Marxistische Literaturkritik aus Großbritannien [Reprint 2021 ed.] 9783112479582, 9783112479575


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Marxistische Literaturkritik aus Großbritannien [Reprint 2021 ed.]
 9783112479582, 9783112479575

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Marxistische Literaturkritik aus Großbritannien

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Marxistische Literaturkritik aus Großbritannien Auswahl und Zusammenstellung

R a y m o n d Southall Eingeleitet und herausgegeben von Karl-Heinz Magister

Akademie-Verlag Berlin 1986

Übersetzet Dr. Eva Walch: Text 1 - 3 . Dt. Peter Meyer: Text 6 - 1 3 . Dr. Hellmut Neuhaus: Text 4 u. 5.

ISBN 3-05-000 179-8 ISSN 0232—315X Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, DDR -1086 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1986 Lizenznummer: 202 • 100/129/86 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei „Gottfried Wilhelm Leibniz", 4450 Gräfenhainichen • 6600 Lektor: Alfred Gessler LSV: 8050 Bestellnummer: 7546094 (2150/89) 01200

Inhalt

Einleitung

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1. Raymond Soutball Die Stimmung der traditionellen Volksballade

24

2. Charles Hobday Nagelschuh und Lederschurz: Shakespeare und die Tradition des Gleichheitsgedankens

77

3. lan Watson Ein Plädoyer für die Volkskultur - Die Lieder des Industrieproletariats

97

4. Cbristopber Hill John Bunyan und die englische Revolution

123

5. Mick West Jonathan Swift: Satire und Revolution

145

6. Edgell Kickword William Hone

164

7. Graham Holderness Freiheit und Notwendigkeit: Die Poesie des Marxismus .

193

8. Arnold Kettle Bernard Shaw und der neue Geist

210

9. Jack Lindsay Die Dimension der Zeit in modernistischer Literatur: Marcel Proust und James Joyce

223

10. Jeremy Hawtborn Die historische Entwicklung der menschlichen Individua5

lität und der Charakterzeichnung im modernistischen Roman 11. Arthur Leslie Morton David Herbert Lawrence - Söhne und Liebhaber

. . .

238 259

12. Raymond Williams Der walisische Industrieroman

271

13. David Craig Bilder aus dem Fabrikleben

291

Anhang Abkürzungen

320

Anmerkungen

320

Zu den Autoren

327

Literaturnachweise

330

Personenregister .

331

Einleitung

Der Marxismus in Großbritannien ist spätestens gegen Ende der siebziger Jahre in eine komplizierte Phase der Auseinandersetzung mit einem wiedererstarkenden Konservativismus bzw. Revisionismus getreten. Daraus erklärt sich auch das gewachsene Interesse der zahlreichen politisch engagierten Menschen am marxistischen Gedankengut, denn seine geistige Attraktivität und ideologische Relevanz hat gerade Mitte der achtziger Jahre wieder zugenommen. Während der letzten zwei Jahrzehnte ist seine inhaltlich-begriffliche Bestimmung wesentlich fundierter und differenzierter geworden, beständig ausgesetzt einer kaum noch überschaubaren Flut teils opportunistischer und revisionistischer, teils linksradikaler Angriffe. Die gegenwärtigen Diskussionen zur marxistischen Kulturtheorie und Ästhetik in Großbritannien sind ideologisch von der Notwendigkeit einer konstruktiven Bündnispolitik aller demokratischen Kräfte zur Sicherung des Weltfriedens getragen. Daraus können neue Impulse erwachsen für ein verstärktes politisch-künstlerisches Engagement unter realen Bedingungen heutiger Klassenkämpfe im Herrschaftsbereich des Imperialismus und für unsere Klassensolidarität mit den um soziale Gerechtigkeit und geistig-politische Emanzipation Kämpfenden, besonders mit den Millionen Arbeitslosen. Die gegenwärtigen heterogenen marxistischen Strömungen sind vor allem zu verstehen als Spiegelbild der komplizierten Klassensituation und der verschärften politischen und ideologischen Repression durch den „Thatcherismus", der alle fortschrittlichen, demokratischen Bestrebungen und Institutionen zu unterdrücken sucht. Eine breite Front marxistischer, demokratisch gesinnter, linksorientierter Schichten unterschiedlicher Schattierungen ringt In zahlreichen politischen Aktionen - wofür der über viele Monate andauernde Bergarbeiterstreik des Jahres 1984 vielleicht das auffälligste Beispiel bietet - um eine kampfstarke „demokratische Allianz", die sich nach eigenem Selbstverständnis 7

durchaus wieder als eine Art Volksfront gegen die rechtskonservative Politik begreift. Wichtig aus unserer Perspektive des realen Sozialismus und unserer selbstverständlichen Solidarität mit der britischen Arbeiterklasse und ihrer Kommunistischen Partei ist eine umfassende wissenschafdiche Analyse und die Propagierung britischer marxistischer Arbeiten, zumal diese im eigenen Land immer mehr den profitorientierten Zwängen marktwirtschaftlicher Produktion und Distribution unterworfen sind. Wir sehen die besondere Funktion des Marxismus gegenüber einer verschärften imperialistischen Propaganda im Dienst einer demokratischen und sozialistischen Umgestaltung in Großbritannien und ihrer mobilisierenden Wirkung im täglichen Arbeitskampf sowie an der großen Kampffront für Frieden und Abrüstung, wie sie konsequent nur von der Kommunistischen Partei bzw. den ihr nahestehenden Historikern, Kultursoziologen, Kunsttheoretikern, Schriftstellern vertreten werden. Hier ist vor allem die aus der großen Wirtschaftskrise und den Klassenkämpfen der dreißiger Jahre hervorgegangene, eindeutig marxistisch-leninistische Wissenschafts- und Kulturtradition mit der Perspektive auf eine sozialistische Gesellschaftsordnung gemeint, für deren Verwirklichung der traditionelle Gedanke einer alle fortschritdichen Kräfte umfassenden Volksfront keine unerhebliche Rolle spielt. Diese Dokumentation gegenwärtiger britischer Literaturwissenschaft gibt einen weitgehend repräsentativen Querschnitt marxistischer Strömungen, Methoden, Wertungen und Schwerpunkte in den sechziger und siebziger Jahren und widerspiegelt so die lange Tradition revolutionärer Theorien zwischen jenen revolutionären Dreißigern und den jetzigen Achtzigern. Hierin manifestiert sich ein deudiches geschichtliches Kontinuitätsdenken. Dreizehn bedeutende britische Marxisten, die zu einem großen Teil schon vor dem Weltkrieg politisch, wissenschaftlich, künstlerisch aktiv waren und ihr eigenes revolutionäres Erbe in ihrem gegenwärtigen politischen Handeln und geistigen Schaffen konsequent weiterführen, haben jeweils einen ihrer aktuellsten literaturkritischen Essays ausgewählt und so zum Gelingen dieses Unternehmens beigetragen. Der englische marxistische Literaturhistoriker Raymond Southall, seit 1974 Professor für englische Literatur an der Universität von Wollongong (Australien) und engagierter Kämpfer für Frieden, Völkerfreundschaft und soziale Gerechtigkeit vor allem in der „dritten Welt", hat mit dankenswerter Mühe und über alle mit 8

einem solchen Projekt verbundenen Schwierigkeiten hinweg diese anspruchsvolle Auswahl zusammengestellt und sie nach thematischen und chronologischen Gesichtspunkten gegliedert. Gemeinsam ist diesen Beiträgen - angefangen von der Erforschung der antifeudalen Volkskultur und den frühen bürgerlich-revolutionären bzw. humanistischen Traditionen bis hin zur Erkundung spätbürgerlich-modernistischer und schließlich eigenständiger sozialistischer Literaturen ein grundlegend historisch-genetisches Herangehen. Eine in den Klassenkämpfen geformte produktive Methodenvielfalt setzt sich in deutlicher Polemik ab von ahistorischen und formalästhetischen Literaturkonzeptionen sowie von antihumanistischen Theoremen der Krisengesellschaft. Gegenstand der Essays sind größtenteils auch in der D D R bekannte Werke und Autoren der Weltliteratur. So dient dieser Band auch einem tieferen und kritischeren Verständnis des englischen nationalen Kulturerbes, vor allem seiner volkstümlichen Quellen und Traditionen. Außerdem eröffnen die am speziellen englischen Gegenstand entwickelten marxistischen Interpretationsweisen unterschiedlicher Couleurs eine neue und bereichernde Sicht auf unsere eigene literaturtheoretische Methodologie: Aus ihrer geschichtlichen Funktion ergibt sich, daß die unmittelbar aus den ideologischen Auseinandersetzungen erwachsene Polemik der marxistischen Literaturwissenschaft stärker auf politische Wirksamkeit und gesellschaftliche Konkretheit als auf theoretische Originalität und Innovation orientiert. Gerade dadurch wird die Frische und Leidenschaftlichkeit um so anschaulicher, mit der die sozialen und ideologischen Kämpfe ausgetragen wurden. Somit kommt diese in Gegenstand, Stil und Methode heterogene Sammlung unseren aktuellen kulturpolitischen Erwartungen entgegen, weil die an den geschichtlichen Klassenantagonismen orientierten Debatten ein weitgefächertes Bild geben von der Verbundenheit mit' dem humanistischen Erbe, aber auch von den komplizierten geistig-ideologischen Problemen einer marxistischen Literaturwissenschaft unter kapitalistischen Publikationsbedingungen. Neben den weit über die nationalen Grenzen hinaus bekannten Repräsentanten marxistischer Kulturgeschichte, die bereits zur Gründungsgeneration des Thirties Movement (wie bereits von Gustav H. Klaus in seiner Dokumentation ausführlich vorgestellt) 1 gehörten bzw. auf diese unmittelbar folgten, wie Alick West, Edgell Rickword, Jack Lindsay, A. L. Morten bzw. Christopher Hill, Raymond Williams und Arnold Kettle, tauchen schon erfolgreiche Vertreter

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einer jüngeren Generation auf, die entsprechend den veränderten Klassenkonstellationen und Bündnisstrategien bereits neue theoretische Akzente einer englischen marxistischen Literaturwissenschaft für die achtziger Jahre setzen. Die unterschiedlichen Generationserfahrungen im Klassenkampf erklären auch einige wesentliche Differenzen in Schreibweise, methodologischem Herangehen, Interpretationspraxis und in der Aneignung künstlerisch-ideologischer Zusammenhänge. Als die wesentliche, zumindest von den Marxisten hier angestrebte Gemeinsamkeit - der Marxismusbegriff erscheint hier trotz dieser recht differenzierten Bestimmung und Anwendung immer wieder als theoretischer Dreh- und Angelpunkt der Sammlung - erkennen wir die dialektische Wechselwirkung von ästhetischer Wahrnehmung als eines Aspekts gesellschaftlichen Bewußtseins, wie es Raymond Southall betont, mit den konkreten sozialen Prozessen der Zeit. Das ästhetische Werturteil wird zugleich als ein politisch parteiliches begriffen. Der Glaube an den in der heutigen Zeit notwendigen Bewußtseinswandel vermittels einer sozialistisch-humanistischen Erziehung und durch den Einfluß revolutionärer Ideen und Traditionen zieht sich wie ein roter Faden durch alle Beiträge, die damit auch eine Vorstellung geben von den massenmobilisierenden Potenzen einer progressiven Kunst im geschichtlichen Prozeß. Diese gesellschaftlich aktive Funktionssetzung von Literatur und deren Wertung durch eine historisch-materialistische Ästhetik im Kontext gesellschaftlicher Umwälzungen ist fest integriert in die lange Tradition einer eigenständigen marxistischen Theoriebildung in Großbritannien. Seit den berühmten Dreißigern unter dem großen Vorzeichen der antifaschistischen Volksfrontbestrebungen und den Fünfzigern mit ihrer Hoffnung auf eine kampfstarke revolutionäre Arbeiterpartei und eine überzeugende „zweite Kultur" ist die marxistische Theorie eng mit dem Kampf um die soziale und politische Emanzipation des Volkes verbunden. Doch die veränderte gesellschaftliche Konstellation - bedingt durch die verstärkten imperialistischen Strategien von ideologischer Demagogie und militärischer Gewalt, von ökonomischen Krisen und daraus resultierender sozialer Verelendung der Massen in der kapitalistischen Welt bei gleichzeitiger Schwächung der Arbeiterbewegung - wirkte sich auch auf eine veränderte Bündnispolitik aus. Eine große Allianz aller demokratischen Kräfte gegen das staatsmonopolistische System wird jetzt notwendig, wie sie sich in der breiten Gewerkschaftsbewegung, in den großen Streiks von nationalen Ausmaßen, in den vielfältigen Aktivi10

täten aller Atomwaffengegner ganz unterschiedlicher sozialer Schichten bereits verwirklicht hat. Dem entspricht auch eine verstärkte Erforschung der „zweiten Kultur" und ihrer geschichtlichen Quellen und Traditionen - mithin des reichen literarischen Erbes. Das antiimperialistische Kampfbündnis findet seine geschichtliche Legitimation in den antifeudalen Überlieferungen einer radikalen Volkskultur ebenso wie in den satirisch-überhöhten, revolutionären und sozialkritischen Tendenzen der klassischen bürgerlichen Literatur bzw. auch im antibürgerlichen Affront des Modernismus, den marxistische Theoretiker jetzt positiv zu werten begannen. So werden in diesem Band sowohl Umbrüche als auch Kontinuitäten sichtbar. Marxistische Methodologie realisiert sich hier also nicht nur in abgeschlossener und voll abgerundeter Analyse, sondern auch als didaktisch-ideologisches Experimentierfeld mit dem Ziel ihrer möglichst weiten 'Verbreitung und aktuellen Wirksamkeit. Der Kampf gegen die revisionistische Verfälschung des kulturellen Erbes wurde wichtig wie auch die Mobilisierung und geistig-politische Aufklärung der Massen. Darin widerspiegelt sich vor allem die politische Umbrochsituation der sechziger Jahre mit der Spaltung der englischen Linken und dem Höhepunkt der Studentenunruhen von 1968. In bezug auf die marxistische Theorie in den siebziger Jahren bemerken wir ein gewisses Nachlassen der Auseinandersetzung mit eigenen, jüngeren proletarischen, sozialistischen Literaturtraditionen zugunsten einer beachtlichen historischen Spannweite der Beschäftigung mit dem gesamtliterarischen Erbe, wie gerade diese Auswahl dokumentiert. Für eine historische Beurteilung der englischen marxistischen Literaturwissenschaft und Ästhetik in den letzten beiden Jahrzehnten ist die Einbeziehung der Leistungen der fünfziger Jahre auf diesem Gebiet unabdingbar. Durch das Scheitern der Volksfrontbestrebungen und durch zunehmend revisionistische Tendenzen innerhalb der Labour Party nach dem Kriege wurde von Seiten der Kommunistischen Partei Großbritanniens zunächst ein Bruch mit der Bündnispolitik der Dreißiger vollzogen, um ihren geistig-politischen Prinzipien treu zu bleiben. Im Parteiprogramm der CPGB von 1951 The British Road to Socialism (Der britische Weg zum Sozialismus) und seinen kulturästhetischen Nachfolgepublikationen wurde im Sinne einer „zweiten Kultur" die Kontinuität des kulturellen Erbes der Arbeiterklasse und der Methode des sozialistischen Realismus in den Mittelpunkt gestellt. Die theoretischen Schriften der Dreißiger: 11

Christopher Caudwells Illusion and Reality (1937; Illusion und Wirklichkeit), Ralph Fox' Tbe Novel and tbe People (1937; Der Roman und das Volk) und Alick Wests Cr'tsis and Criticism (1937; Krise und Kritik) bildeten jetzt eine unverzichtbare ästhetische Plattform für das Produzieren einer eigenen proletarisch-sozialistischen Literatur, und sie geben auch heute weiterhin, wie einige unserer Beiträge beweisen, fruchtbare theorietische Impulse für die Entwicklung marxistischen Denkens. Von besonderer Bedeutung war etwa Alick Wests Bemühen, das Gorkische Kategoriensystem des sozialistischen Realismus für ' die englischen Literaturverhältnisse produktiv zu machen und die theoretischen Grundlagen für die Entwicklung eines eigenständigen Arbeiterromans zu schaffen. Hier war - kurzzeitig und auf diese Arbeiterschriftsteller im wesentlichen begrenzt - eine fruchtbare Wechselwirkung zwischen parteilicher ästhetischer Theorie und sozialistischer Romanpraxis erreicht worden, die von hohem politisch-weitanschaulichem Niveau und Pathos getragen wurde und von einem historischen Aufbruch kündete. Doch dieser ästhetisch-ideologische Anspruch einer allumfassenden künstlerischen Aneignung der proletarischen Welt und eines geschichtlich ungebrochenen revolutionären Menschenbildes setzte zu hohe Maßstäbe für die praktische Entwicklung einer sozialistischen Literatur in einer konfliktreichen bürgerlichen Gesellschaft. Diese utopische Harmonisierung der wirklichen Lebenssphäre der Arbeiterklasse im proletarischen Roman führte nicht in einen breiten Strom einer sozialistischen Nationalliteratur - erst recht nicht unter den nichtprofessionellen Voraussetzungen der Arbeiterschriftsteller und den diskriminierenden kapitalistischen Marktbedingungen für die Verbreitung ihrer Bücher. Schließlich haben sich vor allem Jack Lindsay, der noch in seiner programmatischen Schrift After tbe Tbirties (1956; Nach den Dreißigern) den Dekadenzbannspruch und den Normenkatalog eines Lukäcsschen Realismus propagiert hatte, wie auch Margot Heinemann2 bald gegen jede literarische Idealisierung realer gesellschaftlicher Erscheinungen und gegen die Kanonisierung der „no-conflict-theory" gewandt; sie haben schließlich in ihrer eigenen künstlerischen Tätigkeit einen variableren und im Hinblick auf die Totalität antagonistischer Verhältnisse dynamischeren Kunstbegriff praktiziert, um die Arbeiterbewegung auch in ihrem ganzen Konfliktreichtum zu zeigen. Von hier aus wird auch der Weg frei für einen produktiven Realismusbegriff, der auf die Aneignung der komplexen und widersprüchlichen Lebensrealität orien12

tiert und schließlich auf einen umfassenden Erbebegriff, der im Leninschen Sinne seine revolutionären Impulse aus dem gesamten nationalen und weltliterarischen E r b e bezieht. Erst durch dieses differenzierte historische Herangehen an das Erbeproblem in den sechziger und siebziger Jahren wird auch ein produktiver Zugang zum Modernismus in der Literatur gewonnen, wovon wir uns in den Beiträgen zu diesem Thema überzeugen können. Einen Hauptanteil an der geschichtlichen Grundlage des britischen Marxismus für die Folgezeit hatte die marxistische Historiographie, die sich in der „Historians' Group of the Communist Party" (1946 bis 1956) konstituierte und die geschichtswissenschaftliche Forschungsresultate von nationaler Bedeutung hervorbrachte. Zu ihren aktivsten Mitgliedern zählten A. L. Morton, Christopher Hill, Raymond Williams und Jack Lindsay; Mortons A People's History of England (1938; Eine Geschichte des englischen Volkes) besaß für diese Arbeitsgruppe eine theoretische Leitfunktion. Speziell von diesem Ausgangspunkt verstärkt sich im britischen Marxismus eine enge Wechselwirkung zwischen den wissenschaftlichen, künstlerischen, kunsttheoretischen Aktivitäten und der politischen Praxis, wie diese Essays auch eindrucksvoll belegen. Diese gewichtigen historischen Leistungen der Marxisten in den fünfziger Jahren und ihr Ringen um eine fruchtbare Einheit von poetischer Schöpferkraft, Theoriebewußtsein, revolutionären Gedanken und proletarischem Internationalismus hatten auch ihre starken Auswirkungen auf die sich herausbildende „Neue literarische Linke" in Großbritannien Mitte der sechziger Jahre. Freilich bezog Raymond Williams - als einer ihrer Begründer und Wortführer - seine ideologischen Impulse für sein eigenes vielfaches Engagement nicht ausschließlich aus Klassenkampferfahrungen, sondern auch aus Illusionen über eine relativ optimistische Wachstumsphase des englischen „Wohlfahrtsstaates" und gewisser revisionistischer Sozialismusutopien. Daraus entwickelte Williams schon Ende der fünfziger Jahre seine evolutionäre Theorie der Entfaltung einer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft in einer „langen Revolution" (.The Long Revolution; 1960), in der die wissenschaftliche und technische Revolution einschließlich des modernen Kommunikationssystems auch den sozialen, politischen und kulturellen Fortschritt nach sich ziehen würde. Der schließliche Verlust dieser Hoffnung führte auch zur Enttäuschung in seinen Erwartungen auf eine proletarische Kultur von gesamtnationaler Tragweite. 13

Williams' wesentlicher ideologischer Beitrag in den sechziger Jahren war also die Mitbegründung der „Neuen Linken", deren Protest gegen die bourgeoise Konsumgesellschaft sich in einer Überbetonung des ideologischen Faktors, mithin des menschlichen Bewußtseins („human consciousness"), äußerte. D a „Bewußtsein" nicht mehr nur als Reflex der ökonomischen Basis gesehen wurde, löste man es aus dem Überbaukomplex heraus und machte es zum unmittelbaren Bestandteil des materiellen Prozesses. Diese voluntaristische Aufwertung des subjektiven menschlichen Faktors als einer unabhängigen, eigengesetzlichen revolutionären Potenz, die sich der Marxschien These von der zur materiellen Gewalt werdenden Idee bedient, ist nur aus den sozialen Unruhen und dem politischen Aktionismus etwa des „heißen Sommers" von 1968 richtig zu verstehen. Auch Jack Lindsay hat kürzlich diesen Gedanken wieder aufgegriffen, und der Beitrag von Graham Holderness in diesem Band geht deutlich in dieselbe ideologische Richtung. Daraus entwickelte Williams später das Kulturkonzept des „cultural materialism", das entstanden ist aus einer entschiedenen Opposition zur bürgerlichen Kultursoziologie und zu deren modischen, profitorientierten Begriffen der .,,Massenkommunikation", von ihm jetzt kritisch interpretiert als „Massenmanipulation", und er postuliert die direkte Verknüpfung der kulturellen mit der materiellen Produktion zu einem einheitlichen Gesellschaftsprozeß. Ein sicherlich interessanter Gedanke einer möglichen gesellschaftlichen Alternative: die geistig-kulturellen Bedürfnisse der Arbeiterklasse aus den reichen Quellen und Werten der mit ihr am stärksten verbundenen materiellen Produktion zu befriedigen und diese vom bürgerlichen Kulturbetrieb und seinen entwürdigenden sozialen und ideologischen Zwängen abzukoppeln. Dies ist nicht unerheblich für die Analyse von Williams' eigener lebenslangen Romanpraxis wie auch für dessen parallel laufendes literarhistorisches Engagement speziell für den walisischen „Industrieroman". Charakteristisch für die künstlerische Methode eines emotionalen und stark identifikatorischen Erfassens bzw. Aufspürens der möglichst „ganzen" Lebensverhältnisse eines proletarischen Gemeinwesens waren seine Konzepte von „common culture" (die gesamte Lebensweise) und von „structure of feeling" (Gefühlsstruktur), mit Hilfe derer die vergangenen proletarischen Lebensperioden als Gewinn und organisches Erbe einer fortschreitenden proletarischen Kultur begriffen wurden. Ihre Werte und künstlerischen Produkte sind nicht mit klassisch-ästhetischen Normen zu 14

messen, und die Traditionen der Volkskultur besitzen in diesem Sinne eine starke Eigenständigkeit. Angriffsfläche bot diese gewiß etwas klassenindifferente Kulturkonzeption genug, wie etwa die radikale neulinke Polemik von Terry Eagleton bezeugt. Dieser recht allgemeine und natürlich bruchstückhafte Einblick in die Entwicklung und den Stand gegenwärtiger Marxismusdebatten bildet für das Verständnis des vorliegenden Bandes einen wichtigen Hintergrund, da solche Aspekte in den einzelnen Essays vielfach angesprochen werden und den geschichtlichen Kontext herstellen. Sicher mag man einige wesentliche Tendenzen des heutigen Marxismus vermissen, wie etwa die Mitte der siebziger Jahre verstärkt einsetzende Beschäftigung mit den marxistischen Strömungen auf dem Kontinent. Es ist bezeichnend, daß die Entwicklung des Marxismus in den fünfziger Jahren möglicherweise auch auf Grund der insularen Abgeschlossenheit davon noch wenig beeinflußt wurde. Williams zum Beispiel bekennt eine weitgehende Unwissenheit dieser kontinentalen Diskussion, als er seine kulturtheoretischen Hauptwerke schrieb. So kam es in den sechziger Jahren zu einem regelrechten Boom intensiver Auseinandersetzungen mit Lucien Goldmann, Antonio Gramsci, Louis Althusser, Jean-Paul Sartre, Walter Benjamin, wobei Gramscis Hegemoniekonzept, Goldmanns Struktursoziologie und die bemerkenswerte Wiederbelebung und kritische Neusicht von Georg Lukäcs (vgl. besonders den Beitrag von Jeremy Hawthorn zur Romantheorie) auch heute noch wesentliche Schwerpunkte bilden. Sicherlich macht der spezifische Charakter gegenwärtiger britischer Marxismusdiskussionen einige Überlegungen, die vom Inhalt der hier gesammelten Beiträge ausgehen, nicht überflüssig. Der von Raymond Southall so bezeichnete Forschungskomplex der V O L K S K U L T U R bzw. der volkstümlich-plebejischen Traditionen gilt als ein Schwerpunkt in der marxistischen englischen Literaturwissenschaft und findet nicht zuletzt deshalb seinen Platz am Anfang dieser Anthologie. Vielleicht kommt Raymond S o u t h a l l selbst in seinem einleitenden umfangreichen Essay über die „traditionelle Volksballade" dem oben schon angesprochenen Traditionsbewußtsein von Williams recht nahe. Southall plädiert für eine entschiedene Neuwertung besonders der spätfeudalen Dichtung des Volkes („populär poetry") als Ursprung einer eigenständigen kulturellen Tradition und wendet 15

sich gegen bürgerliche Auffassungen, die die Volksdichtung nur unter soziologischen und kulturhistorischen Gesichtspunkten und ausschließlich als bloßen Einflußfaktor der herrschenden Kultur betrachten. Er polemisiert gegen jede Scheidung zwischen einer Minoritätskultur und einer Volkskultur und sieht etwa in Shakespeares King Lear und Emily Brontes Wutbering Heigbts die künstlerischen Höhepunkte der Volksballaden. Sie gelten als eindrucksvolle Beispiele dafür, wie gerade die Volkstraditionen einige der wichtigsten Werke der herrschenden Kultur befruchtet haben. Eben aus dieser „Höhe" volksliterarischer Entwicklung wird für die traditionelle Volksballade ein schöpferischer Realismusbegriff definiert, der die typisch begrenzte Perspektive durch eine verstärkte Lebensintensität und konkrete Anschaulichkeit und durch eine erhöhte Spannung zwischen Mystik und Realistik mehr als wettmacht. Der originelle Begriff der „Stimmung" (mood) dient nun als ein wesentliches Differenzierungsund Bewertungskriterium der komplexen Sensibilität und reichen geistig-emotionalen Struktur im Verhältnis zwischen Volksballade und jenen großen Werken der Weltliteratur. Im struktursoziologischen Verfahren werden die überlieferten poetischen Konventionen, Archaismen, Symbole, Metaphern auf den Zerfall der Feudalgesellschaft und des alten feudalen Treue- und Ehrenkodexes hin untersucht. Die hier angestrebte Verknüpfung ästhetischer, geistig-emotionaler und sozialer Elemente leistet theoretisch neuartige, komplexe Einsichten in eine wesentliche Tradition der englischen Volksliteratur und deren fruchtbare Wirkung auf die englische Literaturgeschichte. Southall spannt den Bogen von der spätfeudalen Volkskultur über das Aufkommen einer kommerzialisierten Massenkultur, die zur Zerstörung der sozial-ethischen Werte der Volksballade führte, bis hin zur „Music Hall" des 19. Jahrhunderts und später auch der PopMusik mit ausschließlicher Unterhaltungsfunktion. Charles H o b d a y interpretiert die lange Tradition der radikalen volkstümlichen Gleichheitsbestrebungen vom frühen englischen Bauernaufstand (1371) bis zur ersten bürgerlichen Revolution (1640 bis 1649) im Kontext der Dramatik Shakespeares. Die häufige Verwendung der historischen Metaphern von „Nagelschuh" und „Lederschurz" für die unteren Stände der Bauern und Handwerker weist auf seine intime Kenntnis der frühkommunistischen Gleichheitsforderungen in den Dokumenten und Manifesten der Bauernrevolten und häretischen Lollarden und spricht eindeutig gegen bürgerliche Auffassungen von einer orthodoxen und apologetischen Haltung Shake16

speares zur Tudorideologie. Als eine wichtige Erkenntnis mag die folgenreiche These gelten, daß Shakespeare und die revolutionäre Bewegung der Leveller des 17. Jahrhunderts aus ein und denselben sozialutopischen Überlieferungen schöpften. Ian W a t s o n erschließt eine andere wesentliche Tradition der Volkskultur: den sogenannten Folk-Song des englischen Industrieproletariats (industrial folk song). In konsequenter Anwendung der marxistischen Methodologie befreit er dieses Genre vom kanonisierten bürgerlichen Kunstbegriff sowie von normativen Wertkriterien und von einseitigen soziologischen Analysen des Folk-Song-Erbes als bloße soziale Dokumente. Watson plädiert für eine Neuwertung gerade des epischen und des semantischen Charakters und der ästhetischen Wortqualität des Folk-Songs. Dieser wird hier definiert als eine wesentliche l i t e r a r i s c h e Ausdrucksform einer sich entwickelnden Kultur der Arbeiterklasse, als unmittelbarer Reflex ihres wachsenden Klassenbewußtseins, als eine spontane Form materialistischer Erkenntnisgewinnung. Watson hebt die künstlerische Leistung des industrieproletarischen Volksliedes über die des Industrieromans, da der kapitalistische Produktionsprozeß nur dort von innen her und vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus ästhetisch angeeignet sei. Damit erhalten die Lieder des Industrieproletariats - als künstlerische Produkte der Arbeiterklasse im Kapitalismus - einen besonderen ästhetisch-sozialen Stellenwert im Ensemble volkstümlicher Kunstproduktion, und nur ihr wird die Fähigkeit zur Antizipation einer zukünftig befreiten Arbeit zugesprochen, obwohl von hier aus keine Kontinuität zu den politischen Gesängen und Kampfliedern der britischen Arbeiterbewegung hergestellt wird. - Diesen drei Beiträgen zu Kulturtraditionen des Volkes ist gemeinsam, daß sie ihre künstlerischen Strukturen in ihrer langen historischen Entwicklung verfolgen, woraus sich erst verallgemeinernde ästhetische Gesetzmäßigkeiten einer breiten Volkskultur schlußfolgern lassen. Volksballade, Folk-Song und die Symbole der plebejisch-bäuerlichen Gleichheitsprinzipien erhalten so einen bedeutsamen Platz im nationalliterarischen Erbe. Einen wesentlichen theoretischen Schwerpunkt in der marxistischen Erbeforschung bildet das Thema der REVOLUTION, das die folgenden vier Beiträge in ihrer geschichtlichen Spannweite von der bürgerlichen englischen Revolution bis zum durch den Marxismus gereiften revolutionären Bewußtsein im Klassenkampf unserer Tage 2 Southall/Magister

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vereint. Hier wird eine vielschichtige Kontinuität sichtbar vom radikalen Emanzipationsstreben frührevolutionärer Volkstraditionen einerseits und vom Revolutionsverständnis der bürgerlichen Aufklärung andererseits. Der Historiker Christopher H i l l kommt in seiner beispielhaften historisch-dialektischen Werkanalyse John Bunyans im Kontext der bürgerlichen Revolution und aller ihrer komplizierten ideologischen, politischen, sozialen, religiösen und ästhetischen Verflechtungen zu dem Ergebnis, daß dessen kämpferisch-kalvinistische Haltung im Geiste der großen puritanischen Prediger zugleich eine eminent geschichtliche und revolutionäre war. Hill folgt konsequent den von ihm selbst erarbeiteten Grundlagen einer marxistischen Historiographie des 17. Jahrhunderts, indem er die tiefe Subversivität in Bunyans Werk fest in die lange Tradition radikaler häretischer Sektenbewegungen stellt, die bislang noch zu wenig erforscht ist. Sein spezifischer Realismus, der in der Dialektik von Vision und Realität, von radikaler Utopie und Wahrheitssuche im Spannungsfeld der nachrevolutionären Restauration besteht, widerlegt jede bürgerliche Anspielung auf eine etwaige religiös motivierte Resignation Bunyans, dessen geschichtliche und literarische Größe und dessen überragende Rezeptionswirkung durch sein Hauptwerk The Pilgrim's Progress unbestritten bleibt. In einem vergleichbaren methodologischen Verfahren zur Kennzeichnung der wahren geschichtlichen Potenzen im bürgerlichen Erbe hat Alick W e s t das Werk Jonathan Swifts unter der Dialektik von Satire und Revolution analysiert. Hier wird fürwahr wichtige Aufklärung über einen oft fehlinterpretierten Klassiker der englischen Literatur geleistet. Swift verurteilt wohl die radikalen Denker der bürgerlichen Revolution, doch erst recht zieht er jede stereotype Moral und Denkweise und jede tyrannische Autorität durch sarkastische Verkehrung in Zweifel. Swifts Satire hat Methode. Ihre Zweideutigkeit soll bewußt Verwirrung und Chaos - und damit Nachdenken - stiften. Wir erkennen eine radikale Leserstrategie. Wenn Swift die doktrinäre Lehre der anglikanischen Staatskirche verherrlicht, dann beabsichtigt er deren Schändung; wenn er durch extreme makabre Satire die moralische Korruption postuliert, dann bezweckt er deren öffentliche Verdammung. Wenn er das irische Volk wegen seines Versagens verspottet, dann sucht er dessen erzieherische Aufklärung bzw. Aufwiegelung. Wests Leistung liegt nun besonders im Transparentmachen der objektiven humanistischen Autorintentionen und der Schwächen bürgerlicher Re18

zeptionsweisen, die Swifts latente revolutionäre Kraft zu unterdrücken suchen. Edgell R i c k w o r d gibt einen brillanten biographischen Abriß vom Leben und Wirken des zu seiner Zeit populären radikalen Pamphletisten und oppositionellen Publizisten William Hone in der nachjakobinischen Phase Anfang des 19. Jahrhunderts. Der Autor, Herausgeber und Buchhändler in einer Person, ritt in' seinen spektakulären Flugblattparodien unerschrockene Attacken gegen jedwedes Unrecht und gegen die ideologischen Tabus sowie die politische Korruption der Bourgeoisie und die Unmoral höfischer Kreise. Doch seine fatale Karriere bewegte sich auf dem schmalen Grat zwischen aufrichtiger Zivilcourage und kleinbürgerlich-anarchistischer Aktion, zwischen revolutionärem Geist und Sensationshascherei. Dies ist sicher ein Beispiel für politische Subversivität außerhalb historischer Kulminationspunkte und literarischer Höhenkämme und ohne nennenswerte geschichtliche Nachwirkung, doch nichtsdestoweniger vom Standpunkt gegenwärtiger Kämpfe fest in der Kontinuität demokratischer und revolutionärer Traditionen zu verankern. - Graham Holderness' etwas pragmatische Verknüpfung von marxistischer Ideologie und Poesie ist sicher in den recht nüchternen Kontext marxistischer Bildung und Erziehung und ihrer Anwendung im klassenkämpferischen Alltag zu placieren. Holderness lehnt jeden mechanischen Kathedermarxismus ab und plädiert nach dem Vorbild der Dreißiger für eine lebendige Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis, zwischen volksverbundener Sprache und Klassenkampf. „Human consciousness" wird in deutlicher Anlehnung an die Theorien der „Neuen Linken" - wie oben bereits ausgeführt - zum herrschenden Faktor und Agens des gesellschaftlichen Fortschritts verabsolutiert. Holderness koppelt seine theoretischen Überlegungen zu gegenwärtigen Problemen der Propagierung des Marxismus in England mit einer lebendigen Annäherung an revolutionäre Poesie: mit einer überzeugenden Interpretation des einzigartigen Spaniengedichts John Cornfords. Damit dokumentiert er die geschichtliche Kontinuität der Arbeit der englischen Kommunisten seit den dreißiger Jahren und zugleich die Notwendigkeit, marxistische Literaturkritik und Arbeiterbewegung in Bezug zu setzen und diese Gedanken auch der breiten Masse eines darin meist wenig geübten Lesepublikums verständlich zu machen. In einer dritten Gruppe sind solche Essays gesammelt, die man im weiten Sinne der Problematik des M O D E R N I S M U S zuordnen 2'

