Art gäbe, ein Lokalkolorit, das ihr eigen ist. Gehen wir noch etwas weiter: Hat die affektive Empfindung diese Färbung nicht sofort, so wird sie sie niemals haben. Denn alles, was die Schulung bewirken kann, ist, der gegenwärtigen affektiven Empfindung die Idee einer bestimmten möglichen Wahrnehmung des Gesichts- oder des Tastsinnes zu assoziieren, so daß eine bestimmte affektive Empfindung das Bild einer ebenso bestimmten Gesichts- oder Tastwahrnehmung hervorruft. Es muß also in | dieser affektiven Empfindung selbst schon etwas geben, das sie von den anderen affektiven Empfindungen derselben Gattung unterscheidet und erlaubt, sie eher mit dem oder dem möglichen Datum des Gesichts- oder Tastsinnes zu verknüpfen als mit jedem anderen. Läuft dies aber nicht darauf hinaus, daß die affektive Empfindung schon von Beginn an eine gewisse extensive Bestimmtheit aufweist? Des weiteren führt man noch die irrtümlichen Lokalisationen ins Feld, die Illusionen der Amputierten1 (bei denen es im übrigen Anlaß gäbe, sie einer erneuten Untersuchung zu unterziehen). Was aber soll man daraus schließen, wenn nicht, daß die einmal erfahrene Schulung Bestand hat und daß die im praktischen Leben nützlicheren Daten des Gedächtnisses jene des unmittel 1
Dieser Ausdruck faßt all das zusammen, was wir heute mit den Begriffen ›Phantomglied‹, ›Phantomempfindung‹ oder ›Phantomschmerz‹ bezeichnen. Die kritische Ausgabe verweist dazu auf Descartes und dessen Beschreibung des Phänomens in der VI. Meditation (vgl. Descartes, Meditationen, Hamburg 2009, S. 84). [A. d. Ü.]
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baren Bewußtseins verdrängen? Es ist für uns im Hinblick auf die Handlung unerläßlich, unsere affektive Erfahrung in mögliche Daten des Gesichtssinnes, des Tastsinnes und des Muskelsinnes zu übersetzen. Ist diese Übersetzung einmal erstellt, verblaßt das Original, doch hätte sie nie entstehen können, wenn nicht als erstes das Original gesetzt gewesen wäre und wenn die affektive Empfindung nicht schon von Anfang an allein aus ihrer Kraft und auf ihre Weise lokalisiert gewesen wäre. Der Psychologe aber hat sehr große Mühe, diese Idee des gemeinen Menschenverstandes zu akzeptieren. Ebenso wie die Wahrnehmung, wie ihm scheint, nur dann in den wahrgenommenen Dingen sein könnte, wenn diese Dinge wahrnähmen, so vermöchte eine Empfindung nur dann im Nerv zu sein, wenn der Nerv empfinden würde: Nun empfindet der Nerv aber offensichtlich nicht. Also wird man die Empfindung an dem Punkt erfassen, an dem der gemeine Menschenverstand sie lokalisiert, sie dort herauslösen und mehr dem Gehirn annähern, von dem sie noch stärker abzuhängen scheint als vom Nerv; und so würde man sie letzten Endes logischerweise ins Gehirn versetzen. Doch man wird sich sehr schnell klar, daß sie, wenn sie nicht an dem Punkt ist, an dem sie zu entstehen scheint, ebensowenig wird woanders sein können; daß sie, wenn sie nicht im Nerv ist, auch nicht im Gehirn sein wird; denn um ihre Projektion | vom Zentrum zur Peripherie zu erklären, ist eine gewisse Kraft nötig, die man einem mehr oder weniger aktiven Bewußtsein zuschreiben müßte. Man wird also noch weiter gehen müssen und, nachdem man die Empfindungen im zerebralen Zentrum zusammenlaufen ließ, sie zugleich aus dem Gehirn und aus dem Raum hinausschieben. Man wird sich dann die Empfindungen absolut inextensiv vorstellen und auf der anderen Seite einen leeren Raum, der gegenüber den Empfindungen, die dort hineinprojiziert werden, indifferent ist; dann wird man sich in Anstrengungen aller Arten erschöpfen, um verständlich zu machen, wie die inextensiven Empfindungen Ausgedehntheit erwerben und, um sich zu lokalisieren, vorzugs-
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weise eher diesen oder jenen Punkt des Raumes wählen statt aller anderen.1 Doch diese Lehre ist nicht nur unfähig, uns klar zu zeigen, wie das Unausgedehnte sich ausdehnt; durch sie werden die affektive Empfindung, die Ausdehnung und die Vorstellung gleichermaßen unerklärlich. Sie muß die affektiven Zustände als lauter Absolute nehmen, bei denen man nicht sieht, warum sie in diesen oder jenen Momenten im Bewußtsein erscheinen oder verschwinden. Auch der Übergang von der affektiven Empfindung zur Vorstellung wird von einem ebenso undurchdringlichen Geheimnis umwoben bleiben, weil man, wir wiederholen es, in einfachen und inextensiven inneren Zuständen niemals einen Grund finden wird, warum sie vorzugsweise diese oder jene bestimmte Ordnung im Raum einnehmen. Und zuletzt wird die Vorstellung selbst als ein Absolutes gesetzt werden müssen: Man sieht weder ihren Ursprung noch ihre Bestimmung. Die Dinge werden hingegen klarer, wenn man von der Vorstellung selbst ausgeht, das heißt von der Totalität der wahrgenommenen Bilder. Meine Wahrnehmung, im Reinzustand und von meinem Gedächtnis isoliert, schreitet nicht von meinem Körper zu den anderen voran: Sie ist von Anfang an im Gesamtzusammenhang der Körper, begrenzt sich dann nach und nach und macht sich meinen Körper als Zentrum zu eigen. Und dazu wird sie eben gerade durch die Erfahrung jener zweifachen Fähigkeit gebracht, die dieser Körper besitzt, | der Fähigkeit, Handlungen zu vollziehen und affektive Empfindungen zu verspüren, mit einem Wort: durch die Erfahrung der sensomotorischen Macht eines bestimmten, unter allen übrigen privilegierten Bildes. Auf 1
Die kritische Ausgabe verweist darauf, daß Bergson hier auf Lotzes »Theorie der Lokalzeichen« anspielt, die er bereits im Essai sur les données immédiates erwähnt (S. 69; vgl. auch die dortige Anmerkung der kritischen Ausgabe, Paris 2007, S. 225). Lotze hat diese Theorie u. a. in einem Artikel in der Revue philosophique dargestellt (De la formation de la notion de l’espace, Rev. phil., Juli–Dezember 1877, S. 345–365) sowie in seiner Metaphysik, Leipzig 1879, III. Buch, 4. Kap. [A. d. Ü.]
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der einen Seite nämlich nimmt dieses Bild immer das Zentrum der Vorstellung ein, derart, daß die anderen Bilder sich um es herum in ebenjener Reihenfolge staffeln, in der sie seinem Wirken unterliegen könnten; auf der anderen Seite nehme ich durch Empfindungen, die ich affektive nenne, sein Inneres wahr, das Drinnen, statt wie bei den anderen Bildern nur die oberste Haut zu kennen. Es gibt also im Gesamtzusammenhang der Bilder ein begünstigtes Bild, das in seiner Tiefe und nicht mehr bloß an seiner Oberfläche wahrgenommen wird, das zugleich Sitz affektiver Empfindungen wie Quelle der Handlung ist: Es ist dieses besondere Bild, das ich mir als Zentrum meines Universums und physische Basis meiner Persönlichkeit1 zu eigen mache. Doch bevor wir weiter voranschreiten und eine genaue Beziehung zwischen der Person und den Bildern herstellen, unter welchen sie sich einrichtet, wollen wir kurz die Theorie der »reinen Wahrnehmung«, die wir gerade skizziert haben, zusammenfassen und sie dabei den Analysen der gebräuchlichen Psychologie gegenüberstellen. Um die Darstellung zu vereinfachen, werden wir wieder zum Gesichtssinn zurückkehren, den wir zuvor schon als Beispiel gewählt hatten. Gewöhnlich nimmt man elementare Empfindungen an, welche den von den Zapfen und Stäbchen der Netzhaut empfangenen Eindrücken entsprechen. Es sind diese Empfindungen, mit denen man die visuelle Wahrnehmung rekonstituieren wird. Doch zunächst einmal gibt es nicht eine Netzhaut, sondern zwei. Man wird also erklären müssen, wie zwei als unterschieden angenommene Empfindungen zu einer einzigen Wahrnehmung verschmelzen, die dem entspricht, was wir einen Punkt des Raumes nennen. 1
Die kritische Ausgabe verweist hier darauf, daß der Ausdruck »physische Basis der Persönlichkeit« von Ribot stammt. Vgl. Ribot, »Les bases organiques de la personnalité«, Revue philosophique, Juli–Dezember 1883, S. 624. [A. d. Ü.]
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Nehmen wir an, diese Frage sei gelöst. Die Empfindungen, von denen man spricht, sind inextensiv. Wie bekommen sie Ausdehnung? Ob man nun in der Ausgedehntheit einen Rahmen sieht, der schon bereitsteht, die | Empfindungen aufzunehmen, oder einen Effekt, der allein auf der Gleichzeitigkeit der Empfindungen beruht, die im Bewußtsein koexistieren, ohne miteinander zu verschmelzen, im einen wie im anderen Fall wird man mit der Ausgedehntheit etwas Neues hineinbringen, über das man keine Rechenschaft ablegt, und der Prozeß, durch den die Empfindung die Ausgedehntheit erreicht, sowie die Wahl eines bestimmten Punktes des Raumes durch jede elementare Empfindung bleiben unerklärt. Gehen wir über diese Schwierigkeit hinweg. Betrachten wir also die visuelle Ausgedehntheit als konstituiert. Wie findet sie nun ihrerseits mit der tastsinnlichen Ausgedehntheit zusammen? Alles, was mein Gesichtssinn im Raum feststellt, verifiziert mein Tastsinn. Wird man sagen, daß die Gegenstände sich eben gerade durch das Zusammenwirken von Gesichts- und Tastsinn konstituieren und die Übereinkunft der beiden Sinne in der Wahrnehmung sich durch die Tatsache erkläre, daß der wahrgenommene Gegenstand ihr gemeinsames Werk ist? Doch wüßte man hier, hinsichtlich der Qualität, nichts Gemeinsames zwischen einer elementaren visuellen Empfindung und einer Tastempfindung anzunehmen, da sie zwei vollständig verschiedenen Gattungen angehören würden. Die Übereinstimmung zwischen der visuellen und der tastsinnlichen Ausgedehntheit läßt sich also nur durch den Parallelismus der Ordnung der visuellen Empfindungen mit der Ordnung der Tastempfindungen erklären. Wir sind hier also gezwungen, außer den visuellen Empfindungen und den Tastempfindungen eine bestimmte Ordnung anzunehmen, die ihnen gemein ist und die folglich von beiden unabhängig sein muß. Gehen wir noch etwas weiter: Diese Ordnung ist unabhängig von unserer individuellen Wahrnehmung, da sie allen Menschen gleichermaßen erscheint, und konstituiert eine materielle
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Welt, in der Wirkungen an Ursachen gekettet sind und in der die Phänomene Gesetzen gehorchen. So sehen wir uns also letztendlich zu der Hypothese einer objektiven und von uns unabhängigen Ordnung geführt, das heißt einer materiellen, von der Empfindung unterschiedenen Welt. | Wir haben im Laufe unseres Voranschreitens die irreduziblen Fakten vermehrt und die einfache Hypothese, von der wir ausgegangen waren, aufgebläht. Aber haben wir dabei etwas gewonnen? Wenn die Materie, zu der wir letztlich gelangen, auch unent behrlich ist, um uns den wunderbaren Einklang der Empfindungen untereinander verstehen zu lassen, so wissen wir doch nichts von ihr, da wir ihr all die wahrgenommenen Qualitäten und all die Empfindungen absprechen müssen, deren Übereinstimmung sie einzig zu erklären hat. Sie ist also nichts von dem und kann nichts von dem sein, was wir erkennen, nichts von dem, was wir uns bildlich vorstellen. Sie behält den Status einer mysteriösen Entität. Doch unsere eigene Natur, die Rolle und die Bestimmung unserer Person bleiben von einem ebenso großen Geheimnis umfangen. Denn woher kommen diese inextensiven elementaren Empfindungen, die sich im Raum entfalten werden, wie werden sie geboren und wozu sollen sie dienen? Man muß sie als lauter Absolute setzen, bei denen man weder Ursprung noch Zweck sieht. Und einmal angenommen, daß man in jedem von uns Geist und Körper unterscheiden müsse, so vermag man weder vom Körper noch vom Geist, noch von der Beziehung, die sie miteinander unterhalten, irgend etwas zu erkennen. Worin besteht nun unsere eigene Hypothese und in genau welchem Punkt unterscheidet sie sich von der anderen? Anstatt von der affektiven Empfindung auszugehen, von der man nichts sagen kann, weil es keinen Grund gibt, warum sie ist, was sie ist, und nicht vielmehr etwas ganz anderes, gehen wir von der Handlung aus, das heißt von der Fähigkeit, die wir besitzen, Veränderungen in den Dingen zu bewirken, eine Fähigkeit, die durch das
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ewußtsein bezeugt wird und auf die alle Vermögen des orgaB nisch-strukturierten Körpers zuzulaufen scheinen. Wir versetzen uns also von vorneherein in den Gesamtzusammenhang ausgedehnter Bilder, und in diesem materiellen Universum nehmen wir eben gerade | Indeterminiertheitszentren wahr, die kennzeichnend für das Leben sind. Damit von diesen Zentren Handlungen ausstrahlen, müssen die Bewegungen oder Einflüsse der anderen Bilder zum einen aufgefangen werden und zum anderen genutzt. Schon in ihrer einfachsten Form und im homogenen Zustand erfüllt die lebendige Materie diese Funktion gleichzeitig, wenn sie sich ernährt und entstandene Schäden repariert. Der Fortschritt dieser Materie besteht darin, diese zweifache Leistung zwischen zwei Kategorien von Organen aufzuteilen, von denen die ersten, Ernährungsorgane genannt, dazu bestimmt sind, die zweiten zu unterhalten: Diese letzteren sind zum Handeln gemacht; ihre einfache Grundform ist eine Kette von Nervenelementen, die zwischen zwei äußersten Enden gespannt ist, von denen das eine äußere Eindrücke auffängt und das andere Bewegungen vollzieht. So wird, um auf das Beispiel der visuellen Wahrnehmung zurückzukommen, die Rolle der Zapfen und Stäbchen schlicht darin bestehen, Schwingungen zu empfangen, die sich danach zu vollzogenen oder im Entstehen begriffenen Bewegungen ausprägen. Daraus vermag keinerlei Wahrnehmung zu resultieren, und nirgends im Nervensystem gibt es bewußte Zentren; doch die Wahrnehmung wird von derselben Ursache ins Leben gerufen, die die Kette von Nervenelementen samt den Organen, die sie erhalten, und dem Leben im allgemeinen hervorrief: Sie ist Maß und Ausdruck des Handlungspotentials des Lebewesens, der Indeterminiertheit der Bewegung oder Handlung, die auf die aufgefangene Schwingung folgt. Diese Indeterminiertheit wird, wie wir es gezeigt haben, durch eine Reflexion der unseren Körper umgebenden Bilder auf sich selbst, oder besser: durch eine Aufteilung dieser zum Ausdruck kommen; und da die Kette der Nervenelemente, die die Bewegungen empfängt,
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aufhält und weiterleitet, eben gerade der Sitz dieser Indeterminiertheit ist und ihr Maß angibt, wird unsere Wahrnehmung sich bis ins Detail nach ebendiesen Nervenelementen richten und alle ihre Variationen auszudrücken scheinen. Unsere Wahrnehmung im Reinzustand | würde so also wahrhaft Teil der Dinge sein. Und die Empfindung im eigentlichen Sinne, weit davon entfernt, spontan aus den Tiefen des Bewußtseins emporzuschießen, um sich dann, sich abschwächend, im Raum auszudehnen, fällt mit den notwendigen Modifikationen zusammen, denen inmitten der Bilder, die es beeinflussen, jenes besondere Bild unterliegt, das ein jeder von uns seinen Körper nennt. Dies ist die vereinfachte, schematische Theorie der äußeren Wahrnehmung, die wir angekündigt hatten. Es wäre die Theorie der reinen Wahrnehmung. Hielte man sie für definitiv, würde sich die Rolle unseres Bewußtseins in der Wahrnehmung darauf beschränken, mit dem kontinuierlichen Faden des Gedächtnisses eine ununterbrochene Reihe momenthafter Ansichten zu verknüpfen, die eher Teil der Dinge wären als Teil von uns. Daß unser Bewußtsein in der äußeren Wahrnehmung vor allem diese Rolle spielt, kann man im übrigen a priori aus der Definition der lebendigen Körper selbst ableiten. Denn wenn diese Körper das Ziel haben, Reize zu empfangen, um sie zu unvorhergesehenen Reaktionen zu verarbeiten, so darf die Wahl der Reaktion auch nicht dem Zufall überlassen bleiben. Diese Wahl wird ohne jeden Zweifel von den vergangenen Erfahrungen inspiriert, und die Reaktion vollzieht sich nicht, ohne daß man an die Erinnerung appelliert, die analoge Situationen hinter sich haben zurücklassen können. Die Indeterminiertheit der zu vollziehenden Akte erfordert also, um nicht zur reinen Willkür zu werden, den Erhalt der wahrgenommenen Bilder. Man könnte sagen, daß wir keinen Zugriff auf die Zukunft haben, ohne eine gleichrangige und entsprechende Perspektive auf die Vergangenheit, daß der Vorwärtsdrang unserer Tätigkeit hinter sich eine Leere entstehen
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läßt, in die die Erinnerungen einschießen, und daß so das Gedächtnis der Widerhall der Indeterminiertheit unseres Willens in der Sphäre der Erkenntnis ist. – Doch das Wirken des Gedächtnisses erstreckt sich noch viel weiter und viel tiefer, | als diese oberflächliche Untersuchung erraten ließe. Es ist der Moment gekommen, das Gedächtnis wieder in die Wahrnehmung einzugliedern, dadurch dasjenige zu korrigieren, was an unseren Schlüssen übertrieben sein mag, und auf diese Weise den Berührungspunkt zwischen dem Bewußtsein1 und den Dingen, zwischen dem Körper und dem Geist, präziser zu bestimmen. Sagen wir als erstes, daß, wenn man das Gedächtnis setzt, das heißt ein Überleben der vergangenen Bilder, sich diese Bilder beständig in unsere Wahrnehmung der Gegenwart mischen und sogar an ihre Stelle treten können. Denn sie erhalten sich nur, um sich nützlich zu machen: In jedem Augenblick ergänzen sie die gegenwärtige Erfahrung, indem sie sie durch die bereits erworbene Erfahrung bereichern; und da diese fortlaufend anwächst, wird sie die andere am Ende überdecken und überfluten. Es ist unbestreitbar, daß der Boden realer und sozusagen momenthafter Intuition2, auf dem sich unsere Wahrnehmung der Außenwelt entfaltet, im Vergleich zu dem, was unser Gedächtnis dort hinzufügt, ein Geringes ist. Eben gerade weil die Erinnerung vorheriger analoger Intuitionen nützlicher ist als die Intuition selbst, da sie in unserem Gedächtnis der gesamten Reihe darauffolgender Ereignisse verbunden ist und daher unsere Entscheidung besser erhellen kann, verdrängt sie die reale Intuition, deren Rolle dann – wir werden das später beweisen – nur noch darin besteht, In der dritten Ausgabe von Matière et mémoire (III) steht an dieser Stelle »Wissenschaft« (science) statt »Bewußtsein« (conscience), wir folgen hier der Rückkorrektur der kritischen und der Centenaire-Ausgabe auf den Wortlaut der ersten Ausgabe (I). [A. d. Ü.] 2 Zum Begriff der Intuition (intuition), seiner Bedeutung in M aterie und Gedächtnis und seiner Übersetzung siehe Nachwort d. Ü., S. 307 ff. [A. d. Ü.] 1
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die Erinnerung herbeizurufen, ihr einen Körper zu leihen und sie aktiv und dadurch aktuell werden zu lassen. Wir haben also zu Recht gesagt, daß das Zusammenfallen der Wahrnehmung mit dem wahrgenommenen Gegenstand eher de jure als de facto existiert. Man muß berücksichtigen, daß Wahrnehmen letzten Endes nur noch eine Gelegenheit ist, sich zu erinnern, daß wir praktisch den Grad der Realität am Grad der Nützlichkeit messen und daß wir letztlich jedes Interesse haben, jene unmittelbaren Intuitionen, die | im Kern mit der Realität selbst zusammenfallen, als bloße Zeichen des Realen hinzustellen. Doch hier entdecken wir den Irrtum derer, die in der Wahrnehmung eine äußere Projektion inextensiver Empfindungen sehen, die aus unseren eigenen Tiefen gezogen und dann im Raum entwickelt wurden. Es fällt ihnen nicht schwer, zu zeigen, daß unsere vollständige Wahrnehmung reich an Bildern ist, die uns persönlich gehören, an veräußerlichten (das heißt letztlich wiedererinnerten) Bildern; sie vergessen nur, daß ein unpersönlicher Boden bestehenbleibt, wo die Wahrnehmung mit dem wahrgenommenen Gegenstand zusammenfällt, und daß dieser Boden die Äußerlichkeit selbst ist. Der Hauptirrtum – jener, der, von der Psychologie zur Metaphysik aufsteigend, uns letzten Endes die Erkenntnis des Körpers ebenso wie jene des Geistes verschleiert – ist derjenige, der darin besteht, zwischen der reinen Wahrnehmung und der Erinne rung nur einen Intensitätsunterschied statt eines Wesensunterschieds zu sehen. Unsere Wahrnehmungen sind zweifellos von Erinnerungen durchtränkt, und umgekehrt wird eine Erinne rung, wie wir es später zeigen werden, nur wieder gegenwärtig, indem sie den Körper irgendeiner Wahrnehmung borgt, in die sie sich einfügt. Diese beiden Akte, Wahrnehmung und Erinnerung, durchdringen einander also stets und tauschen durch ein End osmosephänomen immer etwas von ihrer Substanz aus. Die Rolle des Psychologen bestünde darin, sie voneinander zu trennen und einer jeden von ihnen ihre natürliche Reinheit zurückzugeben: Auf diese Weise würden sich eine ganze Zahl von Schwierigkei-
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ten aufklären, die die Psychologie und vielleicht auch die Metaphysik aufwerfen. Doch nichts dergleichen. Man will, daß diese Mischzustände, die alle zu ungleichen Teilen aus reiner Wahrnehmung und reiner Erinnerung zusammengesetzt sind, einfache Zustände seien. Dadurch verdammt man sich dazu, nichts von der reinen Erinnerung noch von der reinen Wahrnehmung zu wissen, nur noch eine einzige Art von Phänomen zu kennen, das man mal Erinnerung, mal Wahrnehmung nennt, je nachdem welcher dieser beiden Aspekte in ihm überwiegt, und | folglich zwischen der Wahrnehmung und der Erinnerung nur einen Unterschied des Grades und nicht mehr des Wesens festzustellen. Wie wir im Einzelnen noch sehen werden, besteht der erste Effekt dieses Irrtums in einer tiefgreifenden Verunstaltung der Theorie des Gedächtnisses; denn indem man aus der Erinnerung eine schwächere Wahrnehmung macht, verkennt man den wesensmäßigen Unterschied, der die Vergangenheit von der Gegenwart trennt, und gibt es auf, die Phänomene des Wiedererkennens und allgemeiner den Mechanismus des Unbewußten zu verstehen. Umgekehrt jedoch und eben weil man aus der Erinnerung eine schwächere Wahrnehmung gemacht hat, wird man in der Wahrnehmung nur noch eine stärkere Erinnerung sehen können. Man wird so denken, als ob sie uns nach Art einer Erinnerung, wie ein innerer Zustand, wie eine schlichte Modifikation unserer Person gegeben wäre. Man wird den ursprünglichen und grundlegenden Akt der Wahrnehmung verkennen, jenen, der konstitutiv für die reine Wahrnehmung ist und durch den wir uns von vornherein in die Dinge versetzen. Und so prägt derselbe Irrtum, der in der Psychologie durch eine vollkommene Unfähigkeit, den Mechanismus des Gedächtnisses zu erklären, zum Ausdruck kommt, in der Metaphysik tiefgreifend die idealistische und die realistische Konzeption der Materie. Für den Realismus nämlich beruht die unwandelbare Ordnung der Naturerscheinungen auf einer von unseren Wahrnehmungen selbst unterschiedenen Ursache, sei es, daß diese Ursache un-
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erkennbar bleiben muß, sei es, daß wir sie durch einen (immer mehr oder weniger willkürlichen) Kraftakt metaphysischer Konstruktion erreichen könnten. Für den Idealisten hingegen sind diese Wahrnehmungen die ganze Realität, und die unwandelbare Ordnung der Naturerscheinungen ist nur das Symbol, durch das wir, neben den realen Wahrnehmungen, die möglichen Wahrnehmungen ausdrücken. Doch für den Realismus wie für den Idealismus sind die Wahrnehmungen »wahre Halluzinationen«, aus ihm heraus projizierte Zustände des Subjektes; und die beiden Lehren | unterscheiden sich schlicht darin, daß in einer von ihnen die Realität aus diesen Zuständen besteht, während diese in der anderen erst mit ihr zusammenfinden werden. Hinter dieser Illusion aber verbirgt sich noch eine weitere, die sich auf die Erkenntnistheorie im allgemeinen erstreckt. Das, was die materielle Welt konstituiert, sind, so sagten wir, Gegenstände, oder wenn man lieber will: Bilder, bei denen alle Teile durch Bewegungen aufeinander wirken und reagieren. Und das, was unsere reine Wahrnehmung konstituiert, ist, inmitten dieser Bilder selbst, unsere im Entstehen begriffene Handlung, die sich abzeichnet. Die Aktualität unserer Wahrnehmung besteht also in ihrer Aktivität, in den Bewegungen, in denen sie sich fortsetzt, und nicht in ihrer höheren Intensität: Die Vergangenheit ist nur Idee, die Gegenwart ist ideo-motorisch1. Doch ebendies will man partout nicht sehen, weil man die Wahrnehmung für eine Art kontemplative Betrachtung hält, weil man ihr immerfort einen rein spekulativen Zweck zuschreibt, weil man möchte, daß sie auf was weiß ich für eine interesselose Erkenntnis abzielt: als ob man sie, indem man sie von der Handlung isoliert und so ihre Verbindungen mit dem Wirklichen kappt, nicht zugleich 1 »Ideo-motorisch«
darf hier selbstverständlich nicht im Sinne des ohne Bindestrich geschriebenen, heute in der Psychologie verwendeten Begriffs verstanden werden, der direkt durch Vorstellungen ausgelöste, gleichsam reflexartige, d. h. ohne Beteiligung des Willens zustande kommende Handlungen bezeichnet (Carpenter-Effekt). [A. d. Ü.]
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unerklärlich und nutzlos werden ließe! Von da an aber ist jeder Unterschied zwischen der Wahrnehmung und der Erinnerung aufgehoben, denn die Vergangenheit ist ihrem Wesen nach das, was nicht mehr wirkt, und da man diesen Charakter der Vergangenheit verkennt, wird man unfähig, sie wirklich von der Gegenwart, das heißt dem Wirkenden, zu unterscheiden. Es kann also zwischen Wahrnehmung und Gedächtnis nur ein einfacher Gradunterschied bestehenbleiben, und ebensowenig in der einen wie im anderen wird das Subjekt aus sich selbst herausgelangen. Wenn wir hingegen den wahren Charakter der Wahrnehmung wiederherstellen; wenn wir die reine Wahrnehmung als ein System im Entstehen begriffener Handlungen aufweisen, das tief im Wirklichen verwurzelt ist, dann wird sich diese Wahrnehmung radikal von der Erinnerung unterscheiden; dann wird die Realität der Dinge nicht mehr konstruiert oder rekonstruiert sein, | sondern berührt, durchdrungen und erlebt; und das Problem, das zwischen Realismus und Idealismus in der Schwebe bleibt, wird, statt sich in metaphysischen Diskussionen endlos fortzupflanzen, durch die Intuition entschieden werden müssen. Doch werden wir uns damit auch in aller Deutlichkeit der Position gewahr, die es zwischen Idealismus und Realismus einzunehmen gilt, welche sich beide darauf beschränken, in der Materie nur eine durch den Geist ausgeführte Konstruktion oder Rekonstruktion zu sehen. Wenn wir nämlich das von uns gesetzte Prinzip, demzufolge die Subjektivität unserer Wahrnehmung insbesondere in dem Beitrag unseres Gedächtnisses bestünde, bis zu Ende verfolgen, so würden wir sagen, daß die Empfindungsqualitäten der Materie selbst an sich erkannt würden, von innen her, und nicht mehr von außen, wenn wir sie aus jenem besonderen Rhythmus der Dauer befreien könnten, der unser Bewußtsein charakterisiert. In der Tat nimmt unsere reine Wahrnehmung, ganz gleich wie schnell man sie ansetzt, ein gewisses Maß an Dauer ein, derart, daß unsere aufeinanderfolgenden Wahrnehmungen niemals reale Momente der Dinge sind, wie wir es bisher
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angenommen haben, sondern Momente unseres Bewußtseins. Die theoretische Rolle des Bewußtseins in der äußeren Wahrnehmung bestünde darin, sagten wir, mit dem kontinuierlichen Faden des Gedächtnisses momenthafte Ansichten des Wirklichen miteinander zu verknüpfen. Tatsächlich aber gibt es für uns nie Momenthaftes. Das, was wir mit diesem Namen bezeichnen, enthält schon eine Leistung unseres Gedächtnisses und folglich unseres Bewußtseins, das die beliebig zahlreichen Momente einer unendlich teilbaren Zeit sich ineinander erstrecken läßt, um sie in einer relativ einfachen Intuition erfassen zu können. Worin besteht nun aber genau der Unterschied zwischen der Materie, wie sie der strengste Realismus begreifen könnte, und der Wahrnehmung, die wir von ihr haben? Unsere Wahrnehmung liefert uns vom Universum eine Reihe | pittoresker, aber diskontinuierlicher Gemälde: Aus unserer aktuellen Wahrnehmung wüßten wir keine späteren Wahrnehmungen herzuleiten, da es in einem Gesamtzusammenhang von Empfindungsqualitäten nichts gibt, was die neuen Qualitäten, zu denen sie sich transformieren werden, vorhersehen ließe. Wogegen die Materie, wie der Realismus sie für gewöhnlich setzt, sich derart entwickelt, daß man auf dem Wege mathematischer Deduktion von einem Moment zum nächsten schreiten kann. Freilich vermag der Realismus zwischen dieser Materie und dieser Wahrnehmung keinen Berührungspunkt zu finden, weil er diese Materie zu homogenen Veränderungen im Raum entfaltet, wogegen er diese Wahrnehmung zu inextensiven Empfindungen in einem Bewußtsein zusammenzieht. Wenn aber unsere Hypothese gerechtfertigt ist, dann sieht man leicht, wo Wahrnehmung und Materie sich unterscheiden und wo sie miteinander zur Deckung kommen. Die qualitative Heterogenität unserer aufeinanderfolgenden Wahrnehmungen des Universums rührt daher, daß jede dieser Wahrnehmungen sich selbst über ein gewisses Maß an Dauer erstreckt; daher, daß das Gedächtnis darin eine ungeheure Vielheit von Schwingungen kondensiert, die uns so alle gemeinsam, wenngleich nacheinander, erschei-
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nen. Es würde genügen, dieses ungeteilte Maß an Zeit in Gedanken zu unterteilen, darin die gewünschte Vielheit von Momenten zu unterscheiden, mit einem Wort: jegliches Gedächtnis zu eliminieren, um von der Wahrnehmung zur Materie, vom Subjekt zum Objekt überzugehen. Dann würde die Materie, die immer homogener wird, je weiter sich unsere extensiven Empfindungen auf eine immer größere Anzahl von Momenten aufteilen, sich jenem System homogener Schwingungen, von dem der Realismus spricht, unendlich annähern, allerdings ohne je ganz mit ihnen zusammenzufallen. Es wäre also keineswegs nötig, auf der einen Seite den Raum mit nicht wahrgenommenen Bewegungen und auf der anderen Seite das Bewußtsein mit inextensiven Empfindungen zu setzen. Im Gegenteil, es wäre eine extensive Wahrnehmung, | in der sich Subjekt und Objekt zuerst vereinen würden, wobei der subjektive Aspekt der Wahrnehmung in der Kontraktion besteht, die das Gedächtnis vollzieht, und die objektive Realität der Materie mit den multiplen und aufeinanderfolgenden Schwingungen verschmilzt, in die sich diese Wahrnehmung innerlich zerlegt. Dies ist zumindest der Schluß, der sich, so hoffen wir, aus dem letzten Teil dieser Arbeit ergeben wird: Die auf Subjekt und Objekt, auf deren Unterscheidung und Vereinigung bezogenen Fragen müssen eher in Abhängigkeit von der Zeit als in Abhängigkeit vom Raum gestellt werden. Doch unsere Unterscheidung der »reinen Wahrnehmung« und des »reinen Gedächtnisses« hat noch ein anderes Ziel. Wenn uns die reine Wahrnehmung, indem sie uns Hinweise auf die Natur der Materie gibt, erlauben muß, zwischen Realismus und Idealismus Stellung zu beziehen, so wird das reine Gedächtnis, indem es uns eine Perspektive auf das eröffnet, was man den Geist nennt, seinerseits bei der Entscheidung zwischen jenen beiden anderen Lehren, dem Materialismus und dem Spiritualismus, den Ausschlag geben müssen. Es ist sogar dieser Aspekt der Frage, der uns in den beiden folgenden Kapiteln zuerst beschäftigen wird,
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weil es diese Seite ist, von der aus unsere Hypothese in gewisser Weise eine experimentelle Verifikation zuläßt. Man könnte in der Tat unsere Schlußfolgerungen über die reine Wahrnehmung zusammenfassen, indem man sagt, daß es in der Materie zwar mehr, aber nicht Andersartiges als das aktuell Gegebene gibt. Ohne Zweifel erreicht die bewußte Wahrnehmung nicht das Ganze der Materie, da sie als bewußte in der Trennung oder dem »Unterscheiden« dessen besteht, was in dieser Materie für unsere verschiedenen Bedürfnisse von Interesse ist. Doch zwischen dieser Wahrnehmung der Materie und der Materie selbst besteht nur ein Unterschied des Grades und nicht des Wesens, da die reine Wahrnehmung | zur Materie im Verhältnis des Teils zum Ganzen steht. Das heißt, daß die Materie keine Kräfte anderer Art auszuüben vermöchte als die, die wir in ihr wahrnehmen. Sie hat keine mysteriöse Kraft und vermöchte auch keine solche zu bergen. Um ein wohldefiniertes Beispiel zu nehmen, jenes, das uns im übrigen am meisten interessiert, wollen wir sagen, daß das Nervensystem, eine materielle Masse, die bestimmte Qualitäten der Farbe, des Widerstands, der Kohäsion etc. aufweist, vielleicht nicht wahrgenommene physische Eigenschaften besitzt, aber eben nur physische Eigenschaften. Und folglich kann seine Rolle nur darin bestehen, Bewegung aufzunehmen, zu hemmen oder weiterzuleiten. Nun besteht aber das Wesen eines jeden Materialismus darin, das Gegenteil hiervon zu vertreten, da er vorgibt, das Bewußtsein mit all seinen Funktionen allein aus dem Spiel der materiellen Elemente entstehen zu lassen. Dadurch wird er dazu geführt, schon die wahrgenommenen Qualitäten der Materie selbst, die Empfindungs- und folglich empfundenen Qualitäten, als lauter Phosphorscheine zu betrachten, die im Wahrnehmungsakt der Spur der Hirnphänomene folgen würden. Die Materie, in der Lage, diese elementaren Bewußtseinstatsachen zu erschaffen, würde dann ebensogut auch die erhabensten intellektuellen Vorgänge erzeugen. Es liegt also im Wesen des Materialismus, die
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vollkommene Relativität der Empfindungsqualitäten zu behaupten, und nicht ohne Grund erweist sich diese These, die Demokrit auf ihre exakte Formel brachte, als ebenso alt wie der Materialismus. Doch durch eine seltsame Verblendung ist der Spiritualismus dem Materialismus immer auf diesem Weg gefolgt. Im Glauben, den Geist um all das zu bereichern, was er der Materie nahm, hat er nie gezögert, diese Materie der Qualitäten zu berauben, die sie in unserer Wahrnehmung kleiden und die demzufolge nur lauter subjektiver Schein wären. Zu oft hat er so aus der Materie eine mysteriöse Entität gemacht, | die, eben gerade weil wir von ihr nur noch den eitlen Schein kennen, ebensogut die Phänomene des Denkens erzeugen könnte wie die übrigen. Die Wahrheit ist, daß es einen Weg, und zwar einen einzigen, gäbe, den Materialismus zu widerlegen: Man müßte erweisen, daß die Materie absolut genau so ist, wie sie zu sein scheint. Dadurch würde man jede Virtualität, jede verborgene Kraft aus der Materie eliminieren, und die Phänomene des Geistes hätten eine unabhängige Realität. Dafür jedoch müßte man der Materie jene Qualitäten lassen, die Materialisten und Spiritualisten in gegenseitigem Einvernehmen von ihr ablösen, diese, um daraus Vorstellungen des Geistes zu machen, jene, um darin nur die akzidentelle Verkleidung der Ausgedehntheit zu sehen. Genau dies ist die Haltung des gemeinen Menschenverstandes gegenüber der Materie, und darum glaubt der gemeine Menschenverstand an den Geist. Es schien uns, daß die Philosophie sich hier die Haltung des gemeinen Menschenverstandes zu eigen machen sollte, allerdings nicht ohne sie in einem Punkt zu korrigieren. Das Gedächtnis, das praktisch von der Wahrnehmung nicht zu trennen ist, schiebt die Vergangenheit in die Gegenwart hinein, zieht zudem vielfache Momente der Dauer in einer einzigen Intuition zusammen und ist so, durch dieses zweifache Vorgehen, die Ursache dafür, daß wir de facto die Materie in uns wahrnehmen, während wir sie de jure in ihr wahrnehmen.
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Daher die entscheidende Bedeutung des Problems des Gedächtnisses. Wenn es das Gedächtnis ist, das vor allem anderen der Wahrnehmung ihren subjektiven Charakter verleiht, dann muß die Philosophie der Materie, sagten wir, als erstes darauf abzielen, dessen Beitrag zu eliminieren. Wir würden jetzt hinzufügen: Da uns die reine Wahrnehmung das Ganze oder zumindest das Wesentliche der Materie gibt, da der Rest vom Gedächtnis kommt und nachträglich zur Materie hinzutritt, muß das Gedächtnis im Prinzip ein von der Materie absolut unabhängiges Vermögen sein. Wenn also der Geist eine Realität ist, | dann müssen wir ihn hier, im Phänomen des Gedächtnisses, im Experiment berühren können. Und folglich muß jeder Versuch, die reine Erinnerung aus einem Hirnvorgang herzuleiten, der Analyse eine grundlegende Täuschung offenbaren. Wir wollen dasselbe noch einmal in klarerer Form zum Ausdruck bringen. Wir behaupten, daß die Materie keinerlei geheime oder unerkennbare Macht hat, daß sie in dem, was ihr wesentlich ist, mit der reinen Wahrnehmung zusammenfällt. Daher schließen wir, daß der lebendige Körper im allgemeinen und das Nervensystem im besonderen nur Durchgangsorte für die Bewegungen sind, welche, in Form von Reizen aufgenommen, in Form von reflexmäßiger oder willensgesteuerter Handlung weitergegeben werden. Das bedeutet, man würde vergeblich der Hirnsubstanz die Eigenschaft zuschreiben, Vorstellungen zu erzeugen. Nun sind aber die Phänomene des Gedächtnisses, in denen wir den Geist in seiner greifbarsten Form zu erfassen behaupten, gerade jene, die eine oberflächliche Psychologie am liebsten allein aus der Hirntätigkeit hervorgehen lassen würde, eben weil sie sich am Berührungspunkt von Bewußtsein und Materie befinden, und selbst die Gegner des Materialismus meinen, es spräche nichts dagegen, das Gehirn wie einen Erinnerungsbehälter zu behandeln. Wenn sich aber effektiv nachweisen ließe, daß der Hirnprozeß nur einem sehr kleinen Teil des Gedächtnisses entspricht, daß er eher noch dessen Wirkung als seine Ursache ist und daß die Materie hier
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wie anderswo das Vehikel einer Handlung und nicht das Substrat einer Erkenntnis ist, dann fände sich die von uns vertretene These gerade an dem Beispiel belegt, das man als das für sie ungünstigste erachtet, und die Notwendigkeit, den Geist zur unabhängigen Realität zu erheben, würde sich aufzwingen. Doch eben dadurch würde sich vielleicht zum Teil die Natur dessen erhellen, was man den Geist nennt, sowie die Möglichkeit für Geist und Materie, aufeinander einzuwirken. Denn eine Beweisführung | dieser Art kann nicht rein negativ ausfallen. Nachdem wir aufgezeigt haben, was das Gedächtnis nicht ist, werden wir angehalten sein, zu untersuchen, was es ist. Nachdem wir dem Körper einzig die Funktion, Handlungen vorzubereiten, zugeschrieben haben, werden wir gezwungen sein, zu untersuchen, warum das Gedächtnis mit diesem Körper zusammenzuhängen scheint, wie körperliche Schädigungen es beeinflussen und in welchem Sinn es sich nach dem Zustand der Hirnsubstanz gestaltet. Es ist im übrigen unmöglich, daß wir durch diese Untersuchung nicht letzten Endes ebenso über den psychologischen Mechanismus des Gedächtnisses wie auch die verschiedenen Geistesoperationen, die damit verbunden sind, unterrichtet werden. Und umgekehrt wird, wenn unsere Hypothese ein gewisses Licht auf die Probleme der reinen Psychologie zu werfen scheint, dadurch die Hypothese selbst an Gewißheit und Stichhaltigkeit gewinnen. Doch müssen wir diese selbe Idee noch in einer dritten Form vorstellen, um deutlich zu machen, inwiefern das Problem des Gedächtnisses in unseren Augen ein privilegiertes Problem ist. Was aus unserer Analyse der reinen Wahrnehmung hervorgeht, sind zwei in gewisser Weise divergente Schlußfolgerungen, von denen die eine in Richtung der Psychophysiologie und die andere in Richtung der Metaphysik über die Psychologie hinausgeht und von denen folglich weder die eine noch die andere eine unmittelbare Verifikation zuläßt. Die erste betraf die Rolle des Gehirns in der Wahrnehmung: Das Gehirn wäre, ihr zufolge, ein Instrument der Handlung und nicht der Vorstellung. Wir können keine
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direkte Bestätigung dieser These durch die Fakten verlangen, da die reine Wahrnehmung sich per definitionem auf gegenwärtige Gegenstände richtet, durch die unsere Organe und unsere Nervenzentren aktiviert werden, und sich folglich alles so abspielt, als ob unsere Wahrnehmungen aus unserem Hirnzustand emanieren und dann auf einen Gegenstand projiziert würden, der von ihnen absolut verschieden ist. Mit anderen Worten: Im Fall der | äußeren Wahrnehmung führen die These, die wir bekämpft haben, und diejenige, durch die wir sie ersetzt haben, exakt zu denselben Konsequenzen, so daß man zugunsten der einen oder der anderen zwar ihre höhere Verständlichkeit ins Feld führen könnte, jedoch nicht die Autorität der Erfahrung. Eine empirische Untersuchung des Gedächtnisses hingegen kann und muß die Entscheidung zwischen ihnen herbeiführen. Die reine Erinnerung ist nämlich der Voraussetzung nach die Vorstellung eines abwesenden Gegenstandes. Hätte die Wahrnehmung ihre notwendige und hinreichende Ursache in einer bestimmten Hirntätigkeit, so würde diese selbe Hirntätigkeit, wenn sie sich in Abwesenheit des Gegenstandes mehr oder minder vollständig wiederholte, genügen um die Wahrnehmung zu reproduzieren: Das Gedächtnis ließe sich dann also vollständig durch das Gehirn erklären. Stellen wir hingegen fest, daß der Hirnmechanismus die Erinnerung in einer bestimmten Weise bedingt, jedoch keineswegs ausreicht, um deren Überleben zu sichern, daß er in der wiedererinnerten Wahrnehmung eher unsere Handlung als unsere Vorstellung betrifft, so könnte man daraus ableiten, daß er in der Wahrnehmung selbst eine analoge Rolle spielte und daß seine Funktion schlicht darin bestand, unser effizientes Einwirken auf den gegenwärtigen Gegenstand zu gewährleisten. Unsere erste Schlußfolgerung erwiese sich so als verifiziert. – Bliebe also jene zweite Schlußfolgerung eher metaphysischer Ordnung, daß wir in der reinen Wahrnehmung wahrhaftig aus uns heraus versetzt werden und darin folglich die Wirklichkeit des Gegenstandes in einer unmittelbaren Intuition berühren. Auch hier wiederum war
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eine experimentelle Verifikation unmöglich, da die praktischen Resultate absolut dieselben sein würden, sei die Wirklichkeit des Gegenstandes nun intuitiv1 wahrgenommen oder rational konstruiert. Doch auch hier wieder vermag eine Untersuchung der Erinnerung die Entscheidung zwischen beiden Hypothesen herbeizuführen. In der zweiten nämlich darf zwischen der Wahrnehmung und der Erinnerung nur ein Unterschied der Intensität, oder | allgemeiner: des Grades bestehen, da die eine wie die andere Vorstellungsphänomene wären, die sich selbst genügen. Wenn wir hingegen feststellen würden, daß zwischen der Erinnerung und der Wahrnehmung kein bloßer Gradunterschied, sondern ein radikaler Wesensunterschied besteht, so sprächen die Indizien für die Hypothese, die in der Wahrnehmung etwas mitspielen läßt, das zu keinem Grad in der Erinnerung existiert, eine intuitiv erfaßte Wirklichkeit. So ist das Problem des Gedächtnisses also wahrhaft ein privilegiertes Problem, insofern es zu der psychologischen Verifikation zweier Thesen führen muß, die unverifizierbar erscheinen und von denen die zweite, von eher metaphysischer Ordnung, einem unendlich weit über die Psychologie hinauszugehen schiene. Der Weg, den wir einzuschlagen haben, ist also schon klar vorgezeichnet. Wir werden damit beginnen, der Reihe nach jene Belege unterschiedlicher Art durchzugehen, die aus der normalen oder pathologischen Psychologie stammen und die einen glauben lassen könnten, man sei dazu berechtigt, aus ihnen eine physische Erklärung des Gedächtnisses zu ziehen. Diese Untersuchung wird notwendig äußerst gründlich und detailliert ausfallen, andernfalls liefe sie Gefahr, nutzlos zu sein. Die Tatsachen so eng wie möglich umreißend, müssen wir untersuchen, wo in den Operationen des Gedächtnisses die Rolle des Körpers beginnt 1
»Intuitiv« ist hier und in der Folge das Adjektiv zu Bergsons Begriff der Intuition und muß in diesem Sinne verstanden werden. Siehe dazu Nachwort d. Ü., S. 307 ff. [A. d. Ü.]
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und wo sie endet. Und falls wir bei dieser Untersuchung die Bestätigung unserer Hypothese finden, werden wir nicht zögern, weiter voranzuschreiten, die elementare Tätigkeit des Geistes an sich selbst in den Blick zu nehmen und auf diese Weise jene Theorie des Verhältnisses von Geist und Materie, die wir zuvor skizziert haben werden, zu vervollständigen. |
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Z W EI T E S K A PI T EL
Vom Wiedererkennen der Bilder. Das Gedächtnis und das Gehirn
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ir wollen sofort die Konsequenzen nennen, die sich aus unseren Prinzipien für die Theorie des Gedächtnisses ergeben würden. Wir sagten, daß der zwischen die Gegenstände, die auf ihn einwirken, und jene, die er beeinflußt, gestellte Körper nur ein Leiter ist, damit betraut, Bewegungen aufzufangen und sie, wenn er sie nicht aufhält, zu bestimmten motorischen Mechanismen weiterzuleiten, welche determiniert sind, wenn die Handlung reflexmäßig, und gewählt, wenn die Handlung willensgesteuert ist. Alles muß sich also so abspielen, als ob ein unabhängiges Gedächtnis die Bilder, während sie nach und nach auftreten, fortlaufend einsammeln würde und als ob unser Körper mit dem, was ihn umgibt, immer nur ein bestimmtes unter diesen Bildern wäre, das letzte, jenes, das wir in jedem Augenblick erhalten, indem wir einen momenthaften Schnitt vom Werden im allgemeinen anfertigen. In diesem Schnitt nimmt unser Körper das Zentrum ein. Die Dinge, die ihn umgeben, wirken auf ihn, und er reagiert auf sie. Seine Reaktionen sind mehr oder weniger komplex, mehr oder weniger variationenreich, je nach der Zahl und der Natur der Apparate, die die Erfahrung im Inneren seiner Substanz generiert hat. In Form motorischer Vorrichtungen also, und nur motorischer Vorrichtungen, kann er | das Wirken der Vergangenheit speichern. Woraus sich ergäbe, daß die vergangenen Bilder im eigentlichen Sinne sich auf andere Weise erhalten und daß wir folglich diese erste Hypothese formulieren müssen: I. Die Vergangenheit lebt in zwei verschiedenen Formen fort: 1. in motorischen Mechanismen; 2. in unabhängigen Erinnerungen. Dann aber muß sich das praktische und folglich übliche Vorgehen des Gedächtnisses, der Gebrauch der vergangenen Erfahrung
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für die gegenwärtige Handlung, kurz: das Wiedererkennen, auf zwei Weisen vollziehen. Mal wird es in der Handlung selbst geschehen, und zwar durch den ganz automatischen Einsatz des für die Umstände geeigneten Mechanismus; mal wird es eine Leistung des Geistes implizieren, der die Vorstellungen, die sich in die aktuelle Situation am besten einzufügen vermögen, aus der Vergangenheit holt, um sie auf die Gegenwart zu richten. Daher unsere zweite Annahme: II. Das Wiedererkennen eines gegenwärtigen Gegenstandes vollzieht sich durch Bewegungen, wenn es vom Gegenstand ausgeht, durch Vorstellungen, wenn es vom Subjekt ausgeht. Freilich stellt sich eine letzte Frage, diejenige, wie sich diese Vorstellungen erhalten und in welchem Verhältnis sie zu den motorischen Mechanismen stehen. Diese Frage wird erst in unserem nächsten Kapitel vertieft werden, wenn wir das Unbewußte behandelt und gezeigt haben, worin im Grunde die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart besteht. Doch schon von jetzt an können wir vom Körper als einer sich bewegenden Grenze zwischen Zukunft und Vergangenheit sprechen, einer beweglichen Spitze, die unsere Vergangenheit unaufhörlich in unsere Zukunft schöbe. Während mein Körper, wenn man ihn in einem einzigen Augenblick betrachtet, nur ein zwischen die Gegenstände, die ihn beeinflussen, und jene, auf die er einwirkt, gestellter Leiter ist, befindet er sich im Gegenzug, wenn man ihn wieder in die verfließende Zeit zurückversetzt, immer genau an dem Punkt, | in dem meine Vergangenheit in eine Handlung ausläuft. Und folglich schließen jene besonderen Bilder, die ich Hirnmechanismen nenne, stets die Reihe meiner vergangenen Vorstellungen ab, da sie der letzte Fortsatz sind, den diese Vorstellungen in die Gegenwart aussenden, ihr Verknüpfungspunkt mit dem Wirklichen, das heißt mit der Handlung. Kappt man diese Verknüpfung, so ist das vergangene Bild vielleicht nicht zerstört, doch nimmt man ihm jede Möglichkeit, auf das Reale einzuwir-
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ken und folglich, wie wir zeigen werden, real zu werden. In diesem Sinne, und nur in diesem Sinne, kann eine Schädigung des Gehirns etwas vom Gedächtnis tilgen. Daher unsere dritte und letzte Annahme: III. Man geht in unmerklichen Graden von in der Zeit angeordneten Erinnerungen zu den Bewegungen über, die deren im Entstehen begriffenes oder mögliches Wirken im Raum abzeichnen. Die Schädigungen des Gehirns können diese Bewegungen treffen, aber nicht jene Erinnerungen. Bleibt zu sehen, ob die Erfahrung diese drei Annahmen bestätigt.1 I. Die zwei Formen des Gedächtnisses. – Ich studiere eine Lektion, und um sie auswendig zu lernen, lese ich sie zuerst, jeden Vers skandierend, durch; dann wiederhole ich sie eine gewisse Anzahl von Malen. Mit jedem neuen Lesen vollzieht sich ein Fortschritt; die Wörter verbinden sich immer besser miteinander; zu guter Letzt strukturieren sie sich zu einem organischen Ganzen. Genau 1 Hier
endet die Einleitung des zweiten Kapitels; der folgende Text erschien zuerst in Form eines auf zwei Folgen der Revue philosophique (Bd. XLI, März 1896, S. 225–248 u. Bd. XLI, April 1896, S. 380–399) aufgeteilten Artikels mit dem Titel »Mémoire et reconnaissance«. Im folgenden sind die gegenüber dem späteren Text von Matière et mémoire abweichenden Passagen und Satzteile dieses Artikels in den Fußnoten als Varianten vermerkt. Kleinere inhaltlich wie sprachlich unbedeutende Abweichungen werden vernachlässigt. Die Artikelfassung ist mit RP sigliert. So lautet der Beginn des folgenden Absatzes in RP : »GEDÄCHTNIS UND WIEDER ER K ENNEN (mit der Fußnote: Auszug aus einem in Kürze im Verlag Alcan erscheinenden Buch). I. – Die zwei Formen des Gedächtnisses. Gewöhnlich werden unter dem Namen Gedächtnis zwei sehr verschiedene Funktionen miteinander vermischt, die sich in ihren sichtbaren Merkmalen unterscheiden und einander in ihrer innersten Natur zutiefst entgegengesetzt sind. Ich studiere eine Lektion …«. [A. d. Ü.]
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in diesem Moment weiß ich meine Lektion auswendig; man sagt dann, daß sie Erinnerung geworden ist, daß sie sich meinem Gedächtnis eingeprägt hat. Ich untersuche nun, wie die Lektion erlernt wurde, und vergegenwärtige mir die Phasen, die ich Zug um Zug durchlaufen habe. Jede der aufeinanderfolgenden Lektüren tritt dann mit der ihr eigenen Individualität wieder vor meinen Geist; ich sehe sie wieder, samt der Umstände, die sie begleiteten und die sie noch immer umrahmen; sie unterscheidet sich von denen, die vorausgehen, und denen, die folgen, | eben durch den Platz, den sie in der Zeit einnahm; kurz: Jede dieser Lektüren zieht vor mir vorüber wie ein ganz bestimmtes Ereignis meiner Geschichte. Man wird wiederum sagen, daß diese Bilder Erinnerungen sind, daß sie sich meinem Gedächtnis eingeprägt haben. Man wird in beiden Fällen dieselben Worte verwenden. Doch handelt es sich wirklich um dieselbe Sache? Die Erinnerung der Lektion als auswendig gelernter besitzt alle Merkmale einer Gewohnheit. Wie die Gewohnheit wird sie durch die Wiederholung einer selben Anstrengung erworben. Wie die Gewohnheit hat sie zunächst das Zerlegen und dann das Wiederzusammenfügen der Gesamthandlung erfordert. Wie jede gewohnte Übung des Körpers schließlich ist sie in einem Mechanismus gespeichert, der als Ganzer von einem Initialimpuls angestoßen wird, in einem geschlossenen System automatischer Bewegungen, die einander in derselben Ordnung folgen und dieselbe Zeit in Anspruch nehmen. Dagegen besitzt die Erinnerung an diese oder jene besondere Lektüre, die zweite oder dritte zum Beispiel, keines der Merkmale der Gewohnheit. Das Bild von ihr hat sich notwendig auf den ersten Schlag ins Gedächtnis eingeprägt, da die anderen Lektüren per definitionem andere Erinnerungen ausmachen. Es ist wie ein Ereignis meines Lebens: Es ist sein Wesen, ein Datum zu tragen und sich folglich nicht wiederholen zu können. Alles, was die späteren Lektüren dort hinzufügen würden, würde nur seine ursprüngliche Natur verfälschen; und wenn mir auch die
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Anstrengung, dieses Bild heraufzubeschwören, immer leichter wird, je öfter ich sie wiederhole, so war doch das Bild selbst, an sich betrachtet, notwendig schon von Anfang an, was es immer sein wird. Wird man sagen, daß diese zwei Erinnerungen, jene der Lektüre und jene der Lektion, sich nur hinsichtlich eines Mehr oder Weniger unterscheiden, daß die sukzessive durch jede Lektüre entwickelten Bilder sich | übereinander legen und daß die einmal erlernte Lektion nur das Verbundbild ist, das sich aus der Überlagerung aller anderen ergibt? Es ist unbestreitbar, daß jede der aufeinanderfolgenden Lektüren sich von der vorhergehenden vor allem darin unterscheidet, daß die Lektion besser gekonnt wird. Doch ist es ebenso gewiß, daß jede von ihnen, wenn man sie als eine immer erneute Lektüre betrachtet und nicht als eine immer besser erlernte Lektion, sich absolut selbst genügt, so, wie sie sich ereignet hat, bestehenbleibt und zusammen mit allen Begleitwahrnehmungen einen irreduziblen Moment meiner Geschichte darstellt. Man kann sogar noch weiter gehen und sagen, daß das Bewußtsein uns zwischen diesen beiden Erinnerungsarten einen tiefgehenden Unterschied offenbart, einen Wesensunterschied. Die Erinnerung dieser oder jener bestimmten Lektüre ist eine Vorstellung, und nur eine Vorstellung1; sie liegt in einer Intuition des Geistes, die ich nach Belieben verlängern oder abkürzen kann; ich weise ihr eine willkürliche Dauer zu: Nichts hindert mich daran, sie, wie in einem Gemälde, auf einen Schlag zu umfangen. Die Erinnerung der erlernten Lektion hingegen erfordert, selbst wenn ich mich darauf beschränke, diese Lektion innerlich zu wiederholen, eine ganz bestimmte Zeit, dieselbe, die nötig ist, um eine nach der anderen, sei es auch nur in der Phantasie, alle notwendigen Artikulationsbewegungen auszuführen: Es ist also nicht mehr eine Vorstellung2, sondern eine Handlung. Und tat1
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Vorstellung, und nur eine Vorstellung ] Bild und nur ein Bild RP. eine Vorstellung ] ein Bild RP.
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sächlich weist die einmal erlernte Lektion keinerlei Kennzeichen auf, das ihre Ursprünge verriete und sie in die Vergangenheit einordnen würde; sie ist ebenso Teil meiner Gegenwart wie meine Gewohnheit zu gehen oder zu schreiben; sie ist eher gelebt, eher »gehandelt« als vorgestellt – ich könnte sie für angeboren halten, wenn es mir nicht gefiele, gleichzeitig, als ebenso viele Vorstellungen1, die aufeinanderfolgenden Lektüren heraufzubeschwören, die mir dazu dienten, sie zu erlernen. Diese Vorstellungen2 sind also von ihr unabhängig, und so wie sie | der gekonnten und rezitierten Lektion vorausgegangen sind, so kann die einmal gekonnte Lektion sie auch entbehren. Führt man diese fundamentale Unterscheidung konsequent zu Ende, so könnte man sich zwei theoretisch voneinander unabhängige Gedächtnisse vorstellen. Das erste würde in Form von Er innerungsbildern3 alle Ereignisse unseres täglichen Lebens nach und nach, so wie sie ablaufen, speichern; es würde kein einziges Detail vernachlässigen; es würde jeder Tatsache, jeder Geste ihren Platz und ihr Datum belassen. Ohne Hintergedanken an Nützlichkeit oder praktische Anwendbarkeit würde es die Vergangenheit allein aufgrund einer Naturnotwendigkeit einlagern. Durch es würde das intelligente oder vielmehr intellektuelle Wiedererkennen einer schon einmal empfundenen Wahrnehmung möglich; zu ihm würden wir jedesmal Zuflucht nehmen, wenn wir, um dort ein bestimmtes Bild zu suchen, den Hang unseres vergangenen Lebens wieder hinaufklimmen. Doch alle Wahrnehmung setzt sich zu einer im Entstehen begriffenen Handlung fort; und während sich die einmal wahrgenommenen Bilder nacheinander in diesem Gedächtnis festsetzen und aneinanderreihen, modifizieren die Bewegungen, durch die sie weitergeführt wurden, den Organismus und erschaffen im Körper neue Handlungsdisposi1
Vorstellungen ] Bilder RP. Vorstellungen ] Bilder RP. 3 Erinnerungsbildern ] Bildern RP. 2
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tionen. So bildet sich eine Erfahrung ganz anderer Ordnung, die sich im Körper niederschlägt, eine Reihe vollständig generierter Mechanismen, mit immer zahlreicheren und vielfältigeren Reaktionen auf die äußeren Reize, mit vorgefertigten Erwiderungen auf eine unaufhörlich wachsende Anzahl möglicher Anfragen. Wir werden uns dieser Mechanismen in dem Moment bewußt, in dem sie zum Einsatz kommen, und dieses Bewußtsein einer gesamten Vergangenheit von Anstrengungen, die in der Gegenwart gespeichert ist, ist durchaus immer noch Gedächtnis, jedoch ein von dem ersten zutiefst verschiedenes Gedächtnis, immer auf die Handlung hin gespannt, in der Gegenwart sitzend und allein die Zukunft im Blick. Von der Vergangenheit hat es nur die intelligent koordinierten Bewegungen zurückbehalten, die deren | akkumulierte Anstrengungen darstellen; es findet diese vergangenen Anstrengungen nicht in Erinnerungsbildern1 wieder, welche sie wieder wachrufen, sondern in der strengen Ordnung und dem systematischen Charakter, mit denen die aktuellen Bewegungen sich vollziehen. Eigentlich stellt es uns unsere Vergangenheit nicht mehr vor, sondern vollzieht*2 sie erneut; und wenn es noch den Namen Gedächtnis verdient, dann nicht, weil es frühere Bilder bewahrt, sondern weil es deren nützlichen Effekt sich bis in den gegenwärtigen Moment hinein erstrecken läßt. Von diesen beiden Gedächtnissen, von denen das eine bildlich vorstellt und das andere wiederholt, kann das zweite das erste vertreten und oft sogar dessen Illusion erwecken. Wenn der Hund seinen Herrn mit freudigem Bellen und Liebkosungen begrüßt, so erkennt er ihn zweifellos wieder; impliziert aber dieses Wiedererkennen das Heraufbeschwören eines vergangenen Bildes und die Annäherung dieses Bildes an die gegenwärtige Wahrnehmung? Besteht es nicht vielmehr in dem Bewußtsein, das das Tier von 1
Erinnerungsbildern ] Bildern RP. Übersetzung dieser von Bergson oft verwendeten Metapher siehe S. 8, Anm. 1 und Nachwort d. Ü. S. 311 ff. [A. d. Ü.] 2 Zur
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einer gewissen von seinem Körper eingenommenen Haltung erlangt, einer Haltung, die sein vertrautes Verhältnis mit seinem Herren nach und nach in ihm herangebildet hat und die allein die Wahrnehmung seines Herrn jetzt mechanisch bei ihm hervorruft? Doch gehen wir nicht zu weit! Selbst beim Tier überlagern vielleicht vage Bilder der Vergangenheit die gegenwärtige Wahrnehmung; es wäre sogar denkbar, daß seine gesamte Vergangenheit sich virtuell in seinem Bewußtsein abzeichnen würde; doch diese Vergangenheit interessiert es nicht genug, um es von der Gegenwart loszureißen, von der es fasziniert ist; und sein Wiedererkennen muß eher gelebt als gedacht sein. Um die Vergangenheit in Form eines Bildes heraufzubeschwören, muß man sich von der gegenwärtigen Handlung lösen können, muß man dem Nutzlosen Wert zumessen können, muß man träumen wollen. Allein der Mensch ist vielleicht zu einer Anstrengung dieser Art imstande. Und selbst dann noch ist die Vergangenheit, in die wir so zurückklimmen, rutschig, immer kurz davor, uns zu entgleiten, als | ob diesem regressiven Gedächtnis das andere, natürlichere Gedächtnis entgegenwirkte, dessen Vorwärtsbewegung uns zum Handeln und zum Leben bringt. Wenn die Psychologen von der Erinnerung wie von einem eingeschliffenen Kniff1 sprechen, wie von einem Eindruck, der sich, französische pli, das man wörtlich mit ›Falte‹, ›Knick‹, ›Kniff‹ oder ›Knitter‹ übersetzen kann, wird schon sehr früh im übertragenen Sinne verwendet (bereits 1606 im Trésor de la langue françoise von Jean Nicot verzeichnet) und meint dann eine ›Gewohnheit‹ oder ›Verhaltensweise‹ (in der modernen Sprache auch ›Tick‹), die man sich durch stetige Wiederholung über eine gewisse Zeit angeeignet hat und die nun so ›eingeschliffen‹ ist, daß man sie nicht mehr loszuwerden vermag. Hinter diesem übertragenen Sinn steht das Bild eines gefalteten Stücks Stoff, das, wenn es lange gefaltet gelagert wird, diese Falten irgendwann »für immer bewahren und nie mehr verlieren wird« (Nicot, a. a. O., Eintrag »pli«). Die kritische Ausgabe verweist hier auf Descartes, der ebendieses Bild in einem Brief an Pater [Mesland] vom [2. Mai 1644?] (Œuvres de Descartes, Correspondance IV, hg. Charles Adam u. Paul Tannery, 1 Das
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indem er sich wiederholt, immer tiefer und tiefer eingräbt, dann vergessen sie, daß die unermeßliche Mehrheit unserer Erinnerungen die Ereignisse und Einzelheiten unseres Lebens zum Gegenstand hat, deren Wesen darin besteht, ein Datum zu haben und folglich sich niemals zu reproduzieren. Die Erinnerungen, die man absichtlich durch Wiederholung erwirbt, sind selten und bilden die Ausnahme. Die durch das Gedächtnis geschehende Abspeicherung von Tatsachen und Bildern, die einzig in ihrer Art sind, setzt sich dagegen in jedem Moment der Dauer beständig fort. Doch da die erlernten Erinnerungen die nützlichsten sind, schenkt man ihnen mehr Beachtung. Und da der Erwerb dieser Erinnerungen durch die Wiederholung derselben Anstrengung dem bereits von der Gewohnheit bekannten Prozeß ähnelt, möchte man lieber diese Art der Erinnerung in den Vordergrund rücken, sie zur Mustererinnerung erheben und in der spontanen Erinnerung nur noch dieses selbe Phänomen im Entstehungszustand sehen, den Beginn einer auswendiggelernten Lektion. Wie aber sollte man nicht einsehen, daß der Unterschied zwischen dem, was sich durch Wiederholung bilden muß, und dem, was sich vom Wesen her nicht wiederholen kann, radikal ist? Die spontane Erinnerung ist sofort perfekt; die Zeit wird ihrem Bild nichts hinzufügen können, ohne es zu verfälschen; sie wird für das Gedächtnis ihren Platz und ihr Datum behalten. Die erlernte Erinnerung hingegen wird um so weiter aus der Zeit heraustreten, je besser die Lektion gekonnt wird; sie wird immer unperParis 1989, S. 114 f.) in bezug auf die Erinnerung verwendet: »Was das Gedächtnis anbelangt, so glaube ich, daß jenes der materiellen Dinge auf Spuren beruht, die im Gehirn verbleiben, nachdem das Bild dort eingeprägt wurde«. Wobei »die Spuren des Gehirns dieses in die Lage versetzen, die Seele zu bewegen, so wie es sie zuvor bewegt hatte, und auf diese Weise sie etwas erinnern zu lassen; genauso wie die Falten in einem Blatt Papier oder in einem Stück Stoff bewirken, daß es künftig besser geeignet ist, auf diese Weise gefaltet zu werden, als wenn es noch niemals so gefaltet worden wäre.« [A. d. Ü.]
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sönlicher werden, unserem vergangenen Leben immer fremder. Die Wiederholung hat also keineswegs den Effekt, die erste in die zweite zu verwandeln; ihre Rolle besteht lediglich darin, jene Bewegungen, durch die | sich die erste fortführt, immer stärker zu nutzen, um sie miteinander zu organisieren und, indem sie einen Mechanismus generiert, eine Gewohnheit des Körpers zu erschaffen. Diese Gewohnheit ist im übrigen nur deshalb Erinne rung, weil ich mich erinnere, sie erworben zu haben; und ich erinnere mich nur, sie erworben zu haben, weil ich an das spontane Gedächtnis appelliere, jenes, das die Ereignisse datiert und sie nur einmal abspeichert. Von den beiden Gedächtnissen, die wir soeben unterschieden haben, scheint also durchaus das erste das Gedächtnis par excellence zu sein. Das zweite, jenes, das die Psychologen gewöhnlich studieren, ist viel eher die durch das Gedächtnis erhellte Gewohnheit als das Gedächtnis selbst. Freilich ist das Beispiel einer auswendig gelernten Lektion ein ziemlich künstliches. Gleichwohl verläuft unsere Existenz inmitten von Gegenständen begrenzter Zahl, die mehr oder weniger oft erneut vor uns vorüberziehen: Jeder von ihnen ruft, während er wahrgenommen wird, zugleich auf unserer Seite zumindest im Entstehen begriffene Bewegungen hervor, durch die wir uns ihm anpassen. Diese Bewegungen erschaffen, indem sie sich wiederholen, einen Mechanismus, gehen in den Zustand der Gewohnheit über und führen bei uns zu Haltungen, die automatisch auf unsere Wahrnehmung der Dinge folgen. Unser Nervensystem, sagten wir, sei1 kaum zu einem anderen Gebrauch bestimmt. Die afferenten Nerven überbringen dem Gehirn einen Reiz, der, nachdem er seinen Weg intelligent 2 gewählt hat, zu motorischen Mechanismen weitergeleitet wird, die durch die Wiederholung erschaffen wurden. So entsteht die angemessene Reaktion, das Gleichgewicht mit dem Umfeld, mit einem Wort: die Anpassung, 1 2
Nervensystem, sagten wir, sei ] Nervensystem scheint RP. Weg intelligent ] Weg dort intelligent RP.