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kann. Mit der Entwicklung neuer, an den realhistorischen Prozessen orientierter Wertmaßstäbe im Verhältnis von Ästhetik und Ideologie werden frühere Positionen des Dekadenzbannspruches überwunden. Der Aspekt des Modernismus wird von Arnold K e t t l e in seinem Beitrag zumindest berührt, indem er dessen „neuen Geist", das heißt sein Streben nach ästhetischer Innovation, hervorhebt und somit fruchtbare Anstöße für eine differenziertere Wertung in der weiteren marxistischen Shaw-Rezeption gibt. Kettle betrachtet frühere idealtypische Forderungen (Caudwells) der künstlerischen Parteinahme für das Proletariat aus der historischen Distanz und setzt sich kritisch auseinander mit Williams' Vorwurf der „emotionalen Unangemessenheit", dem er mit Shaws Plädoyer für eine „Öffnung" zu neuen ästhetischen Formen und damit zu einem „neuen Geist" begegnet, durch den er sich vom traditionell-emotionalen Kunstverständnis (a mere middle-class business) zu befreien suchte. Kettle initiiert eine produktive Annäherung an das Werk Shaws im komplexen Zusammenspiel von ideologischer Umwälzung und dramatischer Strukturveränderung - und zwar im großen europäischen Rahmen (Ibsen) und aus der Sicht Bertolt Brechts. Aus der speziellen künstlerischen Methode folgert Kettle eine große Gemeinsamkeit mit dem Modernismus des frühen 20. Jahrhunderp: den Angriff auf die Formen eines bürgerlich-liberal begründeten Realismus. - Direkt der Modernismusproblematik wendet sich Jack L i n d s a y zu, wenn er die hier bereits von Alick West vollzogene Neuwertung von Proust und Joyce in den Kontext von Henri Bergsons Begriff der „Zeitdimension" stellt, der eine neue, oppositionelle Zeiterfahrung der kapitalistischen Wirklichkeit erzeugt und den antibürgerlichen Schriftstellern als ein „Idiom der Revolte" gegen die durch Ausbeutung entfremdete Arbeitszeit dienen konnte, womit jedoch nicht der metaphysische Idealismus JJergsons als System gemeint ist. Eine gesteigerte Innovation solcher Idiome und Strukturen reflektiert eine erhöhte Entfremdung und Enthumanisierung der Wirklichkeit. Diese theoretischen Positionen sind ganz wesentlich für die weitere historisch-dialektische Erforschung des Modernismus. Besonders diesem Aspekt der Wechselwirkung zwischen ästhetischer Innovation und gesellschaftlicher Entfremdung folgt gerade die jüngere Generation marxistischer Modernismusforschung. Jeremy H a w t h o r n sieht die ästhetischen Strukturwandlungen als eine Folge geschichtlicher und sozialer Veränderungen. Seine spezielle Variante eines stark anthropologischen und psychologisierenden Her-

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angehens an die geschichtliche Entwicklung von menschlicher Individualität und Charakterdarstellung läuft hinaus auf einen Vergleich paralleler Strukturveränderungen in der epischen Tradition von der Antike bis zum bürgerlichen Roman einerseits und des Romanschaffens in den modernen Industriestaaten und den Entwicklungsländern andererseits. In einer epochalen Verklammerung der individualperspektivischen Entwicklungslinien zwischen Epos - Roman - „dritter W e l t " enthüllt Hawthorn die steigende Tendenz zur Selbstzerstörung und Enthumanisierung und damit den bürgerlichen Mythos von der Freiheit des Individuums. Hawthorns Modernismusbegriff umschreibt hier nicht eine bestimmte Phase der Literaturentwicklung im 20. Jahrhundert, sondern eine generelle Methode der literarischen Erfassung des entfremdeten bürgerlichen Individuums - auch bei Dostojewski und Sartre. Bemerkenswert ist auch der Versuch eines neuen, produktiven Zugangs zu Lukäcs' Literaturtheorie. I N D U S T R I E R O M A N E nennt Raymond Williams speziell jene Romane (in Wales), die sich im engen Zusammenhang mit der historischen Entwicklung der kapitalistischen Industrieproduktion im 19. und 20. Jahrhundert herausgebildet haben. Dieser Begriff bildet für die letzten drei Beiträge vielleicht die beste übergreifende K l a m mer, da er hier sowohl bürgerlich-realistische als auch proletarische und sozialistische Erzählliteratur umfaßt. A. L. M o r t o n geht über frühere marxistische Realismuspositionen hinaus, wenn er etwa gerade die Komplexität und Dialektik der Widersprüche im W e r k von D . H. Lawrence transparent macht, die sich aus der proletarischen Herkunft und seiner stark bürgerlichen Erziehung herleiten lassen. Morton nennt den Autor bewußt einen antibourgeoisen Künstler, „in dem das Bürgerliche und das Proletarische einen nie entschiedenen und letztlich selbstzerstörerischen Kampf miteinander führten". Im autobiographischen Zugriff werden Selbstzeugnisse des Romanautors als eindeutige Beweise gegen den Vorwurf des Faschismus ins Feld geführt. D a s Fehlen einer konsequenten Parteinahme für Proletariat und Sozialismus mildert jedoch nicht Mortons-hohe W e r t schätzung von Lawrences authentischer Milieuschilderung und seiner tiefen inneren Beziehung zur Arbeiterklasse, die sich von ihrem künstlerischen Anspruch her eindrucksvoll dem Leser mitteilen. Raymond W i l l i a m s gibt ein panoramaartiges und chronologisch gegliedertes Bild der Kulturgeschichte des von ihm schon über Jahrzehnte intensiv verfolgten „walisischen Industrieromans", der mit Lewis Jones und Gwyn Thomas seinen Höhepunkt erreichte. Williams

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negiert bis dahin jeden Einfluß des englischen (etwa Tressells) auf den walisischen proletarischen Roman. So argumentiert er im Sinne einer nationalgeschichtlich eigenständigen, genrespezifischen Tradition des w a l i s i s c h e n proletarischen Romans, für den gerade die extreme Innensicht und künstlerische Authentizität eines noch kollektiven proletarischen Gemeinwesens charakteristisch ist. Soziales Industriemilieu und Arbeitsprozeß sind nicht mehr stereotyp gestaltet, sondern dienen der zentralen epischen Funktion der Enthüllung von Ausbeutung und Entfremdung und sind eng mit einfühlsamen Gestaltungen lebendiger Menschenschicksale verbunden. Hier beeindruckt die genaue Fixierung der Widersprüche, die dem bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts aus der Begegnung mit der Welt der materiellen Produktion erwachsen und die der proletarische Roman zu überwinden sucht Williams glaubt jedoch, den Begriff des Realismus zum irrelevanten ästhetischen Wertungskriterium vernachlässigen zu können, und die Einengung auf einen autonomen, eher regionalen Begriff verstellt zum Teil wieder die Sicht auf die wirklichen historisch-ästhetischen Potenzen sozialistischer Literaturprozesse. Dies ist sicher zu deuten als eine scharfe antibritische und antibourgeoise Position. Nicht mehr das „bourgeoise England" ist sein produktiver Bezugspunkt, wie er in seinem Buch Politics and Letters (1979) schreibt, sondern das „radikale und kultivierte Volk" von Wales. Ohne Zweifel kann ein so autonom begründeter Literaturbegriff zur Schwächung demokratischer Bündnisstrategien führen. David C r a i g s Essay Bilder aus dem Fabrikleben zeigt ein ähnliches methodologisches Herangehen an eine vom bürgerlichen Markt unabhängige, eigenständige proletarische Literaturentwicklijng. Er erarbeitet eine beispielhafte literatursoziologische Studie staatsmonopolistischer Industrieproduktion und ihrer Arbeitsverhältnisse. Gegenüber der Erzählliteratur ü b e r die Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert wird im heutigen englischen Arbeiterroman eine neue ästhetische Qualität kraftvoller authentischer Darstellungsweise vermerkt. Hier korrespondiert die nach Marxschen Prämissen analysierte Verkrüppelüng des proletarischen Daseins im kapitalistischen Produktionsprozeß mit der Verarmung und Schrumpfung ästhetischer Formen und Strukturen. Eine spezifische Metaphorik und eine zerstückelte Sprache - wie in Peter C. Browns Smallcreep's Day (1965) - fungieren als Medien der Enthüllung einer inhumanen Realität und konstituieren einen neuartigen Realismus, der sich als dynamischer Faktor im Prozeß gesellschaftlicher Veränderung begreift. 22

Diese Akzentuierung einer radikalen Aneignungsweise, die ihre künstlerisch-stilistischen Mittel direkt mit den Entfremdungseffekten der kapitalistischen Produktion verbindet, weist auf mögliche Perspektiven und zukünftige Funktionen einer eigenständigen proletarisch-sozialistischen Literaturentwicklung. Dies meint keinen mechanistischen Bezug zwischen Kunst und Ökonomie, sondern einen umfassenden, materialistisch vertieften Kulturbegriff, der „die ökonomische u n d die künstlerische Weltaneignung auf e i n e n übergreifenden Weltprozeß" 3 bezieht. Dieser wie auch die anderen zwölf Essays veranschaulichen sicher die methodologische Vielfalt und das theoretische Niveau der britischen marxistischen Literaturwissenschaft, die sich auch heute ständig weiterentwickelt und die ihre Aktualität und geschichtliche Wirkung aus der aktiven Auseinandersetzung mit den antagonistischen Widersprüchen und den gesellschaftlichen Hauptfragen unserer Zeit herleitet. Es ist das Ziel dieses Bandes, dazu ein möglichst repräsentatives Material vorzulegen und somit eine Grundlage zu geben für weitere literaturwissenschaftliche Diskussionen zum gegenwärtigen britischen Marxismus. Aus der Fülle der Probleme seien hier besonders die hervorgehoben, die sich mit Fragen der Dialektik von revolutionärer Theorie und Praxis in der Literatur, mit der spezifischen Rezeption und Anwendung des Modernismusbegriffs und seiner britischen Neuwertung, mit Fragen der literarischen Produktion und Rezeption und der Auseinandersetzung mit bürgerlicher Kulturtheorie und Kunstkritik beschäftigen. Zugleich veranschaulichen die einzelnen Essays die große Breitenwirkung marxistischen Gedankenguts. Hier kommen Marxisten von hohem politischem Rang und großer wissenschaftlicher und künstlerischer Vielseitigkeit zu Wort, die zum Teil bereits über mehr als fünf Jahrzehnte durch ihr umfangreiches Werk und durch aktives politisches Engagement wesentlich zur Entfaltung und Verbreitung demokratischer und sozialistischer Kultur- und Literaturtraditionen in Großbritannien beigetragen haben. Damit dokumentiert dieser Band die Kontinuität aktueller marxistischer Literaturkritik zur revolutionären Programmatik der Dreißiger, aber auch die kritische Neuprofilierung und Festigung marxistischer Positionen aus einem gewachsenen Geschichtsverständnis heraus. Es bleibt zu erwähnen, daß die Realisierung dieser Publikation vor allem dem starken Engagement von Robert Weimann zu verdanken ist. Karl-Heinz Magister 23

1 RAYMOND SOUTHALL

Die Stimmung der traditionellen Volksballade I Es ist eine eigentümliche Tatsache, daß es der Mehrzahl unserer Volksballaden und -gedichte nicht gelungen ist, die Aufmerksamkeit unserer besten Kritiker auf sich zu ziehen. Hin und wieder hat der eine oder andere sich nebenbei dazu geäußert, gleichsam um ihr Vorhandensein nur ganz am Rande kritisch in Betracht zu ziehen, doch keineswegs, um sich so darauf zu konzentrieren wie auf Donne und Milton, Pope und Wordsworth oder selbst Browning und Arnold. Eine so einmütige Gleichgültigkeit derjenigen, die die besten Voraussetzungen für die Beurteilung der Volksdichtung besitzen, spricht scheinbar für sich selbst; man könnte aus der kritischen Vernachlässigung zu Recht schließen, daß sich diese Dichtung wenig zum Gegenstand einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung empfiehlt und daß man sie nach Meinung von Kennern schweigend übergehen oder mit einem bloßen Kopfnicken abtun kann. Dagegen spricht, daß beispielsweise Sidney und Johnson die Cbevy Chase (Hetzjagd) sehr schätzten, daß das Volkslied ein Element der Stücke Shakespeares ist, wie die Volksdichtung überhaupt die Struktur seiner Phantasie mitzubestimmen scheint, und daß die traditionelle Volksballade und -dichtung, welche auf Wordsworths und Coleridges Phantasie einwirkten, die romantische Erneuerung und damit den Verlauf der englischen Literaturgeschichte beeinflußten. Vieles davon wird auch tatsächlich häufig angeführt, ohne daß auf mehr als den Einfluß der Volksdichtung auf die eigentliche Literatur hingewiesen würde. Dies würde noch nicht unbedingt deutlich machen, daß es sich nicht nur um einen bloßen Einflußfaktor handelt, vergleichbar etwa dem der zeitgenössischen politischen Ereignisse auf die Dichtung John Drydens, sondern um eine Dichtung, die in bezug auf ihre Wirkung selbst eine eigenständige Kraft darstellt. Das stillschweigende Urteil über die Volksdichtung muß als Vorurteil angesehen werden, zumal es bisher wenig fundiert wurde. Aber die wenigen existierenden Aussagen sind im allgemeinen positiv und bestätigen die wahre Kraft der Dichtung, die in ihrer lite24

rarischen Wirkung zutage tritt. Das über sie gefaßte Vorurteil hängt zweifellos mit mehreren Faktoren zusammen. Zum Teil wird die Volksballade vernachlässigt, weil sie nicht in handhabbarer Form vorliegt und weil sich das wenige Vorhandene in Anthologien befindet. Hier kommt ein weiteres Vorurteil ins Spiel, denn Anthologien stoßen auf eine Antipathie, die aus einem Gefühl der Unzulänglichkeit jeder Auswahl und dem der Befürwortung des „Starsystems" (die literarische Würdigung „großer Namen") resultiert, und diese Antipathie teilen Kritiker jeglicher Provenienz. Gerade die Anonymität eines Großteils der Volksdichtung läßt viele vor ernsthafter und tiefschürfender Betrachtung zurückschrecken, denn die Zuschreibung „Donne" etwa ruft eine viel größere Aufmerksamkeit hervor als ein bescheidenes „Anonym". Diese Tatsache allein ist eigenartig und wäre ohne die bereits gegebene Erklärung schwer verständlich, denn ein großer Teil der Literaturkritik des 20. Jahrhunderts tendiert dazu, einzelne Werke der Literatur, ob Gedichte, Dramen oder Romane, als unpersönlich und künstlerisch in sich geschlossen zu betrachten. Trotz dieser vorherrschenden Tendenz trifft es offenbar zu, daß die Eintagsfliegen eines „Stars" eher der Würdigung wert scheinen als die potentiell vielleicht größere Leistung eines „Anonymus". Verbunden mit diesen Schwierigkeiten, Antipathien und Moden, denen hier und da ein wenig Stärkemittel zugesetzt wird, damit sie noch starrer werden, sind jene Haltungen, die die Anhänger der Minoritätskultur den Produkten und Gegenständen der Volkskultur gegenüber einnehmen. Die hier auftretenden Vorurteile spielen mit der These von der Existenz einer gehobenen und einer niederen Kultur, einer höheren und einer minderwertigen, und verwechseln gewöhnlichen Ursprung mit gewöhnlichem Geschmack. Diese Vorurteile sind schwer zu definieren; sie veranlassen den „Gebildeten", den „Ungebildeten" herablassend zu behandeln und ihm gegenüber jene verächtliche Arroganz zur Schau zu tragen, wie sie Eliot in The Waste Land (1922; Das wüste LartcL) den Frauen im Lokal, dem Tippmädchen und dem zitierten „Fetzen" aus Shakespeare4 entgegenbringt. Diese schwer definierbaren Haltungen haben eine polarisierende Wirkung innerhalb der Kultur, denn sie ziehen eine strenge vorurteilsvolle Trennungslinie zwischen den Produkten der Minoritätskultur, welche Kunst sind und Gegenstand der Kunstkritik, und jenen der Volkskultur, welche Artefakte und somit Teil der Soziologie und der Kulturgeschichte sind. 25

Es ist offensichtlich, daß mit dem Aufkommen der Massenkultur die Ansichten über die Volkskultur unschärfer und verworrener wurden. Die Vertreter der Minoritätskultur haben in der Massenkultur - und in der sie hervorbringenden und erhaltenden Massenproduktion - immer gleichsam den Tod „ihrer" Kultur gesehen; doch daß die beiden Kulturen eins sind und die Massenproduktion von kulturellen Gegenständen eine wesentliche Voraussetzung für die Existenz der Minoritätskultur ist, kann man nicht deutlicher ausdrücken als durch die Überlegung, daß Eliot ohne Massenproduktion kein Exemplar der Göttlichen Komödie besessen hätte, noch Leavis eines der Tbe W heelwright's Shop (Die Stellmacherwerkstatt). Und das heißt, daß die Produkte beider Kulturen mit gleichem Recht als Gegenstand des Wirtschaftshistorikers, des Soziologen und des Kulturhistorikers gelten können. Es liegt hoffentlich auf der Hand, daß die „raison d'être" der Göttlichen Komödie und der traditionellen Volksballade nicht ausschließlich oder primär ökonomisch ist; ihr Wert als Gebrauchsgegenstand ist zwar, zumindest theoretisch, genau berechenbar, doch hängt ihre Existenz als Gebrauchsgegenstand von ihrem Gebrauchswert oder einem gewissen Nützlichkeitswert ab, und dessen Einschätzung als poetischer Wert ist der Gegenstand der Literaturkritik. Auch ihr soziologischer und historischer Wert hängt von ihrer poetischen Existenz ab, obwohl man einräumen muß, daß vieles, was über die traditionelle Volksballade geschrieben worden ist, ausgesprochen kulturhistorischen oder folkloristischen Charakter hat. Für viele schien Shakespeare vor allem als ein dunkler Spiegel mittelalterlicher Ansichten und abergläubischer Vorstellungen von Interesse zu sein, der gelegentlich vom Blitz poetischer Eingebung, Kraft oder Schönheit erleuchtet wurde. Letzten Endes heißt das, daß sich die „Kritik" der traditionellen Volksballade seit dem 19. Jahrhundert bis heute kaum über eine Reihe von Anmerkungen hinaus entwickelt hat, die auch im vorigen Jahrhundert etwa in der Zeitschrift Notes and Queries hätten erscheinen können. Es ist eine Sache, diesen Tatbestand festzustellen, und eine andere, ihn zu berichtigen. Mit letzterem könnte vielleicht ein Anfang gemacht werden mit der im folgenden näher ausgeführten Behauptung, daß die einmaligen, größten Werke der Minoritätskultur wie z. B. King Lear (1606; König Lear) und Wuthering Heights (1847; Die Sturmhöhe) ) selbst Höhepunkte der traditionellen Volkskultur sind, die durch die Balladen so eindrucksvoll repräsentiert wird. 26

II Das Oxford English Dictionary definiert „Stimmung" (mood) in dem für diese Abhandlung relevanten Sinn als geistigen oder emotionalen Zustand. Das könnte zu der Annahme verleiten, daß die beiden mehr oder weniger identisch sind, doch das ist offensichtlich-nicht der Fall, denn Entsetzen würde man als emotionalen und nicht geistigen Zustand bezeichnen, während man Zynismus als geistigen und nicht emotionalen Zustand beschreiben würde. (Obwohl wir sagen können, daß wir Zynismus e m p f i n d e n , beschreiben wir dennoch eine geistige Haltung und keinen Gefühlszustand.) Der offensichtliche Sinn der Definition muß also darin bestehen, daß „Stimmung" ein Wort ist, das man sowohl zur Bezeichnung eines geistigen als auch eines emotionalen Zustandes verwenden kann. Ohne zu behaupten, daß beide miteinander identisch sind, gehen wir davon aus, daß „Stimmung" beides beinhaltet und ein komplexer Bewußtseinszustand aus vielen verschiedenen geistigen und gefühlsmäßigen Haltungen ist, von denen einige roh und barbarisch, andere gebildet und kultiviert sein können. D a wir aus Gründen der Verständlichkeit mit einer Arbeitsdefinition des Wortes „Stimmung" begonnen haben, könnte der Leser von einer Abhandlung über „die Stimmung der traditionellen Volksballade" nunmehr eine Definition erwarten, die eine deutliche Abgrenzung der traditionellen von der Flugblatt- und der literarischen Ballade erlaubt. Aus noch darzulegenden Gründen bin ich der Überzeugung, daß diese Unterschiede oft zufällig sind und nicht allzu tiefschürfend untersucht werden müssen. Vom Standpunkt der, Kultur aus (wie Matthew Arnold gesagt haben könnte) sind die zu treffenden Unterscheidungen grundlegend und weisen auf den Einfluß hin, den der Buchdruck auf die Entwicklung der Volkskultur zur Massenkultur ausgeübt hat. Es mag widersinnig erscheinen, wenn ein Verfechter der Volkskultur eine solche Behauptung gedruckt vorlegt, doch als Rechtfertigung können wir anmerken, daß die Erfindung des Buchdrucks nicht zur völligen kulturellen Katastrophe führte, da sich die Druckereien nicht nur der Korrumpierung der Volksballaden widmeten. Während sie einerseits wirklich für die Ablösung der mündlichen Überlieferung durch einen Buchmarkt weitgehend verantwortlich gewesen sein mögen, trugen sie andererseits zuweilen aus Gründen des Profits, zuweilen um der Sache willen oder auch in der Verfolgung beider Ziele zur Verbreitung von 27

Wissen bei und dienten damit dem gemeinsamen Anliegen der literarischen und geistigen Bildung. Zur Definition der traditionellen Volksballade gibt es wohl wenig mehr zu sagen, als daß sie ein erzählendes Gedicht ist, traditionellerweise dazu bestimmt, gesungen zu werden, etwa wie die in Childs großer Sammlung.* Diese Balladen sind anonym und existieren meistens in mehreren Fassungen, da sie im Laufe der Überlieferung variiert werden. Anonymität und Variation sind jedoch keineswegs auf traditionelle Balladen beschränkt. Ehe sich die Druckereien in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts** fest etablierten und Dichtung zum kommerziellen Eigentum machten, hatten die Dichter offenbar kein starkes Besitzempfinden für ihre Schöpfungen, und die Herausgeber von Gedichtsammlungen sahen sich nicht weiter genötigt, die Namen von Verfassern anzugeben, und adaptierten, änderten und erweiterten die von ihnen zusammengestellten Gedichte. Viele frühe Gedichte sind daher anonym und uns in mehr als einer Version überliefert. Nach redaktioneller Überarbeitung fanden viele dieser Gedichte Eingang in die gedruckten Anthologien des 16. und frühen 17. Jahrhunderts. Die erste gedruckte Anthologie englischer Gedichte, Tottel's Miscellany (Tottels Sammlung), die im Jahre 1557 erschien, als auch die Buchhändlergesellschaft Stationers' Company gegründet wurde, enthält 261 Gedichte aus verschiedenen Manuskripten, die vom Herausgeber (wahrscheinlich Nicholas Grimwald 5 ) revidiert und „verbessert" wurden, und fast ein Drittel davon ist anonym. Eine andere frühe Anthologie, A Handefull of pleasant delites (Eine Handvoll ergötzlicher Freuden), die 1584 im Druck erschien, „wurde von einem modernen Herausgeber als Gedichtband gepriesen, der 'eine der wertvollsten Kostbarkeiten der elisabethanischen Zeit' darstellt, aber nur Flugblattballaden enthält."*** Jedoch wurde eines der darin enthaltenen Gedichte, Greensleeves, angeblich von Heinrich VIII. geschrieben, wenn auch die aus achtzehn Versen bestehende Fassung dieser Anthologie zweifellos eine Erweiterung des Heinrichschen Lieds darstellt. Ebenso ist Wyatts A Robin (Ein Rotkehl* F , J . Child: English and Scottish Populär Ballads. 5 Bde. Boston 1 8 8 2 - 9 8 (Reprint N e w Y o r k 1 9 6 5 ) . * * Die Zunft der Buchdrucker,

die Stationers'

Company, wurde 1 5 5 7

regi-

striert. * * * Leslie Shephard: The History of Street Literature. Newton Abbot 1 9 7 3 , S. 2 1 .

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chen), von dem noch die Rede sein wird, die erweiterte Fassung eines früher bereits von Cornish6 vertonten Gedichtes. Der Prozeß der Manuskriptüberlieferung, der zu Anonymität, Adaption und mannigfachen Fassungen von Gedichten führte, war dem der mündlichen Überlieferung sehr ähnlich, und erst mit dem Aufkommen des Buchdrucks wurden Text und Verfasserschaft von Gelegenheitsgedichten überhaupt festgehalten.* Außerdem konnten Balladen und poetische Texte, die in Manuskriptform verbreitet wurden, Teil der mündlichen Tradition werden, während die der mündlichen Tradition auch in Manuskripten niedergelegt wurden. Gedichte beispielsweise wurden als Manuskript verfaßt, um sie auf alte Melodien zu singen. So schrieb jemand in ein Manuskript aus dem frühen 16. Jahrhundert** hinter idas Gedicht With serving still (Noch stets zu dienen) die Worte „Man lerne es zu singen", und in einem anderen Manuskript (dem Harington-Manuskript im Schloß Arundel) wird die Melodie, auf die es gesungen werden konnte, als „Schmied von Camden" („Smithe of Camden") angegeben. Das erste dieser Manuskripte enthält weitere Gedichte, unter denen die Titel von Melodien stehen, nach welchen sie offenbar gesungen werden konnten. Einige sangen solche Gedichte, andere merkten sie sich und schrieben sie auf. Wieder andere lernten dann den Text aus solchen Manuskripten und gaben ihn mündlich als Lied weiter, oder er wurde nicht mehr gesungen, sondern nur noch schriftlich überliefert. Folglich ist der Unterschied zwischen mündlicher und literarischer Tradition bis zum elisabethanischen Zeitalter fließend. Für die Definition der traditionellen Volksballade ist diese Tatsache wichtig, denn wenn diese Ballade ihre fortdauernde Existenz angeblich mündlicher Überlieferung zu verdanken hat, muß man zugleich einräumen, daß es dafür keine Beweise gibt. The Tbree Ravens (Die drei Raben) z. B., über die noch zu sprechen sein wird, ist eine Ballade, die 1611 erstmalig im Druck erschien, doch ob sie auf Grund mündlicher Überlieferung aufgeschrieben wurde, ist nicht feststellbar. Vielleicht wurde sie im Manuskript überliefert, denn ein großer Teil der schriftlich aufbewahrten Dichtung des 16. und 17. Jahrhunderts ist verlorengegangen; doch selbst wenn Gedichte als Manuskript existieren, steht nicht immer fest, ob sie zur literarischen * Bei verschiedenen Balladen, wie zum Beispiel Lord Thomas and Fair Annet, wurden die Texte stabilisiert, weil sie so oft als Flugblattballaden gedruckt worden waren. ** Das Devonshire-MS. Vgl. S. 30.

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Tradition gehören, denn sie können ihrerseits auf Grund mündlicher Überlieferung aufgeschrieben worden sein. Das Gedicht A Robyn findet sich in einem Manuskript aus dem frühen 16. Jahrhundert mit einer Vertonung von Cornish, der möglicherweise ein Gedicht vertonte (oder ein Lied umkomponierte), das er gehört, aber wahrscheinlich nicht gelesen hatte.* Etwa zwanzig Jahre später wurden ausführlichere Fassungen in zwei Manuskripten festgehalten, welche die Hauptquellen für Thomas Wyatts Gedichte darstellen, und folglich wurde das Gedicht Wyatt zugeschrieben.** John Stevens behauptet, daß „Wyatts Gedicht eine spätere Bearbeitung und Erweiterung eines bei Hofe bereits bekannten Volkslieds war. Es wurde wahrscheinlich nach der ursprünglichen Melodie gesungen, die Cornishs Fassung möglicherweise enthält."*** Das Lied war am Ende des Jahrhunderts offenbar immer noch beliebt, als die Gestalt Feste die Anfangszeilen in Shakespeares Twelftb Night, or, What You Will (1602, Was ihr wollt) sang und als Lustige Rotkehlchen (Jolly Robins) (das Lied beginnt „Ein Rotkehlchen, ein lustiges Rotkehlchen") ein Lieblingsausdruck von Thomas Lodge war.**** A Robyn illustriert die komplizierte Verflechtung von mündlicher und literarischer Tradition im 16. Jahrhundert und die Gefahr der * Vgl. John Stevens: Music and Poetry in the Early Tudor Court. London 1961, S. 405. ** Das Gedicht ist im Egerton-MS. 2711 enthajten, das Wyatt gehörte, und im Devonshire-MS. Add. 17492, welche sich heute beide im Britischen Museum befinden. Es wurde in Notts Ausgabe (1815-16) erstmals als Wyatts Gedicht gedruckt und wurde ihm in allen späteren Ausgaben zugeschrieben. *** John Stevens: Music and Poetry in the Early Tudor Court. London 1961, S. 111. Es war überflüssig, die Melodie, auf die A Robyn zu singen war, anzugeben, da diese wie üblich durch die Anfangsworte des Gedichts angedeutet wurde. **** John Dover Wilson weist im Glossar zu Life in Shakespeare's England: A Book of Elizabetban Prose (Norwood, Pa. 1977, Reprint) auf Thomas Lodges häufigen Gebrauch von A Robyn hin und zitiert als Beispiel: „Er ließ sich lustige Rotkehlchen durch den Kopf gehen, viie er den dummen Kerl hereinlegen sollte" (Wils Miserie, 1596). Das Lied ist eine Auseinandersetzung für und gegen die Freundlichkeit der Frauen. Ich würde sagen, daß der Ausdruck, „sich lustige Rotkehlchen durch den Kopf gehen zu lassen", das Für und Wider eines Falls erörtern heißt. In dem aus Wits Miserie zitierten Beispiel würde es bedeuten, sich überlegen, wie der „dumme Kerl" am besten zu betrügen sei.

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Überbetonung von Herkunft und Überlieferung, wenn man entscheiden will, ob ein Gedicht volkstümlich und traditionell genannt werden kann oder nicht. Wie Pattison ausgeführt hat, machten es die Melodien, nach welchen solche Gedichte gesungen wurden, „unmöglich, eine strenge Trennung zwischen volkstümlich und kultiviert vorzunehmen".* Christopher Marlowes Come, Live witb me (Komm, leb mit mir) ging im 17. Jahrhundert ins volkstümliche Repertoire über, denn Izaak Walton7 hörte es von einem Milchmädchen, aber es wurde anscheinend nicht zu einem Bestandteil der Volkstradition. Über anderthalb Jahrhunderte später war Ben Jonsons Drink to me only (Trink nur auf mich) eines der Volkslieder, das neben so traditionellen Balladen wie Barbara Allan und Lord Thomas and Fair Eleanor (Lord Thomas und schön Eleanor) im Katalog von 1832 von James Catnach, einem führenden Herausgeber von Flugblattliteratur, aufgeführt wurde.** Während es ein beträchtliches Ineinander von höfischer, volkstümlicher und literarischer Dichtung gibt, welches zuweilen auch eine Vermischung poetischer Haltungen hervorbringt, gibt es offenbar nur eine begrenzte Anzahl von Haltungen, Geistes- und Gefühlszuständen, die für die poetischen Leistungen der traditionellen Volksballade so charakteristisch sind, daß sie zu ihrer Definition herangezogen und als Quelle ihrer klassischen Stimmung betrachtet werden können. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, daß diese Haltungen für die volkstümliche Muse spezifisch sind, denn es besteht ein wichtiger Unterschied zwischen dem Dichter des Volkes und einer Dichtung, die unabhängig von ihrem Ursprung vom Volk aufgenommen und weitergegeben wird. Dennoch kamen sie anscheinend dem Geschmack des Volkes sehr entgegen und sind daher ein wichtiger Hinweis für die Beurteilung des Gefühls des Volkes. Die Be* Bruce Pattison: Music and Poetry of the English Renaissance. London 1970, S. 163. Ich behaupte keineswegs, daß es Zweifel hinsichtlich des Ursprungs von A Kobyn gibt. Wie populär es auch geworden sein mag, es ist offensichtlich, daß es ursprünglich ein höfisches Lied für zwei Sänger war, wobei der eine die Unfreundlichkeit der Frauen hervorhob und der andere ihre Freundlichkeit. Es ist ein minderer Beitrag in der Auseinandersetzung um Frauen, der außerhalb des Spiels der höfischen Liebe wenig Sinn ergab, zumindest nicht, solange der Ausdruck d e n H o f m a c h e n nicht einen neuen Sinn erhielt. * * Der Katalog ist bei Leslie Shephard: The History of Street Literature. Newton Abbot 1973, S. 215-23 abgedruckt.

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schaffenheit dieses Gefühls, oder zumindest der Stimmung als eines wesentlichen Teils von ihm, hat einen beträchtlichen Einfluß auf die Beurteilung der Volkskultur im allgemeinen, denn von ihrer Definition hängt das viel größere Problem der spezifischen Grenzen dieser Kultur ab. Ist sie, wie sie Charlotte Bronte bei ihren Schwestern vorzufinden glaubte, die ungekünstelt naturhafte und wirkungslose Kultur eines teilweise gebildeten Verstandes und einer begrenzten Erfahrung?* Die Beantwortung dieser Frage hängt eng mit der Beurteilung der Stimmung der traditionellen Ballade zusammen. Emily Bronte beantwortete diese Frage teilweise in der Sturmhöhe, und es ist erstaunlich, daß Charlotte das nicht bemerkte. So sagt Lockwood zu Nelly Dean, als verteidige er sich gegen den Vorwurf, daß Menschen in Emilys Situation an mangelhafter Erfahrung leiden: „Ich merke, daß die Menschen dieser Gegend gegenüber den Städtern an Wert gewinnen, genauso wie die Spinne im Kerker für den Gefangenen gegenüber der Spinne in einem Hause für seine Bewohner; und doch sind es nicht die äußeren Umstände des Zuschauers, die das tiefere Interesse bedingen. Sie leben wirklich hier mit mehr Ernst, innerlicher und ohne oberflächliche Abwechslung in leichtfertig äußerlichen Dingen."** Indem wir das Wordsworthianische hieran bemerken, erinnern wir uns zugleich daran, daß Wordsworth selbst der Phantasie oder Lebensvorstellung, die ihm in den Volksballaden begegnete, verpflichtet war. Lockwoods Bemerkung besagt allerdings nur, daß begrenzte Erfahrung zu erhöhter Lebens- und Erlebnisintensität führt, und obwohl die Stimmung der traditionellen Ballade diese Ansicht stützt, bringt sie zugleich eine Verfeinerung zum Ausdruck, die Lockwood bei den Menschen in den von ihm betrachteten Gegenden nicht wahrnimmt. Es ist bekanntlich schwer, eine poetische Stimmung zu definieren, da sich ein Gedicht in der Regel aus verschiedenen widersprüchlichen Haltungen oder unterschiedlicher Schichtung von Bedeutung zusammensetzt. Während man also darin übereinzustimmen scheint, daß sich in der traditionellen Volksballade ein Interesse am Übernatürlichen und ein Vertrauen auf dieses manifestiert, was auf eine mystische Stimmung schließen ließe, hält man doch ihre Stimmung * Vgl. Currer Beils (Charlotte Brontes) „Biographical notice of Ellis and Acton Bell. In: Emily Bronte: Wutbering Heigbts (Die Sturmhöhe). Harmondsworth 1946, S. VIII. ** Emily Bronte: Die Sturmhöhe. Leipzig 1964, S. 74.