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die das generelle Ziel des Lebens ist. Und ein Lebewesen, das sich damit begnügen würde zu leben, bräuchte nichts anderes. Doch während sich dieser Prozeß von Wahrnehmung und Anpassung fortsetzt, der mit der Abspeicherung der Vergangenheit in Form von motorischen Gewohnheiten endet, behält das Bewußtsein, wie wir sehen werden, zugleich1 das Bild der Situationen zurück, die es Zug um Zug durchlaufen hat, | und reiht sie in der Reihenfolge, in der sie aufeinanderfolgten, auf. Wozu werden diese Erinnerungsbilder2 dienen? Werden sie nicht, wenn sie sich im Gedächtnis erhalten und sich im Bewußtsein reproduzieren, den praktischen Charakter des Lebens vergällen, indem sie den Traum in die Wirklichkeit mengen? Das wäre zweifellos der Fall, wenn unser aktuelles Bewußtsein, 3 ein Bewußtsein, das eben gerade die exakte Anpassung unseres Nervensystems4 an die gegenwärtige Situation widerspiegelt, nicht all jene dieser vergangenen Bilder beiseite schöbe, die sich nicht mit der aktuellen Wahrnehmung koordinieren lassen und mit dieser keinen nützlichen Gesamtzusammenhang bilden können. Allerhöchstens überlappen einige verschwommene Erinnerungen ohne Bezug zur gegenwärtigen Situation die nutzbringend assoziierten Bilder und zeichnen um diese einen weniger hellen Saum, der sich in einer unermeß lichen Dunkelzone verliert. Wenn sich aber irgendein Zwischenfall ereignet, der das vom Gehirn aufrechterhaltene Gleichgewicht zwischen dem äußeren Reiz und der motorischen Reaktion stört, wenn für einen Moment die Spannung der Fäden nachläßt, die von der Peripherie über das Zentrum wieder zur Peri pherie verlaufen, dann drängen sogleich die verdunkelten Bilder ans volle Licht: Dieser letzte Umstand tritt zweifellos im Schlaf 1
RP.
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Bewußtsein, wie wir sehen werden, zugleich ] Bewußtsein zugleich
Erinnerungsbilder ] Bilder RP. unser aktuelles Bewußtsein, ] das aktuelle Bewußtsein, das wir von unserem Nervensystem haben, RP. 4 unseres Nervensystems ] dieses Systems RP. 3
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ein, wenn man träumt. Von den beiden Gedächtnissen, die wir unterschieden haben, muß das zweite, das aktiv oder motorisch ist, beständig das erste unterdrücken oder zumindest von ihm nur das akzeptieren, was die gegenwärtige Situation nutzbringend erhellen und ergänzen kann: Daraus leiten sich die1 Gesetze der Ideenassoziation ab. – Doch unabhängig von den Diensten, die sie durch ihre Assoziation mit einer gegenwärtigen Wahrnehmung leisten können, haben die vom spontanen Gedächtnis eingelagerten Bilder noch eine andere Verwendung. Zweifellos sind es Traumbilder; zweifellos erscheinen und verschwinden sie gewöhnlich unabhängig von unserem Willen; und eben darum sind wir gezwungen, | eine Sache, die wir wirklich wissen und zu unserer Verfügung haben wollen, auswendig zu lernen, das heißt, das spontane Bild durch einen motorischen Mechanismus zu ersetzen, der in der Lage ist, es zu vertreten. Es gibt aber eine gewisse Anstrengung sui generis, die uns erlaubt, das Bild selbst für eine begrenzte Zeit unter dem Blick unseres Bewußtseins zu behalten; und dank dieser Fähigkeit brauchen wir, um die es begleitenden Bewegungen zu einer Gewohnheit zu organisieren, nicht die gelegentliche Wiederholung derselben Situationen vom Zufall zu erhoffen; wir bedienen uns des flüchtigen Bildes, um einen stabilen Mechanismus zu konstruieren, der dieses ersetzt. – Entweder also ist letztendlich unsere Unterscheidung von zwei Gedächtnissen nicht fundiert, oder wir müssen, wenn sie den Tatsachen entspricht, in der Mehrzahl der Fälle, in denen das sensomotorische Gleichgewicht des Nervensystems gestört ist, einen Überschwang des spontanen Gedächtnisses feststellen und dagegen im Normalzustand eine Unterdrückung aller spontanen Erinnerungen, die das gegenwärtige Gleichgewicht nicht nutzbringend zu festigen vermögen, kurz: in dem Vorgang, durch welchen man die Gewohnheits-Erinnerung erwirbt, die latente Beteiligung der BildErinnerung. Bestätigen die Tatsachen diese Hypothese? 1
sich die ] sich, wie wir sehen werden, die RP.
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Wir werden für den Moment weder auf den ersten noch auf den zweiten Punkt näher eingehen: Wir hoffen, diese vollständig ans Licht zu bringen, wenn wir die Störungen des Gedächtnisses und die Gesetze der Ideenassoziation studieren werden. Beschränken wir uns darauf, hinsichtlich der erlernten Dinge zu zeigen, wie die beiden Gedächtnisse hier Seite an Seite laufen und sich gegenseitig stützen. Daß die ins motorische Gedächtnis eingeschärften Lektionen sich automatisch wiederholen, ist das, was die tägliche Erfahrung zeigt; die Beobachtung pathologischer Fälle jedoch erweist, daß der Automatismus sich hier sehr viel weiter erstreckt, als wir denken. Man hat Demente | auf eine Reihe von Fragen, die sie nicht verstanden, intelligente Antworten geben sehen: Die Sprache funktionierte bei ihnen in der Art eines Reflexes.1 Aphasiker, die unfähig sind, spontan ein Wort auszusprechen, erinnern fehlerfrei die Worte eines Lieds, wenn sie es singen.2 Oder sie würden auch flüssig ein Gebet, die Reihe der Zahlen, der Wochentage oder der Monate des Jahres aufsagen.3 So können Mechanismen von extremer Komplexität, die ausgeklügelt genug sind, um die Intelligenz zu imitieren, wenn sie einmal konstruiert sind, von sich aus funktionieren und folglich normalerweise dem bloßen Initialimpuls des Willens gehorchen. Was aber geschieht, während wir sie konstruieren? Wenn wir uns zum Beispiel darin üben, eine Lektion zu erlernen, würde dann das visuelle oder auditive Bild, das wir durch Bewegungen wieder zusammenzuf ügen suchen, nicht schon in unserem Geist sein, unsichtbar4 und geRobertson, Reflex Speech (Journal of mental Science, April 1888). Vgl. den Artikel von Ch. Féré, Le langage réflexe (Revue philosophique, Januar 1896). [In RP folgt hier noch eine weitere Literaturangabe: »… Hughlings Jackson, On affections of Speech (Brain, 1878–9).« A. d. Ü.] 2 Oppenheim, Ueber das Verhalten der musikalischen Ausdrucks bewegungen bei Aphatischen (Charité Annalen, XIII, 1888, S. 348 ff.). 3 Ibid. S. 365. 4 Wenn man den Kontext und die folgende Analyse betrachtet, könnte hier die Lesart »unteilbar« sinnvoller erscheinen, und da die 1
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genwärtig? Schon von der ersten Rezitation an erkennen wir an einem vagen Gefühl des Unbehagens den oder den Fehler, den wir soeben gemacht haben, als ob wir aus den dunklen Tiefen des Bewußtseins eine Art Warnhinweis erhielten.1 Wenn man sich nun also auf das konzentriert, was man empfindet, dann wird man spüren, daß das vollständige Bild da ist, jedoch flüchtig, ein wahres Phantom, das in dem Moment zerrinnt, in dem unsere motorische Aktivität seine Umrisse fixieren will. Im Verlauf neuerer Experimente, die im übrigen mit einer ganz anderen Zielsetzung unternommen wurden,2 erklärten die Versuchspersonen eben gerade, einen Eindruck dieser Art empfunden zu haben. | Man ließ vor ihren Augen während einiger Sekunden eine Reihe von Buchstaben erscheinen und bat sie, sich diese zu merken. Doch um sie daran zu hindern, die erblickten Buchstaben durch geeignete Artikulationsbewegungen zu untermalen, verlangte man von ihnen, daß sie, während sie das Bild betrachteten, fortlaufend eine bestimmte Silbe wiederholten. Daraus ergab sich ein eigentümlicher psychologischer Zustand, in dem die Versuchspersonen sich im vollständigen Besitz des visuellen Bildes fühlten, »ohne jedoch im beabsichtigten Augenblick den geringsten Teil davon reproduzieren zu können: Zu ihrer großen Überraschung verschwand die Zeile«. Nach dem, was einer von ihnen sagte, »war die Grundlage des Phänomens eine Gesamtvorstellung, eine Art das Ganze umfassende komplexe Idee, in der die Teile eine auf nicht ausdrückbare Weise gespürte Einheit aufwiesen«3. französischen Worte invisible (»unsichtbar«) und indivisible (»unteilbar«) leicht verwechselbar sind, könnte es sich an dieser Stelle um einen Druck- oder Transkriptionsfehler im französischen Original handeln. [A. d. Ü.] 1 Siehe zu diesem Fehlergefühl den Artikel von Müller und Schumann, Experimentelle Beiträge zur Untersuchung des Gedächtnisses (Zeitschr. f. Psych. u. Phys. der Sinnesorgane, Dezember 1893, S. 305). 2 W. G. Smith, The relation of attention to memory (Mind, Januar 1895). 3 »According to one observer, the basis was a Gesammtvorstellung,
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Diese spontane Erinnerung, die sich zweifellos hinter der erworbenen Erinnerung verbirgt, kann sich in jähen Blitzen offenbaren: Doch sie entzieht sich bei der leisesten Regung des willensgesteuerten Gedächtnisses. Wenn die Versuchsperson die Reihe der Buchstaben verschwinden sieht, deren Bild sie behalten zu haben glaubte, so geschieht dies vor allem, während sie beginnt, sie zu wiederholen: »Diese Anstrengung scheint den Rest des Bildes aus dem Bewußtsein zu stoßen«.1 Wenn man nun die Imaginationsverfahren der Mnemotechnik analysiert, wird man sehen, daß diese Wissenschaft eben gerade zum Ziel hat, | die spontane Erinnerung, die sich verbirgt, in den Vordergrund zu holen und sie, wie eine aktive Erinnerung, zu unserer freien Verfügung zu stellen: Dafür unterdrückt man zuerst jede Anwandlung des handelnden oder motorischen Gedächtnisses. Die Fähigkeit mentaler Photographie, sagt ein Autor, 2 kommt eher dem Unterbewußtsein zu als dem Bewußtsein; sie gehorcht schwerlich dem Ruf des Willens. Um sie auszuüben, müßte man sich daran gewöhnen, zum Beispiel mehrere Gruppen von Punkten auf einen Schlag zu a sort of all embracing complex idea in which the parts have an indefinitely felt unity« (Smith, im bereits zitierten Artikel, S. 73). 1 Könnte es nicht etwas derselben Art sein, das sich bei jener Erkrankung, die die deutschen Autoren Dyslexie genannt haben, abspielt? Der Kranke liest die ersten Worte eines Satzes korrekt und hält dann jäh inne, unfähig fortzufahren, als ob die Artikulationsbewegungen die Erinnerungen blockiert hätten. [In RP steht hier statt »Erinnerungen« »Bilder«. A. d. Ü.] Siehe zur Dyslexie: Berlin, Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie), Wiesbaden 1887, und Sommer, Die Dyslexie als functionelle Störung (Arch. f. Psychiatrie, 1893). In die Nähe dieser Phänomene würden wir auch noch die so einzigartigen Fälle der Worttaubheit rücken, in denen der Kranke die Rede eines anderen versteht, jedoch nicht mehr seine eigene. (Siehe die von Bateman, On Aphasia, S. 200; Bernard, De l’aphasie, Paris 1889, S. 143 und 144; und Broadbent, A case of peculiar affection of speech, Brain, 1878–9, S. 484 ff., zitierten Beispiele.) 2 Mortimer Granville, Ways of remembering (Lancet, 27. September 1879, S. 458).
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behalten, ohne auch nur daran zu denken, sie zu zählen:1 Man muß gewissermaßen die Momenthaftigkeit dieses Gedächtnisses imitieren, damit es einem gelingt, es zu beherrschen2. Selbst dann bleibt es immer noch sprunghaft in seinen Manifestationen, und da die Erinnerungen, die es vorbringt, etwas vom Traum haben, führt ihr regelmäßigeres Eindringen in das Geistesleben nur selten nicht zu einer tiefgreifenden Störung des intellektuellen Gleichgewichts. Was dieses Gedächtnis ist, woher es stammt und wie es vorgeht, wird unser nächstes Kapitel zeigen.3 Eine schematische4 Konzeption wird vorläufig genügen. Sagen wir also, um das Vorangegangene zusammenzufassen, daß die Vergangenheit sich durchaus, so wie wir es vorhergesehen hatten, unter diesen zwei Extremformen einzulagern scheint:5 auf der einen Seite die motorischen Mechanismen, die sie nutzen, auf der anderen die persönlichen Erinnerungsbilder6, die all ihre Ereignisse mit ihren Konturen, ihrer Farbe und ihrem Platz in der Zeit abbilden. Von diesen zwei Gedächtnissen ist das erste wahrhaft in der Richtung der Kay, Memory and how to Improve it, New York 1888. kritische Ausgabe verzeichnet hier eine Rückkorrektur vom Text der dritten Ausgabe von Matière et mémoire (III) auf den der ersten (I). Statt »damit es einem gelingt, es zu beherrschen« (arriver à la discipliner) steht in der dritten Ausgabe: »damit man zur Beherrschung gelangt« (arriver à la discipline). In der Centenaire-Ausgabe ist an dieser Stelle keine Variante verzeichnet, was unter Umständen daran liegen könnte, daß die Abweichung als schlichter Druckfehler gewertet und stillschweigend korrigiert wurde. Eindeutige Druckfehler an anderen Stellen der dritten Ausgabe wurden in der Centenaire-Ausgabe stillschweigend korrigiert und in der kritischen Ausgabe ebenfalls nicht als Abweichungen vermerkt. [A. d. Ü.] 3 wird unser nächstes Kapitel zeigen. ] wird der Fortgang dieses Buches zeigen. RP. 4 schematische ] vereinfachte, schematische RP. 5 daß die … einzulagern scheint: ] daß die Vergangenheit sich unter diesen zwei Extremformen in uns einzulagern scheint: RP. 6 Erinnerungsbilder ] Bilder RP. 1
2 Die
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atur orientiert; das zweite würde, sich selbst überlassen, eher in N die entgegengesetzte Richtung gehen. Das erste, durch Anstrengung erworbene, bleibt in Abhängigkeit von unserem Willen; das zweite, gänzlich spontane, zeigt ebensoviel Sprunghaftigkeit bei der Reproduktion wie Treue beim Erhalten. Der einzige regel mäßige und zuverlässige Dienst, | den das zweite dem ersten erweisen kann, ist, ihm die Bilder dessen zu zeigen, was Situationen, die der gegenwärtigen analog sind, vorausging oder folgte, um seine Wahl zu erhellen: darin besteht die Ideenassoziation. Es gibt keinen einzigen anderen Fall, in dem das Gedächtnis, das wiedersieht, dem Gedächtnis, das wiederholt, regelmäßig gehorcht. Überall sonst konstruieren wir lieber einen Mechanismus, der uns erlaubt, das Bild bei Bedarf aufs neue zu zeichnen, weil wir sehr wohl spüren, daß wir nicht auf sein Wiedererscheinen zählen können. So sehen, jede im Reinzustand betrachtet, die beiden Extremformen des Gedächtnisses aus.1 Es2 sei gleich gesagt: Eben weil man sich an die Zwischen- und gewissermaßen unreinen Formen hielt, hat man die wahre Natur der Erinnerung verkannt.3 Anstatt zuerst die beiden Elemente, Erinnerungsbild4 und Bewegung, voneinander zu trennen, um 1
So sehen … aus. ] Doch wir haben diese beiden Extremformen des Gedächtnisses hinreichend voneinander unterschieden. Nun wollen wir sie aufeinander zugehen lassen und die Zwischenformen betrachten, die aus ihrer Vereinigung geboren werden. RP. 2 In RP beginnt hier der der zweite Abschnitt des Artikels unter der Überschrift: »II. – Vom Wiedererkennen im allgemeinen«. [A. d. Ü.] 3 Eben weil … verkannt. ] Eben weil man sich an diese Zwischenformen der Erinnerung hielt, hat man das Problem des Gedächtnisses in unentwirrbare Schwierigkeiten verwickelt. RP. 4 Anstelle von »Erinnerungsbild« steht in RP »bewußtes Bild« (image consciente). Die kritische Ausgabe wie auch die Centenaire-Ausgabe vermerken »Bewußtseinsbild« (image-conscience), dies stimmt jedoch nicht mit dem in der Revue philosophique abgedruckten Text des Artikels überein. [A. d. Ü.]
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dann zu untersuchen, durch welche Reihe von Operationen es ihnen schließlich gelingt, etwas von ihrer ursprünglichen Reinheit aufgebend, ineinander einzufließen, betrachtet man nur das Mischphänomen, das sich durch ihr Zusammenwachsen ergibt. Dieses Phänomen zeigt als Mischphänomen auf der einen Seite das Erscheinungsbild einer motorischen Gewohnheit, auf der anderen dasjenige eines mehr oder weniger bewußt lokalisierten Bildes. Man will aber, daß es ein einfaches Phänomen sei. Also wird man annehmen müssen, daß der Mechanismus des Gehirns, des Rückenmarks oder des verlängerten Rückenmarks, der der motorischen Gewohnheit als Grundlage dient, gleichzeitig das Substrat des bewußten Bildes ist. Daher die seltsame Hypothese von im Gehirn eingelagerten Erinnerungen,1 die durch ein wahres Wunder bewußt würden und uns durch einen geheimnisvollen Prozeß in die Vergangenheit zurückbrächten. Einige freilich heften sich mehr an den bewußten Aspekt des Vorgangs und möchten darin etwas anderes als ein Epiphänomen sehen. | Da sie jedoch nicht damit begonnen haben, jenes Gedächtnis, das die aufeinanderfolgenden Wiederholungen in Form von Erinnerungsbildern2 behält und aneinanderreiht, zu isolieren, da sie es mit der Gewohnheit verwechseln, die durch Übung perfektioniert wird, werden sie dazu gebracht, zu glauben, daß der Effekt der Wiederholung ein und dasselbe unteilbare Phänomen betrifft, welches sich schlicht verstärken würde, indem es sich wiederholt: Und da dieses Phänomen sichtlich damit endet, lediglich eine motorische Gewohnheit zu sein und einem zerebralen oder sonstigen Mechanismus zu entsprechen, werden sie wohl oder übel annehmen müssen, daß ein Mechanismus dieser Art schon von Anfang an dem Bild zugrunde lag und daß das Gehirn ein Vorstellungsorgan ist. Wir werden diese Zwischenzustände in 1
Daher … Erinnerungen, ] Daher die metaphysische Hypothese von im Gehirn eingelagerten Bildern, RP. 2 Erinnerungsbildern, ] lokalisierten Bildern RP.
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den Blick nehmen und in jedem von ihnen dem Anteil der im Entstehen begriffenen Handlung, das heißt des Gehirns, und dem Anteil des unabhängigen Gedächtnisses, das heißt der Erinnerungsbilder, Rechnung tragen. Welcher Art sind diese Zustände? In gewisser Hinsicht motorisch müssen sie, gemäß unserer Hypothese, eine aktuelle Wahrnehmung fortführen; doch andererseits reproduzieren sie als Bilder vergangene Wahrnehmungen. Nun aber ist der konkrete Akt, durch den wir die Vergangenheit in der Gegenwart erneut erfassen, das Wiedererkennen. Also ist es das Wiedererkennen, das wir untersuchen müssen. II. Vom Wiedererkennen im allgemeinen: Erinnerungsbilder und Bewegungen. – Es gibt zwei übliche Weisen, das Gefühl des »déjà vu« zu erklären. Für die einen1 besteht das Wiedererkennen einer gegenwärtigen Wahrnehmung darin, sie in Gedanken in eine frühere Umgebung zu versetzen. Ich treffe eine Person zum ersten Mal: ich nehme sie einfach wahr. Wenn ich ihr erneut begegne, erkenne ich sie wieder, in dem Sinne, daß die Be1
Bild zugrunde lag … Für die einen ] Bild zugrunde lag. Sie fallen so in eine metaphysische Schwierigkeit zurück, die wir für unlösbar halten und die wir zu vermeiden hoffen. Doch das ist im Augenblick nicht die Frage. Wir behaupten, daß man, schon um die Schwierigkeiten rein psychologischer Ordnung aus dem Weg zu räumen, stets die mögliche Trennung der beiden Formen des Gedächtnisses bedenken muß. Das ist es, was wir für das Phänomen des konkreten Gedächtnisses par excellence, den Akt des Wiedererkennens, zeigen werden. Es gibt zwei übliche Weisen, das Wiedererkennen in den Blick zu nehmen. Entweder beruht das Gefühl des »déjà vu« auf einer einfachen, irreduziblen und undefinierbaren Qualität des Zustands, den man wiedererkennt, oder es ist ein Assoziationseffekt. Wir verwerfen sofort die erste Hypothese, welche bedeuten würde, das Phänomen schlicht zu behaupten, ohne auch nur nach einer Erklärung zu suchen. Bleibt, daß alles Wiedererkennen auf der Assoziation einer aktuellen Wahrnehmung mit einem früheren Bild beruht. Doch hier erheben sich zwei Interpretationen, je nachdem, ob man sich auf die Berührungs- oder die Ähnlichkeitsassoziation beruft. Für die einen nämlich RP.
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gleitumstände der ursprünglichen Wahrnehmung mir im Geiste wiederkommen und um das aktuelle Bild herum einen Rahmen zeichnen, der nicht der aktuell wahrgenommene Rahmen ist. | Wiedererkennen hieße also, einer gegenwärtigen Wahrnehmung die Bilder zu assoziieren, die einst in Berührung mit ihr gegeben waren.1 Doch wie zu Recht darauf hingewiesen wurde,2 kann eine erneute Wahrnehmung nur die Begleitumstände der ursprünglichen Wahrnehmung suggerieren, wenn zuerst diese selbst durch den aktuellen Zustand, der ihr ähnelt, heraufbeschworen wurde. Sei A die erste Wahrnehmung; die Begleitumstände B, C und D bleiben mit ihr durch Berührungsassoziation verbunden. Wenn ich dieselbe erneute Wahrnehmung A' nenne, so muß, da es ja nicht A', sondern A ist, mit der die Terme B, C und D verbunden sind, um die Terme B, C und D heraufzubeschwören, zuerst einmal eine Ähnlichkeitsassoziation A auftauchen lassen. Vergeblich würde man behaupten, daß A' mit A identisch sei. Die beiden Terme bleiben, wenngleich einander ähnlich, numerisch verschieden und unterscheiden sich zuallermindest durch die simple Tatsache, daß A' eine Wahrnehmung ist, während A nur noch eine Erinnerung3 ist. Von den zwei Interpretationen, die wir angekündigt haben, löst sich so die erste in die zweite auf, die wir nun untersuchen werden. Dieses Mal nimmt man an, die gegenwärtige Wahrnehmung hole aus den Tiefen des Gedächtnisses immer die Erinnerung4 1
Siehe dazu die systematische, durch Experimente gestützte Darstellung dieser These in den Artikeln von Lehmann, Ueber Wiedererkennen (Philos. Studien von Wundt, Bd. V, S. 96 ff. und Bd. VII, S. 169 ff.). [Der Titel des in Bd. VII veröffentlichten Artikels lautet »Kritische und experimentelle Studien über das Wiedererkennen«, A. d. Ü.] 2 Pillon, La formation des idées abstraites et générales (Crit. Philos. 1885, Bd. I, S. 208 ff.). – Vgl. Ward, Assimilation and Association (Mind, Juli 1893 und Oktober 1894). 3 eine Erinnerung ] ein Bild RP. 4 die Erinnerung ] das Bild RP.
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der vorherigen Wahrnehmung, die ihr ähnelt: Das Gefühl des »déjà vu« würde dann durch ein Nebeneinanderstellen oder ein Verschmelzen der Wahrnehmung und der Erinnerung1 entstehen. Zweifellos ist, wie tiefsinnig bemerkt wurde,2 die Ähnlichkeit eine vom Geist hergestellte Beziehung zwischen Termen, die er einander annähert und folglich schon besitzt, | so daß die Wahrnehmung einer Ähnlichkeit vielmehr eine Wirkung der Assoziation ist als ihre Ursache. Doch neben dieser definierten und wahrgenommenen Ähnlichkeit, die in der Gemeinsamkeit eines vom Geist erfaßten und herausgelösten Elements besteht, gibt es eine vage und gewissermaßen objektive Ähnlichkeit, die über die Oberfläche der Bilder selbst verteilt ist und wie eine physikalische Ursache wechselseitiger Anziehung wirken könnte.3 Was, wenn wir anführen, daß man oft einen Gegenstand wiedererkennt, ohne daß es einem gelingt, ihn mit einem früheren Bild zu iden tifizieren? Man wird sich in die bequeme Hypothese4 von zerebra1
der Erinnerung ] des Bildes RP. 2 Brochard, La loi de similarité, Revue philosophique, 1880, Bd. IX , S. 258. E. Rabier schließt sich dieser Meinung in seinen Leçons de philosophie an, Bd. I, Psychologie, S. 187–192. 3 Pillon, im bereits zitierten Artikel, S. 207. – Vgl. James Sully, The human Mind, London 1892, Bd. I, S. 331. 4 Man wird … Hypothese ] Man wird uns antworten, daß das Bild da ist, jedoch ›im potentiellen Zustand‹. [Anm.: Der Ausdruck stammt von Höffding, Zur Theorie des Wiedererkennens (Philos. Studien von Wundt, Bd. VIII, S. 90)] Und wenn wir hinsichtlich dieses Bildes und seines Verschmelzens mit der aktuellen Wahrnehmung eine indiskrete Neugier an den Tag legen, wird man sich in die bequeme Hypothese RP. [Eine exakte Entsprechung des hier mit »im potentiellen Zustand« übersetzten à l’état potentiel findet sich bei Höffding zumindest im genannten Artikel nicht, naheliegend ist, daß es sich dabei um Bergsons Übertragung des Begriffs der »Vorstellungspotentialität« handelt, den Höffding auf der zitierten Seite im folgenden Kontext verwendet: »… dass dasjenige, was sich beim Wiedererkennen dem Bewusstsein als eine untheilbare Qualität, ein untrennbares Ganzes darstellt […], doch zwei besonderen Bedingungen verdankt wird, nämlich nicht nur einem
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len Spuren flüchten, die miteinander zur Deckung kommen, von zerebralen Bewegungen, die durch Übung leichter werden,1 oder von Wahrnehmungszellen, die mit Zellen in Verbindung stehen, in denen die Erinnerungen2 ruhen.3 Tatsächlich sind es physiologische Hypothesen dieser Art, in denen sich, ob sie wollen oder nicht, all diese Theorien des Wiedererkennens verlieren. Sie wollen jedes Wiedererkennen4 aus einer Annäherung der Wahrnehmung und der Erinnerung5 hervorgehen lassen; doch auf der anderen Seite ist da die Erfahrung, die bezeugt, daß die Erinnerung6 zuallermeist erst dann auftaucht, wenn die Wahrnehmung einmal wiedererkannt ist. Man ist also sehr wohl gezwungen, das, was man zu Beginn als eine Assoziation von Vorstellungen7 angekünSinneseindrucke (welchem an und für sich nur eine Empfindung A ensprechen würde), sondern auch einer Disposition, einer Vorstellungs potentialität (sit venia verbo!), welche letztere unter anderen Verhältnissen in eine freie Vorstellung (a) übergehen könnte.« Von der Beteiligung »›dunkle[r]‹ oder ›unbewusste[r]‹ Vorstellungen« »beim unmittelbaren Wiedererkennen« grenzt Höffding sich auf der folgenden Seite allerdings explizit ab (a. a. O., S. 91): »Die Annahme solcher brauche ich in meiner Theorie nicht; und dass es ein Vortheil ist, sie zu entbehren, ist klar. – Wohl gebrauche ich den Ausdruck ›Verschmelzung‹, aber ›was ich t h e o r e t i s c h als das Verschmelzen einer Empfindung mit einer Vorstellung ausdrücke, das ist die Veränderung, die eine Empfindung durch Wiederholung erleiden kann.‹ (Vierteljahrsschrift XIII, S. 453)«. Es wäre denkbar, daß Bergson die obenstehende Passage des Artikels aus diesem Grund in Matière et mémoire entfallen ließ. A. d. Ü.] 1 Höffding, Ueber Wiedererkennen, Association und psychische Activität (Vierteljahrsschrift f. wissenschaftliche Philosophie, 1889, S. 433) [Der korrekte Titel lautet: »Ueber Wiederkennen, Association und psychische Activität« A. d. Ü.]. 2 Erinnerungen ] Bilder RP. 3 Munk, Ueber die Functionen der Grosshirnrinde, Berlin 1881, S. 108 ff. 4 jedes Wiedererkennen] das Wiedererkennen RP. 5 der Erinnerung ] des Bildes RP. 6 die Erinnerung ] das Bild RP. 7 Vorstellungen ] Bildern RP.
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digt hatte, in Form einer Kombination von Bewegungen oder einer Verbindung von Zellen ins Gehirn zurückzuverlagern und den Vorgang des Wiedererkennens – der unseres Erachtens sehr klar ist – durch die unserer Meinung nach sehr dunkle Hypothese eines Ideen einlagernden Gehirns zu erklären. In Wirklichkeit aber genügt die Assoziation einer Wahrnehmung mit einer Erinnerung | keineswegs, um Rechenschaft über den Prozeß des Wiedererkennens abzulegen. Denn wenn das Wiedererkennen so vor sich ginge, würde es ausgelöscht sein, wenn die früheren Bilder verschwunden sind,1 und immer stattfinden, wenn diese Bilder erhalten sind. Die Seelenblindheit bzw. das Unvermögen, die wahrgenommenen Gegenstände wiederzuerkennen, würde also nie ohne eine Blockierung des visuellen Gedächtnisses auftreten, und vor allem hätte die Blockierung des visuellen Gedächtnisses unabänderlich2 die Seelenblindheit zur Folge. Nun bestätigt die Erfahrung aber weder die eine noch die andere dieser beiden Konsequenzen. In einem von Wilbrand3 studierten Fall konnte die Kranke mit geschlossenen Augen die Stadt, in der sie wohnte, beschreiben und in der Phantasie darin spazierengehen; sobald sie jedoch einmal auf der Straße war, erschien ihr alles neu: Sie erkannte nichts wieder und es gelang ihr nicht, sich zu orientieren. Tatsachen derselben Art wurden von 1 erklären.
… verschwunden sind, ] erklären. Ohne im Moment die physiologische Hypothese zu vertiefen, wollen wir einfach auf einige wenig beachtete Tatsachen hinweisen, aus denen sich schließen läßt, daß die bewußte oder latente Gegenwart eines früheren Bildes weder notwendig noch hinreichend für das Wiedererkennen einer ähnlichen Wahrnehmung ist. Wenn das Wiedererkennen ein Verschmelzen der Wahrnehmung und des Bildes implizieren würde, würde es ausgelöscht sein, wenn die früheren Bilder zerstört sind, RP. 2 würde also nie … unabänderlich ] würde also nie ohne die Zerstörung der visuellen Erinnerungen auftreten, und vor allem hätte die Auslöschung der visuellen Bilder unabänderlich RP. 3 Die Seelenblindheit als Herderscheinung, Wiesbaden 1887, S. 56.
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Fr. Müller1 und Lissauer2 beobachtet. Die Kranken können die innere Schau eines Gegenstandes, den man ihnen nennt, heraufbeschwören und beschreiben ihn sehr gut; dennoch vermögen sie ihn nicht wiederzuerkennen, wenn man ihn ihnen zeigt. Das Bewahren einer visuellen Erinnerung, selbst das bewußte, genügt also nicht für das Wiedererkennen einer ähnlichen Wahrnehmung. Umgekehrt aber war in dem von Charcot3 studierten und klassisch gewordenen Fall einer vollständigen Verdunkelung4 visueller Bilder nicht jedes Wiedererkennen von Wahrnehmungen ausgelöscht. Davon kann man sich mühelos überzeugen, wenn man den Bericht über diesen Fall genau liest. Die Person erkannte zweifellos die Straßen ihrer Geburtsstadt nicht mehr wieder, insofern sie sie weder benennen noch sich in ihnen zurechtfinden konnte; sie wußte jedoch, daß es Straßen waren und daß sie Häuser sah. | Sie erkannte ihre Frau und ihre Kinder nicht mehr; sie konnte aber, als sie sie erblickte, dennoch sagen, daß es eine Frau und daß es Kinder seien. Nichts von alledem wäre möglich gewesen, wenn Seelenblindheit im absoluten Sinn des Wortes bestanden hätte. Was ausgelöscht war, war also eine gewisse Art des Wiedererkennens, die wir noch zu analysieren haben werden, aber nicht die allgemeine Fähigkeit des Wiedererkennens überhaupt. Schließen wir daraus, daß nicht jedes Wiedererkennen immer die Beteiligung eines früheren Bildes impliziert und daß man sich ebensogut auf diese Bilder besinnen können mag,5 Beitrag zur Kenntnis der Seelenblindheit (Arch. f. Psychiatrie, Bd. XXIV, 1892). 2 Ein Fall von Seelenblindheit (Arch. f. Psychiatrie, 1889). 3 Berichtet von Bernard, Un cas de suppression brusque et isolée de la vision mentale (Progrès médical, 21. Juli 1883). 4 einer vollständigen Verdunkelung ] eines vollständigen Verschwindens RP. 5 Schließen … mag, ] Schließen wir daraus, daß das Wiedererkennen nicht das Bewahren eines früheren Bildes impliziert und daß man die Bilder ebensogut bewahrt haben kann, RP. 1 Ein
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ohne daß es einem gelingt, die Wahrnehmungen mit ihnen zu identifizieren. Was also ist schließlich das Wiedererkennen, und wie sollen wir es definieren? Zuerst gibt es, als Grenzfall, ein Wiedererkennen im Momenthaften, ein Wiedererkennen, zu dem der Körper ganz allein imstande ist, ohne daß irgendeine explizite Erinnerung daran beteiligt wäre. Es besteht in einer Handlung und nicht in einer Vorstellung. Ich gehe1 beispielsweise zum ersten Mal in einer Stadt spazieren. An jeder Straßenecke zögere ich, da ich nicht weiß, wohin ich gehe. Ich schwebe in Ungewißheit, und ich verstehe darunter, daß sich meinem Körper Alternativen stellen, daß meine Bewegung in ihrer Gesamtheit diskontinuierlich ist, daß es in keiner der Haltungen etwas gibt, was die kommenden Haltungen ankündigen und vorbereiten würde. Später, nach einem 1
Zuerst … Ich gehe ] III . – Das Wiedererkennen und die Unaufmerksamkeit Eben gerade weil die lokalisierten Bilder auf der einen und die motorischen Gewohnheiten auf der anderen Seite sich einander in vielfältigen Weisen annähern können, indem sie ein mehr oder weniger großes Stück ihrer selbst aufgeben, wird das Wiedererkennen keine einförmige und einfache Tatsache sein. Man bezeichnet mit diesem Namen vielmehr eine Gattung, die etliche Arten beinhaltet. Doch diese Arten lassen sich, glauben wir, alle auf zwei Typen zurückführen, die den beiden entgegengesetzten Richtungen der sie begleitenden Bewegungen entsprechen. Mal nämlich führen unsere Beweg ungen unsere Wahrnehmung fort, um nützliche Effekte daraus zu ziehen, und entfernen uns so vom wahrgenommenen Gegenstand, und mal bringen sie uns im Gegenteil zu diesem Gegenstand zurück, um dessen Konturen zu unterstreichen. Im ersten Fall herrscht Ablenkung (zumindest in bezug auf den wahrgenommenen Gegenstand), im zweiten Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit ist, wie wir später sagen werden, eine gewisse Art des Wiedererkennens. Doch man kann ebensogut durch Ablenkung wiedererkennen, und dieses Wiedererkennen ist das, mit dem wir uns zuerst befassen wollen. Ich gehe RP. – [ Teile dieses Abschnitts sind in Materie und Gedächtnis ans Ende des zweiten Abschnittes dieses Kapitels verschoben, siehe hier S. 119. A. d. Ü. ]
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langen Aufenthalt in der Stadt, werde ich mich mechanisch in ihr fortbewegen, ohne über die deutliche Wahrnehmung der Gegenstände zu verfügen, an denen ich vorüberziehe. Zwischen diesen beiden Extremzuständen, dem einen, in dem die Wahrnehmung die festgelegten Bewegungen, die sie begleiten, noch nicht organisiert hat, und dem anderen, in dem diese Begleitbewegungen in einem Maß organisiert sind, das meine Wahrnehmung1 überflüssig macht, gibt es nun aber einen Zwischenzustand, in dem der Gegenstand wahrgenommen wird, aber miteinander verbundene, kontinuierliche Bewegungen hervorruft, | die einander gegenseitig erzwingen. Ich habe mit einem Zustand begonnen, in dem ich nur meine Wahrnehmung2 ausmachen konnte; und ich ende mit einem Zustand, in dem ich mir fast nur noch meines Automatismus bewußt bin: Dazwischen liegt ein Mischzustand, eine von einem im Entstehen begriffenen Automatismus unterstrichene Wahrnehmung. Wenn sich die späteren Wahrnehmungen nun aber dadurch von der ersten Wahrnehmung unterscheiden, daß sie den Körper zu einer geeigneten mechanischen Reaktion führen, und wenn andererseits diese erneuten Wahrnehmungen dem Geist mit jenem Aspekt sui generis erscheinen, der die vertrauten oder wiedererkannten Wahrnehmungen kennzeichnet, müssen wir dann nicht vermuten, daß das Bewußtsein einer wohlgeregel ten motorischen Begleitung, einer organisierten motorischen Reaktion, hier dem Gefühl der Vertrautheit zugrunde liegt? An der Basis des Wiedererkennens stünde also durchaus ein Phänomen motorischer Natur. Einen Gebrauchsgegenstand wiederzuerkennen heißt also vor allem, sich seiner zu bedienen wissen. Dies ist so wahr, daß die ersten Beobachter jener Krankheit des Wiedererkennens, die wir Seelenblindheit nennen, den Namen Apraxie gegeben haben.3 1
meine Wahrnehmung ] die Wahrnehmung RP. meine Wahrnehmung ] die Wahrnehmung RP. 3 Kussmaul, Les troubles de la parole, Paris 1884, S. 233 [Vgl. Kussmaul, Die Störungen der Sprache, Leipzig 1881, S. 181, A. d. Ü.]; – Allen 2
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Doch sich seiner zu bedienen wissen heißt schon die Bewegungen skizzieren, die sich ihm anpassen, heißt eine bestimmte Haltung einnehmen oder zuallermindest durch den Effekt dessen, was die Deutschen »Bewegungsantriebe«1 nennen, dazu tendieren. Die Gewohnheit, den Gegenstand zu gebrauchen, hat also schließlich die Bewegungen und Wahrnehmungen miteinander organisiert, und das Bewußtsein dieser im Entstehen begriffenen Bewegungen, die nach Art eines Reflexes auf die Wahrnehmung folgen würden, läge auch hier wiederum dem Wiedererkennen zugrunde. Es2 gibt keine Wahrnehmung, die sich nicht zu Bewegung fortführen würde. | Ribot3 und Maudsley4 haben schon seit langem die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt gelenkt. Die Schulung der Sinne besteht eben gerade in der Gesamtheit der zwischen dem Starr, Apraxia and Aphasia (Medical Record, 27. Oktober 1888). – Vgl. Laquer, Zur Localisation der sensorischen Aphasie (Neurolog. Centralblatt, 15. Juni 1888), und Dodds, On some central affections of vision (Brain, 1885). 1 Im französischen Text folgt hier der deutsche Begriff kursiv in Klammern. [A. d. Ü.] 2 zugrunde. Es ] zugrunde. Man analysiere, was sich in einem abspielt, wenn man Personen gegenübersteht, die man zum Beispiel aus Berufsgründen oft sieht. Mechanisch kommen einem Worte über die Lippen; und ebenso mechanisch nimmt man eine Haltung ein. Man kann sagen, daß unser Charakter nichts Feststehendes ist, daß er je nach den Personen, in deren Gegenwart man uns versetzt, vielfältige Reaktionen ergibt. Wenn diese Reaktionen nun unsicher, diffus und diskontinuierlich sind, wenn der Eindruck neu ist, entschieden und organisiert hingegen, wenn man die Person einmal kennt, muß dann nicht unser Gefühl des Wiedererkennens in erster Linie mit dem zusammenfallen, was unsere körperliche Haltung an Gefestigtem aufweist? Es RP. 3 Les mouvements et leur importance psychologique (Revue philosophique, 1879, Bd. VIII, S. 371 ff.). – Vgl. Psychologie de l’attention, Paris 1889, S. 75 (Félix Alcan, Verl.). 4 Physiologie de l’esprit, Paris 1879, S. 207 ff. [Vgl. Maudsley, Physiology of Mind, London 1876, S. 221 ff., A. d. Ü.]
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Sinneseindruck und der ihn nutzenden Bewegung hergestellten Verbindungen. Je öfter sich der Eindruck wiederholt, um so mehr festigt sich die Verbindung. Der Mechanismus dieses Vorgangs hat im übrigen nichts Geheimnisvolles. Unser Nervensystem ist offensichtlich im Hinblick auf die Konstruktion motorischer Apparate eingerichtet, welche durch die Vermittlung von Zentren mit Sinnesreizen verbunden werden, und die Diskontinuität der Nervenelemente sowie die Vielzahl ihrer letzten Verästelungen, die zweifellos in der Lage sind, sich einander in diversen Weisen anzunähern, lassen die Zahl möglicher Verbindungen zwischen den Eindrücken und den ihnen entsprechenden Bewegungen unbegrenzt werden. Doch vermöchte der noch auf dem Wege der Konstruktion befindliche Mechanismus dem Bewußtsein nicht unter derselben Form zu erscheinen wie der schon konstruierte. Es gibt etwas, das die gefestigten Bewegungssysteme im Organismus zutiefst von den anderen scheidet und klar herausstellt. Vor allem ist dies, so glauben wir, die Schwierigkeit, ihren Ablauf zu modifizieren. Dabei handelt es sich wiederum um jene Vorgeformtheit der folgenden Bewegungen in den vorausgehenden Bewegungen, eine Vorgeformtheit, die bewirkt, daß der Teil virtuell das Ganze enthält, so wie es sich zuträgt, wenn zum Beispiel jede Note einer erlernten Melodie über die folgende gebeugt bleibt, um deren Ausführung zu überwachen.1 Wenn also alle gebräuchliche Wahrnehmung ihre organisierte motorische Begleitung hat, so hat das Gefühl gebräuchlichen Wiedererkennens seine Wurzel in dem Bewußtsein dieser Organisiertheit. | Das heißt, daß wir gewöhnlich unser Wiedererkennen vollziehen*, bevor wir es denken. Unser tägliches Leben läuft inmitten von Gegenständen ab, deren bloße Gegenwart uns einlädt, eine einem der geistreichsten Kapitel seiner Psychologie (Paris 1893, Bd. I, S. 242) hat A. Fouillée gesagt, daß das Gefühl der Vertrautheit zu einem großen Teil aus dem Abnehmen des inneren Schocks besteht, den die Überraschung darstellt. [Diese Fußnote ist in RP nicht enthalten. A. d. Ü.] 1 In
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Rolle zu spielen: Darin besteht ihr Aspekt der Vertrautheit. Die motorischen Tendenzen würden also schon ausreichen, um uns das Gefühl des Wiedererkennens zu vermitteln. Doch beeilen wir uns zu sagen, daß zuallermeist etwas anderes mit hinzutritt. Während sich nämlich motorische Apparate unter dem Einfluß der vom Körper immer besser analysierten Wahrnehmungen generieren, ist auch unser früheres psychologisches Leben zur Stelle: Es lebt fort – wir werden versuchen, dies zu beweisen – mitsamt allen Einzelheiten seiner in der Zeit lokalisierten Ereignisse. Fortwährend durch das praktische und nützliche Bewußtsein des gegenwärtigen Augenblicks, das heißt das sensomotorische Gleichgewicht eines zwischen Wahrnehmung und Handlung gespannten Nervensystems, unterdrückt, wartet dieses Gedächtnis bloß darauf, daß sich ein Riß zwischen dem aktuellen Eindruck und der ihn begleitenden Bewegung auftut, um seine Bilder dort hindurch zu schieben. Normalerweise ist, um den Lauf unserer Vergangenheit wieder hinaufzuklimmen und das bekannte, lokalisierte und persönliche Erinnerungsbild1 zu entdecken, das sich auf die Gegenwart beziehen würde, eine Anstrengung nötig, durch die wir uns von der Handlung lösen, zu der unsere Wahrnehmung uns neigen läßt: Diese würde uns in die Zukunft treiben; doch wir müssen in die Vergangenheit zurückgehen. In diesem Sinne würde die Bewegung das Bild eher zurückdrängen. Gleichwohl trägt sie in einer gewissen Hinsicht dazu bei, ihm den Weg zu bereiten. Denn wenn uns auch der Gesamtzusammenhang unserer vergangenen Bilder gegenwärtig bleibt, so muß auch noch die der aktuellen Wahrnehmung analoge Vorstellung2 unter all den möglichen Vorstellungen3 ausgewählt werden. Die vollzogenen oder bloß im Entstehen begriffenen Bewegungen bereiten diese Auslese vor oder stecken zumindest das Feld der Bil1
Erinnerungsbild ] Bild RP. die … Vorstellung ] das der aktuellen Wahrnehmung analoge Bild RP. 3 Vorstellungen ] Bildern RP. 2
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der ab, auf dem wir pflücken gehen werden. Wir sind, kraft der Konstitution | unseres Nervensystems, Wesen, bei denen gegenwärtige Eindrücke zu geeigneten Bewegungen fortgeführt werden: Wenn sich frühere Bilder genausogut in diesen Bewegungen fortführen können, nutzen sie die Gelegenheit, um in die aktuelle Wahrnehmung hineinzuschlüpfen und sich von dieser adoptieren zu lassen. Sie erscheinen dann de facto vor unserem Bewußtsein, während sie de jure, so scheint es, vom gegenwärtigen Zustand verdeckt bleiben müßten. Man könnte also sagen, daß die Bewegungen, die das mechanische Wiedererkennen hervorrufen, das Wiedererkennen durch Bilder einerseits behindern und andererseits begünstigen. Im Prinzip verdrängt die Gegenwart die Vergangenheit. Auf der anderen Seite aber werden, eben gerade weil die Ausschaltung der früheren Bilder auf ihrer Blockierung durch die gegenwärtige Haltung beruht, diejenigen von ihnen, deren Form sich von dieser Haltung einrahmen ließe, auf ein weniger großes Hindernis stoßen als die anderen: Und wenn folglich irgendeines unter ihnen das Hindernis zu überwinden vermag, so wird es das der gegenwärtigen Wahrnehmung ähnliche Bild sein. Trifft unsere Analyse zu, so werden die Krankheiten des Wiedererkennens zwei zutiefst verschiedene Formen annehmen, und man wird zwei Arten von Seelenblindheit feststellen. Mal nämlich sind es die früheren Bilder, die nicht mehr heraufbeschworen werden können,1 mal ist es nur die Verbindung zwischen der Wahrnehmung und den sie gewöhnlich begleitenden Bewegungen, die unterbrochen ist, so daß die Wahrnehmung diffuse Bewegungen hervorruft, als ob sie neu wäre. Bestätigen die Tatsachen diese Hypothese? Der erste Punkt kann nicht bestritten werden. Die scheinbare Auslöschung2 der visuellen Erinnerungen bei der Seelenblindheit 1
Mal … können, ] Mal nämlich wird ein Verschwinden oder zumindest eine Verdunkelung der Bilder selbst vorliegen, RP. 2 Die scheinbare Auslöschung ] Das Verschwinden RP.
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ist eine so weitverbreitete Tatsache, daß sie eine Zeitlang dazu diente, diese Erkrankung zu definieren. Wir werden uns fragen müssen, in welchem Maße und in welchem Sinne Erinnerungen | wirklich verlöschen können. Das, was uns für den Moment interessiert, ist, daß Fälle auftreten, in denen das Wiedererkennen nicht mehr stattfindet, ohne daß das visuelle Gedächtnis praktisch ausgelöscht ist.1 Handelt es sich also doch, wie wir behaupten, um eine einfache Störung der motorischen Gewohnheiten oder zumindest um eine Unterbrechung ihrer Verbindung mit den Sinneswahrnehmungen? Da sich kein Beobachter2 eine Frage dieser Art gestellt hat, hätten wir große Mühe, darauf zu antworten, wenn wir nicht hie und da in ihren Beschreibungen bestimmte Tatsachen aufgedeckt hätten, die uns bedeutsam erscheinen. Die erste dieser Tatsachen ist der Verlust des Orientierungssinnes. Allen Autoren, die die Seelenblindheit behandelt haben, ist diese Besonderheit aufgefallen. Der Kranke Lissauers hatte die Fähigkeit, sich in seinem Haus zurechtzufinden, vollständig verloren.3 Fr. Müller betont die Tatsache, daß, während Blinde sehr schnell lernen, wieder ihren Weg zu finden, eine von Seelenblindheit betroffene Person sich selbst nach Monaten der Übung nicht in ihrem eigenen Zimmer zu orientieren vermag.4 Ist aber die Fähigkeit, sich zu orientieren, etwas anderes als die Fähigkeit, die Bewegungen des Körpers mit den visuellen5 Eindrücken zu koordinieren und mechanisch die Wahrnehmungen durch nützliche Reaktionen fortzuführen? 1
Wir … ausgelöscht ist. ] Gleichwohl gibt es Fälle, in denen das Wiedererkennen nicht mehr stattfindet, ohne daß die visuellen Bilder ausgelöscht sind. RP. 2 kein Beobachter ] keiner der Beobachter RP. 3 Im bereits zitierten Artikel, Arch. f. Psychiatrie, 1889–1890, S. 224. Vgl. Wilbrand, op. cit., S. 140 und Bernhardt, Eigenthümlicher Fall von Hirnerkrankung (Berliner klinische Wochenschrift, 1877, S. 581). 4 Im bereits zitierten Artikel, Arch. f. Psychiatrie, Bd. XXIV, S. 898. 5 visuellen ] empfangenen RP.
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Es gibt eine zweite, noch signifikantere Tatsache. Wir meinen die Art und Weise, wie diese Kranken zeichnen. Es sind zwei Weisen zu zeichnen denkbar. Die erste bestünde darin, sich herantastend auf dem Papier eine gewisse Zahl von Punkten festzuhalten und diese miteinander zu verbinden, wobei man ständig kontrolliert, ob das Bild dem Gegenstand gleicht. Das ist es, was | Zeichnen »nach Punkten« heißen würde. Aber das Verfahren, dessen wir uns normalerweise bedienen, ist ein ganz anderes. Wir zeichnen »in einem durchgehenden Zug«, nachdem wir das Modell angeschaut oder daran gedacht haben. Wie ließe sich eine derartige Fähigkeit erklären, wenn nicht durch die Gewohnheit, sofort die Organisation der gebräuchlichsten Konturen auszumachen, das heißt durch eine motorische Tendenz in einem Zug deren Schema abzubilden? Wenn es aber genau die Gewohnheiten oder Entsprechungen dieser Art sind, die sich bei bestimmten Formen der Seelenblindheit auflösen, dann wird der Kranke vielleicht noch Elemente von Linien zeichnen können, die er mehr schlecht als recht miteinander verknüpft; er wird aber nicht mehr in einem durchgehenden Zug zeichnen können, weil er in seiner Hand nicht mehr die Bewegung der Konturen hat. Genau dies bestätigt nun aber die Erfahrung. Schon die Beobachtung von Lissauer ist in dieser Hinsicht lehrreich.1 Sein Kranker hatte die größte Mühe, einfache Gegenstände zu zeichnen, und wenn er sie aus dem Kopf zeichnen wollte, dann skizzierte er hie und da herausgegriffene, unzusammenhängende Teilstücke von ihnen, die er nicht miteinander zu verbinden vermochte. Doch die Fälle vollständiger Seelenblindheit sind selten. Sehr viel zahlreicher sind jene der Wortblindheit, das heißt eines auf die Buchstaben des Alphabets beschränkten Verlusts des visuellen Wiedererkennens. Nun ist es aber eine Tatsache alltäglicher Beobachtung, daß in solchen Fällen der Kranke, wenn er die Buchstaben abzuschreiben versucht, unfähig ist, dasjenige zu erfassen, was man 1 Im
bereits zitierten Artikel, Arch. f. Psychiatrie, 1889–1890, S. 233.
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die Bewegung der Buchstaben nennen könnte. Er beginnt deren Zeichnung an einem beliebigen Punkt und überprüft ständig, ob er im Einklang mit der Vorlage bleibt. Und das ist um so bemerkenswerter, als er oft1 die Fähigkeit, unter Diktat oder spontan zu schreiben, intakt bewahrt hat. Das, was hier ausgelöscht ist, ist also sehr wohl die Gewohnheit, die Gliederung | des wahrgenommenen Gegenstandes auszumachen, das heißt, dessen visuelle Wahrnehmung durch eine motorische Tendenz, ihr Schema zu zeichnen, zu ergänzen. Woraus man, wie wir es angekündigt hatten, schließen kann, daß eben darin die Grundbedingung des Wiedererkennens liegt. Doch wir müssen nun von dem automatischen Wiedererkennen, das sich vor allem durch Bewegungen vollzieht, zu dem jenigen übergehen, das die regelmäßige Beteiligung der Bild- Erinnerungen erfordert. Das erste ist ein Wiedererkennen durch Ablenkung; das zweite ist, wie wir sehen werden, das aufmerksame Wiedererkennen. Auch dieses beginnt ebenso mit Bewegungen. Doch während im automatischen Wiedererkennen unsere Bewegungen unsere Wahrnehmung fortführen, um nützliche Effekte daraus zu ziehen, und uns so vom wahrgenommenen Gegenstand entfernen, bringen sie uns hier im Gegenteil zum Gegenstand zurück, um dessen Konturen zu unterstreichen. Daher rührt die entscheidende und nicht mehr nur nebensächliche Rolle, die die BildErinnerungen dort spielen. Nehmen wir nämlich einmal an, daß die Bewegungen2 ihrem praktischen Ziel entsagen und daß 1
oft ] manchmal RP. wir müssen … Bewegungen ] Ein auf das Nützliche ausgerichtetes Wiedererkennen, ein Wiedererkennen, das durch Bewegungen die Funktion der Gegenstände und folglich die Gattung bestimmt, der sie angehören, ist also das Anfangsfaktum. Dieses Wiedererkennen vervollständigt sich und identifiziert die gegenwärtige Wahrnehmung mit früheren Bildern, heftet sich so eher an die Individualität der Gegenstände als an ihre Gattung und stellt deren Verbindung mit bestimmten 2 Doch
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die motorische Aktivität, statt die Wahrnehmung durch nützliche Reaktionen fortzuführen, kehrtmacht, um deren hervorstechende Züge nachzuzeichnen, dann würden die der gegenwärtigen Wahrnehmung analogen Bilder, Bilder, deren Form diese Bewegungen schon entworfen hätten, regelmäßig und nicht mehr zufällig in diese Form hineinschlüpfen, dazu bereit allerdings1, viel von ihren Einzelheiten aufzugeben, um sich den Einlaß zu erleichtern.2 III. Der graduelle Übergang von den Erinnerungen zu den Bewegungen. Das Wiedererkennen und die Aufmerksamkeit. – Wir berühren hier den wesentlichen Punkt der Debatte. Ist es in den Fällen, in denen das Wiedererkennen aufmerksam geschieht, das heißt in denen die Bild-Erinnerungen sich regelmäßig zu der gegenwärtigen Wahrnehmung gesellen, die Wahrnehmung, | die mechanisch das Erscheinen der Erinnerungen bewirkt, oder sind es die Erinnerungen, die spontan der Wahrnehmung entgegenströmen? Von der Antwort, die man auf diese Frage gibt, hängt die Natur des Verhältnisses ab, das man zwischen Gehirn und GedächtAbschnitten unserer Geschichte wieder her. Doch es vervollständigt sich nur per accidens. Je nützlicher nämlich die begleitenden Bewegungen sind, um so mehr lenken sie uns von dieser sozusagen unpersönlichen Wahrnehmung ab, die sich damit befassen würde, die Natur des Gegenstandes zu vertiefen; und die Bilder, die dann vom Boden des Gedächtnisses aufsteigen, sind oft sehr entfernte Bilder, die von ihrer Vergangenheit alle Einzelheiten bewahren bis hin zu ihrem emotionalen Ton. Man nehme aber einmal an, daß unsere Bewegungen RP. 1 bereit allerdings ] bereit RP. 2 erleichtern. ] erleichtern. Diesen neuen Zustand wollen wir Aufmerk samkeit nennen; er kennzeichnet eine zweite Art des Wiedererkennens. IV. – Das Wiedererkennen und die Aufmerksamkeit Ohne hier in die Untersuchung der Schwierigkeiten einzusteigen, die das Problem der Aufmerksamkeit aufwirft, wollen wir kurz zeigen, woher diese rühren. RP.
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nis herstellen wird. In jeder Wahrnehmung nämlich gibt es eine von den Nerven zu den Wahrnehmungszentren weitergeleitete Schwingung. Wenn die Ausbreitung dieser Bewegung auf andere kortikale Zentren den realen Effekt hätte, dort Bilder aufsteigen zu lassen, dann könnte man zur Not vertreten, daß das Gedächtnis nur eine Funktion des Gehirns ist. Wenn wir jedoch aufweisen würden, daß hier wie anderswo die Bewegung nur Bewegung hervorbringen kann, daß die Rolle der perzeptiven Schwingung schlicht darin besteht, dem Körper eine bestimmte Haltung aufzuprägen, in die die Erinnerungen dann hineingleiten, so müßte man, da sich der gesamte Effekt der materiellen Schwingungen dann in dieser motorischen Adaptationsleistung erschöpfen würde, die Erinnerung anderswo suchen. Nach der ersten Hypo these würden die durch eine Hirnschädigung ausgelösten Störungen des Gedächtnisses daher rühren, daß die Erinnerungen die geschädigte Region besetzten und mit dieser zerstört wurden. In der zweiten hingegen beträfen diese Schädigungen unsere im Entstehen begriffene oder mögliche Handlung, aber nur unsere Handlung. Mal würden sie unseren Körper daran hindern, gegenüber einem Gegenstand die für das Wachrufen des Bildes geeignete Haltung einzunehmen; mal würden sie dieser Erinnerung ihre Verbindung mit der gegenwärtigen Realität kappen, das heißt, indem sie die letzte Phase der Realisierung der Erinnerung, die Phase der Handlung, ausschalten, zugleich die Erinnerung daran hindern, sich zu aktualisieren. Doch ebensowenig im einen wie im anderen Fall würde eine Hirnschädigung tatsächlich Erinnerungen zerstören. Diese zweite Hypothese wird die unsere sein. Doch bevor wir ihre Bestätigung suchen, wollen wir kurz sagen, wie wir | uns das allgemeine Verhältnis von Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Gedächtnis vorstellen. Um zu zeigen, wie eine Erinnerung gradweise in eine Haltung oder Bewegung hineingleiten könnte, werden wir ein wenig von den Schlußfolgerungen unseres nächsten Kapitels vorwegnehmen müssen.
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Was ist Aufmerksamkeit?1 Auf der einen Seite besteht der wesentliche Effekt der Aufmerksamkeit darin, die Wahrnehmung intensiver zu machen und deren Einzelheiten freizulegen: Im Hinblick auf ihre Materie würde sie sich also auf ein gewisses Anschwellen des intellektuellen Zustands reduzieren.2 Auf der anderen Seite jedoch stellt das Bewußtsein einen irreduziblen Unterschied der Form zwischen diesem Anwachsen der Intensität und demjenigen fest, das von einer größeren Stärke des äußeren Reizes herrührt: es scheint nämlich von innen her zu kommen und von einer bestimmten von der Intelligenz eingenommenen Haltung zu zeugen. Doch eben hier beginnt das Dunkel, denn die Idee einer intellektuellen Haltung ist keine klare Idee. Man wird von einer »Konzentration des Geistes«3 sprechen oder auch von einer »apperzeptiven«4 Anstrengung, die Wahrnehmung unter den Blick der deutlichen Intelligenz zu bringen. Manche werden 1
III. Der graduelle Übergang … Was ist Aufmerksamkeit? ] fehlt in
RP. [A. d. Ü.]
Marillier, Remarques sur le mécanisme de l’attention (Revue philosophique, 1889, Bd. XXVII). – Vgl. Ward, Artikel ›Psychology‹ in der Encyclop. Britannica, und Bradley, Is there a special activity of Attention? (Mind, 1886, Bd. XI, S. 305). 3 Hamilton, Lectures on Metaphysics, Bd. I, S. 247. [»Konzentration des Geistes« ist kein wörtliches Zitat, der entsprechende Satz bei Hamilton lautet: »Hence the more vividly we will or desire that a certain object should be clearly and distinctly known, the more do we concentrate consciousness through some special faculty upon it.« A. d. Ü.] 4 Wundt, Psychologie physiologique, Bd. II, S. 231 ff. (F. Alcan, Verl.). [Vgl. Wundt, Physiologische Psychologie, Bd. II, 2. Aufl., Leipzig 1880, S. 205 ff. Wundt gebraucht an dieser Stelle allerdings nicht das Adjektiv ›apperceptiv‹, sondern spricht von einer »willkürlichen Lenkung«(206) und »Spannung« (208) der Aufmerksamkeit, sowie von ›Apperception‹ im folgenden Sinne: »Sagen wir von den in einem gegebenen Moment gegenwärtigen Vorstellungen, sie befänden sich im Blickfeld des Bewußtseins, so kann man denjenigen Theil des letzteren, welchem die Aufmerksamkeit zugekehrt ist, als den inneren Blickpunkt bezeichnen. Den Eintritt einer Vorstellung in das innere Blickfeld wollen wir die 2
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diese Idee materialisieren und eine besondere Spannung der Hirnenergie1 annehmen oder sogar einen zentralen Energieausstoß, der zu dem empfangenen Reiz hinzutritt.2 Doch entweder beschränkt man sich darauf, die psychologisch festgestellte Tat sache auf diese Weise in eine physiologische Sprache zu übersetzen, die uns noch unklarer scheint, oder es ist immer eine Metapher, auf die man zurückgreift. Schritt für Schritt wird man dazu gebracht werden, die Aufmerksamkeit | eher durch eine allgemeine Anpassung des Körpers als des Geistes zu erklären und in dieser Haltung des Bewußtseins vor allem das Bewußtsein einer Haltung zu sehen. Das ist die von Th. Ribot in der Diskussion eingenommene Position, 3 und obwohl sie angegriffen wurde,4 scheint sie all ihre Kraft bewahrt zu haben, vorausgesetzt jedoch, glauben wir, daß man in den von Th. Ribot beschriebenen Bewegungen nur die negative Bedingung des Phänomens sieht. Einmal angenommen nämlich, die Begleitbewegungen der willensgesteuerten Aufmerksamkeit Perception, ihren Eintritt in den Blickpunkt die Apperception nennen.« (S. 206), A. d. Ü.]. 1 Maudsley, Physiologie de l’esprit, S. 300 ff. [Vgl. Maudsley, Physiology of Mind, London 1876, S. 315 ff., A. d. Ü.] – Vgl. Bastian, Les processus nerveux dans l’attention (Revue philosophique, Bd. XXXIII, S. 360 ff.). 2 W. James, Principles of Psychology, Bd. I, S. 441. [»The natural way of conceiving all this is under the symbolic form of a brain-cell played upon from two directions. Whilst the object excites it from without, other brain-cells, or perhaps spiritual forces, arouse it from within. The latter influence is the ›adaptation of the attention.‹ The plenary energy of the brain-cell demands the co-operation of both factors: not when merely present, but when both present and attended to, is the object fully perceived.« Dabei ist »adaptation of the attention« ein aus einem bei James vorangestellten längeren Zitat von Wundt entnommener Ausdruck (Physiologische Psychologie, Bd. II, 2. Aufl., Leipzig 1880, S. 209: »A np a s s u n g der Aufmerksamkeit«). A. d. Ü.] 3 Psychologie de l’attention, Paris 1889 (Félix Alcan, Verl.). 4 Marillier, im bereits zitierten Artikel. Vgl. J. Sully, The p sychophysical process in attention (Brain, 1890, S. 154).
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seien vor allem Bewegungen des Innehaltens, dann bliebe die ihnen entsprechende Leistung des Geistes zu erklären, das heißt jenes geheimnisvolle Verfahren, durch welches dasselbe Organ, das in derselben Umgebung denselben Gegenstand wahrnimmt, in diesem eine wachsende Anzahl von Dingen entdeckt. Man kann aber noch weiter gehen und vertreten, daß die Blockierungsphänomene nur eine Vorbereitung für die tatsächlichen Bewegungen der willensgesteuerten Aufmerksamkeit sind. Nehmen wir nämlich einmal an, daß, wie wir es schon ahnen ließen, die Aufmerksamkeit eine Umkehr des Geistes impliziert, der darauf verzichtet, den nützlichen Effekt der gegenwärtigen Wahrnehmung zu verfolgen, dann würde es zuerst zu einer Blockierung der Bewegung kommen, einer Handlung des Innehaltens. Doch zu dieser allgemeinen Haltung würden schnell subtilere Bewegungen hinzutreten, von denen einige beobachtet und beschrieben wurden1 und deren Rolle darin besteht, erneut über die Konturen des wahrgenommenen Gegenstandes zu gehen. Mit diesen Bewegungen beginnt die positive und nicht mehr bloß negative Leistung der Aufmerksamkeit. Fortgesetzt wird sie durch Erinnerungen2. Während nämlich die äußere Wahrnehmung auf unserer Seite | Bewegungen hervorruft, die ihre groben Züge skizzieren, leitet unser Gedächtnis auf die empfangene Wahrnehmung die früheren Bilder, die ihr ähneln und deren Skizze unsere Bewegungen schon gezeichnet haben. Es erschafft so die gegenwärtige Wahrnehmung aufs neue, oder besser: es doppelt diese Wahrnehmung auf, indem es ihr entweder ihr eigenes Bild oder irgendein Erinne rungsbild derselben Art zurücksendet. Wenn es dem behaltenen oder wiedererinnerten Bild nicht gelingt, alle Einzelheiten des wahrgenommenen Bildes abzudecken, dann wird ein Ruf in tiefere und fernere Regionen des Gedächtnisses ausgesandt, bis an1
N. Lange, Beitr. zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit (Philos. Studien von Wundt, Bd. VII, S. 390–422). 2 Erinnerungen ] Ideen RP.
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dere bekannte Einzelheiten kommen und sich auf diejenigen projizieren, die einem unbekannt sind. Und dieses Verfahren kann sich endlos fortsetzen, wobei das Gedächtnis die Wahrnehmung stärkt und bereichert, welche, dadurch immer besser ausgebildet, ihrerseits eine wachsende Anzahl komplementärer Erinnerungen anzieht. Hören wir also auf, an einen Geist zu denken, der über was weiß ich für eine festgesetzte Quantität an Licht verfügt und dieses mal rings um sich herum streut, mal auf einen einzigen Punkt konzentriert. Um ein Bild durch ein anderes zu ersetzen, würden wir die grundlegende Leistung der Aufmerksamkeit lieber mit der eines Telegraphisten vergleichen, der, wenn er eine wichtige Depesche erhält, sie Wort für Wort zu ihrem Ursprungsort zurücksendet, um ihre Exaktheit zu überprüfen. Doch um eine Depesche zurückzusenden, muß man den Apparat bedienen können. Und ebenso müssen wir, um das Bild, das wir von ihr erhalten haben, auf eine Wahrnehmung zu reflektieren, dieses reproduzieren können, das heißt, es durch eine Syntheseleistung rekonstruieren. Man hat gesagt, daß die Aufmerksamkeit eine analytische Fähigkeit sei, und man hat recht gehabt; doch hat man nicht hinreichend erklärt, wie eine Analyse dieser Art möglich ist, noch durch welchen Prozeß es uns gelingt, in einer Wahrnehmung das zu entdecken, was sich dort zunächst nicht gezeigt hat. Die Wahrheit ist, daß sich diese Analyse | durch eine Reihe von Syntheseversuchen vollzieht oder, was auf dasselbe hinausläuft, mittels ebenso vieler Hypothesen: Unser Gedächtnis wählt umschichtig verschiedene analoge Bilder, die es in die Richtung der neuen Wahrnehmung schießt. Doch diese Wahl folgt nicht dem Zufall. Das, was die Hypothesen nahelegt und was von Ferne der Auslese vorsteht, sind die Imitationsbewegungen, durch die die Wahrnehmung sich fortsetzt und die der Wahrnehmung und den wiedererinnerten1 Bildern als gemeinsamer Rahmen dienen. 1
den wiedererinnerten ] den RP.