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oft für „realistisch", ein Wort, das wie ein Aal faßbar und doch schwer zu greifen ist. Dieses schwer Faßbare ist seinerseits auf Haltungs- und Positionsveränderungen, Wandlungen in der Stimmung zurückzuführen, die dieses anpassungsfähige W o r t in sich aufzunehmen vermag. Zumindest anfänglich war r e a l i s t i s c h offenbar ein bejahender Terminus, der auf die Fähigkeit hinwies, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind, und der dem Sinn nach der älteren Bedeutung von P h a n t a s i e (imagination) nahe kam. Durch eine leichte Verschiebung kann er jedoch eine zweite Bedeutung annehmen und dann die Art von Beschränkung bezeichnen, die Charlotte Bronte ihren Schwestern zuschrieb, Thomas Gray der Landbevölkerung in seiner Elegy Written in a Country Churchyard ( 1 7 5 1 ; Elegie auf einen Dorfkirchhof) und Orwell den „Proleten" in Nineteen Eighty-Four ( 1 9 4 8 ; Neuzehnhundertvierundachtzig): „Und sogar, wenn sie [die Proles] einmal unzufrieden wurden, führte ihre Unzufriedenheit zu nichts, denn da sie ganz ohne einen leitenden Gedanken waren, richtete sich diese Unzufriedenheit nur auf belanglose jeweilige Übelstände."* In diesem Sinne bedeutet R e a l i s m u s eine begrenzte Weltsicht, eine Konzentration auf das Unmittelbare, Offensichtliche und Konkrete auf Kosten größerer und allgemeinerer Zusammenhänge. Zweifellos findet man diese Kategorie von „Alltags"-Realismus gelegentlich in traditionellen Balladen, wo er eine bedauerlich triviale Wirkung haben kann, wie in der folgenden Strophe von Chery

Chase: Um Whitherington muß ich klagen In schwermütigem Schmerz, Denn als ihm die Beine abgeschlagen, Focht er auf seinen Stümpfen fort.** E r ist auch in literarischen Balladen anzutreffen, wo er eine durchaus vergleichbare Wirkung hat, wie in den berühmten Zeilen aus Wordsworths Simon Lee: Nur wenige Jahre liegen vor ihm, W i e er euch erzählen wird, Denn je mehr er arbeitet, desto mehr Schwellen seine armen alten Knöchel. * George Orwell: Neunzehnhundertvierundachtzig. Stuttgart 1950, S. 67. * * The Faber Book of Ballads. Hg. v. Matthew Hodgart. London 1965, S. 103. 3

SouthaU/Magistec

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Wenn wir, wie Derek Roger annimmt,* an solchen Stellen nicht lachen, so deshalb, weil wir den einfachen Simon mit einem Anflug von Herablassung betrachten. Wir könnten durchaus ein Lächeln unterdrücken, wenn wir es als eine intellektuell herablassende Reaktion auf die ernsthafte Naivität begreifen, wie man sie in der Sprache des Dichters von Cbevy Chase und in der Simon angemessenen Redeweise in Wordsworths Gedicht empfinden mag. Die Tatsache bleibt bestehen, daß diese Zeilen lächerlich sind (wie die Prognose, daß Simon an geschwollenen Knöcheln sterben wird), unabhängig davon, ob ein Lachen darüber angemessen ist oder nicht. Ganz gleich, zu welchen Zugeständnissen der Leser bereit ist, der Dichter hat in beiden Fällen den Unterschied zwischen „konkreter Darstellung" und „im Konkreten Steckenbleiben" nicht beachtet. Um den aber handelt es sich im wesentlichen, wenn das Wort r e a l i s t i s c h in bezug auf die Balladen angewendet wird. Wie leicht die eine in die andere Bedeutung zuweilen übergehen kann, zeigt die letzte Zeile einer Strophe aus der Ballade Little Musgrave and Lady Barnard (Der kleine Musgrave und Lady Barnard): Er schnitt die Warzen von ihrer Brust. Es war jammervoll anzusehen, D a ß einige Tropfen des Herzbluts der Lady An ihrem Knie herunterrieselten.** Wenn alles zugunsten dieser Strophe gesagt ist - und es könnte weit mehr zu ihrer als zur Verteidigung der Zeilen aus Simon Lee gesagt werden - , bleibt eine Inkongruenz zwischen dem Vorgang in der ersten Zeile und dem in den folgenden drei Zeilen enthaltenen Kommentar. Diese Inkongruenz ist nicht nur auf ein plötzliches Abfallen der Handlung zurückzuführen, sondern auch auf eine mangelnde Sensibilität, die sich in einer falschen Lenkung des „Mitleids" äußert; das „große Leid", so erfahren wir, besteht nicht darin, daß die Lady so gräßlich entstellt wurde, sondern daß einige Tropfen Blut „an ihrem Knie herunterrieselten"! Der abwertende Gebrauch des Wortes r e a l i s t i s c h , der eine * William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge: Lyrical Ballads 1805. Hg. v. Derek Roger. London 1968, S. 322. Wordsworth änderte die Anstoß erregenden Zeilen, doch die Änderung beseitigt den Zug zum Lächerlichen nicht. +* British Populär Ballads. Hg. v. John E. Housman. London 1952, S. 129.

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enge Weltsicht umschreibt, rückt den Realismus in die Nähe des,Zynismus, welcher bewußt und absichtlich jedes große und höhere Anliegen desavouiert. Zynismus ist in der traditionellen Volksballade äußerst selten, und ich wüßte dafür kein offensichtliches Beispiel zu nennen. Im kommerziellen Volkslied hingegen ist er so unüblich nicht, wie aus dem scheußlichen Refrain eines wenige Jahre alten Schlagers hervorgeht: Wie ein Silberdollar geht von Hand zu Hand So geht auch eine Frau von Mann zu Mann. Man könnte die Frage stellen, ob diese Ansicht zynisch ist, da der in ihr so deutlich zum Ausdruck kommende Ökonomismus der Seele möglicherweise die höchste Moral einer Welt darstellt, der dieses Lied angehört. Wer die traditionelle Volksballade jedoch mit Herablassung betrachtet, wird ihren möglichen Zynismus nicht ohne weiteres zugeben, da die damit verbundenen Fragen des Klassenbewußtseins mit dem paternalistischen Charakter einer „buchstabenlosen Muse" unvereinbar wären und weil auf einer abstrakteren Ebene Zynismus eine überlegene, intellektuelle Haltung darstellt, die für eine Interpretation der Haltung von Grays Dorfbewohnern oder Orwells „Proles" zu subtil ist. Es überrascht daher nicht, daß man der vollkommensten aller Balladen, eben weil man sie für zynisch hielt, einen literarischen Ursprung bescheinigte. Sowohl das Gefühl als auch das rationale Urteil beruhen weitgehend auf vorgefaßten Meinungen über die Volkstradition und sind daher, wie ich im folgenden zu zeigen versuche, fragwürdig. III Das Urteil, welches Tbe Twa Corbies (Die zwei Aaskrähen) _ als poetisch vollkommenste aller Balladen bezeichnet, ist natürlich ein kritisches, aber im Fall der Balladen wie in dem der Dichtung im allgemeinen sind absolute Urteile immer kritisch, selbst wenn sie darauf hinauslaufen, daß der Wert eines Gedichts in etwas anderem als seiner poetischen Leistung begründet ist. Nach Hodgarts Auffassung sind The Twa Corbies ein „geschicktes dramatisches Gedicht"* (wobei das englische Wort „clever" herablassend gemeint ist) und * M. J. C. Hodgart: The Ballads. London 1950, S. 43.

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„wahrscheinlich eine literarische Bearbeitung der Three Ravens"* (was ihm die Originalität abspricht), und Reed „nimmt an, daß es Scott viel verdankt", da es „vielleicht ein wenig zu glatt, zu kunstvoll ausgewogen ist, als daß es noch viel echte Tradition enthalten könne"** (was Hodgarts Ansicht, es sei „geschickt", stützt). Es handelt sich offensichtlich um kritische Urteile, aber es ist nicht einzusehen, warum man sie akzeptieren sollte, da das eine das Gedicht lediglich „abwertet" und das andere eine nicht schmeichelhafte Behauptung über „echte Tradition" darstellt. Das Wenige, was über die Ballade bekannt ist, stützt weder Hodgarts noch Reeds Ansicht. Die Ballade wurde zuerst von Sir Walter Scott in seiner Minstrelsy of the Scottish Border (1802-03; Historische und romantische Balladen der schottischen Grenzlande) abgedruckt, worin er erklärt, sie sei ihm von C. K. Sharpe zugeschickt worden, für den sie „von einer Dame n a c h d e r Ü b e r l i e f e r u n g aufgeschrieben" worden sei (Hervorhebung - R. S . ) * * * Als er das Gedicht für den Druck vorbereitete, nahm Scott zweifellos solche „Verbesserungen" vor, die schon immer für editorische Aktivitäten typisch waren. Es sind „Verbesserungen", wie sie in den Texten Wyatts, Donnes und Shakespeares vorgenommen wurden - ja in fast allen Werken, die jemals die Aufmerksamkeit eines Herausgebers auf sich gezogen haben. Es ist gewiß bedauerlich, daß Herausgeber oft meinen, ihre Tätigkeit verleihe ihnen das Recht, in Literatur einzugreifen; aber anzunehmen, daß jede Arbeit, die durch die Hand eines Herausgebers (oder eines als solchen fungierenden schöpferischen Schriftstellers) gegangen ist, dabei umfänglich korrigiert und „verbessert" wurde, heißt, die Zuschreibung der Verfasserschaft in vielen Fällen sinnlos werden zu lassen. Sieht man von diesem Extrem ab, gibt es wahrscheinlich keinen Grund zu der Annahme, daß der Text von The Twa Corbies weniger zuverlässig ist als der Shakespeares. Es gibt keinen Beweis dafür, daß The Three Ravens nach der Überlieferung aufgeschrieben wurden. Obwohl das Gedicht von Hodgart als „archaische Ballade"**** bezeichnet wird, ist seine Quelle ein gedruckter Text, Melismata, der 1611 in London erschien. Die spärlichen Hinweise außerhalb der Gedichte selbst erhärten demnach * The Faber Book of Ballads. Hg. v. Matthew Hodgart. London 1965, S. 250. * * James Reed: The Border Ballads. London 1973, S. 165. * * * Sir Walter Scott: Minstrelsy of the Scottish Border. Hg. v. T. Henderson. London 1931, S. 337. * * * * The Faber Book of Ballads. Hg. v. Matthew Hodgart. London 1965, S. 250.

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das Urteil, nach dem The Twa Corbies die traditionellere Ballade und The Three Ravens die literarische ist, obwohl der Unterschied, wie wir eingangs bemerkten, kein sehr zuverlässiger ist. Scott bezeichnete The Twa Corbies als Gegenstück zu The Tbree Ravens, womit er offenbar meinte, daß jenes von diesem abstamme, welcher Ansicht sich auch Sampson, Gummere und Hodgart anschließen.* Überdies betrachten Sampson und Gummere das Gegenstück als zynisch, und vielleicht hat man gerade deshalb das Gedicht für eine Bearbeitung von The Three Ravens gehalten, da Zynismus (wie bereits erwähnt wurde) Untertöne einer intellektuellen Einstellung und Differenziertheit oder zumindest der Gewandtheit enthält, wie sie Hodgart den Twa Corbies zuschreibt und wie sie der allgemeinen Meinung nach der echten Volkstradition fremd sind. Wir haben es also mit zwei offensichtlich zueinander in Beziehung stehenden Balladen zu tun: Die eine wird als archaische und schön gesungene Ballade wahrer Liebe** betrachtet, die andere als ihr zynisches Gegenstück, deren Gewandtheit und Eleganz sie aus der Volkstradition ausschließen. Diese Urteile sind jedoch durchaus anfechtbar, da sie auf der nachprüfbaren These basieren, The Twa Corbies gingen auf The Three Ravens zurück, was durch die Gedichte selbst nachweislich widerlegt wird. Obwohl die folgenden Texte der Balladen in The Faber Book of Ballads nicht gesichert sind, sind sie doch nicht schlechter als andere und wenigstens leicht zugänglich. Zweifellos wurden beide Balladen nach ein und derselben Melodie gesungen, und daher sollte The Twa Corbies wahrscheinlich die gleiche Form wie The Three Ravens haben. The Twa Corbies Als ich wanderte ganz allein, Hörte ich zwei Aaskrähen klagen; Die eine sagte zur andern, „Wohin solln wir heute fressen gehn?" * Sir Walter Scott: Minstrelsy of the Scottish Border. Hg. v. T. Henderson. London 1931, S. 337; George Sampson: The Concise Cambridge History of English Literature. Bearb. von R. C. Churchill. Cambridge 1970, S. 93; Francis B. Gummere: The Populär Ballad. New York 1959, S. 197; The Faber Book of Ballads. Hg. v. Matthew Hodgart. London 1965, S. 250. ** Francis B. Gummere: The Populär Ballad. New York 1959, S. 197.

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„Dort hinter jenem alten fauligen Graben, Weiß ich, liegt ein frisch erschlagner Ritter; Und niemand weiß, daß er dort liegt, Nur sein Falke, sein Hund und seine schöne Dame. Sein Hund ist auf die Jagd gegangen, Sein Falke, Wildvögel heimzuholen, Seine Dame hat einen andern Gefährten genommen, So können wir uns unser Fressen versüßen. Du sollst auf seinem weißen Halsknochen sitzen, Und ich will seine schönen blauen Augen auspicken. Mit einer Locke seines goldnen Haars Wollri wir unser Nest polstern, wenn es kahl wird. Viele werden um ihn schrein, Aber keiner soll wissen, wo er hin ist; Über seine weißen Knochen, wenn sie kahl sind, Soll der Wind ewig wehen." The Three Ravens Drei Raben, die saßen auf einem Baum He ho he, he ho he, he ho, Drei Raben, die saßen auf einem Baum He ho he, he ho he, he ho, Drei Raben, die saßen auf einem Baum, Sie waren so schwarz, so kohlrabenschwarz He ho he, he ho, he ho. Der eine sagte zu seinem Gefährten, „Wo solin wir unser Frühstück nehmen?" „Dort auf jenem grünen Feld Liegt ein Ritter erschlagen unter seinem Schild. Seine Hunde liegen zu seinen Füßen, So können sie ihren Herrn gut bewachen. Seine Falken fliegen so eifrig, Kein Wildvogel wagt, sich ihm zu nähern."

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Dort kommt eine Hirschkuh daher, So trächtig mit Jungen, als sie nur laufen kann. Sie hob seinen blutigen Kopf Und küßte seine Wunden, die waren so rot. Sie nahm ihn auf den Rücken Und trug ihn zu einer Erdgrube. Sie begrub ihn vor Tagesanbruch. Sie war selbst tot vor der Vesperzeit. Gott schicke jedem edlen Mann Solche Falken, solche Hunde und so eine Liebste. In welcher Reihenfolge man auch die zwei Gedichte liest, der anfängliche Eindruck ist eher der einer Erweiterung als einer Komprimierung; die Kraft von The Twa Corbtes scheint sich in The Tbree Ravens eher erschöpft zu haben, als daß dieses zu jenem komprimiert worden wäre. Die wiederholte Lektüre der beiden Balladen verstärkt den Eindruck, daß die poetische Initiative von The Twa Corbis ausgeht und daß The Three Ravens ihr literarisches Gegenstück sind, in welchem bei dem Versuch, den Tod des Ritters zu romantisieren und darüber zu „moralisieren", eher eine Identifizierung mit diesem als mit den drei Aasvögeln zustande kommt. Daß eine Bearbeitung stattgefunden hat, zeigt sich deutlich in den Nichtübereinstimmungen. In beiden Gedichten wird oder wurde der Ritter von seinem (bzw. seinen) Falken und Hund(en) begleitet. Das bringt ihn in die Nähe solcher berühmten Balladenfiguren wie Tam Lin, der bei der Jagd vom Pferd fiel und von der Feenkönigin gerettet wurde, und Lord Randal, der auf der Jagd mit seinen Falken und Hunden den^Tod fand. Offenbar kam also der Ritter bei der Jagd zu Tode. In The Twa Corbtes liegt er „hinter dem alten fauligen Graben"; die Sprache ist charakteristisch und (wie der Ritter) dem Erdboden verhaftet, eine Andeutung dessen, was mit „dem Erdboden verhafteten ('Alltags'-) Realismus" gemeint sein könnte. Diese Sprache könnte ein Bauer benutzen, und das Gedicht bedient sich, um einen volkstümlichen Standpunkt zu erzielen, des sprachlichen Dekorums in einer Weise, deren Nachahmung Wordsworth zur Ehre 39

gereicht hätte.* Gleichzeitig deuten die Feldeinteilung, die durch den „alten fauligen Graben" entstehen, darauf hin, daß sich der tote Ritter auf einem Stück Farmland befindet. Dieser Eindruck vom Ort der Handlung stimmt vollkommen mit dem Hinweis überein, daß der Ritter seinen Tod beim Jagen fand. In seiner ersten Satire Myne owne John Poyntz (Mein eigner John Poyntz) beschreibt Wyatt seinem Freund die Freuden eines Lebens fernab vom Hofe auf seinem Landsitz in „Kent und Christenheit". Eine dieser Freuden ist die Jagd, eine andere ist, wie Wyatt erklärt, „daß ich'Hecke und Graben im hohen Bogen überspringe".** Hinter so einem Graben liegt der tote Ritter in The Twa Corbies, und obwohl kein Pferd im Gedicht erwähnt wird, ist dennoch klar ersichtlich, daß der Ritter zu Tode kam, weil er, wie es auch Wyatt leicht hätte zustoßen können, den Graben nicht „im hohen Bogen" übersprang. Es wird in der Ballade nicht eigens erwähnt, daß der Tod des Ritters ein Unglück ist; vom Standpunkt der Vögel aus war er es offenkundig nicht. Wenn also die Sprache des Gedichts dem Ritter wenig Sympathie entgegenbringt, muß man allerdings auch den hier ausgedrückten „bäuerlichen" Standpunkt berücksichtigen; die Bauern pflegten nicht eben Sympathie für das Recht des ansässigen Gutsherrn aufzubringen, auf der Jagd nach Wild ihre Ernten niederzutrampeln. Die Sprache ist demnach vom Dekorum gekennzeichnet und legt den poetischen Standpunkt und den Ort der Handlung, die beide den toten Ritter „ansiedeln", wirkungsvoll fest. Der Gebrauch des sprachlichen Dekorums-in The Three Ravens zielt darauf ab, den toten Ritter aufzuwerten. Die Zeilen Dort auf jenem grünen Feld Liegt ein Ritter erschlagen unter seinem Schild lokalisieren den toten Ritter auf dem konventionellen grünen Feld der Ritterromane. Wie in Wyatts The longe love (Die lange Liebe) Was kann ich tun, wenn mein Herr sich fürchtet, Als auf dem Feld mit ihm zu leben und sterben? * Vgl. das Vorwort zu

Lyrical Ballads 1805.

Hg. v. Derek Roper, S. 21,

wo Wordsworth die Wahl seiner Sprache erklärt, die von Männern des „niederen und bäuerlichen Lebens" benutzt wurde. * * Collected Poems of Sir Thomas Wyatt. Hg. v. Kenneth Muir und Patricia Thomson. Liverpool 1969, S. 91. * * * Ebenda, S. 3.

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- könnte das Feld hier eher ein Kampfplatz sein (wie bei „er starb auf dem Feld") als ein Jagdgefilde, und diese Möglichkeit wird in der Beschreibung des toten Ritters, der „unter seinem Schild" liegt, wieder aufgenommen und deutet darauf hin, daß er im Kampf gefallen sein könnte. Diese Schlußfolgerung ist jedoch unstimmig, denn warum sollte ein kämpfender Ritter von seinen Falken und Hunden begleitet sein? Oder umgekehrt, was sollte ein Ritter auf der Jagd mit seinem Schild? Die Ünstimmigkeit ist erklärt (aber nicht gerechtfertigt), wenn man den Schild als einen Einschub betrachtet, eine absichtliche Hinzufügung, die darauf abzielt, der unromantischen Sicht des Todes des Ritters in The Twa Corbies entgegenzuwirken. Die zweite Unstimmigkeit in The Three Ravens fällt vielleicht unmittelbarer ins Auge: der dritte Rabe ist überflüssig. Die Situation in beiden Gedichten erfordert die Gegenwart lediglich zweier Vögel: des einen, der fragt, des anderen, der antwortet. The Three Ravens beziehen ihren Titel von den drei in der Eingangszeile erwähnten Vögeln Drei Raben die saßen auf einem Baum - danach wird der dritte Vogel nicht mehr erwähnt, nur der eine und sein Gefährte: Der eine sagte zu seinem Gefährten . . . Warum sind es dann drei Raben? Der unmittelbar einleuchtendste Grund ist der, daß Stimmigkeit dem Wohlklang geopfert wird, da There were two ravens sat on a tree weit weniger gut klingt (zum Teil wegen des Fehlens des Binnenreims three/tree) als There were three ravens sat on a tree. Es gibt einen weiteren und gewichtigeren Grund. Es ist der gleiche, aus dem es in Macbeth drei Hexen gibt und aus dem sie ihren Zauber mit einem kleinen Tanz beenden, in dem sie sich dreimal in drei verschiedene Richtungen bewegen: drei ist eine magische Zahl. In der Ballade Allison Gross bläst die „häßliche Hexe", die Allison des Titels, dreimal „auf einem grasgrünen Horn" und dreht sich 41

„dreimal rundherum", während sie ihren Zauber auf den widerwilligen Mann ausübt, den sie zu ihrem Liebsten machen will. Die Tatsache, daß drei Raben vorhanden sind, verleiht ihnen einen metaphysischen Status, der sie von bloßen Aasvögeln zu höchst eindrucksvollen Tieren aufwertet, die ihrerseits die Bedeutung des toten Ritters erhöhen. Noch spezifischer ist die Tatsache, daß in der Folklore drei Raben anscheinend als sehr unheilbringend galten, und Swainson zitiert in seiner Abhandlung über die provinziellen Namen und die Folklore der britischen Vögel nach einer Bemerkung über die in einigen Dialekten auftauchende gemeinsame Bezeichnung für Raben (ravens) und Aaskrähen (corbies) die folgenden Zeilen aus M. G. Lewis'8 Ballade Bill Jones: Und was haben die Raben mit uns zu tun? Verkündet ihr Anblick uns Unheil? E i n e n Raben zu sehen bringt Glück, das ist wahr, Doch es ist sicheres Unglück, auf z w e i zu stoßen, Und d r e i zu treffen, das ist der Teufel !* Die Zeilen aus Lewis' Ballade erklären den Unterschied zwischen der Anwesenheit zweier Vögel in The Twa Corbies und dreier in The Three Ravens. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Tod des Ritters in ersterem Gedicht anscheinend ein Unglück war (allerdings nicht vom Standpunkt der Vögel), was Lewis' Ballade zufolge der Anblick z w e i e r Raben tatsächlich verkündet, und daß die Vögel in The Three Ravens vermutlich eine metaphysische Erscheinung darstellen, welche Lewis zufolge d r e i Raben symbolisieren. Die Wahl dreier statt zweier Vögel verhindert auch, daß wir einfach nur die Gegenwart eines Rabens und seines Gefährten vermuten ; und wenn wir weiterlesen Sie waren so schwarz, so kohlrabenschwarz - so wird dadurch (in Übereinstimmung mit dem Aberglauben, „drei ist der Teufel") eine böse Erscheinung angedeutet, und das Gedicht erhält einen Anflug drohender Entweihung, die nur durch die Treue, die den Ritter im Tode schützt und ihm beisteht, abgewendet wird. In einer amerikanischen Fassung der Ballade wird dieser Eindruck * C. Swainson:

Provincial Names and Folklore

Dialect Society, Serie D . London 1885, S. 90.

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of British Birds. English

völlig zerstört. Sie schließt damit, daß die Raben die Freunde des Ritters zu dem gefallenen Ritter führen. Der Ritter, der nicht „erschlagen" ist, wird in eine nahe gelegene Hütte gebracht und gepflegt. Dieses glückliche Ende pointiert die moralische Selbstgefälligkeit der Ballade, auch wenn sie den lächerlichen Schluß der geläufigeren Fassung vermeidet. Der Appell an den volkstümlichen Aberglauben in der Eingangszeile der Three Ravens wirkt unsinnig, weil das Gedicht ansonsten höfisch ist. Vielleicht wurde er erhoben, weil der Dichter die Ballade irrtümlicherweise für eine im wesentlichen volkstümliche Dichtung hielt, und das ließe dann darauf schließen, daß das Gedicht ein absichtlicher Archaismus ist, eine Möglichkeit, die von anderen Details des Gedichts gestützt wird. Die Gestalt des unter seinem Schild liegenden Ritters mit seinen Hunden zu Füßen erkennen wir wieder in der Grabfigur eines auf seiner Grabstätte ausgestreckten Ritters, die man in so vielen englischen Kirchen findet und deren vielleicht berühmtestes Beispiel das von Eduard dem Schwarzen Prinzen in der Kathedrale von Coventry ist. Offenbar schwebte dem Dichter eine solche Grabfigur vor. Darüber hinaus ist die „Hirschkuh, so trächtig mit Jungen, als sie nur laufen kann", die Verkörperung einer konventionellen Metapher oder eines Bildes, das der Dichter nur unvollkommen verstand. In der höfischen Literatur (vgl. z. B. Wyatts Who so list to bount-, Wer gern jagen will) erscheint die Dame oft als Hirschkuh; „das Jagen der Hirschkuh" war eine Wendung, die sich auf die Verfolgung einer Dame bezog, meistens mit der Absicht, sie zu verführen, und den schließlichen Erfolg nannte man den „Tod der Hirschkuh". Die Art des Bildes erhellt aus der Zweideutigkeit folgenden Liedes aus dem frühen 16. Jahrhundert: Blas dein Horn, Jäger, und blas dein Horn laut! Dort ist eine Hirschkuh in jenem Wald, wahrlich, ich will nicht sterben: Jetzt blas dein Horn, Jäger, und blas dein Horn, fröhlicher Jäger! Wund ist diese Hirschkuh geschlagen, Und doch blutet sie nicht; Sie lag so schön da, ich konnte sie nicht verfehlen; Gott, das freute mich! 43

Als ich unter einem Ufer stand, Trat die Hirschkuh auf die Wiese. Ich traf sie, daß sie zu Boden sank, Und doch war sie nicht tot. D a läuft sie! Seht ihr nicht, Wie sie über die Ebene läuft? Und wenn ihr Lust auf einen Schuß habt, Ich sag euch, sie ist nicht trächtig. Er ging drauf los und ich ging drauf los. Doch er lief schnell vorauf; Ich bat ihn, die Hirschkuh zu schießen und zu treffen, Denn ich konnte nicht mehr schießen. In ein Versteck liefen beide, Denn ich fand, wo sie lag; Sie hatte einen Pfeil in der Lende; Aus Atemnot konnte sie nicht schreien. Ich war müde des Spiels, Ich ging ins Wirtshaus, um zu trinken; Nun die Auslegung all dessen Was meint oder denkt ihr? Hier beschließ ich und beende Diese Jägersage! Ich glaube, sein Bogen ist nicht mehr gespannt, Sein Pfeil vermag nicht mehr zu fliegen.* Die „Auslegung" des Liedes ist nicht schwer, wenn man die konventionelle Metapher einmal erkannt hat; und die Darstellung des Ritters und der Dame in The Three Ravens leitet sich von „diese (r) Jägersage" her. In der verdeckten Metaphorik der Three Ravens ist der Ritter also ein Jäger (mit seinen Falken und Hunden), und die Hirschkuh stellt folglich seine Beute dar. Damit wird angedeutet, daß der Ritter bei der Verfolgung dieses Tiers zu Schaden kam. Diese verdeckte Metaphorik wird jedoch durch die Beschreibung dier Hirschkuh, der • John Stevens: Music and Poetry in the Early Tudor Court. London S. 400.

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1961,

„Liebsten" des Ritters, als „so trächtig mit Jungen, als sie nur laufen kann", der Lächerlichkeit preisgegeben. Der Metapher zufolge verfolgte der Ritter, zunächst als Jäger, eine Hirschkuh, deren Schwangerschaft bereits so weit fortgeschritten war, daß sie Schwierigkeiten hatte sich fortzubewegen, und dann, als romantischer Liebhaber eine schwangere Dame, die bereits seine „Liebste" war. Die „Auslegung" des Gedichts ist absurd und der Grund der Absurdität offensichtlich: Das, was im Prinzip ein konventionelles Bild aus dem Sexualbereich ist, wird auf unstimmige Weise „moralisch" ausgelegt. Ebenso wie der Appell an den volkstümlichen Aberglauben steht die Schwangerschaft der Hirschkuh in krassem Gegensatz zu der höfischen Tradition, auf die sich die Ballade beruft. Sie stellt eihe familiäre Bindung zwischen dem Ritter und seiner „Liebsten" her und bezeugt damit ein protestantisches Moment nicht unähnlich dem, durch das bei Spenser die außereheliche höfische Liebe in Liebeswerbung, das Vorspiel von Ehe und Familie, verwandelt wird. The Three Ravens ist demnach ein erfolgloser, ja lächerlicher Versuch, The Twa Corbies aufzuwerten. Das Gedicht siedelt den toten Ritter von „hinter jenem alten fauligen Graben" auf dem „grünen Feld" des Ritterromans an und läßt ihn dort einen passenden Tod „unter seinem Schild" sterben, und es ersetzt die Dame, die einen anderen Gefährten gewonnen" hat, durch die romantische und treue Hirschkuh. Wo in The Twa Corbies der Falke, der Hund und die Gefährtin des Ritters ihre Geschäfte des Jagens und Liebens fortsetzten, wachen die Hunde und Falken in The Three Ravens bei ihrem Herrn, bis seine Gefährtin kommt, um ihn zu begraben. Das alles läßt den Tod des Ritters zum Anlaß der Bestätigung von Lehnstreue und Pflichterfüllung werden. Das Gedicht bejaht den gleichen Verhaltenskodex und das gleiche Gefühl der Lehnspflicht, das die ehemaligen Vasallen in Wyatts Gedicht offenbar verletzt haben: Sie fliehen vor mir, die einst mich suchten, Mit nacktem Fuß schleichen sie umher in meiner Kammer. Ich hab sie gütig, zahm und sanft gesehn, Die jetzt wild sind und sich nicht erinnern, Daß sie sich einst in Gefahr begaben, Um Brot von meiner Hand zu nehmen, und jetzt rasen sie Und suchen eifrig mit dauernder Veränderung.* * Collected Poems of Sir Thomas Wyatt. Hg. v. K. Muir und P. Thomson. Liverpool 1969, S. 27.

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Wyatts Zeilen vermitteln fast die gleiche Vorstellung von Verlassenheit wie The Twa Corbies, doch ihr Ton bringt eine feudale Antipathie gegenüber der Vernachlässigung von Idealen der Lehnstreue und der Pflichterfüllung zum Ausdruck, wovon in diesen Zeilen die Rede ist. Das Gedicht schließt mit einer Frage: Wie sollten diejenigen, die so dienen, selbst bedient werden? Wyatts Frage ist nicht als rhetorischer Vorschlag zu verstehen, anderen das anzutun, was sie einem selbst angetan haben. Sie erhebt sich über kleinliche Rachegefühle auf Grund der Wichtigkeit, die der Pflichterfüllung beigemessen wird. Ideologisch gesehen bestanden die gesellschaftlichen Übereinkünfte des Feudalismus aus einem dichten Netzwerk wechselseitiger Verpflichtungen, die durch einen auf Pflichterfüllung und Gehorsam basierenden Verhaltenskodex gerechtfertigt wurden. Jeder Verfall der Ideale der Pflichterfüllung schien daher die Grundlagen der Gesellschaft zu erschüttern. Da die Lehnstreue in diesem System die Kardinaltugend darstellt, ist leicht zu verstehen, warum ihre Bekräftigung für The Three Ravens wesentlich ist, selbst wenn der Kodex, dem sich das Gedicht verpflichtet fühlt, in Wirklichkeit vielleicht schon ein Anachronismus geworden ist. Das ganze 16. Jahrhundert hindurch wurde das Verschwinden der alten gesellschaftlichen Werte von vielen Zeitgenossen, unter ihnen Shakespeare und Jonson, mit Schrecken beobachtet, was auch The Three Ravens zum Ausdruck bringen, ja sie unterstreichen sogar noch einmal die Bedeutung der alten Ideale. Daß diese Bestätigung unstimmig und ein wenig lächerlich ist, zeugt davon, daß sich die alte ritterromantische Sicht trübte und die alten höfischen Konventionen ihre Bedeutung verloren. In Hinblick auf ihre Kritik an der Stimmigkeit und Angemessenheit der Twa Corbies sind The Three Ravens von eher soziologischer und historischer denn von poetischer Bedeutung. Natürlich würde jeder Kritiker fehlgehen, wenn er die soziologische und historische Bedeutung der Literatur übersähe, selbst wenn sie für seine Beurteilung von Literatur als Literatur nicht nur sehr wichtig sein mag. Obwohl es falsch wäre (wie wir noch ausführlicher belegen werden), The Twa Corbies als Bestätigung einer Lebensauffassung zu betrachten, die den Menschen nicht mehr als „ein armes, nacktes, zweizinkiges Tier" sieht, mag der Verfasser der Three Ravens sehr wohl dieser Ansicht gewesen sein. Im späten 16. und im 17. Jahrhundert war der Glaube weit verbreitet, daß der Mensch seiner traditionellen Aufgaben und Pflichten zunehmend entkleidet würde, ebenso wie aller seiner alten Überzeugungen und Neigun46

gen, aller Bande, die ihn zügelten und seine tierischen Instinkte in Schranken hielten, kurz, all dessen, was ihn traditionellerweise zum Menschen gemacht und vom Tier unterschieden hatte. Man sah den neuen, „natürlichen" Menschen als von tierischem Instinkt und Hunger getrieben, als (wie Shakespeare Edmund und Jago) nur von der Sorge um sich selbst motiviert und als machiavellistischen Taktiker, der hauptsächlich auf engstirnigen Eigennutz und persönliches Vorwärtskommen aus war. Man erkannte das Wesen des neuen Menschen, wie es Hobbes später beschreiben sollte, als „roh von Zahn und Klaue", als sein einziges Gesetz das des Dschungels oder das des „Jeder gegen Jeden". Es ist eine schreckliche und sterile Auffassung von der menschlichen Natur, und man könnte sich nach oberflächlichem Lesen für die der Twa Corbies halten. Ich glaube, daß The Three Ravens die Ansicht „jeder für sich, und den Letzten hole der Teufel" zurückweisen und entgegen der Doktrin von der Natur als „rot von Zahn und Klaue" den alten Glauben an die Natur als prinzipiell gut und zum Wohl des Menschen eingerichtet und vom Gefühl der Pflicht und Rechtschaffenheit göttlich inspiriert, auf widerspruchsvolle Weise neu bestätigen. Die Kritik der Three Ravens an der in den Twa Corbies enthaltenen Auffassung der Natur und damit der Stellung des Menschen im Plan der Welt führte Gummere zweifellos zu der Überzeugung, daß The Twa Corbies zynisch seien. Eine solche Meinung ist das Ergebnis einer elementaren Fehlinterpretation der Twa Corbies und der mangelnden Erkenntnis, daß The Tbree Ravens in ihrer Kritik der anderen Ballade einen Kampf gegen Windmühlen führen. Da Gummere The Twa Corbies für eine Kritik der Three Ravens hielt und nicht umgekehrt, kann man es auch anders ausdrücken und sagen, daß beide Gedichte die gleiche moralische Weltsicht zum Ausdruck bringen und daher das eine nicht zynischer ist als das andere. Insoweit man überhaupt von einer Aussage über eine Erfahrung in The Twa Corbies sprechen kann, so ist es die, daß der im Tode Verlassene nicht mehr als ein Stück Aas ist. Das ist eine traurige Feststellung, welche grundlegende Lebensbedürfnisse mit der rauhen Realität des Verlassenwerdens konfrontiert, aber sie stimmt auch völlig mit der „Moral" der Three Ravens überein. Anders als die Vögel in den Three Ravens, die lediglich einen erzählerischen Rahmen liefern, wenn auch mit metaphysisch-unheilvoller Sinngebung, verkörpern The Twa Corbies eine unabhängige und parteiliche Haltung innerhalb des Gedichts. Die anfängliche Sach47

lichkeit und Gleichgültigkeit haben Vögel und Gedicht gemeinsam, aber das Gefühl des Grauens und der Einsamkeit, das am Ende der dritten Strophe einsetzt, geht vom Gedicht aus und nicht vofi den Vögeln. Die Aaskrähen bekennen sich zu einer grundlegenden Lebensnotwendigkeit, die auch die Hunde und Falken regiert: es ist das Bedürfnis, „fressen (zu) gehen." Sie beschreiben auch die Dame aus ihrer eigenen Sicht: sie hat „einen andren Gefährten (mate) genommen", ein Ausdruck, der eher zum Verhalten von Vögeln als instinktiven und hungrigen Lebewesen paßt als zu einer Dame. Wiederum dient das hier der Sprache des Sprechers angepaßte Dekorum dazu, den Standpunkt zu mäßigen, indem er als der des Hungers und der Bedürftigkeit ausgewiesen wird (wie es bei „jenem alten fauligen Graben" mit seiner Anspielung auf Acker, Ernte, Nahrung geschieht). Der Anerkennung dieser Nöte stehen jedoch die bereits erwähnten Haltungen entgegen. D a ist zum Beispiel das „Ich will seine schönen blauen Augen auspicken". Die Zeile trifft eine wichtige Aussage über eine Erfahrung und ist nicht nur eine grauenerregende Erfindung. Die Realität der Situation ist grauenerregend, nicht aber die makabren Einfälle des Gedichts. Wenn wir das verstehen wollen, müssen wir uns darüber klar werden, daß das, was in dieser Zeile ausgedrückt wird, dem natürlichen Verhalten von Aaskrähen entspricht und kein Phantasieprodukt ist. E . A. Armstrong stellte fest (1958), daß „ein Vogelfreund, der vor einigen Jahren einen Bericht in einer örtlichen Vogelzeitschrift veröffentlichte, ohne Kommentar zwei menschliche Augäpfel als Teil der Nahrung einer Aaskrähe aufzählte".* Swainson erwähnt eine Redensart, aus der hervorgeht, daß die Vorliebe der Aaskrähe für Augäpfel früher allgemein bekannt war. Die Redensart „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus" (die nahelegt, daß sie das Auge jedes anderen Wesens aushakken würde) wird laut Swainson „von Menschen desselben Gewerbes verwendet, die alles tun, um sich gegenseitig zu unterstützen".** Solche Beobachtungen sind dazu angetan, den Eindruck zu korrigieren, daß der Dichter Grauen erfindet, um sein Anliegen zu bekräftigen; sie belegen zudem die Aussage des Gedichts, daß die tatsächlichen Folgen des Verlassenwerdens (und nicht die Einfälle des Dichters) grauenerregend sind. Das elementare Bedürfnis „fressen (zu) gehen" * E . A. Armstrong: The Folklore of Birds. London 1958, S. 73. * * C. Swainson: Provincial Names

and Folklore of British Birds. English

Dialect Society, Serie D . London 1885, S. 84.