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Dann aber wird man sich den Mechanismus der deutlichen Wahrnehmung anders vorstellen müssen, als man es gewöhnlich tut. Die Wahrnehmung besteht nicht nur in vom Geist aufgefangenen oder sogar weiter ausgearbeiteten Eindrücken. Allerhöchstens gilt dies für jene kaum empfangenen, so schon wieder zerronnenen Wahrnehmungen, jene, die wir zu nützlichen Handlungen zerstreuen. Jede aufmerksame Wahrnehmung jedoch setzt wahrhaft eine Reflexion, im etymologischen Sinn des Wortes, voraus, das heißt die äußere Projektion eines aktiv erschaffenen Bildes, das mit dem Gegenstand identisch oder ihm ähnlich ist und sich nach dessen Konturen formt. Wenden wir, nachdem wir einen Gegenstand unverwandt angestarrt haben, jäh unseren Blick ab, so erhalten wir ein Nachbild1 von ihm:2 Müssen wir nicht annehmen, daß dieses Bild bereits entstanden ist, als wir ihn anschauten? Die kürzliche Entdeckung zentrifugaler perzeptiver Fasern3 läßt uns dazu neigen, zu meinen, daß die Dinge regel mäßig so ablaufen und daß es neben dem afferenten Prozeß, der den Eindruck zum Zentrum trägt, einen anderen, umgekehrten gibt, der das Bild zur Peripherie zurückbringt. Freilich handelt es sich hier um vom Gegenstand selbst abphotographierte Bilder und unmittelbar auf die Wahrnehmung folgende Erinnerungen, die lediglich deren Echo sind. Doch hinter diesen mit dem Gegenstand identischen Bildern finden sich, im Gedächtnis eingelagert, andere, die lediglich Ähnlichkeit mit ihm haben, | und noch andere schließlich, die nur noch eine mehr oder weniger entfernte französische image consécutive (wörtlich: Folge-Bild) steht in der von Bergson verwendeten französischen Übersetzung von Wundts Physiologischer Psychologie für Wundts Begriff des »Nachbilds« und wird hier aus diesem Grund mit »Nachbild« rückübersetzt. Vgl. z. B. Wundt, Physiologische Psychologie, Bd. I, 2. Aufl., Leipzig 1880, S. 308 / Psychologie physiologique, Bd. I, Paris 1886, S. 347. [A. d. Ü.] 2 so … ihm ] so bewahren wir das deutliche Bild von ihm: RP. 3 Die … Fasern ] Die kürzliche Entdeckung zentrifugaler sensorischer Bahnen RP. 1 Das
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Verwandtschaft aufweisen. Sie alle strömen der Wahrnehmung entgegen, und genährt von deren Substanz, erwerben sie genügend Kraft und Leben, um mit dieser nach außen zu treten. Die Experimente von Münsterberg1 und Külpe2 lassen keinen Zweifel an diesem letzten Punkt: Jedes Erinnerungsbild3, das in der Lage ist, unsere aktuelle Wahrnehmung zu interpretieren, schlüpft so geschickt in diese hinein, daß wir nicht mehr zu unterscheiden wissen, was Wahrnehmung und was Erinnerung4 ist. Doch nichts ist in dieser Hinsicht interessanter als die geistreichen Experimente von Goldscheider und Müller zum Mechanismus des Lesens.5 Gegen Grashey, der in einer berühmten Arbeit6 verfochten hatte, daß wir die Wörter Buchstabe für Buchstabe lesen, haben diese Experimentatoren aufgewiesen, daß das flüssige Lesen eine wahrhaft hellseherische Tätigkeit ist, bei der unser Geist hie und da einige charakteristische Züge aufgreift und den gesamten Zwischenraum mit Bild-Erinnerungen7 füllt, die auf das Papier projiziert werden, die real gedruckten Buchstaben ersetzen und uns deren Illusion vermitteln. So erschaffen oder rekonstruieren wir ohne Unterlaß. Unsere deutliche Wahrnehmung ist wahrhaft mit einem geschlossenen Kreis vergleichbar, in dem das zum Geist geschickte Wahrnehmungsbild8 und das in den Raum geschossene Erinnerungsbild9 hintereinander herlaufen. Beitr. zur experimentellen Psychologie, Heft 4, S. 15 ff. Grundriss der Psychologie, Leipzig 1893, S. 185. 3 Erinnerungsbild ] Bild RP. 4 Erinnerung ] Bild RP. 5 Zur Physiologie und Pathologie des Lesens (Zeitschr. f. klinische Medicin, 1893). Vgl. McKeen Cattell, Ueber die Zeit der Erkennung von Schriftzeichen (Philos. Studien, 1885–1886). 6 Ueber Aphasie und ihre Beziehungen zur Wahrnehmung (Arch. f. Psychiatrie, 1885, Bd. XVI). 7 Bild-Erinnerungen ] Bildern RP. 8 Wahrnehmungsbild ] Bild RP. 9 Erinnerungsbild ] Bild RP. 1 2
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Wir wollen diesen letzten Punkt vertiefen. Man stellt sich die aufmerksame Wahrnehmung gerne als eine Reihe von Prozessen vor, die an einem einzigen Faden entlang ablaufen: Der Gegenstand erregt Empfindungen, die Empfindungen lassen Ideen vor sich aufsteigen, | jede Idee versetzt Zug um Zug immer weiter entfernte Punkte der intellektuellen Masse in Schwingung. Man hätte dort also ein Voranschreiten auf einer geraden Linie, durch welches der Geist sich mehr und mehr von dem Gegenstand entfernen würde, um nicht mehr dorthin zurückzukehren. Wir behaupten im Gegenteil, daß die reflektierte1 Wahrnehmung ein Kreislauf ist, in dem alle Elemente, inklusive des wahrgenommenen Gegenstands selbst, sich im Zustand gegenseitiger Spannung halten, wie in einem Stromkreis, so daß keine einzige vom Gegenstand ausgegangene Schwingung im Laufe des Weges in den Tiefen des Geistes zu einem Halt kommen könnte: Sie muß immer zum Gegenstand selbst zurückkehren. Man darf dies nicht als eine bloße Frage der Terminologie betrachten. Es handelt sich um zwei radikal verschiedene Konzeptionen der intellektuellen Tätigkeit. Der ersten zufolge geschehen die Dinge mechanisch und durch eine gänzlich zufällige Reihe sukzessiver Additionen. In jedem Moment einer aufmerksamen Wahrnehmung zum Beispiel könnten neue Elemente, die aus einer tieferen Region des Geistes aufsteigen, sich zu den alten Elementen gesellen, ohne damit eine generelle Störung auszulösen und ohne eine Transformierung des Systems zu erfordern. In der zweiten 1
die reflektierte ] die RP.
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hingegen impliziert ein Akt der Aufmerksamkeit einen so starken Zusammenhang zwischen dem Geist und seinem Gegenstand, handelt es sich um einen so gut geschlossenen Kreislauf, daß man nicht zu Zuständen höherer Konzentration überzugehen vermöchte, ohne lauter ganz neue Kreisläufe zu erschaffen, die den ersten umschließen und die miteinander einzig den wahrgenommenen Gegenstand gemein haben. Von diesen unterschiedlichen Kreisen des Gedächtnisses, die wir später im Detail studieren werden, ist der engste, A,1 der unmittelbaren Wahrnehmung am nächsten. Er enthält nur den Gegenstand O selbst mit dem Nachbild 2, das sich wieder über ihn legt. Hinter ihm entsprechen die immer größeren Kreise B, C und D wachsenden Anstrengungen intellektueller Expansion.3 Es ist, wie wir sehen werden,4 das Ganze des Gedächtnisses, das in jeden dieser Kreisläufe einfließt, | da das Gedächtnis immer gegenwärtig ist; doch dieses Gedächtnis, das sich aufgrund seiner Elastizität unbeschränkt dehnen5 läßt, reflektiert auf den Gegenstand eine wachsende Anzahl suggerierter Dinge – mal die Einzelheiten des Gegenstandes selbst, mal begleitende Details, die dazu beitragen können, ihn zu erhellen. So werden wir, nachdem wir den wahrgenommenen Gegenstand in der Weise eines eigenständigen Ganzen rekonstituiert haben, mit ihm die immer weiter entfernten Bedingungen rekonstituieren, mit denen er ein System bildet. Nennen wir diese Ursachen wachsender Tiefe, die hinter dem Gegenstand stehen und mit dem Gegenstand selbst virtuell gegeben sind, B', C' und D'. Man sieht, daß der Fortschritt der Aufmerksamkeit bewirkt, daß nicht nur der wahrgenommene Gegenstand erneut erschaffen wird, sondern auch die immer umfangreicheren Systeme, mit 1
Von … A, ] Von diesen unterschiedlichen Kreisen ist der engste, A RP. Nachbild ] identischen Bild RP. 3 Anstrengungen intellektueller Expansion ] Anstrengungen intellektueller Spannung oder, besser gesagt, Ausdehnung RP. 4 Es ist, wie wir sehen werden, ] Es ist RP. 5 dehnen ] spannen RP. 2
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denen er zusammenhängen kann; so daß in dem Maße, in dem die Kreise B, C und D eine höhere Expansion des Gedächtnisses darstellen, deren Reflexion in B', C' und D' immer tiefere Schichten der Wirklichkeit erreicht. Dasselbe psychologische Leben würde also eine unbeschränkte Anzahl von Malen auf aufeinanderfolgenden Stufen des Gedächtnisses wiederholt werden, und derselbe Akt des Geistes könnte sich auf vielen verschiedenen Höhen abspielen. In der Aufmerksamkeitsanstrengung gibt sich der Geist immer ganz, er gestaltet sich jedoch einfacher oder komplexer, je nach dem Niveau, das er sich aussucht, um seine Entwicklungen zu vollziehen. Normalerweise | ist es die gegenwärtige Wahrnehmung,1 die die Ausrichtung unseres Geistes bestimmt; doch je nach dem Grad der Spannung, die unser Geist annimmt, je nach der Höhe, auf die er sich versetzt, entwickelt diese Wahrnehmung in uns eine größere oder kleinere Anzahl von Bild-Erinnerungen2. Kurz, mit anderen Worten: Die persönlichen, exakt lokalisierten Erinnerungen3, deren Reihe den Lauf unserer vergangenen Existenz abbilden würde, bilden miteinander vereint die letzte und weiteste Hülle unseres Gedächtnisses. Wesensmäßig flüchtig, materialisieren4 sie sich nur durch Zufall, sei es, daß eine zufällig präzise Bestimmtheit unserer körperlichen Haltung sie anzieht, sei es, daß gerade die Unbestimmtheit dieser Haltung den Launen ihrer Manifestation freies Spiel läßt. Doch diese äußerste Hülle zieht sich zusammen und wiederholt sich in inneren und konzentrischen Kreisen, die als engere dieselben Erinnerungen5 enthalten, schwächer, immer weiter von ihrer persönlichen und ursprünglichen Form entfernt und in ihrer Banalität immer bes1
Normalerweise … Wahrnehmung, ] Es ist immer die gegenwärtige Wahrnehmung, RP. 2 Bild-Erinnerungen ] Ideen RP. 3 Erinnerungen ] Bilder RP. 4 materialisieren ] zeigen RP. 5 Erinnerungen ] Bilder RP.
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ser geeignet, sich auf die gegenwärtige Wahrnehmung anwenden zu lassen und sie nach Art einer Spezies zu bestimmen, die das Individuum umfaßt. Es kommt ein Moment, in dem die so reduzierte Erinnerung sich so gut in die gegenwärtige Wahrnehmung einfügt, daß man nicht zu sagen wüßte, wo die Wahrnehmung aufhört und wo die Erinnerung beginnt. Und dies ist der Moment, in dem sich das Gedächtnis, anstatt launenhaft Vorstellungen1 erscheinen und wieder verschwinden zu lassen, ganz nach den Einzelheiten der körperlichen Bewegungen richtet. Doch je stärker sich die Erinnerungen der Bewegung und dadurch der äußeren Wahrnehmung annähern, um so größere praktische Bedeutung erlangen die Gedächtnisoperationen. Die vergangenen Bilder, so, wie sie sind, mit all ihren Einzelheiten bis hin zu ihrer affektiven Färbung reproduziert, 2 sind die Bilder der Träumerei oder des Traumes; das, was wir handeln nennen, besteht eben gerade darin, zu erreichen, daß dieses Gedächtnis sich zusammenzieht, oder besser: | sich mehr und mehr schärft, bis es der Erfahrung, in die es eindringen wird, nur noch die Schneide seiner Klinge3 präsentiert. Und im Grunde liegt es daran, daß man hier das motorische Element des Gedächtnisses nicht klar 1
Vorstellungen ] Bilder RP. um so … reproduziert, ] von um so stärkerer Aktivität zeugt die Geistesoperation, die diese bereitstellt. Die persönlichen und wohllokali sierten Bilder, die anläßlich einer Wahrnehmung unverhofft aufsteigen, sind unstete Bilder. Sie ziehen vorüber oder bleiben, gerade so wie es ihnen genehm ist. Jene hingegen, die den äußeren Gegenständen entgegenströmen, haben schon Anteil an der Regelmäßigkeit und der Stabilität der Wahrnehmung, die sie einrahmen soll. Das heißt, daß in den Gedächtnisoperationen unsere Passivität stetig abnimmt und unsere Aktivität stetig ansteigt, je mehr die Erinnerung gegen die Wahrnehmung tendiert, die ihre Grenze darstellt. Und in der Tat, wie anders sollte man die Aktivität definieren? Die Bilder der Vergangenheit, so, wie sie sind, mit all ihren Einzelheiten bis hin zu ihrer affektiven Färbung gespeichert, RP. 3 nur noch … Klinge ] nur noch eine Messerschneide RP. 2
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herauslöste, daß das Automatische im Wachrufen der Erinnerungen mal verkannt und mal übertrieben wurde. In unserem Sinne ergeht ein Appell an unsere Aktivität genau in dem Moment, in dem unsere Wahrnehmung1 sich automatisch in Imitations bewegungen zerlegt hat: Wir sind dann mit einer Skizze versorgt, deren Einzelheiten und Farbe wir wiedererschaffen, indem wir mehr oder weniger entfernte2 Erinnerungen darauf projizieren. Normalerweise jedoch betrachtet man die Dinge durchaus nicht auf diese Weise. Mal verleiht man dem Geist absolute Autonomie: Man verleiht ihm die Macht, die gegenwärtigen oder abwesenden Gegenstände so zu bearbeiten, wie es ihm gefällt; und dann versteht man die tiefgreifenden Störungen der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses nicht mehr, die aus der geringsten Beeinträchtigung des sensomotorischen Gleichgewichtes folgen können. Mal hingegen macht man aus den Vorstellungsprozessen3 lauter mechanische Effekte der gegenwärtigen Wahrnehmung: Man will, daß in notwendigem und gleichförmigem Fortschritt der Gegenstand Empfindungen aufsteigen lasse und die Empfindungen Ideen, die sich an ihnen festmachen; dann gelangt man, da es keinen Grund gibt, warum das zu Beginn mechanische Phänomen im Laufe des Weges sein Wesen ändern sollte, zur Hypothese eines Gehirns, in dem sich intellektuelle Zustände ablagern, schlummern und wieder erwachen könnten. Im einen wie im anderen Fall verkennt man die wahre Funktion des Körpers, und da man nicht gesehen hat, in welchem Punkt das Eingreifen eines Mechanismus notwendig ist, weiß man ebensowenig, wo 1 Und
im Grunde … Wahrnehmung ] Und ehrlich gesagt liegt es daran, daß man hier das motorische und automatische Element der Erinnerung nicht klar herauslöste, daß das Aktive in den Gedächtnisoperationen mal verkannt und mal übertrieben wurde. In unserem Sinne ergeht ein Appell an diese Aktivität genau in dem Moment, in dem die Wahrnehmung RP. 2 mehr oder weniger entfernte ] immer entferntere RP. 3 Vorstellungsprozessen ] intellektuellen Prozessen RP.
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man ihn, wenn man ihn einmal auf den Plan gerufen hat, enden lassen soll. Doch ist der Moment gekommen, uns aus diesen Allgemeinheiten hinauszubewegen.1 Wir müssen untersuchen, ob unsere Hypothese | durch die bekannten Tatsachen zerebraler Lokalisation bestätigt oder entkräftet wird. Die Störungen des reproduktiven Gedächtnisses, die lokalisierten Schädigungen der Hirnrinde entsprechen, sind immer Krankheiten des Wiedererkennens, sei es des visuellen oder auditiven Wiedererkennens im allgemeinen (Seelenblindheit und -taubheit), sei es des Wiedererkennens der Wörter (Wortblindheit, -taubheit 2 etc.). Von dieser Art also sind die Störungen, die wir untersuchen müssen. Wenn aber unsere Hypothese berechtigt ist, dann werden diese Schädigungen des Wiedererkennens keineswegs daher kommen, daß die Erinnerungen in der geschädigten Region weilten. Sie werden von zwei Ursachen herrühren müssen: einmal daher, daß unser Körper angesichts des von außen kommenden Reizes nicht mehr imstande ist, die präzise Haltung, mit Hilfe derer eine Auswahl unter unseren Erinnerungen vorgenommen wird, automatisch einzunehmen, und einmal daher, daß die Erinnerungen im 1 Doch
… hinauszubewegen. ] Wir müssen nun ins Detail der Tatsachen gehen, untersuchen, worin sich die schematischen Bewegungen des Wiedererkennens von real ausgeführten Bewegungen unterscheiden, und zeigen, wie die Bilder sich dort einfügen. (Fortsetzung folgt) H. Bergson RP. [Ende des ersten Teils in der Revue philosophique; A. d. Ü.] 2 In der kritischen Ausgabe werden zusätzlich zu den Varianten der in der Revue philosophique veröffentlichten Artikel auch die Abweichungen vom obigen Text vermerkt, die sich auf den im Fonds Doucet archivierten losen Blättern finden, auf denen Bergson die Einarbeitung seiner Artikel in das zweite Kapitel von Materie und Gedächtnis vorbereitete. Wir übernehmen hier die Angaben der kritischen Ausgabe. Auf diesen handschriftlichen und nicht veröffentlichten Blättern setzt Bergson an dieser Stelle die Aufzählung noch weiter fort und ergänzt: »…, motorische Aphasie etc.« (Fonds Doucet, BGN 1245, IV – BGN – VI – 64, Blatt 1/5 [BGN 2179]; im folgenden F1 bis F5). [A. d. Ü.]
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Körper keinen Angriffspunkt mehr finden, kein Mittel, um sich in einer Handlung1 fortzusetzen. Im ersten Fall wird die Schädigung die Mechanismen betreffen, die die empfangenen Schwingungen in automatisch ausgeführten Bewegungen fortsetzen: Die Aufmerksamkeit läßt sich nicht mehr durch den Gegenstand fixieren. Im zweiten Fall wird die Schädigung jene besonderen Zentren der Hirnrinde betreffen, die die willensgesteuerten Bewegungen vorbereiten, indem sie ihnen die notwendige sensorische Vorgeschichte liefern, und die man, zu Recht oder zu Unrecht, Vorstellungszentren nennt: Die Aufmerksamkeit läßt sich nicht mehr durch das Subjekt fixieren. Doch im einen wie im anderen Fall sind es aktuelle Bewegungen, die geschädigt sein werden, oder künftige Bewegungen, die nicht mehr vorbereitet werden: Es wird keine Zerstörung von Erinnerungen gegeben haben.2 Die Pathologie bestätigt nun diese Vorhersage. Sie offenbart uns die Existenz von zwei absolut verschiedenen Arten von Seelenblindheit und ‑taubheit sowie von Wortblindheit und ‑taubheit. Bei | der ersten Art werden die visuellen und auditiven Erinnerungen noch wachgerufen, vermögen sich aber nicht mehr auf die entsprechenden Wahrnehmungen zu fügen. Bei der zweiten wird das Wachrufen der Erinnerungen selbst verhindert. Betrifft die Schädigung nun wirklich, wie wir es sagten, im ersten Fall die sensomotorischen Mechanismen der automatischen Aufmerksamkeit und im anderen die Vorstellungsmechanismen der willensgesteuerten Aufmerksamkeit? Um unsere Hypothese zu 1 Handlung ]
vollzogenen oder zumindest im Entstehen begriffenen
Handlung F1. 2 Doch im … haben. ] Doch im einen wie im anderen Fall ist es eher die Aufmerksamkeit in dem speziellen Sinne, in dem wir dieses Wort verstehen, die vermindert oder zerstört sein wird, als das Gedächtnis selbst. Doch in beiden Fällen sind es aktuelle Bewegungen, die geschädigt sein werden, oder mögliche Bewegungen, die verhindert werden: Es wird keine Zerstörung von Bildern gegeben haben. F1
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verifizieren, müssen wir uns auf ein präzises Beispiel beschränken. Wir könnten natürlich zeigen, daß das visuelle Wiedererkennen der Dinge im allgemeinen und der Wörter im besonderen zuerst einen halbautomatischen motorischen Prozeß impliziert und dann eine aktive Projektion der Erinnerungen, die sich in die entsprechenden Haltungen einfügen.1 Wir möchten uns aber lieber an die Höreindrücke halten und spezieller2 an das Hören artikulierter Sprache, weil dieses Beispiel das umfassendste von allen ist. Das gesprochene Wort zu hören heißt nämlich als erstes, dessen Klang wiederzuerkennen, heißt dann, seinen Sinn wiederzufinden, und heißt schließlich, seine Interpretation mehr oder weniger weit voranzutreiben, kurz: heißt, durch alle Grade der Aufmerksamkeit hindurchzugehen und mehrere aufeinanderfolgende Vermögen des Gedächtnisses auszuüben. Zudem gibt es keine häufigeren und besser studierten Störungen als jene des auditiven Wortgedächtnisses.3 Und schließlich tritt die Tilgung4 der akustischen Wortbilder nicht ohne die schwere Schädigung gewisser bestimmter Windungen der Hirnrinde auf: Wir werden 1
Um unsere Hypothese … einfügen] GEDÄCHTNIS UND WIEDERERKENNEN (Ende). IV. – Das Wiedererkennen und die Aufmerksamkeit (Fortsetzung) Um den Mechanismus des aufmerksamen Wiedererkennens in seinen Einzelheiten zu studieren, bieten sich uns zwei Reihen von Wahrnehmungen an, die des Gesichts und die des Gehörs. Wir könnten zeigen, daß die vollständige visuelle Wahrnehmung einen halbautomatischen motorischen Prozeß impliziert, in welchem wir unsere Bilder projizieren; und diese Hypothese bliebe vielleicht nicht ohne Bestätigung, die sie in gewissen eigentümlichen Formen der Seelenblindheit und besonders der Worttaubheit finden könnte. RP [Beginn des zweiten Teils in der Revue philosophique; A. d. Ü.] 2 spezieller ] im besonderen RP. 3 Wortgedächtnisses. ] Wortgedächtnisses: Die psychologische Analyse könnte hier also die Pathologie zu ihrer Überprüfung heranziehen. RP. 4 Tilgung ] Auslöschung RP ; augenscheinliche Auslöschung F1.
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somit über ein unbestrittenes Beispiel der Lokalisation verfügen, an dem wir uns fragen können, ob das Gehirn wirklich imstande ist, Erinnerungen1 einzulagern. Wir müssen also im auditiven Wiedererkennen der Wörter folgendes aufweisen: 1. einen auto matischen sensomotorischen Prozeß; 2. eine aktive und sozu sagen exzentrische Projektion der Bild-Erinnerungen. | 1. Ich2 höre zwei Personen zu, die sich in einer unbekannten Sprache unterhalten. Reicht dies, damit ich sie verstehe? Die Schwingungen, die zu mir gelangen, sind dieselben wie diejenigen, die in ihre Ohren dringen. Dennoch nehme ich nur ein verschwommenes Geräusch wahr, in dem sich alle Klänge ähneln. Ich halte nichts auseinander und ich könnte nichts wiederholen. In dieser selben Klangmasse hingegen machen die Gesprächspartner Konsonanten, Vokale und Silben aus, die sich kaum äh1
Erinnerungen ] Bilder RP. Wir müssen also … Ich ] Diese verschiedenen Gründe hätten schon genügt, um unsere Wahl zu treffen. Doch es gibt noch einen anderen, schwerwiegenderen, der sie alle in den Schatten stellt. Während nämlich die übrigen psychologischen Prozesse akzidentell von Aufmerksamkeit begleitet sein können, implizieren das Sprechen und das Hören von Worten wesensmäßig Aufmerksamkeit. Das gesprochene Wort ist lediglich Musik, solange man sich darauf beschränkt, seinen Klang aufzunehmen; es wird nur dann zu Sprache, wenn man es zur Idee vertieft, das heißt, wenn man es für eine Wirkung hält, die dazu bestimmt ist, ihre Ursache zu reproduzieren. Nun ist aber aufmerksam sein nichts anderes als das. Die Aufmerksamkeit, sagten wir, besteht darin, die Bewegungen zu unterdrücken, durch die sich eine Wahrnehmung zu nützlichen Effekten fortführen würde, und so in gewisser Weise gegen den Hang der Natur anzuklimmen. In allen anderen Fällen tun wir dies nur durch eine individuelle und sprunghafte Anstrengung; die gesprochene und verstandene Sprache aber zeugt in dieser Richtung von einer kollektiven und konstanten Anstrengung. Sie symbolisiert die Aufmerksamkeit der Spezies. Das Wiedererkennen der Wörter muß uns also in einer stabilen, organisierten und leicht zu beobachtenden Form die normalerweise flüchtigen Phänomene des aufmerksamen Wiedererkennens darbieten. Ich RP. 2
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neln, kurz: unterschiedene Wörter. Wo liegt nun der Unterschied zwischen ihnen und mir? Die Frage ist, wie die Kenntnis einer Sprache, die nur Erinne rung ist, die Materialität einer gegenwärtigen Wahrnehmung modifizieren kann und bewirken, daß die einen tatsächlich hören, was die anderen unter denselben physischen Bedingungen nicht hören.1 Freilich nimmt man an, daß die im Gedächtnis angehäuften auditiven Erinnerungen2 der Wörter hier dem Ruf der Klangeindrücke antworten und deren Effekt verstärken. Wenn aber die Unterhaltung, die ich höre, für mich nur ein Geräusch ist, so mag man sich den Klang so verstärkt denken, wie man will: Das Geräusch wird, weil es lauter ist, deshalb doch nicht klarer sein. Damit die Erinnerung des Wortes3 sich durch das gehörte Wort4 wachrufen läßt, muß das Ohr zumindest das Wort5 hören. Denn wie könnten die wahrgenommenen Klänge zum Gedächtnis sprechen, wie aus dem Magazin der auditiven Bilder jene auswählen, die sich auf sie legen sollen, wenn sie nicht schon voneinander getrennt, unterschieden, kurz: als Silben und als Wörter wahrgenommen wurden? Diese Schwierigkeit scheint den Theoretikern der sensorischen Aphasie nicht genug ins Auge gefallen zu sein. Bei der Worttaubfranzösische Verb entendre hat ein breites Bedeutungsspektrum, das von ›hören‹ (im ganz basalen Sinne der Wahrnehmung eines Geräusches und in Abgrenzung zu ›zuhören‹ (écouter)) über das bewußte verstehende Hören (auch: sich miteinander verständigen/ins Einvernehmen setzen) bis hin zu dem vom Hören unabhängigen sinnerfassenden Verstehen (Begreifen) reicht. Auf den folgenden Seiten wird entendre dort, wo nicht klar ›verstehen‹ gemeint ist, mit »hören« übersetzt, wobei beide Aspekte, das rein sinnlich-akustische Hören und das verstehenderfassende Hören, mitgedacht werden müssen, da sich anhand des französischen Wortlauts hier keine Entscheidung treffen läßt. [A. d. Ü.] 2 Erinnerungen ] Bilder RP. 3 des Wortes ] der Wörter RP. 4 das gehörte Wort ] die gehörten Wörter RP. 5 zumindest das Wort ] sie zumindest RP. 1 Das
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heit nämlich befindet sich der Kranke gegenüber seiner eigenen Sprache in derselben Situation, in der wir selbst uns befinden, wenn wir eine unbekannte Sprache sprechen hören. Im allgemeinen | ist der Gehörsinn bei ihm intakt geblieben, er versteht jedoch nichts von den Worten, die er jemanden aussprechen hört, und oft gelingt es ihm sogar nicht einmal, sie zu unterscheiden. Man glaubt diesen Zustand hinreichend erklärt zu haben, wenn man sagt, daß die auditiven Erinnerungen der Wörter in der Hirnrinde zerstört sind oder daß eine mal transkortikale, mal subkortikale Schädigung die auditive Erinnerung daran hindert, die Idee wachzurufen, oder die Wahrnehmung daran, mit der Erinnerung zusammenzufinden. Zumindest im letzteren Fall aber bleibt die psychologische Frage ungebrochen bestehen: Welches ist der bewußte Prozeß, den die Schädigung ausgelöscht hat, und auf welchem Wege vollzieht sich im allgemeinen das Unterscheiden der Wörter und Silben, die dem Ohr zunächst als Klangkontinuität gegeben sind? Die Schwierigkeit wäre unüberwindlich, wenn wir es wirklich nur mit auditiven Eindrücken auf der einen Seite und auditiven Erinnerungen auf der anderen Seite zu tun hätten. Es verhielte sich jedoch anders, wenn die auditiven Eindrücke im Entstehen begriffene1 Bewegungen organisieren würden, die in der Lage sind, den gehörten Satz zu skandieren und dessen Hauptgliederungen zu kennzeichnen. Diese automatischen Bewegungen innerer Begleitung, zunächst verschwommen und schlecht koordiniert, würden durch Wiederholung immer klarer zutage treten; durch sie würde schließlich eine vereinfachte Figur gezeichnet, in der der Zuhörende eben die Bewegungen des Sprechenden in ihren groben Zügen und ihren Hauptrichtungen wiederfinden würde. So würde sich in unserem Bewußtsein in Form von im Entstehen begriffenen muskulären Empfindungen dasjenige entfalten, was wir das motorische Schema des gehörten Wortes nen1
im Entstehen begriffene ] fehlt in RP.
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nen werden. Sich ein Ohr für die Elemente einer neuen Sprache zu bilden bestünde also weder darin, den rohen Klang zu modifizieren, noch darin, ihm eine Erinnerung1 zur Seite zu stellen; es hieße, die motorischen Tendenzen der Stimmuskeln mit den Eindrücken des Ohres zu koordinieren, hieße, die motorische Begleitung zu perfektionieren. | Um eine Körperübung zu erlernen, beginnen wir damit, die Bewegung in ihrer Gesamtheit zu imitieren, so wie unsere Augen sie uns von außen zeigen, so wie wir glaubten, sie ausgeführt werden zu sehen. War unsere Wahrnehmung von ihr verschwommen, so wird auch die Bewegung verschwommen sein, die sich daran versucht, sie zu wiederholen. Doch während unsere visuelle Wahrnehmung die eines kontinuierlichen Ganzen war, ist die Bewegung, durch die wir ihr Bild zu rekonstituieren versuchen, aus einer Vielzahl von Muskelkontraktionen und ‑spannungen zusammengesetzt: Und das Bewußtsein, das wir davon haben, beinhaltet selbst mannigfache Empfindungen, die aus dem vielfältigen Spiel der Glieder entspringen. Die verschwommene Bewegung, die das Bild nachahmt, ist also schon dessen virtuelle Zerlegung; sie trägt sozusagen das Mittel ihrer Analyse in sich. Der Fortschritt, der aus der Wiederholung und der Übung geboren wird, wird einfach darin bestehen, das, was zunächst eingefaltet war, freizulegen und jeder dieser Elementarbewegungen jene Autonomie zu verleihen, die Präzision gewährleistet, ihr dabei jedoch gleichzeitig ihren Zusammenhang mit den anderen zu bewahren, ohne den sie nutzlos würde. Man sagt mit Recht, daß die Gewohnheit durch die Wiederholung der Anstrengung erworben wird; doch wozu würde die wiederholte Anstrengung dienen, wenn sie nur immer wieder dasselbe reproduzieren würde? Der wahre Effekt der Wiederholung besteht darin, zuerst zu zerlegen, dann wieder zusammenzufügen und so die Intelligenz des Körpers anzusprechen. Mit jedem neuen Versuch entfaltet sie noch 1
eine Erinnerung ] ein Bild RP.
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eingefaltete Bewegungen; jedesmal lenkt sie die Aufmerksamkeit des Körpers auf ein neues Detail, das bisher unbemerkt vorüberzog; sie bewirkt, daß er unterteilt und klassifiziert; sie unterstreicht ihm das Wesentliche; sie findet in der Gesamtbewegung eine nach der anderen die Linien wieder, die deren innere Struktur kennzeichnen. In diesem Sinne ist eine Bewegung erlernt, sobald der Körper sie begriffen hat. Auf ebendiese Weise würde eine motorische Begleitung der gehörten Rede die Kontinuität dieser Klangmasse unterbrechen. Bleibt | zu wissen, worin diese Begleitung besteht. Ist es die innerlich reproduzierte Rede selbst? Dann aber wüßte das Kind alle Wörter, die sein Ohr unterscheidet, auch zu wiederholen; und wir selbst müßten eine fremde Sprache nur verstehen, um sie mit dem richtigen Akzent auszusprechen. Doch so einfach tragen sich die Dinge bei weitem nicht zu. Ich kann eine Melodie erfassen, ihrem Muster folgen, sie sogar in meinem Gedächtnis festhalten und sie doch nicht zu singen vermögen. Ich mache mühelos Besonderheiten der Modulation und Intonation bei einem deutsch sprechenden Engländer aus – ich korrigiere ihn also innerlich; – daraus folgt jedoch nicht, daß ich, wenn ich spräche, dem deutschen Satz die richtige Modulation und Intonation geben würde. Die klinischen Fakten bestätigen hier im übrigen die alltägliche Beobachtung. Man kann dem gesprochenen Wort noch folgen und es verstehen, wenn man unfähig geworden ist, zu sprechen. Die motorische Aphasie zieht nicht die Worttaubheit nach sich. Das liegt daran, daß das Schema, mittels dessen wir die gehörte Rede skandieren, nur deren hervorstechende Konturen zeichnet. Es verhält sich zur Rede selbst wie die Skizze zum vollendeten Gemälde. Eine schwierige Bewegung zu verstehen nämlich ist das eine, etwas anderes aber ist, sie ausführen zu können. Um sie zu verstehen, genügt es, das Wesentliche an ihr zu erfassen, gerade genug, um sie von den anderen möglichen Bewegungen zu unterscheiden. Doch um sie ausführen zu können, muß man sie darüber hinaus noch seinem Körper verständlich gemacht haben.
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Nun aber erlaubt die Logik des Körpers nichts Unexplizites. Sie verlangt, daß alle Bestandteile der geforderten Bewegung einer nach dem anderen gezeigt und dann wieder miteinander zusammengesetzt werden. Hier wird eine vollständige Analyse notwendig, die kein einziges Detail vernachlässigt, und eine tatsächliche Synthese, in der nichts abgekürzt wird. Das aus einigen im Entstehen begriffenen muskulären Empfindungen zusammengesetzte Vorstellungsschema | war lediglich eine Skizze. Die real und vollständig empfundenen muskulären Empfindungen verleihen ihm die Farbe und das Leben. Bleibt zu wissen, wie eine Begleitung dieser Art zustande kommen könnte und ob sie immer in Wirklichkeit zustande kommt. Man weiß, daß die tatsächliche Aussprache eines Wortes den gleichzeitigen Einsatz der Zunge und der Lippen für die Artiku lation, des Kehlkopfes für die Phonation und schließlich der Thoraxmuskulatur für die Erzeugung des exspiratorischen Luftstroms erfordert. Jeder ausgesprochenen Silbe entspricht so das In-Kraft-Treten eines Zusammenspiels von Mechanismen, die in den Zentren des Rückenmarks oder des verlängerten Marks schon vollständig generiert bereitstehen. Diese Mechanismen sind mit den höheren Zentren der Hirnrinde durch die achsenzylindrischen Fortsätze der Pyramidenzellen der psychomotorischen Zone1 verbunden; entlang dieser Wege wandert der Impuls des Willens. So leiten wir, je nachdem, ob wir den einen oder den anderen Laut artikulieren wollen, den Handlungsbefehl zu diesem oder jenem dieser motorischen Mechanismen weiter. Wenn aber die schon vollständig generierten Mechanismen, die den verschiedenen möglichen Artikulations- und Phonationsbewegungen entsprechen, in Beziehung zu den Ursachen stehen, durch die sie in der willensgesteuerten Rede aktiviert werden, welche dies auch immer sein mögen, so gibt es ebenso Tatsachen, die 1
Gemeint sind die Axone der Pyramidenzellen des prämotorischen Kortex. [A. d. Ü.]
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die Verbindung dieser selben Mechanismen mit der auditiven Wahrnehmung der Worte außer Zweifel setzen. Unter den zahlreichen von den Klinikern beschriebenen Varianten der Aphasie kennt man zunächst zwei (die 4. und 6. Form von Lichtheim1), die eine Beziehung dieser Art zu implizieren scheinen. So hatte in einem von Lichtheim selbst beobachteten Fall die Person infolge eines Sturzes das Gedächtnis der Artikulation der Wörter und folglich2 die Fähigkeit, spontan zu sprechen, verloren; sie wiederholte jedoch mit allerhöchster Korrektheit, | was man ihr sagte.3 Außerdem kann in Fällen, in denen die spontane Rede intakt, die Worttaubheit aber absolut ist, so daß der Kranke nichts mehr von dem versteht, was man ihm sagt, die Fähigkeit, die Rede anderer zu wiederholen, noch vollständig erhalten sein.4 Wird man mit Bastian sagen, daß diese Phänomene schlicht von einer Trägheit des artikulatorischen oder auditiven Wortgedächtnisses zeugen und die akustischen Eindrücke lediglich dieses Gedächtnis aus seiner Betäubtheit wecken?5 Diese Hypothese, der wir im übrigen Raum geben werden, scheint uns die so eigentümlichen Phänomene der Echolalie nicht zu erklären, auf die Romberg6, Voisin7 und Winslow8 schon seit langem hingewiesen haben und die Kussmaul zweifellos mit einiger Übertreibung als akustische 1
Es handelt sich um die transkortikal-motorische und die transkortikal-sensorische Aphasie, die im Wernicke-Lichtheim-Schema mit den Nummern 4 und 6 bezeichnet werden. [A. d. Ü.] 2 das Gedächtnis der Artikulation der Wörter und folglich ] fehlt in RP. 3 Lichtheim, On Aphasia (Brain, Januar 1885, S. 447). 4 Ibid., S. 454. 5 Bastian, On different kinds of Aphasia (British Medical Journal, Okt. und Nov. 1887, S. 935). 6 Romberg, Lehrbuch der Nervenkrankheiten, 1853, Bd. II . 7 Von Bateman zitiert in: On Aphasia, London 1890, S. 79. – Vgl. Marcé, Mémoire sur quelques observations de physiologie pathologique (Mém. de la Soc. de Biologie, 2. Serie, Bd. III, S. 102). 8 Winslow, On obscure diseases of the Brain, London 1861, S. 505.
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Reflexe1 qualifiziert hat. Hier wiederholt die Person maschinell und vielleicht unbewußt die gehörten Worte, als ob die auditiven Empfindungen sich von selbst in Artikulationsbewegungen umwandelten. Davon ausgehend haben manche einen speziellen Mechanismus angenommen, der ein akustisches Wortzentrum mit einem artikulatorischen Sprachzentrum verbinden würde.2 Die Wahrheit scheint zwischen diesen beiden Hypothesen zu liegen: In diesen diversen Phänomenen liegt mehr als nur vollkommen mechanische Handlungen, aber weniger als ein Appell an das willensgesteuerte Gedächtnis; sie zeugen von einer Tendenz der | auditiven Worteindrücke, sich in Artikulationsbewegungen fortzusetzen, einer Tendenz, die gewiß nicht der gewöhnlichen Kontrolle unseres Willens entgeht, die vielleicht sogar ein rudimentäres Unterscheiden beinhaltet und die sich im Normalzustand durch eine innere Wiederholung der hervorstechenden Züge der gehörten Worte ausdrückt. Nichts anderes ist nun aber unser motorisches Schema. Wenn man diese Hypothese vertiefte, fände man darin vielleicht die psychologische Erklärung, die wir vorhin für gewisse Formen der Worttaubheit verlangt hatten. Es sind einige Fälle von Worttaubheit bei vollständigem Fortbestehen der akustischen Erinnerungen3 bekannt. Der Kranke hat die auditive Erinnerung der Wörter und den Gehörsinn intakt bewahrt; er erkennt dennoch keines der Wörter, die er ausgesprochen werden hört.4 Kussmaul, Les troubles de la parole, Paris 1884, S. 69 ff. [Vgl. Kussmaul, Die Störungen der Sprache, Leipzig 1881, S. 54 ff., A. d. Ü.] 2 Arnaud, Contribution à l’étude clinique de la surdité verbale (Arch. de Neurologie, 1886 [korrekt ist: 1887, Bd. XIII (März 1887, Nr. 38), A. d. Ü.], S. 192). – Spamer, Ueber Asymbolie (Arch. f. Psychiatrie, Bd. VI, S. 507 und 524). 3 Erinnerungen ] Bilder RP. 4 Siehe insbesondere: P. Sérieux, Sur un cas de surdité verbale pure (Revue de médecine, 1893, S. 733 ff.); Lichtheim, im bereits zitierten Artikel, S. 461; und Arnaud, Contrib. à l’étude de la surdité verbale 1
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Man nimmt hier eine subkortikale Schädigung an, die die akustischen Eindrücke daran hindern würde, die auditiven Wortbilder in den Zentren der Hirnrinde aufzusuchen, wo sie abgelegt wären. Doch erstens ist die Frage gerade, ob das Gehirn Bilder einlagern kann;1 und dann würde uns selbst die Feststellung einer Schädigung der Leitungsbahnen der Wahrnehmung nicht davon dispensieren, die psychologische Interpretation des Phänomens zu suchen. Der Voraussetzung nach nämlich können die auditiven Erinnerungen ins Bewußtsein zurückgerufen werden;2 der Voraussetzung nach kommen ebenso die auditiven Eindrücke im Bewußtsein an: Es muß dort also im Bewußtsein selbst eine Lücke geben, eine Auflösung der Kontinuität, kurz: etwas, das sich dem Zusammenschluß von Wahrnehmung und Erinnerung3 entgegenstellt. Nun wird sich diese Tatsache erhellen, wenn man darauf aufmerksam wird, daß die rohe auditive Wahrnehmung wahrhaft | die einer Klangkontinuität ist und daß die Rolle der durch die Gewohnheit hergestellten sensomotorischen Verbindungen im Normalzustand darin bestehen muß, diese zu zerlegen: Eine Schädigung dieser bewußten Mechanismen würde, indem sie die Zerlegung daran hindert, vollzogen zu werden, den Aufstieg der Erinnerungen4, die sich auf die entsprechenden Wahrnehmungen zu legen versuchen, ruckartig zum Stehen bringen. Es ist also das »motorische Schema«, das von der Schädigung betroffen sein könnte. Man führe sich die ziemlich seltenen Fälle von Worttaubheit unter Erhalt der akustischen Erinnerun(2. Artikel), Arch. de Neurologie, 1886 [korrekt ist: 1887, Band XIII (Mai 1887, Nr. 39), A. d. Ü.], S. 366. 1 Doch … kann; ] Doch erstens scheint uns, wie wir etwas später zeigen werden, die Hypothese im Gehirn eingelagerter Bilder, einmal angenommen, sie wäre klar, bestreitbar; RP. 2 Der Voraussetzung … werden; ] Der Voraussetzung nach nämlich sind die auditiven Bilder im Bewußtsein geblieben; RP. 3 Erinnerung ] Bild RP. 4 Erinnerungen ] Bilder RP.
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gen1 noch einmal vor Augen: Man wird, so glauben wir, gewisse in dieser Hinsicht charakteristische Einzelheiten feststellen. Adler hebt als bemerkenswerte Tatsache der Worttaubheit hervor, daß die Kranken nicht mehr auf selbst starke Geräusche reagieren, obgleich das Gehör bei ihnen die größte Feinheit bewahrt hat.2 Mit anderen Worten, der Klang findet bei ihnen nicht mehr sein motorisches Echo. Ein Kranker Charcots, der an vorübergehender Worttaubheit litt, berichtet, daß er die Glocke seiner Standuhr sehr wohl hörte, daß er jedoch die erklungenen Schläge nicht zu zählen vermocht hätte.3 Es gelang ihm also vermutlich nicht, sie voneinander zu trennen und zu unterscheiden. Ein anderer Kranker wird erklären, daß er die Worte der Unterhaltung wahrnimmt, jedoch als ein verschwommenes Geräusch.4 Und die Person schließlich, die das Verständnis des gehörten Wortes verloren hat, gewinnt dieses zurück, wenn man ihr das Wort mehrfach wiederholt und besonders wenn man es bei der Aussprache Silbe für Silbe skandiert.5 Ist diese letzte, in mehreren absolut klaren Fällen von Worttaubheit unter Erhalt | der akustischen Erinnerungen6 festgestellte Tatsache nicht besonders bezeichnend? Der Irrtum Strickers7 bestand darin, an eine vollständige innere Wiederholung der gehörten Worte zu glauben. Seine These wäre schon durch die einfache Tatsache widerlegt, daß nicht ein 1
Erinnerungen ] Bilder RP. Adler, Beitrag zur Kenntniss der seltneren Formen von sensorischer Aphasie (Neurol. Centralblatt, 1891, S. 296 und 297). 3 Bernard, De l’aphasie, Paris 1889, S. 143. 4 Ballet, Le langage intérieur, Paris 1888, S. 85 (Félix Alcan, Verl.). 5 Siehe dazu die drei von Arnaud zitierten Fälle in den Archives de Neurologie, 1886 [korrekt ist: 1887, Band XIII (Mai 1887, Nr. 39), A. d. Ü.], S. 366 ff. (Contrib. clinique à l’étude de la surdité verbale, 2. Artikel). – Vgl. den Fall von Schmidt, Gehörs- und Sprachstörung in Folge von Apoplexie (Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie, 1871, Bd. XXVII, S. 304). 6 akustischen Erinnerungen ] Bilder« RP. 7 Stricker, Du langage et de la musique, Paris 1885. 2
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einziger Fall motorischer Aphasie bekannt ist, der Worttaubheit nach sich gezogen hätte. Alle Fakten jedoch tragen bei zum Beweis der Existenz einer motorischen Tendenz, die Klänge zu zerlegen und deren Schema aufzuweisen. Diese automatische Tendenz kann sich im übrigen – wir hatten das weiter oben schon gesagt – nicht ohne eine gewisse rudimentäre intellektuelle Leistung vollziehen: Wie könnten wir sonst ähnliche Worte, die in verschiedenen Tonlagen und von Stimmen mit unterschiedlichen Klangfarben ausgesprochen werden, miteinander identifizieren und folglich mit demselben Schema verfolgen? Diese inneren Repetitions- und Wiedererkennensbewegungen sind wie ein Auftakt zur1 willensgesteuerten Aufmerksamkeit. Sie markieren die Grenze zwischen Wille und Automatismus. Durch sie werden, wie wir2 schon ahnen ließen, die charakteristischen Phänomene des intellektuellen Wiedererkennens vorbereitet und entschieden. Was aber ist dieses vollständige, zum vollen Bewußtsein seiner selbst gelangte Wiedererkennen? 2. Wir kommen nun zum zweiten Teil dieser Studie: Von den Bewegungen gehen wir zu den Erinnerungen3 über. Das aufmerksame Wiedererkennen, sagten wir, ist ein echter Kreislauf, in dem der äußere Gegenstand uns immer tiefere Teile von sich selbst offenbart, je höher die Spannung wird, die unser symmetrisch ausgerichtetes Gedächtnis annimmt, um seine Erinnerungen4 auf ihn zu projizieren. | In dem besonderen Fall, der uns beschäftigt, ist der Gegenstand ein Gesprächspartner, dessen Ideen sich in seinem Bewußtsein zu auditiven Vorstellungen5 entfalten, um sich dann zu ausgesprochenen Worten zu materialisieren. Es muß also, wenn wir recht haben, der Zuhörer sich von vornherein mitten un1
ein Auftakt zur ] eine erste Zusage der RP. wir ] wir zu Beginn dieses Kapitels RP. 3 Erinnerungen ] Bildern RP. 4 Erinnerungen ] Bilder RP. 5 Vorstellungen ] Bildern RP. 2
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ter die entsprechenden Ideen versetzen und diese zu auditiven Vorstellungen1 entwickeln, welche sich auf die rohen wahrgenommenen Klänge legen werden, indem sie sich selbst in das motorische Schema einpassen. Einer Rechnung folgen heißt, sie für sich selbst noch einmal zu machen. Die Rede eines anderen zu verstehen bestünde ebenso darin, die Kontinuität der Klänge, die das Ohr wahrnimmt, intelligent, das heißt von den Ideen ausgehend, zu rekonstituieren. Und allgemeiner würden ›aufmerksam sein‹, ›mit Intelligenz erkennen‹ und ›interpretieren‹ zu ein und derselben Operation verschmelzen, durch die der Geist – nachdem er seine Ebene festgesetzt hat und im Hinblick auf die rohen Wahrnehmungen in sich selbst den symmetrischen Punkt ihrer mehr oder weniger nahen Ursache gewählt hat – zu diesen Wahrnehmungen die Erinnerungen2 fließen läßt, die sich auf sie legen werden. Wir wollen sogleich sagen, daß man die Dinge normalerweise durchaus nicht so sieht. 3 Wir haben unsere Assoziationisten- Gewohnheiten, aufgrund derer wir uns Klänge vorstellen, die durch Berührung auditive Erinnerungen4 heraufbeschwören und die auditiven Erinnerungen5 ihrerseits Ideen. Dann gibt es Hirnschäden, die das Verschwinden der Erinnerungen nach sich zu ziehen scheinen:6 Speziell wird man in dem Fall, der uns beschäftigt, die für die kortikale Worttaubheit charakteristischen Schäden anführen können. So scheinen die psychologische Beobachtung und die klinischen Tatsachen miteinander übereinzukommen. Es gäbe demnach, in Form von physikochemischen Modifikationen der Zellen zum Beispiel, in der Hirnrinde schlummernde 1
Vorstellungen ] Bildern RP. Erinnerungen ] Bilder RP. 3 daß man … sieht. ] daß man sich die Dinge durchaus nicht so vorstellen möchte. RP. 4 Erinnerungen ] Bilder RP. 5 auditiven Erinnerungen ] Bilder RP. 6 die das … scheinen: ] die das Verschwinden der Bilder nach sich ziehen: RP. 2
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auditive Vorstellungen1: Eine von außen kommende Schwingung weckt sie, und durch einen intrazerebralen Prozeß, vielleicht | durch transkortikale Bewegungen, die die komplementären Vorstellungen2 herbeiholen, beschwören sie Ideen herauf. Man bedenke aber die befremdlichen Konsequenzen einer solchen Hypothese. Das auditive Bild eines Wortes ist kein Gegenstand mit endgültig festgelegten Konturen, denn dasselbe Wort ergibt, von unterschiedlichen Stimmen oder von derselben Stimme in unterschiedlichen Tonlagen ausgesprochen, verschiedene Klänge. Es wird also ebenso viele auditive Erinnerungen3 eines Wortes geben wie Tonlagen und Klangfarben von Stimmen. Werden sich all diese Bilder im Gehirn aufstapeln, oder, wenn das Gehirn auswählt, welches wird dasjenige sein, dem es den Vorzug gibt? Geben wir jedoch zu, daß es seine Gründe hat, um eines von ihnen auszuwählen: Wie wird dann dieses selbe Wort, ausgesprochen durch eine neue Person, mit einer Erinnerung zusammenfinden, von der4 es sich unterscheidet? Denn diese Erinnerung5 ist, wohlgemerkt, der Voraussetzung nach etwas Lebloses und Passives, folglich unfähig, unter den äußeren Unterschieden eine interne Ähnlichkeit zu erfassen. Man spricht vom auditiven Bild des Wortes, als ob es eine Entität oder eine Gattung wäre: Ohne jeden Zweifel existiert diese Gattung für ein aktives Gedächtnis, das die Ähnlichkeit der komplexen Klänge schematisiert; für ein Gehirn aber, das nur die Materialität der wahrgenommenen Klänge speichert und speichern kann, wird es vom selben Wort tausend und abertausend unterschiedene Bilder geben. Von einer neuen Stimme ausgesprochen, wird es ein neues Bild darstellen, das schlicht und einfach zu den anderen hinzutritt. 1
Vorstellungen ] Bilder RP. Vorstellungen ] Bilder RP. 3 Erinnerungen ] Bilder RP. 4 einer Erinnerung … von der ] einem Bild zusammenfinden, von dem RP. 5 diese Erinnerung ] dieses Bild RP. 2
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Doch hier noch etwas nicht weniger Verzwicktes. Ein Wort hat für uns erst von dem Tag an Individualität, an dem unsere Lehrer uns beibrachten, es zu abstrahieren. Es sind nicht Wörter, die wir zuerst aussprechen lernen, sondern Sätze. Ein Wort verwächst immer mit denen, die es begleiten und je nach Gangart und Bewegung des Satzes, von dem es fester Bestandteil ist, nimmt es verschiedene Aspekte an: So wie jede Note | eines musikalischen Themas vage das gesamte Thema reflektiert. Geben wir also zu, daß es auditive Mustererinnerungen1 gibt, die durch gewisse intrazerebrale Vorrichtungen dargestellt werden und auf die vorüberziehenden Klangeindrücke warten: Diese Eindrücke würden vorüberziehen, ohne erkannt zu werden. Wo nämlich liegt der gemeinsame Maßstab, wo ist der Berührungspunkt des trockenen, leblosen, isolierten Bildes und der lebendigen Wirklichkeit des Wortes, das mit dem Satz zu einem organischen Ganzen wird? Ich verstehe sehr gut jenen Beginn automatischen Wiedererkennens, der, wie wir es weiter oben gesehen haben, darin bestünde, die Hauptgliederungen dieses Satzes zu unterstreichen und so dessen Bewegung zu übernehmen. Wenn man aber nicht für alle Menschen identische Stimmen annehmen will, die im selben Tonfall dieselben stereotypen Sätze sprechen, sehe ich nicht, wie die gehörten Worte zu ihren Bildern in der Hirnrinde finden sollen. Wenn es nun wirklich in den Zellen der Hirnrinde abgelegte Erinnerungen2 gibt, wird man zum Beispiel in der sensorischen Aphasie den unwiederbringlichen Verlust gewisser bestimmter Worte feststellen und die vollständige Erhaltung der übrigen. Tatsächlich spielen sich die Dinge aber nicht so ab. Mal ist es die Totalität der Erinnerungen3, die verschwindet, wenn die Fähigkeit mentalen Hörens schlicht und einfach ausgelöscht ist, mal 1
Mustererinnerungen ] Musterbilder RP. Erinnerungen ] Bilder RP. 3 Erinnerungen ] Bilder RP. 2
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wohnt man einer allgemeinen Schwächung dieser Funktion bei; doch ist es normalerweise die Funktion, die geschmälert ist, und nicht die Zahl der Erinnerungen1. Es scheint, daß der Kranke nicht mehr die Kraft hat, seine akustischen Erinnerungen wieder zu fassen zu bekommen, daß er um das Wortbild kreist, ohne daß es ihm gelingt, darauf zu landen. Oft genügt es, ihn auf den Weg zu bringen, ihm die erste Silbe2 zu sagen oder ihn schlicht zu ermutigen3, um ihn ein Wort wiederfinden zu lassen. | Eine Emotion kann denselben Effekt hervorrufen.4 Gleichwohl treten Fälle auf, in denen es durchaus so scheint, als ob es Gruppen bestimmter Vorstellungen5 wären, die aus dem Gedächtnis gelöscht wurden. Wir sind eine große Anzahl dieser Tatsachen noch einmal durchgegangen, und es schien uns, daß man sie in zwei voneinander scharf geschiedene Kategorien aufteilen kann. In der ersten geht der Verlust der Erinnerungen6 im allgemeinen plötzlich vor sich; in der zweiten ist er progressiv. In der ersten sind die vom Gedächtnis abgelösten Erinnerungen7 irgendwelche beliebigen, willkürlich und sogar wankelmütig ausgewählt: Es können bestimmte Worte, bestimmte Zahlen oder oft sogar alle Worte einer erlernten Sprache sein. In der zweiten folgen die Worte bei ihrem Verschwinden einer methodischen und grammatischen Ordnung, ebenjener, die das Ribotsche Gesetz anzeigt: Die Eigen namen verschwinden zuerst, dann die Allgemeinbegriffe und zu1
Erinnerungen ] Bilder RP. Bernard, op. cit., S. 172 und 179. Vgl. Babilée, Les troubles de la mémoire dans l’alcoolisme, Paris 1886 (Diss. in Medizin), S. 44. 3 Rieger, Beschreibung der Intelligenzstörungen in Folge einer Hirnverletzung, Würzburg 1889, S. 35. 4 Wernicke, Der aphasische Symptomenkomplex, Breslau 1874, S. 39. – Vgl. Valentin, Sur un cas d’aphasie d’origine traumatique (Rev. médicale de l’Est, 1880, S. 171). 5 Vorstellungen ] Bilder RP. 6 Erinnerungen ] Bilder RP. 7 vom Gedächtnis abgelösten Erinnerungen ] dem Gedächtnis ent zogenen Bilder RP. 2
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letzt die Verben.1 Damit haben wir die äußeren Unterschiede. Hier nun, wie uns scheint, der interne Unterschied: In den Amnesien der ersten Art, die fast alle die Folge eines heftigen Schocks sind, neigen wir dazu, zu glauben, daß die augenscheinlich ausgelöschten Erinnerungen2 in Wirklichkeit präsent und nicht nur präsent, sondern auch wirksam sind. Um ein oft zitiertes Beispiel von Winslow3 zu verwenden, jenes der Person, die den Buchstaben F, und nur den Buchstaben F, vergessen hatte, fragen wir uns, ob man überall, wo man ihn antrifft, von einem bestimmten Buchstaben absehen und ihn folglich von den gesprochenen oder geschriebenen Wörtern, mit denen er eine Einheit bildet, ablösen kann, wenn man ihn nicht | zuvor implizit wiedererkannt hat? In einem anderen vom selben Autor angeführten Fall4 hatte die Person Sprachen vergessen, die sie erlernt hatte, und auch Gedichte, die sie geschrieben hatte. Als sie aufs neue zu dichten begann, komponierte sie wieder nahezu die gleichen Verse. In solchen Fällen erlebt man im übrigen oft eine vollständige Wiederherstellung der verschwundenen Erinnerungen. Ohne uns zu kategorisch über eine Frage dieser Art aussprechen zu wollen, können wir uns doch nicht hindern, eine Analogie zwischen diesen Phänomenen und den Persönlichkeitsspaltungen festzustellen, die Pierre Janet beschrieben hat:5 Manche unter ihnen ähneln erstaunlich jenen »negativen Halluzinationen« und »Suggestio ypnotiseure indu nen auf verabredete Zeichen«6, welche die H Ribot, Les maladies de la mémoire, Paris 1881, S. 131 ff. (Félix Alcan, Verl.). 2 Erinnerungen ] Bilder RP. 3 Winslow, On obscure Diseases of the Brain, London 1861. 4 Ibid., S. 372. 5 Pierre Janet, État mental des hystériques, Paris 1894, II, S. 263 ff. – Vgl. derselbe, L’automatisme psychologique, Paris 1889. 6 Die wörtliche Übersetzung wäre »Suggestion mit Anhaltspunkten«, der obige Ausdruck ist aus der Übersetzung des Werks von Pierre Janet (Der Geisteszustand der Hysterischen: Die psychischen Stigmata, Leipzig 1
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zieren.1 – Ganz anders verhält es sich mit den Aphasien der zweiten Art, den echten Aphasien. Sie liegen, wie wir etwas später zu zeigen versuchen werden, an dem fortschreitenden Abnehmen einer wohllokalisierten Funktion: der Fähigkeit, die Worterinnerungen2 zu aktualisieren. Wie soll man erklären, daß die Amnesie hier einem methodischen Vorgehen folgt, beginnend mit den Eigennamen und mit den Verben endend? Man würde kaum einen Weg dazu sehen, wenn die Wortbilder wahrhaft in den Zellen der Hirnrinde abgelegt wären: Wäre es nicht in der Tat seltsam, daß die Krankheit die Zellen immer in derselben Reihenfolge angreifen würde?3 Dieser Sachverhalt wird sich jedoch aufklären, wenn man mit uns annimmt, daß die Erinnerungen4, um sich zu aktualisieren, einer motorischen Unterstützung bedürfen | und daß sie, um wieder wachgerufen zu werden, eine mentale Haltung erfordern, die selbst in eine körperliche Haltung eingelassen ist. Dann sind die Verben, deren Wesen darin besteht, imitierbare Handlungen auszudrücken, ebenjene Worte, welche wir durch eine körperliche Anstrengung wieder zu erfassen vermögen, wenn die Funktion der Sprache nahe daran ist, uns zu entgleiten: Die Eigennamen hingegen, die von allen Wörtern am weitesten von diesen unpersönlichen Handlungen, die unser 1894, S. 39) übernommen, sinngemäß handelt es sich um das, was man heute in der Hypnose einen »Anker« nennen würde. [A. d. Ü.] 1 Siehe dazu den Fall von Grashey, den Sommer erneut studiert hat und als beim aktuellen Stand der Aphasie-Theorien unerklärbar bezeichnet. In diesem Beispiel erscheinen die durch die Person ausgeführten Bewegungen, als seien sie an ein unabhängiges Gedächtnis gerichtete Signale. (Sommer, Zur Psychologie der Sprache, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. der Sinnesorgane, Bd. II, 1891, S. 143 ff. – Vgl. die Mitteilung von Sommer auf dem Kongreß deutscher Irrenärzte, Arch. de Neurologie, Bd. XXIV, 1892 [S. 118 f., A. d. Ü.].) 2 Worterinnerungen ] Wortbilder RP. 3 Wundt, Psychologie physiologique, Bd. I, S. 239. [Vgl. Wundt, Physiologische Psychologie, Bd. I, 2. Aufl., Leipzig 1880, S. 212 f., A. d. Ü.] 4 Erinnerungen ] Bilder RP.
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Körper skizzieren kann, entfernt sind, sind diejenigen, die von einer Schwächung der Funktion als erstes betroffen wären. Zu beachten ist auch jene eigentümliche Tatsache, daß ein Aphasiker, der durchweg unfähig geworden ist, das von ihm gesuchte Substantiv zu finden, es durch eine Umschreibung ersetzen wird, in die andere Substantive1 eingehen und manchmal sogar das widerspenstige Substantiv selbst: Da er das richtige Wort nicht zu denken vermochte, hat er die entsprechende Handlung gedacht, und diese Haltung hat die allgemeine Richtung einer Bewegung bestimmt, aus der der Satz hervorgegangen ist. Auf diese Weise passiert es uns auch, daß wir, wenn wir den Anfangsbuchstaben eines vergessenen Namens behalten haben, den Namen durch das Aussprechen dieses Anfangsbuchstabens wiederfinden.2 – So ist es in den Fällen der zweiten Art die Funktion, die in ihrer Gesamtheit betroffen ist, und in denen der ersten Art muß das dem Anschein nach eindeutigere Vergessen in Wirklichkeit niemals endgültig sein. Ebensowenig im einen wie im anderen Fall finden wir in bestimmten Zellen der Hirnsubstanz lokalisierte Erinnerungen vor, 3 die eine Zerstörung dieser Zellen auslöschen würde. Doch befragen wir unser Bewußtsein. Fragen wir es, was geschieht, wenn wir den Worten anderer lauschen, mit der Absicht, sie zu verstehen. Warten wir passiv, daß die Eindrücke | ihre Bilder holen gehen? Spüren wir nicht vielmehr, daß wir uns in eine bestimmte Disposition versetzen, die je nach Gesprächspartner, je nach der Sprache, die dieser spricht, der Art der Ideen, die er ausdrückt, und insbesondere mit der allgemeinen Bewegung seiBernard, De l’aphasie, Paris 1889, S. 171 und 174. zitiert den Fall eines Kranken, der alle Namen vergessen hatte, sich aber an ihre Anfangsbuchstaben erinnerte und dem es gelang, durch diese die Namen wiederzufinden (zitiert von Bernard, De l’aphasie, S. 179.) 3 finden wir … vor, ] finden wir Erinnerungen vor, die an das Schicksal bestimmter Zellen der Hirnsubstanz gebunden wären und RP. 1
2 Graves
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nes Sprechens variiert, als ob wir damit beginnen würden, zuerst die Tonart unserer intellektuellen Tätigkeit abzustimmen? Das motorische Schema, das seinen Tonfall unterstreicht und Windung um Windung der Kurve seines Denkens folgt, weist unserem Denken den Weg. Es ist das leere Behältnis, das durch seine Form die Form bestimmt, zu der die flüssige Masse tendieren wird, die dort hineinschießt. Doch wird man zögern, den Mechanismus der Interpretation so zu verstehen, und zwar aufgrund der unbesiegbaren Tendenz, die uns dazu bringt, bei jeder Gelegenheit eher Dinge als Fortschritte zu denken. Wir sagten, daß wir von der Idee ausgingen und sie zu auditiven Bild-Erinnerungen1 entwickelten, die in der Lage sind, sich in das motorische Schema einzufügen, um sich auf die gehörten Laute zu legen. Man hat dort einen kontinuierlichen Fortschritt, durch den das Nebelgewölk der Idee sich zu unterschiedenen auditiven Bildern kondensiert, die, zunächst noch flüssig, sich schließlich durch ihr Zusammenwachsen mit den materiell vernommenen Lauten verfestigen werden. In keinem Augenblick kann man mit Exaktheit sagen, daß die Idee oder daß das Erinnerungsbild 2 aufhört, daß das Erinnerungsbild3 oder daß die Empfindung beginnt. Und in der Tat, wo ist die Grenzlinie zwischen dem Durcheinander der massenhaft wahrgenommenen Laute und der Klarheit, die die wiedererinnerten auditiven Bilder dort hinzubringen, zwischen der Diskontinuität dieser wiedererinnerten Bilder selbst und der Kontinuität der ursprünglichen Idee, welche sie in unterschiedene Worte aufspalten und brechen?4 Das wissenschaftliche Denken aber, das diese ununterbrochene Reihe von Veränderungen analysiert und dem unwiderstehlichen Bedürfnis nach symbolischer Darstellung nach1
Bild-Erinnerungen ] Bildern RP. Erinnerungsbild ] Bild RP. 3 Erinnerungsbild ] Bild RP. 4 Im Sinne der Lichtbrechung. [A. d. Ü.] 2
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gibt, hält die Hauptphasen dieser Evolution fest und verfestigt sie zu fertigen Dingen. | Es erhebt die vernommenen rohen Laute zu getrennten und vollständigen Wörtern und dann die wiedererinnerten auditiven Bilder zu von der Idee, die sie entfalten, unabhängigen Entitäten: Diese drei Terme, rohe Wahrnehmung, auditives Bild und Idee, bilden so unterschiedene Ganzheiten, von denen jede sich selbst genügt. Und während man, um sich an die reine Erfahrung zu halten, notwendig von der Idee hat ausgehen müssen – da die auditiven Erinnerungen1 durch sie zusammengeschweißt sind und die rohen Laute ihrerseits erst durch die Erinnerungen2 vervollständigt werden –, meint man, es spräche nichts dagegen, nachdem man willkürlich den rohen Laut vervollständigt hat und ebenso willkürlich die Erinnerungen3 zusammengeschweißt hat, die natürliche Ordnung der Dinge umzustürzen und zu behaupten, daß wir von der Wahrnehmung zu den Erinnerungen4 und von den Erinnerungen5 zur Idee fortschreiten. Dennoch wird man gezwungenermaßen in der einen oder anderen Form, im einen oder anderen Moment die unterbrochene Kontinuität der drei Terme wiederherstellen müssen. Man wird also annehmen, daß diese drei Terme, die in verschiedenen Teilen des verlängerten Marks und der Hirnrinde6 beherbergt sind, Verbindungen zueinander unterhalten, derart daß die Wahrnehmungen die auditiven Erinnerungen7 wecken gehen und die Erinnerungen8 ihrerseits Ideen. Da man die Hauptphasen der Entwicklung zu eigenständigen Termen verfestigt hat, materialisiert man nun die Entwicklung selbst zu Verbindungswegen oder Im1
Erinnerungen ] Bilder RP. Erinnerungen ] Bilder RP. 3 Erinnerungen ] Bilder RP. 4 Erinnerungen ] Bildern RP. 5 Erinnerungen ] Bildern RP. 6 des verlängerten Marks und ] fehlt in RP. 7 auditiven Erinnerungen ] Bilder RP. 8 Erinnerungen ] Bilder RP. 2
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pulsbewegungen. Nicht ungestraft jedoch wird man so die wahre Ordnung umgekehrt und, als notwendige Folge davon, in jeden Term der Reihe Elemente eingefügt haben, die erst nach diesem wirklich werden. Und ebenfalls nicht ungestraft wird man die Kontinuität eines ungeteilten Fortschritts zu voneinander geschiedenen und unabhängigen Termen haben erstarren lassen. Dieser Modus der Vorstellung wird vielleicht genügen, wenn man ihn strikt auf die Tatsachen beschränkt, die seiner Erfindung zugrunde lagen: Jede neue Tatsache | jedoch wird einen dazu zwingen, die Figur komplexer zu gestalten und entlang der Bewegung neue Stationen einzuschieben, ohne daß es diesen nebeneinandergereihten Stationen jemals gelänge, die Bewegung selbst zu rekonstituieren. Nichts ist in dieser Hinsicht lehrreicher als die Geschichte der »Schemata« der sensorischen Aphasie1. In einer ersten Periode, die durch die Arbeiten von Charcot 2, Broadbent3, Kussmaul4 und Lichtheim5 gekennzeichnet wurde, hält man sich in der Tat an die Hypothese eines »ideagenen Zentrums«, das durch transkortikale Bahnen mit den verschiedenen Sprachzentren verbunden ist. Doch dieses Zentrum der Ideen löste sich bei der Analyse sehr schnell auf. Während in der Tat die Hirnphysiologie besser und besser in der Lage war, Empfindungen und Bewegungen, nie jedoch Ideen, zu lokalisieren, zwang die Vielfältigkeit der sensorischen Aphasien die Kliniker dazu, das intellektuelle Zentrum in 1
Diese Form wird heute Wernicke-Aphasie genannt. [A. d. Ü.] 2 Bernard, De l’aphasie, S. 37. 3 Broadbent, A case of peculiar affection of speech (Brain 1879, S. 494). 4 Kussmaul, Les troubles de la parole, Paris 1884, S. 234. [Vgl. Kussmaul, Die Störungen der Sprache, Leipzig 1881, S. 182, A. d. Ü.] 5 Lichtheim, On Aphasia (Brain, 1885). Man muß jedoch anmerken, daß Wernicke, der erste, der die sensorische Aphasie systematisch studiert hat, auf die Annahme eines Begriffszentrums verzichtete (Der aphasische Symptomenkomplex, Breslau 1874).
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Vorstellungszentren von wachsender Vielzahl aufzutrennen, das Zentrum der visuellen Vorstellungen1, das Zentrum der tastsinnlichen Vorstellungen2, das Zentrum der auditiven Vorstellungen3 etc. – und mehr noch: manches Mal die Bahn, die zwei von ihnen miteinander verband, in zwei verschiedene Bahnen aufzuspalten, eine auf- und eine absteigende.4 Dies war der charakteristische Zug der Schemata der späteren Periode, jenen von Wysman5, Moeli6, Freud7 etc. So wurde die Theorie immer komplizierter, ohne daß es ihr jedoch gelang, | die Komplexität des Wirklichen zu umfangen. Und mehr noch: Mit zunehmender Kompliziertheit ließen die Schemata Möglichkeiten von Schädigungen erkennen und vermuten, welche, zweifellos vielfältiger, um so spezieller und einfacher sein mußten, da die Verkomplizierung des Schemas ja gerade auf der Sonderung von Zentren beruhte, die man zuvor miteinander in eins gesetzt hatte. Nun war aber die Erfahrung hier weit davon entfernt, der Theorie recht zu geben, da sie fast immer mehrere dieser einfachen psychologischen Schädigungen, die die Theorie isolierte, partiell und auf vielfältige Weise vereint zeigte. So machte die wachsende Kompliziertheit der Aphasie-Theorien sich selbst zunichte – muß man sich da wundern, wenn man die aktuelle Pathologie, immer skeptischer 1
Vorstellungen ] Bilder RP. Vorstellungen ] Bilder RP. 3 Vorstellungen ] Bilder RP. 4 Bastian, On different kinds of Aphasia (British Medical Journal, 1887). – Vgl. die (lediglich als möglich angegebene) Erklärung der optischen Aphasie durch Bernheim: De la cécité psychique des choses (Revue de Médecine, 1885). 5 Wysman, Aphasie und verwandte Zustände (Deutsches Archiv für klinische Medicin, 1890). – Magnan hatte im übrigen schon diesen Weg beschritten, wie es das Schema von Skwortzoff zeigt, De la cécité des mots (Diss. med., 1881, Pl. I). 6 Moeli, Ueber Aphasie bei Wahrnehmung der Gegenstände durch das Gesicht (Berliner klinische Wochenschrift, 28. April 1890). 7 Freud, Zur Auffassung der Aphasien, Leipzig 1891. 2
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gegenüber den Schemata, wieder schlicht und einfach zur Beschreibung der Fakten zurückkehren sieht1?2 Wie aber hätte es auch anders sein können? Wenn man manche Theoretiker der sensorischen Aphasie hört, könnte man glauben, daß sie nie die Struktur eines Satzes aus der Nähe betrachtet haben. Sie argumentieren so, als ob ein Satz sich aus Namen zusammensetzte, die Bilder von Dingen heraufbeschwören. Was wird aus jenen diversen Teilen der Rede, deren Rolle gerade darin besteht, zwischen den Bildern Bezüge und Nuancen aller Art herzustellen? Wird man sagen, daß jedes dieser Wörter selbst ein zweifellos verschwommeneres, aber bestimmtes materielles Bild ausdrückt und heraufbeschwört? Dann denke man an die Vielzahl der unterschiedlichen Beziehungen, die dasselbe Wort ausdrücken kann, je nach dem Platz, den es einnimmt, und den Termen, die es verbindet! Wird man anführen, daß dies Raffinessen einer bereits sehr hoch entwickelten Sprache sind und daß eine Sprache aus konkreten Begriffen, die dazu bestimmt sind, Bilder von Dingen aufsteigen zu lassen, möglich ist? Das gebe ich problemlos zu; doch je | primitiver die Sprache ist, die man spricht, und je weniger Terme sie enthält, die Beziehungen ausdrücken, um so größeren Raum muß man der Aktivität meines Geistes einräumen, da man ihn dazu zwingt, die Beziehungen, die man nicht ausdrückt, wiederherzustellen; das heißt, daß man mehr und mehr die Hypothese aufgibt, nach der jedes Bild3 sich seine Idee vom Haken holte. Offengesagt ist dies immer nur eine Frage des Grades: raffiniert oder plump, eine Sprache läßt stillschweigend viel mehr mitverstehen, als sie aussprechen kann. Wesensmäßig diskontinuierlich, da sie durch nebeneinandergereihte Wörter vorgeht, kann die Rede nur in Abständen die Hauptetap1
wieder … sieht ] sich schlicht und einfach an die Beschreibung der Fakten halten sieht RP. 2 Sommer, Mitteilung auf einem Kongreß von Irrenärzten. (Arch. de Neurologie, Bd. XXIV, 1892 [S. 118 f., A. d. Ü.].) 3 Bild ] Wortbild RP.