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wird konfrontiert mit einem echten und nicht erfundenen Grauen, und am Ende herrscht die Trostlosigkeit von Über seine weißen Knochen, wenn sie kahl sind, Soll der Wind ewig blasen. D i e Gesamtwirkung ergibt sich aus der Schilderung wirklich grauenvoller und hoffnungsloser Lebensumstände, die auf die bloße B e friedigung elementarer Bedürfnisse redimiert sind. E s erübrigt sich wohl zu bemerken, daß eine solche Wirkung nicht zynisch ist. Sowohl The Three Ravens als auch The Twa Corbies wurden bis weit ins 19. Jahrhundert hinein in Schottland gesungen und waren daher in gewissem Sinn „volkstümlich", obwohl die Haltungen, die sie zum Ausdruck bringen, so unterschiedlich sind wie Tag und Nacht. D i e Stimmung des einen Gedichts ist höfisch, aristokratisch und feudal; die des anderen, das fast ein Klagelied ist im Sinne von Wyatts The fie from me (Sie fliehen von mir), ländlich und volkstümlich. Zu den Unterschieden in der Stimmung kommen die in der Vorstellungskraft und der Qualität des sittlichen Gefühls. In seinem sprachlichen Dekorum, seinem Empfinden und seiner Stimmung verkörpern The Twa Corbies nicht nur eine subtilere Kultur als The Three Ravens, sondern auch eine funktionellere, welche die elementaren Lebensbedürfnisse bejaht und zugleich mit König Lear erkennt, Gib der Natur nur das, was nötig ist, So gilt des Menschen Leben wie des Tiers. (II, 4, 264 bis 265.) 9 Grundsätzlich verkörpern The Twa Corbies der traditionellen Volksballade.

«

die klassische Stimmung

IV

D i e Stimmung einer Ballade vermag mehr, als die Erfahrungen der Dichtung zu modifizieren; sie verleiht ihnen eine besondere Gestalt und einen bestimmten Wert. D i e Stimmung der Twa Corbies zum Beispiel erzeugt nicht nur einen • Schauder des Schreckens über die Absicht der Vögel, sie verleiht dieser Reaktion eine spezifische Bedeutung als Teil der Gesamthaltungen des Gedichts gegenüber dem verlassenen Ritter. D e r Abscheu vermittelt im Gedicht jene Geisteshaltung, die sich entschieden dagegen verwahrt, den toten Ritter als „für die Vögel" vorgesehen anzusiedeln, ein bewußt aggressiv ge4

Southall/Magister

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wählter Ausdruck, der außer der oppositionellen Einstellung auch die Aktualität des Gedichts in seiner Zeit betont. Seine Empörung hat nichts mit Mitleid zu tun; es äußert keine Trauer darüber, daß der Ritter gestorben oder daß er im Tod ungeliebt oder verlassen ist. Darin ist die Stimmung der Ballade in meinem Sinn des Wortes „klassisch": es entsentimentalisiert die zentrale Balladenerfahrung von Liebe und Tod und fordert so unser Gefühl für das, was angemessen ist, heraus und vertieft es. Liebe und Tod sind ein keineswegs seltener Gegenstand der Dichtung. In den Balladen auffallend und eigentümlich ist die ständige Verbindung beidef Themen; eine Ballade nach der anderen handelt von Tod durch Liebe oder Liebe durch Tod. Weil meine Liebe heute für mich starb, So will ich morgen für sie sterben. Barbara Allen, die diese Zeilen spricht, hat Sir John Graeme durch ihre Herzlosigkeit getötet; er ist aus Liebe zu ihr gestorben. Nach seinem Tod akzeptiert sie ihn jedoch als ihren Liebsten und schickt sich ihrerseits an, für ihn zu sterben. Hier handelt die Ballade sowohl vom Tod durch Liebe als auch von Liebe durch Tod. Die Verknüpfung von Tod und Liebe tritt in den Balladen so häufig auf, daß sie einer Kausalverbindung nahekommt, und der Pfad der Liebe führt so oft ins Grab, daß die Liebe selbst eine schicksalhafte, tragische Bedeutung annimmt. Allerdings ist die Tragik zuweilen nur scheinbar: Liebe wird als die Erde befruchtend angesehen, wenn etwa Cordelia in King Lear (IV, 4, 17-18) bittet: All ihr verborgnen Kräfte der Natur, Sprießt auf durch meine Tränen! oder wenn die Liebe gar in der Erde aufgebt. Daher finden wir in so vielen Balladen die Rose und den Dornenzweig, die gleich der Blume vollzogener Liebe aus dem Grab der im Tode vereinigten Liebenden hervorsprießen. Es ist das Gewahrwerden einer solchen Verjüngung der Erde durch Cordelia, daß die sie umgebenden Bilder in der zweiten Hälfte des Stücks eine Göttin natürlicher Mildtätigkeit und Fruchtbarkeit enthüllen, welches einen Protest gegen Lears verzweifelten Aufschrei angesichts ihres Todes auslöst: „Tot wie die Erde." (V, 3, 266.) Cordelia hat durch ihre Liebe die Erde wieder zum Leben erweckt; sie ist ebensowenig tot wie die Erde, die sie mit ihren Tränen getränkt hat. In den Balladen 50

wie auch im Falle Cotdelias geht die Liebe in die Erde ein wie die gläubige Seele ins Paradies. Die Gefühlslage der Ballade kommt der von King Lear erstaunlich nahe, doch der von Wuthering Heights, welchen Roman man als die größte aller literarischen Balladen bezeichnein könnte, kommt sie noch näher. Das balladeske Gefühl dieses Romans manifestiert sich am auffallendsten in jener Bindung zwischen Heathcliff und Cathy, die Cathy veranlaßt, aus ihrem Grab auf .dem Kirchhof von Gimmerton aufzuerstehen, um an das Fenster von „Sturmhöhe" zu klopfen, und die Heathcliff bewegt, ihre Leiche auszugraben, so daß er sie noch einmal ansehen und, wie er Nelly Dean erklärt, träumen kann: „'Ich träumte, ich schliefe den letzten Schlaf neben ihr; mein Herz schlug nicht mehr, und meine Backe lag eiskalt neben der ihren.'" Und er beschließt: „'Ich will sie wieder in den Armen halten. Wenn sie kalt ist, will ich denken, daß es der Nordwind ist, der mich erschauern läßt, und wenn sie regungslos bleibt, daß es der Schlaf ist.'"* Ihre „Liebe" (die Anführungszeichen deuten auf die emotionale Unzulänglichkeit des Wortes für die von uns beim Lesen gemachte Erfahrung hin) hat nichts mit Romantik oder Sentimentalität zu tun, sondern wird als wesentlich und (um Cathys Ausdruck zu benutzen) „notwendig" empfunden. Es ist eine „Liebe", die Leben und Tod, die Lebenden und die Toten ineinander verschmelzen läßt auf eine Weise, die die Liebe an den Rand des Grauens bringt. Eine solche Liebe (die von übermäßiger Traurigkeit gekennzeichnet ist, wie sie Heathcliff befällt) wird in der Ballade The Unquiet Grave (Das unruhige Grab) besungen. Wie nahe sie dem Grauen kommt, geht aus der Unterhaltung des Liebhabers mit seiner toten Geliebten hervor: „Ich bin's, Geliebte, der auf deinem Grabe sitzt, Und dich nicht schlafen läßt; Denn ich verlange einen Kuß von deinen lehmkalten Lippen, Und das ist alles, was ich suche." „Du verlangst einen Kuß von meinen lehmkalten Lippen; Doch mein Atem riecht erdig stark; Bekommst du einen Kuß von meinen lehmkalten Lippen, Wird deine Zeit nicht lange währen."** * Emily Bronte: Die Sturmhöhe. Leip2ig 1964, S. 346-347. ** British Populär Ballads. Hg. v. John E. Housman. London 1952, S. 89. 4»

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Hier überlagert die Sympathie für die Gefühle des Liebhabers nicht die anderen Empfindungen, doch erzeugt seine Nekrophilie beim Leser auch keine Übelkeit; Sympathie wie Widerwille werden durch eine ausgleichende distanzierende Haltung kontrolliert, welche die Reaktion auf Liebe und Tod zu einer subtilen und ungewohnten, aber natürlichen Verbindung verschiedener Emotionen macht. Folgerichtig hinterläßt die klassische Ballade, indem sie die Eignung des landläufgen Begriffs von „Liebe und Tod" bzw. der meist unklaren Vorstellung davon in Frage stellt, beim Leser ein unangenehmes Gefühl beschränkter Ausdrucksfähigkeit, hervorgerufen durch erworbene Konventionen und gewohnte Empfindungen. Für den modernen Leser ist es schwer, auf folgende Zeilen anders als mit Grauen zu reagieren: Du sollst auf seinem weißen Halsknochen sitzen, Und ich will seine schönen blauen Augen auspicken. Wenn die Ballade jedoch diese Schwierigkeit überwindet, ruft sie eine scheinbar konfusere, in Wirklichkeit aber kompliziertere und differenziertere Reaktion hervor, bei der die Erregung des Grauens von einem sachlichen Akzeptieren der Natürlichkeit des vorgestellten Ereignisses kontrapunktiert wird. In diesem Fall sind gleichzeitig zwei Haltungen vorhanden, die des Gedichts und die der Vögel, und der Leser muß sich mit beiden identifizieren, um angemessen auf The Twa Corbies reagieren zu können. Eine ähnliche Verbindung widersprüchlicher Haltungen findet sich in The Twa Sisters, wo eiine Schwester die andere ertränkt hat und der Müller die Leiche vom Mühlendamm herunterholt. Was der Müller mit der Leiche des Mädchens tut, ist scheußlich und wäre heute eher in der Welt der Horrorkomik zu Hause: Was tat er mit ihrem Brustbein? Er machte sich eine Viole draus, um drauf zu spielen. Was tat er mit ihren Fingern, den kleinen? Er machte sich Wirbel draus für seine Viole. Was tat er mit ihrem Nasenbein? Für seine Viole machte er sich draus einen Steg. Was tat er mit ihren Venen, den blauen? E r machte sich Seiten draus für seine Viole.* * Ebenda, S. 96-97.

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Hier wird das Grauen von der distanzierten und gleichgültigen Art, in der über des Müllers Tätigkeit berichtet wird, kontrapunktiert. Der Müller arbeitet nicht nach eigenem Plan oder aus eigenem Willen, und es ist sinnlos zu fragen, warum er das tat, oder ob er wußte, daß die Geige, die er anfertigte, die Mörderin schließlich verraten würde. Der Müller ist einer der Automaten des Schicksals, oder genauer gesagt, er ist das Vehikel, mit dessen Hilfe das Gedicht die Leiche des ermordeten Mädchens zum Instrument der Entlarvung der Schwester macht. Es ist dieses Bewußtsein schicksalhaften Handelns des Müllers im Dienst einer ausgleichenden Gerechtigkeit, die hier tatsächlich eine poetische Gerechtigkeit ist, welche mit den Gefühlen des Grauens kollidiert und diese mäßigt. The Twa Sisters ist ein Gedicht, in dem uns offenbar, ähnlich wie in Donnes Anspielung auf die wohlgeformte Urne* (auch eine Metapher für den Tod), eine Metapher für die Kunst des Dichters vorgestellt wird. Die Ballade beschreibt die elementare Realität des Todes, die schließliche Auflösung - der Körper ist reduziert auf Brustbein, Finger, Nasenbein und Venen - , woraus etwas Kompliziertes und Fremdes entsteht, wie das bei dem ertrunkenen Vater in Ariels Lied in The Tempest (I, 2, 412-417) der Fall ist: Fünf Faden tief liegt Vater dein: Sein Gebein wird zu Korallen; Perlen sind die Augen sein: Nichts an ihm, das soll verfallen, Das nicht wandelt Meereshut In ein reich und seltnes Gut. Ebenso wie sich in diesen Zeilen der ertrunkene Vater in ein Kunstwerk verwandelt, eine Figur aus Perlen und Korallen, so wird in den Twa Sisters die ermordete Schwester zerlegt, um zu einem Instrument der Kunst, einer Viole, wiederzusammengesetzt zu werden. D a ß die Metapher des Todes und der Auflösung in beiden Fällen ein Bild künstlerischer Komposition oder Neugestaltung ist, läßt vermuten, daß die Zeilen symbolisch sind und daß das, was sie symbolisieren, die Kunst des Dichters selbst ist: Degenerierendes Erleben wird umgewandelt in Kunst. Bei dieser Betrachtungsweise * Siehe John Donnes Gedicht The Canonization: Wir wollen in Sonetten schöne Räume bauen; So steht einer wohlgeformten Urne Die höchste Asche so gut an wie einer ausgedehnten Grabstatt . . .

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ist die elementare Wirklichkeit der Ballade nicht der Tod, „der Schädel unter der Haut", sondern das, was sie aus ihrer Konfrontation mit dem Tod und der Zersetzung, die die Haut von den Knochen trennt, neu erschaffen kann. Nach dieser Betrachtungsweise, die auch durch das Gedicht gestützt wird, sind nicht die abgenagten und von den Vögeln liegengelassenen weißen Knochen des Ritters die letzte Realität der Twa Corbies, sondern das Gefühl der Verlassenheit, welches das Gedicht aus der Vision seiner abschließenden Zeilen erzeugt: Über seine weißen Knochen, wenn sie kahl sind, Soll der Wind ewig wehen. Es ist offensichtlich, daß The Twa Sisters, die 1656 erstmals im Druck erschienen, ein unbedeutenderes Gedicht sind als The Twa Corbies. Selbst wenn man ihm symbolische Kraft zubilligt, sind seine Mittel gröber - nicht nur in der Erzeugung des Standpunkts, sondern auch in der Realisierung der Form (z. B. unechter Reim, Verwendung nicht sinntragender Wörter aus Metrum- oder Reimzwang). Dennoch haben beide Gedichte Gemeinsamkeiten: die Aaskrähen und der Müller erzielen ihre Wirkung als Teile des Mechanismus von Handlung, Thema und Stimmung, das heißt als Elemente einer grundlegend unpersönlichen Welt. Diese mit dem Wort „Mechanismus" nur unzureichend umschriebene Unpersönlichkeit der Kunst der klassischen Ballade entspricht ihrer Anonymität und schließt persönliches Gefühl und Moralempfinden aus zugunsten poetischer oder künstlerischer Gerechtigkeit, welche auf der Erzählebene als „Schicksal" oder „Notwendigkeit" empfungen wird, „Schicksal" in der Ballade ist keine bequeme Fiktion wie etwa in Romeo and Juliet oder George Eliots Middlemarch, (1871/72; Middlemarch. Aus dem Leben der Provinz), wo (zu Beginn des 11. Kapitels in Buch I) der Erzähler erklärt: „Das Schicksal steht höhnisch dabei und hat die Figuren der Handlung fest in der Hand."* Mit der Figur des „Schicksals" verweist der Erzähler hier auf die Autorin George Eliot, denn sie ist es, die die Charaktere des Romans fest in der Hand hat. Worauf der Erzählet indirekt hinweist, ist, daß das Geschick des Romans dem Autor ausgeliefert ist, und daher personifiziert er das „Schicksal". * George Eliot: Middlemarch. Aus dem Leben der Provinz. Zürich 1962.

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Das unpersönliche „Schicksal" in der Kunst ist im Gegensatz dazu jenes Geschick oder Ende, dem es auf Grund der Entfaltung seiner eigenen Natur nicht entgeht. Dieses letztere kommt in der klassischen Ballade zum Ausdruck, deren stärkste Wirkungen daher von einer distanzierten, unpersönlichen, sachlichen Art sind, wogegen die höfische Dichtung desillusionierend, pathetisch, zornig, sarkastisch oder melancholisch ist. Dieser Unterschied zwischen dem sachlichen Charakter der Ballade und dem sentimentalen Charakter der höfischen Dichtung ist wahrscheinlich der Grund, warum die Ballade immer wieder als einfach und die höfische Dichtung als kunstvoll angesehen wird. Eine solche Differenzierung ist für den Kritiker verführerisch, und es gilt, ihr zu widerstehen. Lear, eine höfische Figur vor dem öden und balladesken Hintergrund der Heide, sagt über sich und seine Begleiter zum Narren: Ha, drei von uns sind überkünstelt: du bist das Ding selbst; der natürliche Mensch ist nichts mehr, als ein armes, nacktes, zweizinkiges Tier wie du. (III, 4, 107-110.) Es wird offenbar allgemein angenommen, daß Lear an dieser Stelle im Stück die Schuppen von den Augen fallen und er die Dinge so zu sehen beginnt, wie sie wirklich sind. Was er angeblich sieht, ist, daß der aller Zivilisationsverbrämungen entkleidete Mensch nicht viel besser ist als ein gehäutetes Kaninchen, „ein armes, nacktes, zweizinkiges Tier". Das, so sollen wir dann glauben, ist eine tiefe Einsicht in die menschliche Situation, die „Überkünstelung" als Oberflächlichkeit sieht, als bloßen Umhang, der die nackte Wahrheit verdeckt. Diese Interpretation der Learschen Zeilen ist Ausdruck einer verbreiteten grundsätzlichen Haltung gegenüber dem Einfachen und dem Kunstvollen, und diese Haltung präjudiziert von vornherein die Unterscheidung zwischen höfischer Dichtung und volkstümlichen Balladen. Eine sorgfältigere Lektüre der Learschen Zeilen zeigt, daß er lediglich eine Ansicht näher ausführt, die er Regan gegenüber bereits geäußert hat: Oh, streite nicht, was nötig sei. Der schlechteste Bettler Hat bei der größten Not noch Überfluß. Gib der Natur nur das, was nötig ist, So gilt des Menschen Leben wie des Tiers. 55

Du bist 'ne Edelfrau; Wenn warm gekleidet gehn schon prächtig wäre, Nun, der Natur tut deine Pracht nicht not, Die kaum dich warm hält. (II, 4, 262-269.) Die Empfindung in den an den Narren und Regan gerichteten Worten Lears ist ähnlich der in den Twa Corbies, wo das auf niedrigste tierische Bedürfnisse zurückgeführte Leben als unfruchtbar und trostlos empfunden wird. Lears Bemerkung zum Narren ist kein Hinnehmen dessen, was der Mensch im elementarsten Sinn darstellt, „ein armes, nacktes, zweizinkiges Tier", sondern die Erkenntnis dessen, worauf er durch Vernachlässigung, durch Verleugnung seiner grundlegenden m e n s c h l i c h e n Bedürfnisse reduziert wird. Nach Lears Meinung ist der u n b e h e r b e r g t e Mensch - derjenige, der der „Überkünstelung", die ihn vor den Elementen schützt, entkleidet ist - ein Tier. Lear entledigt sich seiner Kleider, um uns die nackte Wahrheit, daß „Überkünstelung" wesentlich ist für unsere Existenz als Menschen und nicht als nackte, zweizinkige Tiere, vorzuführen und sie selbst zu empfinden. Lear benutzt „überkünstelt" in seiner eigentlichen Bedeutung von „verdorben" oder „verfälscht", und wenn man davon ausgeht, daß der Mensch im Prinzip nicht mehr ist als ein armes, nacktes, zweizinkiges Tier, dann sind wir alle „überkünstelt". Wenn man jedoch der Ansicht ist, daß sich der Mensch vom Tier unterscheidet, was auf der Hand liegt, so tut er es durch seine Kultur, die ihn verderben und verfälschen mag, aber auch o f t verfeinert. In einem und vielleicht jedem Sinn des Wortes ist alle menschliche Kultur „überkünstelt", und die Differenzierung zwischen höfischer Dichtung und den Balladen vollzieht sich daher nicht zwischen „Überkünsteltem" und Natürlich-Ungekünsteltem oder Kunstvollem und Nichtkunstvollem, sondern zwischen Formen und Graden der „Überkünstelung" oder des Kunstvollen. Die Balladen basieren ebensosehr auf den kunstvollen Formen von Tradition, Konvention und Ritual wie die höfische Dichtung. In einer Fassung der Twa Sisters zum Beispiel wirbt ein Ritter um die ältere Schwester: Er warb um die Ältere mit Handschuh und Ring, Doch er liebte die Jüngere über alles;

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Er warb um die Ältere mit Brosche und Messer, Doch er liebte die Jüngere wie sein Leben.* Ein moderner Leser mag sich über das Verhalten des Ritters wundern, der um die ältere Schwester wirbt, während er die jüngere liebt. Heiratsfähige Mädchen wurden mit einer Mitgift versehen, und die Konvention verlangte, daß die älteste Tochter den ersten Anspruch auf die Mitgift hatte und daher als erste verheiratet werden mußte. Wenn also der Ritter heiraten will, und zwar eine der Schwestern, muß er die älteste nehmen, kurz, er ,ist durch eine Konvention gebunden, der seine natürlichen Neigungen zuwiderlaufen. Dennoch befolgt er mit den Geschenken, die er der älteren Schwester macht, das Ritual der Werbung. Der Handschuh und der Ring verkörpern das weibliche, die Brosche (mit ihrer Nadel) und das Messer das männliche Prinzip. Beide zusammen symbolisieren Heirat, die Vereinigung des Männlichen mit dem Weiblichen, und stellen Geschenke dar, die ein junger Mann einer jungen Frau, die er heiraten wollte, als Unterpfand traditionellerweise überreichte. Die Wurzeln der Balladen liegen oft tief im Geflecht der volkstümlichen Konventionen, aber auch des Volksglaubens. Robert Graves schrieb: „In > den Balladen über Robin Hood finden sich zahlreiche Spuren der alten Religion. Zum Beispiel bildet das Duell zwischen dem Rotkehlchen und dem Zaunkönig (den Emblemen für die keltischen Götter Belin und Bran) das Thema von Robin and Gandelyn, (Robin und Gandelyn), wo Robin Hood, der von dem kleinen Wrennock (Zaunkönig) getötet wird, von seinem 'Knappen' oder Nachfolger im Neujahr gerächt wird. 'Robin' (Rotkehlchen) war eine Bezeichnung, die oft dem männlichen Anführer einer Hexenversammlung verliehen wurde, während der weibliche Anführer 'Maid' genannt wurde, wovon sich 'Maid Marian' herleitet."** Zweifellos waren die alten Überzeugungen in vielen Fällen selbst zu bloßen Konventionen herabgesunken, hatten ihre ursprüngliche Bedeutung verloren und Waren zu Volkskunst und Brauchtum oder bloßem volkstümlichen Aberglauben geworden.*** * English and Scottish Bällads. Hg. v. Robert Graves, London 1957, S. 3. * * Ebenda, S. X V I . * * * In einigen Teilen Englands glaubt man immer noch, daß es Pech bringt, wenn man unter einer Leiter geht, und man auf die Erde spucken muß, um dem entgegenzuwirken. Bei alten Leitern kreuzten die Sprossen die Holme und bildeten so eine Reihe von Kreuzen, deren Schatten die unter ihnen

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Hexerei und die alte Religion spielen jedoch bei den traditionellen Volksballaden in den verschiedenen Formen des Feenzaubers eine wichtige Rolle. In Tarn Lin zum Beispiel ist die Nacht vor Allerheiligen, die wir heute mit Hexen assoziieren, die Zeit, wo das „Feenvolk" unterwegs ist: Doch die Nacht ist Allerheiligennacht, Dame, Und der Morgen Allerheiligentag; Dann gewinn mich, gewinn mich, und du wirst's, Denn das tu ich, was du willst. Genau in der düsteren und mitternächtlichen Stunde Wird das Feenvolk unterwegs sein, Und die ihre wahre Liebste gewinnen wollen, Müssen sich am Meilenkreuz einfinden.* Der gleiche Glaube kommt in Allison Gross zum Ausdruck: Doch als sich's traf in der letzten Nacht vor Allerheiligen, Als der fröhliche Hof vorbeiritt, Ließ sich die Königin auf einem Gänseblümchenhügel nieder, Nicht weit von dem Baum, wo ich mich lagern wollte. John Housman weist in einer Anmerkung zu dieser Ballade sehr prägnant auf das spezifisch Kunstvolle der Balladen und auf die Komplexität der sich hinter der einfachen Äußerung verbergenden Haltung hin. Er bemerkt: „Der verrückte ('verrückt' im Sinne von Vorbeigehenden traf. Unsere vorchristlichen Urahnen hoben den bösen Einfluß des Kreuzes auf, indem sie auf seinen Schatten spuckten. Viele, die heute noch das alte Ritual durchführen, wären entsetzt, wenn sie von seiner Bedeutung erführen. Die Bedeutung dieses besonderen Rituals muß Vor der Reformation aus dem Bewußtsein geschwunden sein. In einigea Gegenden Englands kreuzen Menschen, ciie unter einer Leiter entlanggegangen sind, die Fiager. Aber das Zeichen des Kreuzes zu machen, nachdem man unter dem Schatten des Kreuzes gewesen ist, ergibt keinen abergläubischen Sinn. Es zeigt, daß der Glaube, unter einer Leiter entlangzugehen bringe Unglück, am Letten blieb, nachdem die Gründe dafür längst verschwunden waren. Es sollte noch erwähnt werden, daß der Sinn des Fingerkreuzens auch nicht mehr erkannt wird und heute lediglich für ein Zaubermittel gehalten wird, um böse Folgen abzuwenden. * British Populär Ballads. Hg. v. John E . Housman. London 1952, S. 81.

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'fröhlich') Hof" ist die uns aus. Tarn Litt und so manchem Volksmärchen vertraute Feenschar; das Gänseblümchen war im Mittelalter selbst Mittelpunkt eines Kults und wurde mit den wohltätigen Einflüssen der übernatürlichen Mächte in Verbindung gebracht; die Nacht vor Allerheiligen (die Nacht vom 31. Oktober zum 1. November) ist die günstigste Zeit, in der Sterbliche das reitende Feenvolk sehen können - es war ursprünglich das keltische Neujahr, und an dem Tag öffneten sich die Feenhügel, so daß die Begegnung zwischen Sterblichen und Unsterblichen möglich war. Daß sich die Feenkönigiit im tiefen Herbst auf einem Gänseblümchen niederlassen sollte, mag unstimmig scheinen, jedoch sind Feen die Geister der Pflanzenwelt, grün wie das Gras und die Blätter, die sie personifizieren, und wo immer sie sind, ist ewiger Sommer."* Selbst das „grün" der traditionellen Volksballade hat daher einen tieferen Sinn als, sagen wir, das „grüne Feld" in den Three Ravens. Historisch gesehen bedeutete solch ein Geflecht von Überzeugungen keine Verschlechterung oder Verfälschung, sondern eine Vervollkommnung des menschlichen Naturbewußtseins. Zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt förderten sie positiv das Bemühen des Menschen, die ihn umgebende Welt zu erklären und ihnen einen Stellenwert in der wesentlichen, aber geheimnisvollen Struktur menschlicher Existenz beizumessen. Die Kenntnis solcher Überzeugungen ist für das Verständnis der ursprünglichen Bedeutung der Balladen notwendig und muß jedenfalls einen Einfluß auf deren Beurteilung haben. Worin dieser Einfluß besteht, ist schwer zu sagen, denn der Wert der Balladen ist offensichtlich von solchem spezifischen Wissen unabhängig. Ja, sie haben zweifellos für unterschiedliche Generationen eine unterschiedliche Bedeutung gehabt, und während ihre ursprüngliche Bedeutsamkeit verloren ging - ähnlich wie die der Elfen zum Beispiel, die in die Kinderstube verbannt wurden - , haben sie doch offensichtlich ihre Überzeugung und Aussagekraft bewahrt, denn die Welt der Feen bietet vielleicht immer noch ein vertrauteres, einheimischeres und eindringlicheres Bild des Geheimnisvollen und Übernatürlichen als die exotische Welt christlichen Erzählens und Glaubens. Dies war offenbar im späten 16. Jahrhundert noch so, als Edmund Spenser im einleitenden Buch seiner Faerie Queene (1950; Die Feenkönigin) Christentum und Feenwelt miteinander zu versöhnen suchte. * Ebenda, S. 84.

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Die Balladen sind nicht nur reich an der volkstümlichen Kultur des Sagenguts, der Bräuche und Rituale, sondern sie weisen auch Formelemente auf, die auf das Kunstvolle in ihnen hinweisen, wie das poetische Dekorum (zum Beispiel in den Twa Corbies), die poetische Diktion („blutroter Wein", „milchweiße Stute" und ähnliches), Grundsituationen und -Standpunkte und die häufige Verwendung dreifacher Wiederholung: Du wäschst, du wäschst, du schöne Maid, Und immer wäschst du dein Seidenhemd. (Clark Colven) „O Rat, o Rat, Mutter, spricht er, Einen guten Rat gib mir." Lord Thomas and Fair Annet* (Lord Thomas und die schöne Annet) Obwohl sie auf einer bestimmten Entwicklungsstufe lediglich zu Wortformen wurden, waren die meisten dieser Formelemente selbst Ausdruck des Glaubens (an die metaphysische Bedeutung des Blutes oder die Zahl drei, zum Beispiel) und keine bloß mechanischen Kunstgriffe. Das Kunstvolle der Balladen ist demnach nicht auf literarischen Einfluß und literarische Anspielung auf den Ritterroman, die Courtoisie, und höfische Liebe zurückzuführen, sondern auf die traditionelle Kultur des Volkes, wie sie in seinem Sagengut, seinen Bräuchen und Ritualen verkörpert wird. Außerdem enthält die traditionelle Volksballade nicht nur eine hochentwickelte Wahrnehmung des Lebens, sondern sie bringt auch nach den absoluten Maßstäben eines Gedichts wie The Twa Corbies eine wesentlich subtilere Kultur zum Ausdruck als viele höfische Gedichte, da die Verfeinerung der Reflexion in der Stimmung der Volksballade ist. Man kann den Unterschied ihrer Kultur anhand der Eigenständigkeit von The Twa Corbies als Kunstwerk erkennen; das Gedicht existiert p e r s e , sein Wert (einschließlich seines moralischen Wertes) ist ausschließlich in der Kraft seiner Phantasie oder Vision begründet. Im Vergleich dazu fehlt den Three Ravens Phantasie und damit künstlerische Geschlossenheit; das Gedicht verkörpert eine Kulturstufe, wo die Moral ein äußerer Faktor der Kunst, eine Hinzufügung, aber * Ebenda, S. 87, 122.

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kein innewohnender Erfahrungszustand ist und wo sie wie in unserem Fall mit lächerlichen Folgen die Kunst verzerrt. V Natürlich sind nicht alle Balladen klassische Balladen. Während es eine Gruppe von Balladen gibt, die sich direkt und in klassischer Weise mit den Schlüsselthemen Liebe und Tod befaßt, gibt es andere wie etwa Sir Patrick Spens, Chevy Chase und Brave Lord Willoughby (Der tapfere Lord Willoughby), die sich, nur mittelbar damit beschäftigen, und auch diese Mittelbarkeit ist eine Sache der Stimmung. Diese anderen Balladen bieten die Unterhaltung einer spannenden Geschichte und hatten möglicherweise eine den Nachrichtenpamphleten verwandte Funktion, obwohl sie als solche nie sehr zuverlässig gewesen sein dürften und ihr historischer Wert als Berichte durch die Änderungen und Ausschmückungen, denen sie im Laufe ihrer Überlieferung unterworfen waren, weiter reduziert wurde. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß die Balladen als Nachrichtenpamphlete in jedem Fall unseren eigenen Presseberichten unterlegen waren. In den Balladen Chevy Chase und The Battie of Otterburn (Die Schlacht von Otterburn) finden sich zwar unterschiedliche Berichte über die Schlacht von Otterburn (1388), doch macht sie das nicht weniger zuverlässig als unsere eigenen so oft voneinander abweichenden Zeitungsberichte, wobei natürlich weder Zeitungen noch Balladen Quellen darstellen, auf die sich ein Historiker unbedingt verlassen kann. In dieser Hinsicht besteht jedoch der wichtigere Unterschied zwischen den Balladen und den Zeitungsberichten späterer Zeiten darin, daß der Sinn, den wir N a c h r i c h t e n geben, nicht der Art von Informationen entspricht, die die Balladen möglicherweise verbreiteten: Geschichte und Geschichten wurden noch nicht voneinander unterschieden, und die Forderung nach wahrheitsgetreuer Faktendarstellung stand vermutlich in der Reihenfolge der Anforderungen, die an die Darstellung von Ereignissen gestellt wurden, recht weit hinten. Es gibt viele andere wichtige Unterschiede zwischen Balladen. Obwohl sie sich für chauvinistische Aussagen durchaus geeignet hätten, sind Chevy Chase und Sir Patrick Spens nicht chauvinistisch, wohl aber The Spanish Armada (Die spanische Armada) und Sir Andrew Barton. Die unterschiedliche Gefühlslage ist teilweise auf die unterschiedlichen Umstände zurückzuführen: Die Schlacht von 61

Otterburn zum Beispiel war ein Grenzscharmützel, der Untergang der spanischen Armada ein großer Sieg in einem patriotischen Krieg. Neben den äußeren Umständen verdient besonders der grundlegendere Unterschied im Geistes- und Gefühlszustand, der Stimmung der Balladen, hervorgehoben zu werden, welcher sich auf das Schicksal der traditionellen Volksballade in unserer eigenen Gesellschaft auswirkt. Irgendwann im 16. Jahrhundert dringt die Sentimentalität in die Volksballade ein und beginnt, ihre Sensibilität zu untergraben. Das zeigt sich nicht nur im Entstehen der patriotischen Ballade, sondern auch in der wachsenden Beliebtheit der deutlich eine Moral vermittelnden Ballade. Ebenso wie die frühen Dramen waren auch die frühen Balladen, insbesondere die christlichen, nicht ganz ohne didaktische Absicht. Dives and Lazarus (Der reiche Mann und Lazarus) ist eine an die Reichen gerichtete schreckliche Warnung vor mangelnder Wohltätigkeit im Umgang mit den Armen. Die Absicht kommt in der zweiten und dritten Strophe deutlich genug zum Ausdruck: Dann legte sich Lazarus nieder, nieder, Nieder vor des Reichen Tür: „Etwas Fleisch, etwas Trank, Bruder, Gib den Armen." „Du bist nicht mein Bruder, Lazarus, Der bettelnd vor meiner Tür liegt; Nicht Fleisch noch Trank will ich dir reichen, Noch geben den Armen."* Die Ballade schließt mit Lazarus im Himmel und dem Reichen in der Hölle. Gegenüber der zweifelhaften Wirksamkeit solcher Drohungen boten viele Balladen über die Legende von Robin Hood die Alternative direkter Guerillahandlungen gegen die Reichen und Ungerechten, die durch die Wechselwirkung zwischen der Legende und der alten verfolgten Religion zweifellos zusätzliches Gewicht erhielten. Während die christliche Ballade den Menschen von der Sündhaftigkeit seines Lebens zu überzeugen suchte, war die klassische Ballade nicht ohne Moralempfinden und ein Gefühl für gesellschaft* Ebenda, S. 65.

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liehe Konventionen. Tbe Twa Sisters gibt der Überzeugung, daß Mord ans Licht kommt, errengenden Ausdruck, und Tbe Twa Corbies unterstreicht die Ansicht, daß ein Mensch, der alle Treue und Zuneigung verloren hat, am Ende nicht mehr ist als ein Stück Aas und angemessenes Futter für Krähen. In vielen traditionellen Balladen findet sich der Glaube an die wahre Beständigkeit der Liebe und an durch verwandtschaftliche Bande entstehende Pflichten, und einige, wie zum Beispiel Earl Brand und Clerk Saunders, betonen den tragischen Konflikt zwischen beiden. Solche Überzeugungen sind allerdings für die Dichtung axiomatisch. Das Gefühl des Grauens und der Einsamkeit, mit dem Tbe Twa Corbies endet, will nicht auf eine Moral hinaus; es ist eine poetische „Aussage", die als Summe der Erfahrung dieses speziellen Gedichtes für sich steht. Es wird kein Versuch unternommen, dieser Erfahrung einen besonderen Platz in der Hierarchie unserer Erfahrungen zuzuweisen, oder nahegelegt, daß sie einen tieferen Wert hat. Diese Autonomie der Erfahrung der traditionellen Ballade tritt vielleicht noch besser in den Twa Sisters zutage, einer Ballade mit anscheinend offenkundiger Moral. In der vermutlich frühesten Fassung geht es jedoch in der Ballade größtenteils darum, die Leiche der ermordeten Schwester Stück für Stück in eine Viola zu verwandeln. Dieses Verfahren stützt kaum die beruhigende Überzeugung, daß Mord tatsächlich immer ans Licht kommt, sondern scheint im Gegenteil nahezulegen, daß seine Entdeckung von einem unwahrscheinlichen Zufall abhängt. Doch ebenso wie ein moralischer Nutzen der Twa Corbies für das Erleben des Gedichts irrelevant ist und darum ablenkend, so spielt auch die Glaubwürdigkeit (im Lichte des Alltags betrachtet) für die Wirkung der Twa Sisters keine Rolle. Das Gedicht ist keine moralische Illustration, sondern eine etwas eigentümliche moralische Allegorie, in der die Überzeugung, daß Mord ans Licht kommt, als grotesk und unangenehm dargestellt wird. Ein gutes Beispiel für eine moralische Ballade aus dem 16. Jahrhundert ist The Children in tbe Wood (Die Kinder im Walde) (in der die Kinder übrigens, anders als in dem Weihnachtsspiel, das danach entstanden ist, sterben). Ihr Verhältnis zur klassischen Ballade entspricht dem der Tbree Ravens zu den Twa Corbies oder, um ein weiteres Beispiel frommer Adaption aus dem 16. Jahrhundert zu nennen, dem der „moralisierenden" Verse von John Halls The Court of Virtue (Der Hof der Tugend) zu den „lasziven" Gedichten höfischer Liebe aus The Court of Venus (Der Hof der Venus), von dem 63

Halls „gottgefällige" Gedichte herstammen.* Der Unterschied zwischen The Children in the Wood und der klassischen Ballade erhellt aus den einleitenden Zeilen, aus denen auch hervorgeht, daß das Gedicht für Leser und nicht für einen Balladensänger und dessen Zuhörer gedacht war: Nun sinnt gut nach, ihr lieben Eltern, Über die Worte, die ich jetzt schreib.** Die Botschaft an die Eltern wird in der letzten Strophe dargelegt: Ihr, die ihr zu Vollstreckern gemacht seid Und zu Aufsehern auch Von Kindern, die vaterlos sind, Und Kleinen, mild und sanft, Nehmt euch ein Beispiel an diesem Fall, Und gebt jedem sein Recht, Damit Gott nicht mit Elend Eure bösen Geister belohnt. Das Gefühl bringt die übliche Stimmung der moralischen Balladen des 16. Jahrhunderts zum Ausdruck. Ihre Absicht war didaktisch, und ihre eigentliche Beurteilung müßte soziologisch, nicht literarisch sein. Heutzutage wird ihre Moral vielleicht oft als scheinheilige Heuchelei empfunden. Sie wurden zu einer Zeit geschrieben, als die alten gesellschaftlichen Übereinkünfte verfielen und so die schwächeren Mitglieder der Gesellschaft ohne den Schutz der traditionellen feudalen Gemeinschaft ließen. Wie vielen Predigern ging es den moralischen Balladensängern darum, den Verlust dieses durch Gewohnheit und traditionelles Empfinden gewährleisteten gesellschaftlichen Schutzes auszugleichen, nicht, indem sie die Forderung nach sozialer Gesetzgebung erhoben, sondern indem sie an das Gewissen des einzelnen appellierten. Um es mit den Worten pastoraler Metaphorik, die das gesamte 16. Jahrhundert hindurch populär war, auszudrücken: Die neue Religion predigte Mitleid und Barmherzigkeit mit den Wölfen, während die Kräfte der neuen Gesellschaft damit * John Hall: The Court of Virtue. Hg. v. Russell A. Fräset. London 1961. Nur wenige Seiten des Court of Virtue sind erhalten. Diese sind in E. K. Chambers Sir Thomas Wyatt and Some Collected Studies. London 1933, S. 2 0 7 - 2 8 abgedruckt. * * English and Scottish Ballads. Hg. v. Robert Graves. London 1957, S. 136,

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beschäftigt waren, die Schafhürden niederzureißen. D e r Eindruck von einer oft hohlen Moral der moralischen Balladen wird durch die Beobachtung gestützt, daß sie nicht fordern, daß das Recht der Reichen und Grausamen, die Schwachen und Schutzlosen auszusaugen, aufgehoben wird, sondern nur, daß es nicht ausgeübt wird. Die Stimmung der moralischen Ballade ändert sich natürlich, wenn sie sich ausmalt, wie die Benachteiligten das Gewissen der Reichen und Mächtigen ignorieren und das Gesetz in die eigenen H ä n d e nehmen. D a n n wird die Warnung vor einem bestimmten Verbrechen zum Standardschluß der moralischen Ballade: So seien alle jungen Männer gewarnt und mögen sich nie bewaffnen. Denkt daran, wie wahr das ist: die Wegelagerei hat keinen Reiz.* Wie sehr diese „Moral" dem traditionellen volkstümlichen Empfinden widerspricht, wird ersichtlich, wenn man die Auffassung, „die Wegelagerei hat keinen Reiz", mit dem zweifellosen Reiz vergleicht, den der größte aller „Wegelagerer"-Balladenhelden, Robin Hood, von jeher f ü r die Volksphantasie gehabt hat. Die Wegelagerer oder Strauchdiebe sind heute noch populäre Helden in Australien. Unabhängig von ihrem Verhältnis zum volkstümlichen Empfinden sollen jedoch die moralischen Balladen, gleich ob sie das moralische „Recht" oder die Herrschaft des Gesetzes gutheißen, offensichtlich Haltungen fördern, die roher sind und der klassischen Stimmung der Ballade zuwiderlaufen. In den Reaktionen auf all dieses Moralisieren der Mittelklasse von Seiten der Armen und Elenden war ihre Stimmung nicht subtiler als die der Moralprediger, wie man aus der „Verruchtheit" eines volkstümlichen Lieds ersehen kann: Mein Vater ist ein tüchtiger Missionar, E r bewahrt junge Frauen vor der Sünde, E r spart dir eine Blonde auf für einen Schilling, Mein Gott, wie das Geld h e r a n r o l l t . . . Man könnte einwenden, d a ß die Stimmung dieses speziellen Lieds subtiler ist als die der üblichen moralischen Balladen. Indem sie, * „The Death of Morgan. In: The Faber Book of Ballads. Hg. v. Matthew Hodgart. London 1965, S. 230-231. 5

Southall/Magister'

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wenn auch komisch und aggressiv, Wohlanständigkeit auf die Jagd nach Geld reduziert, verkündet sie eine soziale Wahrheit, welche die Herrschenden als zynisch empfinden müssen. Hier haben wir es mit einem Beispiel für volkstümlichen „Zynismus" zu tun, und der „verruchte" Humor des Lieds gewinnt ein gut Teil Subtilität, wenn der „Zynismus" einmal erkannt ist. „Vom 16. Jahrhundert an waren die Halbpenny- und Pennyballaden die volkstümliche Literatur des einfachen Volkes"*, und The Children in the Wood ist ein schönes Beispiel für die Anschauungen der gedruckten Flugblattballade, die nach und nach die der traditionellen Volksballade verdrängten. Die neue Geisteshaltung findet ihren Ausdruck nicht nur im Moralisieren in den Children in the Wood, sondern auch in der Art des Chauvinismus, den wir bereits in Sir Andrew Barton und der Spanish Armada angetroffen haben. Dem Chauvinismus wird Vorschub geleistet durch die Vorurteile von elisabethanischen' Pamphletisten wie Thomas Nashe: „Frankreich, Italien und Spanien sind voll solcher falschherzigen Machivaellisten; aber Stolz ist recht eigentlich die Krankheit des Spaniers, der als Aufschneider im Schöße seiner Mutter geboren wird . . . Die gröbsten und dummstolzesten Trottel (auf andere Art als alle bisher genannten) sind die Dänen . . ."** Diese und ähnliche Ansichten tragen dazu bei, den Mythos von aufrechten, unabhängigen und überlegenen Engländern zu verstärken, auf den der Erzähler von The Journey into France (Die Reise nach Frankreich) abzielt, wenn er erklärt: Ich kam aus England nach Frankreich Nicht um kriechen noch um tanzen zu lernen. *** Die Zeilen spielen auf die oberflächliche stereotype Bezeichnung des Franzosen als eines frivolen Speichelleckers an, die auch Nashe propagiert, wenn er bemerkt: „Der Franzose (seiner eigenen Natur nicht entfremdet)' ist voll verächtlicher Gunstbewerbung und liebt im wesentlichen niemanden als sich selbst und sein Vergnügen . . ."**** * Leslie Shephard: The History of Street Literature. Newton Abbot 1973, S. 14. ** Thomas Nashe: Pierce Penilesse His Supplication to the Devil. In: Three Elizabethan Pamphlets. Hg. v. G. R. Hibbard. London 1951, S. 92-93. *** The Faber Book of Ballads. Hg. v. Matthew Hodgart. London 1965, S. 165. **** Thomas Nashe: Pierce Pennilesse His Supplication to the Devil. In: Three Elizabethan Pamphlets. Hg. v. G. R. Hibbard. London 1951, S. 93.

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Die gleiche Gefühlsqualität findet sich in den politischen Bemerkungen von Dickens* antikonservativer Schrift The Fine Old Englisb Gentleman (Der feine alte englische Herr): Ich will euch eine neue Ballade singen, und ich sag euch, sie ist von erster Qualität, Aus den Tagen jenes alten Herrn, der das alte Anwesen hatte; Als sie die öffentlichen Gelder im üblichen üppigen Maß ausgaben Für jede Mätresse, jeden Kuppler und Halunken an jedem vornehmen Tor In den feinen alten englischen Tory-Zeiten ; O kämen sie bald wieder!* Bei dieser Abwertung der Ballade, wie wir sie hier bei Dickens finden, kommt es zu keinem Verlust politischer oder moralischer Rechtschaffenheit. Es ist kaum zu bezweifeln, daß Dickens' Ironie durchaus gerechtfertigt war und Swift sogar noch schärfer vorgegangen wäre. Das Gefühl, daß die gesellschaftliche Realität für Dickens krasser war und eine schärfere Reaktion erforderte als die, die in der Stimmung, der Kultur und der Leistung der traditionellen Balladen zum Ausdruck kam, setzt die Qualität der Volksballade in direkte Beziehung zu den Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens. Die Gründe für den Wandel in der Stimmung der Ballade sind in den spezifischen Kräften zu suchen, welche die Gesellschaft während des 16. Jahrhunderts veränderten und eine neue Lebensweise für die nachfolgenden Generationen etablierten. In jener Zeit wurde England eine Nation; Handel und Industrie überwanden die sozialen und ökonomischen Schranken des Feudalismus, unterminierten die lokale wirtschaftliche Unabhängigkeit und schufen einen nationalen Markt. Diese Entwicklung wurde durch die Herausbildung einer starken Monarchie (d. h. einer starken und zentralen Nationalregierung) und durch die Auflösung der alten Kirche und die Etablierung einer neuen nationalen Kirche, die dieser Entwicklung günstig gesinnt war, gefördert. (Die alten feudalen Barone hatten ihre Kräfte * In: The Faber Book of Ballads. Hg. v. Matthew Hodgart. London 1965, S. 185. 5*

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in den Kriegen des 15. Jahrhunderts, welche die alte Kirche als einzige Machtbasis des Feudalismus in England zurückließen, erschöpft. Diese Basis wurde von Heinrich VIII. erschüttert.) Diese ökonomischen und sozialen Veränderungen brachten neue Geisteshaltungen hervor, neue Gefühlsstrukturen und neue Wertsysteme, welche ihren Ausdruck im Wachstum einer nationalen und kommerziellen Kultur, einem - oft patriotischen und chauvinistischen - Nationalbewußtsein und in der praktischen und weltlichen .Moral der sogenannten protestantischen Ethik fanden. Was Raymond Williams über das 19. Jahrhundert zu sagen hat, scheint ebenso auf das 16. Jahrhundert zuzutreffen: „Die Krise der Gesellschaft und die Verbreitung des Lesens waren selbst miteinander verbunden. Immer mehr Menschen hatten das Bedürfnis nach dieser Form des Wissens und der Erfahrung, während die herkömmlichen Lebensformen zusammenbrachen oder zurückgingen."* Obwohl er feststellt, daß „die herkömmlichen Lebensformen zusammenbrachen oder zurückgingen", teilt Raymond Williams nicht die verbreitete Ansicht, daß das eine Folge der Industriellen Revolution war. „Es wird immer noch von vielen angenommen, daß die traditionelle Kultur des englischen Volkes von der Industriellen Revolution zerbrochen und zerstört wurde. Was danach entstand, war angeblich einerseits eine niedere synthetische Kultur - die Welt der Zeitungen und der volkstümlichen Unterhaltung; andererseits eine zunehmend bedrohte Minderheitskultur - eine gebildete Tradition, innerhalb derer sich die beste Literatur und Philosophie der Zeit zu behaupten, auszudehnen und ihre Bindungen und Kontinuität zu den besten Werken der Vergangenheit aufrechtzuerhalten suchte."** Die Auswirkungen, welche die Entstehung einer industriellen und kommerziellen Gesellschaft auf die traditionelle Volksballade hatte, sind kaum zu unterschätzen. Seit der Einführung des Buchdrucks hat die Herstellung und der Verkauf von Volksliedern und -balladen das Kulturniveau und die Geschmacksbildung des Volkes beeinflußt. Leslie Shephard, der sich für eine Aufwertung der Straßenliteratur einsetzt, verwischt die Unterschiede zwischen mündlicher und gedruckter Überlieferung und zwischen traditioneller Kultur * Raymond Williams: The English Novel from Dickens to Lawrence. London 1974, S. 10. ** Ebenda, S. 25.

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und Kommerzialismus: „Die gedruckte Tradition der Halbpennyund Penny-Flugblattballaden und Balladenpamphlete leitete sich von der traditionellen Kultur der Volksmusik, des Tanzes und des Märchens her, welcher die Drucktechnik aufgepfropft wurde. Und gedruckte Blätter wurden ebenso zu Trägern der Tradition wie die mündliche Überlieferung der Texte vom Vater zum Sohn und von der Großmutter zum Kind."* Sinnvoll ist lediglich, von einer Tradition d e s B u c h d r u c k s zu sprechen und das auch nur, wenn man damit das Wissen und die Fähigkeiten dieses Gewerbes meint, die von einer Generation von Druckern an die nächste weitergegeben werden. Tradition kann weder selbst „gedruckt", noch kann sie von „gedruckte(n) Blätter(n)" getragen sein, denn Träger von Traditionen können allein Menschen sein. Andererseits können „Texte" nicht durch mündliche Tradition überliefert werden, denn Texte sind entweder aufgeschrieben oder gedruckt. Shephard verwechselt auch die Überlieferung, die die Tradition darstellt, mit der mechanischen Reproduktion traditionellen Materials. Schließlich scheint er zu übersehen, daß der Buchdruck keine bloße „Technik" ist, sondern ein Herstellungsprozeß, der die Schaffung eines Marktes für Massengüter erforderlich macht. Wären Balladen weiterhin vom Vater zum Sohn überliefert worden, dann hätte es keinen Markt für Flugblattballaden gegeben; oder umgekehrt, hätte es keine Vermarktung von Flugblattballaden gegeben, dann wären Balladen weiterhin vom Vater zum Sohn überliefert worden. Was durch die Massenproduktion und Vermarktung von Balladen bewirkt wird, ist die Zerstörung einer Tradition und ihre Ersetzung durch einen Verbrauchermarkt. D a Shephard nicht erkennt, daß die Warenproduktion, der Kommerzialismus, keine neue Form der Volkstradition ist, sondern ihr Todfeind, kommt er zwangsläufig zur Versachlichung der Tradition. Der Buchdruck ist eine kommerzielle Industrie, und in der ökonomischen Realität sind Druckereien (unabhängig von der Mystik, die sie als Verbreiter der literarischen Kultur umgibt) Fabriken, deren Produkte so gleichförmig sind wie jeder andere Artikel der Massenproduktion und daher zu den Grundlagen der Massenkultur gehören. Ja, das gedruckte Buch, das Pamphlet und die Flugblattballade waren verantwortlich dafür, daß die Massenkultur aus der * Leslie Shephard: The History of Street Literature. Newton Abbot S. 39-40.

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1973,

Welt des Gebrauchsgegenstandes (der Mühle und Töpferei) in die intellektuelle und künstlerische Welt eingeführt wurde. Auf Grund ihrer Popularität empfahlen sich Balladen wahrscheinlich sehr früh den Druckern (1520 zählte der Oxforder Buchhändler John Donne 150 Balladen zu seinem Bestand)*; Lohnschreiber wurden angestellt, um neue zu verfassen, meistens über einen aktuellen und sensationellen Vorfall, und Händler im ganzen Land vom Typ eines Shakespeareschen Autolycus** verkauften sie. So wurde die traditionelle Ballade, ähnlich wie die Weber, die später dezimiert und von den Haupthandelsstraßen und somit dem Hauptstrom des gesellschaftlichen Lebens (mit ihren Liedern) vertrieben wurden, schnell auf jene Gebiete zurückgedrängt, die weitab von den Zentren der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung lagen, wo sie im späten 18. und 19. Jahrhundert gesammelt wurden, noch während die Industrielle Revolution die kärglichen Reste ländlicher Autarkie beseitigte. Am Anfang des 19. Jahrhunderts verschwanden dann die Flugblattballaden und die Balladensänger ihrerseits, um schließlich im späteren Verlauf des Jahrhunderts (nach einem letzten großen Erguß von Flugblattballaden) von den Versen und Sängern der Music Hall abgelöst zu werden. Ganz am Anfang des 19. Jahrhunderts schrieb Wordsworth (der berühmteste aller literarischen Balladendichter) über die Balladensänger und Flugblattballaden in ganz ähnlichem Ton wie über jenen anderen Anachronismus, die alten Blutegelsammler. In The Prelude, (1789/1805; Präludium oder Das Reifen eines Dichtergeistes, VII, 174-180) beobachtet er die volkstümliche Straßenunterhaltung von London: Hier ist ein seltnes Spektakel, Kinder sind rundherum versammelt; eine andre Straße Zeigt eine Truppe tanzender Hunde, Oder ein Dromedar mit einem fratzenhaften Paar Von Affen auf dem Rücken; eine Sängerschar Von Savoyarden; oder, einsam und allein, Ein englischer Balladensänger. Die Einsamkeit des Balladensängers ist ergreifend und weist auf eine gewisse Unbeliebtheit hin. Der Repräsentant der traditionellen * Ebenda, S. 45. ** William Shakespeare: Ein Wintermärchen, IV, 3, S. 256-335.

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einheimischen Volkskultur steht allein, offenbar verlassen zugunsten von Guckkastenansichten und Erscheinungen grotesker (die „Truppe tanzender Hunde") und exotischer (das „Dromedar", das „fratzenhafte Paar von Affen" und die „Sängerschar von Savoyarden") Natur. Der Anflug von Traurigkeit in „einsam und allein" beklagt anscheinend das Untergehen einer traditionellen Kultur im Geschrei nach geistloser Unterhaltung, die Straßenspektakel werden hier als Vorläufer, der Fernsehshows unserer Tage empfunden. Das Schicksal des englischen Balladensängers ist das der Flugblattballaden selbst, die William Wordsworth ebenfalls in The Prelude (VII, 191-195) folgendermaßen beschreibt: Eine mäßig besuchte Gegend, wo breitere Straßen Vereinzelte Brisen von Vorstadtluft herwehen. Hier baumeln Bündel von Balladen von toten Wänden; Plakate in Riesenformat von hoch oben Drängen sich in allen Farben unseren Augen auf .. . Die vereinzelten Brisen und die baumelnden Bündel nehmen den Balladen jede Vitalität, und sie werden als so leblos und verlassen geschildert wie die toten Wände, an denen sie hängengelassen wurden. Ihre trostlose Lage wird durch die Wirksamkeit und Farbigkeit der riesigen und lauten Plakate noch verstärkt. Wordsworth bestätigt vielleicht unbewußt den Tod der alten und den Aufstieg der neuen Massenkultur. Wir haben bereits kurz auf die Verse und Sänger der Music Hall als die Nachfolger der Volksballaden und Balladensänger hingewiesen. Diese Ansicht über die Music Hall stimmt mit der von T. S. Eliot .überein, der sie für die letzte Erscheinungsform einer wahren Volkskultur hielt. Warum er dieser Meinung war, wird deutlich genug beim Lesen der „Konversation" der Arbeiterfrauen im Lokal in seinem Gedicht The Waste Land. Was Eliot dem Leser in dieser Episode bietet, ist der Eindruck, den ein Music-Hall-Komiker von Arbeitern hat. Was die Music Hall bot, war keine Volkskultur, sondern Unterhaltung in geselliger Atmosphäre für die Arbeiterklasse und die untere Mittelklasse. Damit lieferte sie ihrem Publikum auch eine sentimentale Sicht seiner selbst und ermutigte alle „Gecken", die einen Abstecher in die Slums machten, ins Westend mit dem Eindruck zurückzukehren, daß die „unteren Schichten" in Wirklichkeit eine liebenswerte Ansammlung sentimentaler Clowns 71

seien. Im Unterschied zu den Twa Corbies fehlte der Music Hall die emotionale Wahrhaftigkeit des Arbeiterlebens und die Grausamkeit, die von grundlegenden Bedürfnissen und dem einfachen und verzweifelten Kampf zu überleben ausgeht. Die Lieder der Music Hall kamen zeitlich nach den Volksballaden, nicht indem sie sich an die Stelle neuer Volksballaden drängten, sondern indem sie der Zerstörung der Balladen t r a d i t i o n Vorschub leisteten, denn sie vertrieben alte Balladen aus der Erinnerung und förderten die Verfälschung der noch lebendigen. Ralph Wightmann stellte fest, daß man bei (in den späten vierziger und fünfziger Jahren) alten Dorfbewohnern auf die Frage nach einem Volkslied „nie ganz sicher sein konnte, ob sie eine wirklich alte Melodie sangen oder eine der Music-Hall-Lieder, die im zweiten Weltkrieg im Schwange waren"*. Man kann den Einfluß der MusicHall-Lieder auf die traditionelle Volksballade in dem Gedicht The Two Old Crows (Die zwei alten Krähen) feststellen, einer „Fassung" der Twa Corbies, die bis in die fünfziger Jahre mündlich von der Familie Copper aus Rottingdean in Sussex überliefert wurde: Die zwei alten Krähen Es war eine Krähe, die saß auf dem Baum, Und sie war so schwarz, so kohlrabenschwarz. Da sagte die alte Krähe zu ihrem Gefährten, Laß uns aufbrechen und Futter suchen. Sie flogen über eine weite wilde Ebene, Dorthin, wo ein Bauer Korn gesät hatte. Da kam der Bauer mit seinem Gewehr Und erschoß sie beide außer einer. Die eine, die entkam, flog auf den Baum zurück Und sagte, Du alter - Bauer, mich erschießt du nicht.** Der Music-Hall„Witz" der Schlußzeilen dieses Lieds bewegt sich auf einer so niedrigen Bewußtseins- und Gefühlsebene, daß ein Vergleich mit den Twa Corbies weh tut. In den Two Old Crows ist die scharfe * Bob Copper: A Song for Every Season. London 1975, S. XII-XIII. ** Ebenda, S. 227.

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„bäuerische" Intelligenz der Twa Corbies auf ländliche Dummheit reduziert, und die Sprache sinkt auf ein Minimum an Ausdruckskraft. Es ist die darin implizierte Geringschätzung der Kultur von Dorfbewohnern aus jüngster Vergangenheit, die diesen Vergleich so schmerzlich macht. Der Niedergang des Bewußtseins, der durch den Vergleich der Two Old Crows mit den Twa Corbies ausgedrückt wird, ist nicht einfach auf den Einfluß der Music Hall auf die Volkstradition zurückzuführen. Die Music Hall konnte ihren Einfluß ausüben, weil der Boden dafür schon vorbereitet war. Im allgemeinen zog die Entwicklung des Kapitalismus die entschlosseneren und intelligenteren jungen Menschen in die städtischen und industriellen Zentren und verschlechterte die Lebensbedingungen auf dem Lande. Die Dorfgemeinschaft, welche das Bewußtsein der Coppers formte, stagnierte bereits seit vielen Jahren, ehe der Einfluß der Music Hall spürbar wurde. Wie Valentine Ackland 1935 bemerkte: „Äußerlich hat sich das kleine englische Dorf in den letzten hundert Jahren sehr wenig verändert. Die Häuser sind dieselben, oder vielmehr verfallener; die Bauernhöfe sind dieselben, die Wirtschaftshöfe und Melkstände stehen am selben Ort, obwohl sie modernisiert worden sind, und die 'Haupt'straßen sind meistens geteert; aber sonst hat sich nicht viel verändert - vom äußeren Anschein her. In Wirklichkeit sind die kleinen Dörfer jedoch isolierter als vor hundert Jahren; die Landarbeiter mit ihren Familien leben im Vergleich zu den städtischen Arbeitern unter schlechteren Bedingungen als 1840 . . . Da der Landarbeiter als für die Nation nicht mehr lebenswichtig erachtet wird, hat sich sein Charakter beträchtlich verändert. Jenen hartnäckigen, unabhängigen Geist, der die Arbeiter aus Kent 1830 zu einem so schwierigen Gegner für die herrschende Klasse werden ließ, findet man nicht mehr oft . . . der Landarbeiter ist in politische Ignoranz zurückgefallen . . ."* Politische Ignoranz ist allerdings nur ein Aspekt des Niedergangs jenes Bewußtseins, welches die Balladenüberlieferung für den Einfluß der Music Hall empfänglich machte. Noch allgemeiner wird dieser Niedergang in Bob Coppers Beschreibung der Umstände deutlich, unter denen er The Two Old Crows zum ersten Mal hörte: „Als Großvater sehr alt und von Rheumatismus geplagt war, war * Valentine Ackland: Country Conditions. London 1936, S. 1, 12.

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das Verscheuchen von Vögeln eine der wenigen Arbeiten, die er noch leisten konnte. Sie schafften ihn immer in einem Pferdewagen hinaus und setzten ihn mitten auf einem Feld auf seinen Lieblingsstuhl, versehen mit seinem Vorderlader, einer Klapper, einem K r u g Bier und seinem in ein rot-weiß gepunktetes Tuch gebundenen Käsebrot. Dort saß er dann den ganzen Tag, bis sie ihn zum Abendessen wieder abholten. Nach all den Jahren, in denen er über dasselbe Land auf seinem Pferd geritten war und in denen die volle Verantwortung für ein Gut dieser Größe mit seinen über 400 ha Nutzfläche und mehr als fünfzig Arbeitern auf seinen Schultern geruht hatte (er war Gutsverwalter gewesen), schickte er sich ohne Groll in die Tatsache, daß Alter und Rheumatismus ihn im Ruhestand zu dieser niedrigsten aller Arbeiten auf dem Gut heruntergebracht hatten. E r wurde nicht einmal dafür bezahlt, doch er wurde reichlich belohnt durch das Bewußtsein, daß er trotz seiner körperlichen Untüchtigkeit noch immer eine nützliche Tätigkeit vollbrachte . . . Dort hörte ich ihn zum ersten Mal singen: „Es-war eine Krähe, die saß auf dem Baum, Und sie war so schwarz, so kohlrabenschwarz, Und sie war so schwarz, so kohlrabenschwarz . . . " * D i e beschriebene Situation ist voller möglicher Gefühle, die Bob Copper nicht erkennt. D a ist zum Beispiel das Pathos des alten rheumatismusgeplagten Mannes, der so dankbar dafür ist, daß er noch von einigem, wenn auch höchst geringem Nutzen für den „Alt-Bauern" sein kann. D a s Pathos wird vermehrt durch ein Gefühl der Empörung über die traurige Lage eines Menschen, dem nach einem Leben mühseliger und verantwortungsvoller Arbeit Würde und Respekt des Alters versagt werden und der auf einem Feld abgeladen wird, damit er sich als menschliche Vogelscheuche betätigt. D a ß der alte Mann zufrieden, ja vielleicht sogar glücklich ist, verstärkt nur das Pathos und die Empörung. D a s Gefühl der Empörung selbst erscheint vielschichtig: als eine allgemeine Reaktion auf eine Existenz, in der solche Dinge nicht nur möglich, sondern erträglich sind; sodann als eine spezifischere Reaktion auf die nicht näher bezeichneten „sie", selbst Menschen und Opfer der gleichen Existenz und gefühlsmäßigen Einfalt; und schließlich als die deut* Bob Copper: A Song for Every Season. London 1975, S. 88.

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lichste und schärfste Reaktion, welche sich einstellt, wenn einem die volle Bedeutung des Oxymorons „Er wurde nicht einmal dafür bezahlt, doch er wurde reichlich belohnt" bewußt wird. Unsere Empfindungen bei dieser letzten Reaktion (auf den Mißbrauch von Alter und sozialer und ökonomischer Unwissenheit) sind hauptsächlich gegen den Verfasser der Beschreibung gerichtet, der (wenn auch unwissentlich) dieses „Vogelscheuchenmodell des Alters, das 'mit allen Fetzen der Gebrechlichkeit aufgeputzt ist", als reichliche Belohnung für ein Leben voller Mühe und Plage und „Verantwortung" betrachtet. The Two Old Crows ist Ausdruck von Großvater Coppers Zufriedenheit mit seinem Schicksal und der Kultur, die sich in der Schicksalsbeschreibung seines Enkels enthüllt. Der alte Mann saß den ganzen Tag auf dem Feld und sang, doch das, was er sang, beunruhigte seinen Geist nicht mit Fragen nach den grundlegenden Bedürfnissen und dem Wert der menschlichen Existenz, es stellte seine reichliche Belohnung und seinen eigenen Wert nicht in Frage. Großvater Copper starb 1924, und die Felder, von denen er die Vögel verscheuchte und dabei eine traurige „Fassung" der Twa Corbies sang, sind inzwischen längst bebaut worden. Sein Enkel Bob verließ wie die meisten intelligenten Bauernjungen das Land und (so erfahren wir von seinem Verleger) „hält mit seinem Cousin Ron, seinem Sohn John und seiner Tochter Jill . . . die alte Singetradition aufrecht, indem er im Fernsehen auftritt, Platten und Radiosendungen macht und in Volksclubs singt".* Weder die Verleger der Coppers noch die Coppers selbst sind sich des Widerspruchs zwischen der „alte(n) Singetradition" und der modernen Unterhaltungsindustrie, der die Coppers heute angehören, bewußt. Mit dem Absterben der traditionellen Volksballade geht ein tragischer Verlust kulturellen Lebens einher, der Verlust von Kultur als einer grundlegend individuellen Daseinsform, die im Gedächtnis weiterlebt und von der menschlichen Stimme überliefert und von einer Generation zur anderen weitergegeben wird, die gefärbt ist von persönlichen Erinnerungen und dennoch eine aus der akkumulierten Erfahrung des Volkes herrührende Gemeinsamkeit der Empfindung bewirkt. Die alte Kultur war jedoch dazu bestimmt, schließlich ganz abzusterben, was ihr Hinscheiden wirklich tragisch macht, und sie wurde von einer neuen, unpersönlichen und kommer* Ebenda, I.

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ziellen Kultur ersetzt. Selbst die Flugblattballaden und die Balladensänger verschwanden schließlich, und die Beziehung, die im 16. Jahrhundert zwischen volkstümlichem Autor, volkstümlichem Sänger, Massenproduktion und kommerzieller Verteilung entstand, sollte in der Unterhaltungsindustrie unserer Zeit ihre Aphotheose erreichen, wo der „Pop"-Songschreiber und der „Pop"-Sänger Repräsentanten einer multinationalen Industrie sind, die einen weltweiten „Pop"-Musikmarkt beliefert, dessen Kennziffer vierzig Top-Hits sind und dessen höchste Auszeichnung die goldene Schallplatte darstellt. Das Schicksal der traditionellen Volksballade ist durchaus nicht einzigartig; die Ballade unterlag der historischen Entwicklung, und diese ist immer tragisch als auch befreiend, da jeder Schritt vorwärts notwendigerweise einen gewissen Bruch mit der Vergangenheit und damit einen gewissen Verlust solcher Erscheinungen mit sich bringt, die, ob wir sie geliebt oder verachtet haben, einen Teil von uns ausmachen. Den Verlust muß man erleben, um ihn beurteilen zu können ; das trifft insbesondere auf die Balladen zu, da es letzten Endes ein Verlust an Sensibilität war, aber die allgemeine Beurteilung kann schließlich nur der Verstand übernehmen. Wenn die Balladen vom 16. Jahrhundert an durch das Wachstum des Handels- und Industriekapitalismus zum Untergang verurteilt waren, so muß ltian dem entgegenhalten, daß der Kapitalismus in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft ein Riesenschritt vorwärts war und daß die Balladentradition von solchen Entwicklungen überrollt wurde, die unter anderem etwa die moderne Chirurgie hervorbrachten. Die bei dieser erweiterten Perspektive auftauchende Frage - was bedeutet uns mehr, die Balladen oder die moderne Chirurgie? mag überflüssig erscheinen, da sie uns keine Wahl läßt. Dennoch muß sie letztlich gestellt werden, um einer vorschnellen Kapitulation vor der Vergangenheit vorzubeugen. Das Todesbewußtsein ist wesentlich für die Balladen, und ihr Tod war nicht nur historisch unvermeidlich, sondern künstlerisch ebenso zwingpnd wie der Tod Cordelias. Am Ende von King Lear stirbt Cordelia, und die Szene ist so schmerzlich, unseren Erwartungen und Forderungen so zuwiderlaufend, daß das Stück das gesamte 18. Jahrhundert hindurch mit einem glücklichen Ausgang aufgeführt wurde. Aber Shakespeare hatte recht; der Protest der Gefühle über den Tod Cordelias ist die stärkste Behauptung ihres Rechts zu leben und damit unseres Bedürfnisses nach jenen Werten, nach jenem „besseren Weg", den sie im Laufe des Stücks verkörperte. So wie die Liebenden, die sie oft besingen, müssen auch 76

die Balladen sterben, damit sie ihre eigene tragische Todesvision verwirklichen und sie dem Bewußtsein und dem Empfindungsvermögen zukünftiger Zeitalter übermitteln können.

2 CHARLES

HOBDAY

Nagelschuh und Lederscbur Shakespeare und die Tradition des Gleicbbeitsgedankens Wir sind in den letzten fünfzig Jahren wiederholt daran erinnert worden, daß Shakespeare mit der offiziellen Ideologie der Tudorkirche und des Tudorstaats vertraut war - der Notwendigkeit der Rangordnung, dem göttlichen Recht der Könige, der Sündhaftigkeit von Rebellionen. Es wäre ihm schwergefallen, dies nicht zu sein. Hingegen wird nicht so häufig betont, daß es im politischen Denken des elisabethanischen Englands auch andere Strömungen gab, die er ebenfalls kannte. Im protestantischen wie im katholischen Denken gab es eine Tradition, welche den Aufstand gegen Tyrannen und ihre Absetzung, ja Ermordung guthieß. Shakespeare kannte offenbar John Ponets A Short Treatise of Politic Power (1556; Ein kurzes Traktat über politische Macht), das diese Theorie in ihrer schärfsten Ausprägung vertritt.* Es gab die katholische Theorie, nach der der Papst die Macht besaß, Könige abzusetzen, welche Shakespeare seinem Pandulf in King Jobn (König Johann) in den Mund legt. Es gab den weitverbreiteten Kult der republikanischen Helden und Institutionen des alten Roms, dem Julius Caesar (Julius Cäsar) zugrunde liegt, während viele Engländer auch die Institutionen der zeitgenössischen Republiken in Venedig und den Niederlanden bewunderten. Es gab die von Humanisten und Puritanern gleichermaßen vertretene Überzeugung, daß echte Aristokratie auf Tugend, nicht auf Geburt, beruhte, welche ihren überzeugendsten Ausdruck in All's Well That Ends Well (Ende gut, alles gut) findet. Alle diese Vorstellungen haben ebensoviel Anspruch darauf, als Teil des elisabe* Siehe William Shakespeare: König Lear. I n : William Shakespeare. Sämtliche Werke in 4 Bänden. Berlin - Weimar 1975, IV, 2, 5 0 - 5 1 .

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die Balladen sterben, damit sie ihre eigene tragische Todesvision verwirklichen und sie dem Bewußtsein und dem Empfindungsvermögen zukünftiger Zeitalter übermitteln können.

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Nagelschuh und Lederscbur Shakespeare und die Tradition des Gleicbbeitsgedankens Wir sind in den letzten fünfzig Jahren wiederholt daran erinnert worden, daß Shakespeare mit der offiziellen Ideologie der Tudorkirche und des Tudorstaats vertraut war - der Notwendigkeit der Rangordnung, dem göttlichen Recht der Könige, der Sündhaftigkeit von Rebellionen. Es wäre ihm schwergefallen, dies nicht zu sein. Hingegen wird nicht so häufig betont, daß es im politischen Denken des elisabethanischen Englands auch andere Strömungen gab, die er ebenfalls kannte. Im protestantischen wie im katholischen Denken gab es eine Tradition, welche den Aufstand gegen Tyrannen und ihre Absetzung, ja Ermordung guthieß. Shakespeare kannte offenbar John Ponets A Short Treatise of Politic Power (1556; Ein kurzes Traktat über politische Macht), das diese Theorie in ihrer schärfsten Ausprägung vertritt.* Es gab die katholische Theorie, nach der der Papst die Macht besaß, Könige abzusetzen, welche Shakespeare seinem Pandulf in King Jobn (König Johann) in den Mund legt. Es gab den weitverbreiteten Kult der republikanischen Helden und Institutionen des alten Roms, dem Julius Caesar (Julius Cäsar) zugrunde liegt, während viele Engländer auch die Institutionen der zeitgenössischen Republiken in Venedig und den Niederlanden bewunderten. Es gab die von Humanisten und Puritanern gleichermaßen vertretene Überzeugung, daß echte Aristokratie auf Tugend, nicht auf Geburt, beruhte, welche ihren überzeugendsten Ausdruck in All's Well That Ends Well (Ende gut, alles gut) findet. Alle diese Vorstellungen haben ebensoviel Anspruch darauf, als Teil des elisabe* Siehe William Shakespeare: König Lear. I n : William Shakespeare. Sämtliche Werke in 4 Bänden. Berlin - Weimar 1975, IV, 2, 5 0 - 5 1 .