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pen der Denkbewegung abstecken. Aus diesem Grund werde ich die Rede meines Gegenübers verstehen, wenn ich von einem dem seinen analogen Denken ausgehe, um dessen Windungen dann mit Hilfe von Wortbildern zu folgen, die wie lauter Schilder dazu bestimmt sind, mir von Zeit zu Zeit den Weg zu weisen. Doch werde ich sie nie verstehen, wenn ich von den Wortbildern selbst ausgehe, denn zwischen zwei aufeinanderfolgenden Wortbildern besteht ein Zwischenraum, den alle konkreten Vorstellungen nie zu füllen vermöchten. Die Bilder werden nämlich nie etwas anderes sein als Dinge, und das Denken ist eine Bewegung. Vergeblich also behandelt man Erinnerungsbilder1 und Ideen wie fertige Dinge, denen man dann als Sitz problematische2 Zentren zuweist. Man mag die Hypothese noch so gut in einer der Anatomie und Physiologie entlehnten Sprache verkleiden, sie ist nichts anderes als die assoziationistische Konzeption des Geisteslebens; für sie spricht nur die beharrliche Tendenz der diskursiven Intelligenz, jeden Fortschritt in Phasen zu zerschneiden und diese Phasen dann zu Dingen zu verfestigen; und da sie a priori aus einer Art metaphysischem Vorurteil3 geboren ist, hat sie weder den Vorzug, der Bewegung | des Bewußtsein zu folgen, noch denjenigen, die Erklärung der Tatsachen zu erleichtern. Doch wir müssen diese Illusion bis zu dem Punkt verfolgen, an dem sie in einen offenkundigen Widerspruch mündet. Die Ideen, sagten wir, die reinen Erinnerungen, die vom Grunde des Gedächtnisses herbeigerufen werden, entwickeln sich zu BildErinnerungen, die immer besser in der Lage sind, sich in das motorische Schema einzufügen. Je mehr diese Erinnerungen die Form einer immer vollständigeren, immer konkreteren und immer bewußteren Vorstellung annehmen, um so mehr tendieren sie dazu, mit der Wahrnehmung zu verschmelzen, die sie anzieht 1
Erinnerungsbilder ] Bilder RP. problematische ] geeignete RP. 3 aus einer Art metaphysischem Vorurteil ] aus einem metaphysischen Bedürfnis des Denkens RP. 2
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oder deren Rahmen sie übernehmen. Eine Region, in der die Erinnerungen erstarren und sich anhäufen, gibt es im Gehirn also nicht und kann es auch nicht geben. Die angebliche Zerstörung der Erinnerungen durch Hirnschädigungen ist lediglich eine Unterbrechung des kontinuierlichen Fortschritts, durch den die Erinnerung sich aktualisiert. Und folglich wird man, wenn man um jeden Preis zum Beispiel die auditiven Erinnerungen1 der Wörter in einem bestimmten Punkt des Gehirns lokalisieren will, durch gleichgute Gründe dazu gebracht, dieses Vorstellungszentrum vom Wahrnehmungszentrum zu scheiden oder die beiden Zentren miteinander verschmelzen zu lassen. Das aber ist nun genau das, was die Erfahrung bestätigt. Man beachte in der Tat den eigentümlichen2 Widerspruch, zu dem diese Theorie durch die psychologische Analyse auf der einen Seite und die pathologischen Tatsachen auf der anderen geführt wird. Auf der einen Seite scheint es, daß, wenn die einmal vollzogene Wahrnehmung im Zustand eingelagerter Erinnerung Erinnerungen ] Bilder F2. Doch wir müssen … eigentümlichen ] Dieser Art ist die erste grundlegende Illusion, die wir bereits durchscheinen ließen, jene, die das Verhältnis der Idee zum Bild betrifft. Wir wollen nun zur zweiten übergehen: Diesmal handelt es sich um das Verhältnis des Bilds zur Wahrnehmung. In der intelligenten Interpretation der Rede, so sagten wir, darf man nicht annehmen, das auditive Bild sei (dort, wo es verstanden wird) vor dem intellektuellen Prozeß konstituiert, dessen Verdichtung es ist. Nun fügen wir hinzu: Zu Unrecht betrachtet man die auditive Wahrnehmung selbst als konstituiert, solange nicht das von neuem durch den Geist erschaffene auditive Bild mit ihr in dem motorischen Schema zusammengefunden hat, in das sie sich einpaßt. Das Prinzip dieser zweiten Illusion ist dasselbe wie das der ersten; und in diesem zweiten Fall führt es wie im ersten zu unauflösbaren Schwierigkeiten. Doch eben gerade weil wir diese Illusion an einem konkreten und präzisen Beispiel bekämpfen, sehen wir uns wiederum einer präzisen Theorie gegenüber. Vorhin waren es die Schemata der sensorischen Aphasie; jetzt ist es die zerebrale Lokalisation der Bilder. Man beachte hier zuerst den eigentümlichen RP. 1
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im Gehirn bleibt, dies nur als eine erworbene Disposition derselben Elemente geschehen kann, die die Wahrnehmung affiziert hat: Denn wie und in genau welchem Moment sollte sie losziehen, sich andere zu suchen? Und in der Tat ist es diese natürliche Lösung, bei der Bain1 und Ribot 2 haltmachen. Doch auf der anderen Seite | steht die Pathologie und macht uns darauf aufmerksam, daß die Gesamtheit der Erinnerungen einer bestimmten Art uns entgleiten kann, 3 während die entsprechende Wahrnehmungsfähigkeit intakt bleibt. Die Seelenblindheit hindert einen nicht zu sehen, ebensowenig wie die Seelentaubheit einen hindert zu hören. Genauer gesagt gibt es, was den Verlust der auditiven Worterinnerungen4 anbelangt – den einzigen, der uns beschäftigt – zahlreiche Fälle, die ihn regelmäßig gepaart mit einer destruktiven Schädigung der ersten und zweiten Windung des linken Schläfenkeilbeinlappens (lobus temporo-sphenoidalis) zeigen,5 ohne daß ein einziger Fall bekannt ist, in dem diese Schädigung Taubheit im eigentlichen Sinne hervorgerufen hätte: Man konnte sie beim Affen sogar experimentell herbeiführen, ohne bei ihm etwas anderes als Seelentaubheit zu verursachen, das heißt ein Unvermögen, die Klänge, die er weiterhin hört, zu Bain, Les sens et l’intelligence, S. 304. – Vgl. Spencer, Principes de psychologie, Bd. I, S. 483. [Vgl. Bain, The senses and the intellect, 3. Aufl., New York 1868, S. 346; Spencer, The principles of Psychology, London 1855, S. 559 f., A. d. Ü.] 2 Ribot, Les maladies de la mémoire, Paris 1881, S. 10. 3 daß … kann, ] daß die Gesamtheit der Bilder einer bestimmten Art ausgelöscht werden kann, RP. 4 Worterinnerungen ] Wortbilder RP. 5 Siehe dazu die Aufzählung der eindeutigsten Fälle im Artikel von Shaw, The sensory side of Aphasia (Brain, 1893, S. 501). – Mehrere Autoren begrenzen im übrigen die für den Verlust der auditiven Wortbilder charakteristische Schädigung auf die erste Windung. Siehe insbesondere Ballet, Le langage intérieur, S. 153. [In RP beginnt der zweite Satz dieser Fußnote wie folgt: »Mehrere Autoren begrenzen die für den Verlust …«. A. d. Ü.] 1
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interpretieren.1 Man wird also der Wahrnehmung und der Erinnerung2 gesonderte Nervenelemente zuschreiben müssen. Dann aber wird die elementarste psychologische Beobachtung gegen diese Hypothese sprechen; denn wir sehen, daß eine Erinnerung, wenn sie klarer und intensiver wird, immer mehr dazu neigt, zur Wahrnehmung zu werden, ohne daß es einen genauen Moment gäbe, in dem eine radikale3 Umwandlung stattfände und in dem man folglich sagen könnte, daß sie sich von den vorstellenden Elementen in die sensorischen Elemente versetzen würde. So sind diese zwei gegenteiligen Hypothesen, die erste, die die Wahrnehmungselemente mit den Gedächtniselementen identifiziert, und die zweite, die sie voneinander scheidet, so beschaffen, daß einen jede der beiden zur anderen zurückführt, ohne daß man sich an eine von ihnen halten kann. | Wie sollte es auch anders sein? Auch hier wiederum faßt man deutliche Wahrnehmung und Bild-Erinnerung4 im statischen Zustand ins Auge, als Dinge, von denen das erste schon ohne das zweite vollständig wäre, statt den dynamischen Fortschritt zu berücksichtigen, durch den das eine zum anderen wird. Auf der einen Seite nämlich definiert und zeichnet sich die vollständige5 Wahrnehmung erst durch ihr Zusammenwachsen mit einem Erinnerungsbild6 aus, das wir ihr entgegenschießen lassen. Das ist der Preis für die Aufmerksamkeit, und ohne Aufmerksamkeit gibt es nur ein passives Nebeneinander von einer maschinellen Reaktion begleiteter Empfindungen. Auf der anderen Seite jedoch bliebe, wie wir später7 zeigen werden, das ErLuciani, zitiert von J. Soury, Les fonctions du cerveau, Paris 1892, S. 211. 2 der Erinnerung ] dem Bild RP. 3 eine radikale ] eine RP. 4 Bild-Erinnerung ] Bild RP. 5 die vollständige ] die RP. 6 Erinnerungsbild ] Bild RP. 7 später ] andernorts RP. 1
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innerungsbild selbst, auf den Zustand reiner Erinnerung reduziert1, wirkungslos. Selbst virtuell kann diese Erinnerung2 nur durch die Wahrnehmung aktuell werden, von der sie3 angezogen wird. Selbst machtlos, borgt sie ihr4 Leben und ihre5 Kraft von der gegenwärtigen Empfindung, in der sie 6 sich materialisiert. Läuft dies nicht darauf hinaus, daß die deutliche Wahrnehmung durch zwei gegenläufige Ströme hervorgerufen wird, von denen der eine, zentripetale, vom äußeren Gegenstand kommt und der andere, zentrifugale, dasjenige zum Ausgangspunkt hat, was wir die »reine Erinnerung« nennen? Der erste Strom allein ergäbe nur eine passive Wahrnehmung samt den maschinellen Reaktionen, die sie begleiten. Der zweite tendiert, sich selbst überlassen, dazu, eine aktualisierte Erinnerung zu ergeben,7 die immer aktueller wird, je stärker dieser Strom sich ausprägt. Miteinander vereint bilden diese beiden Ströme an dem Punkt, an dem sie zusammenfinden, die deutliche und wiedererkannte Wahrnehmung. Dies ist das, was die innere Beobachtung sagt. Doch dürfen wir dabei nicht stehenbleiben. Gewiß, die Gefahr ist groß, sich ohne ausreichendes Licht in die dunklen Fragen zerebraler Lokalisation hineinzuwagen. Doch haben wir gesagt, daß die Trennung der vollständigen Wahrnehmung und des Erinnerungsbilds8 | die klinische Beobachtung mit der psychologischen Analyse in Konflikt geraten läßt und daß sich daraus für die Lehre der Lokalisation der Erinnerungen eine schwerwiegende Antinomie ergibt. 1
Erinnerungsbild … reduziert ] Bild selbst, im Zustand reiner Erinne rung RP. 2 diese Erinnerung ] es RP. 3 sie ] es RP. 4 sie ihr ] es sein RP. 5 ihre ] seine RP. 6 sie ] es RP. 7 Der zweite … ergeben, ] Der zweite ergäbe, sich selbst überlassen, nur eine aktuelle Erinnerung, RP. 8 Trennung … Erinnerungsbildes ] radikale Unterscheidung der Wahrnehmung und des Bildes RP.
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Wir sind angehalten, zu untersuchen, was aus den bekannten Tatsachen wird, wenn man aufhört, das Gehirn als Verwahrer von Erinnerungen1 zu betrachten.2 1
Erinnerungen ] Bildern RP. Die Theorie, die wir hier skizzieren, ähnelt im übrigen in einer Hinsicht derjenigen Wundts. Wir wollen sogleich auf die Gemeinsamkeit und den wesentlichen Unterschied hinweisen. Mit Wundt meinen wir, daß die deutliche Wahrnehmung ein zentrifugales Wirken impliziert, und dadurch werden wir dazu gebracht, mit ihm (wenngleich in einem etwas anderen Sinne) anzunehmen, daß die sogenannten Vorstellungszentren eher Zentren der Gruppierung von Sinneseindrücken sind. Doch während nach Wundt das zentrifugale Wirken in einer »apperceptiven Erregung« besteht, deren Natur nur in allgemeiner Weise definierbar ist und die dem zu entsprechen scheint, was man gewöhnlich die Fixierung der Aufmerksamkeit nennt, behaupten wir, daß dieses zentrifugale Wirken in jedem einzelnen Fall eine deutliche Form annimmt, ebenjene des »virtuellen Gegenstands«, der Grad für Grad dazu tendiert, sich zu aktualisieren. Von daher besteht ein wichtiger Unterschied in der Konzeption der Rolle der Zentren. Wundt wird dazu gebracht, folgendes zu setzen: 1. ein allgemeines Organ der Apperzeption, das im Stirnlappen (lobus frontalis) sitzt; 2. spezielle Zentren, welche, zweifellos unfähig, Bilder einzulagern, dennoch Tendenzen oder Dispositionen zu deren Reproduktion bewahren. Wir verfechten im Gegenteil, daß nichts von einem Bild in der Hirnsubstanz zurückbleiben kann und daß auch kein Apperzeptionszentrum zu existieren vermöchte, sondern daß es in dieser Substanz schlicht Organe virtueller Wahrnehmung gibt, die durch die Intention der Erinnerung beeinflußt werden, so wie es an der Peripherie Organe realer Wahrnehmung gibt, die durch das Wirken des Gegenstandes beeinflußt werden. (Siehe die Psychologie physiologique, Bd. I, S. 242– 252. [Vgl. Wundt, Physiologische Psychologie, Bd. I, 2. Aufl., Leipzig 1880, S. 215–224. Gegen die Lokalisation des ›Organs der Apperzeption‹ verwahrt Wundt sich auf den zitierten Seiten allerdings mehrfach, u. a. S. 221: »Hiernach bedarf es kaum mehr der besonderen Bemerkung, dass wir nach dieser Hypothese auch den die Apperception begleitenden physiologischen Vorgang keineswegs in einer bestimmten Gehirnregion concentrirt denken, sondern dass die Elemente des »Organs der Apperzeption« in ähnlichem Sinne bloß als unerläßliche Zwischenglieder angesehen werden, wie dies bei den Centren der Sprache geschehen ist. Der physio2
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Wir wollen, um die Darstellung zu vereinfachen, für einen Augenblick annehmen1, daß2 von außen gekommene Reize, sei es in der Hirnrinde, sei es in anderen Zentren, elementare Empfindungen gebären3. Wir haben dann immer noch4 nur elementare Empfindungen. Nun aber umschließt5 jede Wahrnehmung in der Tat eine beachtliche Zahl dieser Empfindungen, die alle miteinander koexistieren und in einer festgesetzten Ordnung arrangiert sind. Woher kommt diese Ordnung, und was sichert diese Koexistenz? Im Fall eines gegenwärtigen materiellen Gegenstandes steht die Antwort außer Zweifel: Ordnung und Koexistenz kommen von einem Sinnesorgan, das durch einen äußeren Gegenstand affiziert wird. Dieses Organ ist eben genau im Hinblick darauf konstruiert, einer Vielzahl von gleichzeitigen Reizen zu erlauben, es in einer bestimmten Weise und in einer bestimmten Ordnung zu affizieren, indem sie sich alle zugleich auf ausgewählte Teile | seiner Oberfläche verteilen. Es ist also eine immense Klaviatur, auf der der äußere Gegenstand auf einen Schlag seinen Akkord aus tausend Noten anschlägt und so in einer festgesetzten Ordnung und in einem einzigen Augenblick eine ungeheure Vielzahl elementarer Empfindungen hervorruft, die allen betroffenen Punkten des sensorischen Zentrums entsprechen.6 Wenn man nun den logische Vorgang selbst besteht aus der Summe aller dem Apperceptionsorgan zugeleiteten und von ihm ausgehenden Erregungen.« A. d. Ü.] 1 annehmen ] annehmen (was niemand bestreitet) F3. 2 Wir wollen … daß ] Daß RP. 3 elementare Empfindungen gebären ] Nervenschwingungen gebären, die sich für uns in elementare Empfindungen übersetzen, ist das, was von niemandem bestritten wird RP. 4 Wir haben dann immer noch ] Selbst diese Umwandlung ist, wie wir andernorts zu zeigen versuchen werden, im Falle der einfachen Empfindungen weniger mysteriös, als man zunächst glauben würde. Damit haben wir aber RP. 5 umschließt ] enthält RP. 6 die … entsprechen. ] die über alle betroffenen Punkte des sensorischen Zentrums angeordnet sind. RP.
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äußeren Gegenstand auslöscht oder das Sinnesorgan oder beide, dann können1 dieselben elementaren Empfindungen erregt werden, weil dieselben Saiten vorhanden sind, bereit, in derselben Weise zu erklingen; wo aber ist die Klaviatur, die erlauben wird, tausende und abertausende von ihnen zugleich anzuschlagen und so viele einfache Noten im selben Akkord zu vereinen? In unserem Sinne kann die »Region der Bilder«, wenn sie existiert, nur eine Klaviatur dieser Art sein. Gewiß, es wäre nicht undenkbar, daß eine rein psychische Ursache direkt alle betreffenden Saiten anspräche.2 Doch im Fall des mentalen Hörens – des einzigen, das uns beschäftigt – erscheint die Lokalisation der Funktion gewiß, da eine bestimmte Schädigung des Temporallappens sie auslöscht, und andererseits haben wir die Gründe dargelegt, aus denen wir Relikte von Bildern, die in einer Region der Hirnsubstanz abgelagert wären, weder anzunehmen noch zu denken vermögen. Eine einzige Hypothese bleibt also plausibel, und zwar daß diese Region in bezug auf das Hörzentrum selbst den dem Sinnesorgan, hier dem Ohr, symmetrischen Platz einnimmt: Es wäre3 ein mentales Ohr. Dann allerdings verschwände der aufgezeigte Widerspruch.4 Man versteht einerseits, daß das wiedererinnerte auditive Bild dieselben Nervenelemente in Bewegung setzt wie die Erstwahrnehmung und daß sich so die Erinnerung gradweise in Wahrnehmung verwandelt. Und man versteht andererseits auch, daß die Fähigkeit, sich wieder an komplexe Klänge, wie die Wörter, zu erinnern, andere Teile der Nervensubstanz betreffen kann als die | Fähigkeit, sie wahrzunehmen: Aus diesem Grund überdauert bei der Seelentaubheit das reale Hören das mentale. Die Saiten 1
können ] können in dem Zentrum RP. daß … anspräche. ] daß wir direkt alle betreffenden Saiten ansprechen könnten. RP. 3 wäre ] wäre sozusagen RP. 4 Dann … Widerspruch. ] Dann allerdings entschärft sich die aufgezeigte Schwierigkeit. RP. 2
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sind noch da, und unter dem Einfluß äußerer Klänge schwingen sie noch; es ist die innere Klaviatur, die fehlt. Mit anderen Worten, die Zentren, in denen die elementaren Empfindungen geboren werden, können gewissermaßen von zwei verschiedenen Seiten aktiviert werden, von vorne und von hinten. Von vorne empfangen sie die Eindrücke der Sinnesorgane und folglich eines realen Gegenstandes; von hinten unterliegen sie, über diverse Vermittlungen, dem Einfluß eines virtuellen Gegenstandes. Die Bilderzentren können, wenn sie existieren, in bezug auf diese sensorischen Zentren nur die den Sinnesorganen symmetrischen Organe sein. Sie sind ebensowenig Verwahrer von reinen1 Erinnerungen, das heißt virtuellen Gegenständen, wie die Sinnesorgane Verwahrer realer Gegenstände sind. Fügen wir hinzu, daß dies eine unendlich verkürzte Übersetzung dessen ist, was sich in Wirklichkeit abspielen mag. Die verschiedenen sensorischen Aphasien beweisen hinlänglich, daß das Heraufbeschwören eines auditiven Bildes kein einfacher Akt ist. Zwischen die Intention, die das wäre, was wir die reine Erinnerung nennen, und das auditive Erinnerungsbild 2 im eigentlichen Sinne schalten sich zuallermeist Zwischenerinnerungen, die sich zuerst in mehr oder weniger entfernten Zentren zu Erinnerungsbildern3 verwirklichen müssen. Über sukzessive Grade also gelingt es der Idee, sich in diesem besonderen Bild, dem Wortbild, zu verkörpern. Dadurch kann das mentale Hören an die Unversehrtheit der diversen Zentren und der zu ihnen führenden Bahnen geknüpft sein. Doch diese Verkomplizierungen ändern nichts am Kern der Dinge. Von welcher Anzahl und Natur die zwischengeschalteten Terme auch sein mögen, wir schreiten nicht von der Wahrnehmung zur Idee, sondern von der Idee zur Wahrnehmung, | und der charakteristische Prozeß des Wiedererkennens ist nicht zentripetal, sondern zentrifugal. 1
von reinen ] von RP. Erinnerungsbild ] Bild RP. 3 Erinnerungsbildern ] Bildern RP. 2
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Bleibt freilich die Frage, wie die von innen ausgehenden Reize durch ihr Einwirken auf die Hirnrinde oder auf andere Zentren Empfindungen ins Leben rufen können. Und es ist ganz offensichtlich, daß es sich dabei lediglich um eine bequeme Ausdrucksweise handelt. Die reine Erinnerung tendiert bei ihrer fortschreitenden Aktualisierung dazu, im Körper alle entsprechenden Empfindungen hervorzurufen. Doch diese virtuellen Empfindungen selbst müssen, um real zu werden, darauf abzielen, den Körper zum Handeln zu bringen, ihm die Bewegungen und Haltungen aufzuprägen, deren übliche Vorläufer sie sind. Die Schwingungen der sogenannten sensorischen Zentren, Schwingungen, die normalerweise vom Körper vollzogenen oder skizzierten Bewegungen vorausgehen und deren normale Rolle sogar darin besteht, diese vorzubereiten, indem sie sie beginnen, sind also weniger die reale Ursache der Empfindung als das Zeichen ihrer Kraft und die Bedingung ihrer Wirksamkeit. Der Fortschritt, durch den das virtuelle Bild real wird, ist nichts anderes als die Reihe der Schritte, durch die es diesem Bild gelingt, den Körper zu nützlichen Maßnahmen zu veranlassen. Die Reizung der sogenannten1 sensorischen Zentren ist der letzte dieser Schritte; es ist der Auftakt einer motorischen Reaktion, der Beginn einer Handlung im Raum. Mit anderen Worten, das virtuelle Bild entwickelt sich weiter zur virtuellen Empfindung und 1 auf
andere Zentren … sogenannten ] auf andere Zentren elementare Empfindungen ins Leben rufen können. Nach dem, was im vorigen Kapitel gesagt wurde, ist es ganz offensichtlich, daß es sich auch hier nicht um eine Umwandlung der Bewegung in Akte oder Wahrnehmungen handeln kann, die sich von ihr unterscheiden würden. Doch im Falle eines wahrgenommenen äußeren Gegenstands besteht die wahre Funktion der zerebralen Schwingungen, die die Wahrnehmung begleiten, darin, die korrelative Handlung vorzubereiten. Es kann im Fall der Erinnerung nicht anders sein. Der Fortschritt, durch den das virtuelle Bild real wird, ist nichts anderes als die Reihe der Schritte, durch die dieses Bild danach strebt, den Körper zu nützlichen Aktionen im Raum zu veranlassen. Die Reizung der sogenannten F4.
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die virtuelle Empfindung zur realen Bewegung: Diese Bewegung läßt, indem sie real wird, zugleich die Empfindung real werden, deren natürliche Fortführung sie wäre, und das Bild, das mit der Empfindung eins sein wollte. Wir werden diese virtuellen Zustände vertiefen und, indem wir weiter in den inneren Mechanismus der psychischen und psychophysischen Handlungen vordringen, zeigen, durch welchen kontinuierlichen Fortschritt die Vergangenheit danach strebt, ihren verlorenen Einfluß wieder zurückzuerobern, indem sie sich aktualisiert. 1,2 | 1
Mit anderen Worten … aktualisiert .] Zwischen der virtuellen, das heißt im Entstehen begriffenen Empfindung und der aktuellen Empfindung besteht der alleinige Unterschied, daß die erste machtlos ist, während die zweite imstande ist, den Körper zu bewegen. Nun kann sie ihn aber nur bewegen, wenn sie sich zu Vorbereitungsbewegungen in den sogenannten sensorischen Zentren entfaltet. Diese Bewegungen rufen die Empfindung also nicht hervor; doch durch sie tritt die Empfindung aus der Machtlosigkeit heraus. Wir werden diesen Punkt vertiefen. F4 2 Bleibt … aktualisiert. ] Dies wird das vorläufige Fazit dieser Unter suchung sein, und uns bleibt nur noch, die wesentlichen Punkte davon herauszuarbeiten. Zuerst haben wir das reine Gedächtnis, das die Erhaltung der Erinnerungen in der Reihenfolge, in der sie gebildet wurden, implizieren würde, von der Gewohnheit isoliert und zu einer eigenständigen Funktion erhoben. Indem wir diesem Gedächtnis bis zu dem exakten Punkt gefolgt sind, an dem es mit der Wahrnehmung zusammenfindet, um sich in sie zu inkarnieren, wurden wir dazu gebracht, zuerst das Wiedererkennen im allgemeinen und dann spezieller das aufmerksame Wiedererkennen zu untersuchen, welches die regelmäßige und nicht mehr nur akzidentelle Beteiligung der Bilder erfordert. Vom aufmerksamen Wiedererkennen seinerseits haben wir nur die Interpretation der Rede zurückbehalten, weil der Prozeß der Aufmerksamkeit hier ein organisierter Prozeß ist, weil die Vorstellungsfunktion hier eine lokalisierte Funktion ist, und demzufolge, falls wir einen Irrweg eingeschlagen hätten, falls die Erinnerung, statt eine von dem Akt, in dem sie sich manifestiert, unabhängige Existenz zu besitzen, nur der Phosphorschein einer zerebralen Spur wäre, gerade hier unser Irrtum offenbar werden müßte. So wurden wir, während sich die Frage immer weiter eingrenzte, nach und nach dazu gebracht, unsere Anstrengungen
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auf das auditive Wiedererkennen der Wörter und die Phänomene der sensorischen Aphasie zu konzentrieren. Doch je näher wir die Fakten faßten, um so klarer trat uns die Schwierigkeit vor Augen, die Bilder zu lokalisieren, sie von der Idee zu trennen, die sie miteinander verbindet, und der Wahrnehmung, die ihnen Leben schenkt, während gleichzeitig die Illusion deutlich wurde, auf der diese Hypothese beruht. – Es bleibt uns jetzt noch, auf umgekehrtem Wege zu unserem Ausgangspunkt zurückzukehren, nach und nach in ihrer Vollständigkeit die Erinnerungen wiederherzustellen, die sich notwendig vereinfacht haben, damit die Wahrnehmung ihnen Einlaß gewährt, und uns schließlich bis zu jener äußersten Hülle des Gedächtnisses zu erheben, die, uns zufolge, unauslöschlich alle Einzelheiten unserer vergangenen Existenz bewahrt. Weiter in den inneren Mechanismus der psychischen und vor allem psychophysischen Handlungen vordringend, werden wir zeigen müssen, warum die Vergangenheit ihre Wirkmacht überlebt und wie sie, indem sie sich aktualisiert, einen vergänglichen Einfluß zurückerlangen kann. RP.
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DR I T T E S K A PI T EL
Vom Fortleben der Bilder. Das Gedächtnis und der Geist
F
assen wir das Vorausgegangene kurz zusammen. Wir haben drei Terme unterschieden, die reine Erinnerung, die Bild- Erinnerung und die Wahrnehmung, von denen in Wirklichkeit keiner isoliert auftritt. Die Wahrnehmung ist niemals ein einfacher Kontakt des Geistes mit dem gegenwärtigen Gegenstand; sie ist ganz von Bild-Erinnerungen durchdrungen, die sie vervollständigen und dabei interpretieren. Die Bild-Erinnerung ihrerseits hat teil an der »reinen Erinnerung«, die sie zu materialisieren M
Reine Erinnerung Bild-Erinnerung A B O C
Fig. 2
Wahrnehmung D
P
beginnt, und an der Wahrnehmung, in die sie sich zu inkarnieren neigt: Von diesem letzten Standpunkt aus betrachtet, ließe sie sich als im Entstehen begriffene Wahrnehmung definieren. Und die de jure zweifellos unabhängige reine Erinnerung schließlich mani festiert sich normalerweise nur in dem bunten und lebendigen Bild, durch welches sie zutage tritt. Symbolisiert man diese drei Terme durch die aufeinanderfolgenden Abschnitte AB, BC, CD einer | selben geraden Linie AD, so kann man sagen, daß unser Denken diese Linie durch eine kontinuierliche Bewegung beschreibt, die von A zu D verläuft, und daß es unmöglich ist, mit Exaktheit zu sagen, wo einer der Terme aufhört und der andere anfängt.
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Dies stellt im übrigen das Bewußtsein unschwer fest, sooft es, um das Gedächtnis zu analysieren, ebenjener Bewegung des arbeitenden Gedächtnisses folgt. Geht es darum, eine Erinnerung wiederzufinden, eine Periode unserer Geschichte heraufzubeschwören, so sind wir uns eines Aktes sui generis bewußt, durch den wir uns von der Gegenwart lösen, um uns zunächst in die Vergangenheit im allgemeinen zu versetzen und dann in eine bestimmte Region der Vergangenheit: Es ist eine sich herantastende Tätigkeit, ähnlich dem Einstellen eines Photoapparats. Unsere Erinnerung aber verbleibt noch im virtuellen Zustand; wir versetzen uns so lediglich in die Lage, sie zu empfangen, indem wir die geeignete Haltung einnehmen. Nach und nach tritt sie in Erscheinung, wie ein sich verdichtendes Nebelgewölk; vom Virtuellen geht sie in den aktuellen Zustand über; und in dem Maße, in dem sich ihre Konturen abzeichnen und ihre Oberfläche Farbe annimmt, neigt sie dazu, die Wahrnehmung zu imitieren. Doch sie bleibt durch ihre tiefen Wurzeln der Vergangenheit verhaftet, und wenn sie, einmal realisiert, nicht die Nachwehen ihrer ursprünglichen Virtualität spüren würde, wenn sie nicht, obgleich ein gegenwärtiger Zustand, zugleich etwas wäre, das sich scharf von der Gegenwart abhebt, würden wir sie nie als eine Erinnerung erkennen. Der anhaltende Irrtum des Assoziationismus besteht darin, diese Kontinuität des Werdens, die die lebendige Wirklichkeit ist, durch eine diskontinuierliche Vielheit lebloser und nebeneinandergereihter Elemente zu ersetzen. Eben gerade weil jedes der so beschaffenen Elemente aufgrund seines Ursprungs etwas von dem enthält, was ihm vorangeht, wie auch von dem, was ihm folgt, müßte es in unseren Augen die Form eines Misch- und in gewisser Weise unreinen Zustands annehmen. Auf der anderen | Seite aber will das Prinzip des Assoziationismus, daß jeder psychologische Zustand eine Art Atom sei, ein einfaches Element. Daher rührt die Notwendigkeit, in jeder der Phasen, die man unterschieden hat, das Instabile dem Stabilen, das heißt den Beginn
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dem Ende, zu opfern. Wenn es sich um die Wahrnehmung handelt, so wird man in ihr nur die zusammengeballten Empfindun gen sehen, die ihr Farbe verleihen; man wird die wiedererinnerten Bilder verkennen, die ihren dunklen Kern bilden. Wenn es sich um das wiedererinnerte Bild seinerseits handelt, so wird man es als schon fertig gegeben nehmen, realisiert im Zustand schwacher Wahrnehmung, und man wird die Augen vor der reinen Erinnerung verschließen, die in diesem Bild fortschreitend entwickelt wurde. In der Konkurrenz, die der Assoziationismus so zwischen dem Stabilen und dem Instabilen stiftet, wird die Wahrnehmung also immer die Bild-Erinnerung und die Bild-Erinnerung die reine Erinnerung verdrängen. Darum geht die reine Erinnerung vollständig unter. Der Assoziationismus sieht, indem er die Totalität des Fortschritts AD durch eine Linie MO in zwei schneidet, in dem Teilstück OD nur die Empfindungen, mit denen es endet und die für ihn die ganze Wahrnehmung ausmachen – und auf der anderen Seite reduziert er auch das Teilstück AO auf das verwirklichte Bild, in welches die sich entfaltende reine Erinnerung am Ende mündet. Das psychologische Leben läßt sich dann vollständig auf diese beiden Elemente zurückführen: die Empfindung und das Bild. Und da man einerseits die reine Erinnerung, die es zu einem Zustand eigener Art machte, im Bild untergehen ließ und andererseits das Bild noch stärker der Wahrnehmung annäherte, indem man in die Wahrnehmung im voraus etwas vom Bild selbst hineinlegte, wird man zwischen diesen beiden Zuständen nur noch einen Unterschied des Grades oder der Intensität feststellen. Daher rührt die Unterscheidung von starken Zuständen und schwachen Zuständen, von denen die ersten von uns zu Wahrnehmungen der Gegenwart erhoben werden und die zweiten – man weiß nicht warum – zu Vorstellungen der Vergangenheit. Doch die Wahrheit ist, daß wir niemals die Vergangenheit erreichen werden, wenn wir uns | nicht von Anfang an in sie hineinversetzen. Da sie wesensmäßig virtuell ist, kann die Vergangenheit von uns nur als Vergangene erfaßt werden, wenn
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wir die Bewegung, durch die sie sich zum gegenwärtigen Bild entfaltet und aus der Dunkelheit zum hellen Licht emporsteigt, verfolgen und übernehmen. Vergeblich würde man ihre Spur in etwas Aktuellem und schon Realisiertem suchen: Genausogut könnte man die Dunkelheit unter dem Licht suchen. Ebendort liegt der Irrtum der Assoziationspsychologie: Im Aktuellen stehend, erschöpft sie sich in vergeblichen Anstrengungen, in einem realisierten und gegenwärtigen Zustand das Signum seines in der Vergangenheit liegenden Ursprungs zu entdecken, die Erinnerung von der Wahrnehmung zu unterscheiden und zum Wesensunterschied zu erheben, was sie im voraus schon dazu verdammt hat, lediglich ein Größenunterschied zu sein. Bildlich vorstellen ist nicht erinnern. Zweifellos neigt eine Erinnerung in dem Maße, in dem sie sich aktualisiert, dazu, in einem Bild zu leben; doch der Umkehrschluß ist nicht wahr, und das reine, einfache Bild wird mich nur dann in die Vergangenheit versetzen, wenn es tatsächlich die Vergangenheit ist, aus der ich es geholt habe und so dem kontinuierlichen Fortschritt gefolgt bin, der es von der Dunkelheit ans Licht gebracht hat. Das ist es, was die Psychologen zu oft vergessen, wenn sie daraus, daß eine wiedererinnerte Empfindung immer aktueller wird, je stärker man auf sie eingeht, schließen, daß die Erinnerung der Empfindung diese im Entstehen begriffene Empfindung war. Die Tatsache, die sie anführen, ist zweifellos richtig. Je stärker ich mich anstrenge, mich an einen vergangenen Schmerz zu erinnern, um so mehr neige ich dazu, ihn wirklich zu empfinden. Doch das ist leicht verständlich, da der Fortschritt der Erinnerung, wie wir sagten, eben gerade darin besteht, daß sie sich materialisiert. Die Frage ist, ob die Erinnerung des Schmerzes ursprünglich wirklich Schmerz war. Nur weil der hypnotisierten Person letztlich heiß sein wird, wenn man ihr mit Nachdruck wiederholt, daß ihr heiß sei, folgt daraus nicht, daß die Worte der Suggestion schon heiß wären. | Daraus, daß die Erinnerung einer Empfindung sich in dieser Empfindung selbst fortsetzt, darf man ebensowenig schließen,
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daß die Erinnerung eine im Entstehen begriffene Empfindung gewesen sei: Vielleicht nämlich spielt diese Erinnerung in bezug auf die Empfindung, die geboren werden wird, genau die Rolle des Magnetiseurs, der die Suggestion gibt. Die Denkweise, die wir kritisieren, ist also, in dieser Form dargestellt, bereits ohne Beweiskraft; sie ist noch nicht fehlerhaft, da ihr jene unbestreitbare Wahrheit zugute kommt, daß die Erinnerung sich im Laufe ihrer Aktualisierung verwandelt. Die Absurdität bricht jedoch hervor, wenn man die umgekehrte Richtung im Denken einschlägt – welche doch in der Hypothese, die man sich zu eigen gemacht hat, gleichermaßen legitim sein sollte –, das heißt, wenn man, statt die Intensität der reinen Erinnerung anwachsen zu lassen, die Intensität der Empfindung abnehmen läßt. Dann nämlich müßte es, wenn die beiden Zustände sich bloß dem Grade nach unterschieden, vorkommen, daß sich in einem bestimmten Moment die Empfindung in Erinnerung verwandelt. Wenn zum Beispiel die Erinnerung eines großen Schmerzes nur ein schwacher Schmerz ist, so würde umgekehrt ein starker Schmerz, den ich empfinde, wenn er nachläßt, schließlich damit enden, ein wiedererinnerter großer Schmerz zu sein. Nun kommt zwar zweifellos ein Moment, in dem es mir unmöglich ist, zu sagen, ob das, was ich fühle eine schwache Empfindung ist, die ich empfinde, oder eine schwache Empfindung, die ich mir ausmale (und das ist ganz natürlich, da die Bild-Erinnerung schon an der Empfindung teilhat), niemals aber wird mir dieser schwache Zustand als die Erinnerung eines starken Zustands erscheinen. Die Erinnerung ist also etwas ganz anderes. Die Illusion aber, die darin besteht, zwischen der Erinnerung und der Wahrnehmung nur einen Gradunterschied festzustellen, ist mehr als eine bloße Folge des Assoziationismus, mehr als nur ein Unfall in der Philosophiegeschichte. Ihre Wurzeln gehen tief. In letzter Konsequenz beruht sie auf einer falschen Idee der Natur | und des Zwecks der äußeren Wahrnehmung. Man will in der Wahrnehmung nur eine Wissensvermittlung sehen, die sich
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an einen reinen Geist richtet und von gänzlich spekulativem Interesse ist. Da nun die Erinnerung selbst ihrem Wesen nach eine Erkenntnis dieser Art ist, da sie keinen Zweck mehr hat, kann man zwischen der Wahrnehmung und der Erinnerung nur einen Gradunterschied feststellen, so daß die Wahrnehmung, schlicht kraft des Rechts des Stärkeren, die Erinnerung verdrängt und so unsere Gegenwart konstituiert. Doch zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart liegt etwas ganz anderes als ein Grad unterschied. Meine Gegenwart ist das, was für mich von Interesse ist, das, was für mich lebt, und, um es kurz zu fassen: das, was mich zum Handeln reizt, während statt dessen meine Vergangenheit wesensmäßig machtlos ist. Wir wollen auf diesen Punkt näher eingehen. Und wenn wir sie der gegenwärtigen Wahrnehmung gegenüberstellen, werden wir die Natur dessen, was wir die »reine Erinnerung« nennen, schon besser verstehen. Vergeblich nämlich würde man versuchen, die Erinnerung eines vergangenen Zustands zu charakterisieren, wenn man nicht damit beginnt, das konkrete, vom Bewußtsein anerkannte Merkmal der gegenwärtigen Wirklichkeit zu definieren. Was ist für mich der gegenwärtige Augenblick? Das Wesenseigene der Zeit ist, zu verfließen; die schon verflossene Zeit ist die Vergangenheit, und Gegenwart nennen wir den Augenblick, in dem sie verfließt. Doch kann es hier nicht um einen mathematischen Augenblick gehen. Zweifellos gibt es eine ideale, rein denkerisch entworfene Gegenwart, die unteilbare Grenze, die die Vergangenheit von der Zukunft trennen würde. Doch die wirkliche, konkrete, gelebte Gegenwart, jene, von der ich spreche, wenn ich von meiner gegenwärtigen Wahrnehmung spreche, diese nimmt notwendig eine Dauer ein. Wo also situiert sich diese Dauer? Diesseits oder jenseits des mathematischen Punktes, den ich ideal bestimme, wenn ich an den gegenwärtigen Augenblick denke? Es ist nur zu offensichtlich, daß sie zugleich diesseits und jenseits liegt und daß das, was ich »meine Gegenwart« nenne, | zugleich auf meine Vergangenheit und meine Zukunft übergreift. Zuerst auf meine Ver-
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gangenheit, denn »der Moment, in dem ich spreche, ist schon fern von mir«1; dann auf meine Zukunft, weil es die Zukunft ist, über die dieser Moment sich neigt, die Zukunft, zu der ich hinstrebe, und könnte ich diese unteilbare Gegenwart, dieses infinitesimale Element der Zeitkurve, festhalten, so wäre es die Richtung der Zukunft, die es wiese. Es muß also der psychologische Zustand, den ich »meine Gegenwart« nenne, zugleich eine Wahrnehmung der unmittelbaren Vergangenheit und eine Bestimmung der unmittelbaren Zukunft sein. Nun ist aber, wie wir sehen werden, die unmittelbare Vergangenheit, als wahrgenommene, Empfindung, da jede Empfindung eine sehr lange Folge von elementaren Schwingungen zum Ausdruck bringt; und die unmittelbare Zukunft, als sich bestimmende, ist Handlung oder Bewegung. Meine Gegenwart ist also zugleich Empfindung und Bewegung; und da meine Gegenwart ein unteilbares Ganzes bildet, muß diese Bewegung von dieser Empfindung herrühren und diese zur Handlung fortführen. Woraus ich schließe, daß meine Gegenwart in einem aus Empfindungen und Bewegungen kombinierten System besteht. Meine Gegenwart ist vom Wesen her sensomotorisch. Das heißt, daß meine Gegenwart in dem Bewußtsein besteht, das ich von meinem Körper habe. Im Raum ausgedehnt, verspürt mein Körper Empfindungen und führt gleichzeitig Bewegungen aus. Und da sich Empfindungen und Bewegungen in bestimmten Punkten dieser Ausgedehntheit lokalisieren, kann es in einem gegebenen Moment nur ein einziges System von Bewegungen und Empfindungen geben. Aus diesem Grund scheint mir meine Gegenwart etwas absolut Bestimmtes zu sein und sich scharf von meiner Vergangenheit abzuheben. Zwischen die Materie, die ihn 1
Es handelt sich um ein Zitat von Nicolas Boileau-Despréaux, der in seinem an M. Arnauld gerichteten Brief III mit diesen Worten den zweiten Teil des berühmten Vers 153 aus Persius V. Satire wiedergibt (»Vive memor leti; fugit hora; hoc quod loquor inde est«). Vgl. Œuvres de Boileau Despréaux avec un commentaire de M. de Saint Surin, Bd. II, Paris 1821, S. 30. [A. d. Ü.]
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beeinflußt, und die Materie, die er beeinflußt, gestellt, ist mein Körper ein Handlungszentrum, der Ort, an dem die aufgefangenen Eindrücke intelligent ihren Weg wählen, um sich in vollzogene Bewegungen zu verwandeln; | er stellt also durchaus den aktuellen Zustand meines Werdens dar, das, was in meiner Dauer gerade im Entstehen ist. Allgemeiner gesprochen: In dieser Kontinuität des Werdens, die die Wirklichkeit selbst ist, wird der gegenwärtige Moment durch den quasi momenthaften Schnitt konstituiert, den unsere Wahrnehmung von der im Fluß begriffenen Masse anfertigt, und dieser Schnitt ist genau das, was wir die materielle Welt nennen: Unser Körper nimmt das Zentrum davon ein; er ist dasjenige dieser materiellen Welt, dessen Fließen wir direkt spüren; in seinem aktuellen Zustand besteht die Aktualität unserer Gegenwart. Während sich die Materie, als im Raum ausgedehnte, uns zufolge als eine unaufhörlich von neuem beginnende Gegenwart definieren muß, ist umgekehrt unsere Gegenwart die Materialität unserer Existenz selbst, das heißt ein Zusammenspiel von Empfindungen und Bewegungen und nichts anderes. Und dieses Zusammenspiel ist ein genau bestimmtes, in jedem Moment der Dauer einzigartiges, eben gerade weil Empfindungen und Bewegungen Orte des Raumes einnehmen und es nicht am selben Ort mehrere Dinge auf einmal geben kann. – Wie kommt es, daß man eine so einfache, so offensichtliche Wahrheit verkennen konnte, die überdies lediglich die Idee des gemeinen Menschenverstandes ist? Der Grund dafür ist eben gerade, daß man sich darauf versteift, nur einen Unterschied des Grades und nicht des Wesens zwischen den aktuellen Empfindungen und der reinen Erinnerung zu sehen. Der Unterschied ist, uns zufolge, radikal. Meine aktuellen Empfindungen sind das, was bestimmte Teilstücke der Oberfläche meines Körpers einnimmt; die reine Erinnerung hingegen betrifft keinen Teil meines Körpers. Zweifellos wird sie Empfindungen erzeugen, wenn sie sich materialisiert; doch genau in diesem Moment wird sie aufhören, Erinnerung zu sein, um in den
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Zustand von etwas Gegenwärtigem, aktuell Erlebten überzugehen; und ich werde ihr ihren Erinnerungscharakter nur wiedergeben können, indem ich mich | auf die Vorgehensweise beziehe, durch die ich sie als virtuelle vom Grunde meiner Vergangenheit heraufbeschworen habe. Eben gerade weil ich sie aktiv werden ließ, wurde sie aktuell, das heißt Empfindung, die in der Lage ist, Bewegungen auszulösen. Die Mehrzahl der Psychologen hingegen sehen in der reinen Erinnerung nur eine schwächere Wahrnehmung, ein Zusammenspiel im Entstehen begriffener Empfindungen. Nachdem sie so im vorhinein jeden Wesensunterschied zwischen der Empfindung und der Erinnerung ausgelöscht haben, werden sie durch die Logik ihrer Hypothese dazu gebracht, die Erinnerung zu materialisieren und die Empfindung zu idealisieren. Was die Erinnerung anbelangt, nehmen sie sie nur noch in Form eines Bildes wahr, das heißt bereits inkarniert in im Entstehen begriffene Empfindungen. Nachdem sie auf diese Weise das Wesentliche der Empfindung auf sie übertragen haben und in der Idealität dieser Erinnerung nicht etwas Gesondertes, sich von der Empfindung selbst scharf Abhebendes sehen wollen, sind sie gezwungen, wenn sie zur reinen Empfindung zurückkehren, ihr jene Idealität zu lassen, die sie der im Entstehen begriffenen Empfindung auf diese Weise implizit verliehen hatten. Wenn nämlich die Vergangenheit, die der Voraussetzung nach nicht mehr wirkt, im Zustand schwacher Empfindung bestehenbleiben kann, dann heißt das, daß es machtlose Empfindungen gibt. Wenn die reine Erinnerung, die der Voraussetzung nach keinen bestimmten Teil des Körpers betrifft, eine im Entstehen begriffene Empfindung ist, dann heißt das, daß die Empfindung nicht wesensmäßig in einem Punkt des Körpers lokalisiert ist. Daher die Illusion, die darin besteht, in der Empfindung einen frei schwebenden und inextensiven Zustand zu sehen, der nur per accidens im Körper Ausdehnung erlangen und sich festigen würde: eine Illusion, die, wie wir gesehen haben, die Theorie der äußeren Wahrnehmung zutiefst verunstaltet und eine ganze Anzahl der Fragen aufwirft, die zwi-
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schen den diversen Metaphysiken der Materie in der Schwebe bleiben. Man muß sich damit abfinden: Die Empfindung ist ihrem Wesen nach extensiv und lokalisiert; sie ist eine Quelle von Bewegung; – die | reine Erinnerung, inextensiv und machtlos, hat an der Empfindung in keiner Weise Anteil. Das, was ich meine Gegenwart nenne, ist meine Haltung gegenüber der unmittelbaren Zukunft, meine unmittelbar bevorstehende Handlung. Meine Gegenwart ist also sehr wohl sensomotorisch. Von meiner Vergangenheit wird allein das zum Bild und folglich zumindest im Entstehen begriffene Empfindung, was zu dieser Handlung beitragen, sich in diese Haltung einfügen, mit einem Wort: sich nützlich machen kann; doch sobald sie Bild wird, verläßt die Vergangenheit den Zustand der reinen Erinnerung und verschmilzt mit einem bestimmten Teil meiner Gegenwart. Die zum Bild aktualisierte Erinnerung unterscheidet sich also zutiefst von der reinen Erinnerung. Das Bild ist ein gegenwärtiger Zustand und kann nur durch die Erinnerung, aus der es hervorgegangen ist, an der Vergangenheit teilhaben. Die Erinne rung hingegen, machtlos, solange sie nutzlos bleibt, bleibt rein von jeder Vermischung mit der Empfindung, ohne Verknüpfung mit der Gegenwart und folglich inextensiv. Ebendiese radikale Machtlosigkeit der reinen Erinnerung wird uns helfen zu verstehen, wie sie sich im latenten Zustand erhält. Ohne noch zum Kern der Frage zu kommen, wollen wir uns auf den Hinweis beschränken, daß unser Widerwille, unbewußte psychologische Zustände zu denken, vor allem daher rührt, daß wir das Bewußtsein für die Wesenseigenschaft der psychologischen Zustände halten, so daß, scheint es, ein psychologischer Zustand nicht aufhören könnte, bewußt zu sein, ohne aufzuhören zu existieren. Wenn aber das Bewußtsein nur das charakteristische Merkmal der Gegenwart ist, das heißt des aktuell Erlebten, das heißt also des Wirkenden, dann kann das, was nicht wirkt, aufhören, dem Bewußtsein anzugehören, ohne daß es notwendig
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aufhören würde, in irgendeiner Weise zu existieren. Mit anderen Worten, im psychologischen Bereich | wäre Bewußtsein nicht gleichbedeutend mit Existenz, sondern nur mit realer Handlung oder unmittelbarer Wirksamkeit, und da sich die Ausdehnung dieses Begriffs auf diese Weise begrenzt fände, hätte man weniger Mühe, sich einen unbewußten, das heißt letztlich machtlosen psychologischen Zustand vorzustellen. Welche Idee man sich auch vom Bewußtsein an sich bildet, so, wie es in Erscheinung träte, wenn es ungehindert zur Ausübung gelangen würde, könnte man nicht bestreiten, daß bei einem Wesen, das körperliche Funktionen ausübt, die Rolle des Bewußtseins vor allem darin besteht, der Handlung vorzustehen und eine Wahl zu erhellen. Es wirft also sein Licht auf die unmittelbaren Vorläufer der Entscheidung und auf all jene der vergangenen Erinnerungen, die sich nützlich mit ihnen verbinden können; der Rest bleibt im Schatten. Hier aber stoßen wir wieder auf eine neue Form jener ständig wiederkehrenden Illusion, die wir seit Beginn dieser Arbeit verfolgen. Man möchte, daß das Bewußtsein, selbst wenn es körperlichen Funktionen verbunden ist, eine nur akzidentell praktische und essentiell der Spekulation zugewandte Fähigkeit sei. Da man dann, bei einem so der Spekulation verschriebenen Bewußtsein, nicht mehr sieht, welches Interesse es haben sollte, die Erkenntnisse, die es besitzt, entgleiten zu lassen, versteht man nicht, daß es darauf verzichtet, das zu erhellen, was für es nicht vollständig verloren ist. Woraus sich ergeben würde, daß ihm de jure nur das angehört, was es de facto besitzt, und daß im Bereich des Bewußtseins alles Reale aktuell ist. Gibt man dem Bewußtsein jedoch seine wahre Rolle zurück, so gäbe es ebensowenig Grund zu sagen, daß die einmal wahrgenommene Vergangenheit erlischt, wie anzunehmen, daß die materiellen Gegenstände aufhören zu existieren, wenn ich aufhöre, sie wahrzunehmen. Beharren wir auf diesem letzten Punkt, denn dort liegt das Zentrum der Schwierigkeiten und die Quelle der Zweideutigkeiten, die das Problem des Unbewußten umgeben. Die Idee einer
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unbewußten Vorstellung ist, | entgegen einem verbreiteten Vor urteil, klar; man kann sogar sagen, daß wir von ihr beständig Gebrauch machen und daß es keine dem gemeinen Menschenverstand vertrautere Konzeption gibt. Jeder gibt nämlich zu, daß die unserer Wahrnehmung aktuell präsenten Bilder nicht das Ganze der Materie sind. Was aber kann andererseits ein nicht wahrgenommener materieller Gegenstand sein, ein nicht vorgestelltes Bild, wenn nicht eine Art unbewußter mentaler Zustand? Jenseits der Wände meines Zimmers, das ich im Moment wahrnehme, gibt es die benachbarten Zimmer, dann den Rest des Hauses sowie schließlich die Straße und die Stadt, in der ich wohne. Ganz gleich, welcher Theorie der Materie man sich anschließt: Realist oder Idealist, wenn man von der Stadt, der Straße und den anderen Zimmern des Hauses spricht, denkt man offensichtlich an ebenso viele in unserem Bewußtsein abwesende und dennoch außerhalb von ihm gegebene Wahrnehmungen. Sie werden nicht erst geschaffen, wenn unser Bewußtsein sie aufnimmt; in gewisser Weise waren sie also schon, und wie hätten sie, da doch der Voraussetzung nach unser Bewußtsein sie nicht erfaßte, an sich existieren können, wenn nicht im unbewußten Zustand? Woher kommt es also, daß eine Existenz außerhalb des Bewußtseins uns klar erscheint, wenn es sich um Objekte handelt, und dunkel, wenn wir vom Subjekt sprechen? Unsere aktuellen und virtuellen Wahrnehmungen erstrecken sich entlang zweier Linien, einer horizontalen AB, die alle gleichzeitigen Gegenstände im Raum enthält, und einer vertikalen CI, auf der sich unsere aufeinanderfolgenden, in der Zeit gestaffelten Erinnerungen anordnen. Der Punkt I, der Schnittpunkt der beiden Linien, ist der einzige, der unserem Bewußtsein aktuell gegeben ist. Woher kommt es, daß wir nicht zögern, die Realität der gesamten Linie AB zu setzen, obgleich sie nicht wahrgenommen wird, und daß von der Linie CI hingegen die aktuell wahrgenommene Gegenwart I der einzige Punkt ist, der uns wahrhaft zu existieren scheint? | Dieser radikalen Unterscheidung zwischen den beiden Reihen, der
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zeitlichen und der räumlichen, liegen so viele verworrene oder schlecht durchdachte Ideen zugrunde, so viele jedes spekulativen Wertes entbehrende Hypothesen, daß wir sie nicht auf einen Schlag erschöpfend zu analysieren vermöchten. Um die Illusion vollständig zu entlarven, müßte man, von ihrem Ursprung ausgehend, durch alle ihre WinC dungen hindurch jene zweifache Bewegung verfolgen, durch die wir dazu kommen, objektive Realitäten ohne BeA I B zug auf das Bewußtsein und Bewußtseinszustände ohne Fig. 3 objektive Realität zu setzen, wobei der Raum dann sich dort nebeneinanderreihende Dinge unbegrenzt zu bewahren scheint, während die Zeit im Laufe ihres Fortschreitens in ihr aufeinanderfolgende Zustände zerstören würde. Ein Teil dieser Arbeit wurde in unserem ersten Kapitel geleistet, als wir die Objektivität im allgemeinen behandelt haben; ein weiterer Teil wird auf den letzten Seiten dieses Buches erbracht werden, wenn wir von der Idee der Materie sprechen werden. Hier wollen wir uns darauf beschränken, auf einige wesentliche Punkte hinzuweisen. Als erstes stellen die an dieser Linie AB entlang sich staffelnden Gegenstände in unseren Augen das dar, was wir wahrnehmen werden, während die Linie CI nur das enthält, was schon wahrgenommen wurde. Nun ist aber die Vergangenheit für uns nicht mehr von Interesse; sie hat ihr mögliches Wirken erschöpft oder wird einen Einfluß nur dann wiedergewinnen können, wenn sie die Vitalität der gegenwärtigen Wahrnehmung borgt. Die unmittelbare Zukunft hingegen besteht in einem unmittelbar bevorstehenden Wirken, in einer noch nicht freigesetzten Energie. Der nicht wahrgenommene Teil des materiellen Universums, reich an Verheißungen und Bedrohungen, hat also für uns eine Realität, die die aktuell | nicht wahrgenommenen Zeiträume unserer ver-
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gangenen Existenz nicht haben können und dürfen. Doch diese vollständig relative, auf die praktische Nützlichkeit und die materiellen Bedürfnisse des Lebens bezogene Unterscheidung nimmt in unserem Geist die immer eindeutigere Form einer metaphysischen Unterscheidung an. Wir haben in der Tat gezeigt, daß die uns umgebenden Gegenstände zu unterschiedlichen Graden ein Wirken repräsentieren, das wir auf die Dinge ausüben können oder von ihnen werden erleiden müssen. Die Fälligkeit dieses möglichen Wirkens wird eben gerade durch die mehr oder weniger große Entfernung des entsprechenden Gegenstandes angezeigt, so daß die Distanz im Raum die Nähe einer Bedrohung oder Verheißung in der Zeit angibt. Der Raum liefert uns also auf einen Schlag das Schema unserer nahen Zukunft; und da diese Zukunft unbegrenzt dahinfließen muß, hat der Raum, der sie symbolisiert, die Eigenschaft, in seiner Unbewegtheit unbegrenzt offen zu bleiben. Daher kommt es, daß uns der unserer Wahrnehmung gegebene unmittelbare Horizont notwendig von einem größeren, wenn auch nicht wahrgenommenen, so doch existenten Kreis umgeben scheint, wobei dieser Kreis selbst einen anderen impliziert, der ihn umgibt, und immer so weiter und so fort. Es liegt also im Wesen unserer aktuellen Wahrnehmung, daß sie als ausgedehnte immer nur ein Inhalt in bezug auf eine umfassendere und sogar unbegrenzte Erfahrung ist, in der sie enthalten ist; und diese Erfahrung, die in unserem Bewußtsein abwesend ist, da sie über den wahrgenommenen Horizont hinausreicht, scheint deshalb nicht weniger aktuell gegeben zu sein. Doch während wir uns an diesen materiellen Dingen aufgehängt fühlen, die wir so zu gegenwärtigen Realitäten erheben, sind unsere Erinnerungen als vergangene im Gegenteil lauter tote Gewichte, die wir mit uns schleifen und bei denen wir lieber so tun möchten, als seien wir von ihnen befreit. Derselbe Instinkt, kraft dessen wir den Raum vor uns unbegrenzt öffnen, bewirkt, | daß wir die verfließende Zeit hinter uns schließen. Und während uns die Realität als Ausgedehnte über
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die Grenzen unserer Wahrnehmung unendlich hinauszugehen scheint, erscheint uns im Gegenteil in unserem inneren Leben allein das real, was mit dem gegenwärtigen Moment beginnt; der Rest ist praktisch ausgelöscht. Wenn also eine Erinnerung wieder im Bewußtsein erscheint, dann wirkt sie auf uns wie ein Wiedergänger, dessen geheimnisvolles Erscheinen man durch besondere Ursachen erklären müßte. In Wirklichkeit ist der Anschluß dieser Erinnerung an unseren gegenwärtigen Zustand völlig vergleichbar mit jenem der nicht wahrgenommenen Gegenstände an die Gegenstände, die wir wahrnehmen, und das Unbewußte spielt in den beiden Fällen eine Rolle derselben Art. Doch macht es uns große Mühe, uns die Dinge so vorzustellen, weil wir die Gewohnheit angenommen haben, die Unterschiede zwischen der Reihe der gleichzeitig im Raum sich staffelnden Gegenstände und jener der sich nacheinander in der Zeit entwickelnden Zustände zu unterstreichen, die Ähnlichkeiten hingegen wegzuwischen. In der ersten bedingen sich die Terme in einer völlig festgelegten Weise, derart, daß die Erscheinung jedes neuen Terms vorhergesehen werden konnte. So weiß ich, wenn ich mein Zimmer verlasse, welche Zimmer ich als nächstes durchqueren werde. Meine Erinnerungen hingegen stellen sich in einer scheinbar sprunghaften Ordnung ein. Die Ordnung der Vorstellungen ist also im einen Fall notwendig, im anderen kontingent; und es ist diese Notwendigkeit, die ich gewissermaßen hypostasiere, wenn ich von der Existenz der Gegenstände außerhalb jeglichen Bewußtseins spreche. Wenn ich meine, es spräche nichts dagegen, die Totalität der Gegenstände, die ich nicht wahrnehme, als gegeben anzunehmen, dann weil die strikt festgelegte Ordnung dieser Gegenstände ihnen das Aussehen einer Kette verleiht, von der meine gegenwärtige Wahrnehmung nur noch ein Glied wäre: Dieses Glied überträgt dann dem Rest der Kette seine Aktualität. | – Schaut man jedoch näher hin, so würde man sehen, daß unsere Erinnerungen eine Kette derselben Art bilden und daß unser Charakter, der immer bei allen unseren Entscheidungen zu-
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gegen ist, durchaus die aktuelle Synthese all unserer vergangenen Zustände ist. In dieser verdichteten Form existiert unser vorangegangenes psychologisches Leben für uns sogar mehr als die externe Welt, von der wir immer nur einen sehr kleinen Teil wahrnehmen, während wir im Gegenteil die Totalität unserer gelebten Erfahrung nutzen. Es ist wahr, daß wir sie nur in dieser abgekürzten Weise besitzen und daß unsere früheren Wahrnehmungen, als gesonderte Individualitäten betrachtet, auf uns den Eindruck machen, als seien sie entweder ganz und gar verschwunden oder würden nur nach Lust und Laune wieder auftauchen. Doch dieser Anschein vollständiger Zerstörung oder launenhafter Wiederauferstehung rührt bloß daher, daß das aktuelle Bewußtsein in jedem Augenblick das Nützliche einläßt und das Überflüssige für den Moment zurückweist. Immer auf die Handlung hingespannt, kann es nur diejenigen unserer früheren Wahrnehmungen materialisieren, die sich mit der gegenwärtigen Wahrnehmung verbinden, um zur endgültigen Entscheidung beizutragen. Wenn es, damit mein Wille sich an einem gegebenen Punkt des Raumes manifestiert, nötig ist, daß mein Bewußtsein Zug um Zug jene Zwischenräume oder Hindernisse überwindet, deren Gesamtheit das ausmacht, was man die Entfernung im Raum nennt, dann ist es ihm im Gegenzug, um diese Handlung zu erhellen, von Nutzen, über das Zeitintervall hinwegzuspringen, das die aktuelle Situation von einer analogen vorherigen Situation trennt; und da es sich mit einem einzigen Satz dorthin versetzt, entgleitet der gesamte dazwischenliegende Teil der Vergangenheit seinem Zugriff. Dieselben Gründe, die bewirken, daß unsere Wahrnehmungen sich in einer strikten Kontinuität im Raum anordnen, bewirken also, daß unsere Erinnerungen in diskontinuierlicher Weise in der Zeit aufscheinen. Wir haben es, was die | nicht wahrgenommenen Gegenstände im Raum und die unbewußten Erinnerungen in der Zeit anbelangt, nicht mit zwei radikal verschiedenen Formen der Existenz zu tun; doch die Erfordernisse der Handlung sind im einen und im anderen Fall genau umgekehrt.
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Doch wir berühren hier das Grundproblem der Existenz, ein Problem, das wir nur streifen können, sonst würden wir von Frage zu Frage ins Herz der Metaphysik selbst geführt. Sagen wir also einfach, daß, wenn es um die Dinge der Erfahrung geht – welche allein uns hier beschäftigen –, die Existenz zwei miteinander vereinte Bedingungen zu implizieren scheint: 1. die Präsentation im Bewußtsein, 2. die logische oder kausale Verknüpfung dessen, was so präsentiert wird, mit dem, was vorausgeht und was folgt. Die Realität eines psychologischen Zustands oder eines materiellen Gegenstandes für uns besteht in jener zweifachen Tatsache, daß unser Bewußtsein sie wahrnimmt und daß sie zu einer zeitlichen oder räumlichen Reihe gehören, in der sich die Glieder gegenseitig bestimmen. Doch diese beiden Bedingungen lassen Grade zu, und es ist denkbar, daß sie, wenn sie auch eine wie die andere notwendig sind, unterschiedlich weit erfüllt werden. So ist im Falle der aktuellen internen Zustände die Verknüpfung weniger eng und die Bestimmung der Gegenwart durch die Vergangenheit hat, da sie einen weiten Spielraum für Kontingenz läßt, nicht den Charakter einer mathematischen Ableitung; – im Gegenzug ist die Präsentation im Bewußtsein vollkommen, ein aktueller psychologischer Zustand offenbart uns die Totalität seines Inhalts in dem Akt selbst, durch den wir ihn wahrnehmen. Wenn es sich hingegen um äußere Gegenstände handelt, ist es die Verknüpfung, die vollkommen ist, da diese Gegenstände notwendigen Gesetzen gehorchen; dann aber ist die andere Bedingung, die Präsentation im Bewußtsein, immer nur teilweise erfüllt, denn der materielle Gegenstand scheint uns eben gerade aufgrund der Vielheit der nicht wahrgenommenen Elemente, die ihn an | alle anderen Gegenstände binden, unendlich viel mehr in sich zu schließen und hinter sich zu verbergen, als er uns sehen läßt. – Wir müßten also sagen, daß die Existenz im empirischen Sinne des Wortes immer zugleich, allerdings in verschiedenem Grade, die bewußte Erfassung und die regelmäßige Verknüpfung impliziert. Doch unser Verstand, dessen Funktion darin besteht,
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scharfe Unterscheidungen herzustellen, versteht die Dinge keineswegs so. Eher, als in allen Fällen das Vorhandensein der beiden in unterschiedlichen Verhältnissen zusammengemischten Elemente anzuerkennen, möchte er diese beiden Elemente voneinander trennen und so den äußeren Gegenständen einerseits und den internen Zuständen andererseits zwei radikal verschiedene Existenzmodi zuschreiben, die jeweils durch das ausschließ liche Vorhandensein derjenigen Bedingung charakterisiert sind, die man bloß als die vorherrschende bezeichnen dürfte. Dann würde die Existenz der psychologischen Zustände gänzlich in ihrer Erfassung durch das Bewußtsein bestehen und die der äuße ren Phänomene ebenso gänzlich in der strikten Ordnung ihres gemeinsamen Auftretens und ihres Nacheinanders. Daher rührt die Unmöglichkeit, den existierenden, aber nicht wahrgenommenen materiellen Gegenständen den geringsten Anteil am Bewußtsein zu lassen und den nicht bewußten inneren Zuständen den geringsten Anteil an der Existenz. Wir haben zu Beginn dieses Buches die Folgen der ersteren Illusion gezeigt: Sie führt dazu, daß unsere Vorstellung der Materie verfälscht wird. Die zweite, der ersten komplementäre, verunstaltet unsere Konzeption des Geistes, indem sie über die Idee des Unbewußten ein künstliches Dunkel breitet. Unser vergangenes psychologisches Leben bedingt in seiner Gesamtheit unseren gegenwärtigen Zustand, ohne ihn in einer notwendigen Weise zu determinieren; und wiederum in seiner Gesamtheit offenbart es sich in unserem Charakter, obgleich keiner der vergangenen Zustände sich explizit im Charakter manifestiert. Miteinander vereint, gewährleisten diese beiden | Bedingungen jedem der vergangenen psychologischen Zustände eine reale, wenngleich unbewußte Existenz. Wir sind jedoch so daran gewöhnt, zugunsten der Praxis die reale Ordnung der Dinge umzukehren, wir unterliegen zu einem solchen Grad der Obsession aus dem Raum gezogener Bilder, daß wir uns nicht hindern können zu fragen, wo die Erinnerung sich bewahrt. Wir begreifen, daß physikochemische Phänomene im
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Gehirn stattfinden, daß das Gehirn im Körper ist, der Körper in der Luft, die ihn umspielt, etc.; wo aber ist, wenn sie sich erhält, die einmal vollendete Vergangenheit? Sie im Zustand molekularer Modifikation in die Hirnsubstanz zu verlegen erscheint einfach und klar, weil wir dann ein aktuell gegebenes Reservoir haben, das man nur zu öffnen bräuchte, um die latenten Bilder ins Bewußtsein fließen zu lassen. Wenn aber das Gehirn zu einem solchen Gebrauch nicht dienen kann, in welchem Lager werden wir die angehäuften Bilder dann unterbringen? Man vergißt, daß das Verhältnis von Enthaltendem und Enthaltenem seine scheinbare Klarheit und Allgemeingültigkeit von jener Notwendigkeit bezieht, die uns zwingt, den Raum immer vor uns zu öffnen und die Dauer immer hinter uns zu schließen. Wenn man gezeigt hat, daß ein Ding in einem anderen ist, hat man damit keineswegs das Phänomen seiner Erhaltung aufgeklärt. Mehr noch: Nehmen wir für einen Augenblick an, daß die Vergangenheit im Zustand im Gehirn eingelagerter Erinnerung fortlebt. Dann müßte das Gehirn, um die Erinnerung zu erhalten, sich zumindest selbst erhalten. Doch dieses Gehirn als im Raum ausgedehntes Bild nimmt immer nur den gegenwärtigen Moment ein; es bildet mit dem ganzen Rest des materiellen Universums einen unaufhörlich erneuerten Schnitt des universalen Werdens. Entweder also wird man annehmen müssen, daß dieses Universum durch ein wahrhaftes Wunder in | jedem Moment der Dauer vergeht und wiedergeboren wird, oder man wird ihm die Kontinuität der Existenz übertragen müssen, die man dem Bewußtsein verwehrt, und aus seiner Vergangenheit eine Realität machen, die fortlebt und sich in seine Gegenwart erstreckt: Damit, daß man die Erinnerung in die Materie einlagert, wird man also nichts gewonnen haben, und man wird sich im Gegenteil gezwungen sehen, jenes unabhängige und vollständige Fortleben der Vergangenheit, das man den psychologischen Zuständen verwehrte, auf die Totalität der Zustände der materiellen Welt auszudehnen. Dieses Überleben der Vergangenheit an sich zwingt sich einem also in der ein oder
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andern Form auf, und die Schwierigkeit, die wir empfinden, es zu denken, rührt schlicht daher, daß wir auf die Reihe der Erinnerungen in der Zeit jene Notwendigkeit des Enthaltens und Enthaltenseins übertragen, die nur für den Gesamtzusammenhang der momenthaft im Raum wahrgenommenen Körper gilt. Die grundlegende Illusion besteht darin, auf die im Fluß begriffene Dauer selbst die Form der momenthaften Schnitte zu übertragen, die wir von ihr anfertigen. Wie aber könnte die Vergangenheit, die der Voraussetzung nach aufgehört hat zu sein, sich aus sich selbst heraus erhalten? Liegt darin nicht ein wahrer Widerspruch? Wir erwidern, daß die Frage gerade ist, ob die Vergangenheit aufgehört hat zu existieren oder ob sie einfach aufgehört hat, nützlich zu sein. Man definiert willkürlich die Gegenwart als das, was ist, wo doch die Gegenwart einfach das ist, was entsteht. Nichts ist weniger als der gegenwärtige Moment, wenn man darunter diese unteilbare Grenze versteht, die die Vergangenheit von der Zukunft trennt. Wenn wir diese Gegenwart als sein sollend denken, dann ist sie noch nicht, wenn wir sie als existierend denken, dann ist sie schon vergangen. Betrachtet man hingegen die konkrete und wirklich vom Bewußtsein erlebte Gegenwart, so kann man sagen, daß die Gegenwart zum Großteil in der unmittelbaren Vergangenheit besteht. In dem Bruchteil einer Sekunde, den die | kürzestmögliche Lichtwahrnehmung dauert, haben Trillionen von Schwingungen stattgefunden, von denen die erste von der letzten durch ein unbeschreiblich unterteiltes Intervall getrennt ist. So besteht unsere Wahrnehmung, so momenthaft sie auch sein mag, also immer aus einer unermeßlichen Vielzahl von wiedererinnerten Elementen, und richtig gesprochen ist jede Wahrnehmung schon Gedächtnis. Wir nehmen praktisch nur die Vergangenheit wahr, denn die reine Gegenwart ist das ungreifbare Fortschreiten der Vergangenheit, die an der Zukunft nagt. Das Bewußtsein erleuchtet mit seinem Schein in jedem Augenblick diesen unmittelbaren Teil der Vergangenheit, der über
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die Zukunft gebeugt darauf hinarbeitet, diese zu verwirklichen und sich einzuverleiben. Einzig darum besorgt, auf diese Weise eine unbestimmte Zukunft zu bestimmen, wird es ein wenig von seinem Licht auch auf diejenigen von unseren weiter in die Vergangenheit zurückgetretenen Zuständen ausbreiten können, die sich nützlich mit unserem gegenwärtigen Zustand, das heißt mit unserer unmittelbaren Vergangenheit verbinden; der Rest bleibt dunkel. Es ist dieser erhellte Teil unserer Geschichte, in den wir versetzt bleiben, kraft des fundamentalen Gesetzes des Lebens, das ein Gesetz des Handelns ist: daher die von uns empfundene Schwierigkeit, uns Erinnerungen vorzustellen, die sich im Schatten erhalten würden. Unser Widerwille, das vollständige Über leben der Vergangenheit zuzugeben, hängt also an der Ausrichtung unseres psychologischen Lebens selbst, das ein regelrechtes Abrollen von Zuständen ist, bei dem es in unserem Interesse liegt, das zu beobachten, was sich entrollt, und nicht das, was schon ganz abgewickelt ist. Wir kehren so auf einem langen Umweg zu unserem Ausgangspunkt zurück. Es gibt, sagten wir, zwei zutiefst verschiedene Gedächtnisse: Das eine, im Organismus fixiert, ist nichts anderes als das Gesamt der intelligent eingerichteten Mechanismen, die eine passende Antwort auf die verschiedenen möglichen Anfragen gewährleisten. Es bewirkt, daß wir uns der gegenwärtigen Situation anpassen | und daß die Wirkungen, die wir erfahren, sich von selbst mal in vollzogenen, mal in schlicht im Entstehen begriffenen, immer aber mehr oder weniger angemessenen Reaktionen fortsetzen. Eher Gewohnheit als Gedächtnis, vollzieht* es unsere vergangene Erfahrung, beschwört aber nicht deren Bild herauf. Das andere ist das wahre Gedächtnis. Dem Bewußtsein koextensiv behält es und reiht es unsere Zustände, während sie sich ereignen, einen nach dem anderen auf, wobei es jeder Tatsache ihren Platz beläßt und sie folglich mit ihrem Datum kennzeichnet. Dabei bewegt es sich wirklich in der definitiven Vergangenheit und nicht, wie das erste, in einer unaufhörlich von neuem beginnen-
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den Gegenwart. Doch während wir so diese beiden Formen des Gedächtnisses tiefgreifend unterschieden haben, hatten wir ihre Verbindung noch nicht gezeigt. Oberhalb des Körpers mit seinen Mechanismen, die die akkumulierten Anstrengungen vergangener Handlungen symbolisieren, schwebte im Leeren hängend das imaginierende und repetierende Gedächtnis. Wenn wir aber niemals etwas anderes wahrnehmen als unsere unmittelbare Vergangenheit, wenn unser Bewußtsein der Gegenwart schon Gedächtnis ist, dann werden die beiden Elemente, die wir zunächst getrennt hatten, sich innig miteinander verschweißen. Von diesem neuen Standpunkt aus betrachtet, ist unser Körper tatsächlich nichts anderes als der stets wiedererstehende Teil unserer Vorstellung, der Teil, der immer gegenwärtig ist, oder vielmehr jener, der in jedem Moment gerade vergangen ist. Selbst Bild, vermag dieser Körper die Bilder nicht zu speichern, da er Teil der Bilder ist; und darum ist das Unterfangen, die vergangenen oder sogar gegenwärtigen Wahrnehmungen im Gehirn lokalisieren zu wollen, illusorisch: Sie sind nicht in ihm, sondern es ist in ihnen. Doch dieses ganz besondere Bild, das in der Mitte der anderen bestehenbleibt und das ich meinen Körper nenne, bildet, wie wir gesagt haben, in jedem Augenblick einen Querschnitt des univer B A salen | Werdens. Es ist also der Durchgangsort der empfangenen und wieder abgegebenen Bewegungen, das Bindeglied zwischen den Dingen, die auf mich einwirP ken, und den Dingen, auf die ich S einwirke, mit e inem Wort: der Sitz der sensomotorischen PhäFig. 4 nomene. Wenn ich durch einen Kegel SAB die Totalität der in meinem Gedächtnis angehäuften Erinnerungen darstelle, dann bleibt die in der Vergangenheit sitzende Basis AB unbewegt, während die Spitze S, die in jedem Mo-
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ment meine Gegenwart darstellt, fortwährend voranschreitet und ebenso fortwährend die bewegliche Ebene P meiner aktuellen Vorstellung des Universums berührt. In S konzentriert sich das Bild des Körpers; und als Teil der Ebene P beschränkt sich dieses Bild darauf, die von allen Bildern, aus denen diese Ebene besteht, ausgehenden Wirkungen zu empfangen und wieder abzugeben. Das Gedächtnis des Körpers, das von der Gesamtheit der durch die Gewohnheit organisierten sensomotorischen Systeme gebildet wird, ist also ein quasi momenthaftes Gedächtnis, dem das wahrhafte Gedächtnis der Vergangenheit als Grundlage dient. Da sie nicht zwei getrennte Dinge sind, da das erste, sagten wir, nur die bewegliche Spitze ist, die das zweite in die bewegte Ebene der Erfahrung einführt, ist es nur natürlich, daß diese zwei Funktionen sich gegenseitig stützen. Auf der einen Seite nämlich präsentiert das Gedächtnis der Vergangenheit den sensomotorischen Mechanismen alle Erinnerungen, die in der Lage sind, sie bei ihrer Aufgabe zu leiten und die motorische Reaktion in die durch die Lektionen der Erfahrung suggerierte Richtung zu lenken: Eben darin bestehen die Berührungs- und die Ähnlichkeitsassoziationen. Auf der anderen Seite aber liefern die sensomotorischen Apparate den machtlosen, das heißt unbewußten Erinnerungen das Mittel, eine Gestalt anzunehmen, sich zu materialisieren, | kurz: gegenwärtig zu werden. Tatsächlich muß eine Erinnerung, damit sie wieder ins Bewußtsein tritt, erst von den Höhen des reinen Gedächtnisses bis zu jenem präzisen Punkt herabgestiegen sein, an dem sich die Handlung vollzieht. Mit anderen Worten, es ist die Gegenwart, von der der Ruf ausgeht, dem die Erinnerung antwortet, und es sind die sensomotorischen Elemente der gegenwärtigen Handlung, von denen die Erinnerung die Wärme borgt, die Leben verleiht. Ist es nicht die Solidität dieser Übereinkunft, die Präzision, mit der diese beiden komplementären Gedächtnisse sich ineinander einpassen, an der wir die »wohlausgewogenen« Geister erkennen, das heißt im Grunde die perfekt an das Leben angepaß-
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ten Menschen? Das, was den Mann der Tat kennzeichnet, ist die Unverzüglichkeit, mit der er in einer gegebenen Situation all die Erinnerungen zu Hilfe ruft, die sich darauf beziehen; doch es ist auch die unüberwindliche Barriere, auf die bei ihm die unnützen oder gleichgültigen Erinnerungen treffen, wenn sie an der Schwelle des Bewußtseins vorstellig werden. In der ganz reinen Gegenwart leben, auf einen Reiz durch eine unmittelbare Reaktion antworten, die diesen fortführt, ist das Wesenseigene eines niederen Tieres: Der Mensch, der so vorgeht, ist ein impulsiver Mensch. Doch der Handlung kaum besser angepaßt, ist jener, der aus Freude am dortigen Leben in der Vergangenheit lebt und bei dem die Erinnerungen ins Licht des Bewußtseins treten ohne Gewinn für die aktuelle Situation: Es wäre kein impulsiver Mensch mehr, aber ein Träumer. Zwischen diesen beiden Extremen liegt die glückliche Disposition eines Gedächtnisses, das fügsam genug ist, um mit Präzision den Konturen der gegenwärtigen Situation zu folgen, jedoch energisch genug, um jedem anderen Appell zu widerstehen. Der gesunde oder der praktische Menschenverstand ist wahrscheinlich nichts anderes als dies. Die außergewöhnliche Ausprägung des spontanen Gedächtnisses bei der Mehrzahl der Kinder rührt genau daher, daß sie | ihr Gedächtnis noch nicht mit ihrem Verhalten solidarisiert haben. Sie folgen gewöhnlich dem Eindruck des Augenblicks, und da die Handlung sich bei ihnen nicht den Anweisungen der Erinnerung beugt, begrenzen sich umgekehrt ihre Erinnerungen nicht auf die Erfordernisse der Handlung. Sie scheinen nur deshalb mit größerer Leichtigkeit zu behalten, weil sie sich mit weniger Unterscheidungsvermögen erinnern. Das scheinbare Nachlassen des Gedächtnisses, je stärker die Intelligenz sich entwickelt, liegt also an der zunehmenden Koordination der Erinnerungen mit den Taten. Das bewußte Gedächtnis verliert so an Umfang, was es an Durchdringungskraft gewinnt: Zu Beginn verfügte es über die Leichtigkeit des Traumgedächtnisses, doch dies, weil es wirklich träumte. Man beobachtet im übrigen dieselbe Übersteigerung des
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spontanen Gedächtnisses bei Menschen, deren intellektuelle Entwicklung kaum über die der Kindheit hinausreicht. Ein Missionar sah, nachdem er eine lange Predigt vor afrikanischen Wilden gehalten hatte, einen von ihnen die Predigt wortwörtlich und mit denselben Gesten von Anfang bis Ende wiederholen.1 Wenn aber unsere Vergangenheit auch fast ganz verborgen bleibt, weil die Erfordernisse der gegenwärtigen Handlung sie unterdrücken, so wird sie die Kraft, die Schwelle des Bewußtseins zu überschreiten, überall dort wiederfinden, wo wir unser Interesse von der effizienten Handlung abwenden und uns gewissermaßen wieder ins Leben des Traumes versetzen. Der natürliche oder künstliche Schlaf bewirkt ein derartiges erloschenes Interesse. Man hat uns kürzlich gezeigt, daß es im Schlaf zu einer Unterbrechung des Kontaktes zwischen den motorischen und den sensorischen Nervenelementen kommt.2 Selbst wenn man nicht an dieser scharfsinnigen Hypothese festhält, ist es unmöglich, | den Schlaf nicht als ein zumindest funktionelles Erschlaffen der Spannung des Nervensystems zu sehen, das im Wachzustand stets bereit ist, den empfangenen Reiz in einer angemessenen Reaktion fortzuführen. Nun ist aber der »Überschwang« des Gedächtnisses in manchen Träumen und schlafwandlerischen Zuständen ein Faktum alltäglicher Beobachtung. Erinnerungen, die man ausgelöscht glaubte, tauchen dort mit verblüffender Exaktheit wieder auf; aufs neue erleben wir in all ihren Einzelheiten vollständig vergessene Szenen aus unserer Kindheit; wir sprechen Sprachen, bei denen wir uns nicht einmal mehr erinnern, sie gelernt zu haben. Doch nichts ist lehrreicher in dieser Hinsicht als das, was sich in bestimmten Fällen plötzlichen Erstickens, bei den Ertrinkenden und den Gehängten, abspielt. Wieder ins Leben zurückMemory an how to improve it, New York 1888, S. 18. Duval, Théorie histologique du sommeil (C. RP. de la Soc. de Biologie, 1895, S. 74). – Vgl. Lépine, Ibid., S. 85, sowie Revue de Médecine, August 1894, und insbesondere Pupin, Le neurone et les hypothèses histologiques, Paris 1896. 1 Kay,
2 Mathias
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gekehrt, erklären diese, daß sie in kurzer Zeit all die vergessenen Ereignisse ihres Lebens vor sich vorüberziehen sahen, mit ihren kleinsten Einzelheiten und in ebenjener Reihenfolge, in der sie sich zugetragen haben.1 Ein menschliches Wesen, das seine Existenz träumen würde, statt sie zu leben, hätte so zweifellos in jedem Augenblick die unendliche Vielzahl der Einzelheiten seiner vergangenen Geschichte vor Augen. Und derjenige, der im Gegenteil dieses Gedächtnis mit allem, was es erzeugt, von sich wiese, würde seine Existenz unentwegt vollziehen*, statt sie sich wahrhaft vorzustellen: Als ein bewußter Automat 2 würde er dem Hang der nützlichen Gewohnheiten folgen, die den Reiz in einer angemessenen Reaktion fortführen. Der erste käme nie aus dem Besonderen, ja nicht einmal aus dem Individuellen heraus. Da er jedem Bild sein Datum in der Zeit und seinen Platz im Raum beläßt, sähe er nur, worin | es sich von den anderen unterscheidet, und nicht, worin es ihnen ähnelt. Der andere, stets von der Gewohnheit getragen, würde hingegen in einer Situation nur die Seite ausmachen, durch die sie früheren Situationen in der Praxis ähnelt. Wenn er auch zweifellos unfähig ist, das Universelle zu denken, da die allgemeine Idee die zumindest virtuelle Vorstellung einer Vielzahl wiedererinnerter Bilder voraussetzt, ist es doch nichtsdestoweniger das Universelle, in dem er sich bewegt, denn die Gewohnheit ist für Winslow, Obscure Diseases of the Brain, S. 250 ff. – Ribot, Maladies de la mémoire, S. 139 ff. – Maury, Le sommeil et les rêves, Paris 1878, S. 439. – Egger, Le moi des mourants (Revue philosophique, Januar und Oktober 1896). – Vgl. die Worte von Ball: »Das Gedächtnis ist ein Vermögen, das nichts verliert und alles speichern wird.« (Zitiert von Rouillard, Les amnésies, Diss. med., Paris 1885, S. 25.) 2 Diesen Ausdruck (conscious automata) prägte Thomas Huxley in seinem 1874 vor der British Association gehaltenen Vortrag mit dem Titel »On the hypothesis that animals are automata and its history« (Collected Essais, Vol. 1 : Methods and Results, Cambridge University Press 2011, S. 199–250). Vgl. die kritische Ausgabe von Matière et mémoire, Paris 2008, S. 391. [A. d. Ü.] 1
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die Handlung, was die Allgemeinheit für das Denken ist. Doch diese zwei Extremzustände, der eines vollständig kontemplativen Gedächtnisses, das in seiner Schau nur das Einzigartige ergreift, und der eines vollkommen motorischen Gedächtnisses, das seiner Handlung den Stempel der Allgemeinheit aufdrückt, isolieren und manifestieren sich nur in Ausnahmefällen im vollen Maße. Im normalen Leben durchdringen sie sich zutiefst und geben so beide etwas von ihrer ursprünglichen Reinheit auf. Der erste kommt in der Erinnerung der Unterschiede, der zweite in der Wahrnehmung der Ähnlichkeiten zum Ausdruck: Dort, wo die beiden Ströme zusammenfließen, erscheint die allgemeine Idee. Es geht hier nicht darum, die Frage der allgemeinen Ideen im Großen und Ganzen zu entscheiden. Unter diesen Ideen gibt es solche, die ihren Ursprung nicht allein in Wahrnehmungen haben und die sich nur sehr entfernt auf materielle Gegenstände beziehen. Wir lassen diese beiseite, um nur die allgemeinen Ideen in den Blick zu nehmen, die sich auf das gründen, was wir die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten nennen. Wir wollen das reine Gedächtnis, das vollständige Gedächtnis, bei seiner kontinuierlichen Anstrengung verfolgen, sich in die motorische Gewohnheit einzufügen. Dadurch werden wir die Rolle und die Natur dieses Gedächtnisses klarer zum Ausdruck bringen; doch dadurch werden wir vielleicht auch, indem wir sie unter einem ganz besonderen Aspekt betrachten, die zwei gleichermaßen dunklen Ideen von Ähnlichkeit und Allgemeinheit erhellen. | Wenn man diese Schwierigkeiten psychologischer Ordnung, die sich um das Problem der allgemeinen Ideen erheben, möglichst eng faßt, wird es einem, glauben wir, gelingen, sie in dem folgenden Zirkel einzuschließen: Um zu verallgemeinern, muß man zuerst abstrahieren, aber um nutzbringend zu abstrahieren, muß man schon verallgemeinern können. Um diesen Zirkel kreisen bewußt oder unbewußt Nominalismus und Konzeptualismus, wobei für jede der beiden Theorien vor allem die Unzuläng-
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lichkeit der anderen spricht. Die Nominalisten nämlich sehen, da sie von der allgemeinen Idee nur ihre Extension zurückbehalten, in dieser bloß eine offene und unbegrenzte Reihe individueller Gegenstände. Die Einheit der Idee kann folglich für sie nur in der Identität des Symbols bestehen, durch das wir all diese verschiedenen Gegenstände unterschiedslos bezeichnen. Wenn man ihnen darin glauben soll, beginnen wir damit, ein Ding wahrzunehmen, dann stellen wir ihm ein Wort zur Seite; dieses Wort – gestärkt durch die Fähigkeit oder die Gewohnheit, sich auf eine unbegrenzte Zahl anderer Dinge auszudehnen – erhebt sich alsdann zur allgemeinen Idee. Damit sich aber das Wort so ausdehnt und sich nichtsdestotrotz auf die Gegenstände beschränkt, die es bezeichnet, müssen uns diese Gegenstände freilich noch Ähnlichkeiten zeigen, die diese, indem sie sie einander annähern, von allen Gegenständen unterscheiden, auf die sich das Wort nicht anwenden läßt. Die Verallgemeinerung wird also, so scheint es, nicht ohne die abstrakte Betrachtung der gemeinsamen Qualitäten gehen, und so wird der Nominalismus schrittweise dazu gebracht werden, die allgemeine Idee durch ihre Intension zu bestimmen und nicht mehr allein durch ihre Extension, wie er es zuerst wollte. Von dieser Intension geht der Konzeptualismus aus. Die Intelligenz löst ihm zufolge die oberflächliche Einheit des Individuums in unterschiedliche Qualitäten auf, von denen jede, isoliert von dem Individuum, das sie begrenzte, eben dadurch zum Stellvertreter einer Gattung wird. Anstatt jede Gattung so zu betrachten, als enthielte sie | in actu eine Vielheit von Gegenständen, möchte man nun dagegen, daß jeder Gegenstand in potentia – und gleich lauter Qualitäten, die er gefangenhielte – eine Vielheit von Gattungen in sich schließt. Doch die Frage ist eben gerade, ob individuelle Qualitäten, selbst wenn sie durch eine Abstraktionsanstrengung isoliert wurden, nicht ebenso individuell bleiben, wie sie es zu Beginn waren, und ob, um sie zu Gattungen zu erheben, nicht eine neue Vorgehensweise des Geistes nötig ist, durch die er als erstes jede Qualität mit einem Namen belegt
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und dann unter diesem Namen eine Vielheit von individuellen Gegenständen sammelt. Das Weiß einer Lilie ist nicht das Weiß einer Schneedecke; sie bleiben, selbst vom Schnee und der Lilie isoliert, Lilienweiß und Schneeweiß. Sie geben ihre Individualität nur dann auf, wenn wir ihre Ähnlichkeit in Betracht ziehen, um ihnen einen gemeinsamen Namen zu geben: Indem wir diesen Namen auf eine unbegrenzte Anzahl ähnlicher Gegenstände anwenden, reflektieren wir, durch eine Art Bandenspiel, jene Allgemeinheit, die das Wort aus seiner Anwendung auf die Dinge geholt hat, auf die Qualität. Kommt man aber mit einer solchen Überlegung nicht zum Standpunkt der Extension zurück, den man zuvor aufgegeben hatte? Wir drehen uns also wirklich in einem Kreis, wobei der Nominalismus uns zum Konzeptualismus führt und der Konzeptualismus uns zum Nominalismus zurückbringt. Die Verallgemeinerung kann sich nur durch eine Extraktion gemeinsamer Qualitäten vollziehen; doch die Qualitäten müssen, damit sie als gemeinsam erscheinen, schon einer Verallgemeinerungsleistung unterworfen worden sein. Wenn man nun diese beiden gegnerischen Theorien vertieft, entdeckt man in ihnen ein gemeinsames Postulat: Beide nehmen an, daß wir von der Wahrnehmung individueller Gegenstände ausgehen. Die erste bildet die Gattung durch eine Aufzählung; die zweite legt sie durch eine Analyse frei; Gegenstand | von Analyse wie Aufzählung sind jedoch Individuen, die als lauter der unmittelbaren Intuition1 gegebene Wirklichkeiten betrachtet werden. Damit haben wir das Postulat. Trotz seiner scheinbaren Evidenz ist es weder wahrscheinlich, noch entspricht es den Tatsachen. A priori nämlich scheint die saubere Geschiedenheit der individuellen Gegenstände durchaus ein Luxus der Wahrnehmung zu sein, ebenso wie die klare Vorstellung der allgemeinen Ideen eine Raffinesse der Intelligenz. Der perfekte begriffliche Entwurf 1
Zum Begriff ›Intuition‹ und seiner Übersetzung vgl. Nachwort d. Ü., S. 307 ff. [A. d. Ü.]
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der Gattungen ist zweifellos das Wesenseigene des menschlichen Denkens; er erfordert eine Reflexionsanstrengung, durch die wir aus einer Vorstellung die Besonderheiten von Zeit und Ort löschen. Die Reflexion über diese Besonderheiten jedoch, Reflexion, ohne die uns die Individualität der Gegenstände entginge, setzt eine Fähigkeit voraus, die Unterschiede zu bemerken, und eben dadurch ein Gedächtnis der Bilder, welches gewiß das Privileg der Menschen und der höheren Tiere ist. Es scheint also, als würden wir weder mit der Wahrnehmung des Individuums noch mit dem begrifflichen Entwurf der Gattung beginnen, sondern mit einer zwischen diesen liegenden Erkenntnis, mit einem verschwommenen Gefühl von markanter Qualität oder von Ähnlichkeit: dieses von der voll begrifflich erfaßten Allgemeinheit und der klar wahrgenommenen Individualität gleich weit entfernte Gefühl erzeugt diese beiden auf dem Wege der Aufspaltung. Die reflektierte Analyse purifiziert es zur allgemeinen Idee; das unterscheidende Gedächtnis erhärtet es zur Wahrnehmung des Individuellen. Ebendies aber wird klar in Erscheinung treten, wenn man sich an die gänzlich nützlichkeitsbezogenen Ursprünge unserer Wahrnehmung der Dinge zurückversetzt. Das, was uns in einer gegebenen Situation interessiert, das, was wir darin zuerst erfassen müssen, ist die Seite, von der sie einer Tendenz oder einem Bedürfnis entsprechen kann: Nun zielt das Bedürfnis aber schnurstracks auf die Ähnlichkeit oder die Qualität und macht sich nichts aus den individuellen Unterschieden. Auf dieses Unterscheiden des Nützlichen wird sich | die Wahrnehmung der Tiere gewöhnlich beschränken. Es sind die Pflanzen im allgemeinen, die den Pflanzenfresser anziehen: Die Farbe und der Geruch der Pflanzen, als Kräfte gespürt und erfahren (wir werden nicht so weit gehen, zu sagen: als Qualitäten oder Gattungen gedacht), sind die einzigen unmittelbaren Daten seiner äußeren Wahrnehmung. Auf diesem Hintergrund von Allgemeinheit oder Ähnlichkeit kann sein Gedächtnis die Kontraste zur Geltung bringen, aus denen die Differenzierungen geboren werden; es wird dann eine Landschaft
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von einer anderen Landschaft unterscheiden, ein Feld von einem anderen Feld; doch dies ist, wir wiederholen es, das Überflüssige der Wahrnehmung und nicht das Notwendige. Wird man sagen, daß wir das Problem nur nach hinten verschieben, daß wir das Verfahren, durch das die Ähnlichkeiten freigelegt werden und die Gattungen sich konstituieren, lediglich ins Unbewußte abschieben? Doch wir schieben nichts ins Unbewußte ab, aus dem sehr einfachen Grund, daß es unserer Meinung nach keine Anstrengung psychologischer Natur ist, die hier die Ähnlichkeit freilegt: Diese Ähnlichkeit wirkt objektiv wie eine Kraft und löst aufgrund des gänzlich physikalischen Gesetzes, demzufolge auf dieselben tiefliegenden Ursachen dieselben Gesamteffekte folgen, identische Reaktionen aus. Wird man, weil Salzsäure immer in derselben Weise auf kohlensauren Kalk wirkt – sei es nun Marmor oder Kreide –, sagen, die Säure löse unter den verschiedenen Arten die charakteristischen Züge einer Gattung heraus? Nun besteht aber kein wesentlicher Unterschied zwischen dem Verfahren, durch welches die Säure ihre Base aus dem Salz zieht, und dem Akt der Pflanze, die gleichbleibend aus den unterschiedlichsten Böden dieselben Elemente extrahiert, die ihr zur Nahrung dienen sollen. Man mache nun noch einen weiteren Schritt und stelle sich ein rudimentäres Bewußtsein vor, wie es jenes der Amöbe sein mag, die sich in einem Wassertropfen bewegt: Das Tierchen wird die Ähnlichkeit und nicht den Unterschied der verschiedenen | organischen Substanzen spüren, die es assimilieren kann. Kurz, vom Mineral zur Pflanze, von der Pflanze zu den einfachsten bewußten Wesen und vom Tier zum Menschen folgt man dem Fortschritt des Verfahrens, durch welches die Dinge und Wesen in ihrer Umgebung dasjenige erfassen, was sie anzieht, das, was für sie von praktischem Interesse ist, ohne daß sie zu abstrahieren bräuchten, einfach weil der Rest der Umgebung ohne Einfluß auf sie bleibt: Diese Identität der Reaktion auf oberflächlich unterschiedliche Wirkungen ist der Keim, den das menschliche Bewußtsein zu allgemeinen Ideen entwickelt.
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Man bedenke in der Tat die Bestimmung unseres Nervensystems, wie sie sich aus seiner Struktur zu ergeben scheint. Wir sehen sehr verschiedene Wahrnehmungsapparate, die alle durch die Vermittlung von Zentren mit denselben motorischen Apparaten verbunden sind. Die Empfindung ist instabil; sie kann die vielfältigsten Nuancen annehmen; der motorische Mechanismus hingegen funktioniert, wenn er einmal generiert ist, stets gleichbleibend in derselben Weise. Man mag also Wahrnehmungen annehmen, die in ihren oberflächlichen Einzelheiten so verschieden sind wie nur möglich, wenn sie durch dieselben motorischen Reaktionen fortgeführt werden, wenn der Organismus dieselben nützlichen Effekte aus ihnen ziehen kann, wenn sie dem Körper dieselbe Haltung aufprägen, wird etwas Gemeinsames aus ihnen hervortreten, und auf diese Weise wird die allgemeine Idee gespürt und erfahren worden sein, bevor sie vorgestellt wird. – Damit sind wir also endlich von jenem Zirkel befreit, in den wir zuerst eingeschlossen schienen. Um zu verallgemeinern, sagten wir, muß man die Ähnlichkeiten abstrahieren, um aber die Ähnlichkeit nutzbringend freilegen zu können, muß man schon zu verallgemeinern wissen. Die Wahrheit ist, daß es keinen Zirkel gibt, weil die Ähnlichkeit, von der der Geist ausgeht, wenn er zuerst abstrahiert, nicht die Ähnlichkeit ist, zu der der Geist gelangt, wenn er bewußt verallgemeinert. Diejenige, von der er ausgeht, ist eine gespürte, | erlebte oder, wenn man will, automatisch vollzogene* Ähnlichkeit. Diejenige, zu der er zurückkehrt, ist eine intelligent erfaßte oder gedachte Ähnlichkeit. Und eben gerade im Lauf dieses Fortschritts baut sich durch die doppelte Anstrengung des Verstandes und des Gedächtnisses die Wahrnehmung der Individuen und die Konzeption der Gattungen auf – indem das Gedächtnis den spontan abstrahierten Ähnlichkeiten Unterschiede aufpflanzt und der Verstand aus der Gewohnheit der Ähnlichkeiten die klare Idee der Allgemeinheit hervortreten läßt. Diese Idee der Allgemeinheit war ursprünglich nur unser Bewußtsein einer Identität der Haltung in einer Mannigfaltigkeit
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von Situationen; es war die aus der Sphäre der Bewegungen zur Sphäre des Denkens aufsteigende Gewohnheit selbst. Doch von den auf diese Weise durch die Gewohnheit mechanisch skizzierten Gattungen sind wir durch eine auf dieses Verfahren selbst gerichtete Reflexionsanstrengung zur allgemeinen Idee der Gattung übergegangen; und nachdem diese Idee einmal konstituiert war, haben wir, dieses Mal willensgesteuert, eine unbegrenzte Anzahl von Allgemeinbegriffen konstruiert. Es ist hier nicht notwendig, der Intelligenz bei dieser Konstruktion bis ins Detail zu folgen. Beschränken wir uns darauf, festzustellen, daß der Verstand, die Arbeit der Natur nachahmend, selbst auch motorische Apparate generiert hat – dieses Mal künstliche –, um diese in ihrer Zahl begrenzten auf eine unbegrenzte Vielzahl individueller Gegenstände antworten zu lassen: das Zusammenspiel dieser Mechanismen ist die artikulierte Rede. Es ist im übrigen bei weitem nicht so, daß diese beiden divergierenden Verfahren des Geistes, das eine, durch welches er die Individuen unterscheidet, und das andere, durch welches er die Gattungen konstruiert, dieselbe Anstrengung erfordern und mit gleicher Geschwindigkeit voranschreiten würden. Das erste, das nur den Einsatz des Gedächtnisses verlangt, wird bereits vom Beginn unserer Erfahrung an vollbracht; das zweite setzt sich endlos weiter fort, ohne jemals vollendet zu sein. Das erste endet mit der Konstitution stabiler Bilder, | die sich ihrerseits im Gedächtnis einlagern; das zweite bildet instabile und verfliegende Vorstellungen. Wir wollen bei diesem letzten Punkt verweilen. Wir berühren hier ein wesentliches Phänomen des mentalen Lebens. Das Wesen der allgemeinen Idee besteht nämlich darin, sich unentwegt zwischen der Sphäre der Handlung und der des reinen Gedächtnisses hin und her zu bewegen. Beziehen wir uns in der Tat noch einmal auf das bereits zuvor gezeichnete Schema. Im Punkt S ist die aktuelle Wahrnehmung, die ich von meinem Körper habe, das heißt von einem gewissen sensomotorischen Gleichgewicht. Auf der Oberfläche der Basis AB sind, wenn man
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so will, meine Erinnerungen in ihrer Totalität angeordnet. In dem so definierten Kegel würde die allgemeine Idee kontinuierlich zwischen der Spitze S und der Basis AB hin und her pendeln. In S würde sie die ganz eindeutige Form einer körperlichen Haltung oder eines ausgesprochenen Wortes annehmen; auf AB erschiene sie unter dem nicht weniger eindeutigen Aspekt tausender individueller Bilder, in die ihre fragile Einheit zersplittern würde. Und das ist der Grund, warum eine Psychologie, die sich an das schon fertig Bestehende hält, die nur Dinge und keine Fortschritte kennt, von dieser Bewegung nur die äußersten Endpunkte wahrnehmen wird, zwischen denen sie hin und her pendelt; sie würde die allgemeine Idee mal mit der Handlung, die sie vollzieht*, oder dem Wort, das sie ausdrückt, und mal mit der unbeschränkten Anzahl multipler Bilder zusammenfallen lassen, die ihr Äquivalent im Gedächtnis sind. Die Wahrheit aber ist, daß die allgemeine Idee uns entgleitet, sobald wir versuchen, sie an dem einen oder dem anderen dieser beiden äußersten Endpunkte festzusetzen. Sie besteht in dem doppelten Strom, der vom einen zum anderen geht, immer bereit, sich entweder zu ausgesprochenen Worten zu kristallisieren oder zu Erinnerungen zu verdampfen. Das heißt mit anderen Worten, daß zwischen den sensomotorischen Mechanismen, die durch den Punkt S dargestellt werden, und der Totalität der auf AB angeordneten Erinnerungen, wie wir es schon im vorigen | Kapitel ahnen lieP ßen, Raum ist für tausend und abertausend Wiederholungen unseres psychologischen Lebens, die durch ebenso viele Schnitte A'B', A''B'' etc. desselben Kegels dargestellt werden. Fig. 5
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Wir neigen dazu, uns in AB zu zerstreuen, je mehr wir uns von unserem sensorischen und motorischen Zustand lösen, um das Leben des Traumes zu leben, und wir neigen dazu, uns im Punkt S zu konzentrieren, je fester wir uns an die gegenwärtige Realität binden, indem wir mit motorischen Reaktionen auf sensorische Reize antworten. Tatsächlich legt sich das normale Ich niemals auf eine dieser Extrempositionen fest; es bewegt sich zwischen ihnen, nimmt abwechselnd die durch die dazwischenliegenden Schnitte dargestellten Positionen ein oder, mit anderen Worten: verleiht seinen Vorstellungen gerade genug vom Bild und gerade genug von der Idee, um von ihnen einen nützlichen Beitrag zur gegenwärtigen Handlung erhalten zu können. Aus dieser Konzeption des niederen Geisteslebens lassen sich die Gesetze der Ideenassoziation ableiten. Bevor wir diesen Punkt jedoch vertiefen, wollen wir die Unzulänglichkeit der geläufigen Assoziationstheorien aufweisen. Daß jede im Geist auftauchende Idee in einem Ähnlichkeitsoder Berührungsverhältnis zu dem vorherigen mentalen Zustand steht, ist unbestreitbar; doch eine Behauptung dieser Art unterrichtet uns nicht über den Mechanismus der Assoziation und | lehrt uns sogar, ehrlich gesagt, absolut gar nichts. Vergeblich suchte man in der Tat zwei Ideen, die sich nicht untereinander in irgendeinem Zug ähneln oder von irgendeiner Seite her berühren würden. Nehmen wir die Ähnlichkeit: Wie tief die Unterschiede, die zwei Bilder voneinander trennen, auch sein mögen, wenn man weit genug zurücksteigt, wird man immer eine gemeinsame Gattung finden, der sie angehören, und folglich eine Ähnlichkeit, die ihnen als Bindeglied dient. Betrachten wir die Berührung: Eine Wahrnehmung A ruft, wie wir weiter oben sagten, nur ein früheres Bild B durch »Berührung« wach, wenn sie uns zuerst ein Bild A' in Erinnerung ruft, welches ihr ähnelt, denn es ist eine Erinnerung A' und nicht die Wahrnehmung A, die B im Gedächtnis wirklich berührt. Wie weit voneinander entfernt man also die
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beiden Terme A und B auch annimmt, es läßt sich zwischen ihnen immer ein Berührungsverhältnis herstellen, wenn der zwischengeschaltete Term A' mit A eine hinreichend entfernte Ähnlichkeit aufweist. Das läuft darauf hinaus, daß es zwischen zwei beliebigen, zufällig gewählten Ideen immer Ähnlichkeit und, wenn man so will, immer Berührung gibt, so daß man, wenn man ein Berührungs- oder Ähnlichkeitsverhältnis zwischen zwei aufeinanderfolgenden Vorstellungen entdeckt, keineswegs erklärt, warum die eine die andere heraufbeschwört. Die eigentliche Frage ist, wie jene Auswahl aus einer Unendlichkeit von Erinnerungen, die alle in irgendeiner Hinsicht der gegenwärtigen Wahrnehmung ähneln, vor sich geht und warum eine einzige unter ihnen – und eher diese als jene – ins Licht des Bewußtseins emportaucht. Doch auf diese Frage vermag der Assoziationismus nicht zu antworten, weil er die Ideen und die Bilder zu unabhängigen Entitäten erhoben hat, die nach Art der Epikurschen Atome in einem inneren Raume schweben, sich einander annähern | und sich aneinander festhaken, wenn der Zufall sie in den gegenseitigen Anziehungsbereich bringt. Und wenn man die Lehre in diesem Punkt vertiefte, würde man sehen, daß ihr Unrecht darin bestand, die Ideen zu sehr zu intellektualisieren, ihnen eine gänzlich spekulative Funktion zuzuschreiben, geglaubt zu haben, daß sie für sich existieren und nicht für uns, sowie den Bezug, den sie zur Aktivität des Willens haben, verkannt zu haben. Wenn die Erinnerungen gleichgültig in einem leblosen und amorphen Bewußtsein umherirren, dann gibt es keinen Grund, warum die gegenwärtige Wahrnehmung eine von ihnen bevorzugt anzieht: Ich könnte also lediglich das einmal eingetretene Zusammentreffen feststellen und von Ähnlichkeit oder Berührung sprechen – was im Grund darauf hinausläuft, vage anzuerkennen, daß die Bewußtseinszustände füreinander Affinitäten hegen. Für diese Affinität selbst jedoch, die die zweifache Form der Berührung und der Ähnlichkeit annimmt, vermag der Assoziationismus keine Erklärung zu geben. Die allgemeine Tendenz, sich
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miteinander zu assoziieren, bleibt in dieser Lehre genauso dunkel wie die besonderen Formen der Assoziation. Nachdem er die individuellen Bild-Erinnerungen zu fertigen Dingen erhoben hat, die so, wie sie sind, im Laufe unseres mentalen Lebens gegeben sind, ist der Assoziationismus gezwungen, geheimnisvolle Anziehungskräfte zwischen diesen Gegenständen anzunehmen, bei denen man noch nicht einmal wie bei der physikalischen Anziehungskraft im vorhinein zu sagen wüßte, durch was für Phäno mene sie sich manifestieren werden. Warum nämlich sollte ein Bild, das der Voraussetzung nach sich selbst genügt, darauf aussein, sich andere, entweder ähnliche oder es berührende, anzugliedern? Die Wahrheit ist jedoch, daß dieses unabhängige Bild ein künstliches und spätes Produkt des Geistes ist. Tatsächlich nehmen wir die Ähnlichkeiten vor den Individuen wahr, die sich ähneln, und in einem Konglomerat von einander berührenden Teilen das Ganze vor den Teilen. Wir schreiten von der | Ähnlichkeit zu den sich ähnelnden Gegenständen, indem wir auf die Ähnlichkeit – jenes gemeinsame Gitterleinen – die Mannigfaltigkeit der individuellen Unterschiede sticken. Und wir schreiten auch vom Ganzen zu den Teilen, durch eine Zerlegungsleistung, deren Gesetz wir später sehen werden und die darin besteht, zugunsten der größeren Bequemlichkeit des praktischen Lebens die Kontinuität des Wirklichen zu zerstückeln. Die Assoziation ist also nicht das Ursprüngliche; es ist eine Dissoziation, mit der wir beginnen, und die Tendenz aller Erinnerung, sich anderes anzugliedern, erklärt sich durch eine natürliche Rückkehr des Geistes zur ungeteilten Einheit der Wahrnehmung. Doch wir entdecken hier den Grundmakel des Assoziationismus. Haben wir eine gegenwärtige Wahrnehmung, die Zug um Zug mit verschiedenen Erinnerungen mehrere aufeinanderfolgende Assoziationen bildet, so gibt es, sagten wir, zwei Weisen, den Mechanismus dieser Assoziation zu denken. Man kann annehmen, daß die Wahrnehmung mit sich selbst identisch bleibt, ein wahres psychologisches Atom, welches sich schrittweise,
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während diese an ihm vorbeiziehen, andere angliedert. Das ist der Standpunkt des Assoziationismus. Doch es gibt noch einen zweiten, und das ist ebenjener, den wir in unserer Theorie des Wiedererkennens aufgezeigt haben. Wir haben angenommen, daß unsere gesamte Persönlichkeit mit der Totalität unserer Erinnerungen ungeteilt in unsere gegenwärtige Wahrnehmung eingeht. Wenn also diese Wahrnehmung Zug um Zug unterschiedliche Erinnerungen wachruft, dann geschieht dies nicht durch eine mechanische Beifügung immer zahlreicherer Elemente, die sie, selbst unbewegt, um sich heranziehen würde; es geschieht durch eine Dehnung unseres gesamten Bewußtseins, welches, da es sich nun über eine größere Oberfläche erstreckt, die detaillierte Aufstellung seiner Reichtümer weiter vorantreiben kann. Auf diese Weise löst sich ein nebelartiger Sternhaufen, wenn man ihn durch immer stärkere Teleskope betrachtet, zu einer | wachsenden Zahl von Sternen auf. In der ersten Hypothese (die kaum mehr als ihre scheinbare Einfachheit und ihre Analogie mit einem falsch verstandenen Atomismus für sich hat), konstituiert jede Erinnerung ein unabhängiges und erstarrtes Wesen, von dem man weder sagen kann, warum es darauf aus ist, sich andere anzugliedern, noch, wie es diese, um sie sich kraft einer Berührung oder einer Ähnlichkeit anzuschließen, unter tausenden Erinnerungen, die gleiche Rechte hätten, auswählt. Man muß annehmen, daß die Ideen durch Zufall aneinanderstoßen oder daß zwischen ihnen geheimnisvolle Kräfte wirken, und zudem hat man noch das Zeugnis des Bewußtseins gegen sich, welches uns niemals im unabhängigen Zustand umherschwebende psychologische Tatsachen zeigt. In der zweiten beschränkt man sich darauf, den Zusammenhang der psychologischen Tatsachen, die dem unmittelbaren Bewußtsein immer gemeinsam als ein ungeteiltes Ganzes gegeben sind, welches allein die Reflexion zu geschiedenen Fragmenten zerstückelt, festzustellen. Was man erklären muß, ist dann nicht mehr der Zusammenhalt der internen Zustände, sondern die zweifache Bewegung der Kontraktion und
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Expansion, durch welche das Bewußtsein die Entfaltung seines Inhaltes enger faßt oder ausweitet. Diese Bewegung aber läßt sich, wie wir sehen werden, aus den grundlegenden Erfordernissen des Lebens herleiten; und ebenfalls sieht man leicht, warum die »Assoziationen«, die wir im Verlauf dieser Bewegung zu bilden scheinen, alle aufeinanderfolgenden Grade der Berührung und der Ähnlichkeit ausschöpfen. Nehmen wir in der Tat für einen Augenblick an, daß unser psychologisches Leben sich allein auf die sensomotorischen Funktionen reduziere. Mit anderen Worten, versetzen wir uns, in der schematischen Abbildung, die wir gezeichnet haben (S. 204), in den Punkt S, welcher der größtmöglichen Vereinfachung unseres mentalen Lebens entsprechen würde. In diesem Zustand setzt sich jede Wahrnehmung von selbst in geeigneten Reaktionen fort, da die vorherigen analogen Wahrnehmungen | mehr oder minder komplexe motorische Apparate generiert haben, die, um sich in Gang zu setzten, nur auf die Wiederholung desselben Appells warten. Nun gibt es aber in diesem Mechanismus eine Ähnlichkeitsassoziation, da die gegenwärtige Wahrnehmung kraft ihrer Ähnlichkeit mit den vergangenen Wahrnehmungen wirkt, sowie auch eine Berührungsassoziation, da sich die auf diese früheren Wahrnehmungen folgenden Bewegungen reproduzieren und sogar eine unbestimmte Anzahl mit jener ersten koordinierter Handlungen nach sich ziehen können. Wir erfassen hier also an ihrer Quelle selbst und fast miteinander verschmolzen – zweifellos keineswegs gedacht, sondern vollzogen* und erlebt – die Ähnlichkeitsassoziation und die Berührungsassoziation. Es handelt sich bei diesen nicht um kontingente Formen unseres psychologischen Lebens. Sie stellen die beiden komplementären Aspekte ein und derselben Grundtendenz dar, der Tendenz eines jeden Organismus, aus einer gegebenen Situation das herauszulösen, was sie an Nützlichem birgt, und die mögliche Reaktion in Form einer motorischen Gewohnheit abzuspeichern, um sie in Situationen derselben Art zu Diensten zu haben.
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Begeben wir uns nun in einem Satz an das andere Extrem unseres mentalen Lebens. Gehen wir gemäß unserer Methode von der bloß »vollzogenen*« psychologischen Existenz zu derjenigen über, die ausschließlich »geträumt« wäre. Versetzen wir uns, mit anderen Worten, auf jene Basis der Erinnerung AB (S. 204), auf der sich alle Ereignisse unseres verflossenen Lebens in ihren kleinsten Einzelheiten abzeichnen. Ein von der Handlung losgelöstes Bewußtsein, das so die Totalität der Erinnerung unter seinem Blick behielte, hätte keinen Grund, sich eher auf einen Teil dieser Vergangenheit zu konzentrieren als auf einen anderen. In einem gewissen Sinne würden sich alle Erinnerungen von seiner aktuellen Wahrnehmung unterscheiden, denn nimmt man sie mit der Mannigfaltigkeit ihrer Einzelheiten, sind zwei Erinnerungen niemals | identisch dieselben. In einem anderen Sinne jedoch könnte eine beliebige Erinnerung der gegenwärtigen Situation angenähert werden: Es würde ausreichen, in dieser Wahrnehmung und in dieser Erinnerung genügend Einzelheiten zu vernachlässigen, damit allein die Ähnlichkeit in Erscheinung tritt. Ist die Erinnerung im übrigen einmal mit der Wahrnehmung verbunden, würden sich auf denselben Schlag eine Vielzahl die Erinnerung berührender Ereignisse mit der Wahrnehmung verknüpfen – eine endlose Vielzahl, die erst dort ihre Grenze fände, wo man sich entscheidet, ihr Einhalt zu gebieten. Die Notwendigkeiten des Lebens sind nicht mehr da, um den Effekt der Ähnlichkeit und folglich der Berührung zu regulieren, und da sich im Grunde alles ähnelt, folgt daraus, daß sich alles miteinander assoziieren läßt. Vorhin setzte sich die aktuelle Wahrnehmung in festgelegten Bewegungen fort; jetzt löst sie sich in eine Unendlichkeit von gleichermaßen möglichen Erinnerungen auf. In AB würde die Assoziation also eine willkürliche Wahl hervorrufen, so wie in S ein zwangsläufiges Vorgehen. Dies aber sind nur die zwei äußersten Grenzen, an die sich der Psychologe der Bequemlichkeit der Untersuchung zuliebe abwech selnd versetzen muß und die in Wirklichkeit niemals erreicht wer-
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den. Es gibt, zumindest beim Menschen, keinen rein sensomotorischen Zustand, ebensowenig wie es bei ihm ein Vorstellungsleben ohne ein Substratum vager Aktivität gibt. Unser normales psychologisches Leben, sagten wir, pendelt zwischen diesen beiden Extremen. Auf der einen Seite verleiht der sensomotorische Zustand S dem Gedächtnis, von dem er im Grunde nur das aktuelle und aktive Extrem ist, die Ausrichtung; und andererseits übt dieses Gedächtnis selbst mit der Totalität unserer Vergangenheit einen Druck nach vorne aus, um in die gegenwärtige Handlung den größtmöglichen Teil seiner selbst einfließen zu lassen. Aus dieser zweifachen Anstrengung ergibt sich in jedem Moment eine endlose Vielzahl möglicher Zustände des Gedächtnisses, die durch die Schnitte A'B', A''B'' etc. unseres Schemas dargestellt werden. | Dies sind, sagten wir, ebenso viele Wiederholungen unseres gesamten vergangenen Lebens. Doch jeder dieser Schnitte ist mehr oder weniger umfangreich, je nachdem, ob er sich mehr der Spitze oder mehr der Basis annähert; und zudem bringt jede dieser vollständigen Vorstellungen unserer Vergangenheit nur dasjenige ans Licht des Bewußtseins, was sich von dem sensomotorischen Zustand einrahmen läßt und was folglich der gegenwärtigen Wahrnehmung vom Standpunkt der zu vollziehenden Handlung her ähnelt. Mit anderen Worten, das gesamte Gedächtnis antwortet auf den Appell eines gegenwärtigen Zustandes durch zwei zeitgleiche Bewegungen, eine der Translation, durch welche es als ganzes der Erfahrung entgegengeht und sich so im Hinblick auf die Handlung mehr oder weniger zusammenzieht, ohne sich aufzuteilen, und eine andere der Rotation um sich selbst, durch welche es sich auf die momentane Situation ausrichtet, um ihr sein nützlichstes Gesicht zu zeigen. Diesen verschiedenen Graden der Kontraktion entsprechen die vielfältigen Formen der Ähnlichkeitsassoziation. Alles spielt sich so ab, als ob unsere Erinnerungen eine unbeschränkte Anzahl von Malen in diesen tausenden und abertausenden möglicher Reduktionen unseres vergangenen Lebens
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wiederholt würden. Sie nehmen eine banalere Form an, wenn das Gedächtnis sich enger zusammenzieht, und eine persönlichere, wenn es sich dehnt, und fügen sich so in eine unbegrenzte Vielzahl verschiedener »Systematisierungen« ein. Ein Wort einer fremden Sprache, das an mein Ohr dringt, kann mich an diese Sprache im allgemeinen denken lassen oder an eine Stimme, die es einst in einer gewissen Art und Weise ausgesprochen hat. Diese beiden Ähnlichkeitsassoziationen sind nicht dem zufälligen Eintreffen zweier verschiedener Vorstellungen geschuldet, die der Zufall abwechselnd in den Anziehungsbereich der aktuellen Wahrnehmung gebracht hätte. Sie entsprechen zwei unterschiedlichen mentalen Dispositionen, zwei verschiedenen Graden der Spannung des Gedächtnisses: | hier näher am reinen Bild, dort besser für die sofortige Erwiderung geeignet, das heißt für die Handlung. Diese Systeme zu klassifizieren, das Gesetz zu suchen, das sie jeweils den verschiedenen »Tonarten« unseres geistigen Lebens verbindet, zu zeigen, wie jede dieser Tonarten selbst durch die Erfordernisse des Augenblicks und auch durch den variablen Grad unserer persönlichen Anstrengung bestimmt ist, wäre ein schwieriges Unterfangen: Diese ganze Psychologie muß erst noch geleistet werden, und für den Augenblick wollen wir uns noch nicht einmal daran versuchen. Doch jeder von uns spürt durchaus, daß diese Gesetze existieren und daß es stabile Beziehungen dieser Art gibt. Wir wissen zum Beispiel, wenn wir einen psychologischen Roman lesen, daß gewisse Ideenassoziationen, die man uns schildert, wahr sind, daß sie erlebt worden sein können; andere schockieren uns oder vermitteln uns nicht den Eindruck des Wirklichen, weil wir darin den Effekt einer mechanischen Annäherung verschiedener Stufen des Geistes verspüren, als ob der Autor sich nicht auf der von ihm gewählten Ebene des mentalen Lebens zu halten gewußt hätte. Das Gedächtnis hat also sehr wohl seine aufeinanderfolgenden und verschiedenen Grade der Spannung oder Lebendigkeit, die zweifellos schwer zu definieren sind, die aber der Maler der Seele nicht ungestraft durcheinan-
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dermischen darf. Die Pathologie bestätigt hier im übrigen – wenn auch an groben Beispielen – eine Wahrheit, die wir alle instinktiv kennen. Bei den »systematisierten Amnesien« der Hysteriker zum Beispiel sind die Erinnerungen, die ausgelöscht scheinen, faktisch präsent; doch sie alle sind vermutlich an eine gewisse bestimmte Tonart intellektueller Lebendigkeit gebunden, in die die Person sich nicht mehr versetzen kann. Wenn es so eine endlose Anzahl unterschiedlicher Ebenen für die Ähnlichkeitsassoziation gibt, so gilt dasselbe für die Berührungsassoziation. Auf der äußersten Ebene, die die Basis des Gedächtnisses darstellt, gibt es keine Erinnerung, die nicht | durch Berührung mit der Totalität der ihr vorausgehenden und ebenso der ihr folgenden Ereignisse verbunden wäre. Wogegen in dem Punkt, in dem sich unsere Handlung im Raum konzentriert, die Berührung lediglich in Form von Bewegung die unmittelbar auf eine frühere ähnliche Wahrnehmung folgende Reaktion zurückbringt. Tatsächlich impliziert jede Berührungsassoziation eine Zwischenposition des Geistes zwischen diesen beiden äußersten Grenzen. Wenn man auch hier wieder eine Menge möglicher Wiederholungen der Totalität unserer Erinnerungen annimmt, wird sich jedes dieser Exemplare unseres verflossenen Lebens auf seine Weise in bestimmte Abschnitte aufteilen, und der Modus der Unterteilung wird nicht derselbe sein, wenn man von einem Exemplar zu einem anderen übergeht, weil jedes von ihnen eben gerade durch die Natur der dominanten Erinnerungen charakterisiert ist, an die sich die anderen Erinnerungen anlehnen wie an Stützpunkte. Je mehr man sich zum Beispiel der Handlung nähert, um so mehr neigt die Berührung dazu, an der Ähnlichkeit teilzuhaben und sich so von einem einfachen Verhältnis des chronologischen Nacheinanders zu unterscheiden: so weiß man bei den Wörtern einer fremden Sprache, wenn sie einander im Gedächtnis heraufbeschwören, nicht zu sagen, ob sie durch Ähnlichkeit oder Berührung assoziiert werden. Je mehr wir uns hingegen von der wirklichen oder möglichen Handlung lösen, um
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so mehr neigt die Berührungsassoziation dazu, schlicht und einfach die aufeinanderfolgenden Bilder unseres vergangenen Lebens zu reproduzieren. Es ist hier nicht möglich, in eine vertiefende Untersuchung dieser verschiedenen Systeme einzusteigen. Es soll der Hinweis genügen, daß diese Systeme keineswegs aus gleich lauter Atomen aneinandergereihten Erinnerungen gebildet sind. Es gibt immer einige dominante Erinnerungen, wahrhafte Glanzpunkte, um die herum die anderen ein vages Nebelgewölk bilden. Diese Glanzpunkte vermehren sich, je stärker sich unser Gedächtnis dehnt. | Der Prozeß der Lokalisierung einer Erinnerung in der Vergangenheit zum Beispiel besteht keineswegs darin, wie man sagte, in die Masse unserer Erinnerungen wie in einen Sack hineinzugreifen, um daraus immer besser angenäherte Erinnerungen hervorzuziehen, zwischen denen die zu lokalisierende Erinnerung Platz nehmen wird. Durch welchen glücklichen Zufall sollten wir gerade eine wachsende Anzahl dazwischengeschalteter Erinnerungen in die Hand bekommen? Die Lokalisierungsleistung besteht in Wirklichkeit in einer wachsenden Expansionsanstrengung, durch welche das sich selbst immer als ganzes gegenwärtige Gedächtnis seine Erinnerungen über eine immer größere Oberfläche ausdehnt und so schließlich in einem bis dahin wirren Haufen die Erinnerung ausmacht, die ihren Platz nicht wiederfand. Auch hier wieder liefert uns im übrigen die Pathologie des Gedächtnisses lehrreiche Informationen. In der retrograden Amnesie bleiben die Erinnerungen, die aus dem Bewußtsein verschwinden, wahrscheinlich auf den äußersten Ebenen des Gedächtnisses erhalten, und die Person könnte sie dort durch eine außergewöhnliche Anstrengung, wie sie sie zum Beispiel im hypnotischen Zustand vollbringt, wiederfinden. Auf den niedrigeren Ebenen jedoch warteten diese Erinnerungen in gewisser Weise auf das dominante Bild, an das sie sich anlehnen könnten. Der und der jähe Schock, die und die heftige Emotion wird das entscheidende Ereignis sein, an das sie sich knüpfen werden: Und wenn sich dieses Ereignis aufgrund seines plötzlichen
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Charakters vom Rest unserer Geschichte ablöst, dann folgen sie ihm ins Vergessen. Man begreift folglich, daß das auf einen physischen oder geistigen Schock folgende Vergessen die unmittelbar vorherigen Ereignisse einschließt – ein Phänomen, das mit allen anderen Konzeptionen des Gedächtnisses schwer zu erklären ist. Weisen wir im Vorübergehen darauf hin: Wenn man sich weigert, den kürzlichen und selbst den relativ entfernten Erinnerungen irgendein derartiges Warten zuzuschreiben, wird die normale Arbeit des Gedächtnisses unverständlich. Denn | jedes Ereignis, dessen Erinnerung sich ins Gedächtnis eingeprägt hat, hat, so einfach man es auch ansetzt, eine gewisse Zeit beansprucht. Die Wahrnehmungen, die den ersten Abschnitt dieses Intervalls ausgefüllt haben und die jetzt mit den auf sie folgenden Wahrnehmungen eine ungeteilte Erinnerung bilden, hingen also wahrhaftig »in der Luft«, solange der entscheidende Teil des Ereignisses noch nicht eingetreten war. Zwischen dem Verschwinden einer Erinnerung mitsamt der diversen Einzelheiten ihrer Präliminarien und der Auslöschung einer mehr oder minder großen Zahl der einem gegebenen Ereignis vorangehenden Erinnerungen besteht also ein schlichter Unterschied des Grades und nicht des Wesens. Aus diesen verschiedenen Erwägungen über das niedere Geistesleben ergibt sich eine bestimmte Konzeption des intellektuellen Gleichgewichts. Offensichtlich wird dieses Gleichgewicht nur durch die Störung der Elemente verfälscht werden, die ihm als Materie dienen. Es kann hier nicht in Frage kommen, uns den Problemen der Pathologie des Geistes zuzuwenden: Wir können sie dennoch nicht völlig umgehen, da wir versuchen, die genaue Beziehung des Körpers zum Geist zu bestimmen. Wir nahmen an, daß der Geist ohne Unterlaß das zwischen seinen beiden äußersten Grenzen – der Ebene der Handlung und der Ebene des Traumes – liegende Intervall durchläuft. Nehmen wir zum Beispiel eine zu treffende Entscheidung: Die Totalität seiner Erfahrung in dem, was wir seinen Charakter nennen, sammelnd
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und organisierend, wird er diese auf Handlungen hinauslaufen lassen, in welchen man, zusammen mit der Vergangenheit, die ihnen als Materie dient, die unvorhergesehene Form antreffen wird, die die Persönlichkeit ihnen aufprägt; die Handlung wird jedoch nur realisierbar sein, wenn sie sich in die aktuelle Situation einpaßt, das heißt in jenen Gesamtzusammenhang von Umständen, der aus einer bestimmten festgelegten Position des | Körpers in der Zeit und im Raum geboren wird. Nehmen wir eine intellektuelle Leistung, eine zu bildende Konzeption, eine mehr oder minder allgemeine Idee, die es aus einer Vielheit von Erinnerungen herauszulösen gilt: Hier ist zum einen der Phantasie und zum anderen dem logischen Unterscheidungsvermögen ein großer Spielraum gelassen; die Idee muß jedoch, um lebensfähig zu sein, die gegenwärtige Wirklichkeit von irgendeiner Seite her berühren, das heißt gradweise und durch fortschreitende Schmälerungen oder Kontraktionen ihrer selbst zugleich mehr oder minder durch den Körper vollzogen* und durch den Geist vorgestellt werden können. Unser Körper mit den Empfindungen, die er empfängt, einerseits und den Bewegungen, die er auszuführen vermag, andererseits ist also durchaus das, was unseren Geist fixiert, was ihm den nötigen Ballast und das Gleichgewicht gibt. Die Aktivität des Geistes reicht unendlich weit über die Masse der angehäuften Erinnerungen hinaus, so wie diese Masse von Erinnerungen selbst unendlich weit über die Empfindungen und die Bewegungen der gegenwärtigen Stunde hinausreicht; doch diese Empfindungen und diese Bewegungen bedingen das, was man die Aufmerksamkeit auf das Leben nennen könnte, und darum hängt bei der normalen Tätigkeit des Geistes alles von ihrem Zusammenhalt ab, wie in einer Pyramide, die auf ihrer Spitze steht. Man werfe im übrigen einen Blick auf die feine Struktur des Nervensystems, wie sie durch kürzliche Entdeckungen ans Licht gebracht wurde. Man wird glauben, überall Leiter zu erblicken, nirgends jedoch Zentren. Aneinandergereihte Fäden, deren äußerste Enden sich einander zweifellos annähern, wenn der Strom
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durch sie hindurchläuft – das ist alles, was man sieht. Und das ist vielleicht alles, was dort ist, wenn es wahr ist, daß der Körper nur ein Ort der Begegnung zwischen empfangenen Reizen und vollzogenen Bewegungen ist, so wie wir es im gesamten Lauf unserer Arbeit angenommen haben. Doch diese Fäden, die vom äußeren Umfeld Schwingungen | oder Reize empfangen und die sie ihm in Form von geeigneten Reaktionen wieder zurückgeben, diese so gekonnt von der Peripherie zur Peripherie gespannten Fäden gewährleisten eben gerade durch die Solidität ihrer Verbindungen und die Präzision ihrer Kreuzungspunkte das sensomotorische Gleichgewicht des Körpers, das heißt seine Anpassung an die gegenwärtige Situation. Wenn man diese Spannung erschlaffen läßt oder dieses Gleichgewicht auseinanderbricht, dann wird sich alles so abspielen, als ob sich die Aufmerksamkeit vom Leben ablöste. Traum und Wahnsinn scheinen kaum etwas anderes zu sein. Wir sprachen weiter oben von der kürzlich aufgestellten Hypo these, die den Schlaf auf eine Unterbrechung des Zusammenhangs zwischen Neuronen zurückführt. Selbst wenn man diese Hypothese (die im übrigen durch wundersame Experimente bestätigt wird) nicht akzeptiert, muß man doch während des Tiefschlafs eine zumindest funktionelle Unterbrechung der im Nervensystem zwischen dem Reiz und der motorischen Reaktion hergestellten Beziehung annehmen. So daß der Traum immer der Zustand eines Geistes wäre, dessen Aufmerksamkeit nicht durch das sensomotorische Gleichgewicht des Körpers fixiert wird. Und es scheint immer wahrscheinlicher, daß diese Entspannung des Nervensystems der Vergiftung seiner Elemente durch die nicht ausgeschiedenen Produkte ihrer normalen Tätigkeit im Wachzustand geschuldet ist. Nun gleicht der Traum aber in allen Punkten dem Wahnsinn. Nicht nur finden sich im Traum alle psychologischen Symptome des Wahns – in einem Maße, daß der Vergleich der beiden Zustände banal geworden ist –, sondern der Wahnsinn scheint seinen Ursprung gleichermaßen in einer zerebralen Erschöpfung zu haben, welche, wie die normale Müdigkeit, durch
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die Anhäufung gewisser spezifischer Gifte in den Elementen des Nervensystems verursacht würde.1 Man weiß, | daß der Wahnsinn oft Folge infektiöser Krankheiten ist und daß man im übrigen mit toxischen Stoffen alle Phänomene des Wahns experimentell reproduzieren kann.2 Ist es infolgedessen nicht wahrscheinlich, daß das Auseinanderbrechen des mentalen Gleichgewichts im Wahnsinn schlicht von einer Störung der im Organismus aufgebauten sensomotorischen Beziehungen herrührt? Diese Störung würde ausreichen, um eine Art von psychischem Schwindel zu erzeugen und dadurch zu bewirken, daß das Gedächtnis und die Aufmerksamkeit den Kontakt mit der Realität verlieren. Man lese die von einigen Verrückten gegebenen Beschreibungen ihrer beginnenden Krankheit: Man wird sehen, daß sie oft ein Gefühl der Fremdheit oder, wie sie sagen, der »Nicht-Realität« empfinden, als ob die wahrgenommenen Dinge für sie ihre Plastizität und ihre Solidität verlören.3 Wenn unsere Analysen zutreffend sind, dann würde das konkrete Gefühl, das wir von der gegenwärtigen Realität haben, in der Tat in dem Bewußtsein bestehen, das wir von den tatsächlichen Bewegungen erlangen, durch die unser Organismus naturgemäß auf Reize antwortet – so daß dort, wo sich die Beziehungen zwischen Empfindungen und Bewegungen entspannen oder verschlechtern, der Realitätssinn abnimmt oder verschwindet.4 1 Diese
Idee wurde kürzlich von diversen Autoren entwickelt. Eine sehr systematische Darstellung findet sich in der Arbeit von Cowles, The mechanism of insanity (American Journal of Insanity, 1890–1891). 2 Siehe insbesondere Moreau de Tours, Du hachisch, Paris 1845. 3 Ball, Leçons sur les maladies mentales, Paris 1890, S. 608 ff. – Vgl. eine sehr wundersame Analyse: Visions, a Personal narrative (Journal of mental science, 1896, S. 284). 4 Siehe weiter oben, S. 176. [Der von Bergson angegebene Verweis auf S. 152 des frz. Originals (hier 176) scheint zumindest um eine Seite verrutscht zu sein, so wäre in bezug auf die erste Satzhälfte S. 153 (hier 177) sinnvoller und in bezug auf die zweite Satzhälfte z. B. S. 172 (hier 195). A. d. Ü.]
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Es wären hier im übrigen eine Menge von Unterscheidungen zu machen, nicht nur zwischen den verschiedenen Formen des Wahnsinns, sondern auch zwischen dem Wahnsinn im eigentlichen Sinne und jenen Persönlichkeitsspaltungen, die eine neuere Psychologie diesem so wundersam angenähert hat.1 Bei diesen Erkrankungen der Persönlichkeit scheinen sich Gruppen von Erinnerungen vom zentralen Gedächtnis abzulösen und ihren Zusammenhang mit den anderen aufzugeben. Aber | nur selten beobachtet man nicht auch damit einhergehende Spaltungen des Empfindungsvermögens und der Motorik.2 Wir können nicht umhin, in diesen letzteren Phänomenen das echte materielle Substrat der ersteren zu sehen. Wenn es wahr ist, daß unser intellektuelles Leben insgesamt auf seiner Spitze ruht, das heißt auf den sensomotorischen Funktionen, durch die es sich in die gegenwärtige Realität einfügt, wird das intellektuelle Gleichgewicht in verschiedenster Weise gestört sein, wenn diese Funktionen auf die eine oder andere Weise geschädigt sind. Nun gibt es aber neben den Schädigungen, die die allgemeine Vitalität der sensomotorischen Funktionen angreifen und dabei das, was wir den Realitätssinn genannt haben, schwächen oder auslöschen, andere, die sich durch ein mechanisches und nicht mehr dynamisches Abnehmen dieser Funktionen äußern, als ob bestimmte sensomotorische Verbindungen sich schlicht und einfach von den anderen trennen würden. Wenn unsere Hypothese fundiert ist, dann wird das Gedächtnis in den beiden Fällen auf sehr verschiedene Weise befallen sein. Im ersten wäre keine einzige Erinnerung abgespalten, aber alle Erinnerungen hätten weniger Gewicht, wären weniger fest auf das Wirkliche ausgerichtet, woraus sich ein echter Bruch des mentalen Gleichgewichts ergibt. Im zweiten wäre das Gleichgewicht ungebrochen, aber es würde an Komplexität verlieren. Die Erinnerungen würden ihr normales Erscheinungsbild 1 Pierre 2 Pierre
Janet, Les accidents mentaux, Paris 1894, S. 292 ff. Janet, L’automatisme psychologique, Paris 1889, S. 95 ff.