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thanischen Weltbilds betrachtet zu werden, wie die allzu bekannten Lehren der Kanzelreden. Über diese Theorien verbreiteten sich Intellektuelle ausführlich in gelehrten Abhandlungen, auch wenn diese zuweilen in der Sicherheit des Exils geschrieben und gedruckt werden mußten. Es gab jedoch eine weitere und bescheidenere Tradition, die des volkstümlichen gleichmacheriscfien und manchmal kommunistischen - Radikalismus, der, obwohl er mindestens bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann, von seinen englischen Verfechtern selten vor den vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts in literarischer Form niedergelegt wurde. Er entstand offenbar aus der Verschmelzung des langen Kampfes der Bauern gegen die Leibeigenschaft mit dem Element des Gleichheitsgedankens im christlichen Denken; es ist bezeichnend, daß der früheste uns bekannte englische Verfechter des Gleichhettsgedankens der Priester John Ball ist, einer der Führer des Bauernaufstands von 1381. Danach wirkte der Radikalismus im Untergrund weiter und wurde von den Bauern und ketzerischen Sekten wie den Lollarden, den Anabaptisten und der „Familie der Liebe" am Leben gehalten, bis er in den vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts mit dem Ende der Pressezensur und der d e f a c t o Begründung der religiösen Freiheit in den Pamphleten der Leveller, der Digger und der radikalen Sektierer wieder auftauchte. Die direkten Belege für sein Überleben während dieses langen Zeitraums von etwa 260 Jahren beschränken sich auf die Aufrufe der aufständischen Bauern, die Akten über die Gerichtsverfahren gegen sie und einige wenige ketzerische Traktate, doch die herrschende Klasse zweifelte nicht an seiner fortdauernden Existenz, wie aus ihren ängstlichen Denunziationen der kommunistischen Bedrohung deutlich hervorgeht. Die Kontinuität diesei* Tradition läßt sich am besten an Hand einiger Zitate, die die Jahre 1381 bis 1648 umspannen, nachweisen: (John Ball) begann eine Predigt auf diese Weise: 'Als Adam grub und Eva spann, Wo war da ein Edelmann?' Im weiteren Verlauf seiner Predigt versuchte er mit Hilfe dieses Sprichworts, das er als Text gewählt hatte, zu beweisen, daß von Anbeginn an alle Menschen von Natur aus gleich geschaffen wurden und daß die Knechtschaft durch die ungerechte und böse Unterdrükkung der Menschen gegen den Willen Gottes eingeführt wurde; die78

ser hätte, wenn er Leibeigene hätte schaffen wollen, gewiß zu Anbeginn der Welt festgesetzt, wer ein Leibeigener sein solfte und wer ein Herr.10 „John Ball . . . würde so sagen: Ah, ihr guten Leute, es steht nicht gut in England, noch wird es gut stehen, bis alles allen gehört und es keine Schurken mehr gibt und keine Herrn, sondern wir alle vereint sind und die Lords keine größeren Meister sind als wir. Was haben wir verdient, oder warum sollten wir so in Knechtschaft gehalten werden? Wir stammen alle ab von einem Vater und einer Mutter, von Adam und Eva, wie können sie sagen oder beweisen, daß sie größere Herrn sind als wir, außer daß sie uns gewinnen und schaffen lassen, was sie ausgeben?"11 „Hochmut . w i r d euch zeigen, daß ihr aus derselben Form und demselben Stoff gemacht seid wie die Edelleute. Warum also sollten sie spielen und spaßen und ihr arbeiten und ackern? Auch wird er euch sagen, daß bei Geburt und Tod eure Reichtümer bedeutungslos sind. Warum also sollten sie soviel des Wohlstands und der Schätze der Welt genießen und ihr so wenig? Außerdem wird er euch sagen, daß ihr die Kinder und rechtmäßigen Erben Adams seid so gut wie sie. Warum sollten sie so große Ehren, königliche Schlösser und Paläste mit soviel Land und Liegenschaften besitzen und ihr ärmliche Häuser und Hütten? Auch wird er euch zeigen, daß Christus euch und sie gleichermaßen erlöst hat um denselben Preis seines kostbaren Blutes. Warum also solltet ihr so arm dastehen und sie in so hohem Rang?" Edmund Dudley, The Tree of Commonwealth (1510; Der Baum des Commonwealth). „Wir bitten, daß alle Leibeigenen befreit werden mögen, denn Gott hat alle durch das Vergießen seines kostbaren Blutes erlöst und frei gemacht." Petition of the Norfolk Rebeis (1549; Bittschrift der Aufständischen von Norfolk). „Am Anfang (heißt es), als Gott die Welt schuf, waren alle Menschen gleich, es gab keine Oberherrschaft, es gab keine Knechtschaft oder Leibeigenschaft - die erwuchs später durch Gewalt und Grausamkeit. Warum sollten wir also in dieser elenden Sklaverei unter so stolzen Herrn und listigen Rechtsanwälten leben?" Thomas Cooper: An Ädmonition to the People of England (1589; Eine Mahnung an das englische Volk). „Das alte aufrührerische Argument wird ihnen einleuchten, daß wir alle Söhne Adams sind und frei geboren; einige von ihnen sagen, das Evangelium habe sie frei gemacht. Und wenn das Gesetz erst 79

einmal umgestoßen ist, wird es solchen Kanzlern nur billig erscheinen, die ErSe mit allen gemeinsam zu besitzen. Sie werden sich dabei auf die Heilige Schrift berufen, daß wir alle im Schweiße unseres Angesichts leben sollen." Sir Thomas Aston: A Remonstrance against Presbytery (1641; Eine Warnung an die Presbyter). „Es ist Gottes Gebot, daß alle arbeiten sollen . . . und wenn alle gleich arbeiten, ist es dann nicht gerecht, daß alle gleich essen, gleich besitzen und Vorrechte und Freiheiten gleich genießen?" Light Shining in Buckingbamshire (1648; Licht scheint in Buckinghamshire).* Man kann bezweifeln, daß diese Zitate von der Kontinuität einer Tradition des volkstümlichen Gleichheitsgedankens zeugen. Bis auf zwei stammen alle aus Quellen der herrschenden Klasse und bringen vielleicht eher das schlechte Gewissen der Reichen" als die Sehnsüchte der Armen zum Ausdruck. Walsinghams und Froissarts Darstellungen von Balls Predigten sind Zeugnisse vom Hörensagen, und Froissart zumindest schrieb mehrere Jahre nach dem Ereignis. Dudley und Aston beziehen sich wahrscheinlich auf Berichte über Balls Predigten und Cooper tut es mit Sicherheit. Wäre es nicht möglich, daß die herrschende Klasse, verfolgt von Erinnerungen an den Bauernaufstand, den Deutschen Bauernkrieg, die Münsteraner Anabaptisten und die Aufstände von 1549, in jedem Dorf kleine John Balls und Wat Tylers sah, selbst wo gar keine waren, ebenso wie sie in der Zeit nach 1793 hinter jeder Hecke Jakobiner erspähte? Eine solche Theorie, die auf den ersten Blick hin plausibel erscheint, läßt sich jedoch nicht aufrechterhalten. Walsingham und Froissart zitieren Ball nicht wörtlich, dennoch stimmen ihre voneinander völlig unabhängigen Berichte in auffallender Weise miteinander überein. Warum sollte sich Dudley, der einige Jahre vor der großen Welle der Bauernaufstände im 16. Jahrhundert schrieb, derartige Sorgen über etwas gemacht haben, was sich über ein Jahrhundert vorher ereignet hatte? Überdies wiederholt er nicht einfach, * R. B. Dobson: The Peasants' Revolt of 1381. London 1970, S. 3 7 4 ; Edmund Dudley: The Tree of Commonwealth. Hg. v. D. M. Brodie. Cambridge 1948, S. 8 8 ; R. H. Tawney: The Agrarian Problem in the Sixteenth Century. London

1912, S.

336;

Thomas Cooper: An Admonition to

the

People of England. Hg. v. E . Araber. London 1982, S. 1 1 8 ; Thomas Aston, zit. nach Christopher Hill: The Many-Headed Monster. In: From the Renaissance to the Counter-Reformation. Hg. v. Charles H. Carter. London 1966, S. 3 0 6 ; The Works of Gerrard Winstanley. Hg. v. G. H. Sabine. London 1941, S. 615.

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was Ball angeblich geäußert hat, sondern er verwendet eine neue Losung, nach der Christus alle Menschen durch sein Blut erlöst und frei gemacht hat, und als sich die Bauern 1549 erhoben, benutzten sie eben diesen Ausspruch. „Das alte aufrührerische Argument", von Thomas Aston nur verkürzt wiedergegeben, sollte im folgenden Jahrzehnt von Sprechern, die für die armen Klassen eintraten, ständig wiederholt werden. Edmund Dudley, Minister Heinrichs VIII., Thomas Cooper, Bischof von Winchester, und Sir Thomas Aston waren keine hysterischen alten Damen, die sich vor Schreckgespenstern fürchteten, sondern nüchterne Politiker, die ihr Ohr an der Menge hatten. Bestimmte gemeinsame Interessen finden sich in allen zitierten Passagen, die folgendermaßen zusammengefaßt werden können: Da alle Menschen von Adam abstammen und durch das Blut Christi erlöst wurden, sollten alle Menschen frei sein und arbeiten, um die Früchte der Erde zu produzieren und sie zu gleichen Teilen genießen. Die praktischen Schlußfolgerungen aus diesen Ideen änderten sich je nach den gesellschaftlichen Bedingungen. Für die Rebellen von 1384 und 1549 bedeutete die Forderung, daß alle Menschen frei sein sollten, die Befreiung von der Leibeigenschaft; für die Leveller konnte es die Erringung des Wahlrechts bedeuten. Die Doktrin des Gemeineigentums in allen Dingen, die John Ball zugeschrieben wurde (allerdings nur von dem nicht verläßlichen Froissart), beeinflußte offenbar nur bestimmtp ketzerische Sekten, bis 1649 die Digger mit gewissem Erfolg versuchten, auf ihrer Basis eine Bauernbewegung zu organisieren. Offensichtlich jedoch wurden gleichmacherische Losungen und Schlagworte über Generationen hin mündlich weitergegeben, und dieser Tatsache schienen sich auch die besitzenden Klassen sehr wohl bewußt zu sein. Ein gutes Beispiel für die Kontinuität wie für den internationalen Charakter dieser Tradition ist dieser Vers, der angeblich von John Ball zitiert wurde. Er hatte ihn nicht erfunden, sondern er war, wie Walsingham meint, bereits sprichwörtlich. Auch war der Gedanke nicht neu; bereits um 1180 hatten die C a p u t i a t i 1 2 in Frankreich verkündet, daß alle Menschen, da sie von Adam abstammten, frei und gleich sein sollten. 1525 tauchte der Vers am anderen Ende Europas auf, in Ostpreußen: Do Adam rent und Eva span Wo war do der Edelman?

6 SouthaU/Magister

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In England war er 1549 in Gebrauch, als Bauernaufstände mehr als in irgendeinem anderen Jahr seit 1381 um sich griffen, und er tauchte häufig in den Jahren um 1640 auf. Die von Dudley erwähnte Losung, Christus habe alle „um denselben Preis seines kostbaren Blutes erlöst", fand sich 1525 in den Zwölf Artikeln der deutschen Bauern wieder, die die Abschaffung der Leibeigenschaft forderten, weil „Christus uns ohne Ausnahme durch das Vergießen seines kostbaren Blutes erlöst und frei gemacht hat, die Niedrigen wie die Großen", des weiteren 1549 im Manifest der Bauern aus Norfolk, und es wird deutlich darauf angespielt in Astons „einige von ihnen sagen, das Evangelium habe sie frei gemacht". Er konnte benutzt werden, um Gleichheit der Gesellschaft wie der Geschlechter zu rechtfertigen: Frauen, die 1641 Bittschriften an das Parlament richteten, rechtfertigten ihre Einmischung in die Politik mit dem Argument, „Christus hat uns um denselben Preis erlöst wie den Mann"*. Gleichmacherische Ideen waren im elisabethanischen England an der Tagesordnung, und es wäre überraschend, wenn Shakespeare sie nicht zur Kenntnis genommen hätte. Es gibt zahlreiche Beweise dafür, daß er nicht nur mit solchen Ideen im allgemeinen, sondern auch mit ihren spezifischen Formulierungen vertraut war. Die meisten Belege finden sich in den Szenen über Jack Cades Aufstand im zweiten Teil von Heinrich VI. Der historische Aufstand war eine im wesentlichen politische Bewegung ohne gleichmacherische Ideen. Die Elemente des Gleichheitsgedankens in der Version Shakespeares, wie zum Beispiel die Feindseligkeit dem niederen Adel und den Rechtsanwälten gegenüber, sind Holinsheds Bericht über den Aufstand von 1381 entnommen, aber ihre spezifische Ausdrucksform ist nicht die Sprache von 1381 oder 1450, sondern die der elisabethanischen Bauern. Shakespeare bezieht sich nirgends direkt auf die Theorie, daß alle Menschen gleich seien, weil sie von Adam abstammten, aber es gibt drei Passagen, wo er offenbar darauf anspielt. Wenn Sir Humphrey Stafford Cades Anspruch auf königliche Abstammung verlacht, indem er auf seine niedrige Herkunft hinweist, antwortet Cade: „Und Adam war ein Gärtner." (IV, 2, 140.) In diesem Zusammenhang * Norman Cohn: The Pursuit of the Millennium. London 1970, S. 100; Rodney Hilton: Bond Men Made Free. London 1973, S. 212; Christopher Hill: Milton and the English Revolution. London 1977, S. 72; R. B. Dobson: The Peasants' Revolt of 1381. London 1970, S. 348; J. H. Adamson und H. F. Folland: Sir Harry Vane. London 1974, S. 163.

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liegt die eigentliche Bedeutung dieser scheinbar irrelevanten Bemerkung darin, daß Cade ein ebenso gutes Recht auf die Krone hat wie der König, da beide gleichermaßen von Adam abstammen, der wie Cade mit den Händen arbeitete. Etwas eher in derselben Szene wird möglicherweise in der Beschwerde der Rebellen, „der Adel hält es für einen Schimpf, im ledernen Schurz zu gehen", und „des Königs Räte sind keine guten Arbeitsleute" (IV, 2, 13-16), auf einen anderen Aspekt derselben Theorie hingewiesen, daß nämlich, da Gott Adam befahl, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, alle seine Nachkommen die Pflicht haben zu arbeiten. In Hamlet behauptet der Erste Totengräber, daß Adam grub, also müsse er Arme gehabt haben und daher ein Edelmann gewesen sein (V, 1, 32-42). (Die Schlußfolgerung beruht im Original auf einem Wortspiel: das englische arms heißt sowohl „Arme" als auch „Wappen" und „Waffen". - Anm. d. Übersetzers.) Der Ausgangspunkt ist genau umgekehrt wie in John Balls Vers, der besagt, daß Adam kein Edelmann war, aber die logische Schlußfolgerung ist die gleiche, daß nämlich keiner seiner Nachkommen einen größeren Anspruch auf Adligkeit hat als ein anderer. Die Behandlung der Frage durch den Totengräber ist allenfalls radikaler als durch John Ball, denn seine Bemerkung, „es gibt keine so alten Edelleute als Gärtner, Grabenmacher und Totengräber", stellt die übliche Meinung, nach der körperliche Arbeit mit Adel unvereinbar sei, auf den Kopf. Solche Argumente waren nicht neu. In einer Abhandlung über den Adel, die Shakespeare vielleicht kannte, behauptete Giovanni Battista Nenna, daß Adel nicht von der Geburt abhängig wäre, denn „wenn Adam edel war, dann sind wir alle edel . . . aber wenn er unedel war und gemein, so sind wir es auch".* Wenn die Königin in Richard II. den Gärtner mit „Du, Adams Ebenbild" (III, 5, 75) anredet, bezieht sie sich möglicherweise nur auf seinen Beruf, aber ich vermute, daß sie ihn anklagt, Kommunist zu sein. Schließlich war Adam der Schutzheilige der Anhänger des Gleichheitsgedankens. Der Gärtner hat gerade angeordnet, zwei aufschießende Zweige zu köpfen, mit der gleichmacherischen Begründung, „in unserm Staat muß alles eben sein", und sein Geselle hat England als „von Ungeziefer wimmelnd" beschrieben, ein Bild, das Shakespeare auch den Anhängern Cades in den Mund legt. Shakespeare läßt einen der Anhänger Cades erklären, „es gab * Kenneth Muir: The Sources of Shakespeare's Plays. London 1977, S. 65. 6*

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kein lustiges Leben mehr in England, seit die Edelleute aufgekommen sind" (IV, 2, 9-10). „Es gab kein lustiges Leben mehr, seit . . . " war eine übliche Wendung, mit der eine Kritik an der Gesellschaft eingeleitet wurde, die Shakespeare noch zweimal an anderen Stellen verwendet (Was ihr wollt, III, 1, 109; Maß für Maß, III, 2, 6). Das Wort „lustig" ( m e r r y ) hatte in solchen Zusammenhängen oft die Bedeutung von „frei"; Robin Hoods Anhänger waren lustig, nicht weil das Leben in Sherwood aus lauter lustigen Streichen bestand, sondern weil sie in Freiheit lebten. Shakespeare selbst benutzt das Wort in diesem Sinn: unmittelbar nachdem ihm seine Freiheit versprochen wurde, singt Ariel, „Lustiglich, lustiglich leb' ich pun gleich".13 Freiheit ist eine gefährliche Idee, und solche Wendungen wie „eine lustige Welt" und „lustig leben" konnten subversive Untertöne haben. Ein Londoner Lollarde prophezeite um 1520, daß bald eine lustige Welt anbrechen würde, wenn erst die Priester erschlagen wären; Robert Ketts Anhänger erinnerten sich, als sie an den 1549er Aufstand von Norfolk nach seiner Unterdrückung zurückdachten, „es war eine lustige Welt, als wir jünger waren und Hammel aßen"; und ein Rekusant aus Glocestershire prophezeite 1586, daß innerhalb der nächsten zwölf Monate die Königin erschlagen und eine lustige Welt anbrechen würde. Bartholomew Steere, der 1596 in Oxfordshire eine Bauernerhebung zu organisieren versuchte, soll gesagt haben, „wir werden bald eine lustigere Welt erleben" und „die Armen erhoben sich in Spanien und schlugen den Adel nieder, und seither leben sie lustig".* Für Steere wie für Cades Rebellen war eine lustige Welt eine Welt ohne Herren. Diese Übereinstimmung ist interessant, weil Shakespeare die Jack-Cade-Szenen mehrere Jahre, bevor Steere seine Verschwörung organisierte, schrieb ; offensichtlich hatte er eine sehr genaue Vorstellung davon, wie die Armen sprachen. Cade befiehlt seinen Anhängern, „schont nur, die in gelappten Schuhen gehen". (IV, 2, 193.) Als Zeichen für Klassenunterschiede nehmen Kleidungsstücke oft politische Bedeutung an, wofür die Hosen, welche die s a n s - c u l o t t e s im revolutionären Paris von der Aristokratie und der Bourgeoisie unterschieden, ein offensichtliches Beispiel sind. Im Deutschland des frühen 16. Jahrhunderts * Keith Thomas: Religion and the Decline of Magic. London 1971, S. 4 0 7 - 8 ; R . H. Tawney: The Agrarian Problem in the Sixteenth Century. London 1912, S. 3 3 3 ; Calendar of State Papers, Domestic Series. London 1595 bis 1597. S. 3 4 3 - 5 .

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war der B u n d s c h u h (ein Lederschuh) sowohl das Symbol der Bauern als auch der Name einer Geheimgesellschaft, welche eine Reihe von Bauernerhebungen organisierte. Sein englisches Äquivalent war der Nagelschuh, der mit groben Nägeln beschlagene Schuh des Bauern, und „Knüppel und Nagelschuhe" war eine sprichwörtliche Wendung für einen Bauernaufstand, die 1537 in Norfolk auftauchte, dann 1549 erneut in Verbindung mit Ketts Aufstand und in Leicester in der Prophezeiung eines Rekusanten aus dem Jahr 1586. John Harvey machte sich 1588 über Prophezeiungen über „Bauernlümmel und Bauerntöpel, Nagelschuhe und Mittsommermode" lustig. 1647 gab Sir Hugh Cholmeley der Befürchtung Ausdruck, wenn Parlament und Armee zu keiner Einigung kämen, würden „Knüppel und Nagelschuü schließlich zu gefährlich für sie werden"*. Abgesehen von dieser Passage, benutzt Shakespeare das archaische Wort sboon („Schuhe") nur in Ophelias Lied (Hamlet IV, 5, 26), wo es aus Reimgründen geschieht; im zweiten Teil von Heinrich VI. hat er offensichtlich die sprichwörtliche Wendung im Sinn. So wie die Nagelschuhe das Symbol der Bauern waren, war der Lederschurz, der ebenfalls in den Cade-Szenen erwähnt wird, das Symbol der städtischen Arbeiter. Shakespeare bezieht sich an mehreren Stellen in diesem Sinn darauf (Heinrich VI., 2. Teil, II, 3, 75; Heinrich IV., 2. Teil, II, 2, 175; Antonius und Cleopatra V, 2, 214). Wie die Nagelschuhe konnte der Lederschurz seinen Träger nicht nur in seiner Arbeit, sondern auch in kämpferischer Stimmung sinnbildlich darstellen, und hinter dem Gebrauch dieser Wendung im 16. und 17. Jahrhundert können wir eine Debatte über das Recht von Land- und Stadtarbeitern, in der Politik eine Rolle zu spielen, erkennen. Menenius, den allein der Gedanke daran empört, sagt nach der Verbannung Coriolans zu den Tribunen: „Ihr habt's schön gemacht, Ihr und Eure Schurzfellmänner." (IV, 4, 96.) Marullus fragt den Tischler, der gekommen ist, um sich an Casars Triumph mitzufreuen: „Wo ist dein ledern Schurzfell?" (Julius Cäsar, I, 1, 7.) Eine vergleichbare soziale Herablassung enthüllen Sir Thomas Aston s Anspielung auf die „Ältesten im Schurz, die gemeinen Handwerker" der Presbyterianer und der Bericht einer royalistischen Zeitung, daß * Keith Thomas: Religion and the Decline of Magic. London 1971, S. 4 0 3 bis 404, 407, 3 9 0 ; H. N. Brailsford, The Levellers and the English Revolution. London 1961, S. 265.

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dem Leichenzug des Levellers Oberst Rainborough „Will der Weber, Tom der Zapfer, Kat der Schuster, Dick der Straßenfeger und und viele andere hervorragende Jünglinge im Schurz aus der Stadt" gefolgt seien. Andererseits behauptete der Leveller-Führer John Lilburne 1653 stolz, er erhalte seine Unterstützung von den „Bauerntölpeln, Nagelschuhen, gemeinen Soldaten, den Leder- und Wollschurzen und dem arbeitsamen und fleißigen Volk in England". Die Sätze im zweiten Teil von Heinrich VI., „Der Adel hält es für einen Schimpf, im ledernen Schurz zu gehen . . . die Obrigkeiten sollen Arbeitsleute sein" (IV, 2, 13 + 18), die Shakespeare scherzhaft meinte, sind möglicherweise das Echo von Ansichten, die er tatsächlich hörte. Ein anderer führender Leveller, William Walwyn, soll gesagt haben, wenn alles allen gehörte, würde man keine Richter mehr brauchen, denn „ein Schuster von seinem Schemel aus oder ein Fleischer aus seinem Laden heraus oder jeder andere Handwerker, der ein ehrlicher und gerechter Mann ist", seien gut genug, um jeden auftretenden Fall zu schlichten.* Im Gegensatz zum Lederschurz der Handwerker gingen die Hofleute in Seide. Wenn Sir Humphrey Stafford und sein Bruder die Rebellen auffordern, sich zu ergeben, nennt Cade sie verächtlich die „taftbehangnen Sklaven" (IV, 2, 134). Im gleichen Sinn bezeichnet Lilburne die aristokratischen Anführer der Gruppe der Unabhängigen im Langen Parlament als „die seidnen Unabhängigen", und Walwyn fragt, ob die Seide der Unabhängigen „nicht verrät, wo sie ihre Wurzeln haben, daß sie wahrlich nur weltlich Gesinnte sind und Christen nur nach Namen und Zunge".*'* Ob aus Gründen des Klassengefühls oder der Andeutung von Glätte und Geschmeidigkeit oder von Anklängen an Jesus' Verurteilung derjenigen, „die da weiche Kleider tragen" und „in der Könige Häuser" sind - das bloße Wort „Seide" rief unangenehme Assoziationen hervor. Shakespeare bringt es in Verbindung mit Frieden, Luxus und der Unaufrichtigkeit, Schmeichelei und Korruption der Hofleute und kontrastiert es mit Waffen, Krieg, Ehre und der Ehrlichkeit und Offenheit des Soldaten und Bauern.*** * Ebenda, S. 3 6 0 , 2 3 9 , 5 4 4 ; Christopher Hill: Milton and the English Revolution. London 1 9 7 7 , S. 4 3 0 . * * H. N . Brailsford: T h e Levellers and the English Revolution. London 1 9 6 1 , S. 2 1 2 , 5 4 7 . * * * William Shakespeare: Richard III. I, 3, 4 7 - 5 3 ; V , 1, 4 0 7 - 4 1 3 ;

König Johann, V , 1, 7 1 ;

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Liebes Leid und

Lust.

Heinrich V . 2. Chorus

1-4;

Der Bote, der dem König die Nachricht vom Vormarsch der Cadeschen Rebellen bringt, berichtet ihm, Gelehrte, Rechtsverständ'ge, Hof und Adel Wird falsch Gezücht gescholten und zum Tod verdammt. (IV, 4, 38-40.) 1 4 „Raupen des Commonwealth" wurde häufig als Schimpfwort benutzt für solche, die als Parasiten der Gesellschaft galten, aber wen man dazu rechnete, hing natürlich vom gesellschaftlichen Status und politischen Standpunkt des Benutzers ab. Thomas Becon15 wandte es 1553 auf „gierige Herrn, die Schafshändler und Viehzüchter sind", an, William Harrison16 1577 auf störrische Bettler und Sir Thomas Wilson17 1600 auf die Gefolgsleute von Bischöfen. Bolingbroke beschreibt in Richard II. die Günstlinge des Königs als „gift'gen Wurmfraß des gemeinen Wesens" („caterpillars of the Commonwealth") (II, 4, 168). Das Kurze Parlament brandmarkte 1640 Monopolinhaber als „unternehmende nagende Würmer und Raupen". Es ist interessant, daß Shakespeare im zweiten Teil von Heinrieb VI. dieses Wort auf Rechtsgelehrte anwendet, die seit den Zeiten des Bauernaufstands, als die Rebellen den „Temple" (Sitz der Londoner Rechtsanwälte) überfielen und den Oberrichter enthaupteten, bis zur englischen Revolution, als die Abneigung gegen die Rechtsanwälte alle linken Gruppierungen von Cromwell bis zu den Diggern vereinigte, besonders gehaßt wurden. Lilburn verlangte 1648, „der nächste Volksvertreter muß aufs ernsthafteste ersucht werden, das Königreich von jenem Ungeziefer und jenen Raupen, den Rechtsanwälten, dem Hauptübel dieser armen Nation, zu befreien", und ein Jahr später brandmarkte ein anderer Pamphletist der Leveller, wahrscheinlich Walwyn, die „korrupten Richter, Anwälte, Gefängnisaufseher und ähnliche Raupen des Commonwealth".* Timon von Athen, IV, 3, 2 0 8 ; Coriolanus, I, 9, 4 1 - 4 5 ; Cymbeline, III, 3, 2 4 - 2 7 . Die gleichen

Verbindungen finden sich in dem apokryphen

Ed-

ward III. II, 2, 9 4 - 9 8 , bei dem an Shakespeares Mitautorschaft kaum ein Zweifel besteht. * English Historical Documents 1 4 8 5 - 1 5 5 8 . Hg. v. C. H. Williams. London 1971, S. 951, 9 5 3 ; William Harrison: A Description of England. London 1877, S. 2 1 7 ; Thomas Wilson: T h e State of England. I n : Camden Miscellany X V I . London 1936, S. 3 8 ;

H. R . Trevor-Roper: Archbishop Laud.

London 1940, S. 3 8 5 ; Puritanism and Liberty. Hg. von A. S. P. Wood-

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Trotz der enormen Blüte des radikalen Schrifttums während der englischen Revolution blieb der volkstümliche Radikalismus bis zum 18. Jahrhundert weitgehend eine mündliche Tradition, die sich in Form von Sprichwörtern fortpflanzte. Marcius sagt, die am Hungeraufstand beteiligten Römer . . . ächzten Sprüchlein, Als: „Not bricht Eisen"; 18 „Hunde müssen fressen"; „Das Brot ist für den Mund"; „die Götter senden Nicht bloß den Reichen Korn". (Coriolanus I, 1, 212-215.) Zumindest das erste dieser Sprichwörter blieb lange in Gebrauch und wurde in Zeiten der Hungersnot regelmäßig zitiert. Es wurde 1648 in einem Flugblatt der Leveller erwähnt und ein Jahr später in der Leveller-Zeitung The Moderate (Der Gemäßigte), und noch 1782 schrieb der radikale Wirt John Freeth aus Birmingham in einer Ballade über einen Hungeraufstand: Die Zeiten waren hart, da hört ihr's wieder: Der Hunger bricht die stärksten Mauern nieder. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts gab es mehrere Jahre der Hungersnot, die im Juni 1595 in London zu ernsten Hungeraufstäoden führten, und Shakespeare muß die Aussprüche, die er zitiert, oft gehört haben.* Allgemeine Unzufriedenheit und die Hoffnung auf eine lustigere Welt wurden oft in Form von traditionellen oder für den Anlaß geschöpften Prophezeiungen ausgedrückt. Prophetien waren eine so mächtige politische Kraft, daß behauptet worden ist, sie „würden in der einen oder anderen Art in praktisch jedem Aufstand oder Volksauf rühr, der den Tudorstaat erschütterte, gebraucht", und Heinrich VIII., Eduard VI. und Elizabeth I. fanden es allesamt notwendig, dagegen Gesetze zu erlassen. Obwohl Prophezeiungen von allen Parteien für ihre jeweiligen politischen und religiösen Ziele house. London 1938, S; 3 6 6 ; Freedom. in Arms. Hg. v. A. L. Morton. London 1975, S. 232. * H. N. Brailsford: The Levellers and the English Revolution. London 1961, S. 324, 4 7 6 ; A Touch on the Times. Hg. v. Roy Palmer. London 1974, S. 274.

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ausgenutzt wurden, ist bemerkenswert, in wie vielen ein wütender Haß auf den Landadel zum Ausdruck kommt. 1537 wurde in Suffolk prophezeit, wenn zwei- bis dreihundert arme Männer aufstünden, würden sie stark genug sein, die Herrn zu besiegen, und in Hertfordshire prophezeite man, daß ein alter Gaul das ganze edle Blut tragen könnte, das bis zum Mittsommer des folgenden Jahres in England noch übrig wäre. Der fehlgeschlagene Aufstand in Yorkshire von 1549 wurde durch die Weissagung beflügelt, der König und der Hoch- und Kleinadel würden von einem Parlament von Bürgerlichen abgeschafft werden.* Andere Prophetien über einen Aufstand von Knüppeln und Nagelschuhen und eine anbrechende lustige Welt wurden bereits erwähnt. Shakespeare war sich des möglichen Einflusses von Prophezeiungen auf das Bewußtsein des Volkes wohl bewußt. In König Johann zeichnet er ein treffendes Bild eines Propheten und seiner Zuhörerschaft : (Ich fand) die Leute wunderlich gelaunt, Besessen vom Gerücht, voll eitler Träume, Nicht wissend, was sie fürchten, doch voll Furcht. Und hier ist ein Prophet, den ich mit mir Aus Pomfrets Straßen brachte, den ich fand, Wie Hunderte ihm auf der Ferse folgten, Derweil er sang in ungeschlachten Reimen. % Es werd' auf nächste Himmelfahrt vor Mittags Eue Hoheit ihre Krone niederlegen. (IV, 2, 146-154.) Shakespeares eigene Haltung Prophezeiungen gegenüber war außerordentlich skeptisch. Die Voraussagen von Peter aus Pomfret, des Geistes im zweiten Teil von Heinrich VI. und der Hexen in Macbeth gehen alle in Erfüllung, jedoch in einem anderen Sinn, als die, die an sie glauben, meinen, und Buckingham in Heinrich VIII. wird durch seinen Glauben an Prophetien ruiniert. Shakespeares Percy Heißsporn verwirft die berühmte Mouldwarp-Prophetie, die in Wirklichkeit von den Percys als Propaganda für ihren Aufstand gegen Heinrich IV. benutzt und später von Katholiken auf Heinrich VIII. und von Puritanern auf Karl I. angewandt wurde, als „nen Haufen kunterbuntes Zeug" (Heinrich IV., 1. Teil, III, 1, 153). Die „ungeschlachten Reime" der volkstümlichen Prophezeiung werden in König * Keith Thomas: Religion and the Decline of Magic. London 1 9 7 1 , S. 3 9 8 , 400.

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Lear (III, 2, 80) in der Voraussage des Narren ins Lächerliche gezogen, die von Satire in Ironie übergeht und schließlich fast surrealistisch in ihrem Humor wird. Man schrieb sie Merlin zu, dessen angebliche Prophezeiungen vom Mittelalter bis mindestens zur Restauration als politische Propaganda benutzt wurden. Welche Schlußfolgerungen sind aus diesem Beweismaterial zu ziehen? Die erste und offensichtliche ist, daß Shakespeare ein waches Ohr hatte; er wußte, was arme Leute in Lokalen von sich gaben. Darin war er keine Ausnahme, denn die Tradition des Gleichheitsgedankens war, selbst wenn sie im verborgenen weiterlebte, kein Geheimnis. Die elisabethanische herrschende Klasse fühlte sich offenbar vom kommunistischen Schreckgespenst verfolgt; ein Feind, den Spensers Sir Artegall 19 bekämpfen muß, ist ein kommunistischer Riese, und Philip Sidney führt einen Bauernaufstand in sein Buch Arcadia20 ein.. Ihre Ängste sind angesichts des inneren Friedens während der Regierungszeit Elisabeths I. weniger überraschend, als man denken könnte. Die Erhebungen von 1549, in denen Raleghs21 Vater angegriffen worden war und deren Unterdrückung Leicesters Vater unterstützt hatte, waren der lebendigen Erinnerung nicht entrückt, und von 1591 bis 1597 fanden Bauernaufstände in Frankreich, Österreich, Ungarn, der Ukraine und Finnland statt, abgesehen von dem fehlgeschlagenen Aufstand in Oxfordshire. Was Shakespeare von Spensy und Sidney unterscheidet, ist seine Vertrautheit mit der Sprache des Gleichheitsgedankens, in deren Gebrauch er zuweilen die Ausdrucksweise der ein halbes Jahrhundert später schreibenden Leveller vorwegnimmt. Daraus folgt nicht notwendigerweise, daß die Leveller ihn gelesen hatten, obwohl Walwyn, ein toleranter, skeptischer christlicher Humanist, der Shakespeares Vorliebe für Montaigne und Plutarch teilte, ihn als kongenialen Geist empfunden hätte. Was wir mit Sicherheit sagen können, ist, daß Shakespeare und die Leveller aus derselben mündlichen Tradition schöpften. Das heißt nicht, daß Shakespeare dieser Tradition wohlwollend gegenübergestanden haben muß, ebenso wenig wie etwa David Edgar die Ideen der Nation Forward Party, die er so überzeugend in seinem Stück Destiny (Schicksal) dargestellt hat, gutheißt. Niemand würde ernsthaft behaupten wollen, daß die Jack-Cade-Szenen als revolutionäre Propaganda gemeint sind. Die Rebellen Jack Cades, die alles andere sind als einem sowjetischen Plakat entstiegene proletarische Helden, sinken in ihrer Brutalität auf den moralischen Stand des englischen Hochadels. J a Shakespeare macht sie brutaler, als sie in der histori-

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sehen Wirklichkeit waren: Die Erhängung des Schreibers von Chartham ist seine eigene Erfindung, die durch einen Hinweis in Holinsheds Chronik über den Aufstand von 1381 inspiriert wurde. Die gleichmacherischen Ansichten Cades erhalten einen deutlich ironischen Zug: „Sieben Sechser-Brote sollen künftig in England für einen Groschen verkauft werden; die dreireifige Kanne soll zehn Reifen halten, und ich will es für ein Hauptverbrechen erklären, Dünnbier zu trinken. Das ganze Reich sollen alle in gemein haben; in Cheapside geht euch mein Klepper auf die Weide. Und wenn ich König bin, - wie ich es denn bald sein werde, - . . . so soll es kein Geld mehr geben, alle sollen auf meine Rechnung essen und trinken, ich will sie alle in e i n e Livrei kleiden, damit sie sich als Brüder vertragen und mich als ihren Herrn ehren." (IV, 2, 67-78.) Obwohl das alles schrecklich nach Pol Pots Kambodscha klingt bis hin zur Abschaffung des Geldes und zum Gras auf den Straßen der Hauptstadt, beschreibt Cade tatsächlich doch eine Art feudalen Kommunismus, in dem er selbst der große Herr ist und ein offenes Haus führt für jedermann. Das war eine Auffassung, die wahrscheinlich beim Volk sehr gut angekommen wäre; Klagen über den Verfall der „Haushaltung", für deren Aufrechterhaltung Warwick im selben Stück gepriesen wird (I, 1, 191), sind ein verbreitetes Thema in der elisabethanischen Literatur. Cade wird gezeigt, wie er die Gläubigkeit seiner Anhänger im Interesse seiner eigenen Machtgelüste ausnutzt, ebenso wie York ihn zu dem gleichen Zweck mißbraucht. Shakespeare akzeptierte offenbar zu diesem Zeitpunkt den Mythos der herrschenden Klasse, daß sich die unteren Klassen nur unter dem bösen Einfluß von Agitatoren auflehnen, die. selbst Agenten finsterer politischer, im Hintergrund wirkender Kräfte sind. Heinrich VI. entstand jedoch ganz am Anfang seiner Laufbahn, und er behielt diese Meinung nicht unbedingt sein ganzes Leben lang bei. Auf die Ähnlichkeit zwischen Cades Anhängern und dem Pöbel in Julius Cäsar und der Shakespare-Szene in Sir Thomas More ist oft hingewiesen worden - ihr Wankelmut, ihre Gewalttätigkeit, ihre Anfälligkeit für Demagogen (einschließlich aristokratischer Demagogen wie Clifford in Heinrich VI., 2. Teil, und Mark Anton in Julius Caesar), ihre Bereitschaft, sich von einem Appell an ihr Mitleid oder ihren Patriotismus beeinflussen zu lassen. Weniger oft wird jedoch der auffällige Unterschied in der Behandlung der Volksmenge im Coriolan bemerkt, was am deutlichsten im Dialogstil zum Aus91

druck kommt. Der Pöbel in den frühen Stücken vermischt Sinn und Unsinn in einer unlogischen Logik, die ganz typisch für ihn ist: „Ja, und es steht doch geschrieben: arbeite in deinem Beruf; was so viel sagen will: die Obrigkeiten sollen Arbeitsleute sein; und also sollten wir Obrigkeiten werden." (Heinrich VI., 2. Teil, IV, 2, 17 bis 19.) „Herr, er hat eine Feueresse in meines Vaters Hause gebaut, und die Backsteine leben noch bis auf diesen Tag, die es bezeugen können; also leugnet es nicht." (IV, 2,156-158.) „Es tut nichts: sein Name ist Cinna; reißt ihm den Namen aus dem Herzen und laßt ihn laufen." (Julius Cäsar III, 3, 34-35.) „Nein, er hat ihn mit dem Schlagfluß vergiftet; denn diese Bastarde des Dungs, denn ihr wißt, sie wachsen auf Dung, haben uns vergiftet, und unsere Vergiftung wird die Stadt erschüttern, was teilweise kommt vom Essen von Rüben." (Sir Thomas More II, 4, 19.) In Shakespeares Widergabe dieser volkstümlichen Sprechweise, die nicht unähnlich der von Julias Amme und Frau Hurtig ist, steckt Liebe und zugleich Verachtung. Man vergleiche dieses Geschwätz mit der Rede des Ersten Bürgers in Coriolanus: „Wir werden für die armen Bürger gehalten, die Patrizier für die guten. Das, wovon der Adel schwelgt, würde uns nähren. Gäben sie uns nur das Überflüssige, ehe es verdirbt, so könnten wir glauben, sie nährten uns auf menschliche Weise; aber sie denken, so viel sind wir nicht wert. Der Hunger, der uns ausmergelt, der Anblick unseres Elends ist gleichsam ein Verzeichnis, in welchem sie ihr Wohlleben lesen. Unser Jammer ist ihnen Genuß. Dies wollen wir mit unsern Spießen rächen, ehe wir selbst Spießgerten werden. Denn das wissen die Götter! ich rede so aus Hunger nach Brot, und nicht aus Durst nach Rache." (I, 1, 15-26.) „Für uns sorgen! - Nun, wahrhaftig! - Sie sorgten noch nie für uns. Uns verhungern lassen, und ihre Vorratshäuser sind vollgestopft mit Kom. Verordnungen machen gegen den Wucher, um die Wucherer zu unterstützen. Täglich irgendein heilsames Gesetz gegen die Reichen widerrufen und täglich schärfere Verordnungen ersinnen, die Armen zu fesseln und einzuzwängen. Wenn der Krieg uns nicht auffrißt, tun sie's: das ist ihre ganze Liebe für uns." (I, 1, 81-88.) Könnte es einen größeren Gegensatz geben? Der Sprecher ist böse und erbittert, doch es geht ihm um einen rationalen Sachverhalt, und er trägt ihn mit einer schroffen Beredsamkeit vor, die überzeugt. 92

Ganz offensichtlich ist in den etwa neun Jahren, seitdem er Julius Cäsar schrieb, etwas mit Shakespeares Haltung gegenüber den Klagen der unteren Klassen geschehen. Was geschehen ist, wissen wir nicht. Als er Coriolanus schrieb, mag er an die gegen die Einhegungen gerichteten Unruhen im Mai 1607 gedacht haben, von denen auch sein heimatliches Warwickshire betroffen war, aber der Haltungswandel war schon früher eingetreten. Lears Raserei kommt den Auffassungen der Vertreter des Gleichheitsgedankens oft recht nahe, wie etwa seine Gedanken zu dem Thema, daß' große Diebe kleine Diebe hängen: „ . . . sieh, wie jener Richter auf jenen einfältigen Dieb schmäht! Horch, - unter uns - den Platz gewechselt und die Hand gedreht: wer ist Richter, wer Dieb?" (König Lear IV, 6, 155-158.) „Der Wuch'rer hängt den Gauner; Zerlumptes Kleid bringt kleinen Fehl ans Licht, Talar und Pelz birgt alles. Hüll' in Gold die Sünde, Der starke Speer des Rechts bricht harmlos ab; In Lumpen, - des Pygmäen Halm durchbohrt sie." (IV, 6, 167-171.) Genau die gleichen Gedanken werden in dem Pamphlet der Leveller Mehr Licht scheint in Buckinghamshire zum Ausdruck gebracht: „Bedenkt dies, ihr großen Geizhälse, ihr hängt einen Mann, weil er stiehlt aus Not, wo ihr doch selbst von euren Mitbrüdern gestohlen habt alles Land, Vieh, usw."* Es gibt Parallelen im Denken und in der Ausdruckweise zwischen Cades politischem Programm und Gonzalos Utopie im Sturm: „ . . . denn keine Art von Handel Erlaubt' ich, keinen Namen eines Amts; Gelahrtheit sollte man nicht kennen; Reichtum, Dienst, Armut gäb's nicht; von Vertrag und Erbschaft, Verzäunung, Landmark, Feld- und Weinbau nichts." (II, 1, 159 bis 163.) „In der gemeinsamen Natur sollt' alles Frucht bringen." (II, 1,171-172.) Gonzalo setzt sich der gleichen Kritik aus wie Cade: „Kein Regiment Und doch wollte er König sein! * The Works o£ Gerrard Winstanley. Hg. v. G. H. Sabine. London 1941, S. 633.

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Das Ende seines gemeinen Wesens vergißt den Anfang." (II, 1, 167 bis 170.) Aber es gibt einen fundamentalen Unterschied. Die eine Utopie wird einem blutdurstigen Abenteurer in den Mund gelegt, die andere dem „heil'ge(n) Gonzalo, ehrenwerte(n) Mann", und es sind die „Habgierigen und Manipulatoren"*, die darüber spotten. Montaignes Essay Über Kannibalen, aus dem vieles in Gonzalos Utopie wörtlich übernommen ist, gehörte zur Lieblingslektüre Walwyns, dessen Feinde ihn beschuldigten, er behauptete (wie John Ball), „es wird nie gut werden, ehe nicht alles allen gehört". Shakespeare war, so sei zusammenfassend gesagt, vertraut mit der Tradition des Gleichheitsgedankens und konnte dessen Sprache bald ironisch, bald wohlwollend einsetzen. Das gleiche gilt im Prinzip für seinen Gebrauch orthodoxeren politischen Gedankenguts. Die bekanntesten Passagen in seinem Werk, die sich auf das göttliche Recht des Königs beziehen, stehen oft in einem Zusammenhang, der sie zutiefst ironisch erscheinen läßt, wie zum Beispiel Richards II.: „Nicht alle Flut im wüsten Meere kann Den Balsam vom gesalbten König waschen." (III, 3, 55-56.) das später in „Mit eignen Tränen wasch' ich ab den Balsam" (IV, 1, 210) seinen Widerhall findet. Eine noch berühmtere Stelle: „Denn solche Göttlichkeit schirmt einen König: Verrat, der nur erblickt, was er gewollt, Steht ab von seinem Willen." {Hamlet IV, 5,125-127.) wird von einem Usurpator gesprochen, der durch Hochverrat die Krone erworben hat, indem er ihren rechtmäßigen Besitzer ermordete. Wo war, so mögen wir fragen, die Göttlichkeit, die König Hamlet schützte, als ihm Claudius das Gift ins Ohr träufelte? Ein anderer mörderischer Usurpator, Richard III., ruft aus, als er seiner Verbrechen angeklagt wird: „Der Himmel höre nicht die Schnickschnackweiber Des Herrn Gesalbten lästern." (IV, 4, 156-157.) Richard II. beruft sich auf die Göttlichkeit seines Amtes, weil er in einer Phantasiewelt lebt; Claudius und Richard III. tun es, weil sie sich nicht davor scheuen, religiöse Gefühle für die Sicherung ihres Throns zu benutzen, den sie durch Mord erworben haben, ebenso wie Cade bereit ist, gleichmacherische Überzeugungen auszu* Vgl. Michael Hamburger: Gonzalo: Afterthoughts. In: Poems for Shakespeare 2. London 1973, S. 73.

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nutzen, um auf den Thron zu gelangen. Hätte er Heinrich VI. entthront und ermordet, wäre dann zu bezweifeln, daß Shakespeare ihn sich auch auf sein göttliches Recht hätte berufen lassen? Man hat uns oft die sozialen und politischen Lehren der Kanzelreden als ein orthodoxes Denkgebäude vorgestellt, welches „die Elisabethaner" oder zumindest die große Mehrheit von ihnen pflichtschuldig akzeptierten. Shakespeares Stücke sind im Sinne dieses orthodoxen Denkens interpretiert worden, und insbesondere die Geschichtsdramen sind als Propaganda für die Tudorparteilinie oder, um es eleganter auszudrücken, als „Spiegel elisabethanischer Politik" ausgelegt worden. Aus diesen Auffassungen ergeben sich jedoch Probleme. Wir haben ein Recht zu fragen, welche Elisabethaner akzeptieren diese orthodoxen Lehren? Einige Intellektuelle von Robert Persons22 bis zu Christopher Marlowe ganz gewiß nicht, aber wie stand es um die Masse des Volkes? War Bartholomew Steere ein isolierter Fanatiker? Offenbar nicht; ein Zeuge gegen ihn sagte aus, er „nehme diese (Steeres) Reden nicht so zur Kenntnis, denn wenn er auf den Markt gehe, höre er die armen Leute immer sagen, daß sie fast verhungerten aus Mangel an Korn, und er glaube, der Hunger müßte sie zwingen, es den Menschen aus den Häusern heraus zu stehlen". („Not bricht Eisen.") Wenn Steeres Behauptung, allen Herrn müßten die Köpfe abgeschlagen werden, von seinen Nachbarn nicht als ungewöhnlich empfunden wurde, können die Kanzelreden keinen großen Eindruck auf sie gemacht haben. Warum wurde es überhaupt für notwendig erachtet, die Kanzelreden zu publizieren? Wenn jedermann die Theorie der Rangordnung akzeptierte, warum ordnete dann die Regierung Eduards VI. an, die dreiteilige Exhortation cortcerning good order and obedience to rulers and Magistrates (Ermahnung zu guter Ordnung und Gehorsam gegenüber Herrschern und Obrigkeiten) regelmäßig in der Kirche zu verlesen? Hätte Elizabeths Regierung die noch längere, sechsteilige Homily against disobedience and wilful rebellion (1571; Kanzelrede gegen Ungehorsam und vorsätzliche Auflehnung) veröffentlicht, wenn es nicht zwischen 1536 und 1569 fünf größere und mehrere kleinere Erhebungen in England gegeben hätte? Hätten es die Verfasser der Neununddreißig Artikel für nötig gehalten zu betonen, „die Reichtümer und Güter der Christen sind nicht gemeinschaftlich, was deren Recht, Titel und Besitz betrifft, wie das gewisse Anabaptisten fälschlicherweise behaupten", wenn nicht die Gefahr bestanden hätte, daß diese Anabaptisten Anhänger finden würden? Wenn Shakespeares 95

Richard, II. politisch so orthodox wäre, wie uns E. M. W. Tillyard und Lily B. Campbell23 glauben machen wollen, warum hielten die Elisabethaner, die das orthodoxe Denken ihrer Zeit besser beurteilen konnten als wir heute, das Stück für subversiv, unabhängig davon, ob sie Subversion bejahten oder nicht? Warum strich der Zensor die Absetzungsszene, als das Stück gedruckt wurde; warum richteten es Essex' Gefolgsleute so ein, daß das Stück zum Zwecke revolutionärer Propaganda am Abend vor seinem Aufstand aufgeführt wurde; und warum war Elizabeth empört, daß die Tragödie von Richard, II. „vierzigmal in offenen Straßen und Häusern gespielt wurde"? Je gründlicher wir das Belegmaterial studieren, desto unwahrscheinlicher wird das Bild eines unfehlbar orthodoxen Shakespeare in einer unerschütterlich orthodoxen Gesellschaft. Shakespeare war Elisabethaner (darüber zumindest sind wir uns einig) und war dem politischen orthodoxen Denken seines Zeitalters in vollem Umfang ausgesetzt. Aber er wußte mit Sicherheit, daß es andere politische Theorien als die in den Kanzelreden verkündeten gab. Welches seine eigenen Anschauungen waren, hat er uns selbst herauszufinden überlassen; er war Dramatiker, der unter strenger Zensur schrieb, und nicht Propagandist. Zweifellos änderten sich seine Ansichten, als er älter wurde; die einzigen, deren Ansichten sich nie ändern, sind jene, die nichts aus der Erfahrung lernen. Man kann bezweifeln, daß er sich mit irgendeiner Schule politischen oder religiösen Denkens näher identifizierte. Er glaubte sicherlich fest an die Notwendigkeit einer geordneten Gesellschaft, aber es kann durchaus sein, daß er in seinem späteren Leben die Möglichkeit einer Ordnung in Erwägung zog, die nicht auf einer Rangordnung, sondern auf menschlicher Gleichheit basierte. Er nahm die Kultur seines Zeitalters in sich auf, doch blieb er nicht jenem geringen, von der Autorität sanktionierten Teil verhaftet, sondern ging weit darüber hinaus.

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3 IAN WATSON

Ein Plädoyer für die Volkskultur — Die Lieder des Industrieproletariats Das Lied ist bedauerlicherweise immer noch ein Randgebiet der Literaturkritik, und es wurde bis auf den heutigen Tag kein Versuch unternommen, die Entwicklung des Volkslieds mit der Geschichte des etablierten Kanons der englischen Literatur in Verbindung zu bringen: Weder gibt es eine Literaturgeschichte des Volkslieds noch eine kritische Darstellung desselben innerhalb der vorhandenen Literaturgeschichte.* Es gibt Barrieren, die zu überwinden sich immer wieder als zu schwierig erwiesen hat. Zum einen scheuen Literaturhistoriker vor dem wandelbaren Charakter, dem unwillkommenen fließenden Zustand der mündlichen Tradition zurück; zum anderen hat man mit Recht eingewendet, daß das musikalische Element ein so entscheidender Faktor bei der Entstehung, dem Vortrag und der Rezeption von Liedern ist, daß diese nicht wirklich als „bloße" Literatur betrachtet werden können. Überdies haben Probleme der ästhetischen Wertung einer vollen künstlerischen Anerkennung eines Großteils der Volksliedtradition immer wieder im Wege gestanden: Die bürgerliche Literaturkritik hat das Lied als minderwertig gebrandmarkt, und marxistische Historiker waren entweder zu ausschließlich um eine Analyse des Lieds als bloßen sozialen Dokuments bemüht oder zu zurückhaltend bei der Verteidigung des Volkslieds als eines eigenen künstlerischen Genres.** * Diese Abhandlung basiert weitgehend auf Forschungsergebnissen, die ich für mein demnächst erscheinendes Buch Song and Democratic Culture zusammengetragen habe. Durch die Untersuchung eines Aspektes der industrieproletarischen Volksmusik und des zeitgenössischen, nicht aus der Arbeiterklasse stammenden Liedschaffens, der in dem Kapitel über Handwerkerstolz und die Beziehung zur Arbeit enthalten ist, habe ich hier versucht, mit neuen Ideen zur breiteren Anerkennung der Volkskultur in der Forschung über Kulturgeschichte und -theorie beizutragen. ** Selbst A. L. Lloyd bietet in seinem Kapitel über die industrielle Volksmusik in seinem klassischen Buch Volk Song in England (London 1967) keine Kriterien für die ästhetische Beurteilung an, aber behauptet, daß das indu7

Southall/Magistcc

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Diese drei Probleme werden durch die ständig wachsenden Erfahrungen auf diesem Gebiet immer mehr reduziert. Ein Jahrhundert wissenschaftlichen Liedersammelns - einschließlich interessanter Belege von Textvarianten - liefert heute ein Fundament für Funktionsuntersuchungen, chronologisch orientierte Übersichtsdarstellungen und wertende Analysen. Arbeiten über die Funktion des Volkslieds betonen heute seinen epischen Charakter, ohne jedoch die Wichtigkeit oder die ästhetische Wirkung der Melodie und musikalischen Einrichtung zu unterschätzen. Die Melodie ist das Vehikel für ein ästhetisches Genre, welches primär Ereignis oder Handlung ist, primär in W o r t e n besteht. D a s Problem der ästhetischen Wertung ist sehr viel komplizierter und vielleicht strittiger. A. L. Lloyd wies als erster darauf hin, daß das ununterbrochene Weiterleben bestimmter Volkslieder allein schon ein ausreichender Beweis für deren ästhetischen Wert sei; aber Dauerhaftigkeit, die nicht anders als im nachhinein erkennbar ist, dürfte kaum als Kriterium ästhetischer Bewertung ausreichen.* Durch die Auseinandersetzung mit dem Volkslied als einer künstlerischen Ausdrucksform wurden neue Wertmaßstäbe geschaffen und mit den strieproletarische Volkslied von geringerer ästhetischer Qualität sei als die Lieder einer früheren Periode. * Im 9. Kapitel von Song and Democratic Culture habe ich versuchsweise einen Katalog ästhetischer Kriterien aufgestellt, die als Ausgangspunkt für eine konsequentere Kultur p o l i t i k dienen sollen. Ich habe zwei Haupteinwände gegen Lloyds Herangehen. Er übernimmt aus der bürgerlichen Volksliedforschung die Vorstellung eines „natürlichen Selektionsvorgangs", der angeblich das Überleben der „besten" Lieder sichert. Ein solcher Vorgang - wenn es ihn gäbe - hätte nicht nur die bewußte ästhetische Selektion, Kritik oder Wertung (worin zweifellos die Funktion a ' l l e r Kunst- und Literaturkritik besteht) zu ersetzen, und überdies haben seine eigenen ausgezeichneten Arbeiten bewiesen, daß das Volkslied keinem „natürlichen" Prozeß unterworfen war, sondern einem Vernichtungsfeldzug seitens der herrschenden Kultur. Wenn der Untergang ein natürlicher Vorgang wäre, bei dem nichtüberlebensfähige Kulturprodukte ausgejätet würden, dann wäre Lloyds wesentliche Aufgabe, zum Beispiel „die Volkslieder der britischen Kohlenreviere zu einer großen Sammlung zu vereinigen, solange noch Zeit ist" (Folk Songs of the Coalfields. In: Coal, Mai 1951, S. 27), sinnlos. Wir können nur dankbar dafür sein, daß Lloyds Pioniertat, die Rettung dieses Teils des Volkskulturerbes vor dem ihn zerstörenden kulturellen Angriff, seine eigene Theorie vom „Überleben des Tüchtigsten" in der Volksmusik widerlegte.

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etablierten Beurteilungskriterien in Verbindung gebracht. Auf den folgenden Seiten kann allerdings nur ein indirekter Katalog ästhetischer (einschließlich formalästhetischer) Kriterien bei der Analyse der Liedbeispiele vorgestellt werden. Die vorliegende Untersuchung plädiert für die umfassende Anerkennung der Volksliedtradition insbesondere durch die marxistische Literaturwissenschaft. Die Notwendigkeit ihrer Aufnahme in die Literaturgeschichte stützt sich auf vier Hauptargumente. Erstens bietet die überwiegend mündliche Kultur der britischen Arbeiterklasse in den letzten zwei Jahrhunderten marxistischen Literaturhistorikern - mit ihrer berechtigten Forderung nach der Berücksichtigung der gesellschaftlichen Totalität - die Kehrseite des etablierten Kanons der Literatur, welcher bis heute den Hauptstrom des Erbes repräsentiert hat. Quantitativ (aber nicht nur so) gesehen, sind die Lieder die wichtigste literarische Ausdrucksform der Arbeiterklasse vor allem im 19. Jahrhundert. Zweitens sind sie die literarische Ausdrucksform einer s i c h e n t w i c k e l n d e n Arbeiterkultur; das heißt, sie spiegeln die Entwicklung des Bewußtseins der britischen Arbeiter von einer „Klasse an sich" zu einer „Klasse für sich" wider. Sie sind somit - drittens - eine wichtige Quelle für die „Elemente einer demokratischen und sozialistischen Kultur", die „zweite Kultur", als eines Ausdrucks des Kampfes der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten für den Sozialismus. Viertens (und gerade diesen Aspekt suchen wir hier hervorzuheben) ist die industrielle Volksliedtradition Wegbereiter einer wichtigen marxistischen Erkenntnis : der Anerkennung menschlicher Arbeit und des Arbeitsprozesses als der lebensnotwendigen Grundlage und des wesentlich menschlichen Elements aller gesellschaftlichen Tätigkeit. Es ist speziell dieser Aspekt, der die Volksmusik des Industriezeitalters von den meisten Gebieten der bürgerlichen Literatur unterscheidet. In einer realistischen Einschätzung hat Bernard Bergonzi darauf hingewiesen, daß „die meisten Romane von der Muße 2 4 und nicht von der Arbeit handeln, von den Randbezirken des Lebens, wo sich die menschliche Persönlichkeit ungehindert entfalten und interessante Beziehungen eingehen kann, und nicht von der täglichen .Mühsal, die die Existenz des größeren Teils der Menschheit bestimmt und einschränkt."* Doch, wie Jack Mitchell bemerkte: „Da * Bernard Bergonzi:

Introduction to George

1891. Harmondsworth 1968, S. 9.



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Gissing: New Grub Street,

die Kunst von 'lebendigen Gesamtmenschen' handelt und die Arbeit und die menschliche Humanität, sein wesentliches Menschsein, historisch miteinander verbunden sind, stellt die Arbeit (der Mensch bei der Arbeit und seine Beziehung zur Arbeit) potentiell eines der wichtigsten Themen der Kunst dar."* Caudwell vertrat die Meinung, daß die zunehmende gesellschaftliche Arbeitsteilung in der Klassengesellschaft zur Trennung der Kunst vom Produktionsprozeß führe, „so daß d i e K u n s t i n e i n e n G e g e n s a t z z u r A r b e i t zu g e r a t e n s c h e i n t und eine reine Schöpfung der Muße ist.** E r hob jedoch hervor, daß in Zeiten revolutionärer Umwälzung die aufsteigende Klasse im Vertrauen auf ihre progressive gesellschaftliche Rolle, und überzeugt davon, im Namen der ganzen Gesellschaft zu sprechen, eine zunehmend realistische Literatur hervorbringt, worunter eine ehrlichere und direktere Behandlung konkreter gesellschaftlicher Beziehungen zu verstehen ist.*** So ging zum Beispiel die Entwicklung des Romans in England - mit seinen volkssprachlichen Elementen und seiner belebenden Darstellung von Details des Alltagslebens - Hand in Hand mit der Entwicklung des Industriebürgertums als der treibenden sozialen Kraft des Landes. Die allmähliche Entwicklung des Romans von der literarischen Darstellung gärender sozialer Kräfte hin zur Widerspiegelung der Sorgen des Bourgeois und seiner Frau in ihrer Mußezeit reflektiert das Fortschreiten dieser Klasse von einer aktiven, akkumulierenden Klasse zu einer sozialen Gruppe, die nicht nur von ihrer Akkumulation lebte, sondern sich als h e r r s c h e n d e Klasse etablierte. Es ist in der Tat kein Zufall, daß das erste Jahrhundert der Geschichte des bürgerlichen Romans in England eine Linie von Robinson Crusoes detaillierter Beschreibung seiner Arbeit und seines „Arbeitsplatzes" zum Salon von Jane Austens Mrs. Bennet darstellt: deren „Lebensaufgabe war es, ihre Töchter unter die Haube zu bringen; ihr Trost waren Besuche und Klatsch".**** In einer späteren Phase akuter sozialer Spannungen, den vierziger und fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts, drängten die historischen * Jack Mitchell: Robert Tressell and „The Rägged-Trousered Philanthropists". London 1 9 6 9 , S.. 1 4 3 . * * Christopher Caudwell: Illusion und Wirklichkeit. Dresden 1 9 6 6 , S. 2 6 . (Hervorhebung - I. W . ) * * * Christopher Caudwell: Romance and Realism. Princeton 1 9 7 0 . * * * * Jane Austen: Stolz und Vorurteil. Leipzig 1 9 6 5 , S. 8.

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Umstände das aufsteigende Industrieproletariat und damit zumindest indirekt auch den Produktionsprozeß in den bürgerlichen Roman hinein. E s ist allerdings wichtig, das Indirekte dieser Tendenz hervorzuheben, denn in den Industrieromanen spielt der eigentliche Produktionsprozeß selbst kaum eine Rolle. Dem Leser ist selten ein Blick in das Innere der Fabriken vergönnt, die nicht mehr als eine bedrohliche Hintergrundskulisse in den entsprechenden Geschichten darstellen - „die langen Rauchbahnen" nachts noch von ausbrechendem Feuer begleitet, das Louisa Gradgrind vom Arbeitszimmer ihres Vaters aus beobachtet.* Denn trotz der starken, aber widersprüchlichen Sympathie, die Dickens oder Elisabeth Gaskell (1810-1865) dem Proletariat entgegengebracht haben mögen, betrachteten und beschrieben sie doch eindeutig eine ihnen f r e m d e Kultur, eine Lebensweise, die ausschließlich von einem langen Arbeitstag bestimmt war. Im Gegensatz dazu ist das Volkslied des Industriezeitalters ein literarisches Abbild des kapitalistischen Produktionsprozesses v o n i n n e n h e r und v o m S t a n d p u n k t d e r A r b e i t e r k l a s s e a u s . D i e Sammlungen von Liedern der letzten Jahre sowie neuere Erkenntnisse über den Charakter ländlicher L i e d e r * * lassen die unverzeihlich unwissenschaftliche und idealistische Behauptung des Musikkritikers Edward Lee unsinnig erscheinen, nach der es „kaum Beweise dafür gibt, daß der Mensch jemals das Bedürfnis hatte, über seine Tätigkeit zu singen, es sei denn in der Kritik; seine Aufmerksamkeit galt immer schon den ewig menschlichen Problemen, vor allem der Religion und der L i e b e " * * * . Erstens gibt es durchaus eine beträchtliche Anzahl von Volksliedern, die von einem Arbeitsvorkommnis handeln oder den Arbeitsplatz zum Handlungsort haben; in diesem engeren Sinn wird tatsächlich viel über den eigenen Beruf g e s u n g e n . * * * * Doch darüber hinaus ist die * Charles Dickens: Harte Zeiten. Berlin 1972, S. 110. * * Vgl. B o b C o p p e r : A Song for Every Season. London 1 9 7 5 ; Roy Palmer: ***

The Painful Plough. Cambridge 1973. E d w a r d L e e : Music of the People. A Study of Populär Music in Great Britain. London 1970, S. 127.

* * * * E s muß an dieser Stelle betont werden, daß die industrieproletarischen Volkslieder keine „Arbeitslieder" sind, das heißt, sie sind in keiner Hinsicht als Begleitung zum Arbeitsprozeß selbst gedacht, wie zum Beispiel die Seemannslieder (Shanties) der Matrosen oder die Lieder und Rufe der als Feldarbeiter tätigen Negersklaven. Arbeitslieder haben die primäre Funktion, die Zusammenarbeit zu fördern und den Arbeitsrhythmus zu regulieren

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Arbeit selbst in den Lebensbereichen, auf die Lee verweist, ein zentrales L e i t m o t i v . Ja die Erkenntnis der Arbeiter von der Bedeutung der Arbeit wird in eben den Liedern, die sich ausdrücklich mit Themen a u ß e r h a l b der Arbeit beschäftigen - Liebe, Familie, der Gemeinschaft - am b e s t e n illustriert. In diesen Liedern ist die Arbeit ein thematischer Faden, der das Ereignis, den Schauplatz oder den Verlauf der Ereignisse vorherbestimmt, beeinflußt oder in gewisser Weise überschattet.* Denn darin besteht der erste Anspruch des industriellen Volkslieds auf Anerkennung als ernsthafte Literatur. Es ist r e a l i s t i s c h , insofern es nicht einfach die Oberfläche darstellt, sondern zum K e r n gesellschaftlicher Beziehungen vordringt, die in der ökonomischen Basis, im Produktionsprozeß begründet sind. Typisch für den Nachdruck, der auf diese wesentliche Überzeugung gelegt wird, ist das moderne, aber anonyme Workers' Christmas Carol (Arbeiterweihnachtslied). Es erinnert daran, daß besonders in einer Gesellschaft, in der die Arbeit oft als untergeordnete Tätigkeit propagiert wird, die zwischen das „wahre Leben" Ruhe und Konsumtion gezwängt ist und in der es für den Monopolkapitalismus zweckdienlich ist, den Arbeiter als Produzenten gegen den Arbeiter als Konsumenten auszuspielen, es gerade die Arbeit ist, die uns und anderen die Möglichkeit zur oder zu erleichtern. In der Industrie wird der Rhythmus nicht von Körperbewegungen, sondern von der gleichmäßigen Bewegung der Maschinen bestimmt. * Diese Traditionslinie - ein zentraler Aspekt der industrieproletarischen Volksmusik - erstreckt sich, von alten, vorindustriellen Liedern wie Tbe Coüiet Laddie (Der Bergmanns junge), wo das Mädchen im sozialen Kontext der A r b e i t schließlich eine Liebeserklärung abgibt, O liebe, denn Liebe ist der Preis für mich, Wenn auch die kleine Hütte mich hält; Und die Welt vor mir, um mein Brot zu verdienen Und Essen für meinen Bergmannsjungen . . . bis zu Danny Kyles modernem Schlaflied aus Glasgow: Das Horn der Werft hat schon getutet, Dein Daddy ist bald zu Haus. Versteck dich hinter der Tür, Und Daddy ruft deinen Namen. Beide Beispiele veranschaulichen das Thema des definitiven Charakters der Arbeit, der alle Aspekte des Daseins der arbeitenden Menschen, einschließlich zwischenmenschlicher Beziehungen, bestimmt, sowohl langfristig als auch innerhalb des Tagesrhythmus' eines Kindes.

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Ruhe verschafft. Das Lied hat einen sehr verborgenen gefährlichen Stachel: Wo ist Ihr Mann, Frau Brown, zu Weihnachten heut? Wo ist Ihr Mann, Frau Brown, zu Weihnachten heut? Ließ er Sie heut ganz allein? Wo kann er geblieben sein? Was tun Sie, kommt er heut nicht heim? Wo ist Ihre Tochter, Frau Brown, zu Weihnachten heut? Wo ist Ihre Tochter, Frau Brown, zu Weihnachten heut? Ist sie mit dem Freund auf Tour? Gibt's von ihnen keine Spur? Essen S i e den Braten nur? 1

Wo ist Ihr Sohn, «Frau Brown, zu Weihnachten heut? Wo ist Ihr Sohn, Frau Brown, zu Weihnachten heut? Im Lokal und gibt einen aus? Kommt er zum Truthahn nach Haus? Schläft er seinen Suff dann aus? Ach, meine Tochter hat Dienst auf Station, Und mein Sohn vermittelt am Telefon, Und mein Mann, der kommt nach Hause zurück, Wenn die Schicht vorbei ist in der Fabrik, Sonst hat hier keiner elektrischen Strom.*

Die Betonung des Arbeitsprozesses unterscheidet dks industrieproletarische Volkslied als Arbeiterkultur wesentlich von den Arbeitshymnen, den für die britische Arbeiterbewegung typischen klassenbewußten Liedern. Letztere tauchten in zwei großen Wellen in der Arbeitergeschichte auf - während des Chartismus und während der Ausbreitung des New Unionism, der Neuen Gewerkschaftsbewegung, und des Sozialismus gegen Ende des vorigen Jahrhunderts. Als Versammlungslieder, die zum gemeinsamen Singen gedacht waren, hatten sie die politische Funktion, die Arbeiter und ihre Verbündeten aus vielen verschiedenen Produktionszweigen, Lebensbe* Veröffentlicht in New City Songster. Hg. v. Ewan MacColl und Peggy Seeger. Beckenham, o. J., Bd. 11, S. 14.

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reichen und Gegenden mit ihren unterschiedlichen Problemen unter dem nationalen Banner politischen Handelns zu vereinigen. So mußten sie in der Regel den kleinsten gemeinsamen Nenner - das verbindende Element - im politischen Kampf, und zwar abstrahiert vom Arbeitsplatz, finden. Das schlägt sich in den Liedern oft in einer Überbetonung der Ideen von Gerechtigkeit, Freiheit und Brüderlichkeit nieder, die als solche richtig und notwendig sind, jedoch im Kunstwerk abstrakte Vorstellungen bleiben müssen. Die Arbeit wird nie beschrieben, und die Arbeiterklasse - als Arbeiter - tritt nur als anonyme „schwer arbeitende Millionen" oder „Söhne der Arbeit" auf. Die industrielle Volksmusik beschäftigt sich - wenn auch oft nur in Ansätzen - mit den gleichen Ideen, aber im Kontext des täglichen Lebens und Kampfes.* Auf Grund des intimeren Charakters des industriellen Volkslieds, das von einem Arbeiter für seine Kollegen und Freunde, seine Familie und Ortsbewohner geschrieben und im Lokal oder Klub gesungen wurde, ist es hier die Arbeit der einzelnen Produktionszweige, die den Inhalt oder Hintergrund der meisten Lieder bildet. Lieder, die den positiven Charakter der menschlichen Arbeit hervorheben, gibt es vor allem auf zwei Gebieten: in den älteren, vorindustriellen Produktionszweigen wie der Landwirtschaft, der Textilindustrie und dem Bergbau, die schon vor der Industriellen Revolution eine Liedtradition entwickelt hatten, und in den Reihen der Handwerker und Facharbeiter. Diese Lieder betonen vor allem den Handwerksstolz und die U n e r s e t z b a r k e i t der betreffenden Produktionszweige. D a die Landwirtschaft bis ins 19. Jahrhundert hinein die meisten Arbeiter beschäftigte, stellte sie offensichtlich einen Produktionszweig dar, der sich als Rückgrat der Nationalwirtschaft verstand. Obwohl das Landproletariat seit dem Mit* Innerhalb der Kultur der Arbeiterklasse, selbst in ihrem bewußten sozialistischen Teil, erfüllen die Arbeitshymne und das Volkslied des Industrieproletariats sehr unterschiedliche Funktionen. D i e Notwendigkeit, die Arbeiterklasse im nationalen Maßstab zu organisieren, hat auch den Gebrauch von Dialekten, einem wesentlichen Bestandteil des Volkslieds, problematisch gemacht. Das Singen in der Gemeinschaft, ein wesentliches Mittel zur Herstellung von Solidarität, stellt auch musikalische Anforderungen, denen die Volkstradition nicht gerecht werden kann. Doch was moderne Lieder mit politischer Funktion für die Arbeiterbewegung versucht haben, ist, die abstrakte Rhetorik der alten Arbeitshymnen durch eine konkretere Sprache zu ersetzen, die der Sprache der Arbeiter nähersteht.