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bewahren, würden aber zum Teil ihren Zusammenhang miteinander aufgeben, weil ihre sensomotorische Grundlage, statt sozusagen chemisch beeinträchtigt, mechanisch geschmälert wäre. Ebensowenig im einen wie im anderen Fall werden im übrigen die Erinnerungen direkt betroffen oder geschädigt sein. Die Idee, daß der Körper Erinnerungen in Form von zerebralen Vorrichtungen bewahrt und daß die Verluste und Schmälerungen des | Gedächtnisses in der mehr oder weniger vollständigen Zerstörung dieser Mechanismen bestehen, der Überschwang des Gedächtnisses und die Halluzination hingegen in einer Übersteigerung ihrer Aktivität, wird also weder durch das Vernunftdenken noch durch die Tatsachen bestätigt. Die Wahrheit ist, daß es einen Fall gibt, einen einzigen, in dem die Beobachtung zunächst diese Ansicht nahezulegen schiene: Wir meinen die Aphasie, oder allgemeiner: die Störungen des auditiven oder visuellen Wiedererkennens. Dies ist der einzige Fall, in dem man der Krankheit einen konstanten Sitz in einer bestimmten Gehirnwindung zuschreiben kann; doch ist dies eben gerade auch der Fall, in dem man nicht dem mechanischen und sofort endgültigen Herausreißen dieser und jener Erinnerungen beiwohnt, sondern eher der graduellen und funktionellen Schwächung der Gesamtheit des betroffenen Gedächtnisses. Und wir haben erklärt, wie die Hirnschädigung diese Schwächung auslösen konnte, ohne daß man in irgendeiner Weise einen Vorrat im Gehirn angehäufter Erinnerungen annehmen müßte. Das, was wirklich befallen ist, sind die sensorischen und motorischen Regionen, die dieser Art der Wahrnehmung entsprechen, und insbesondere die Anhangsgebilde, welche es erlauben, diese von innen zu aktivieren, so daß die Erinnerung nichts mehr findet, an das sie sich halten kann, und letzten Endes praktisch machtlos wird: Nun bedeutet aber in der Psychologie Machtlosigkeit Unbewußtheit. In allen übrigen Fällen wirkt die beobachtete oder angenommene, nie eindeutig lokalisierte Schädigung durch die Störung, die sie dem
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Gesamtzusammenhang der sensomotorischen Verbindungen zufügt, sei es, daß sie diese Masse denaturieren läßt, sei es, daß sie sie fragmentiert: Daraus resultiert ein Auseinanderbrechen oder eine Vereinfachung des intellektuellen Gleichgewichts und indirekt die Unordnung oder Entkoppelung der Erinnerungen. Die Lehre, die aus dem Gedächtnis eine unmittelbare Funktion des Gehirns macht, eine Lehre, die unlösbare theoretische Schwierigkeiten aufwirft, | eine Lehre, deren Kompliziertheit aller Vorstellung trotzt und deren Ergebnisse mit den Daten der inneren Beobachtung unvereinbar sind, kann also noch nicht einmal auf die Unterstützung der Hirnpathologie zählen. Alle Tatsachen und alle Analogien sprechen für eine Theorie, die im Gehirn nur einen Vermittler zwischen den Empfindungen und den Bewegungen sähe, eine Theorie, die aus diesem Gesamtzusammenhang von Empfindungen und Bewegungen die äußerste Spitze des mentalen Lebens – eine Spitze, die ununterbrochen in das Gewebe der Ereignisse eingefügt ist – machen würde und die, indem sie dem Körper hier einzig die Funktion zuschreibt, das Gedächtnis auf das Wirkliche auszurichten und an die Gegenwart zu binden, dieses Gedächtnis selbst als absolut unabhängig von der Materie betrachtet. In diesem Sinne trägt das Gehirn dazu bei, die nützliche Erinnerung wachzurufen, doch mehr noch dazu, vorläufig alle übrigen fernzuhalten. Wir sehen nicht, wie das Gedächtnis in der Materie wohnen sollte; aber wir verstehen gut, wie – gemäß dem tiefsinnigen Wort eines zeitgenössischen Philosophen – »die Materialität uns das Vergessen einträgt«1. |
Ravaisson, La philosophie en France au XIXe siècle, 3. Aufl., S. 176. [Vgl. Die französische Philosophie im 19. Jahrhundert, Eisenach 1889, S. 173, Übersetzung leicht abgewandelt, A. d. Ü.] 1
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V I ERT E S K A PI T EL
Von der Abgrenzung und von der Fixierung der Bilder. Wahrnehmung und Materie. Seele und Körper
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us den ersten drei Kapiteln dieses Buches ergibt sich eine allgemeine Schlußfolgerung, und zwar, daß die wesentliche Funktion des immer auf die Handlung ausgerichteten Körpers darin besteht, das Leben des Geistes im Hinblick auf die Handlung zu beschränken. In bezug auf die Vorstellungen ist er ein Instrument der Selektion, und nur der Selektion. Er vermöchte einen intellektuellen Zustand weder zu erzeugen noch auszu lösen. Nehmen wir zum Beispiel die Wahrnehmung. Durch den Platz, den er in jedem Augenblick im Universum einnimmt, markiert unser Körper die Teile und die Aspekte der Materie, auf die wir Zugriff hätten: Unsere Wahrnehmung, die eben gerade das Maß unseres virtuellen Einwirkens auf die Dinge darstellt, beschränkt sich so auf die Gegenstände, die aktuell unsere Organe beeinflussen und unsere Bewegungen vorbereiten. Betrachten wir nun das Gedächtnis. Die Rolle des Körpers besteht nicht darin, Erinnerungen einzulagern, sondern einfach darin, die nützliche Erinnerung auszuwählen, diejenige, die die gegenwärtige Situation im Hinblick auf die endgültige Handlung ergänzen und erhellen wird, um sie durch die reale Wirksamkeit, welche er ihr verleiht, ins deutliche Bewußtsein treten zu lassen. Es ist wahr, daß diese zweite Selektion weit weniger strikt ausfällt als die erste, weil unsere vergangene Erfahrung eine individuelle Erfahrung ist | und nicht mehr eine allgemeine, weil wir immer eine Menge unterschiedlicher Erinnerungen haben, die in der Lage sind, zu einer selben aktuellen Situation zu passen, und weil die Natur hier nicht wie im Fall der Wahrnehmung eine unbeugsame Regel zur Eingrenzung unserer Vorstellungen besitzen kann. So bleibt dieses Mal also notwendig ein gewisser Spielraum für die Phantasie; und wenn die Tiere, derart im materiellen Bedürfnis
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gefangen, wie sie es sind, diesen auch kaum nutzen, so scheint der menschliche Geist hingegen unaufhörlich mit der Gesamtheit seines Gedächtnisses gegen die Tür zu drängen, die der Körper ihm einen Spalt öffnen wird: daher die Spiele der Phantasie und die Arbeit des Vorstellungsvermögens – lauter Freiheiten, die der Geist sich der Natur gegenüber herausnimmt. Doch deshalb ist es nicht weniger wahr, daß die Ausrichtung unseres Bewußtseins auf die Handlung das fundamentale Gesetz unseres psychologischen Lebens zu sein scheint. Wir könnten es zur Not dabei belassen, denn wir hatten diese Arbeit unternommen, um die Rolle des Körpers im Leben des Geistes zu definieren. Doch auf der einen Seite haben wir auf dem Wege ein metaphysisches Problem aufgeworfen, bei dem wir uns nicht dazu entschließen können, es in der Schwebe zu lassen, und auf der anderen Seite ließen unsere, obgleich vor allem psychologischen Untersuchungen wiederholt, wenn nicht einen Weg, das Problem zu lösen, so doch eine Seite, von der aus man es angehen kann, durchscheinen. Dieses Problem ist kein Geringeres1 als das der Vereinigung der Seele mit dem Körper. Es stellt sich uns in einer zugespitzten Form, weil wir die Materie tiefgreifend vom Geist unterscheiden. Und wir können es nicht für unlösbar halten, weil wir Geist und Materie durch positive Merkmale und nicht durch Negationen definieren. Es ist wahrhaft die Materie, in die die reine Wahrnehmung uns versetzen würde, und wirklich der Geist selbst, in den wir mit dem Gedächtnis bereits eindringen würden. Außerdem | läßt uns dieselbe psychologische Beobachtung, die uns die Unterscheidung von Materie und Geist offenbart hat, ihrer Vereinigung beiwohnen. Entweder also sind unsere Analysen mit einem Ur1 An
dieser Stelle findet sich in allen Ausgaben derselbe Fehler: Anstelle von n’est rien de moins (ist kein Geringeres als) steht dort n’est rien moins (ist nichts weniger als), was dem Sinn nach offensichtlich falsch ist. Diesen Hinweis verdanke ich Rémi Brague. [A. d. Ü.]
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makel befleckt, oder sie müssen uns helfen, aus den Schwierigkeiten, die sie aufwerfen, herauszugelangen. Die Dunkelheit dieses Problems in allen Lehren liegt an der zweifachen Antithese, die unser Verstand aufstellt: einerseits die des Ausgedehnten und des Unausgedehnten, andererseits die der Qualität und der Quantität. Es ist unbestreitbar, daß sich der Geist der Materie zunächst entgegensetzt wie eine reine Einheit einer wesensmäßig teilbaren Vielheit und daß sich außerdem unsere Wahrnehmungen aus heterogenen Qualitäten zusammensetzen, während das wahrgenommene Universum sich in homogene und berechenbare Veränderungen auflösen zu müssen scheint. Es gäbe also auf der einen Seite Ausdehnungslosigkeit und Qualität und auf der anderen Ausgedehntheit und Quantität. Wir haben den Materialismus von uns gewiesen, der vorgibt, den ersten Term aus dem zweiten herzuleiten; doch wir stimmen ebenso wenig dem Idealismus zu, welcher will, daß der zweite einfach eine Konstruktion des ersten sei. Gegen den Materialismus vertreten wir, daß die Wahrnehmung den Hirnzustand unendlich übersteigt; gegen den Idealismus jedoch haben wir aufzuweisen versucht, daß die Materie über die Vorstellung, die wir von ihr haben, nach allen Seiten hinausreicht, eine Vorstellung, die der Geist dort sozusagen durch eine intelligente Auswahl herausgepflückt hat. Von diesen beiden gegensätzlichen Lehren schreibt die eine dem Körper, die andere dem Geist eine echte Schöpfungsgabe zu, die erste will, daß unser Gehirn die Vorstellung erzeugt, und die zweite, daß unser Verstand den Plan der Natur vorzeichnet. Und gegen diese beiden Lehren berufen wir uns auf dasselbe Zeugnis, jenes des Bewußtseins, das uns in unserem Körper ein Bild wie die übrigen und in unserem Verstand ein | bestimmtes Vermögen, zu trennen, zu unterscheiden und logisch entgegenzusetzen, zeigt, jedoch nicht, zu erschaffen oder zu konstruieren. So scheint es, als hätten wir als freiwillige Gefangene der psychologischen Analyse und folglich des gemeinen Menschenverstandes, nachdem wir die Konflikte, die der vulgäre Dualismus aufwirft, auf
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die Spitze getrieben haben, uns alle Auswege, die die Metaphysik uns eröffnen konnte, verschlossen. Doch gerade weil wir den Dualismus ins Extrem getrieben haben, hat unsere Analyse vielleicht seine widersprüchlichen Elemente voneinander gelöst. Die Theorie der reinen Wahrnehmung auf der einen und die des reinen Gedächtnisses auf der anderen Seite hätten so den Weg für eine Annäherung von Unausgedehntem und Ausgedehntem, von Qualität und Quantität bereitet. Nehmen wir zum Beispiel die reine Wahrnehmung: Indem wir aus dem Hirnzustand den Beginn einer Handlung und nicht1 die Bedingung einer Wahrnehmung machten, stießen wir die wahrgenommenen Bilder der Dinge wieder hinaus aus dem Bild unseres Körpers; wir versetzten also die Wahrnehmung in die Dinge selbst zurück. Doch damit hatten, da unsere Wahrnehmung Teil der Dinge war, die Dinge Anteil an der Natur unserer Wahrnehmung. Die materielle Ausgedehntheit ist nicht mehr und kann nicht mehr jene multiple Ausgedehntheit sein, von der die Geometrie spricht, sie ähnelt viel eher der ungeteilten Ausdehnung unserer Vorstellung. Das bedeutet, daß die Analyse der reinen Wahrnehmung uns in der Idee der Ausdehnung eine mögliche Annäherung zwischen dem Ausgedehnten und dem Unausgedehnten erahnen ließ. Unsere Konzeption des reinen Gedächtnisses jedoch müßte auf parallelem Wege dazu führen, daß die zweite Entgegensetzung, jene der Qualität und der Quantität, gemildert wird. Wir haben in der Tat die reine Erinnerung radikal von dem Hirnzustand geschieden, der sie fortführt und wirksam werden läßt. Das Gedächtnis ist also zu keinem Grad eine Emanation der Materie; ganz im Gegenteil, die Materie, | so wie wir sie in einer konkreten Wahrnehmung erfassen, die immer eine gewisse Dauer ein1 Die
Centenaire-Ausgabe vermerkt hier eine Variante der ersten Ausgabe von Matière et mémiore (I): Statt »nicht« steht dort »keineswegs«. Die kritische Ausgabe zeigt diese Variante nicht an. [A. d. Ü.]
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nimmt, entstammt zu einem großen Teil dem Gedächtnis. Doch worin genau besteht der Unterschied zwischen den heterogenen Qualitäten, die in unserer konkreten Wahrnehmung aufeinanderfolgen, und den homogenen Veränderungen, die die Wissenschaft hinter diese Wahrnehmungen in den Raum legt? Die ersteren sind diskontinuierlich und lassen sich nicht auseinander herleiten; die zweiten hingegen eignen sich für die Berechnung. Doch damit sie sich dafür eignen, ist es keineswegs notwendig, aus ihnen reine Quantitäten zu machen: Dann könnte man sie ebensogut ganz zunichte machen. Es genügt, daß ihre Heterogenität gewissermaßen hinreichend verdünnt ist, damit sie von unserem Standpunkt aus praktisch vernachlässigbar wird. Wenn nun aber jede konkrete Wahrnehmung, so kurz man sie auch ansetzt, schon die durch das Gedächtnis vollzogene Synthese einer Unendlichkeit von aufeinanderfolgenden »reinen Wahrnehmungen« ist, muß man dann nicht denken, daß die Heterogenität der Empfindungsqualitäten von ihrer Kontraktion in unserem Gedächtnis herrührt und die relative Homogenität der objektiven Veränderungen von ihrer natürlichen Entspannung? Und könnte die Distanz zwischen Quantität und Qualität dann nicht durch Erwägungen der Spannung vermindert werden, so wie die Entfernung zwischen dem Ausgedehnten und dem Unausgedehnten durch jene der Ausdehnung1?2 Bevor wir diesen Weg einschlagen, wollen wir das allgemeine Prinzip der Methode formulieren, die wir anwenden möchten. 1 »Spannung«
(tension) und »Ausdehnung« (extension) haben im Französischen denselben Wortstamm, wodurch im französischen Original die inhaltliche Nähe der beiden Begriffe sofort ins Auge fällt und sprachlich deutlicher hervortritt als in der Übersetzung. [A. d. Ü.] 2 Hier endet die Einleitung des vierten Kapitels, das Folgende erschien zuerst in Form eines Artikels in der Revue de métaphysique et de morale, Bd. IV, 1896, S. 257–279, unter dem Titel: »WAHRNEHMUNG UND MATERIE « mit der Fußnote: »Auszüge aus einem in Kürze im Verlag Alcan erscheinenden Buch« (im folgenden RM). [A. d. Ü.]
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Wir haben von ihr schon in einer früheren Arbeit Gebrauch gemacht und implizit sogar in der vorliegenden.1 Das, was man normalerweise eine Tatsache nennt, ist nicht die Realität, so wie sie einer unmittelbaren Intuition2 erscheinen würde, sondern eine Anpassung des Realen an die Interessen der Praxis und die Erfordernisse des sozialen Lebens. Die reine Intuition, die äußere wie die innere, ist die einer ungeteilten Kontinuität. Wir zerstückeln sie | zu nebeneinandergereihten Elementen, die hier unterschiedenen Wörtern und dort unabhängigen Gegenständen entsprechen. Doch eben gerade weil wir so die Einheit unserer ursprünglichen Intuition zerbrochen haben, fühlen wir uns verpflichtet, zwischen den entkoppelten Termen eine Verbindung herzustellen, die nur noch äußerlich und nachträglich hinzugefügt sein kann. Die lebendige Einheit, die aus der inneren Kontinuität geboren wurde, ersetzen wir durch die künstliche Einheit eines leeren Rahmens, der ebenso leblos ist wie die Terme, die er zusammenhält. Empirismus und Dogmatismus sind sich im Grunde einig, von den so rekonstituierten Phänomenen auszugehen, und unterscheiden sich nur insofern, als der Dogmatismus sich stärker an jene Form und der Empirismus stärker an jene Materie hält. Der Empirismus nämlich, der vage spürt, was in den Beziehungen, die die Terme untereinander verbinden, an Künstlichem liegt, hält sich an die Terme und vernachlässigt die Beziehungen. Sein Unrecht besteht nicht darin, die Erfahrung zu hoch zu schätzen, sondern im Gegenteil die wahre Erfahrung, jene, die durch den unmittelbaren Kontakt des Geistes mit seinem Gegenstand entsteht, durch eine auseinandergerissene und folglich zweifellos denaturierte, auf jeden Fall zugunsten der Erleichterung der Handlung und der Sprache zu1 Bevor
… vorliegenden. ] Wir wollen zuerst das Prinzip einer Methode herausstellen, die wir bereits angewendet haben und bei der wir nicht umhin können, sie für fruchtbar zu halten. RM. 2 Zum Begriff ›Intuition‹ und seiner Übersetzung s. Nachwort d. Ü., S. 307 ff. [A. d. Ü.]
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rechtgelegte Erfahrung zu ersetzen. Eben gerade weil diese Zerstückelung des Realen sich im Hinblick auf die Erfordernisse des praktischen Lebens vollzogen hat, ist sie nicht den inneren Linien der Struktur der Dinge gefolgt: Darum kann der Empirismus den Geist bei keinem der großen Probleme zufriedenstellen und unterläßt es, wenn er zum vollen Bewußtsein seines Prinzips gelangt, sogar, diese überhaupt zu stellen. – Der Dogmatismus entdeckt die Schwierigkeiten, vor denen der Empirismus die Augen verschließt, und legt sie frei; allerdings sucht er die Lösung auf dem Weg, den der Empirismus vorgezeichnet hat. Auch er nimmt diese losgelösten und diskontinuierlichen Phänomene an, mit denen der Empirismus sich zufrieden gibt, und strengt sich einfach an, aus ihnen eine Synthese zu erstellen, die, nachdem sie nicht | in einer Intuition gegeben war, notwendig immer eine willkürliche Form haben wird. Mit anderen Worten, wenn die Metaphysik nur eine Konstruktion ist, dann gibt es mehrere gleich wahrscheinliche Metaphysiken, die sich folglich gegenseitig widerlegen, und das letzte Wort wird eine kritische Philosophie behalten, die alle Erkenntnis für relativ und den Grund der Dinge für dem Geist unzugänglich hält. Das ist in der Tat der regelmäßige Lauf des philosophischen Denkens: Wir gehen von dem aus, was wir für die Erfahrung halten, wir probieren verschiedene mögliche Anordnungen der Fragmente, aus denen sie scheinbar zusammengesetzt ist, und angesichts der erkannten Fragilität all unserer Konstruktionen werden wir schließlich darauf verzichten zu konstruieren. – Doch es bliebe noch ein letzter Versuch zu unternehmen. Er bestünde darin, die Erfahrung an ihrer Quelle zu schöpfen oder vielmehr oberhalb jener entscheidenden Wende, an der sie, sich in Richtung unserer Nützlichkeit beugend, im eigentlichen Sinne die menschliche Erfahrung wird. Die Machtlosigkeit der spekulativen Vernunft, so wie Kant sie bewiesen hat, ist vielleicht im Grunde nur die Machtlosigkeit einer von gewissen Erfordernissen des körperlichen Lebens versklavten Intelligenz, die sich mit einer Materie befaßt, welche für die Be-
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friedigung unserer Bedürfnisse auseinandergenommen und ihrer organischen Struktur beraubt werden mußte. Unsere Erkenntnis der Dinge wäre dann also nicht mehr relativ in bezug auf die Grundstruktur unseres Geistes, sondern nur in bezug auf seine oberflächlichen und erworbenen Gewohnheiten, die kontingente Form, die er von unseren körperlichen Funktionen und unseren niederen Bedürfnissen erhält. Die Relativität der Erkenntnis wäre also nicht endgültig. Wenn man dasjenige rückgängig machte, was die Bedürfnisse bewirkt haben, würde man die Intuition in ihrer ersten Reinheit wiederherstellen und wieder Kontakt mit dem Realen aufnehmen. Diese Methode weist in der Anwendung | beachtliche und immer wieder neu erstehende Schwierigkeiten auf, da sie für die Lösung jedes neuen Problems eine völlig neue Anstrengung erfordert. Auf gewisse Gewohnheiten des Denkens und sogar des Wahrnehmens zu verzichten ist schon mühsam: Doch ist das nur erst der negative Teil der zu erbringenden Leistung; und wenn man ihn erbracht hat, wenn man sich an den Punkt versetzt hat, den wir die Wende der Erfahrung nennen, wenn man den aufkeimenden Schimmer genutzt hat, der den Übergang vom Unmittelbaren zum Nützlichen erhellend, die Morgendämmerung unserer menschlichen Erfahrung anbrechen läßt, dann muß man immer noch mit den unendlich kleinen Elementen, die wir so von der realen Kurve gewahren, die Form der Kurve selbst rekonstruieren, die sich in der Dunkelheit hinter ihnen erstreckt. In diesem Sinne ähnelt die Aufgabe des Philosophen, so wie wir sie verstehen, sehr der des Mathematikers, der zur Bestimmung einer Funktion von der Ableitung ausgeht. In ihrem letzten Schritt ist die philosophische Untersuchung eine wahre Integralrechenleistung. Wir haben früher einmal die Anwendung dieser Methode auf das Problem des Bewußtseins versucht, und es schien uns, daß die nützlichkeitsorientierte Tätigkeit des Geistes, was die Wahrnehmung unseres inneren Lebens betrifft, in einer Art Brechung der reinen Dauer durch den Raum besteht, einer Brechung, die uns
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erlaubt, unsere psychologischen Zustände voneinander zu trennen, sie zu einer immer unpersönlicheren Form zu führen, ihnen Namen aufzuerlegen, kurz: sie in den Strom des sozialen Lebens eintreten zu lassen. Empirismus und Dogmatismus nehmen die inneren Zustände in dieser diskontinuierlichen Form, dabei hält sich der erste an die Zustände selbst und sieht im Ich nur eine Folge nebeneinandergereihter Tatsachen, der zweite begreift zwar die Notwendigkeit einer Bindung, vermag diese Bindung aber nur noch in einer Form oder einer Kraft zu finden – einer äußeren Form, in die sich das Konglomerat einfügt, oder einer | unbestimmten und sozusagen physikalischen Kraft, welche die Kohäsion der Elemente gewährleistet. Daher die zwei entgegengesetzten Standpunkte in der Frage der Freiheit: Für den Determinismus ist der Akt die Resultante einer mechanischen Kombination der Elemente untereinander; für seine Gegner müßte, wenn sie mit ihrem Prinzip strikt in Einklang wären, die freie Entscheidung ein willkürliches fiat sein, eine wahre Schöpfung ex nihilo. – Wir dachten, daß man noch einen dritten Standpunkt einnehmen könnte. Der bestünde darin, uns in die reine Dauer zurückzuversetzen, deren Dahinfließen kontinuierlich ist und in der man durch unmerkliche Abstufungen von einem Zustand zum anderen übergeht: eine Kontinuität, die wirklich erlebt, jedoch der größeren Bequemlichkeit der gebräuchlichen Erkenntnis zuliebe künstlich zerlegt wird. Alsdann glaubten wir, die Handlung aus ihren Antezedenzien durch eine Evolution sui generis1 hervorgehen zu sehen, derart, daß man in dieser Handlung die Antezeden zien wiederfindet, die sie erklären, und daß sie ihnen dennoch etwas absolut Neues hinzufügt, ihnen gegenüber fortgeschritten ist wie die Frucht gegenüber der Blüte. Die Freiheit ist dadurch keineswegs, wie man gesagt hat, auf die sinnliche Spontaneität reduziert. Allerhöchstens wäre sie dies beim Tier, dessen psychosui generis ] sui generis – ohne Analogie mit einem physischen Nacheinander – RM. 1
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logisches Leben vor allem affektiv ist. Doch beim Menschen, einem denkenden Wesen, darf der freie Akt als eine Synthese von Gefühlen und Ideen bezeichnet werden, und die Evolution, die dorthin führt, als eine vernünftige Evolution. Der Kunstgriff dieser Methode besteht im Grunde einfach darin, den Standpunkt der gebräuchlichen oder nützlichen Erkenntnis und den der wahren Erkenntnis voneinander zu unterscheiden. Die Dauer, in der wir uns beim Handeln zuschauen und in der es nützlich ist, daß wir uns zuschauen, ist eine Dauer, deren Elemente sich voneinander lösen und sich nebeneinanderreihen; die Dauer aber, in der wir handeln, ist eine Dauer, in der unsere Zustände ineinander verschmelzen, und dorthinein müssen wir uns in dem | außergewöhnlichen und einzigartigen Fall, in dem wir über die innerste Natur der Handlung spekulieren, das heißt in der Theorie der Freiheit, in Gedanken zu versetzen streben. Ist eine Methode dieser Art auf das Problem der Materie anwendbar? Die Frage ist, ob in jener »Mannigfaltigkeit der Erscheinungen«, von der Kant gesprochen hat, die verschwommene Masse mit extensiver Tendenz diesseits des homogenen Raumes erfaßt werden kann, auf den sie sich fügt und mittels dessen wir sie unterteilen – ebenso wie unser inneres Leben sich von der unbegrenzten und leeren1 Zeit lösen kann, um wieder reine Dauer zu werden. Gewiß, das Unterfangen, sich von den fundamentalen Bedingungen der äußeren Wahrnehmung befreien zu wollen, wäre utopisch. Doch ist die Frage, ob gewisse Bedingungen, die wir normalerweise für fundamental halten, nicht weit eher den von den Dingen zu machenden Gebrauch betreffen würden und den aus ihnen zu ziehenden praktischen Nutzen als die reine Erkenntnis, die wir von ihnen haben können. Genauer gesagt kann man, was die konkrete, kontinuierliche, mannigfaltige und gleichzeitig organisch-strukturierte Ausgedehntheit betrifft, bestreiten, daß sie mit dem amorphen und leblosen Raum zusam1
leeren ] gleichförmigen RM.
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menhängt, der ihr unterspannt ist, dem Raum, den wir unbegrenzt unterteilen, in dem wir willkürlich Figuren ausschneiden und in dem die Bewegung selbst, wie wir es an anderer Stelle sagten, nur als eine Vielheit von momenthaften Positionen erscheinen kann, da dort nichts den Zusammenhalt von Vergangenheit und Gegenwart gewährleisten kann. Man könnte sich also in einem gewissen Maße vom Raum befreien, ohne aus der Ausgedehntheit herauszutreten, und darin läge durchaus eine Rückkehr zum Unmittelbaren, da wir die Ausgedehntheit allen Ernstes wahrnehmen, während wir den Raum nur in der Art und Weise eines Schemas begrifflich entwerfen. Wird man dieser Methode vorwerfen, daß sie der unmittelbaren Erkenntnis willkürlich einen gehobenen Wert zuschreibt? | Doch welchen Grund hätten wir, an einer Erkenntnis zu zweifeln, ja käme uns ohne die von der Reflexion aufgezeigten Schwierigkeiten und Widersprüche, ohne die von der Philosophie gestellten Probleme je auch nur die Idee, daran zu zweifeln? Und fände dann die unmittelbare Erkenntnis nicht in sich selbst ihre Rechtfertigung und ihren Beweis, wenn man aufweisen könnte, daß diese Schwierigkeiten, diese Widersprüche und diese Probleme vor allem aus der symbolischen Darstellung geboren werden, die sie überdeckt, einer Darstellung, die für uns die Realität selbst geworden ist und deren dicke Schicht allein eine starke und außergewöhnliche Anstrengung zu durchdringen vermag? Unter den Ergebnissen, zu denen diese Methode führen kann, wollen wir sofort diejenigen auswählen, die für unsere Untersuchung von Interesse sind. Wir werden uns im übrigen auf Hinweise beschränken; es kann hier nicht in Frage kommen, eine Theorie der Materie zu konstruieren.1 1
Unter den … konstruieren. ] Um die Darstellung abzukürzen, wollen wir versuchen, auf der Stelle einige der Ergebnisse zu formulieren, zu denen man gelangen würde, wenn man diesen Weg einschlägt. Ehrlich gesagt beabsichtigen wir hier eher, ein paar Richtungen zu weisen als eine Theorie vorzustellen. RM.
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I. – Jede Bewegung als Übergang von einer Ruhelage zu einer Ruhe lage ist absolut unteilbar. Es handelt sich hier nicht um eine Hypothese, sondern um eine Tatsache, die eine Hypothese allgemein abdeckt. Nehmen wir zum Beispiel meine Hand, die auf dem Punkt A liegt. Ich führe sie zum Punkt B und durchlaufe dabei den Zwischenraum in einem Zug. Es gibt in dieser Bewegung zugleich ein Bild, das mein Gesichtssinn auffängt, und einen Akt, den mein muskuläres Bewußtsein erfaßt. Mein Bewußtsein gibt mir die innere Empfindung einer einfachen Tatsache, denn in A bestand eine Ruhelage, in B besteht wiederum eine Ruhelage und zwischen A und B stellt sich ein unteilbarer oder zumindest ungeteilter Akt ein, ein Übergang von Ruhelage zu Ruhelage, der die Bewegung selbst ist. Doch mein Gesichtssinn nimmt die Bewegung in Form einer Linie AB wahr, die durchlaufen wird, und diese Linie ist wie aller Raum unbeschränkt zerlegbar. | Es scheint also zunächst, als könne ich diese Bewegung nach Belieben für multipel oder für unteilbar halten, je nachdem, ob ich sie im Raum oder in der Zeit betrachte, als ein Bild, das sich außerhalb von mir abzeichnet, oder als einen Akt, den ich selbst vollziehe. Wenn ich indessen jede vorgefaßte Meinung fallenlasse, gewahre ich sehr schnell, daß ich keine Wahl habe, daß auch mein Gesichtssinn selbst die Bewegung von A nach B als ein unteilbares Ganzes erfaßt und daß, wenn er etwas teilt, dies die Linie ist, von der man annimmt, daß sie durchlaufen wurde, und nicht die Bewegung, die sie durchläuft. Es ist freilich wahr, daß meine Hand nicht von A nach B gelangt, ohne die dazwischenliegenden Positionen zu durchqueren, und daß diese dazwischenliegenden Punkte einer beliebig großen Anzahl längs des Weges angeordneter Stationen ähneln; doch zwischen diesen so gekennzeichneten Unterteilungen und Stationen im eigentlichen Sinne besteht jener entscheidende Unterschied, daß man bei einer Station haltmacht, wogegen hier der bewegte Körper hindurchzieht. Nun ist aber das Hindurchziehen eine Bewegung und das Haltmachen eine
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Unbewegtheit. Das Haltmachen unterbricht die Bewegung; das Hindurchziehen ist eins mit der Bewegung selbst. Wenn ich den bewegten Körper durch einen Punkt hindurchziehen sehe, dann begreife ich zweifellos, daß er dort haltmachen könnte; und selbst wenn er dort nicht haltmacht, neige ich dazu, sein Hindurchziehen als eine unendlich kurze Ruhelage zu betrachten, weil ich zumindest die Zeit brauche, daran zu denken; doch es ist allein mein Vorstellungsvermögen, das hier ruht, und die Rolle des bewegten Körpers besteht im Gegenteil darin, sich zu bewegen. Da mir jeder Punkt des Raumes notwendig als feststehend erscheint, macht es mir große Mühe, dem Bewegten selbst nicht die Unbewegtheit des Punktes zuzuschreiben, mit dem ich es für einen Moment zur Deckung kommen lasse; daher scheint mir, wenn ich die Gesamtbewegung rekonstituiere, das Bewegte an jedem Punkt seiner Bahn für eine unendlich kurze Zeit Station gemacht zu haben. | Doch man darf nicht die Daten der Sinne, die die Bewegung wahrnehmen, mit den Kunstgriffen des Geistes verwechseln, der die Bewegung wieder zusammenfügt. Die Sinne zeigen uns, wenn man sie sich selbst überläßt, die wirkliche Bewegung zwischen zwei wirklichen Halten als ein festes und ungeteiltes Ganzes. Die Unterteilung ist das Werk des Vorstellungsvermögens, dessen Funktion eben gerade darin besteht, die bewegten Bilder unserer gewöhnlichen Erfahrung festzuhalten, wie der momenthafte Blitz, der in der Nacht eine Gewitterlandschaft erleuchtet. Wir erfassen hier das Grundprinzip der Illusion, die die Wahrnehmung der wirklichen Bewegung begleitet und überdeckt. Die Bewegung besteht sichtlich darin, von einem Punkt zu einem anderen überzugehen und folglich den Raum zu durchqueren. Nun ist aber der durchquerte Raum bis ins Unendliche teilbar, und da die Bewegung sich sozusagen auf die Linie legt, die sie durchläuft, scheint sie1 mit dieser Linie zusammenzuhängen und, wie diese, teilbar zu sein. Hat sie sie nicht selbst gezeichnet? Hat sie 1
scheint sie ] scheint sie uns mit RM.
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nicht Zug um Zug die aufeinanderfolgenden und nebeneinanderliegenden Punkte durchquert? Ja, zweifellos, doch diese Punkte besitzen nur in einer gezogenen, das heißt unbewegten Linie Realität; und allein dadurch, daß man sich die Bewegung Zug um Zug in diesen verschiedenen Punkten vorstellt, hält man sie notwendig in ihnen an; diese aufeinanderfolgenden Positionen sind im Grunde also nur imaginäre Halte. Man ersetzt den Lauf der Bewegung durch die Bahn der Bewegung, und weil dem Lauf die Bahn unterspannt ist, glaubt man, daß er mit ihr in eins fällt. Wie aber sollte ein Fortschritt mit einem Ding in eins fallen, eine Bewegung mit einer Unbewegtheit? Das, was hier die Illusion fördert, ist, daß wir im Lauf der Dauer Momente unterscheiden, wie Positionen auf der Bahn des Bewegten. Angenommen, die Bewegung von einem Punkt zu einem anderen bildet ein ungeteiltes Ganzes, so füllt diese Bewegung deshalb | nicht weniger eine bestimmte Zeit, und es genügt, einen unteilbaren Augenblick von dieser Dauer zu isolieren, damit der bewegte Körper in genau diesem Moment eine bestimmte Position einnimmt, die sich so von allen anderen abhebt. Die Unteilbarkeit der Bewegung impliziert also die Unmöglichkeit des Augenblicks, und eine sehr geraffte Analyse der Idee der Dauer wird uns in der Tat zugleich zeigen, warum wir der Dauer Augenblicke zuschreiben und weshalb sie keine zu haben wüßte. Nehmen wir eine einfache Bewegung wie den Lauf meiner Hand, wenn sie sich von A nach B bewegt. Dieser Lauf ist meinem Bewußtsein als ein ungeteiltes Ganzes gegeben. Er dauert zweifellos; doch seine Dauer, die im übrigen mit dem inneren Erscheinungsbild zusammenfällt, das er für mein Bewußtsein annimmt, ist kompakt und ungeteilt wie dieses. Während er sich nun aber als Bewegung als eine einfache Tatsache darstellt, beschreibt er im Raum eine Bahn, die ich, um die Dinge zu vereinfachen, als eine geometrische Linie betrachten kann: und die äußersten Enden dieser Linie sind, als abstrakte Grenzen, nicht mehr Linien, sondern unteilbare Punkte. Wenn nun aber die Linie, die der be-
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wegte Körper beschrieben hat, für mich die Dauer seiner Bewegung mißt, wie sollte dann der Punkt, in dem die Linie ausläuft, nicht einen Endpunkt dieser Dauer symbolisieren? Und wenn dieser Punkt ein Unteilbares an Länge ist, wie sollte dann die Dauer des Laufes nicht durch ein Unteilbares an Dauer beendet werden? Wenn so die Gesamtlinie die Gesamtdauer darstellt, dann müssen, so scheint es, die Teile dieser Linie Teilen der Dauer entsprechen und die Punkte der Linie Momenten der Zeit. Die Unteilbaren der Dauer oder Momente der Zeit werden also aus einem Symmetriebedürfnis geboren; dorthin gelangt man naturgemäß, sobald man vom Raum eine vollständige Repräsentation der Dauer verlangt. Doch genau dort liegt der Irrtum. Wenn die Linie AB die verflossene Dauer der | von A nach B vollzogenen Bewegung symbolisiert, so kann sie als unbewegte in keiner Weise die sich vollziehende Bewegung, die verfließende Dauer repräsentieren; und daraus, daß diese Linie in Teile zerlegbar ist, daraus, daß sie mit Punkten endet, darf man weder schließen, daß sich die ihr korrespondierende Dauer aus getrennten Teilen zusammensetzt noch daß sie durch Augenblicke begrenzt sei. Die Beweise Zenons von Elea entspringen aus nichts anderem als ebendieser Illusion. Sie bestehen alle darin, die Zeit und die Bewegung mit der Linie in eins fallen zu lassen, die ihnen unterspannt ist, ihnen dieselben Unterteilungen zuzuschreiben, kurz: jene wie diese zu behandeln. Zu dieser Verwechslung wurde Zenon durch den gemeinen Menschenverstand ermutigt, der gewöhnlich auf die Bewegung die Eigenschaften ihrer Bahn überträgt, und ebenso durch die Sprache, die die Bewegung und die Dauer immer in Raum übersetzt. Doch der gemeine Menschenverstand und die Sprache sind hier in ihrem Recht und erfüllen sogar in gewisser Weise ihre Pflicht, denn da sie das Werden immer als ein nutzbares Ding ins Auge fassen, brauchen sie sich ebensowenig um die innere organische Struktur der Bewegung zu sorgen wie der Handwerker um die Molekularstruktur seiner Werkzeuge. Indem er die Bewegung für teilbar hält wie ihre Bahn,
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bringt der gemeine Menschenverstand schlicht die beiden Tatsachen zum Ausdruck, die im praktischen Leben einzig von Bedeutung sind: 1. daß jede Bewegung einen Raum beschreibt; 2. daß das Bewegte in jedem Punkt dieses Raumes anhalten könnte. Der Philosoph jedoch, der über die innerste Natur der Bewegung nachdenkt, ist angehalten, ihr die Bewegtheit zurückzugeben, die ihr Wesen ausmacht, und das ist es, was Zenon nicht tut. Beim ersten Beweis (der Dichotomie) nimmt man den bewegten Körper im Ruhezustand, um danach nur noch eine unbegrenzte Anzahl von Stationen auf der von ihm zu durchlaufenden Linie in den Blick zu nehmen: Vergeblich, heißt es, würde man zu erforschen suchen, wie es ihm gelänge, den Zwischenraum zu überwinden. Doch man beweist | so lediglich, daß es unmöglich ist, a priori die Bewegung aus Unbewegtheiten zu konstruieren, was für niemanden je in Zweifel stand. Die einzige Frage ist, ob, nachdem die Bewegung als Tatsache gesetzt ist, eine in gewisser Weise retrospektive Widersinnigkeit darin liegt, daß eine unendliche Anzahl von Punkten durchlaufen wurde. Doch darin sehen wir nur etwas sehr Natürliches, da die Bewegung eine ungeteilte Tatsache oder eine Folge von ungeteilten Tatsachen ist, während die Bahn unbegrenzt teilbar ist. Im zweiten Beweis (Achilles) willigt man ein, die Bewegung als gegeben zu nehmen, man schreibt sie sogar zwei bewegten Körpern zu, doch durch immer noch den gleichen Irrtum will man, daß diese Bewegungen mit ihrer Bahn in eins fallen und wie diese willkürlich zerlegbar sind. Statt also anzuerkennen, daß die Schildkröte Schildkrötenschritte macht und Achilles Achillesschritte, derart, daß nach einer gewissen Anzahl dieser unteilbaren Akte oder Sprünge Achilles die Schildkröte überholt haben wird, glaubt man sich im Recht, die Bewegung Achills, wie es einem beliebt, zu zerlegen und ebenso, wie es einem beliebt, die Bewegung der Schildkröte: So vergnügt man sich damit, die zwei Bewegungen nach einem willkürlichen, mit den fundamentalen Bedingungen der Bewegtheit unvereinbaren Bildungsgesetz zu rekonstruieren. Derselbe Sophismus tritt noch klarer im dritten
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Beweis (der Pfeil) zutage, welcher darin besteht, aus der Tatsache, daß man Punkte auf der Bahn eines Projektils festlegen kann, zu schließen, daß man das Recht hat, unteilbare Momente in der Dauer des Fluges zu unterscheiden. Doch der lehrreichste der Beweise Zenons ist vielleicht der vierte (das Stadion), den man, glauben wir, sehr zu Unrecht verschmäht hat und dessen Absurdität nur noch augenfälliger ist, weil man darin in all seiner Offenheit das in den drei anderen | verborgene Postulat entfaltet sieht.1 1
Wir wollen uns diesen Beweis kurz in Erinnerung rufen. Man nehme einen bewegten Körper, der sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit fortbewegt und der gleichzeitig an zwei Körpern vorüberzieht, von denen der eine unbewegt ist und der andere sich mit derselben Geschwindigkeit wie er selbst auf ihn zubewegt. In derselben Zeit, in der er eine gewisse Länge des ersten Körpers durchmißt, durchquert er naturgemäß eine im Verhältnis doppelte Länge des zweiten. Woraus Zenon schließt, daß »eine Dauer das Doppelte ihrer selbst ist«. – Ein kindischer Schluß, sagt man, da Zenon nicht berücksichtigt, daß die Geschwindigkeit im einen Fall doppelt so groß ist wie im anderen. – Einverstanden, aber wie bitte sollte er sich dessen denn gewahr werden? Daß in derselben Zeit ein bewegter Körper unterschiedliche Längen zweier Körper durchläuft, von denen einer in Ruhe und der andere in Bewegung ist, ist klar für denjenigen, der aus der Dauer eine Art Absolutes macht und sie sei es ins Bewußtsein, sei es in etwas, das am Bewußtsein Anteil hat, verlegt. Während eine festgesetzte Portion dieser bewußten oder absoluten Dauer verfließt, wird in der Tat derselbe bewegte Körper entlang der beiden Körper zwei Räume durchlaufen, von denen einer das Doppelte des anderen mißt, ohne daß man daraus schließen könnte, daß eine Dauer das Doppelte ihrer selbst sei, da die Dauer etwas vom einen wie vom anderen Raum Unabhängiges bleibt. Doch das Unrecht Zenons in seiner gesamten Argumentation besteht eben gerade darin, die wahre Dauer beiseite zu lassen, um nur ihre objektive Spur im Raum zu betrachten. Wie also sollten die zwei von demselben bewegten Körper hinterlassenen Spuren als Maße der Dauer nicht eine gleichwertige Beachtung verdienen? Und wie sollten sie nicht dieselbe Dauer repräsentieren, selbst wenn eine das Doppelte der anderen ist? Indem er daraus schloß, daß eine Dauer »das Doppelte ihrer selbst ist«, blieb Zenon in der Logik seiner Hypothese, und sein vierter Beweis ist ganz genausoviel wert wie die drei anderen.
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Ohne hier in eine Diskussion einzusteigen, die fehl am Platz wäre, wollen wir uns auf die Feststellung beschränken, daß die unmittelbar wahrgenommene Bewegung eine sehr klare Tatsache ist und daß die durch die Schule von Elea aufgezeigten Schwierigkeiten oder Widersprüche sehr viel weniger die Bewegung selbst betreffen als eine künstliche und nicht lebensfähige Restrukturierung der Bewegung durch den Geist. Nun wollen wir im übrigen die Schlußfolgerungen aus allem Vorangegangen ziehen: II. – Es gibt reale Bewegungen. Eine Idee des gemeinen Menschenverstandes mit größerer Präzision ausdrückend, definiert der Mathematiker die Position durch die Entfernung zu Bezugspunkten oder zu Achsen und die Bewegung durch die Variation der Entfernung. Von der Bewegung kennt er folglich nur Längenänderungen; und da die absoluten Werte der variablen Entfernung zwischen einem Punkt und einer Achse zum Beispiel ganz genausogut die Verschiebung der Achse | in bezug auf den Punkt wie jene des Punktes in bezug auf die Achse ausdrücken, wird er unterschiedslos demselben Punkt die Ruhelage oder die Bewegung zuschreiben. Wenn sich die Bewegung also auf eine Entfernungsänderung reduziert, dann ist derselbe Gegenstand bewegt oder unbewegt, je nach den Bezugspunkten, zu denen man ihn ins Verhältnis setzt, und es gibt keine absolute Bewegung. Doch die Dinge sehen schon anders aus, wenn man von der Mathematik zur Physik übergeht und vom abstrakten Studium der Bewegung zur Betrachtung der konkreten Veränderungen, die sich im Universum vollziehen. Wenn es uns freisteht, jedem isoliert genommenen materiellen Punkt Ruhelage oder Bewegung zuzuschreiben, dann ist es doch um nichts weniger wahr, daß das Erscheinungsbild des materiellen Universums sich verändert, daß die innere Konfiguration jedes realen Systems variiert und daß wir hier nicht mehr die Wahl zwischen Bewegtheit und Ruhelage haben: Die Bewegung, welcher Art ihre innerste Natur auch sein
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mag, wird eine unbestreitbare Realität. Geben wir zu, daß man nicht zu sagen vermag, welche Teile des Gesamtzusammenhangs sich bewegen; deshalb gibt es um nichts weniger Bewegung im Gesamtzusammenhang. Auch braucht man sich nicht zu wundern, wenn dieselben Denker, die jede einzelne Bewegung als relativ erachten, von der Totalität der Bewegung wie von einem Absoluten sprechen. Dieser Widerspruch wurde bei Descartes aufgedeckt, der, nachdem er der Relativitätsthese ihre radikalste Form verliehen hat, indem er behauptet, daß alle Bewegung »reziprok«1 sei, die Gesetze der Bewegung formuliert, als ob die Bewegung ein Absolutes wäre.2 Leibniz und andere nach ihm haben auf diesen Widerspruch hingewiesen:3 Er rührt schlicht daher, daß Descartes als Physiker über die Bewegung spricht, | nachdem er sie als Mathematiker definiert hat. Alle Bewegung ist relativ für die Mathematik: Das bedeutet in unserem Sinne nur, daß es kein mathematisches Symbol gibt, das auszudrücken vermöchte, daß es eher der bewegte Körper ist, der sich bewegt, als die Achsen oder die Punkte, zu denen man ihn ins Verhältnis setzt. Und das ist ganz natürlich, da diese Symbole, die immer zu Messungen bestimmt sind, nur Entfernungen ausdrücken können. Doch daß es eine reale Bewegung gibt, kann niemand ernsthaft bestreiten; sonst würde sich nichts im Universum ändern, und vor allem sähe man nicht, was das Bewußtsein zu sagen hätte, das wir von unseren eigenen Bewegungen haben. In seiner Kontroverse mit Descartes spielte Morus humorvoll auf diesen letzten Punkt an: »Wenn ich ruhig dasitze und ein anderer, der tausend Schritte weit wegläuft, rot vor Erschöpfung ist, dann ist es sehr wohl er, der sich bewegt, und ich, der ich mich ausruhe.«4 Descartes, Principes, II, 29. [Vgl. Prinzipien der Philosophie, II, § 29, A. d. Ü.] 2 Principes, II . Teil, § 37 ff. [Vgl. ebd., §§ 37 ff., A. d. Ü.] 3 Leibniz, Specimen dynamicum (Mathemat. Schriften, Gerhardt, 2. Abteilung, Bd. II, S. 246). 4 H. Morus, Scripta philosophica, 1679, Bd. II, S. 248. 1
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Wenn es aber eine absolute Bewegung gibt, kann man dann darauf beharren, in der Bewegung nur eine Ortsveränderung zu sehen? Man müßte dann die Ortsverschiedenheit zu einem absoluten Unterschied erheben und absolute Positionen in einem absoluten Raum unterscheiden. Newton ist so weit gegangen,1 im übrigen gefolgt von Euler2 und anderen. Ist dies aber vorstellbar oder sogar denkbar? Ein Ort würde sich von einem anderen Ort nur durch seine Qualität absolut unterscheiden oder durch sein Verhältnis zur Gesamtheit des Raumes: derart, daß der Raum in dieser Hypothese entweder aus heterogenen Teilen zusammengesetzt oder endlich sein würde. Doch einem endlichen Raum würden wir einen anderen Raum als Schranke setzen, und unter heterogenen Teilen des Raumes würden wir uns einen homogenen Raum | als Träger vorstellen: in beiden Fällen ist es der homogene und unbegrenzte Raum, zu dem wir notwendig zurückkehren würden. Wir können uns also weder daran hindern, jeden Ort für relativ zu halten, noch daran, an eine absolute Bewegung zu glauben. Wird man dann sagen, daß sich die reale Bewegung von der relativen Bewegung darin unterscheidet, daß sie eine reale Ursache hat, darin, daß sie aus einer Kraft hervorgeht? Doch man müßte sich über den Sinn dieses letzteren Wortes verständigen. In den Naturwissenschaften ist die Kraft nur eine Funktion von Masse und Geschwindigkeit; sie wird an der Beschleunigung gemessen; man kennt sie und ermittelt ihren Wert nur durch die Bewegungen, von denen man annimmt, daß sie sie im Raum produziert. Mit diesen Bewegungen zusammenhängend, teilt sie deren Relativität. Auch die Physiker, die das Prinzip der absoluten Bewegung in der auf diese Weise definierten Kraft suchen, werden so durch die Logik ihres Systems zur Hypothese eines absoluten Raumes zurückgebracht, die sie zuvor vermeiden wollten.3 Man Newton, Principia (Ed. Thompson, 1871, S 6 ff.). Euler, Theoria motus corporum solidorum, 1765, S. 30–33. 3 Insbesondere Newton. 1 2
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wird also mit dem metaphysischen Sinn des Wortes vorlieb nehmen müssen und die im Raum wahrgenommene Bewegung auf tiefliegende Ursachen stützen, die jenen analog sind, die unser Bewußtsein im Gefühl der Anstrengung zu erfassen glaubt. Ist aber das Gefühl der Anstrengung wirklich das einer tiefliegenden Ursache? Und haben nicht entscheidende Analysen gezeigt, daß es in diesem Gefühl nichts anderes gibt als das Bewußtsein schon vollzogener oder begonnener Bewegungen an der Peripherie des Körpers? Vergeblich also würden wir die Realität der Bewegung auf eine Ursache gründen wollen, die sich von ihr unterscheidet: Die Analyse bringt uns immer zur Bewegung selbst zurück. Doch weshalb woanders suchen? Solange man die Bewegung auf die Linie stützt, die sie durchläuft, erscheint einem derselbe Punkt | mal in Ruhe, mal in Bewegung, je nachdem, auf welchen Ursprung man ihn zurückführt. Anders wird dies, wenn man aus der Bewegung die Bewegtheit herauslöst, die deren Wesen ausmacht. Wenn meine Augen mir die Empfindung einer Bewegung liefern, dann ist diese Empfindung eine Realität und es geschieht tatsächlich etwas, sei es, daß ein Gegenstand vor meinen Augen seinen Platz wechselt, sei es, daß meine Augen sich vor diesem Gegenstand bewegen. Und noch sicherer bin ich mir der Realität der Bewegung, wenn ich sie hervorbringe, nachdem ich sie hervorbringen wollte, und der Muskelsinn mir das Bewußtsein davon vermittelt. Das heißt, daß ich die Wirklichkeit der Bewegung berühre, wenn sie mir – in mir selbst – wie eine Veränderung des Zustands oder der Qualität erscheint. Wie aber sollte es nun nicht ebenso sein, wenn ich Qualitätsveränderungen in den Dingen wahrnehme? Der Klang unterscheidet sich radikal von der Stille, wie auch ein Klang von einem anderen. Zwischen Licht und Dunkelheit, zwischen Farben und zwischen Nuancen ist der Unterschied ein absoluter. Und der Übergang von einem zum anderen ist ebenso ein absolut reales Phänomen. Ich halte also die beiden äußersten Enden der Kette in Händen, die muskulären Empfindungen in mir und die Empfindungsqualitäten
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der Materie außerhalb von mir, und ebensowenig im einen wie im anderen Fall erfasse ich die Bewegung – wenn es dort Bewegung gibt – als eine schlichte Relation: Sie ist ein Absolutes. – Zwischen diesen beiden äußersten Enden ordnen sich die Bewegungen der äußeren Körper im eigentlichen Sinne ein. Wie soll man hier eine scheinbare von einer realen Bewegung unterscheiden? Von welchem äußerlich wahrgenommenen Gegenstand kann man sagen, daß er sich bewegt, von welchem anderen, daß er unbewegt bleibt? Eine solche Frage zu stellen hieße zugeben, daß die Scheidung begründet ist, die der gemeine Menschenverstand vornimmt, wenn er eine Diskontinuität voneinander unabhängiger Gegenstände herstellt, von denen jeder seine Individualität besitzt, vergleichbar mit Arten von Personen. | In der gegenteiligen Hypothese ginge es in der Tat nicht mehr darum, wie sich in diesen oder jenen bestimmten Teilen der Materie Positionsveränderungen ereignen, sondern darum, wie sich im Ganzen eine Veränderung der Erscheinung vollzieht, eine Veränderung, deren Natur wir im übrigen noch zu bestimmen haben. Wir wollen daher sogleich unseren dritten Satz formulieren: III. – Jede Aufteilung der Materie in unabhängige Körper mit absolut festgelegten Konturen ist eine künstliche Aufteilung.1 Ein Körper, das heißt ein unabhängiger materieller Gegenstand, präsentiert sich uns zuerst als ein System von Qualitäten, in dem der Widerstand und die Farbe – Daten des Gesichtssinns und des Tastsinns – das Zentrum einnehmen und alle anderen gewis sermaßen an ihnen aufgehängt sind. Außerdem sind die Daten des Gesichtssinns und des Tastsinns jene, die sich am offenkundigsten2 im Raum erstrecken, und das wesentliche Merkmal des Raumes ist die Kontinuität. Zwischen den Klängen gibt es InterJede … Aufteilung. ] Jede Aufteilung der Materie in festgelegte unabhängige Körper ist eine künstliche Aufteilung. RM. 2 sich am offenkundigsten ] sich RM. 1
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valle der Stille, da das Gehör nicht immer beschäftigt ist; zwischen den Gerüchen und den Geschmäckern findet man Leerräume, als ob der Geruchs- und der Geschmacksinn nur gelegentlich1 funktionieren würden: Sobald wir hingegen unsere Augen öffnen, nimmt unser gesamtes Gesichtsfeld Farbe an, und da die festen Körper einander notwendig berühren, muß unser Tastsinn der Oberfläche oder den Kanten der Gegenstände folgen können, ohne jemals auf eine echte Unterbrechung zu treffen. Wie zerstückeln wir die ursprünglich wahrgenommene Kontinuität der materiellen Ausgedehntheit in lauter Körper, von denen jeder seine Substanz und seine Individualität haben würde? Zweifellos ändert sich das Erscheinungsbild dieser Kontinuität von einem Moment zum anderen: Doch warum stellen wir nicht schlicht und einfach fest, | daß der Gesamtzusammenhang sich verändert hat, als ob man ein Kaleidoskop gedreht hätte? Kurz: Warum suchen wir in der Bewegtheit des Gesamtzusammenhangs Fährten sich bewegender Körper? Eine bewegte Kontinuität ist uns gegeben, wo sich alles gleichzeitig ändert und fortbesteht: Woher kommt es, daß wir diese zwei Terme, Beständigkeit und Veränderung, voneinander trennen, um die Beständigkeit durch Körper und die Veränderung durch homogene Bewegungen im Raum darzustellen? Es handelt sich dabei nicht um ein Datum der unmittelbaren Intuition, doch es ist ebensowenig ein Erfordernis der Wissenschaft, denn die Wissenschaft setzt sich im Gegenteil zum Ziel, die natürlichen Gliederungen eines Universums wiederzufinden, das wir künstlich in Stücke geschnitten haben. Weit mehr noch, indem sie die Wechselwirkung aller materiellen Punkte aufeinander immer besser beweist, kommt die Wissenschaft allem Anschein zum Trotz, wie wir sehen werden, zur Idee der universalen Kontinuität zurück. Wissenschaft und Bewußtsein kommen im Grunde überein, vorausgesetzt man faßt das Bewußtsein in seinen unmittelbarsten Daten und die Wissenschaft in ihrem fern1
gelegentlich ] bei Gelegenheit RM.
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sten Trachten ins Auge. Woher kommt also die unwiderstehliche Tendenz, ein diskontinuierliches materielles Universum zu konstituieren, mit Körpern mit scharf umrissenen Kanten, die ihren Platz, das heißt ihr Verhältnis zueinander, ändern? Neben dem Bewußtsein und der Wissenschaft gibt es das Leben. Unterhalb der so sorgfältig von den Philosophen analysierten Prinzipien der Spekulation gibt es jene Tendenzen, deren Studium man vernachlässigt hat und die sich schlicht durch die Notwendigkeit zu leben, das heißt in Wirklichkeit: zu handeln, erklären, in der wir uns befinden. Schon die den individuellen Bewußtseinen verliehene Macht, sich durch Akte zu manifestieren, erfordert die Bildung unterschiedener materieller Zonen, welche jeweils lebenden Körpern entsprechen: In diesem | Sinne sind mein eigener Körper und in Analogie zu ihm die anderen lebenden Körper jene, bei denen ich am meisten Grund habe, sie in der Kontinuität des Universums zu unterscheiden. Ist dieser Körper aber einmal konstituiert und unterschieden, dann führen ihn die Bedürfnisse, die er empfindet, dazu, weitere solche zu unterscheiden und zu konstituieren. Beim Geringsten der Lebewesen erfordert die Ernährung eine Suche, dann eine Berührung, kurz, eine Reihe von Anstrengungen, die auf ein Zentrum zulaufen: Dieses Zentrum wird eben gerade der unabhängige Gegenstand werden, der als Nahrung dienen soll. Welcher Art die Natur der Materie auch sein mag, man kann sagen, daß das Leben dort schon eine erste Diskontinuität herstellt, indem es die Dualität des Bedürfnisses und dessen, was seiner Befriedigung dienen soll, zum Ausdruck bringt. Doch das Bedürfnis, sich zu ernähren, ist nicht das einzige. Um es herum organisieren sich weitere, die alle die Erhaltung des Individuums oder der Art zum Ziel haben: Nun bringt uns aber jedes von ihnen dazu, neben unserem eigenen Körper von ihm unabhängige Körper zu unterscheiden, nach denen wir streben oder die wir fliehen müssen. Unsere Bedürfnisse sind also ebenso viele Lichtkegel, welche, auf die Kontinuität der Empfindungsqualitäten gerichtet, in dieser unterschiedene Körper ab-
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zeichnen. Sie können nur unter der Bedingung befriedigt werden, daß sie sich in dieser Kontinuität einen Körper zuschneiden und dann weitere Körper darin abgrenzen, mit denen dieser in Beziehung tritt wie mit Personen. Diese ganz besonderen Bezüge zwischen den so ausgeschnittenen Teilstücken der Empfindungswirklichkeit herzustellen ist gerade das, was wir leben nennen. Wenn aber diese erste Unterteilung des Realen viel weniger der unmittelbaren Intuition als den fundamentalen Bedürfnissen des Lebens entspricht, wie sollte man dann eine nähere Erkenntnis der Dinge erreichen, indem man die Aufteilung noch weiter vorantreibt? Dadurch führt man die Lebensbewegung fort; der wahren Erkenntnis kehrt man den Rücken. Darum führt uns das plumpe Verfahren, welches | darin besteht, den Körper in Teile zu zerlegen, die von gleicher Natur sind wie er selbst, in eine Sackgasse, wo wir uns bald weder imstande fühlen werden zu begreifen, warum diese Unterteilung haltmachen sollte, noch, wie sie sich ins Unendliche1 fortsetzen könnte. Es stellt in der Tat eine gewöhnliche Form der nützlichen Handlung dar, die unpassenderweise in den Bereich der reinen Erkenntnis übertragen wurde. Man wird also niemals durch Teilchen, was für welche es auch sein mögen, die einfachen Eigenschaften der Materie erklären: Allerhöchstens wird man bis hinab zu Korpuskeln, die ebenso künstlich sind wie der Körper selbst, die Wirkungen und Reaktionen dieses Körpers gegenüber allen anderen verfolgen. Ebendies ist der Gegenstand der Chemie. Sie studiert weniger die Materie als die Körper; man begreift folglich, daß sie bei einem noch mit den allgemeinen Eigenschaften der Materie versehenen Atom haltmacht. Doch die Materialität des Atoms löst sich unter dem Blick des Physikers mehr und mehr auf. Wir haben zum Beispiel keinerlei Grund, uns das Atom eher fest als flüssig oder gasförmig vorzustellen, oder die Wechselwirkung der Atome eher durch Stöße als in jeder anderen Weise. Warum denken wir an 1
ins Unendliche ] endlos RM.
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ein festes Atom und warum an Stöße? Weil die festen Körper diejenigen Körper sind, die für uns, da wir auf sie am offenkundigsten Zugriff haben, in unseren Beziehungen mit der Außenwelt vom größten Interesse sind, und weil die Berührung das einzige Mittel ist, über das wir zu verfügen scheinen, um unseren Körper auf die anderen Körper einwirken zu lassen. Doch sehr einfache Versuche zeigen, daß es zwischen zwei Körpern, die sich anstoßen, niemals eine reale Berührung gibt;1 und andererseits ist die Festheit weit davon entfernt, ein absolut | klar abgegrenzter Zustand der Materie zu sein.2 Festheit und Stoß entlehnen ihre scheinbare Klarheit also den Gewohnheiten und Notwendigkeiten des praktischen Lebens; – Bilder dieser Art werfen keinerlei Licht auf den Grund der Dinge. Wenn es im übrigen eine Wahrheit gibt, die die Wissenschaft über jeden Zweifel erhoben hat, dann ist es die einer Wechselwirkung aller Teile der Materie aufeinander. Zwischen den angenommenen Molekülen der Körper wirken Anziehungs- und Abstoßungskräfte. Der Einfluß der Gravitation erstreckt sich durch die interplanetaren Räume. Etwas existiert also zwischen den Atomen. Man wird einwenden, dies sei nicht mehr Materie, sondern Kraft. Man wird sich zwischen den Atomen gespannte Fäden vorstellen, die man immer schlanker und schlanker werden läßt, bis man sie unsichtbar gemacht hat und sogar, wie man glaubt, immateriell. Doch wozu könnte dieses plumpe Bild dienen? Die Erhaltung des Lebens erfordert zweifellos, daß wir in unserer alltäglichen Erfahrung leblose Dinge und von diesen Dingen im Raum ausgeübte Wirkungen unterscheiden3. Da es uns nützt, den Sitz des Dings an genau dem Punkt festzumachen, an 1 Siehe
zu diesem Thema Maxwell, Action at a distance (Scientific papers, Cambridge 1890, Bd. II, S. 313–314). 2 Maxwell, Molecular constitution of bodies (Scientific papers, Bd. II, S. 618). – Van der Waals hat außerdem die Kontinuität des flüssigen und des gasförmigen Zustands gezeigt. 3 unterscheiden ] voneinander scheiden RM.
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dem wir es berühren könnten, werden seine tastbaren Konturen für uns seine reale Grenze, und wir sehen folglich in seiner Wirkung ein gewisses Etwas, das sich von ihm löst und sich von ihm unterscheidet. Doch da eine Theorie der Materie eben gerade zum Ziel hat, die unter diesen gebräuchlichen, allesamt relativen, auf unsere Bedürfnisse bezogenen Bildern liegende Wirklichkeit wiederzufinden, sind es diese Bilder, von denen sie zuerst Abstand nehmen muß. Und tatsächlich sehen wir, wie Kraft und Materie sich einander mehr und mehr annähern und zueinanderfinden, je weiter der Physiker ihre Effekte vertieft. Wir sehen die Kraft sich materialisieren, das Atom sich idealisieren, diese beiden Terme | gegen eine gemeinsame Grenze konvergieren und das Universum so seine Kontinuität wiederfinden. Man wird noch von Atomen sprechen; das Atom wird für unseren Geist, der es isoliert, sogar seine Individualität bewahren; doch die Festheit und die Trägheit des Atoms werden sich sei es in Bewegungen, sei es in Kraftlinien auflösen, deren wechselseitiger Zusammenhang die universale Kontinuität wiederherstellen wird. Zu diesem Schluß mußten notwendig, obgleich sie von ganz verschiedenen Ausgangspunkten kamen, die beiden Physiker des 19. Jahrhunderts1 gelangen, die am tiefsten in die Beschaffenheit der Materie eingedrungen waren: Thomson und Faraday. Für Faraday ist das Atom ein »Kräftezentrum«. Er versteht darunter, daß die Individualität des Atoms in dem mathematischen Punkt besteht, in dem sich die endlosen, den Raum durchstrahlenden Kraftlinien kreuzen, die es realiter konstituieren: Jedes Atom nimmt so, um es mit Faradays Worten zu sagen, »den gesamten Raum ein, auf den die Gravitation sich erstreckt« und »alle Atome durchdringen sich gegenseitig«.2 Thomson, der sich in eine ganz andere Ordnung von Ideen stellte, nimmt ein perfektes, kontinuierliches, homoge1 In
RM und in der ersten Ausgabe von Matière et mémoire (I) steht
hier anstelle von »19. Jahrhunderts« »dieses Jahrhunderts«. [A. d. Ü.] 2 Faraday, A speculation concerning electric conduction (Philos. magazine, 3. Folge, Band XXIV).
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nes und inkompressibles Fluidum an, das den Raum ausfüllt: Das, was wir Atom nennen, wäre ein in dieser Kontinuität herumwirbelnder Ring von unwandelbarer Form, der seine Eigenschaften seiner Form und seine Existenz sowie folglich seine Individualität seiner Bewegung verdanken würde.1 In beiden Hypothesen aber sehen wir, je weiter wir uns den letzten Elementen der Materie nähern, die Diskontinuität, die unsere Wahrnehmung an der Oberfläche herstellte, dahinschwinden. Die psychologische Analyse hatte uns schon offenbart, daß diese | Diskontinuität relativ, von unseren Bedürfnissen abhängig ist: Jede Naturphilosophie wird letzten Endes feststellen, daß sie mit den allgemeinen Eigenschaften der Materie unvereinbar ist. Offengestanden sind Wirbel und Kraftlinien im Geiste des Physikers nie mehr als bequeme Figuren, die dazu bestimmt sind, die Berechnungen zu schematisieren. Doch die Philosophie muß sich fragen, warum diese Symbole bequemer sind als andere und erlauben, weiter voranzuschreiten. Könnten wir, wenn wir mit ihnen operieren, mit der Erfahrung zusammenfinden, wenn die Begriffe, denen sie entsprechen, uns nicht zumindest eine Richtung anzeigten, in der die Vorstellung des Wirklichen zu suchen wäre? Nun steht aber die Richtung, die sie weisen, außer Zweifel; sie zeigen uns, die konkrete Ausgedehntheit durchstreifend, Modifikationen, Störungen, Änderungen der Spannung oder Energie und nichts anderes. Und insbesondere dadurch neigen sie dazu, sich mit jener rein psychologischen Analyse zu treffen, die wir zuvor von der Bewegung gegeben hatten und die uns diese nicht als eine schlichte Veränderung des Verhältnisses zwischen Gegenständen darstellte, zu denen sie wie ein Akzidenz hinzuträte, sondern als eine echte und in gewisser Weise unabhängige Wirklichkeit. Weder der Wissenschaft noch dem Bewußtsein würde also dieser letzte Satz widerstreben: Thomson, On vortex atoms (Proc. of the Roy. Soc. of Edinb., 1867). – Eine Hypothese derselben Art wurde von Graham geäußert, On the molecular mobility of gases (Proc. of the Roy. Soc., 1863, S. 621 ff.). 1
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IV. – Die wirkliche Bewegung ist eher der Transport eines Zustands als eines Dings. Indem wir diese vier Sätze formuliert haben, haben wir1 in Wirklichkeit nur Schritt für Schritt den Abstand zwischen zwei Termen verringert, die man einander entgegensetzt: die Qualitäten oder Empfindungen und die Bewegungen. Auf den ersten Blick erscheint die Entfernung unüberbrückbar. Die Qualitäten sind untereinander heterogen, die Bewegungen homogen. Die Empfindungen, ihrem Wesen nach unteilbar, | entziehen sich der Messung; die Bewegungen, immer teilbar, unterscheiden sich durch berechenbare Unterschiede in Richtung und Geschwindigkeit. Man beliebt die Qualitäten in Form von Empfindungen ins Bewußtsein zu verlegen, während die Bewegungen sich unabhängig von uns im Raum vollziehen. Diese Bewegungen werden, wenn man sie untereinander kombiniert, immer nur Bewegungen ergeben; durch einen geheimnisvollen Prozeß würde unser Bewußtsein, unfähig, sie zu berühren, sie in Empfindungen übersetzen, welche sich alsdann in den Raum projizieren würden und sich, man weiß nicht wie, auf die Bewegungen legen, die sie übersetzen. Daraus ergeben sich zwei unterschiedliche Welten, die unfähig sind, anders als durch ein Wunder miteinander zu kommunizieren: auf der einen Seite die der Bewegungen im Raum, auf der anderen das Bewußtsein mit den Empfindungen. Und gewiß, der Unterschied zwischen der Qualität auf der einen Seite und der reinen Quantität auf der anderen bleibt, wie wir selbst es einst gezeigt haben, irreduzibel. Doch die Frage ist eben gerade, ob die wirklichen Bewegungen unter sich nur Unterschiede der Quantität aufweisen oder ob sie nicht die Qualität selbst wären, die sozusagen innerlich vibrieren und ihre eigene Existenz in eine oft unermeßliche Anzahl von Momenten skandieren würde. Die Bewegung, die die Mechanik studiert, ist nur eine Abstraktion oder ein Symbol, ein gemeinsames Maß, ein gemeinsamer Nen1
wir ] wir, ehrlich gesagt, RM.
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ner, der es erlaubt, alle realen Bewegungen untereinander zu vergleichen; doch diese Bewegungen, an sich selbst betrachtet, sind Unteilbare, die Dauer beanspruchen, ein Vorher und ein Nachher implizieren1 und die aufeinanderfolgenden Momente der Zeit mit einem Faden variabler Qualität verbinden, der nicht ohne eine gewisse Analogie mit der Kontinuität unseres eigenen Bewußtseins sein wird. Ist es nicht zum Beispiel denkbar, daß die Irreduzi bilität von zwei wahrgenommenen Farben insbesondere an der engen | Dauer liegt, in der sich die Trillionen von Vibrationen zusammenziehen, die sie in einem unserer Augenblicke vollziehen? Wenn wir diese Dauer auseinanderziehen könnten, das heißt, sie in einem langsameren Rhythmus erleben, sähen wir dann nicht, je weiter sich dieser Rhythmus verlangsamen würde, die Farben immer weiter verblassen und sich zu aufeinanderfolgenden Eindrücken in die Länge ziehen, die zweifellos immer noch farbig wären, aber immer näher daran, mit den reinen Schwingungen zu verschmelzen? Spüren wir nicht dort, wo der Rhythmus der Bewegung hinreichend langsam ist, um mit den Gewohnheiten unseres Bewußtseins in Einklang zu kommen – wie es zum Beispiel bei den tiefen Noten der Tonleiter vorkommt –, wie sich die wahrgenommene Qualität von sich aus zu wiederholten und aufeinanderfolgenden Schwingungen zerlegt, die untereinander durch eine innere Kontinuität verbundenen sind? Was der Annäherung gewöhnlich Abbruch tut, ist die angenommene Gewohnheit, die Bewegung an Elemente – Atome oder andere – zu knüpfen, deren Solidität zwischen die Bewegung selbst und die Qualität, zu der sie sich zusammenzieht, gestellt wäre. Da unsere alltägliche Erfahrung uns Körper zeigt, die sich bewegen, scheint es uns, daß, um die elementaren Bewegungen aufrechtzuerhalten, auf welche sich die Qualitäten zurückführen, zumindest Korpuskeln nötig wären. Die Bewegung ist für unser Vorstellungsvermö1 Dauer
… implizieren ] Dauer beanspruchen und die aufeinanderfolgenden Momente RM.
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gen folglich nur noch ein Akzidenz, eine Reihe von Positionen, eine Veränderung von Verhältnissen; und da es ein Gesetz unserer Vorstellung ist, daß das Stabile dort das Instabile verdrängt, wird das wichtige und zentrale Element für uns das Atom, bei dem die Bewegung nur noch die aufeinanderfolgenden Positionen miteinander verbindet. Doch diese Konzeption hat nicht nur den Nachteil, all die Probleme, die die Materie aufwirft, für das Atom wiederauferstehen zu lassen; sie hat nicht nur den Fehler, jener Aufteilung der Materie, die vor allem den Bedürfnissen des Lebens zu entsprechen scheint, einen absoluten Wert zuzumessen; sie läßt darüber hinaus den Prozeß, durch welchen wir | in unserer Wahrnehmung zugleich einen Zustand unseres Bewußtseins und eine von uns unabhängige Wirklichkeit erfassen, unverständlich werden. Dieser Mischcharakter unserer unmittelbaren Wahrnehmung, dieser Anschein realisierten Widerspruchs, ist der hauptsächliche theoretische1 Grund, den wir haben, an eine Außenwelt zu glauben, die nicht absolut mit unserer Wahrnehmung zusammenfällt 2; und da man ihn in einer Lehre, welche die Empfindung zu etwas gegenüber den Bewegungen, von denen sie nur die bewußte Übersetzung wäre, vollkommen3 Heterogenem werden läßt, verkennt, müßte diese Lehre, so scheint es, sich an die Empfindungen halten, die sie zum einzig Gegebenen gemacht hat, und diesen nicht Bewegungen zur Seite stellen, welche ohne möglichen Kontakt mit ihnen nur noch deren nutzloses Duplikat4 sind. Der so verstandene Realismus zerstört sich also selbst. Letzten Endes5 haben wir keine Wahl: Wenn unser Glaube an ein mehr oder minder homogenes Substrat der Empfindungsqualitäten6 fundiert ist, so kann er dies nur durch einen Akt sein, der uns theoretische ] fehlt in RM. die nicht … zusammenfällt ] fehlt in RM. 3 vollkommen ] absolut RM. 4 Duplikat ] Aufdoppelung RM. 5 Letzten Endes ] Offengestanden RM . 6 an … Empfindungsqualitäten ] an eine äußere Wirklichkeit RM. 1
2
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in der Qualität selbst etwas erfassen oder erraten lassen würde, das über unsere Empfindung hinausgeht, als ob diese Empfindung schwanger wäre mit vermuteten und nicht wahrgenommenen Einzelheiten. Ihre Objektivität, das heißt das, was sie über das, was sie gibt, hinaus noch besitzt, würde dann, wie wir ahnen ließen, genau in der unermeßlichen Vielzahl der Bewegungen bestehen, die sie gewissermaßen1 im Inneren ihres Kokons vollzieht. An der Oberfläche liegt sie unbewegt hingebreitet; in der Tiefe jedoch lebt und vibriert sie. Ehrlich gesagt stellt sich niemand das Verhältnis der Quantität zur Qualität anders vor. An Wirklichkeiten zu glauben, die von den wahrgenommenen Wirklichkeiten verschieden sind,2 heißt vor allem anzuerkennen, daß die Reihenfolge unserer Wahrnehmungen von diesen abhängt und nicht von uns. Es muß also im Gesamtzusammenhang der Wahrnehmungen, die einen gegebenen Moment einnehmen, der Grund dessen liegen, was sich im darauffolgenden Moment ereignen wird. Und der Mechanismus formuliert lediglich mit größerer | Präzision diesen Glauben, wenn er behauptet, daß die Zustände der Materie sich auseinander ableiten lassen. Diese Herleitung ist allerdings nur möglich, wenn man unter der scheinbaren Heterogenität der Empfindungsqualitäten homogene und berechenbare Elemente entdeckt. Wenn jedoch andererseits diese Elemente den Qualitäten, deren regelmäßige Ordnung sie erklären sollen, äußerlich sind, können sie den Dienst, den man von ihnen verlangt, nicht mehr erfüllen, da die Qualitäten dann nur durch eine Art Wunder nachträglich zu ihnen hinzutreten und ihnen nur kraft einer prästabilierten Harmonie entsprechen. Man ist also sehr wohl gezwungen, diese Bewegungen in jene Qualitäten zu legen, in Form von inneren Schwingungen, diese Schwingungen als weniger homogen und gewissermaßen ] fehlt in RM. gesagt … verschieden sind, ] Ehrlich gesagt stellt sich niemand die Objektivität anders vor. An Gegenstände zu glauben, die von unserem Wahrnehmungsvermögen unabhängig sind, RM. 1
2 Ehrlich
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diese Qualitäten als weniger heterogen zu betrachten, als sie oberflächlich erscheinen, und den Unterschied des Erscheinungsbilds der beiden Terme der Notwendigkeit zuzuschreiben, der diese gewissermaßen unbeschränkte Vielheit unterworfen ist, sich in einer Dauer zusammenzuziehen, die zu eng ist, um deren Momente zu skandieren. Wir wollen auf diesen letzten Punkt, den wir an anderer Stelle schon einmal kurz angesprochen haben, den wir aber für wesentlich halten, näher eingehen. Die von unserem Bewußtsein erlebte Dauer ist eine Dauer mit einem bestimmten Rhythmus, sehr verschieden von der Zeit, von der der Physiker spricht, welche in einem gegebenen Intervall eine beliebig große Anzahl von Phänomenen sammeln kann. Im Raum einer Sekunde vollzieht das rote Licht – jenes, das die größte Wellenlänge hat und dessen Schwingungen folglich die niedrigste Frequenz aufweisen – 400 Trillionen aufeinanderfolgende Schwingungen. Wenn man sich eine Vorstellung von dieser Zahl machen will, müßte man die Schwingungen weit genug auseinanderziehen, daß unser Bewußtsein sie zählen oder zumindest explizit ihr Nacheinander registrieren könnte, und dann herausfinden, wie viele | Tage, Monate oder Jahre dieses Nacheinander einnehmen würde. Doch das kleinste Intervall leerer Zeit, von dem wir ein Bewußtsein haben, ist, nach Exner, gleich einer Zweitausendstelsekunde; und es ist noch zweifelhaft, ob wir mehrere so kurze Intervalle hintereinander wahrnehmen könnten. Nehmen wir dennoch einmal an, daß wir unbegrenzt dazu imstande wären. Stellen wir uns, mit einem Wort, ein Bewußtsein vor, das dem Defilee von 400 Trillionen Schwingungen beiwohnen würde, die alle momenthaft wären und nur durch die Zweitausendstel Sekunde getrennt, die notwendig ist, um sie zu unterscheiden. Eine sehr einfache Rechnung zeigt, daß man mehr als 25 000 Jahre bräuchte, um die Operation abzuschließen. So entspricht die Empfindung roten Lichts, die von uns in einer Sekunde verspürt wird, an sich einem Nacheinander von Phänomenen, welches, wenn man sie so zeitsparend
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wie irgend möglich in unserer Dauer ausrollt, mehr als 250 Jahrhunderte unserer Geschichte einnehmen würde. Ist das denkbar? Man muß hier zwischen unserer eigenen Dauer und der Zeit im allgemeinen unterscheiden. In unserer Dauer, jener, die unser Bewußtsein wahrnimmt, kann ein gegebenes Intervall nur eine begrenzte Anzahl bewußter Phänomene enthalten. Stellen wir uns nun vor, daß dieser Inhalt zunimmt, und ist es, wenn wir von einer unbegrenzt teilbaren Zeit sprechen, tatsächlich diese Dauer, an die wir denken? Solange es sich um Raum handelt, kann man die Unterteilung so weit vorantreiben, wie man möchte; man wird damit nichts an der Natur dessen ändern, was man unterteilt. Das liegt daran, daß der Raum uns per definitionem äußerlich ist; es liegt daran, daß ein Raumteil uns bestehen zu bleiben scheint, selbst wenn wir aufhören, uns mit ihm zu beschäftigen. Auch mögen wir diesen noch so sehr ungeteilt belassen, wir wissen, daß er warten kann und daß eine neue Bestrebung des Vorstellungsvermögens ihn seinerseits zerlegen würde. Und da er im übrigen nie aufhört, Raum zu sein, impliziert er immer Nebeneinander und folglich | mögliche Unterteilung. Der Raum ist im übrigen im Grunde nur das Schema der unbegrenzten Teilbarkeit. Ganz anders aber verhält es sich mit der Dauer. Die Teile unserer Dauer fallen mit den aufeinanderfolgenden Momenten des Aktes zusammen, der sie unterteilt; so viele Augenblicke wir darin festmachen, so viele Teile wird sie haben; und wenn unser Bewußtsein in einem Intervall nur eine festgelegte Anzahl elementarer Akte ausmachen kann, wenn es mit der Unterteilung irgendwo aufhört, dann hört dort auch die Teilbarkeit auf. Vergeblich strengt unser Vorstellungsvermögen sich an, sich darüber hinwegzusetzen, die letzten Teile ihrerseits zu unterteilen und in gewisser Weise den Kreislauf unserer inneren Phänomene anzuregen: Dieselbe Anstrengung, durch die wir die Unterteilung unserer Dauer weiter vorantreiben möchten, würde diese Dauer im selben Maße verlängern. Und nichtsdestoweniger wissen wir, daß Millionen von Phänomenen
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aufeinanderfolgen, während wir kaum einige von ihnen zu zählen vermögen. Es ist nicht nur die Physik, die uns das sagt; die grobe Sinneserfahrung läßt es uns schon erraten; wir erahnen in der Natur sehr viel schnellere Abfolgen als die unserer inneren Zustände. Wie soll man diese denken, und was ist das für eine Dauer, deren Fassungsvermögen jedes Vorstellungsvermögen übersteigt? Es ist gewiß nicht die unsere; aber es ist ebensowenig jene unpersönliche und homogene Dauer, dieselbe für alles und jeden, die, unterschiedslos und leer, außerhalb dessen verflösse, was dauert. Diese angebliche homogene Zeit ist, wie wir an anderer Stelle zu zeigen versuchten, ein Götzenbild der Sprache, eine Fiktion, deren Ursprung leicht aufzufinden ist. In Wirklichkeit1 gibt es nicht nur einen einzigen Rhythmus der Dauer; man kann sich etliche verschiedene Rhythmen vorstellen, welche als langsamere oder schnellere ein Maß für den Grad der Spannung oder der Erschlaffung der verschiedenen Bewußtseine bieten und dadurch deren respektive Plätze in der Reihe der Wesen festlegen würden. Diese Vorstellung von Dauern | ungleicher Spannkraft ist vielleicht schwer erträglich für unseren Geist, der die nützliche Gewohnheit angenommen hat, die wahre, vom Bewußtsein erlebte Dauer durch eine homogene und eigenständige Zeit zu ersetzen; doch erstens läßt sich, wie wir gezeigt haben, leicht die Illusion entlarven, die eine solche Vorstellung schwer erträglich macht, und zweitens hat diese Idee im Grunde die stillschweigende Zustimmung unseres Bewußtseins für sich. Kommt es denn nicht vor, daß wir, wenn wir schlafen, in uns selbst zwei gleichzeitige und voneinander unterschiedene Personen wahrnehmen, von denen die eine ein paar Minuten schläft, während der Traum der anderen Tage und Wochen einnimmt? Und würde nicht für ein Bewußtsein, das stärker gespannt 2 ist als das unsere und das der 1 2
In Wirklichkeit ] Ehrlich gesagt RM. stärker gespannt ] weniger elastisch RM.
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Entwicklung der Menschheit beiwohnen würde, indem es sie sozusagen zu den großen Phasen ihrer Evolution zusammenzieht, die gesamte Geschichte in eine sehr kurze Zeit hineinpassen? Wahrnehmen besteht also letztlich darin, riesige Perioden einer unendlich verdünnten Existenz in einigen stärker differenzierten Momenten eines intensiveren Lebens zu kondensieren und so eine lange Geschichte zusammenzufassen. Wahrnehmen bedeutet stillstellen. Das heißt, daß wir im Akt der Wahrnehmung etwas erfassen, das über die Wahrnehmung selbst hinausgeht, allerdings ohne daß das materielle Universum deshalb wesentlich von der Vorstellung, die wir davon haben, abweicht oder sich unterscheidet. In einem gewissen Sinne ist meine Wahrnehmung mir durchaus innerlich, da sie das, was sich an sich auf eine unermeßliche Anzahl von Momenten verteilen würde, in einen einzigen Moment meiner Dauer zusammenzieht. Löscht man aber mein Bewußtsein aus, so bleibt das materielle Universum so bestehen, wie es war – nur kehren, da man damit jenen besonderen Rhythmus der Dauer weggestrichen hat, der die Bedingung meines Einwirkens auf die Dinge war, diese Dinge in sich selbst zurück, um sich zu ebenso vielen Momenten zu skandieren, wie die Wissenschaft an ihnen unterscheidet, und | – ohne zu verschwinden – dehnen und verwässern sich die Empfindungsqualitäten in einer unvergleichlich stärker unterteilten Dauer. Die Materie löst sich so in zahllose Schwingungen auf, die alle in einer ununterbrochenen Kontinuität miteinander verbunden sind und untereinander zusammenhängen und die wie lauter Schauer in alle Richtungen laufen. – Wenn man nun, kurz gesagt, die diskontinuierlichen Gegenstände unserer alltäglichen Erfahrung miteinander verbindet, anschließend die unbewegte Kontinuität ihrer Qualitäten in sich auf der Stelle bewegende Schwingungen auflöst und sich an diese Bewegungen heftet, indem man sich von dem ihnen unterspannten teilbaren Raum loslöst, um nur noch die Bewegtheit an ihnen in Betracht zu ziehen – jenen ungeteilten Akt,
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den unser Bewußtsein in den Bewegungen erfaßt, die wir selber ausführen –, dann wird man eine vielleicht für unsere Vorstellungsvermögen ermüdende, aber reine und von dem, was die Erfordernisse des Lebens uns in der äußeren Wahrnehmung dort hinzufügen lassen, befreite Schau der Materie erhalten. – Stellt man nun mein Bewußtsein wieder her, und mit diesem die Erfordernisse des Lebens, dann werden in sehr großen Abständen und jedesmal riesige Perioden der inneren Geschichte der Dinge durchschreitend quasi momenthafte Anblicke aufgenommen, Anblicke, die diesmal pittoresk sind und deren schärfer voneinander abgegrenzte Farben je eine Unendlichkeit elementarer Wiederholungen und Veränderungen kondensieren. Auf diese Weise ziehen sich tausend aufeinanderfolgende Positionen eines Läufers in einer einzigen symbolischen Haltung zusammen, die unser Auge wahrnimmt, die die Kunst reproduziert und die für alle Welt das Bild eines laufenden Menschen wird. Der Blick, den wir von Moment zu Moment um uns werfen, erfaßt also nur die Effekte einer Vielzahl von inneren Wiederholungen und Evolutionen, Effekte, die ebendeshalb diskontinuierlich sind und deren Kontinuität wir durch die relativen Bewegungen, die wir den »Gegenständen« im Raum zuschreiben, wiederherstellen. Die Veränderung ist überall, | aber in der Tiefe; wir lokalisieren sie nur hie und da, doch an der Oberfläche; und so konstituieren wir Körper, die zugleich, was ihre Qualitäten anbelangt, stabil und, was ihre Position angeht, beweglich sind, so daß die universale Transformation in unseren Augen in einer einfachen Ortsbewegung zusammengezogen wird.1 Daß es, in einem gewissen Sinne, vielfache Gegenstände gibt, daß ein Mensch sich von einem anderen Menschen, ein Baum sich von einem Baum und ein Stein sich von einem Stein un1 Hier
[A. d. Ü.]
endet der Artikel in RM mit der Unterschrift »H. Bergson«.
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terscheidet, ist unbestreitbar, da jedes dieser Wesen, jedes dieser Dinge charakteristische Eigenschaften hat und einem festgelegten Evolutionsgesetz gehorcht. Doch die Trennung zwischen dem Ding und seiner Umgebung kann nicht absolut scharf sein; man geht in unmerklichen Abstufungen vom einen zum anderen über: Der enge Zusammenhang, der alle Gegenstände des materiellen Universums verbindet, das beständige Fortwähren ihres wechselseitigen Aufeinanderwirkens und Reagierens, beweist hinreichend, daß sie nicht die präzisen Grenzen besitzen, die wir ihnen zuschreiben. Unsere Wahrnehmung zeichnet in gewisser Weise die Form ihres Residuums ab; sie läßt sie dort enden, wo unser mögliches Einwirken auf sie ein Ende hat und wo sie folglich aufhören, für unsere Bedürfnisse von Interesse zu sein. Das ist die erste und augenfälligste Operation des wahrnehmenden Geistes: Er zeichnet Unterteilungen in die Kontinuität der Ausgedehntheit ein, indem er schlicht den Suggestionen der Bedürfnisse und den Notwendigkeiten des praktischen Lebens nachgibt. Doch um das Wirkliche so aufzuteilen, müssen wir uns zuerst weismachen, daß das Wirkliche willkürlich teilbar ist. Wir müssen folglich unter der Kontinuität der Empfindungsqualitäten, die die konkrete Ausgedehntheit ist, ein Netz mit unendlich verformbaren und unendlich klein werdenden Maschen spannen: Dieses bloß gedachte Substrat, dieses vollständig ideelle Schema der willkürlichen und unbegrenzten Teilbarkeit ist der | homogene Raum. – Zur selben Zeit nun, zu der unsere aktuelle und sozusagen momenthafte Wahrnehmung jene Aufteilung der Materie in eigenständige Gegenstände unternimmt, ver festigt unser Gedächtnis das kontinuierliche Fließen der Dinge zu sinnlichen Qualitäten. Es läßt die Vergangenheit sich in die Gegenwart erstrecken, weil unsere Handlung genau in dem Maße über die Zukunft verfügt, in dem unsere durch das Gedächtnis bereicherte Wahrnehmung die Vergangenheit kontrahiert hat. Auf ein erlittenes Wirken durch eine sofortige Reaktion antworten, die deren Rhythmus übernimmt und sich in derselben Dauer
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fortsetzt; in der Gegenwart sein, und zwar in einer unaufhörlich von neuem beginnenden Gegenwart – das ist das fundamentale Gesetz der Materie: Darin besteht die Notwendigkeit. Wenn es freie Handlungen gibt oder zumindest teilweise indeterminierte, dann können sie nur Wesen zukommen, die imstande sind, das Werden, auf das sich ihr eigenes Werden anwendet, von Zeit zu Zeit festzuhalten und zu unterschiedenen Momenten zu verfestigen, auf diese Weise dessen Materie zu kondensieren und, sie sich einverleibend, zu Reaktionsbewegungen zu verdauen, die durch die Maschen der Naturnotwendigkeit hindurchpassen. Die mehr oder minder hohe Spannung ihrer Dauer, die im Grunde ihre mehr oder minder große Lebensintensität ausdrückt, bestimmt so sowohl die Konzentrationskraft ihrer Wahrnehmung als auch den Grad ihrer Freiheit. Die Unabhängigkeit ihres Einwirkens auf die umgebende Materie tritt immer deutlicher in Erscheinung, je mehr sie sich von dem Rhythmus befreien, in dem diese Materie dahinfließt. So daß die Empfindungsqualitäten, so wie sie in unserer mit Gedächtnis gefütterten Wahrnehmung auftreten, durchaus jene durch die Verfestigung des Wirklichen erhaltenen aufeinanderfolgenden Momente sind. Doch um diese Momente zu unterscheiden und auch um sie miteinander durch ein Band zu verbinden, das unserer eigenen Existenz und der der Dinge gemein ist, sind wir wohl oder übel gezwungen, uns ein abstraktes Schema des Nacheinanders im allgemeinen vorzustellen, ein | homogenes und indifferentes Milieu, das für das Fließen der Materie in bezug auf die Länge dasselbe darstellen würde, was der Raum in bezug auf die Breite ist: darin besteht die homogene Zeit. Homogener Raum und homogene Zeit sind also weder Eigenschaften der Dinge noch wesentliche Bedingungen unserer Fähigkeit, diese zu erkennen: Sie drücken in abstrakter Form die zweifache Tätigkeit der Verfestigung und der Unterteilung aus, der wir die bewegte Kontinuität des Wirklichen unterwerfen, um uns darin Stützpunkte zu verschaffen und Operationszentren festzulegen, kurz: um dort wahre Veränderungen einzuführen; es sind die
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Schemata unseres auf die Materie einwirkenden Handelns. Der erste Irrtum, jener, der darin besteht, aus dieser homogenen Zeit und diesem homogenen Raum Eigenschaften der Dinge zu machen, führt zu den unüberwindlichen Schwierigkeiten des metaphysischen Dogmatismus – Mechanismus oder Dynamismus –, wobei der Dynamismus die aufeinanderfolgenden Querschnitte, die wir in der Länge vom fließenden Universums anfertigen, zu ebenso vielen Absoluten erhebt und sich alsdann vergeblich bemüht, sie durch eine Art qualitative Deduktion wieder miteinander zu verknüpfen, und der Mechanismus sich vielmehr in einem beliebigen dieser Schnitte an die in der Breite vorgenommenen Unterteilungen hält, das heißt an die momenthaften Unterschiede der Größe und der Position, und sich nicht weniger vergeblich bemüht, mit der Variation dieser Unterschiede das Aufeinanderfolgen der Empfindungsqualitäten zu erzeugen. Schließt man sich hingegen der anderen Hypothese an, will man mit Kant, daß der Raum und die Zeit Formen unserer Sinnlichkeit sind, so wird man letzten Endes dazu gebracht, Materie und Geist für gleichermaßen unerkennbar zu erklären. Wenn man nun die beiden entgegengesetzten Hypothesen vergleicht, dann entdeckt man in ihnen einen gemeinsamen Boden: Indem sie aus der homogenen Zeit und dem homogenen Raum entweder kontemplativ betrachtete Realitäten oder Formen kontemplativer Betrachtung machen, schreiben beide dem Raum und | der Zeit ein eher spekulatives als vitales Interesse zu. Fortan gäbe es zwischen dem metaphysischen Dogmatismus auf der einen und der kritischen Philosophie auf der anderen Seite Platz für eine Lehre, die im homogenen Raum und in der homogenen Zeit Prinzipien der im Hinblick auf die Handlung, und nicht die Erkenntnis, in das Wirkliche eingeführten Unterteilung und Verfestigung sehen würde, eine Lehre, die den Dingen eine reale Dauer und eine reale Ausgedehntheit zuschreiben würde und die schließlich den Ursprung aller Schwierigkeiten nicht mehr in jener Dauer und jener Ausgedehntheit sähe, welche tatsächlich den Dingen zu-
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kommen und sich unserem Geist unmittelbar kundtun, sondern in dem homogenen Raum und der homogenen Zeit, die wir unter sie spannen, um das Kontinuierliche zu unterteilen, das Werden festzuhalten und unserer Tätigkeit Ansatzpunkte zu liefern. Doch die irrigen Konzeptionen der Empfindungsqualität und des Raumes sind so tief im Geist verwurzelt, daß man sie gar nicht allseitig genug angreifen kann. Sagen wir also, um einen neuen Aspekt von ihnen aufzudecken, daß sie folgendes zweifache, vom Realismus und Idealismus gleichermaßen akzeptierte Postulat implizieren: 1. Zwischen verschiedenen Gattungen von Qualitäten gibt es nichts Gemeinsames; 2. ebenso gibt es nichts Gemeinsames zwischen der Ausgedehntheit und der reinen Qualität. Wir behaupten hingegen, daß es zwischen Qualitäten verschiedener Ordnung etwas Gemeinsames gibt, daß sie alle in verschiedenen Graden an der Ausgedehntheit teilhaben und daß man diese zwei Wahrheiten nicht verkennen kann, ohne die Metaphysik der Materie, die Psychologie der Wahrnehmung und allgemeiner die Frage des Verhältnisses von Bewußtsein und Materie mit tausend Schwierigkeiten in Bedrängnis zu bringen. Wir wollen uns, ohne näher auf diese Konsequenzen einzugehen, für den Moment darauf beschränken, die beiden von uns bestrittenen Postulate auf dem Grunde der diversen Theorien der Materie aufzuweisen, und bis zu der Illusion zurückgehen, aus der sie hervorgehen. | Das Wesen des englischen Idealismus besteht darin, die Ausgedehntheit für eine Eigenschaft der Tastwahrnehmungen zu halten. Da er in den Empfindungsqualitäten nur Empfindungen sieht und in den Empfindungen selbst nur Seelenzustände, findet er in den verschiedenen Qualitäten nichts, was den Parallelismus ihrer Erscheinungen begründen könnte: Er muß diesen Parallelismus also gezwungenermaßen durch eine Gewohnheit erklären, welche bewirkt, daß die aktuellen Wahrnehmungen des Gesichtssinnes zum Beispiel uns mögliche Empfindungen des Tastsinnes suggerieren. Wenn die Einrücke von zwei verschiedenen Sinnen sich nicht mehr ähneln als die Wörter zweier verschiedener Spra-
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chen, dann würde man vergeblich versuchen, die Daten des einen aus den Daten des anderen abzuleiten; sie haben kein gemeinsames Element. Und es gibt folglich auch nichts Gemeinsames zwischen der Ausgedehntheit, die immer tastbar ist, und den Daten der anderen Sinne neben dem Tastsinn, die in keiner Weise ausgedehnt sind. Doch auch der atomistische Realismus seinerseits, der die Bewegungen in den Raum und die Empfindungen ins Bewußtsein verlegt, kann nichts Gemeinsames zwischen den Modifikationen oder Phänomenen der Ausgedehntheit und den Empfindungen, die diesen entsprechen, feststellen. Diese Empfindungen würden, wie eine Art Phosphorschein, von jenen Modifikationen freigesetzt oder auch die Manifestationen der Materie in die Sprache der Seele übersetzen; doch ebensowenig im einen wie im anderen Fall würden sie das Bild ihrer Ursachen widerspiegeln. Zweifellos gehen sie alle auf einen gemeinsamen Ursprung zurück: die Bewegung im Raum; doch eben gerade weil sie sich außerhalb des Raumes entfalten, verzichten sie, als Empfindungen, auf die Verwandtschaft, die ihre Ursachen miteinander verband. Indem sie mit dem Raum brechen, brechen sie auch miteinander und haben so weder aneinander noch an der Ausdehnung teil. | Idealismus und Realismus unterscheiden sich hier also nur darin, daß der erste die Ausgedehntheit auf die Tastwahrnehmung zurückdrängt, deren exklusive Eigenschaft sie wird, während der zweite die Ausgedehntheit noch weiter zurücktreibt, hinaus aus jeder Wahrnehmung. Doch die beiden Lehren kommen darin überein, die Diskontinuität der verschiedenen Ordnungen der Empfindungsqualitäten, wie auch den jähen Übergang von dem, was rein ausgedehnt ist, zu dem, was in keiner Weise ausgedehnt ist, zu behaupten. Nun leiten sich aber die Hauptschwierigkeiten, auf die sie beide in der Theorie der Wahrnehmung treffen, von diesem gemeinsamen Postulat her. Möchte man nämlich mit Berkeley, daß jede Wahrnehmung von Ausgedehntheit auf den Tastsinn zurückzuführen ist, so
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könnte man zur Not den Daten des Gehörs, des Geruchs und des Geschmacks die Ausdehnung verweigern; man müßte jedoch zumindest die Genese eines visuellen Raumes erklären, der dem tastsinnlichen Raum entspricht. Freilich wird hier angeführt, daß der Gesichtssinn letzten Endes symbolisch für den Tastsinn wird und daß die visuelle Wahrnehmung der Raumverhältnisse nichts weiter als eine Suggestion von Tastwahrnehmungen ist. Doch man wird uns nur schwer begreiflich machen, wie die visuelle Wahrnehmung der Plastizität zum Beispiel, eine Wahrnehmung, die auf uns einen Eindruck sui generis macht, der im übrigen nicht beschreibbar ist, mit der bloßen Erinnerung einer Empfindung des Tastsinnes in eins fallen sollte. Die Assoziation einer Erinnerung mit einer gegenwärtigen Wahrnehmung kann diese Wahrnehmung komplexer gestalten, indem sie sie durch ein bekanntes Element bereichert, sie kann jedoch nicht eine neue Eindrucksart, eine neue Wahrnehmungsqualität erschaffen: Nun weist aber die visuelle Wahrnehmung der Plastizität einen absolut neuartigen Charakter auf. Wird man einwenden, daß sich die Illusion der Plastizität mit einer ebenen Fläche erzeugen läßt? Damit würde man beweisen, daß eine Fläche, auf der das Spiel von Schatten und Licht des plastischen Gegenstandes mehr oder weniger gut nachgeahmt ist, genügt, um uns die Plastizität in Erinnerung zu rufen; doch muß, | damit die Plastizität hier in Erinnerung gerufen wird, sie zuvor erst wirklich wahrgenommen worden sein. Wir haben es schon gesagt, aber wir können es nicht oft genug wiederholen: Unsere Theorien der Wahrnehmung werden vollständig verdorben durch die Idee, daß, wenn eine gewisse Vorrichtung zu einem gegebenen Moment die Illusion einer bestimmten Wahrnehmung produziert, sie immer schon ausgereicht haben kann, um diese Wahrnehmung selbst zu produzieren – als ob die Rolle des Gedächtnisses nicht gerade darin bestünde, dafür zu sorgen, daß die Komplexität der Wirkung die Vereinfachung der Ursache überlebt! Wird man sagen, daß die Netzhaut selbst eine flache Oberfläche ist und daß, wenn wir durch den Gesichtssinn etwas
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Ausgedehntes wahrnehmen, es in jedem Fall nur das retinale Bild sein kann? Ist es aber nicht wahr, daß, wie wir zu Beginn dieses Buches gezeigt haben, in der visuellen Wahrnehmung eines Gegenstandes das Gehirn, die Nerven, die Netzhaut und der Gegenstand selbst ein zusammenhängendes Ganzes bilden, einen kontinuierlichen Prozeß, von dem das retinale Bild nur eine Episode ist: Mit welchem Recht isoliert man dieses Bild, um die gesamte Wahrnehmung in ihm zusammenzufassen? Und könnte ferner, wie wir es ebenfalls gezeigt haben,1 eine Fläche als Fläche anders als in einem Raum wahrgenommen werden, bei dem man die drei Dimensionen wiederherstellen würde? Berkeley zumindest dachte seine These konsequent zu Ende: Er sprach dem Gesichtssinn jede Wahrnehmung der Ausgedehntheit ab. Doch die Einwände, die wir erheben, gewinnen dadurch nur größere Kraft, da man nicht versteht, wie sich durch eine schlichte Assoziation von Erinnerungen das Neuartige erschaffen ließe, das in unseren visuellen Wahrnehmungen der Linie, der Oberfläche und des Volumens liegt, so klaren und eindeutigen Wahrnehmungen, daß der Mathematiker sich mit ihnen zufrieden gibt und normalerweise in einem ausschließlich visuellen Raum denkt. Doch wir wollen nicht auf diesen diversen Punkten beharren, auch nicht auf den anfechtbaren Argumenten, | die aus der Beobachtung operierter Blinder gezogen werden:2 Die seit Berkeley klassische Theorie der erworbenen Wahrnehmungen des Gesichtssinns scheint den vielfachen Angriffen der zeitgenössischen Psychologie nicht standhalten zu können.3 Die Schwierigkeiten psychologischer Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris 1889, S. 77 und 78. 2 Die kritische Ausgabe verweist an anderer Stelle (s. dort S. 320, Anm. 39) darauf, daß es sich hier um eine der wiederkehrenden Anspielungen auf das Molyneux-Problem handelt. [A. d. Ü.] 3 Siehe zu diesem Thema: Paul Janet, La perception visuelle de la distance, Revue philosophique, 1879, Bd. VII, S. 1 ff. – William James, Principles of Psychology, Bd. II, Kap. XXII. – Vgl. zum Thema der visuellen 1
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Ordnung beiseite lassend, beschränken wir uns darauf, die Aufmerksamkeit auf einen anderen Punkt zu lenken, der für uns der wesentliche ist. Nehmen wir für einen Augenblick an, daß der Gesichtssinn uns ursprünglich über keine der Raumbeziehungen unterrichtet. Die visuelle Form, die visuelle Plastizität, die visuelle Entfernung werden dann die Symbole von Tastwahrnehmungen. Doch müßte man uns sagen, warum dieser Symbolismus gelingt. Hier sind die Gegenstände, die ihre Form ändern und die sich bewegen: Der Gesichtssinn stellt bestimmte Variationen fest, die danach vom Tastsinn verifiziert werden. Es gibt also, in den beiden Reihen, der visuellen und der tastsinnlichen, oder in ihren Ursachen etwas, das sie miteinander übereinstimmen läßt und das die Konstanz ihres Parallelismus gewährleistet. Was ist das Prinzip dieser Verbindung? Für den englischen Idealismus kann es nur irgendein Deus ex machina sein, und wir stehen wieder vor einem Mysterium. Für den vulgären Realismus würde sich das Prinzip der Übereinstimmung der Empfindungen untereinander in einem von den Empfindungen unterschiedenen Raum finden; doch diese Lehre schiebt die Schwierigkeit nur auf und verschlimmert sie sogar noch, da sie uns sagen müßte, wie ein System homogener Bewegungen im Raum verschiedene Empfindungen hervorruft, die keinerlei Bezug zu ihnen haben. Vorhin schien uns die Genese der visuellen Raumwahrnehmung durch bloße | Assoziation von Bildern eine wahre Schöpfung ex nihilo zu implizieren; hier nun werden alle Empfindungen aus dem Nichts geboren oder haben zumindest keinerlei Bezug zu der Bewegung, die ihr Anlaß ist. Im Grunde unterscheidet sich diese zweite Theorie viel weniger von der ersten, als man glaubt. Der amorphe Raum und die Atome, die sich gegenseitig schieben und aufeinanderprallen, sind überhaupt nichts anderes als die verobjektivierten, von den anderen Wahrnehmung der Ausgedehntheit: Dunan, L’espace visuel et l’espace tactile (Revue philosophique, Februar und April 1888, Januar 1889).
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Wahrnehmungen aufgrund der außergewöhnlichen Bedeutung, die man ihnen zuschreibt, abgelösten Tastwahrnehmungen, die zu unabhängigen Realitäten erhoben wurden, um so von den anderen Empfindungen unterschieden zu sein, die zu ihren Symbolen werden. Man hat sie in diesem Verfahren im übrigen eines Teils ihres Inhalts beraubt; nachdem man alle Sinne auf den Tastsinn zulaufen ließ, behält man vom Tastsinn selbst nur das abstrakte Schema der Tastwahrnehmung zurück, um mit diesem die Außenwelt zu konstruieren. Muß man sich darüber wundern, daß man zwischen dieser Abstraktion auf der einen Seite und den Empfindungen auf der anderen keine mögliche Verbindung mehr findet? Die Wahrheit aber ist, daß der Raum ebensowenig außerhalb von uns ist wie in uns und daß er nicht einer privilegierten Gruppe von Empfindungen vorbehalten ist. Alle Empfindungen haben an der Ausgedehntheit Anteil; alle sind mehr oder minder tief in der Ausgedehntheit verwurzelt; und die Schwierigkeiten des vulgären Realismus rühren daher, daß wir, nachdem die Verwandtschaft der Empfindungen untereinander extrahiert und in Form des unbegrenzten und leeren Raumes gesondert gesetzt wurde, nicht mehr verstehen, wie diese Empfindungen an der Ausgedehntheit Anteil haben, noch wie sie untereinander übereinstimmen. Die Idee, daß alle unsere Empfindungen zu einem gewissen Grade extensiv sind, dringt in der zeitgenössischen Psychologie mehr und mehr durch. Man vertritt, scheinbar nicht ganz ohne Grund, daß es | keine Empfindung ohne »Extensität«1 gibt oder ohne »ein Gefühl von Volumen«2. Der englische Idealismus geWard, Artikel ›Psychology‹ in der Encyclop. Britannica. W. James, Principles of Psychology, Bd. II, S. 134 ff. – Es sei beiläufig bemerkt, daß man diese Meinung strenggenommen Kant zuschreiben könnte, da die Transzendentale Ästhetik zwischen den Daten der verschiedenen Sinne keinen Unterschied macht, was ihre Ausdehnung im Raum anbelangt. Doch man darf nicht vergessen, daß der Standpunkt der Kritik ein ganz anderer ist als jener der Psychologie und daß es für 1 2
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dachte der Tastwahrnehmung das Monopol der Ausgedehntheit vorzubehalten, während die anderen Sinne nur in dem Maße im Raum aktiv werden würden, in dem sie uns die Daten des Tastsinnes in Erinnerung rufen. Eine aufmerksamere Psychologie offenbart uns hingegen, und dies zweifellos zunehmend besser, die Notwendigkeit, alle Empfindungen für ursprünglich extensiv zu halten, wobei ihre Ausgedehntheit angesichts der überlegenen Intensität und Nützlichkeit der tastsinnlichen Ausgedehntheit und zweifellos auch der visuellen Ausgedehntheit verblaßt und verlischt. So verstanden ist der Raum durchaus das Symbol der Unbeweglichkeit und der Teilbarkeit bis ins Unendliche. Die konkrete Ausgedehntheit, das heißt die Mannigfaltigkeit der Empfindungsqualitäten, ist nicht in ihm; er ist es, den wir in sie hineinlegen. Er ist nicht der Träger, auf den sich die reale Bewegung legt; es ist im Gegenteil die reale Bewegung, die ihn unter sich ablagert. Doch unser Vorstellungsvermögen, dessen Sorge vor allem der Bequemlichkeit des Ausdrucks und den Erfordernissen des materiellen Lebens gilt, zieht es vor, die natürliche Ordnung der Terme umzukehren. Daran gewöhnt, seinen Stützpunkt in einer Welt vollständig konstruierter unbewegter Bilder zu suchen, deren augenscheinliche Unbeweglichkeit vor allem die Unwandelbarkeit unserer niederen Bedürfnisse widerspiegelt, kann es sich nicht daran hindern, die Ruhe für der Bewegtheit vorausliegend zu halten, sie als Bezugspunkt zu nehmen, sich in sie hineinzuversetzen und schließlich in der Bewegung nur noch eine | Variat ion der Entfernung zu sehen, wobei der Raum der Bewegung vorausgeht. Dann wird es in einem homogenen und unbegrenzt teilbaren Raum eine Bahn zeichnen und Positionen festlegen: Die Bewegung anschließend auf die Bahn fügend, möchte es, daß sie teilbar sei wie jene Linie und wie diese bar jeglicher Qualität. Soll ihre Zielsetzung hinreichend ist, daß alle Empfindungen damit enden, im Raum lokalisiert zu sein, wenn die Wahrnehmung ihre endgültige Form erreicht hat.
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es einen da wundern, daß unser Verstand, wenn er sich künftig mit dieser Idee befaßt, die gerade die Umkehrung des Realen darstellt, darin nur Widersprüche entdeckt? Nachdem man die Bewegungen dem Raum assimiliert hat, findet man diese Bewegungen homogen wie den Raum; und da man zwischen ihnen nur noch berechenbare Richtungs- und Geschwindigkeitsunterschiede sehen will, ist jede Beziehung zwischen der Bewegung und der Qualität ausgelöscht. Es bleibt einem also nur noch, die Bewegung im Raum und die Qualitäten im Bewußtsein einzupferchen und zwischen diesen beiden parallelen Reihen, die der Voraussetzung nach unfähig sind, jemals miteinander zusammenzufinden, eine mysteriöse Übereinstimmung herzustellen. Ins Bewußtsein verwiesen, wird die Empfindungsqualität machtlos, die Ausgedehntheit wieder zurückzuerobern. In den Raum verbannt, und zwar in den abstrakten Raum, in dem es immer nur einen einzigen Augenblick gibt und in dem alles immer von neuem beginnt, entbehrt die Bewegung jenes Zusammenhangs der Gegenwart und der Vergangenheit, der ihr Wesen selbst ausmacht. Und da sich diese beiden Aspekte der Wahrnehmung, Qualität und Bewegung, in ein gleichgroßes Dunkel hüllen, wird das Phänomen einer Wahrnehmung, in welcher ein in sich selbst eingeschlossenes und dem Raum fremdes Bewußtsein dasjenige übersetzen würde, was im Raum stattfindet, ein Mysterium. – Wenn wir jedoch jegliche vorgefaßte Idee der Interpretation oder der Messung fallenlassen und uns der unmittelbaren Realität gegenüberstellen, dann sehen wir keine unüberbrückbare Distanz mehr, keinen wesensmäßigen Unterschied, ja nicht einmal mehr eine echte Unterscheidung zwischen der Wahrnehmung und dem wahrgenommenen Ding, zwischen der Qualität und der Bewegung. | So kommen wir auf einem langen Umweg zu den Schlußfolgerungen zurück, die wir im ersten Kapitel dieses Buches heraus gearbeitet hatten. Unsere Wahrnehmung, so sagten wir, ist ursprünglich eher in den Dingen als im Geist, eher außerhalb von
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uns als in uns. Die Wahrnehmungen der verschiedenen Gattungen zeigen ebenso viele echte Richtungen der Realität an. Doch diese Wahrnehmung, die mit ihrem Gegenstand zusammenfällt, existiert, so hatten wir hinzugefügt, eher de jure als de facto: Sie würde im Momenthaften stattfinden. In der konkreten Wahrnehmung greift das Gedächtnis ein, und die Subjektivität der Empfindungsqualitäten rührt eben gerade daher, daß unser Bewußtsein, welches zunächst nur Gedächtnis ist, eine Vielzahl von Momenten sich ineinander erstrecken läßt, um sie in einer einzigen Intuition zusammenzuziehen. Bewußtsein und Materie, Seele und Körper traten so in der Wahrnehmung miteinander in Kontakt. Doch diese Idee blieb in einer gewissen Hinsicht dunkel, weil unsere Wahrnehmung und folglich auch unser Bewußtsein alsdann an der Teilbarkeit teilzuhaben schienen, die man der Materie zuschreibt. Wenn es uns in der dualistischen Hypothese naturgemäß zuwider ist, das partielle Zusammenfallen des wahrgenommenen Objekts mit dem wahrnehmenden Subjekt zu akzeptieren, dann weil wir uns der ungeteilten Einheit unserer Wahrnehmung bewußt sind, während das Objekt uns seinem Wesen nach unbegrenzt teilbar erscheint. Daher die Hypothese eines Bewußtseins mit inextensiven Empfindungen, das einer ausgedehnten Vielheit gegenübersteht. Wenn aber die Teilbarkeit der Materie vollständig relativ, auf unser Einwirken auf sie, das heißt auf unsere Fähigkeit, ihr Erscheinungsbild zu modifizieren, bezogen ist, wenn sie nicht der Materie selbst zukommt, sondern dem Raum, den wir unter diese Materie spannen, um sie unter unseren Zugriff fallen zu lassen, dann verflüchtigt sich die Schwierigkeit. Die ausgedehnte Materie in ihrem Gesamtzusammenhang betrachtet, | ist wie ein Bewußtsein, in dem sich alles ins Gleichgewicht bringt, kompensiert und neutralisiert; sie weist wahrhaft die Unteilbarkeit unserer Wahrnehmung auf; derart, daß wir umgekehrt ohne Bedenken der Wahrnehmung etwas von der Ausgedehntheit der Materie zuschreiben können. So laufen diese zwei Terme, Wahrnehmung
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und Materie, um so stärker aufeinander zu, je mehr wir uns von dem befreien, was man die Vorurteile der Handlung nennen könnte: Die Empfindung erobert sich die Ausdehnung zurück, und die konkrete Ausgedehntheit nimmt wieder ihre natürliche Kontinuität und Unteilbarkeit an. Und der homogene Raum, der sich zwischen den beiden Termen wie eine unüberwindbare Barriere erhob, hat nur noch die Realität eines Schemas oder eines Symbols. Er ist von Interesse für die Vorgehensweisen eines Wesens, das auf die Materie einwirkt, aber nicht für die Arbeit eines Geistes, der über ihr Wesen spekuliert. Eben dadurch erhellt sich in einem gewissen Maße die Frage, auf welche alle unsere Untersuchungen zulaufen, jene der Vereinigung von Seele und Körper. Die Dunkelheit dieses Problems in der dualistischen Hypothese rührt daher, daß man die Materie als wesensmäßig teilbar und jeden Seelenzustand als streng inextensiv betrachtet, derart daß man gleich zu Beginn die Verbindung zwischen den beiden Termen kappt. Und wenn man dieses zweifache Postulat vertieft, dann entdeckt man darin, was die Materie betrifft, eine Verwechslung der konkreten und unteilbaren Ausgedehntheit mit dem teilbaren Raum, der ihr unterspannt ist, wie auch, was den Geist betrifft, die illusorische Idee, daß es keine Grade, keinen möglichen Übergang zwischen dem Ausgedehnten und dem Unausgedehnten gibt. Doch wenn diese zwei Postulate einen gemeinsamen Irrtum bergen, wenn es einen graduellen Übergang von der Idee zum Bild und vom Bild zur Empfindung gibt, wenn sich der Seelenzustand, in dem Maße, in dem er sich auf die Aktualität, das heißt auf die Handlung, hin entwickelt, immer mehr | der Ausdehnung annähert, wenn schließlich diese Ausdehnung, ist sie einmal erreicht, ungeteilt bleibt und dadurch in keiner Weise mit der Einheit der Seele in Konflikt gerät, dann versteht man, daß der Geist im Akt der reinen Wahrnehmung auf der Materie aufsetzen und sich folglich mit ihr vereinen kann und daß er sich nichtsdestoweniger radikal von ihr unterscheidet. Er unterscheidet sich von ihr, insofern er – selbst
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dann – Gedächtnis ist, das heißt Synthese der Vergangenheit und der Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft, insofern er die Momente jener Materie zusammenzieht, um sich ihrer zu bedienen und sich durch Handlungen zu manifestieren, welche der Existenzgrund seiner Vereinigung mit dem Körper sind. Wir sagten also mit Recht zu Beginn dieses Buches, daß die Unterscheidung von Körper und Geist nicht in Abhängigkeit vom Raum, sondern von der Zeit geschehen muß. Das Unrecht des vulgären Dualismus besteht darin, sich auf den Standpunkt des Raumes zu stellen und einerseits die Materie mit ihren Modifikationen in den Raum sowie andererseits die inextensiven Empfindungen ins Bewußtsein zu verlegen. Daher die Unmöglichkeit zu verstehen, wie der Geist auf den Körper wirkt oder der Körper auf den Geist. Daher die Hypothesen, die nichts als maskierte Feststellungen der Tatsachen sind und sein können – die Idee eines Parallelismus oder die einer prästabilierten Harmonie. Doch daher auch die Unmöglichkeit, sei es eine Psychologie des Gedächtnisses, sei es eine Metaphysik der Materie zu konstituieren. Wir haben zu zeigen versucht, daß diese Psychologie und diese Metaphysik zusammenhängen und daß die Schwierigkeiten abnehmen in einem Dualismus, der, ausgehend von der reinen Wahrnehmung, wo Subjekt und Objekt zusammenfallen, die Entwicklung dieser beiden Terme in ihre respektiven Dauern verlegt – die Materie tendiert dann, je weiter man ihre Analyse fortführt, mehr und mehr dazu, lediglich ein Nacheinander von unendlich schnellen Momenten zu sein, die sich auseinander ableiten | und sich dadurch äquivalent sind; und der Geist, der schon Gedächtnis in der Wahrnehmung ist, stellt sich mehr und mehr als eine Erstreckung der Vergangenheit in die Gegenwart heraus, als ein Fortschritt, eine wahre Evolution. Wird aber die Beziehung des Körpers zum Geist dadurch klarer? Wir ersetzen eine räumliche Unterscheidung durch eine zeitliche: Sind die beiden Terme dadurch eher imstande, sich zu vereinen? Man muß bemerken, daß die erste Unterscheidung keine
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Grade zuläßt; die Materie ist im Raum, der Geist ist außerhalb des Raumes; es gibt keinen möglichen Übergang zwischen ihnen. Wenn im Gegenteil die bescheidenste Rolle des Geistes darin besteht, die aufeinanderfolgenden Momente der Dauer der Dinge zu verbinden, wenn es dieses Vorgehen ist, bei dem er Kontakt mit der Materie aufnimmt und durch das er sich gleichzeitig zuallererst von ihr unterscheidet, dann gewahrt man eine Unendlichkeit von Graden zwischen der Materie und dem voll entwickelten Geist, dem Geist, der nicht nur zu indeterminierten, sondern auch zu vernünftigen und überlegten Handlungen fähig ist. Jeder dieser aufeinanderfolgenden Grade, der das Maß einer wachsenden Lebensintensität ist, entspricht einer höheren Spannung der Dauer und übersetzt sich nach außen durch eine höhere Entwicklung des sensomotorischen Systems. Wenn man dieses Nerven system betrachtet, so scheint seine wachsende Komplexität der Aktivität des Lebewesens einen immer größeren Freiraum zu lassen, die Fähigkeit zu warten, bevor es handelt, und den empfangenen Reiz mit einer immer größeren Vielfalt an motorischen Mechanismen in Verbindung zu setzen. Doch das ist nur das Äußere, und die komplexere Organisation des Nervensystems, die eine größere Unabhängigkeit des Lebewesens gegenüber der Materie zu gewährleisten scheint, symbolisiert lediglich materiell ebendiese Unabhängigkeit selbst, das heißt die innere Kraft, die dem Wesen erlaubt, sich vom Rhythmus des Flusses der | Dinge zu befreien und die Vergangenheit immer besser zu behalten, um die Zukunft immer tiefgreifender zu beeinflussen, das heißt kurz gesagt, in dem speziellen Sinn, den wir diesem Wort verleihen: sein Gedächtnis. So gibt es zwischen der rohen Materie und dem der Reflexion fähigsten Geist alle möglichen Intensitäten des Gedächtnisses oder, was auf dasselbe hinausläuft, alle Grade der Freiheit. In der ersten Hypothese, jener, die die Unterscheidung von Geist und Körper in den Kategorien des Raumes ausdrückt, sind Körper und Geist wie zwei Bahngleise, die sich im rechten Winkel schneiden; in der zweiten laufen die Schienen in einer
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Kurve zusammen, derart, daß man unmerklich von einem Gleis auf das andere übergeht. Doch ist dies mehr als ein Bild? Und bleibt nicht eine scharfe Unterscheidung, ein irreduzibler Gegensatz zwischen der Materie im eigentlichen Sinne und dem bescheidensten Grad von Freiheit oder Gedächtnis? Ja zweifellos, die Unterscheidung bleibt bestehen, doch die Vereinigung wird möglich, da sie in der reinen Wahrnehmung unter der radikalen Form des partiellen Zusammenfalls gegeben wäre. Die Schwierigkeiten des vulgären Dualismus rühren nicht daher, daß die beiden Terme sich unterscheiden, sondern daher, daß man nicht sieht, wie der eine der beiden sich auf den anderen aufpflanzt. Nun wäre aber, wie wir gezeigt haben, die reine Wahrnehmung, die der niedrigste Grad des Geistes wäre – der Geist ohne das Gedächtnis –, wahrhaft Teil der Materie, wie wir sie verstehen. Gehen wir noch etwas weiter: Das Gedächtnis greift hier nicht wie eine Funktion ein, von der die Materie nichts ahnen und die sie nicht schon auf ihre Weise imitieren würde. Wenn die Materie sich nicht an die Vergangenheit erinnert, dann weil sie die Vergangenheit unaufhörlich wiederholt, weil sie, der Notwendigkeit unterworfen, eine Reihe von Momenten entrollt, von denen jeder dem vorhergehenden äquivalent ist und sich aus ihm ableiten läßt: So ist ihre Vergangenheit wahrhaft in | ihrer Gegenwart gegeben. Ein Wesen aber, das sich mehr oder weniger frei entwickelt, erschafft in jedem Moment etwas Neues: Vergeblich also würde man versuchen, seine Vergangenheit in seiner Gegenwart zu lesen, wenn die Vergangenheit sich nicht im Zustand der Erinnerung in ihm ablagern würde. So muß aus ähnlichen Gründen, um eine in diesem Buch schon mehrmals verwendete Metapher wieder aufzugreifen, die Vergangenheit durch die Materie nachgespielt1 und durch den Geist bildlich vorgestellt werden. | 1 Zu
dieser Metapher und ihrer Übersetzung siehe Nachwort d. Ü., S. 311 ff. [A. d. Ü.]
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Z USA M M EN FAS SU NG U N D SCH LUS S
I. – Die Idee, die wir aus den Tatsachen herausgearbeitet und durch die Vernunftüberlegung bestätigt haben, ist, daß unser Körper ein Instrument der Handlung ist, und nur der Handlung. Zu keinem Grade, in keinem Sinne und in keiner Hinsicht dient er dazu, eine Vorstellung vorzubereiten, und noch weniger, sie zu erklären. Was die äußere Wahrnehmung anbelangt, so besteht nur ein Unterschied des Grades und nicht des Wesens zwischen den sogenannten perzeptiven Fähigkeiten des Gehirns und den Reflexfunktionen des Rückenmarks. Während das Rückenmark die empfangenen Schwingungen in mehr oder weniger notwendig ausgeführte Bewegungen umwandelt, setzt das Gehirn sie mit mehr oder weniger frei gewählten motorischen Mechanismen in Verbindung; doch das, was sich in unseren Wahrnehmungen durch das Gehirn erklärt, sind unsere begonnenen oder vorbereiteten oder suggerierten Handlungen und nicht unsere Wahrnehmungen selbst. – Was die Erinnerung anbelangt, so bewahrt der Körper die motorischen Gewohnheiten, die in der Lage sind, die Vergangenheit von neuem zu vollziehen*; er kann Haltungen wieder annehmen, in die die Vergangenheit sich einfügen wird; oder auch durch die Wiederholung gewisser Hirnphänomene, die frühere Wahrnehmungen fortgeführt haben, der Erinnerung einen Anknüpfungspunkt mit dem Aktuellen liefern, ein Mittel, sich auf die gegenwärtige Realität einen verlorenen Einfluß zurückzuerobern: In keinem Fall jedoch wird das Gehirn Erinnerungen oder Bilder einlagern. So trägt der Körper weder in der Wahrnehmung noch im Gedächtnis und noch viel weniger in den | höheren Operationen des Geistes direkt zur Vorstellung bei. Indem wir diese Hypothese unter ihren vielfältigen Aspekten entwickelten und so den Dualismus auf die Spitze trieben, schie-
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nen wir zwischen Körper und Geist einen unüberbrückbaren Abgrund auszuheben. In Wirklichkeit wiesen wir den einzig möglichen Weg, sie einander anzunähern und miteinander zu vereinen. II. – Alle Schwierigkeiten, die dieses Problem aufwirft, sei es im vulgären Dualismus, sei es im Materialismus und im Idealismus, kommen nämlich daher, daß man in den Phänomenen der Wahrnehmung und des Gedächtnisses das Physische und das Geistige als Duplikate voneinander betrachtet. Wenn ich mich zum Beispiel auf den materialistischen Standpunkt des EpiphänomenBewußtseins stelle, dann verstehe ich überhaupt nicht, warum gewisse Hirnphänomene von Bewußtsein begleitet werden, das heißt, wozu die bewußte Wiederholung des zuvor gesetzten materiellen Universums dient und wie sie zustande kommt. – Gehe ich nun zum Idealismus über, so würde ich nur Wahrnehmungen als gegeben nehmen, und mein Körper wäre eine von ihnen. Doch während die Beobachtung mir zeigt, daß die wahrgenommenen Bilder sich aufgrund sehr leichter Variationen des Bildes, das ich meinen Körper nenne, von Grund auf umgestalten (da ich nur meine Augen zu schließen brauche, damit mein visuelles Universum verschwindet), versichert mir die Wissenschaft, daß alle Phänomene nach einer bestimmten Ordnung, in der die Wirkungen den Ursachen streng proportional sind, aufeinanderfolgen und sich bedingen müssen. Ich werde also gezwungen sein, in diesem Bild, das ich meinen Körper nenne und das mir überall hin folgt, Veränderungen zu suchen, welche die dieses Mal sorgfältig aufeinander ausgerichteten und einander exakt angemessenen Äquivalente der Bilder sind, die um meinen Körper herum aufeinanderfolgen: Die zerebralen Bewegungen, auf die ich so wieder stoße, werden wiederum zum | Duplikat meiner Wahrnehmungen. Zwar werden diese Bewegungen noch immer Wahrnehmungen sein, »mögliche« Wahrnehmungen, derart, daß diese zweite Hypothese verständlicher ist als die andere; doch im Gegenzug wird sie ihrerseits eine unerklärliche Übereinstimmung zwischen meiner wirklichen Wahrnehmung der Dinge und mei-
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ner möglichen Wahrnehmung gewisser zerebraler Bewegungen annehmen müssen, die diesen Dingen in keiner Weise ähneln. Man schaue genauer hin: Man wird sehen, daß dies die Klippe ist, die jeder Idealismus zu umschiffen hat; sie liegt in dem Übergang von der Ordnung, die uns in der Wahrnehmung erscheint, zu der Ordnung, die uns in der Wissenschaft zum Erfolg verhilft – oder, wenn es sich spezieller um den Kantischen Idealismus handelt, in dem Übergang von der Sinnlichkeit zum Verstand. – Bliebe also noch der vulgäre Dualismus. Ich werde die Materie auf die eine Seite stellen und den Geist auf die andere und annehmen, daß die zerebralen Bewegungen Ursache oder Anlaß meiner Vorstellung der Gegenstände sind. Wenn sie jedoch deren Ursache sind, wenn sie ausreichen, um sie zu erzeugen, werde ich Schritt für Schritt in die materialistische Hypothese des Epiphänomen-Bewußtseins zurückfallen. Sind sie aber nur ihr Anlaß, so bedeutet das, daß sie ihr in keiner Weise ähneln; und indem ich dann die Materie all der Qualitäten entkleide, die ich ihr in meiner Vorstellung verliehen habe, ist es der Idealismus, zu dem ich zurückkehren werde. Idealismus und Materialismus sind also die beiden Pole, zwischen denen diese Art von Dualismus immer hin und her pendeln wird; und wenn er sich, um die Dualität der Substanzen zu erhalten, entschließt, beide Substanzen auf denselben Rang zu erheben, so wird er dazu gebracht, in ihnen zwei Übersetzungen eines selben Originals, zwei parallele und im vorhinein festgelegte Entfaltungen ein und desselben Prinzips zu sehen, so ihren wechselseitigen Einfluß aufeinander zu leugnen und, als unausweichliche Folge, die Freiheit zu opfern. | Wenn ich nun hinter diese drei Hypothesen zurückgehe, dann entdecke ich einen ihnen gemeinsamen Boden: Sie halten die elementaren Operationen des Geistes, Wahrnehmung und Gedächtnis, für Operationen reiner Erkenntnis. Das, was sie an den Ursprung der Erkenntnis stellen, ist mal das nutzlose Duplikat einer äußeren Realität, mal die leblose Materie einer gänzlich interesselosen intellektuellen Konstruktion: Doch immer vernach-
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lässigen sie den Bezug der Wahrnehmung zur Handlung und der Erinnerung zum Verhalten. Nun läßt sich zweifellos als eine ideale Grenze ein interesseloses Gedächtnis und eine interesselose Wahrnehmung denken; de facto aber ist es die Handlung, auf die Wahrnehmung und Gedächtnis gerichtet sind, und es ist diese Handlung, die der Körper vorbereitet. Nimmt man die Wahrnehmung, so setzt die wachsende Komplexität des Nerven systems die empfangenen Schwingungen mit einer immer beachtlicheren Vielfalt motorischer Apparate in Verbindung und läßt so gleichzeitig eine immer größere Zahl möglicher Handlungen sich abzeichnen. Betrachtet man das Gedächtnis, so besteht seine primäre Funktion darin, alle vergangenen Wahrnehmungen heraufzubeschwören, die einer gegenwärtigen Wahrnehmung analog sind, uns in Erinnerung zu rufen, was vorausgegangen ist und was folgte, und uns so die nützlichste Entscheidung zu suggerieren. Doch das ist nicht alles. Indem es uns in einer einzigen Intuition vielfache Momente der Dauer ergreifen läßt, befreit es uns aus der Bewegung des Flusses der Dinge, das heißt aus dem Rhythmus der Notwendigkeit. Je mehr von diesen Momenten es in einem einzelnen zusammenzuziehen vermag, um so gefestigter ist der Zugriff, den es uns auf die Materie bietet; derart, daß das Gedächtnis eines Lebewesens vor allem das Maß der Macht seines Einwirkens auf die Dinge darzustellen und lediglich dessen intellektueller Widerhall zu sein scheint. Gehen wir also von dieser Handlungskraft als dem wahren Prinzip aus; nehmen wir an, daß der Körper ein Handlungszentrum, | und nur ein Handlungszentrum, ist, und sehen wir, welche Konsequenzen sich daraus für die Wahrnehmung, das Gedächtnis und das Verhältnis von Körper und Geist ergeben. III. – Die Wahrnehmung zuerst: Hier haben wir meinen Körper mit seinen »Wahrnehmungszentren«. Diese Zentren werden in Schwingung versetzt, und ich habe die Vorstellung der Dinge. Andererseits habe ich angenommen, daß diese Schwingungen meine Wahrnehmung weder erzeugen noch übersetzen könn-
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ten. Sie ist folglich außerhalb von ihnen. Wo ist sie? Ich wüßte nicht zu zögern: Indem ich meinen Körper gesetzt habe, habe ich ein bestimmtes Bild gesetzt, doch dadurch auch die Totalität der übrigen Bilder, da es keinen materiellen Gegenstand gibt, der seine Qualitäten, seine Bestimmungen, kurz: seine Existenz nicht dem Platz verdankt, den er im Gesamtzusammenhang des Universums einnimmt. Meine Wahrnehmung kann also nur etwas von diesen Gegenständen selbst sein; sie ist eher in ihnen, als daß diese in ihr sind. Doch was genau von diesen Gegenständen ist sie? Ich sehe, daß meine Wahrnehmung den sogenannten sensiblen Nervenschwingungen bis ins Detail zu folgen scheint, und andererseits weiß ich, daß die Rolle dieser Schwingungen einzig darin besteht, Reaktionen meines Körpers auf die umgebenden Körper vorzubereiten, meine virtuellen Handlungen zu skizzieren. Das heißt also, daß Wahrnehmen darin besteht, von der Gesamtheit der Gegenstände das mögliche Einwirken meines Körpers auf sie abzuheben. Die Wahrnehmung ist folglich nur eine Selektion. Sie erschafft nichts; ihre Rolle besteht im Gegenteil darin, aus der Gesamtheit der Bilder alle jene zu eliminieren, auf die ich keinerlei Zugriff hätte, und dann von jedem der zurückbehaltenen Bilder selbst all das, was für die Bedürfnisse des Bildes, das ich meinen Körper nenne, nicht von Interesse ist. So sieht zumindest die sehr vereinfachte Erklärung, die schematische Beschreibung dessen aus, was wir die reine Wahrnehmung genannt haben. Wir wollen hier sogleich die Position kenntlich machen, die wir damit zwischen Realismus und Idealismus einnehmen. | Daß jede Realität eine Verwandtschaft, eine Analogie, kurz: einen Bezug zum Bewußtsein hat, das ist es, was wir dem Idealismus eben dadurch, daß wir die Dinge »Bilder« nannten, zugestanden. Keine philosophische Lehre, vorausgesetzt, daß sie mit sich selbst in Einklang ist, kann im übrigen dieser Schlußfolgerung entgehen. Würde man aber alle Bewußtseinszustände – die vergangenen, gegenwärtigen und möglichen – aller bewußten Wesen miteinander vereinen, so hätte man damit, uns zufolge, nur einen
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sehr kleinen Teil der materiellen Realität ausgeschöpft, weil die Bilder nach allen Seiten über die Wahrnehmung hinausreichen. Eben gerade diese Bilder sind es, die die Wissenschaft und die Metaphysik rekonstruieren möchten und damit eine Kette in ihrer Gesamtheit wiederherstellen, von der unsere Wahrnehmung nur ein paar Glieder in Händen hält. Um jedoch auf diese Weise zwischen der Wahrnehmung und der Wirklichkeit das Verhältnis des Teils zum Ganzen herzustellen, mußte man der Wahrnehmung ihre wahre Rolle belassen, welche darin besteht, Handlungen vorzubereiten. Eben das tut der Idealismus nicht. Warum scheitert er, wie wir vorhin sagten, daran, von der Ordnung, die sich in der Wahrnehmung bekundet, zu der Ordnung, die in der Wissenschaft Erfolg hat, überzugehen, das heißt von der Kontingenz, mit der unsere Empfindungen aufeinander zu folgen scheinen, zum Determinismus, der die Naturerscheinungen bindet? Genau deshalb, weil er dem Bewußtsein in der Wahrnehmung eine spekulative Rolle zuschreibt, derart, daß man überhaupt nicht mehr versteht, welches Interesse dieses Bewußtsein hätte, sich zum Beispiel die Zwischenglieder zwischen zwei Empfindungen, durch welche sich die zweite aus der ersten ableitet, entgleiten zu lassen. Es sind diese Zwischenglieder und ihre strenge Ordnung, die folglich dunkel bleiben, sei es, daß man diese Zwischenglieder, gemäß der Millschen Formulierung, zu »möglichen Empfindungen« erhebt, sei es, daß man diese Ordnung, wie Kant es tut, dem durch den unpersönlichen Verstand hergestellten Unterbau zuschreibt. Nehmen wir aber an, daß meine | Wahrnehmung eine gänzlich praktische Bestimmung hätte, daß sie schlicht in der Gesamtheit der Dinge das abzeichnen würde, was für mein mögliches Einwirken auf diese von Interesse ist, dann begreife ich, daß alles übrige mir entgeht und daß dennoch alles übrige von derselben Natur ist, wie das, was ich wahrnehme. Meine Erkenntnis der Materie ist dann weder subjektiv, wie sie es für den englischen Idealismus ist, noch relativ, wie es der Kantische Idealismus will. Sie ist nicht subjektiv, weil sie eher in den Dingen ist
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als in mir. Sie ist nicht relativ, weil zwischen dem »Phänomen« und dem »Ding« nicht das Verhältnis der Erscheinung zur Wirklichkeit besteht, sondern einfach das des Teils zum Ganzen. Dadurch scheinen wir zum Realismus zurückzukehren. Doch der Realismus ist, wenn man ihn nicht in einem wesentlichen Punkt korrigiert, genauso inakzeptabel wie der Idealismus und aus demselben Grund. Der Idealismus, sagten wir, vermag nicht, von der Ordnung, die sich in der Wahrnehmung bekundet, zu der Ordnung, die in der Wissenschaft Erfolg hat, das heißt zur Wirklichkeit, überzugehen. Umgekehrt scheitert der Realismus daran, aus der Wirklichkeit die unmittelbare Erkenntnis zu ziehen, die wir von ihr haben. Versetzt man sich nämlich in den vulgären Realismus, so hat man auf der einen Seite eine vielfache Materie, die aus mehr oder weniger unabhängigen Teilen zusammengesetzt und im Raum zerstreut ist, und auf der anderen einen Geist, der keinen Berührungspunkt mit ihr haben kann, es sei denn, er wäre, wie die Materialisten es wollen, ihr unbegreifliches Epi phänomen. Zieht man lieber den Kantischen Realismus in Erwägung, so findet man zwischen dem Ding an sich, das heißt dem Wirklichen, und der sinnlichen Mannigfaltigkeit, aus der wir unsere Erkenntnis konstruieren, keinen denkbaren Bezug, keinerlei gemeinsames Maß. Vertieft man nun diese beiden Extremformen des Realismus, sieht man sie auf einen gemeinsamen Punkt zulaufen: Eine wie die andere richten den homogenen Raum wie eine | Schranke zwischen der Intelligenz und den Dingen auf. Der naive Realismus macht aus diesem Raum ein reales Medium, in dem die Dinge schweben; der Kantische Realismus sieht darin ein ideales Medium, in dem sich die Vielheit der Empfindungen koordiniert; doch für den einen wie den anderen ist dieses Medium zuerst gegeben, als die notwendige Bedingung dessen, was darin Platz nehmen wird. Und wenn man nun diese gemeinsame Hypothese ihrerseits vertieft, dann stellt man fest, daß sie darin besteht, dem homogenen Raum eine interesselose Rolle zuzuschreiben, sei es, daß er der materiellen Wirklichkeit den
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Dienst erweist, sie zu stützen, sei es, daß er die wiederum gänzlich spekulative Funktion hat, den Empfindungen die Möglichkeit zu bieten, sich untereinander zu koordinieren; derart, daß die Dunkelheit des Realismus wie die des Idealismus daher rührt, daß er unsere bewußte Wahrnehmung und die Bedingungen unserer bewußten Wahrnehmung auf die reine Erkenntnis ausrichtet und nicht auf die Handlung. – Nehmen wir nun aber einmal an, daß dieser homogene Raum den materiellen Dingen und der reinen Erkenntnis, die wir von ihnen haben können, nicht logisch vorausliegt, sondern ihnen nachgeordnet ist; nehmen wir an, daß die Ausgedehntheit dem Raum vorausgeht; nehmen wir an, daß der homogene Raum für unsere Handlung, und nur für unsere Handlung, relevant ist, gleich einem unendlich unterteilten Netz, das wir unter die materielle Kontinuität spannen, um ihrer Herr zu werden, um sie im Sinne unserer Aktivitäten und unserer Bedürfnisse zu zerlegen. Dann gewännen wir dadurch nicht nur, daß wir wieder mit der Wissenschaft zusammenfänden, die uns jedes Ding als seinen Einfluß auf alle anderen ausübend und folglich in einem gewissen Sinne die Totalität der Ausgedehntheit einnehmend zeigt (wenngleich wir von diesem Ding nur sein Zentrum wahrnehmen und seine Grenzen dort ziehen, wo der Zugriff unseres Körpers auf es aufhören würde). Wir gewännen damit nicht nur, in der Metaphysik die Widersprüche, die die Teilbarkeit im Raum aufwirft, aufzulösen oder | zu mildern, Widersprüche, die, wie wir gezeigt haben, immer daraus geboren werden, daß man die beiden Standpunkte der Handlung und der Erkenntnis nicht voneinander trennt. Wir gewännen dadurch vor allem, daß die unüberwindliche Schranke, die der Realismus zwischen den ausgedehnten Dingen und der Wahrnehmung, die wir von ihnen haben, aufrichtete, fallen würde. Während man nämlich auf der einen Seite eine vielfache und unterteilte äußere Realität setzte und auf der anderen der Ausgedehntheit fremde Empfindungen ohne möglichen Kontakt mit ihr, werden wir uns gewahr, daß die konkrete Ausgedehntheit nicht wirklich unterteilt ist, ebensowenig
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wie die unmittelbare Wahrnehmung wahrhaft inextensiv ist. Vom Realismus ausgehend, kommen wir so zum selben Punkt, an den uns der Idealismus geführt hatte; wir versetzen die Wahrnehmung in die Dinge zurück. Und wir sehen, wie Realismus und Idealismus ganz nahe daran sind, miteinander zur Deckung zu kommen, je weiter wir das von beiden diskussionslos akzeptierte Postulat, das ihnen als gemeinsame Grenze diente, zurückweisen. Zusammengefaßt: Wenn wir eine ausgedehnte Kontinuität annehmen und in dieser Kontinuität selbst das Zentrum wirklicher Handlung, das durch unseren Körper dargestellt wird, dann scheint diese Tätigkeit mit ihrem Licht all die Teile der Materie zu erleuchten, auf die sie im jeweiligen Augenblick Zugriff hätte. Dieselben Bedürfnisse und dasselbe Handlungspotential, die unseren Körper in der Materie ausgeschnitten haben, werden die unterschiedenen Körper in dem uns umgebenden Milieu abgrenzen. Alles wird sich so abspielen, als ob wir das reale Wirken der äußeren Dinge filtern würden, um darin das virtuelle Wirken festzumachen und zurückzubehalten: Diese virtuelle Wirkung der Dinge auf unseren Körper und unseres Körpers auf die Dinge ist unsere Wahrnehmung selbst. Doch da die Schwingungen, die unser Körper von den umgebenden Körpern auffängt, in seiner Substanz ohne Unterlaß | aufkeimende Reaktionen bewirken und diese inneren Bewegungen der Hirnsubstanz so in jedem Moment die Skizze unseres möglichen Einwirkens auf die Dinge liefern, entspricht der Hirnzustand exakt der Wahrnehmung. Er ist weder ihre Ursache noch ihre Wirkung, noch in irgendeinem Sinne ihr Duplikat: Er führt sie schlicht fort, insofern die Wahrnehmung unsere virtuelle Handlung und der Hirnzustand unsere begonnene Handlung ist. IV. – Doch diese Theorie der »reinen Wahrnehmung« mußte in zwei Punkten zugleich eingeschränkt und ergänzt werden. Diese reine Wahrnehmung nämlich, die gleichsam ein so, wie es ist, von der Realität abgelöstes Fragment wäre, wäre einem Wesen vorbehalten, welches in die Wahrnehmung der anderen Körper
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nicht diejenige seines eigenen Körpers, das heißt seine affektiven Empfindungen, mischen würde, noch in seine Intuition des aktuellen Moments diejenige der anderen Momente, das heißt seine Erinnerungen. Mit anderen Worten, wir haben zuerst der Bequemlichkeit der Untersuchung zuliebe den lebendigen Körper wie einen mathematischen Punkt im Raum und die bewußte Wahrnehmung wie einen mathematischen Augenblick in der Zeit behandelt. Dem Körper mußte seine Ausgedehntheit und der Wahrnehmung ihre Dauer zurückgegeben werden. Dadurch ließen wir die zwei subjektiven Elemente des Bewußtseins wieder in dieses zurückkehren: die Affektivität und das Gedächtnis. Was ist eine affektive Empfindung? Unsere Wahrnehmung, sagten wir, zeichnet das mögliche Einwirken unseres Körpers auf die anderen Körper ab. Doch ist unser Körper, da er ausgedehnt ist, imstande, ebensogut auf sich selbst einzuwirken wie auf die anderen. In unsere Wahrnehmung wird also etwas von unserem Körper eingehen. Gleichwohl sind, wenn es um die umgebenden Körper geht, diese der Voraussetzung nach vom unseren durch einen mehr oder weniger beachtlichen Zwischenraum getrennt, der die Entferntheit ihrer Verheißungen oder ihrer Bedrohungen in der Zeit angibt: Das ist der Grund, warum unsere Wahrnehmung dieser Körper | nur mögliche Handlungen abzeichnet. Je weiter hingegen die Entfernung zwischen diesen Körpern und dem unseren abnimmt, um so mehr neigt die mögliche Handlung dazu, sich in wirkliche Handlung zu verwandeln, wobei die Handlung um so dringlicher wird, je geringer die Entfernung ist. Und wenn diese Entfernung gleich Null wird, das heißt, wenn der wahrzunehmende Körper unser eigener Körper ist, dann ist es ein reales und nicht mehr virtuelles Wirken, das unsere Wahrnehmung abzeichnet. Das ist gerade die Natur des Schmerzes, einer aktuellen Anstrengung des geschädigten Teiles, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, eine lokale, isolierte Anstrengung, die eben dadurch in einem Organismus, der nur noch zu Gesamteffekten taugt, zum Mißerfolg verdammt ist. Der Schmerz ist also an dem
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Ort, an dem er auftritt, so, wie der Gegenstand an dem Platz ist, an dem er wahrgenommen wird. Zwischen der verspürten affektiven Empfindung und dem wahrgenommenen Bild besteht jener Unterschied, daß die affektive Empfindung in unserem Körper ist und das Bild außerhalb unseres Körpers. Und darum ist die Oberfläche unseres Körpers, die gemeinsame Grenze dieses Körpers und der anderen Körper, uns zugleich in Form von Empfindungen und in Form eines Bildes gegeben. In dieser Innerlichkeit der affektiven Empfindung besteht ihre Subjektivität, in dieser Äußerlichkeit der Bilder im allgemeinen deren Objektivität. Doch wir stoßen hier wieder auf den unaufhörlich neu erstehenden Irrtum, den wir während des ganzen Laufs unserer Arbeit verfolgt haben. Man möchte, daß Empfindung und Wahrnehmung um ihrer selbst willen existieren; man schreibt ihnen eine gänzlich spekulative Rolle zu; und da man jene realen und virtuellen Handlungen vernachlässigt hat, mit denen sie eine Einheit bilden und die dazu dienen würden, sie zu unterscheiden, kann man zwischen ihnen nur noch einen Gradunterschied feststellen. Dann wird man, die Tatsache ausnutzend, daß die affektive Empfindung nur vage lokalisiert ist (aufgrund der Verschwommenheit der Anstrengung, die sie in sich schließt), sie sogleich für inextensiv erklären; und man macht aus diesen abgeschwächten affektiven bzw. inextensiven Empfindungen die | Materialien, aus denen wir Bilder im Raum konstruieren würden. Dadurch verdammt man sich dazu, weder zu erklären, woher die Elemente des Bewußtseins oder die Empfindungen kommen, die man als ebenso viele Absolute setzt, noch, wie diese Empfindungen als inextensive wieder mit dem Raum zusammenfinden, um sich darin zu koordinieren, noch, warum sie dort eher die eine Ordnung als eine andere annehmen, noch schließlich, auf welchem Wege es ihnen gelingt, eine stabile, allen Menschen gemeinsame Erfahrung zu konstituieren. Es ist im Gegenteil diese Erfahrung – der notwendige Schauplatz unserer Tätigkeit –, von der man ausgehen muß. Es ist also die reine Wahrnehmung, das
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heißt das Bild, das man zuerst als gegeben nehmen muß. Und die Empfindungen, weit davon entfernt, die Materialien zu sein, aus denen das Bild hergestellt wird, würden im Gegenteil als die Unreinheit erscheinen, die sich dort hineinmischt, da sie das sind, was wir von unserem Körper in alle anderen hineinprojizieren. V. – Doch solange wir bei der Empfindung und bei der reinen Wahrnehmung bleiben, kann man kaum sagen, daß wir mit dem Geist zu tun haben. Zweifellos stellen wir der Theorie des Epiphänomen-Bewußtseins entgegen, daß kein Hirnzustand das Äquivalent einer Wahrnehmung ist. Zweifellos ist die Selektion der Wahrnehmungen unter den Bildern im allgemeinen der Effekt eines Unterscheidens, das schon den Geist ankündet. Zweifellos schließlich ist das materielle Universum selbst, definiert als die Totalität der Bilder, eine Art Bewußtsein, ein Bewußtsein, in dem sich alles kompensiert und neutralisiert, ein Bewußtsein, bei dem all seine möglichen Teile durch den Wirkungen immer gleichwertige Reaktionen einander gegenseitig ins Gleichgewicht bringen und sich so wechselseitig davon abhalten hervorzustechen. Doch um die Realität des Geistes zu berühren, muß man sich an den Punkt versetzen, an dem ein individuelles Bewußtsein die Vergangenheit sich in eine sich dadurch bereichernde Gegenwart erstrecken läßt und in dieser erhält und sich auf diese Weise dem Gesetz der Notwendigkeit selbst entzieht, welches verlangt, daß die | Vergangenheit in einer Gegenwart, welche sie bloß in einer anderen Form wiederholt, unaufhörlich auf sich selbst folgt und alles immer verfließt. Wenn wir von der reinen Wahrnehmung zum Gedächtnis übergehen, dann verlassen wir endgültig die Materie und treten in den Geist ein. VI. – Die Theorie des Gedächtnisses, die das Zentrum unserer Arbeit bildet, mußte zugleich die theoretische Konsequenz und die experimentelle Bestätigung unserer Theorie der reinen Wahrnehmung sein. Daß die Hirnzustände, die die Wahrnehmung begleiten, weder deren Ursache noch ihr Duplikat sind, daß die Wahrnehmung zu ihrer physiologischen Begleitung im Ver-
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hältnis von virtueller Handlung zu begonnener Handlung steht, ist das, was wir nicht durch Tatsachen nachweisen konnten, da sich in unserer Hypothese alles genauso abspielt, wie wenn die Wahrnehmung aus dem Hirnzustand resultieren würde. In der reinen Wahrnehmung nämlich ist der wahrgenommene Gegenstand ein gegenwärtiger Gegenstand, ein Körper, der den unseren modifiziert. Sein Bild ist also aktuell gegeben, und folglich erlauben uns die Tatsachen (auf die Gefahr hin, daß wir dann sehr ungleich mit uns selbst übereinkämen) gleichermaßen zu sagen, daß die zerebralen Modifikationen die im Entstehen begriffenen Reaktionen unseres Körpers skizzieren oder daß sie das bewußte Duplikat des gegenwärtigen Bildes erschaffen. Beim Gedächtnis jedoch verhält es sich ganz anders, da die Erinnerung die Vorstellung eines abwesenden Gegenstandes ist. Hier würden die beiden Hypothesen zu gegensätzlichen Schlußfolgerungen führen. Wenn im Falle eines gegenwärtigen Gegenstandes ein Zustand unseres Körpers bereits ausreichte, um die Vorstellung des Gegenstandes zu erschaffen, dann muß im Falle desselben abwesenden Gegenstandes dieser Zustand um so mehr dazu genügen. In dieser Theorie also müßte die Erinnerung aus der abgeschwächten Wiederholung des Hirnphänomens geboren werden, welches die erste Wahrnehmung veranlaßte, und schlicht in einer abgeschwächten Wahrnehmung bestehen. Daher die folgende Doppelthese: Das Gedächtnis | ist nur eine Funktion des Gehirns, und es besteht nur ein Intensitätsunterschied zwischen der Wahrnehmung und der Erinnerung. – Wenn hingegen der Hirnzustand unsere Wahrnehmung des gegenwärtigen Gegenstandes überhaupt nicht erzeugen würde, sondern sie einfach nur fortführte, dann könnte er zwar die Erinnerung, die wir davon heraufbeschwören, noch fortsetzen und zum Abschluß bringen, sie aber nicht ins Leben rufen. Und da andererseits unsere Wahrnehmung des gegenwärtigen Gegenstands etwas von diesem Gegenstand selbst war, wird unsere Vorstellung des abwesenden Gegenstandes ein Phänomen gänzlich anderer Ordnung sein als die Wahrnehmung, weil es
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zwischen Gegenwart und Abwesenheit1 keinerlei Grade gibt, keinen Mittelweg. Daher diese gegenüber der vorigen umgekehrte Doppelthese: Das Gedächtnis ist etwas anderes als eine Funktion des Gehirns, und es besteht kein Unterschied des Grades, sondern des Wesens zwischen der Wahrnehmung und der Erinnerung. – Die Gegensätzlichkeit der beiden Theorien nimmt somit eine zugespitzte Form an, und diesmal vermag die Erfahrung die Entscheidung herbeizuführen. Wir werden hier nicht auf die Einzelheiten der von uns versuchten Verifizierung zurückkommen. Wir wollen lediglich ihre wesentlichen Punkte in Erinnerung rufen. Alle Tatsachenargumente, die sich zugunsten einer wahrscheinlichen Anhäufung von Erinnerungen in der kortikalen Substanz anführen lassen, werden aus den lokalisierten Krankheiten des Gedächtnisses gezogen. Wenn aber diese Erinnerungen wirklich im Gehirn abgelegt wären, dann würden den Fällen sauber umgrenzten Vergessens charakteristische Schädigungen des Gehirns entsprechen. Nun beobachtet man aber in den Amnesien, in denen zum Beispiel ein gesamter Zeitraum unserer vergangenen Existenz dem Gedächtnis jäh und radikal entrissen wird, keine exakt bestimmte Hirnschädigung; und im Gegenteil bei den Störungen des Gedächtnisses, bei denen die zerebrale Lokalisation eindeutig und gewiß ist, das heißt bei den verschiedenen Aphasien und den Krankheiten des visuellen oder auditiven Wiedererkennens, sind es | nicht diese oder jene festgelegten Erinnerungen, die gleichsam dem Ort, an dem sie saßen, entrissen wurden, sondern es ist die Fähigkeit, sie zurückzurufen, die mehr oder weniger in ihrer Vitalität herabgesetzt ist, als ob die Person mehr oder weniger große Mühe hätte, ihre Erinnerungen in Kontakt mit der gegenwärtigen Situation zu bringen. Es ist also der Mechanismus dieses Kontakts, den man studieren müßte, um zu sehen, ob die Rolle des Gehirns nicht viel eher darin bestünde, dessen Funk1
Zur Übersetzung dieser Gegenüberstellung vgl. S. 35, Anm. 1. [A. d. Ü.]
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tionieren zu gewährleisten, als die Erinnerungen selbst in seinen Zellen einzusperren. Wir wurden so dazu gebracht, in all ihren Wendungen der fortschreitenden Bewegung zu folgen, durch welche die Vergangenheit und die Gegenwart miteinander in Kontakt gelangen, das heißt dem Wiedererkennen. Und wir haben in der Tat gesehen, daß das Wiedererkennen eines gegenwärtigen Gegenstandes sich auf zwei absolut unterschiedliche Weisen vollziehen kann, daß sich aber, in keinem der beiden Fälle, das Gehirn wie ein Bilder-Reservoir verhielt. Mal nämlich läßt der Körper durch ein gänzlich passives, eher vollzogenes* als gedachtes Wiedererkennen einer erneuten Wahrnehmung ein automatisch gewordenes Vorgehen entsprechen: Alles erklärt sich dann durch die motorischen Apparate, die die Gewohnheit im Körper generiert hat, und die Schädigungen des Gedächtnisses können aus der Zerstörung dieser Mechanismen resultieren. Mal hingegen geschieht das Wiedererkennen aktiv, durch Erinnerungsbilder, die der gegenwärtigen Wahrnehmung entgegentreten; dann aber müssen diese Erinnerungen in dem Moment, in dem sie sich auf die Wahrnehmung legen, Mittel und Wege finden, im Gehirn dieselben Apparate zu aktivieren, die die Wahrnehmung normalerweise in Gang setzt, um zu wirken: Sonst werden sie, im vorhinein zur Machtlosigkeit verdammt, keinerlei Tendenz aufweisen, sich zu aktualisieren. Und darum ähneln sich in all den Fällen, in denen eine Hirnschädigung eine gewisse Kategorie von Erinnerungen betrifft, die betroffenen Erinnerungen nicht dadurch, daß sie zum | Beispiel aus demselben Zeitraum stammen oder daß sie miteinander eine logische Verwandtschaft haben, sondern schlicht dadurch, daß sie alle auditiv oder alle visuell oder alle motorisch sind. Das, was geschädigt scheint, sind also viel eher die verschiedenen sensorischen oder motorischen Regionen oder, noch häufiger, die Anhangsgebilde, welche es erlauben, diese von innerhalb der Hirnrinde selbst zu aktivieren, als die Erinnerungen selbst. Wir sind noch weiter gegangen und haben durch eine aufmerksame Untersuchung des Wiedererkennens der
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Worte sowie der Phänomene der sensorischen Aphasie aufzuweisen versucht, daß das Wiedererkennen sich keineswegs durch ein mechanisches Wecken im Gehirn schlummernder Erinnerungen vollzieht. Es impliziert im Gegenteil eine mehr oder weniger hohe Spannung des Bewußtseins, welches die reinen Erinnerungen aus dem reinen Gedächtnis holen geht, um sie im Kontakt mit der gegenwärtigen Wahrnehmung fortschreitend zu materialisieren. Was aber ist dieses reine Gedächtnis, und was sind diese reinen Erinnerungen? Mit der Antwort auf diese Frage vervollständigten wir den Beweis unserer These. Wir hatten den ersten Punkt soeben aufgewiesen, und zwar, daß das Gedächtnis etwas anderes ist als eine Funktion des Gehirns. Es blieb uns noch, durch die Analyse der »reinen Erinnerung« zu zeigen, daß zwischen der Erinnerung und der Wahrnehmung kein bloßer Gradunterschied, sondern ein radikaler Wesensunterschied besteht. VII. – Wir wollen gleich auf die metaphysische und nicht mehr bloß psychologische Tragweite dieses letzten Problems hinweisen. Zweifellos handelt es sich beim Folgenden um eine rein psychologische These: Die Erinnerung ist eine abgeschwächte Wahrnehmung. Doch täusche man sich nicht darüber: Wenn die Erinnerung nur eine schwächere Wahrnehmung ist, dann wird umgekehrt die Wahrnehmung so etwas wie eine intensivere Erinnerung sein. Eben darin liegt nun der Keim des englischen Idealismus. | Dieser Idealismus besteht darin, nur einen Unterschied des Grades und nicht des Wesens zwischen der Realität des wahrgenommenen Gegenstandes und der Idealität des gedachten Gegenstandes zu sehen. Und die Idee, daß wir die Materie aus unseren inneren Zuständen konstruieren, daß die Wahrnehmung nur eine wahre Halluzination ist, rührt ebenfalls daher. Es ist diese Idee, die wir ohne Unterlaß bekämpft haben, als wir über die Materie sprachen. Entweder also ist unsere Konzeption der Materie falsch, oder die Erinnerung unterscheidet sich radikal von der Wahrnehmung.
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Auf diese Weise haben wir ein metaphysisches Problem soweit transponiert, daß es mit einem psychologischen Problem zusammenfällt, welches durch schlichte und einfache Beobachtung entschieden werden kann. Wie wird es von ihr entschieden? Wenn die Erinnerung einer Wahrnehmung nur ebendiese geschwächte Wahrnehmung wäre, dann würde es uns passieren, daß wir zum Beispiel die Wahrnehmung eines leisen Lautes für die Erinnerung eines gellenden Lärms hielten. Nun kommt es aber nie zu einer derartigen Verwechslung. Doch man kann noch weiter gehen und wiederum durch Beobachtung beweisen, daß das Bewußtsein einer Erinnerung niemals damit beginnt, ein schwächerer aktueller Zustand zu sein, den wir in die Vergangenheit zurückzuwerfen versuchen würden, nachdem wir uns seiner Schwäche bewußt geworden sind: Wie könnten wir im übrigen, wenn wir nicht schon die Vorstellung einer zuvor erlebten Vergangenheit hätten, die am wenigsten intensiven psychologischen Zustände dorthin verbannen, während es doch so einfach wäre, sie neben die starken Zustände zu stellen, wie eine verschwommenere gegenwärtige Erfahrung neben eine klarere gegenwärtige Erfahrung? Die Wahrheit ist, daß das Gedächtnis keineswegs in einem Zurückgehen von der Gegenwart in die Vergangenheit besteht, sondern im Gegenteil in einem Voranschreiten von der Vergangenheit in die Gegenwart. Es ist die Vergangenheit, in die wir uns von Beginn an versetzen. Wir gehen von einem »virtuellen Zustand« aus, den wir nach und nach durch eine Reihe von unterschiedlichen Bewußtseinsebenen bis dorthin führen, wo | er sich in einer aktuellen Wahrnehmung materialisiert, das heißt bis zu dem Punkt, in dem er ein gegenwärtiger und wirkender Zustand wird, das heißt letztlich bis zu dieser äußersten Ebene unseres Bewußtseins, auf der sich unser Körper abzeichnet. In diesem virtuellen Zustand besteht die reine Erinnerung. Woher kommt es, daß man hier das Zeugnis des Bewußtseins verkennt? Woher kommt es, daß man aus der Erinnerung eine schwächere Wahrnehmung macht, von der man weder sagen
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kann, warum wir sie in die Vergangenheit zurückwerfen, noch, wie wir ihr Datum wiederfinden, noch, mit welchem Recht sie eher im einen als im anderen Moment wieder auftaucht? Immer daher, daß man die praktische Bestimmung unserer aktuellen psychologischen Zustände vergißt. Man macht aus der Wahrnehmung eine interesselose Operation des Geistes, eine bloße kontemplative Betrachtung. Da nun die reine Erinnerung offensichtlich nur etwas dieser Art sein kann (weil sie keiner gegenwärtigen und dringlichen Realität entspricht1), werden Erinnerung und Wahrnehmung zu Zuständen selben Wesens, zwischen denen man nur noch einen Intensitätsunterschied festzustellen vermag. Doch die Wahrheit ist, daß man unsere Gegenwart nicht als das, was intensiver ist, definieren darf: Sie ist das, was auf uns wirkt und was uns handeln läßt, sie ist sensorisch und sie ist motorisch; – unsere Gegenwart ist vor allem der Zustand unseres Körpers. Unsere Vergangenheit ist hingegen das, was nicht mehr wirkt, aber wirken könnte, das, was wirken wird, indem es sich in eine gegenwärtige Empfindung einfügt, von der es sich die Vitalität borgen wird. In dem Moment freilich, in dem sich die Erinnerung auf diese Weise wirkend aktualisiert, hört sie auf, Erinnerung zu sein, und wird wieder Wahrnehmung. Nun versteht man, warum die Erinnerung nicht aus einem Hirnzustand resultieren konnte. Der Hirnzustand führt die Erinnerung fort; er gibt ihr durch die Materialität, die er ihr verleiht, Zugriff auf die Gegenwart; doch die reine Erinnerung ist eine geistige Manifestation. | Mit dem Gedächtnis befinden wir uns also wahrhaft im Bereich des Geistes. 1
Im französischen Original kann hier der Eindruck eines Wortspiels entstehen, da ›gegenwärtig‹ (présent) und ›dringlich/drängend‹ (pressant) phonetisch dicht beieinander liegen, so daß man darin bereits die im folgenden Satz ausgeführte inhaltliche Dimension der auf uns eindringenden, uns zum Handeln drängenden Gegenwart anklingen hören kann. [A. d. Ü.]
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VIII. – Diesen Bereich hatten wir nicht zu erforschen. Am Zusammenfluß von Geist und Materie stehend und vor allem darauf aus, sie ineinanderfließen zu sehen, brauchten wir von der Spontaneität der Intelligenz nur ihren Verbindungspunkt mit einem körperlichen Mechanismus festzuhalten. So vermochten wir dem Phänomen der Ideenassoziation und der Geburt der einfachsten allgemeinen Ideen beizuwohnen. Worin bestand der Hauptirrtum des Assoziationismus? Darin, alle Erinnerungen auf dieselbe Ebene gestellt zu haben und die mehr oder weniger beachtliche Entfernung verkannt zu haben, die sie von dem gegenwärtigen körperlichen Zustand, das heißt von der Handlung, trennt. Auch hat er nicht erklären können, wie die Erinnerung sich zu der Wahrnehmung gesellt, die sie heraufbeschwört, noch, warum die Assoziation sich eher durch Ähnlichkeit oder Berührung vollzieht als auf jede andere Weise, noch schließlich, durch welche Laune diese ganz bestimmte Erinnerung unter den tausenden von Erinnerungen erwählt wird, welche durch Ähnlichkeit oder Berührung ebensogut mit der aktuellen Wahrnehmung verbunden wären. Das bedeutet, daß der Assoziationismus all die unterschiedlichen Bewußtseinsebenen durcheinandergebracht und miteinander vermischt hat, weil er sich hartnäckig darauf versteift, in einer weniger vollständigen Erinnerung nur eine weniger komplexe Erinnerung zu sehen, während es in Wirklichkeit eine weniger geträumte Erinnerung ist, das heißt eine, die näher an der Handlung steht und eben dadurch banaler und – wie Kleidung von der Stange – besser imstande ist, sich der Neuheit der gegenwärtigen Situation anzupassen. Die Gegner des Assoziationismus sind ihm im übrigen auf diesem Gebiet gefolgt. Sie machen ihm zum Vorwurf, daß er die höheren Geistesoperationen durch Assoziationen erklärt, nicht jedoch, daß er die wahre Natur der Assoziation selbst verkennt. Doch gerade darin liegt der Urmakel des Assoziationismus. | Zwischen der Ebene der Handlung – der Ebene, auf der unser Körper seine Vergangenheit zu motorischen Gewohnheiten
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zusammengezogen hat – und der Ebene des reinen Gedächtnisses, auf der unser Geist in all seinen Einzelheiten das Gemälde unseres verflossenen Lebens bewahrt, glaubten wir im Gegenteil tausend und abertausend unterschiedliche Bewußtseinsebenen zu gewahren, tausende vollständige und dennoch verschiedenartige Wiederholungen der Totalität unserer erlebten Erfahrung. Eine Erinnerung durch persönlichere Einzelheiten zu ergänzen besteht keineswegs darin, mechanisch Erinnerungen neben diese Erinnerung zu stellen, sondern darin, sich auf eine weiter ausgedehnte Bewußtseinsebene zu versetzen, darin, sich von der Handlung zu entfernen in Richtung auf den Traum. Eine Erinnerung zu lokalisieren besteht ebensowenig darin, sie mechanisch zwischen anderen Erinnerungen einzufügen, sondern darin, durch eine wachsende Expansion des Gedächtnisses in seiner Gesamtheit einen Kreis zu beschreiben, der groß genug ist, daß diese Einzelheit der Vergangenheit darin enthalten ist. Diese Ebenen sind im übrigen nicht als schon vorgefertigte und übereinander geschichtete Dinge gegeben. Sie existieren eher virtuell, mit jener Existenz, die den Dingen des Geistes eigen ist. Die Intelligenz, die ständig das sie trennende Intervall durchläuft, findet sie wieder oder erschafft sie vielmehr unaufhörlich neu: Ihr Leben1 besteht in dieser Bewegung selbst. Nun verstehen wir, warum die Gesetze der Assoziation eher die der Ähnlichkeit und der Berührung sind als andere, warum das Gedächtnis unter den ähnlichen oder berührenden Erinnerungen bestimmte Bilder eher auswählt als andere und schließlich warum sich durch die kombinierte Arbeit des Körpers und des Geistes die ersten Allgemeinbegriffe bilden. Das Interesse eines Lebewesens besteht darin, in einer gegenwärtigen Situation das zu erfassen, was einer früheren Situation ähnelt, und diesem dann das, was vorausging, und vor allem das, was folgte, anzunähern, um von seiner vergangenen Erfahrung zu profitieren. | Von all den Assoziationen, die man sich aus1
Das Leben der Intelligenz. [A. d. Ü.]
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malen könnte, sind die Ähnlichkeits- und Berührungsassoziationen also zunächst die einzigen, die eine vitale Nützlichkeit aufweisen. Doch um den Mechanismus dieser Assoziationen zu verstehen und besonders die scheinbar launenhafte Auswahl, die sie unter den Erinnerungen vornehmen, muß man sich umschichtig auf jene beiden äußersten Ebenen versetzen, die wir die Ebene der Handlung und die Ebene des Traumes genannt haben. Auf der ersten finden sich nur die motorischen Gewohnheiten, von denen man sagen kann, daß es eher vollzogene* oder gelebte Assoziationen sind als vorgestellte: Hier sind Ähnlichkeit und Berührung miteinander verschmolzen, da analoge äußere Situationen durch Wiederholung dazu geführt haben, daß bestimmte Bewegungen unseres Körpers untereinander verbunden sind, und folglich wird dieselbe automatische Reaktion, in der wir diese sich berührenden Bewegungen ablaufen lassen, aus der sie auslösenden Situation auch deren Ähnlichkeit mit den früheren Situationen extrahieren. Doch in dem Maße, in dem man von den Bewegungen zu den Bildern übergeht, und von den ärmeren zu den reicheren Bildern, treten Ähnlichkeit und Berührung weiter auseinander: Zuletzt stehen sie sich auf jener anderen äußersten Ebene, auf welcher sich zu den Bildern keinerlei Handlung mehr gesellt, gegenüber. Die Wahl einer Ähnlichkeit unter vielen Ähnlichkeiten, einer Berührung unter anderen Berührungen, geschieht also nicht zufällig: Sie hängt von dem fortwährend variablen Grad der Spannung des Gedächtnisses ab, das sich, je nachdem ob es mehr dazu neigt, sich in die gegenwärtige Handlung einzufügen oder sich von dieser abzulösen, als Ganzes in die eine oder in die andere Tonart transponiert. Und es ist auch diese zweifache Bewegung des Gedächtnisses zwischen seinen beiden äußersten Grenzen, die, wie wir es gezeigt haben, die ersten Allgemein begriffe abzeichnet, indem die motorische Gewohnheit zu den ähnlichen Bildern hinaufsteigt, um aus ihnen die Ähnlichkeiten zu extrahieren, und die ähnlichen Bilder | wieder zur motorischen Gewohnheit hinabsteigen, um zum Beispiel im automati-
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schen Aussprechen des Wortes, das sie vereint, zu verschmelzen. Die im Entstehen begriffene Allgemeinheit der Idee besteht also schon in einer gewissen Aktivität des Geistes, in einer Bewegung zwischen der Handlung und der Vorstellung. Und darum wird es, sagten wir, einer gewissen Philosophie immer leicht fallen, die allgemeine Idee an einem der beiden Extreme zu verorten, sie zu Wörtern kristallisieren oder zu Erinnerung verdampfen zu lassen, während sie doch in Wirklichkeit in jenem Wandern des Geistes von einem Extrem zum anderen besteht. IX. – Indem wir uns die elementare mentale Aktivität so vorstellten und dieses Mal aus unserem Körper, mit allem, was ihn umgibt, die letzte Ebene unseres Gedächtnisses machten, das äußerste Bild, die sich bewegende Spitze, die unsere Vergangenheit in jedem Moment in unsere Zukunft schiebt, bestätigten und erhellten wir das, was wir über die Rolle des Körpers gesagt hatten, und bereiten gleichzeitig den Weg für eine Annäherung zwischen dem Körper und dem Geist. Nachdem wir nämlich Zug um Zug die reine Wahrnehmung und das reine Gedächtnis studiert hatten, blieb uns noch, sie einander anzunähern. Wenn die reine Erinnerung schon Geist ist und wenn die reine Wahrnehmung noch etwas von der Materie ist, dann mußten wir, indem wir uns an den Verbindungspunkt zwischen der reinen Wahrnehmung und der reinen Erinnerung stellten, etwas Licht auf die Wechselwirkung des Geistes und der Materie werfen. Tatsächlich ist die »reine«, das heißt momenthafte Wahrnehmung nur ein Ideal, eine Grenze. Alle Wahrnehmung nimmt ein gewisses Maß an Dauer ein, läßt die Vergangenheit sich in die Gegenwart erstrecken und hat dadurch am Gedächtnis teil. Indem wir also die Wahrnehmung in ihrer konkreten Form nahmen, als eine Synthese der reinen Erinnerung und der reinen Wahrnehmung, | das heißt des Geistes und der Materie, faßten wir das Problem der Vereinigung der Seele mit dem Körper in seine engsten Grenzen. Diesem Versuch galten unsere Bemühungen insbesondere im letzten Teil unserer Arbeit.
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Der Gegensatz dieser beiden Prinzipien im Dualismus im allgemeinen löst sich in den dreifachen Gegensatz von Unausgedehntem und Ausgedehntem, von Qualität und Quantität und von Freiheit und Notwendigkeit auf. Wenn unsere Konzeption der Rolle des Körpers, wenn unsere Analysen der reinen Wahrnehmung und der reinen Erinnerung in irgendeiner Hinsicht die Korrelation des Körpers mit dem Geist erhellen sollen, so kann dies nur unter der Bedingung geschehen, daß sie diese drei Gegensätze aufheben oder mildern. Daher wollen wir Zug um Zug diese Gegensätze untersuchen und dabei die Schlußfolgerungen, die wir allein der Psychologie entnehmen wollten, hier in einer metaphysischeren Form darstellen. 1. Wenn man sich auf der einen Seite zum Beispiel eine wirklich in Korpuskeln unterteilte Ausgedehntheit ausmalt und auf der anderen ein Bewußtsein mit von sich aus inextensiven Empfindungen, die sich in den Raum projizieren würden, dann wird man offensichtlich nichts Gemeinsames zwischen dieser Materie und diesem Bewußtsein, zwischen dem Körper und dem Geist finden. Doch dieser Gegensatz von Wahrnehmung und Materie ist das künstliche Werk eines Verstandes, der gemäß seinen Gewohnheiten oder seinen Gesetzen zerlegt und wieder zusammenfügt: Er ist nicht der unmittelbaren Intuition gegeben. Das, was gegeben ist, sind nicht inextensive Empfindungen: Wie sollten sie wieder zum Raum finden, einen Ort darin wählen und sich dort schließlich miteinander koordinieren, um eine universale Erfahrung aufzubauen? Das, was real ist, ist ebensowenig eine in unabhängige Teile unterteilte Ausgedehntheit: Wie sollte diese, die keinerlei möglichen Bezug zu unserem Bewußtsein hat, sonst eine Reihe von Veränderungen ablaufen lassen, deren Ordnung und Bezüge exakt | mit der Ordnung und den Bezügen unserer Vorstellungen übereinstimmen? Das, was gegeben ist, das, was real ist, ist etwas zwischen der unterteilten Ausgedehntheit und dem reinen Unausgedehnten Liegendes; es ist das, was wir das Extensive genannt haben. Die Ausdehnung ist die augenfälligste Qua-
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lität der Wahrnehmung. Wenn wir sie konsolidieren und mittels eines von uns aufgrund der Bedürfnisse der Handlung unter sie gespannten abstrakten Raumes unterteilen, konstituieren wir die multiple und unbegrenzt teilbare Ausgedehntheit. Wenn wir sie hingegen subtiler werden, sich Zug um Zug in affektive Empfindungen auflösen und zu Nachbildungen reiner Ideen verdampfen lassen, erhalten wir jene inextensiven Empfindungen, aus denen wir danach vergeblich Bilder zu rekonstituieren versuchen. Und die beiden entgegengesetzten Richtungen, in denen wir diese zweifache Tätigkeit vorantreiben, eröffnen sich uns auf ganz natürliche Weise, da sich aus den Notwendigkeiten der Handlung selbst ergibt, daß die Ausgedehntheit sich für uns in absolut unabhängige Gegenstände aufteilt (daher das Angezeigtsein des Unterteilens der Ausgedehntheit) und man in unmerklichen Graden von der affektiven Empfindung zur Wahrnehmung übergeht (daher eine Tendenz, die Wahrnehmung als immer inextensiver anzunehmen). Doch unser Verstand, dessen Rolle gerade darin besteht, logische Unterscheidungen und folglich scharfe Gegensätze herzustellen, stürzt umschichtig auf beiden Wegen voran und verfolgt jeden jeweils bis zum Ende. Er errichtet so an einem der beiden Extreme eine unbegrenzt teilbare Ausgedehntheit und an dem anderen absolut inextensive Empfindungen. Und er erschafft so den Gegensatz, den er sich in der Folge vor Augen hält. 2. Weit weniger künstlich ist der Gegensatz von Qualität und Quantität, das heißt von Bewußtsein und Bewegung: Doch dieser zweite Gegensatz ist nur radikal, wenn man zuvor den ersten anerkannt hat. Man nehme in der Tat einmal an, daß die | Qualitäten der Dinge sich auf inextensive Empfindungen reduzieren, die ein Bewußtsein affizieren, derart, daß diese Qualitäten lediglich, wie lauter Symbole, sich im Raum vollziehende homogene und berechenbare Veränderungen darstellen: dann wird man sich zwischen diesen Empfindungen und den Veränderungen eine unbegreifliche Übereinstimmung vorstellen müssen. Verzichtet man hingegen darauf, a priori zwischen ihnen diese künstliche
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Gegensätzlichkeit herzustellen, dann wird man die Schranken, die sie voneinander zu trennen schienen, eine nach der anderen fallen sehen. Als erstes ist es nicht wahr, daß das Bewußtsein in sich selbst eingerollt einem inneren Defilee inextensiver Wahrnehmungen beiwohnt. Es sind also die wahrgenommenen Dinge selbst, in die man die reine Wahrnehmung zurückversetzen wird, und damit wird man ein erstes Hindernis beseitigen. Man wird freilich auf ein zweites treffen: Die homogenen und berechenbaren Veränderungen, mit denen die Wissenschaft operiert, scheinen vielfachen und unabhängigen Elementen, wie etwa den Atomen, anzugehören, von denen sie nur ein Akzidenz wären; diese Vielheit wird sich zwischen die Wahrnehmung und ihren Gegenstand stellen. Doch wenn die Unterteilung der Ausgedehntheit rein relativ, auf unser mögliches Einwirken auf sie bezogen ist, dann ist die Idee von unabhängigen Korpuskeln a fortiori schematisch und provisorisch; die Wissenschaft selbst gibt uns im übrigen das Recht, sie fallenzulassen. Damit ist eine zweite Schranke gefallen. Ein letzter Graben bleibt noch zu überwinden: Jener, der zwischen der Heterogenität der Qualitäten und der scheinbaren Homogenität der Bewegungen in der Ausgedehntheit liegt.1 Doch eben gerade weil wir die Elemente – Atome oder andere – eliminiert haben, die der Sitz dieser Bewegungen wären, kann es hier nicht mehr um die Bewegung gehen, die das Akzidens eines bewegten Körpers wäre, um die abstrakte Bewegung, die die Mechanik studiert und die im Grunde nur der gemeinsame Maßstab der konkreten Bewegungen ist. Wie könnte diese abstrakte Bewegung, | die Unbewegtheit wird, wenn man den Bezugspunkt wechselt, reale, das heißt gespürte Veränderungen begründen? Wie sollte sie, zusammengesetzt aus einer Reihe momenthafter Positionen, eine Dauer ausfüllen, deren Teile sich ineinander erIn der ersten Ausgabe von Matière et mémoire (I) lautet dieser Satz: »Jener, der die Heterogenität der Qualitäten von der scheinbaren Homogenität der Bewegungen in der Ausgedehntheit trennt.« [A. d. Ü.] 1
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strecken und einander fortführen? Eine einzige Hypothese bleibt also möglich, die, daß die konkrete Bewegung – die wie das Bewußtsein imstande ist, ihre Vergangenheit sich in ihre Gegenwart erstrecken zu lassen, und fähig, indem sie sich wiederholt, Empfindungsqualitäten zu erzeugen – schon etwas vom Bewußtsein ist, schon etwas von der Empfindung. Sie wäre dieselbe Empfindung, verdünnt und auf eine unendlich viel größere Anzahl von Momenten verteilt, dieselbe Empfindung, die, wie wir sagten, im Inneren ihres Kokons vibriert. Ein letzter Punkt also bliebe aufzuklären: Wie vollzieht sich jene Kontraktion, die nun zweifellos nicht mehr homogene Bewegungen zu unterschiedenen Qualitäten, aber weniger heterogene Veränderungen zu stärker heterogenen Veränderungen zusammenzieht? Doch auf diese Frage antwortet unsere Analyse der konkreten Wahrnehmung: Diese Wahrnehmung, lebendige Synthese der reinen Wahrnehmung und des reinen Gedächtnisses, faßt notwendig in ihrer scheinbaren Einfachheit eine immense Vielheit von Momenten zusammen. Zwischen den Empfindungsqualitäten, wie man sie in unserer Vorstellung betrachtet, und jenen selben Qualitäten, wenn man sie als berechenbare Veränderungen behandelt, besteht also nur ein Unterschied des Rhythmus der Dauer, ein Unterschied der inneren Spannung. So suchten wir durch die Idee der Spannung den Gegensatz von Qualität und Quantität aufzuheben wie durch die Idee der Ausdehnung jenen des Unausgedehnten und des Ausgedehnten.1 Ausdehnung und Spannung lassen vielfache, aber immer bestimmte Grade zu. Die Funktion des Verstandes ist, von diesen beiden Gattungen, Ausdehnung und Spannung, ihr leeres Behältnis abzulösen, das heißt den homogenen Raum und die reine Quantität, | dadurch die flexiblen Realitäten, die Grade zulassen, durch starre Abstraktionen zu ersetzen, die aus den Bedürfnissen der Handlung geboren sind und die man so, wie sie sind, hinnehmen oder ganz von ihnen lassen muß, und 1
Zu »Spannung« und »Ausdehnung« vgl. hier S. 227, Anm. 1. [A. d. Ü.]
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so das reflektierte Denken vor Dilemmata zu stellen, von deren Alternativen die Dinge keine annehmen. 3. Wenn man aber das Verhältnis des Ausgedehnten zum Unausgedehnten und der Qualität zur Quantität in dieser Weise betrachtet, hat man weniger Mühe, den dritten und letzten Gegensatz zu verstehen, jenen von Freiheit und Notwendigkeit. Die absolute Notwendigkeit würde durch eine perfekte gegenseitige Äquivalenz der aufeinanderfolgenden Momente der Dauer dargestellt. Verhält es sich so mit der Dauer des materiellen Universums? Ließe sich jeder ihrer Momente mathematisch aus dem vorangegangen ableiten? Wir haben in dieser ganzen Arbeit der Bequemlichkeit der Untersuchung zuliebe angenommen, daß es sich durchaus so verhält; und so groß ist in der Tat die Entfernung zwischen dem Rhythmus unserer Dauer und dem des Flusses der Dinge, daß die Kontingenz des Laufs der Natur, die so tiefgehend von einer neueren Philosophie1 studiert wurde, für uns praktisch der Notwendigkeit gleichkommen muß. Wir wollen daher bei unserer Hypothese bleiben, obgleich es Anlaß gäbe, sie abzuschwächen. Selbst dann ist die Freiheit in der Natur nicht wie ein Staat im Staate.2 Wir sagten, daß diese Natur als ein neutralisiertes und folglich latentes Bewußtsein betrachtet werden 1 Die
kritische Ausgabe verweist hier auf Emile Boutroux (1845– 1921), De la contingence des lois de la nature (1874) und insbesondere Jules Lachelier (1832–1918), Du fondement de l’induction (1871). [A. d. Ü.] 2 Zu der Formulierung »Staat im Staate«, die Bergson bereits zu Beginn dieses Buches einmal verwendet hat (s. hier S. 47) vgl. Spinoza, Ethik, Buch III, Vorwort, Hamburg 1999, S. 219: »Die meisten, die über die Affekte und die Lebensweise der Menschen geschrieben haben, behandeln, so sieht es aus, nicht natürliche Dinge, die den allgemeinen Gesetzen der Natur folgen, sondern Dinge, die außerhalb der Natur liegen; eher scheinen sie den Menschen in der Natur wie einen Staat im Staat zu verstehen. Denn sie glauben, daß der Mensch die Ordnung der Natur mehr stört als befolgt und daß er über seine Handlungen eine unbedingte Macht hat und von nichts anderem als von sich selbst bestimmt wird.« [A. d. Ü.]
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könnte, ein Bewußtsein, dessen mögliche Manifestationen sich wechselseitig in Schach halten und sich genau in dem Moment gegenseitig aufheben, in dem sie ans Licht treten wollen. Die ersten Schimmer, die ein individuelles Bewußtsein darauf wirft, lassen sie also nicht in einem unerwarteten Licht erstrahlen: Dieses Bewußtsein hat lediglich ein Hindernis beseitigt, aus dem realen Ganzen einen virtuellen Teil herausgezogen, kurz: das, was für es von Interesse war, ausgewählt und freigelegt; und wenn es durch diese intelligente Auslese | durchaus davon zeugt, daß es seine Form vom Geist hat, dann ist es doch die Natur, aus der es seine Materie zieht. Gleichzeitig übrigens, wie wir dem Erblühen dieses Bewußtseins beiwohnen, sehen wir, wie sich lebendige Körper abzeichnen, die in ihrer einfachsten Form zu spontanen und unvorhergesehenen Bewegungen fähig sind. Der Fortschritt der lebenden Materie besteht in einer Differenzierung der Funktionen, die zuerst zur Bildung und dann zur gradweisen Steigerung der Komplexität eines Nervensystems führt, das in der Lage ist, Reize zu kanalisieren und Handlungen zu organisieren: Je weiter die höheren Zentren sich entwickeln, um so zahlreicher werden die motorischen Wege, zwischen denen ein selber Reiz der Handlung eine Wahl bietet. Ein immer größerer der Bewegung im Raum gelassener Spielraum ist in der Tat das, was man sieht. Das, was man nicht sieht, ist die wachsende und damit einhergehende Spannung des Bewußtseins in der Zeit. Nicht nur behält dieses Bewußtsein, durch sein Gedächtnis bereits vergangener Erfahrungen, die Vergangenheit immer besser, um sie mit der Gegenwart zu einer reicheren und neueren Entscheidung zu organisieren, sondern dadurch, daß es ein intensiveres Leben lebt und daß es, durch sein Gedächtnis der unmittelbaren Erfahrung, eine wachsende Anzahl äußerer Momente in seiner gegenwärtigen Dauer zusammenzieht, ist es immer besser imstande, Akte zu erschaffen, deren interne Indeterminiertheit, da sie sich auf eine beliebig große Anzahl von Momenten der Materie verteilen muß, um so leichter durch die Maschen der Notwendigkeit gleitet.
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So scheint die Freiheit, ob man sie nun in der Zeit oder im Raum betrachtet, ihre Wurzeln immer tief in die Notwendigkeit zu senken und eng mit ihr zusammenzuspielen. Der Geist entnimmt der Materie die Wahrnehmungen, aus denen er seine Nahrung zieht, und gibt sie ihr zurück in Form von Bewegung, der er seine Freiheit aufgeprägt hat.
NACH WORT DER Ü BER SETZ ER I N
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enerell aber bringt eine Veränderung der Terminologie keine gravierenden Nachteile mit sich, wenn man sich jedesmal die Mühe macht, den Terminus in seinem besonderen Verständnis zu definieren, oder auch allein der Kontext dessen Sinn deutlich genug erkennen läßt.« Dieser Satz Bergsons findet sich in einer Fußnote, die er in La pensée et le mouvant (S. 216) seinem 1902 geschriebenen Artikel Introduction à la métaphysique hinzufügt. Eine Übersetzung hingegen kann durch den Bedeutungswandel eines Begriffs vor eine gewisse Herausforderung gestellt werden: Fast nie haben zwei Wörter aus zwei verschiedenen Sprachen vollständig dieselben Bedeutungen und Konnotationen, in den allermeisten Fällen basiert die Übertragung auf der Schnittmenge der im jeweiligen Kontext im Vordergrund stehenden Aspekte. Wenn die Bedeutungsverschiebung oder auch nur die Änderung des Kontextes beträchtlich genug ausfällt, legen sich daher oft zwei verschiedene Wörter für die Übertragung nahe. Eine solche Situation entsteht bei der Übersetzung von Matière et mémoire nun ausgerechnet für einen der Grundbegriffe der Bergsonschen Philosophie, der ohnehin schon zahlreichen Mißverständnissen ausgesetzt war: die Intuition. Auch die oben zitierte Fußnote aus La pensée et le mouvant gilt ebendiesem Begriff. 31 Jahre nach dem ersten Erscheinen seines Artikels beschreibt Bergson dort in der Retrospektive, in welcher Richtung sich sein Begriff der Intuition seitdem verändert hat: Während er 1902 unter ›Intuition‹ »in erster Linie die intime Erkenntnis des Geistes durch den Geist, in zweiter Linie auch die durch den Geist erlangte Erkenntnis des Wesentlichen in der Materie [versteht], da die Intelligenz zweifellos vor allem dazu gemacht ist, die Materie zu handhaben und folglich sie zu erkennen,
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Nachwort der Übersetzerin
ihre spezielle Bestimmung jedoch nicht darin besteht, bis auf den Grund derselben vorzudringen«, wird er später »die Intelligenz klarer von der Intuition […] unterscheiden, wie auch die Wissenschaft von der Metaphysik«.1 Doch bereits vor dieser hier von Bergson eigens thematisierten Veränderung seiner Terminologie findet ein Wandel des Begriffs der Intuition statt, der sich besonders deutlich im vorliegenden Werk abzeichnet und für die Übersetzung eine Schwierigkeit birgt: ›Intuition‹ ist in der französischen Philosophie der Begriff, der das wiedergibt, was in der deutschen Philosophie mit ›Anschauung‹ bezeichnet wird. So ist intuition auch die Standardübersetzung für den Kantischen Begriff der ›Anschauung‹.2 Doch auch im nichtkantischen Kontext ist intuition die natürliche Wahl, wenn man beispielsweise von einer ›unmittelbaren Anschauung‹ spricht oder von etwas, das durch Anschauung gegeben ist oder erkannt wird, sei es im visuellen oder im geistigen Sinne. Auch Bergson verwendet intuition in seinen beiden ersten Werken an etlichen Stellen in diesem grundlegenden Sinn, in dem man es in den meisten anderen Texten ohne Zögern mit ›Anschauung‹ übersetzen würde. Die kritische Ausgabe der Données immédiates de la conscience verweist in diesem Zusammenhang explizit darauf, daß der Begriff ›intuition‹ dort weder dieselbe Bedeutung noch dieselbe Wichtigkeit hat, die er in Bergsons späterem Denken erlangen wird (vgl. dort S. 222).
La pensée et le mouvant, S. 216. Zu den sich daraus ergebenden Problemen für die Übersetzung vgl. Schöpferische Evolution, Hamburg 2013, S. 404 f., XXXVIII, 423, sowie Philosophie der Dauer, Hamburg 2013, S. 153. – Zur Begriffsgeschichte von ›Intuition‹ in der deutschen Philosophie und zu der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich verbreitenden Umbenennung des damit bezeichneten Phänomens in ›intellektuelle Anschauung‹ vgl. den Eintrag »Intuition« im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. IV, bes. S. 532. 1 2
Nachwort der Übersetzerin309
So wäre an fast allen Stellen in Materie und Gedächtnis ›Anschauung‹ die für das Sprachempfinden (auch das philosophische) deutlich natürlichere Wahl. Und an vielen Stellen spricht zumindest auf den ersten Blick auch inhaltlich nichts gegen eine solche Übertragung, außer daß dadurch die sprachliche Einheit eines zentralen Begriffs der Bergsonschen Philosophie verlorenginge. Nun läßt sich, in Umkehrung des oben zitierten Satzes von Bergson, sicher nichts dagegen einwenden, denselben Begriff in einer Übersetzung durch zwei verschiedene Worte wiederzugeben, wenn man die ursprüngliche Begriffseinheit deutlich genug kennzeichnet und wenn sich Kriterien für den Wechsel zwischen den Übertragungen angeben lassen. Doch eben die Frage der Kriterien ist hier das Problem. Es ließe sich zwar anführen, daß Bergson selbst intuition in dem spezifischen Sinne, den er diesem Begriff verleiht, oft als ein Vermögen bezeichnet, als »die metaphysische Funktion des Denkens«3 oder »einen Modus der Erkenntnis«4, oder daß, wie er immer wieder betont, die »Intuition vor allem die innere Dauer« oder »die Bewegtheit der Dauer zum Gegenstand hat«5. Demzufolge könnte man an den Stellen, an denen es weder um die Dauer geht, noch das Vermögen gemeint ist, ›Anschauung‹ setzen und hätte eine sprachlich zufriedenstellendere Lösung. Daß diese Trennung jedoch eine künstliche wäre, zeigen Sätze wie der folgende: »Intuition bedeutet also vor allem Bewußtsein, aber unmittelbares Bewußtsein, eine Schau, die sich kaum vom geschauten Gegenstand unterscheidet, eine Erkenntnis, die Berührung und sogar In-eins-Fallen ist.«6 Hier zeigt sich, daß der Übergang ein fließender ist und daß Bergson den Begriff nicht in zwei verschiedenen Sinnen, sozusagen dem »allgemein üblichen« und dem »spezifischen Bergsonschen«, verwendet. Die La pensée et le mouvant, S. 216. Ebd., S. 25. 5 Ebd., S. 27 u. 206. 6 Ebd., S. 27. 3 4
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Nachwort der Übersetzerin
›unmittelbare Anschauung/Intuition‹ der Realität7 ist genauso intuition im Bergsonschen Sinne wie die »einzige Intuition«, die vielfache Momente der Dauer in sich zusammenfaßt,8 und die »reine Intuition, die äußere wie die innere, einer ungeteilten Kontinuität«9. Der Begriff verändert sich also nicht in dem Sinne, daß Bergson ihn Zug um Zug mit verschiedenen Bedeutungen belegen würde, die einander ablösen, sondern er wächst durch die Entfaltung seiner verschiedenen Aspekte gleichsam an und verlagert dabei seinen Schwerpunkt. Das bedeutet, daß in Materie und Gedächtnis ein frühes, lediglich anders gewichtetes Stadium desselben Begriffs gegeben ist, welches nicht nur ein erstes Licht auf dessen vielschichtige Bedeutung und seinen Ursprung wirft, sondern zugleich ermöglicht, später leichtere Mißdeutungen der Intuition abzuwenden oder gar nicht erst aufkommen zu lassen. Daß es sich bei intui tion nicht um einen einfachen und eindimensionalen Begriff handelt, betont Bergson selbst: »Deshalb verlange man von uns […] keine einfache und geometrische Definition der Intuition. Es fiele nur zu leicht, zu zeigen, daß wir das Wort in Sinnen verwenden, die sich nicht mathematisch auseinander ableiten lassen.«10 Doch auch wenn diese Sinne sich nicht mathematisch auseinander herleiten lassen, ist es keine willkürliche und äußerliche Zusammenspannung in den sprachlichen Rahmen eines schlicht äquivok verwendeten Wortes, die sie miteinander verbindet, sondern eine inhaltlich-gedankliche Einheit des Begriffs, die an vielen Stellen des Bergsonschen Werks deutlich wird.11 7
Hier S. 74, 84, 199, 228, 245, 247, 299. Hier S. 81, 271, 280. 9 Hier S. 228. 10 La pensée et le mouvant, S. 29. 11 In bezug auf den in Materie und Gedächtnis prägenden Aspekt der ›Anschauung‹ zeigt sich dies besonders klar z. B. im vierten Kapitel der Schöpferischen Evolution, Hamburg 2013, S. 404–407, und in La pensée 8
Nachwort der Übersetzerin311
Aus diesem Grund habe ich mich hier gegen die sprachlich schönere Lösung entschieden und intuition (außer dort, wo es sich explizit um die Kantische Anschauung handelt) durchgängig mit ›Intuition‹ übersetzt, in der Hoffnung, daß das zuweilen Sperrige der Übersetzung in diesem Fall der Interpretation zugute kommt und dazu beiträgt, daß der Bergsonsche Begriff der ›Intuition‹ gerade durch seine Verwendung in unterschiedlichen Kontexten in seinen verschiedenen Facetten erschlossen werden kann und zugleich seine gedankliche Einheit behält. Ein weiteres Problem für die Übersetzung stellt eine von Bergson immer wieder verwendete Metapher dar, die er in Materie und Gedächtnis gleich im Vorwort einführt und im Verlauf des Buches mehrfach aufgreift. Er selbst faßt sie an anderer Stelle in die Formel: »das Gehirn ist ein Organ der Pantomime […]. Seine Rolle besteht darin, das Leben des Geistes zu mimen, ebenso wie die äußeren Situationen, an die sich der Geist anpassen muß.«12 Im Vorwort von Materie und Gedächtnis malt er dieses Bild stärker aus: »Wer ins Innere eines Gehirns eindringen und sich dessen gewahr werden könnte, was dort geschieht, […] wäre über dasjenige, was sich in dem entsprechenden Bewußtsein abspielt, doch nur gerade soweit aufgeklärt, wie wir es über ein Theaterstück durch das Kommen und Gehen der Schauspieler auf der Bühne wären. […] Je nach der Natur des Stückes, das gespielt wird, sagen die Bewegungen der Schauspieler mehr oder weniger darüber aus: fast alles, wenn es sich um eine Pantomime handelt; fast nichts, wenn es eine feinsinnige Komödie ist.« (S. 8 f.). In diesem Sinne des Aufführens eines Theaterstücks oder des Spielens eines Musikstücks spricht Bergson oft davon, daß wir z. B. unser Wiedererkennen »spielen«, statt es zu denken oder vorzustellen (S. 114, 291). Dieselbe Formulierung und Entgegensetzung findet sich in et le mouvant, S. 154–157 (deutsch in: Henri Bergson, Philosophie der Dauer, Hamburg 2013, S. 153–156). 12 L’énergie spirituelle, S. 47.
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Nachwort der Übersetzerin
bezug auf unsere vergangene Erfahrung (S. 191), unsere Vergangenheit (S. 93) und die Vergangenheit im allgemeinen (S. 275, 277), unsere Existenz (S. 196, 210), Träume (S. 14), Bilder (S. 8), das Erfassen einer Ähnlichkeit (S. 202), Assoziationen (S. 209, 297) und Ideen (S. 204, 216). So einfach und klar dieses Bild auch ist, so schwierig ist hier eine Übertragung ins Deutsche: Im Französischen wirkt jouer an diesen Stellen natürlich, man denkt sofort an die Aufführung eines Theaterstücks oder das Spielen eines Musikstücks. Im Deutschen hingegen hat »spielen« hier einen anderen Klang, insbesondere dann, wenn Bergson noch ein »bloß« hinzusetzt (vgl. S. 210). Wenn etwas »bloß gespielt« ist, dann schwingt im Deutschen sofort mit: »Es ist nicht echt.« Auch das Element der Phantasie, des Spielerischen, läßt sich im Deutschen in dieser metaphorischen Verwendung des Begriffs nicht so leicht ausblenden wie im Französischen. Beide Aspekte wären hier jedoch irreführend und sogar sinnwidrig: Gemeint ist beispielsweise im Falle des Wiedererkennens ein durchaus echtes und eben gerade ohne jede Form der Phantasie oder Vorstellung geradezu mechanisch, durch Gewohnheiten oder reflexartige Mechanismen vollzogenes Wiedererkennen. An einigen Stellen hätte man eine das Bild ungefähr erhaltende Notlösung finden können, so z. B. »aufführen« oder »nachspielen«, wenn es um unsere Vergangenheit geht. In anderen Kontexten, z. B. in bezug auf Ähnlichkeiten oder Assoziationen, laden diese Formulierungen aber wiederum zu Mißverständnissen ein und verschleiern eher den im Französischen sehr klaren Sinn der Metapher. Das Bild des aufgeführten Theaterstücks hat, wenn man es wie Bergson allein auf die Wahrnehmung der Bewegungen der Schauspieler reduziert, offensichtlich zwei Grundaspekte: 1. die körperliche Umsetzung des Stücks (Vollzugsaspekt); 2. die Darbietung für ein Publikum (Ausdrucksaspekt). Da es mir nicht gelungen ist, ein Wort zu finden, daß diese beiden Aspekte gleichermaßen zum Ausdruck bringt und im Deutschen in allen
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Kontexten anwendbar wäre, habe ich mich entschlossen, um die Einheit des Ausdrucks zu wahren, in der Übersetzung ganz auf das Bild zu verzichten und den Aspekt wiederzugeben, der mir für das Verständnis der Bergsonschen Intention am wichtigsten erscheint. Aus diesem Grund wird jouer dort, wo es im Sinne dieser Metapher und in Entgegensetzung zu ›denken‹ oder ›vorstellen‹ verwendet wird, mit ›vollziehen‹ übertragen, mit Ausnahme einer Stelle, an der Bergson die Metapher explizit als solche kennzeichnet und aufgreift (S. 275). Damit die Verwendung des Bildes für die Interpretation dennoch nachvollziehbar bleibt, sind zum einen weiter oben alle betreffenden Passagen aufgeführt und zum anderen ist ›vollziehen‹ im Text an den entsprechenden Stellen mit einem Asterisk (*) gekennzeichnet. Ein dritter Fall, der hier zumindest kurz genannt werden muß, ist der Begriff action (samt dem dazugehörigen Verb agir), der sich wie ein roter Faden durch das gesamte Werk Henri Bergsons zieht. Er ist für die Übersetzung insofern schwierig, als sein Bedeutungsspektrum von der physikalisch-chemischen Wirkung elementarer Teilchen oder Substanzen bis hin zur menschlichen (auch ethischen) Handlung reicht.13 Wie in der Übersetzung der Schöpferi schen Evolution wird er hier je nach Kontext mit ›Handlung‹ bzw. ›Handeln‹, ›Wirken‹ und ›Einwirken auf …‹ (action sur …) wiedergegeben. An einigen Stellen wurde auch eine Übertragung durch ›Wirkung‹ bzw. den Plural ›Wirkungen‹ notwendig. Für die Interpretation ist es wichtig, trotz dieser der Übersetzung geschuldeten terminologischen Vielfalt, die im Französischen durch die Einheit des Begriffs zum Ausdruck kommende Einheit des Phänomens im Blick zu behalten. Um auch im Fall der Übertragung von action mit ›Wirkung‹ den Rückschluß auf das französische Original zu ermöglichen und in der Übersetzung nicht action und effet (Wirkung/Effekt) verschwimmen zu lassen, wird effet an allen StelAusführlicher dazu siehe Schöpferische Evolution, Hamburg 2013, S. 418. 13
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len, an denen es sich nicht um das Wortpaar Ursache – Wirkung (cause – effet) handelt, mit ›Effekt‹ übertragen. Zuletzt sei kurz auf die zwei Ausdrücke le présent und le passé hingewiesen, die im Französischen unterschiedslos sowohl die Zeitdimensionen ›Gegenwart‹ und ›Vergangenheit‹ als auch den »Inhalt« dieser Zeitdimensionen, also ›das Gegenwärtige‹ und ›das Vergangene‹ bezeichnen. Beide Bedeutungen müssen hier zusammengedacht werden, um dem französischen Original zu entsprechen. Im deutschen Text sind sie durchgängig mit ›Gegenwart‹ und ›Vergangenheit‹ wiedergegeben. Und wie schon in der Vergangenheit so gilt auch in der Gegenwart mein besonderer Dank Prof. Dr. Rémi Brague für wertvolle Hinweise und seinen Rat bei schwierigen Fällen. Die vorliegende Übersetzung ist eine vom französischen Original ausgehende Neuübersetzung. Sie folgt dem in der kritischen Ausgabe (V, s. u.) abgedruckten Text der dritten Ausgabe von Ma tière et mémoire (III) und nutzt die Anmerkungen dieser Edition. Da sich jedoch in der kritischen Ausgabe sowohl bei der Reproduktion des Haupttextes als auch in den Anmerkungen einige Fehler eingeschlichen haben, korrigiert die Übersetzung überall dort auf den Wortlaut der Centenaire-Ausgabe zurück, wo nicht durch eine Anmerkung auf eine absichtliche Textänderung hingewiesen wird oder ein klarer Druckfehler der vorigen Aus gaben vorliegt. Die 1919 erschienene bisherige deutsche Übersetzung von Julius Frankenberger wurde für die neue Übersetzung vollständig durchgesehen. Besonders gelungene Ausdrücke und Formulierungen sind auch in diesen Text wieder eingeflossen. Gegenüber der alten deutschen Übersetzung wurden die in der Centenaire-Ausgabe und der kritischen Ausgabe angegebenen Abweichungen des Textes der dritten Ausgabe (III) von den vori gen Ausgaben (I, II) und die an einigen Stellen erfolgten Rückkorrekturen verzeichnet sowie die Textvarianten der vor dem Erscheinen von Materie und Gedächtnis veröffentlichten Artikel
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(»Mémoire et reconnaissance«14 und »Perception et matière«15), die in überarbeiteter Form einen Teil des zweiten und des vierten Kapitels von Materie und Gedächtnis ausmachen. Dabei richten sich die bei uns in den Fußnoten abgedruckten Varianten im Wortlaut nach dem Text der Originalartikel und weichen an einigen Stellen von den Angaben der kritischen wie auch der Centenaire-Ausgabe ab. Weiterhin wurde auch das in den französischen Ausgaben ebenfalls enthaltene ursprüngliche Vorwort aufgenommen, das Bergson 1911 durch ein neues ersetzte. Die im Kolumnentitel mitgeführten Seitenzahlen und die Kenn zeichnung der Seitenübergänge im Text ( | ) beziehen sich auf die dritte Ausgabe (III) von Matière et mémoire. Ausgaben von Matière et mémoire (I)
Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit, Paris: Alcan 1896.
(II)
Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit, 7. Auflage, Paris: Alcan 1911. Das ursprüngliche Vorwort wurde durch ein neues ersetzt, die Paginierung des Haupttextes ist davon nicht betroffen.
(III) Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit, Paris: P. U. F. 1941. Der Text wurde neu gesetzt und das Vorwort der 7. Auflage in die Paginierung des Haupttextes integriert. 1958 trägt die damals aktuelle Ausgabe die Bezeichnung 54. Auflage. Bei dieser Form des Werkes handelt es sich um die letzte zu Lebzeiten des Autors verwendete Fassung, deren Paginierung in den folgenden Ausgaben übernommen bzw. in der Centenaire-Ausgabe am Rand vermerkt ist. 1896 in zwei Teilen in der Revue philosophique erschienen: Bd. XLI, März 1896, S. 225–248 und Bd. XLI, April 1896, S. 380–399. 15 Revue de métaphysique et de morale, Bd. IV, 1896, S. 257–279. 14
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Nachwort der Übersetzerin
(IV)
Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit, in: Henri Bergson: Œuvres, Edition du Centenaire (Cente naire-Ausgabe), textes annotés par André Robinet, introduction par Henri Gouhier, Paris: P. U. F. 1959. Bis auf wenige, eigens vermerkte Abweichungen textgleich mit der III. Ausgabe. In den Anmerkungen sind die Textvarianten der oben genannten Artikel aufgeführt.
(V)
Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit, édition critique (kritische Ausgabe), hg. v. F rédéric Worms u. Camille Riquier, Paris: P. U. F. 2008. Diese Ausgabe übernimmt den Text und die Paginierung der III. Ausgabe sowie die Angaben der Textvarianten aus der CentenaireAusgabe und ergänzt diese durch ein umfangreiches kritisches Dossier.
Vorabdrucke in Zeitschriften RP
Mémoire et reconnaissance, in: Revue philosophique, Bd. XLI (1896), März, S. 225–248, und April, S. 380–399 (Vorfassung des zweiten Kapitels).
RM
Perception et matière, in: Revue de métaphysique et de morale, Bd. IV (1896), S. 257–279 (Vorfassung des vierten Kapitels).
F1–F5 Handschriftliche Blätter, auf denen Bergson die Einarbeitung von RP und RM in Materie und Gedächtnis vorbereitete (s. o., S. 133, Anm. 2): Fonds Doucet, BGN 1245, IV – BGN – VI – 64, Blatt 1–5 [BGN 2179–2183].
GLOS SA R
EINZELNE BEGRIFFE discernement effet effet – cause intuition jouer représentation représenter souvenir-image image-souvenir
das Unterscheiden, Unterscheidungsvermögen (vgl. dazu S. 39, Anm.) Effekt (s. dazu Nachwort d. Ü., S. 313 f.) Wirkung – Ursache (s. dazu Nachwort d. Ü., S. 313 f.) Intuition (s. dazu Nachwort d. Ü., S. 307 ff.) im metaphorischen Sinne: vollziehen* (s. dazu Nachwort d. Ü., S. 311 ff.) Vorstellung (s. dazu S. 35, Anm.) vorstellen (s. dazu S. 35, Anm.) Bild-Erinnerung Erinnerungsbild WORTFELDER
Handlung (s. dazu Nachwort d. Ü., S. 313) action action sur … agir réaction action – réaction réagir
Handlung, Handeln, Wirken, Wirkung Einwirken auf …, Wirkung auf … handeln, wirken Reaktion Handlung – Reaktion, Wirken – Reagieren, Wirkung – Reaktion reagieren
318 Glossar
Ausdehnung – Spannung extension inextension l’extensif extensif inextensif étendue étendu l’étendu inétendu l’inétendu dilatation dilater tension détente relâchement
Ausdehnung Ausdehnungslosigkeit das Extensive extensiv inextensiv Ausgedehntheit ausgedehnt das Ausgedehnte unausgedehnt das Unausgedehnte Dehnung dehnen Spannung Entspannung Lockerung, Erschlaffung, Entspannung
Zeit – Dauer durée Dauer le présent die Gegenwart (s. dazu Nachwort d. Ü., S. 314) le passé die Vergangenheit (s. dazu Nachwort d. Ü., S. 314) présent gegenwärtig (s. dazu S. 35, Anm.) présence Gegenwart, Gegenwärtigkeit (s. dazu S. 35, Anm.)
PER SON EN R EGIST ER
Achilles 238 Adler 145 Bain, Alexander 161 Ball, Benjamin 196 Bastian, Henry C. 142 Berkeley, George 4, 264 Bernheim, F. 157 Boileau-Despréaux, Nicolas 177 Boutroux, Émile 303 Broadbent, William H. 156 Charcot, Jean Martin 110, 145, 156 Cowles, Edward 218 Demokrit 81 Descartes, René 5, 59, 65, 94, 241 Epikur 206 Euler, Leonhard 242 Exner, Siegmund 255 Faraday, Michael 249 Fouillée, Alfred 114 Freud, Sigmund 157 Goldscheider, Alfred 127 Graham, Thomas 250 Grashey, Hubert 127, 152
Graves 153 Hamilton, William 122 Höffding, Harald 107 Huxley, Thomas Henry 196 James, William 123, 268 Janet, Pierre 10, 151 Kant, Immanuel 5, 27, 229, 232, 262, 268, 279, 282 f. Külpe, Oswald 127 Kussmaul, Adolf 142, 156 Lachelier, Jules 303 Lehmann, Alfred 106 Leibniz, Gottfried Wilhelm 40, 241 Lichtheim, Ludwig 142, 156 Lissauer, Heinrich 110, 117, 118 Lotze, Hermann 55, 67 Magnan 157 Maudsley, Henry 113 Mill, John Stuart 282 Moeli 157 Molyneux, William 266 Morus (More, Henry) 241 Müller, Friedrich 110, 117 Müller, R. F. 127 Münsterberg, Hugo 127
320 Personenregister
Newton, Isaac 242
Thomson, William 249
Persius 177
Van der Waals, Johannes Diderik 248 Voisin, Jules 142
Rabier, Élie 107 Ravaisson, Félix 221 Ribot, Théodule 68, 113, 123, 150, 161 Romberg, Moritz Heinrich 142 Smith, W. G. 101 Sommer, Robert 152 Spinoza, Baruch de 47, 303 Stricker, Salomon 145
Ward, James 268 Wernicke, Carl 142, 156 Wilbrand, Hermann 109 Winslow, Forbes 142, 151 Wundt, Wilhelm 122, 123, 126, 164 Wysman, J. W. H. 157 Zenon von Elea 237 – 239