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telalter eine Quelle für Klassenauseinandersetzungen darstellte und obwohl seine Leiden und Nöte in Liedern über schwere Zeiten und Kämpfe besungen worden waren, gab es doch auch Lieder, in denen es sich als die Grundlage der Arbeiterschaft in anderen Produktionszweigen und Berufen sowie des Reichtums und Wohlergehens der herrschenden Klasse darstellen konnte. The Painful Plougb (Der fleißige Pflug), der sich an die Pflüger wendet, beginnt mit einem „Kommt-all-ihr"-Aufruf zur Zusammenkunft und erinnert dann die Landarbeiter daran, daß ihr Gewerbe das älteste der Menschheit ist: Kommt all ihr frohen Pflüger von aufrecht kühner Kraft, Die ihr den ganzen Winter in Wind und Kälte schafft, Bedeckt das Feld mit Fülle, erneuert Flur und Hof, Zufriedenheit zu bringen, hilft uns der fleißige Pflug. Denn Adam war ein Pflüger, der pflügte damals schon, Als nächster folgte Kain, der war sein ältester Sohn, Und einige Nachfahrn haben noch heute den Beruf, Das Brot mög uns nie fehlen, drum bleib der fleißige Pflug. Nachdem das Lied die Unersetzbarkeit der Landwirtschaft und ihre lange Tradition betont hat, führt es mit einer bemerkenswerten Aussage über soziale Beziehungen fort: Und Samson war der Stärkste, und Salomo war klug, Der große Alexander eroberte Land genug. Der tapfre König David schlug viele Feinde tot, Doch kein Held konnte leben ohne den fleißigen Pflug. Die Einsicht in die Art, wie Geschichte gemacht wird, muß in ihrem historischen Zusammenhang gesehen werden, denn sie wurde über anderthalb Jahrhunderte vor Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters niedergeschrieben: Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? Auch der Hinweis auf Alexander findet ein auffallendes Echo in Brechts Gedicht: Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? 105

Im weiteren Verlauf führt The Painful Plougb seine historischen Anspiegelungen bis in die Gegenwart, indem er sich auf die „großen Männer" der eigenen Zeit, die Kaufleute, konzentriert. Ihre gesamte Tätigkeit, behauptet das Lied, basiert nach wie vor auf der Arbeit der Landarbeiter : Der reiche Kaufmann handelt in fremdem Meer und Wind, Bringt Gold und Schätze wieder für die, die müßig sind, Auch Seide und Gewürze, Korinthen und Kaneel, Das alles kommt aus Indien kraft unsres fleißigen Pflugs. Sie brauchen Mehl und Zwieback und Erbsen, Reis und Brot Als Nahrung für die frohen Matrosen auf dem Boot. Doch jeder, der sie hinbringt, muß eines eingestehn Man kann nicht Schiffahrt treiben ohne den fleißigen Pflug.* Doch der Pflug sollte an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert seine Vorrangstellung einbüßen. Die Industrialisierung begann und verschob den Schwerpunkt der sozialen Struktur. Die erste Welle des Aufschwungs der Textilindustrie (etwa 1780 bis 1820) kennzeichnete das von E. P. Thompson so bezeichnete „Goldene Zeitalter" der Webergesellen.** Es war die Periode zwischen der raschen Ausdehnung der Spinntechnik und der immer schnelleren Verbreitung des mechanischen Webstuhls, der schließlich das Ende der unabhängigen Handwerker bedeutete, eine Periode, in der eine große Nachfrage nach Webern herrschte. The Wark o' the Weavers (Die Arbeit der Weber), das ganz am Ende dieser Epoche in Schottland geschrieben wurde, ist vielleicht Großbritanniens bekanntestes Lied des Handwerksstolzes. Es ist gleichzeitig ein Kunstwerk, das der strengsten ästhetischen Beurteilung standhält: es vereint lyrische Komprimiertheit mit dem epischen Atem seines Themas. Es beschreibt komplizierte gesellschaftliche Beziehungen in kurzen, übersichtlichen singbaren Einheiten. Und über seine ästhetischen Qualitäten hinaus hat es einen historischen Moment kristallisiert - den Höhepunkt der Handwebstuhlweber, bevor sie der Vergessenheit anheimfielen. Der erste Vers beginnt mit einer Beschreibung der Situation - eine Versammlung von Webern, die bei ein paar Glas * Roy Palmer: The Painful Plough. Cambridge 1973, S. 5 4 - 5 5 . * * E . P. Thompson: The Making of the English Working Class. 1963, S. 302.

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Bier über ihr G e w e r b e diskutieren.* D i e zweite Zeile enthält eines der spielerischsten, intelligentesten und am wenigsten verstandenen Wortspiele in der gesamten britischen Dichtung. „Mit unserer A r b e i t auf dem Rücken" hat wenig mit der Annahme zu tun, die zuweilen bei der Ankündigung des Lieds vor einem Publikum ausgesprochen wird, d a ß es sich um W e b e r handelt, die ihr Endprodukt in einem Rucksack' zu einem Zwischenhändler tragen. D a s ist nur die O b e r flächenbedeutung, die von dem üblichen B i l d des W e b e r s , der auf dem W e g zu seinem Arbeitgeber eine Rast einlegt, gestützt w i r d ; in Wirklichkeit erfaßt und erhellt die Wendung den einfachen G e d a n ken, d a ß die W e b e r ihre Arbeit - das gewebte Tuch - im wahrsten Sinn des Wortes auf dem Rücken tragen: Zum Sitzen und zum Reden ein jeder sich einfand, D i e Arbeit auf dem Rücken, die Gläser in der H a n d ; Und kein G e w e r b e gibt es, das bauen und schaffen kann, G ä b ' s nicht die A r b e i t der ' W e b e r . Im

Refrain erfahren der G e d a n k e des Handwerksstolzes und

die

Erklärung der Unersetzbarkeit eine bisher nicht dagewesene

Er-

höhung : G ä b es die W e b e r nicht, was würden wir dann m a c h e n : Für keinen von uns gäb es aus W o l l e schöne Sachen, W i r hätten keinen Mantel, nicht schwarz und auch nicht blau G ä b ' s nicht die Arbeit der W e b e r . D a s Lied wird zum triumphierenden Ausdruck der höchsten Ü b e r zeugung von der eigenen

Unersetzbarkeit, wenn es eine

soziale

Gruppe nach der anderen aufzählt, die von Kleidung, dem Produkt der W e b e r , abhängt: D e r Glaser und der Drechsler, der Schmied und d e r Soldat, D e r D o k t o r und der Pfarrer und jeder Advokat, Unsere Freunde in Südamerika, obwohl wir die nicht kennen, W i r wissen, sie alle tragen

Arbeit der W e b e r .

* Das Lied wurde von einem Weber, David Shaw, anläßlich der Jahresvollversammlung der Friendly Society der Weber in Forfar in der Nähe von Dundee geschrieben; vgl. den Text auf der Tasche der Schallplatte Tbe Iron Muse - a Panorama of Industrial Volk Music. Topic Records, London 12T86, 1963. 107

„Unsere Freunde in Südamerika" zeugt von dem hohen G r a d der Kultur und Bildung, für den die unabhängigen W e b e r berühmt waren und der die Basis für die erzieherische und bewußtseinsfördernde Tätigkeit der jungen Arbeiterbewegung bilden sollte. D o c h die letzte Strophe von The Wark o' the Weavers wird trotz des scheinbar unbekümmerten Optimismus der Eingangszeilen tragisch in der historischen Rückschau, und das Lied endet mit unfreiwilliger historischer Ironie.* E i n e Arbeit ist das W e b e n , die gibt's in Ewigkeit, So lange wir Stoff brauchen im L a n d e weit und breit. So laßt uns a l l e froh sein bei einem guten Bier Und trinken auf die Arbeit der W e b e r . Obwohl zwar die wiederkehrenden Themen des Handwerksstolzes oder der Unersetzbarkeit in den frühen industrieproletarischen Volksliedern die Arbeit als lebensspendende, fortschrittliche K r a f t hervorheben, dürfen wir dennoch nicht vergessen, d a ß sich die materielle Produktion nicht in einem von sozialen Bedingungen unabhängigen Prozeß entwickelt. Im Gegenteil, die Entwicklung der

materiellen

Produktion steht mit der Weise, in der die Produktion und damit die Gesellschaft organisiert ist, in direkter B e z i e h u n g . * * D i e industrielle Volksmusik w a r und ist das kulturelle Produkt der Arbeiterklasse

unter kapitalistischer

Produktionsweise, wo

„der

Arbeiter

nicht Eigentümer der Produktionsbedingungen, des Ackers, den er bebaut, des Rohstoffs, den er verarbeitet", i s t . * * * E s ist daher natür* In einer Interpretation des Lieds Tbe Wark o' the Weavers hat David Craig überzeugend dargelegt, daß die letzte Strophe der historischen Entwicklung gegenüber vielleicht gar nicht so blind ist, wie wir unterstellt haben. Er behauptet, daß sich zu Shaws Zeiten die Textilfabriken mit ihren mechanischen Webstühlen im schottischen Tiefland bereits durchgesetzt hatten, daß die Handwebstuhlweber (es waren 1839 37 000) der Willkür der Mittelsmänner ausgeliefert waren. „Aus diesem Grund scheint Tbe Wark o' the Weavers seinen zuversichtlichen Ton von dem Bewußtsein der Männer von Angus zu beziehen, daß ihre nicht weit entfernten Kameraden in Schwierigkeiten sind." David Craig: The Real Foundations. London 1973, S. 75. * * Vgl. Karl Marx: „Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie". In: MEW, Bd. 13, S. 615-642. * * * Karl Marx: Das Kapital. Bd. 3. In: MEW, Bd. 25, S. 610. 108

lieh, daß Lieder über die Arbeit unter kapitalistischer Produktionsweise das wahre, durch Ausbeutung bedingte Elend und das G e f ü h l der Ausbeutung und Entfremdung widerspiegeln. Wir könnten die beiden Marxschen Beispiele ergänzen durch „noch das Tuch, das er webt, noch den Webstuhl, auf dem er es webt", denn die erste Welle von Liedern, die die Verhältnisse unter industriekapitalistischer Produktionsweise angriffen, kam von der ersten Generation von Textilfabrikarbeitern. Denn entgegen der Behauptung in The Wark o' the Weavers hörte das Weben mit dem Handwebstuhl d o c h auf, denn die mechanische Tuchherstellung ersetzte innerhalb einer Generation eine ganza Klasse unabhängiger Handwerker und änderte damit die Qualität der Beziehungen zwischen dem Weber und seiner Arbeit grundlegend. Lieder wie The Factory Bell (Die Fabrikglocke) wandten sich gegen die ungewohnte Strenge der Fabrikdisziplin, die den Arbeitern, welche an eine, wenn auch begrenzte, Selbständigkeit und einen flexibleren Arbeitsrhythmus gewöhnt waren, auferlegt wurde.* Das eindrucksvollste Gegenbeispiel zum Handwerksstolz der Handwebstuhlweber in The Wark o' tbe Weavers enstand übrigens fast gleichzeitig, kommt aber aus Lancashire, wo die Verbreitung des mechanischen Webstuhls mit seinen traumatischen Folgen dem größten Teil Schottlandes um mehr als eine Generation voraus war. Doch selbst wenn man diesen soziogeographischen Unterschied berücksichtigt, ist die Geschwindigkeit der Veränderung beträchtlich. Poverty Knock (Armut, klopf, klopf), dessen Titel den unbarmherzigen Rhythmus des mechanischen Webstuhls und seine Wirkung auf die arbeitenden Menschen wiedergibt, enthält keine Spur von Handwerksstolz, kein Bewußtsein von Unersetzbarkeit, keine Würde. Es ist ein Klagelied der Erniedri* O glücklicher Mensch, o glückliches Du, während du mit Spaten und Pflug schuftest, während du dich deinen Freuden hingibst, Und all deine Arbeit u n k o n t r o l l i e r t

ist,

Dagegen in den Fabriken dicht an dicht, W o hohe Schornsteine schwarze Wolken ausstoßen Und überall die S k l a v e n

wohnen,

D i e von der Glocke zur Arbeit gerufen werden. (Hervorhebungen - J. W.) Vgl.

Martha Vicinus: The Industrial Muse. London 1974, S. 4 7 - 4 8 .

-

Dieses Lied bringt eine interessante Mentalität vom „Goldenen Zeitalter" zum Ausdruck, die eine verständliche erste Reaktion vieler Arbeiter auf die ersten Traumata der Industrialisierung war.

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gung, Ausbeutung und Entfremdung - der Tiefpunkt einer Klasse, die Kräften jenseits ihrer Kontrolle ausgeliefert ist: Armut, klopf, klopf, sagt mein Webstuhl von morgens bis spät. Armut, klopf, klopf, und der Aufseher zahlt keinen Lohn, Armut, klopf, klopf, doch den Blick hat er stets auf der Uhr. Hungern muß ich nicht mehr, wenn ich mein Schiffchen hör, Armut, klopf, klopf. Auf jeden Morgen um fünf, Wie halten wir alle das durch; Müd und voll Sorgen schon am kalten Morgen Geht's zurück an die furchtbare Fron. Was zum Ausdruck kommt, ist die scheinbare Machtlosigkeit der Arbeiter gegenüber den vereinigten Kräften der Maschinen, der Uhr (denn es handelt sich um das erste überlieferte Lied über Akkordarbeit in der Fabrik) und des Chefs. Das wird am deutlichsten in der zweiten und dritten Strophe, wo Lohnkürzungen offenbar selbstverständlich sind und die überlegene Verhandlungsposition des Unternehmers unmißverständlich betont wird: O weh, wir kommen zu spät; Der Aufseher steht schon am Tor. Gekürzt wird der Lohn; wir hungern so schon Und essen wir, geht's nur auf Borg. Und zahlen sie unseren Lohn, Dann fehlt sehr oft etwas davon. Doch dröhn wir den Leuten, die uns so ausbeuten, An ihrem Geld halten sie fest. Die folgenden zwei Strophen beschreiben die zermürbende Langeweile, von der der Arbeiter zu entkommen träumt: „Ach ja, hätt ich nur Flügel." Die sechste Strophe illustriert am besten die entmenschlichenden Auswirkungen der intensiven industriellen Produktion, die den Arbeitern soviel Angst vor dem Verlust wertvoller 110

Zeit oder der Beschädigung der Webstühle einflößte, daß sie sich untereinander nicht einmal den geringsten Beistand leisten konnten: Ein Schiffchen fliegt manchmal heraus Und versetzt einer Frau einen Schlag. Und blutet sie sehr, ihr hilft keiner mehr, Wer wagt's schon und trägt 9ie hinaus?* Die Form von Poverty Knock ist Teil der Aussage: der Rhythmus ist die monotone Wiedergabe monotoner Arbeit. Das Lied illustriert die künstlerische und historische Entwicklung der industriellen Volksmusik als Reflexion des W a c h s t u m s des Bewußtseins der Arbeiterklasse. Poverty Knock wirft ein Licht auf die entsetzliche Geburt der Arbeiterklasse aus der gedankenlosen, weitgehend passiven Masse entwurzelter Individuen, die unter den traumatischen neuen Verhältnissen der Manufaktur zusammengepfercht und gezwungen wurden, die Lebensbedingungen zu ertragen, in denen sich die neue Klasse und ihre Kultur entwickeln konnten. Ebenso wie Tbe Wark o' tbe Weavers den euphorischen, aber gefährdeten Höhepunkt der als Klasse zum Untergang verurteilten Handwebstuhlweber für die Nachwelt einfing und festhielt, erfaßt Poverty Knock das Vakuum jenes historischen Augenblicks, bevor sich der große Lernprozeß des Nachdenkens, der Solidarität und kollektiven Aktion als eine notwendige historische Reaktion entfalten konnte. In konkreter Form hat dieses Lied die Umbruchsphase der Klassen eingefangen in der Zeit zwischen der brutalen Unterdrückung des spontanen Widerstandes der Ludditenbewegung (historisch gesehen das letzte Wort der unabhängigen Handwerker) und der Entstehung eines kollektiven Bewußtseins in der Gewerkschaftsbewegung. In seiner Monotonie, Passivität, Perspektivlosigkeit und vollkommen negativen Einstellung zur Arbeit ist Poverty Knock in der Tradition der industriellen Volksmusik fast einmalig. Seine künstlerische Schwäche liegt in seinen historischen Wurzeln begründet und läßt es heute zu einem traurigen, kaum singbaren Dokument von rein historischem Interesse werden und nicht zu einem aktiven, lebendigen Bestandteil des Erbes der Arbeiterklasse. Poverty Knock entbehrt eines Elements, das ein wiederkehrendes * Roy Palmer: Poverty Knock. Cambridge 1974, S. 1 4 - 1 5 ; Jon Raven: Songs of a Changing World. London 1972, S. 14-15.

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Motiv des industriellen Volkslieds darstellt und das wir die D i a l e k t i k v o n L e i d e n u n d W i d e r s t a n d nennein können, die sich in so vielen Liedern findet, die keinerlei Anspruch auf politische Aufklärung oder Stärkung des Bewußtseins erheben. Ein frühes Beispiel ist The Poor Cotton Weaver (Der arme Baumwollweber), welches dem furchtbaren Schicksal der gewaltsamen Ausweisung aus der Wohnung die Slapstickkomik des ausgewiesenen Webers und seiner Frau entgegensetzt, denen ihr letzter Besitz, ein Hocker, unter dem Hintern weggezogen wird und die so auf den Pflastersteinen landen. Der Kommentar des Webers zu seiner Frau lautet: Zu unsere^ Margit drauf sagte ich: Gelt, Wir können nicht tiefer fallen auf dieser Welt . . . Der Weber vermag sogar ein ironisches Lächeln aufzusetzen, als der zweite Gläubiger „zu spät" kommt, da ihm ein Rivale zuvorgekommen ist und das Haus bereits leer geräumt hat - bis auf den ärgerlichen Hocker. Die Gesamtwirkung von Melodie und Dialektik, zusammen mit der tragikomischen Situation der Ausweisung, läßt die Schlußstrophe fast heroische Größe annehmen: Und Margit erklärte: Ja, hätt sie ein Kleid, Sie reiste nach London zum König noch heut, Und würden die Dinge nicht anders und gut, Dann kämpfte sie dafür, schwört sie, bis aufs Blut, Nicht gegen den König ist sie, doch für Recht Und weiß, sagt sie, ob die Welt gut oder schlecht.* Empörung und Komik geben dem Lied Würde und Menschlichkeit. „Wir können nicht tiefer fallen" bringt den Willen zu überleben zum Ausdruck, die Perspektive des Kampfes für die Verbesserung des Lebens. In Poverty Knock werden diese typischen Züge nicht einmal angedeutet. Die Weiterentwicklung der industriellen Volksmusik bringt die widersprüchliche Reaktion auf die Arbeit unter dem Kapitalismus * A. L. Lloyd: Folk Song in England. London 1967, S. 305 ff.; vgl. auch die Version mit dem Titel The Oldbam Weaver in Elizabeth Gaskell: Mary Barton. Harmondsworth 1970, S. 72-73, die Gaskell interessanterweise dahingehend kritisiert hat, daß sie keinen Angriff auf die Kirche enthalte.

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auf typischere Weise zum Ausdruck. Weder The Wark o' the Weavers noch Poverty "Knock ist auch nur annähernd repräsentativ für diese Tradition, in der die meisten Lieder ein entschiedenes H a ß L i e b e - V e r h ä l t n i s zur Arbeit aufweisen. Das ist nirgends verbreiteter als bei den Bergleuten. Ein modernes Beispiel, Johnny Handies Dust (Staub), ist im Prinzip ein Lied des Aufbegehrens und der Bitterkeit über mörderische Arbeitsbedingungen.* Der Kehrreim lautet: Staub in der Luft, im Schacht überall, Auf euren Lungen Beton, Und vor der Zeit seid ihr schon alt. Die ersten zwei Strophen haben auch einen konsequent anklagenden Ton und werfen Licht auf die Kluft zwischen dem Opfer der Bergleute und ihrer Belohnung in Form von Lungenkrankheiten: Doch wenn eure Schicht zu Ende ist uijd ihr eure Ruhe wollt, Dann liegt es euch zum Lohn auf der Brust, das schöne schwarze Gold. Doch sobald in der dritten Strophe die Beschreibung der Arbeit beginnt, wird ein gewisser Stolz hörbar, den der Verfasser zu verbergen sucht, der sich aber dennoch in „ . . . Hacken, die ihr Teil tun" durchsetzt: Explosionen sprengen die Kohle, die Luft ist voller Staub; Mit Spitzhacken arbeiten die Kumpel, vom Lärm sind sie fast taub. Mit Förderband und Gebläse wird die Kohle weitergebracht, Vorm Staub gibt es kein Entrinnen, schafft man unten im Schacht. * Johnny Handle ist das Pseudonym des ehemaligen Bergarbeiters (und heutigen Schullehrers) John Pandrich. Dieses Lied entstand 1964 und ist dem Sänger und Geschichtenerzähler Jack EUiot gewidmet, einem Bergmann aus Birtley, der 1966 im Alter von 59 Jahren an Lungenkrebs starb. 8

Southall/Magister

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Am Ende des Lieds wird der Überzeugung von der Unersetzbarkeit stolz Ausdruck verliehen, doch sie wind auch verbunden mit der Forderung nach besseren Bedingungen: Kohle gibt's immer zu fördern, Hacke und Schaufel voran, Doch Luft voll staubiger Kohle atmet ihr wie ein Mann. Der „Staub" gehört in die Tradition von doppeldeutigen Bergmannsliedern, wie The Plodder Searn (Das knochenbrechende Flöz), wo ein schlechtes Kohleflöz Gegenstand der Beschimpfung und zugleich Vehikel für schlecht verhüllte Prahlerei über die Produktion ist: Dreizehnhundert Tonnen pro Tag Holt ihr herauf aus dem Schacht; Pro Tonne Kohle eine Tonne Gruß Und fünf Liter Schweiß und Ruß* Das Haß-Liebe-Verhältnis zur Arbeit ist in Liedern über Arbeitslosigkeit und Werkschließungen zutreffend dargestellt worden**, wie etwa in Johnny Handies doppeldeutigem Nachruf auf den „Tod" der Grube, in der er ein Leben lang gearbeitet hat: So leb wohl, Grube, ich kenn jede Stelle, D e i n e A r b e i t war g u t , und

sie

war die Hölle. In deinem Dreck wühlen nicht mehr meine Hände, Deine Kohle ist alle und dein L e b e n zu Ende. (Hervorhebung - 1 . W.)

Auch andere Industriezweige haben zu diesem Thema beigetragen. Ted Edwards The Pitside is Quiet Today (Der Abstichherd ist heute still) stellt den lauten Betrieb in einem arbeitenden Stahlwerk der Totenstille seiner Stillegung gegenüber: Hier gab es Lachen und Weinen und Laufen Und Worte, die sind fast verboten, Und jetzt spürt man überall in der Luft * A. L. Lloyd: Come All Y e Bold Miners. London 1952, S. 25. * * Vgl. A. L. Lloyd: Folk Song in England. London 1967, S. 3 7 4 - 3 7 7 .

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Die Geister der Lebenden und der Toten. Und mancher ist traurig, und mancher erfreut, Daß der Abstichherd stilliegt heut.* Das Lied vermittelt ein anschauliches Bild vom L e b e n während der Arbeit und unterstreicht damit umso mehr das, was verlorengegangen ist. Diese doppelte Reaktion ist einfach Ausdruck der Erkenntnis der Arbeiterklasse, daß der Arbeitsprozeß im Kapitalismus d u a l i s t i s c h e n C h a r a k t e r trägt. Unter „Arbeit", die er als „das sich bewährende Wesen des Menschen"** bezeichnete, verstand Marx die b e w u ß t e Auseinandersetzung mit der Umwelt zum Zweck des Überlebens und der Reproduktion.*** Im Kapital definierte er sie als einen grundlegend dialektischen Prozeß zwischen Mensch und Natur, da der Mensch durch seine Arbeit nicht nur die Natur, sondern sich selbst verändert.**** Das ist eine wesentliche Erkenntnis für die Auffassung von der Arbeit als für den menschlichen Fortschritt unabdingbar. Durch die Eroberung der Natur entwickelt der Mensch neue Bedürfnisse und Voraussetzungen für sein Überleben und Wohlergehen, schraubt seine Erwartungen hinsichtlich dieser Voraussetzungen in die Höhe und entwickelt gleichzeitig bessere Methoden, um sie zu befriedigen. Doch Marx beschrieb die Arbeit als „unabhängig von jeder spezifischen Form der Geschichte" nur zum Zweck der Einführung dieses Gedankens. Bei historischer Betrachtung seines Themas erkannte er, daß Arbeit unter den Bedingungen der Ausbeutung den humanisierenden Charakter des Arbeitens auf den Kopf stellte, wie er es bereits in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten formuliert hatte: „Die Arbeit produziert Wunderwerke für die Reichen, aber sie produziert Entblößung für den Arbeiter. Sie produziert Paläste, aber Höhlen für den Arbeiter. Sie produziert Schönheit, aber Verkrüppelung für den Arbeiter. Sie ersetzt die Arbeiter durch Maschinen, aber sie wirft einen Teil der

* Das Lied, das anläßlich der Schließung des Stahlwerks in Irlam, wo Edwards beschäftigt war, entstand, erschien in New City Songster. Bd. 12, S. 23. * * MEW, Ergänzungsband 1, S. 574. * * * Ebenda, S. 516; und Das Kapital, Bd. 1, In: MEW, Bd. 23, S. 193. * * * * Ebenda, S. 192.

8*

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Arbeiter zu einer barbarischen Arbeit zurück und macht den anderen Teil zur Maschine. Sie produziert Geist, aber sie produziert Blödsinn, Kretinismus für den Arbeiter."* Es verwundert daher kaum, daß die bürgerlichen Politpkonomen die Arbeit lediglich als Zwang ansahen, als eine Störung des „natürlichen" Zustands des Nichtarbeitens, oder bestenfalls - etwa in der Lohnarbeit - als Mittel, um für die „Freiheit" der Muße zu bezahlen. Ein Vertreter dieser Ansicht war Adam Smith, dessen Theorie der Arbeit Marx in den Grundrissen aufs schärfste angriff: „Du sollst arbeiten im Schweiß deines Angesichts! war Jehovas Fluch, den er Adam mitgab. Und so als Fluch nimmt A. Smith die Arbeit. Die 'Ruhe' erscheint als der adäquate Zustand, als identisch mit 'Freiheit' und 'Glück'."** Marx wußte, daß der Irrtum, die Arbeit ausschließlich als Zwangsarbeit zu betrachten, historisch erklärbar war, da alle Darstellungen der Arbeit in der überlieferten Kultur unter den Bedingungen ausgebeuteter Arbeitskraft entstanden waren, von der Sklavenhaltergesellschaft bis zum Industriekapitalismus. Dennoch betonte er, daß selbst unter den Bedingungen der Entfremdung der wesentliche Charakter der Arbeit darin besteht, Schranken zwischen dem Menschen und seiner Umwelt durch die Schaffung verbesserter Lebensbedingungen niederzureißen. Darin besteht die potentiell befreiende Macht der Arbeit. Eine historisch-materialistische Kulturtheorie muß diesen widersprüchlichen Charakter der Arbeit im Kapitalismus berücksichtigen. Geschieht das nicht, indem eine einseitige Auffassung der Arbeit vertreten wird, muß es zu falschen Schlußfolgerungen kommen, die die Arbeit e n t w e d e r als adelnd betrachten und damit ihren entfremdenden Charakter ignorieren o d e r als nur degradierend und enthumanisierend und damit ihren gesellschaftlich notwendigen und daher progressiven und befreienden Charakter verkennen. Interessanterweise finden sich heutzutage beide Tendenzen bei wohlmeinenden, nicht aus der Arbeiterklasse stammenden Verfassern von Liedern, die von außen über die Industriearbeit schreiben. Einige von Ewan MacColls frühen „Industrieballaden", wie das peinlich slanghafte l'm Champion at Keeping 'em Rolling (Bei mir rollen die Räder) * M E W , Ergänzungsband 1, S. 516. * * M E G A , 2. Abteilung, Bd. 1 : Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. 2. Teil, S. 499.

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Mein Schnaps ist Diesel mit einem Schuß Tee, Die Straßenverkehrsordnung mein ABC . . .* gehören auf unangenehme Weise zur ersten Tendenz. On the Assembly Line (Am Fließband) betont die zweite Tendenz, indem es die Arbeiter als gedanken- und widerstandslose Masse darstellt: Schlag acht ist es jetzt, und da treten wir an, Wie Bienen im Bienenstock fangen wir an. Sie lassen sich betäuben: Im Bierkrug ertränken wir unsre Not; Wir trinken ihn aus und fallen um tot Am Fließband. Selbst die Ruhe folgt dem Fließbandprinzip! Die Arbeiter zeigen nicht nur keinen Sinn für Solidarität, sondern behandeln sich gegenseitig so, wie sie von oben behandelt werden - als Objekte: Und Sheila und Pat und Elisabeth Vertreiben mir immer die Zeit so nett, Spendier ihnen allen ein großes Glas Saft Am Fließband. Selbst der Tod findet „am Fließband" statt, wo die „Särge alle aufgereiht" sind.** In Liedern, die aus der Industrie selbst kommen, findet sich eine solche Darstellung nicht. Denn neben allen anderen Elementen des Klassenbewußtseins, dessen Entwicklung in der Geschichte des industriellen Volkslieds verfolgt werden kann, was allerdings nicht zum Thema der vorliegenden Untersuchung gehört, hat die britische Arbeiterklasse gelernt, zwischen der Arbeit selbst und den Produktionsverhältnissen als eines Hindernisses der Emanzipierung zu unterscheiden. „Es bedarf Zeit und Erfahrung, bevor der Arbeiter die Maschinerie von ihrer kapitalistischen Anwendung unterscheiden und * Ewan MacColl (Hg.): The Shuttle and Cage - Industrial Folk Ballads. London, 1954, S. 7. ** New City Songster, Bd. 14, S. 14-19.

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daher seine Angriffe vom materiellen Produktionsmittel selbst auf dessen gesellschaftliche Exploitationsform übertragen l e r n t . " * Dieses wachsende Bewußtsein Liedern zum Ausdruck,

kommt in jüngeren

industrieproletarischen

in denen sich wieder ein

durchgehender

Unterton von Handwerksstolz findet. D a s geschieht erwartungsgem ä ß in den Spezialberufen und in Industriezweigen, wo bestimmte industrielle und kulturelle Vorbedingungen vorhanden sind, wo die Organisation

des

Arbeitsprozesses

noch immer

der

Kooperation

bedarf, wo sich der einzelne Arbeiter und die Arbeiterschaft als Ganzes in gewissem G r a d e mit einem meßbaren Endprodukt identifizieren können und wo Arbeitsplatz und Wohnort nahe beieinander liegen - unter diesen Bedingungen kann eine positive Beziehung zur Arbeit und der Wunsch, darüber zu singen, gedeihen. D a s

ist

der F a l l beim Bergbau, der bis heute die stärkste Quelle des industrieproletarischen Lieds d a r s t e l l t . * * D i e Schiffsbauindustrie, besonders im eng verflochtenen Clydeside-Gebiet in Glasgow, weist die gleiche Kontinuität der Kultur auf wi'e der Bergbau, wo der Sohn dem V a t e r im Arbeitsprozeß folgt, und im L a u f e des 19. Jahrhunderts wurden ganze Gemeinden und Städte vom Schiffsbau abhängig, nicht nur die Arbeiter und ihre Familien, sondern auch die Dienstleistungsindustrie, der Handel usw. In dieser Beziehung ist Clydeside mit einem Bergarbeiterdorf vergleichbar, das sich um eine einzige Produktionsstätte herum bildet, die Zeche. Hinsichtlich der Arbeitsteilung und Untergliederung

in Paare und

kleine Gruppen

von

Kollegen, wie die „Kumpel" bei den Bergarbeitern, hat der Arbeitsprozeß im Schiffsbau Ähnlichkeit mit der Zeche. D a s

Produkt,

das fertige Schiff, ist von ausschlaggebender Bedeutung, wenn man die Haltung der Schiffsbauer zu ihrer A r b e i t beurteilen will. E i n e r seits ist es ein Riese der Technik der Arbeitsteilung, zu dem jeder einzelne Arbeiter nur einen minimalen und speziellen Bruchteil des Ganzen

beitragen

kann. Andererseits

-

und im Unterschied

zu

anderen Produkten einer so streng geteilten Anzahl von Arbeitsfunktionen wie etwa dem Auto - ist ein fertiges Schiff gleichsam eine Persönlichkeit mit einem Namen. Seine Fertigstellung oder vielmehr HalbfertigsteUung wird öffentlich mit dem Vorgang des Stapellaufs gefeiert. Vielleicht das schönste Nachkriegslied des Handwerksstolzes ist * Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1. In: MEW, Bd. 23, S. 452. * * Vgl. insbesondere die neue, überarbeitete und erweiterte Ausgabe von Lloyds Come AU Ye Bold Miners. London 1978.

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Matt McGinns Ballade von der Q 4*, eine scheinbar simple Lobeshymne auf den langen Kampf mit der Natur, der damit endet, daß Tausende Tonnen Stahl auf dem Wasser schwimmen. Das Lied beginnt sofort mit einem Hinweis auf die Kontinuität, auf die Geschichte des Produktionszweiges und.auf seine Beziehung zur Gemeinschaft. Gleich in der ersten Zeile wird eine Beziehung zur (hauptsächlich lokalen) Zuhörerschaft des Lieds hergestellt, indem die anderen beiden großen „Königinnen"-Überseeschiffe, die „Queen Mary" und die „Queen Elizabeth" (I.), die eine Generation zuvor am Clydeside gebaut wurden, erwähnt werden: Die Mary und die Lizzy, die wurden hier gebaut, Doch fürcht ich, ihresgleichen wird heut nicht mehr geschaut. Auf unserm Silbermeere waren sie die schönsten hier, Gebaut sind sie von Händen von Männern so wie mir. Das „fürcht ich" in der zweiten Zeile läßt eine interessante Haltung den „Königinnen" gegenüber erkennen. Denn es waren Luxusdampfer, und ein Schiffsbauarbeiter vom Clydeside durfte kaum hoffen, als zahlender Passagier darauf zu reisen; doch gleichzeitig stellten sie höchste Anforderungen an das handwerkliche Können aller Gewerke, um makellosen Komfort zu liefern. „Nur das Beste" wurde verlangt für eine fremde Klasse, die herrschende Klasse, aber es w a r das Beste, das Geduld, Erfahrung und Präzision von jedem einzelnen und absolute Koordination von der ganzen Belegschaft forderte. Und natürlich ist ¿ie Bemerkung „fürcht ich" ein klarer Hinweis darauf, daß es ohne die „Königinnen" weniger Arbeitsplätze am Clydeside geben würde. Die letzte Zeile der Strophe vereint Handwerksstolz („die schönsten") mit dem Gefühl der Identifizierung mit der Geschichte des Produktionszweigs und der Gemeinschaft („von Männern so wie mir"). Man beachte auch den nach, drücklichen Gebrauch des Wortes „Hände" so früh im Lied und auf einem betonten Taktteil. (Die Betonung in der Melodie fällt sehr * Das Lied entstand in den sechziger Jahren anläßlich des Stapellaufs des wahrscheinlich letzten großen britischen Überseeschiffs, der „Queen Elizabeth II", und wurde vor allem während des work-in am Upper Clyde 1971, als Matt McGinn es in Solidaritätskonzerten sang, sehr bekannt. D a ein Schiff erst beim Stapellauf getauft wird, hat das Produkt vor dieser Zeremonie eine Auftragsnummer und/oder einen Spitznamen. Für die „Queen Elizabeth II" war das die Bezeichnung „Q 4".

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deutlich auf „gebaut", „Hände", „Männern", „mir".) Das Motiv der Gemeinschaft wird im Kehrreim fortgeführt (und damit natürlich, sich wiederholend, durch das ganze Lied). Im Kehrreim symbolisiert der Fluß Clyde die ständige und gesellschaftlich notwendige Entwicklung der Produktivkräfte, deren Fortschritt auch in Generationen gemessen wird. Die Arbeiter ererben ihr Können, um dann mit historischer Notwendigkeit ihre Lehrmeister zu übertreffen. Auf einfache und direkte lyrische Weise werden die Gedanken der Vererbung und des Fortschritts miteinander vereinigt Die Lehren und erlernten Fähigkeiten der Vergangenheit werden nicht zurückgewiesen, sondern transzendiert; so muß das Bild des Herabsteigens in dem Ausdruck „macht Platz" dialektisch verstanden werden: Drum danke deinem Vater, der schuf hier früh und spät, Doch ist der Clyde ein Wasser, das niemals stillesteht, Ihr seid vorangekommen, doch mehr noch schaffen wir, Macht Platz jetzt für die schönste von allen - die Q 4. Das übrige Lied befaßt sich mit der Herstellung der Q 4 selbst, wobei der Kehrreim immer wieder die Kontinuität des Prozesses durch das Bild des Flusses unterstreicht. Die zweite Strophe handelt vom Vertrag und Entwurf, die dritte nennt die Fachleute, die ihren Beitrag leisten, die vierte beschreibt den Bauvorgang bis zum Stapellauf, und die fünfte stellt das fertige, zur Probefahrt bereite Schiff vor. Wir haben einen Auftrag, und den erfüllen wir, Mit meisterlichem Können und Fleiß schaffen wir hier. Auch unsere Experten, die machen's sich nicht leicht Mit Zirkel und mit Stift, bis der Stapellauf erreicht. Es ist kein Zufall, daß die „Experten" erwähnt werden; im Schiffsbau gab es immer schon weniger Reibung zwischen den Arbeitern und den Gehaltsempfängern in den Büros als anderswo.* Aber gleich* Das ist möglicherweise auf geographische und kulturelle Faktoren zurückzuführen, da in einem Gebiet mit nur einer Industrie die Familienbeziehungen die Grenze zwischen Büro und Werkhalle überschreiten. Eine Sache, die der Vereinigte Betriebsrat der Werftarbeiter vom Upper Clyde während des work-in betonte, waren die gemeinsamen Interessen von Büroangestellten und Produktionsarbeitern.

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zeitig haben sich fünfzig J a h r e K r i s e und hohe Arbeitslosigkeit in der Gegend auf das Sektierertum der G e w e r k e und auf Abgrenzungsstreitigkeiten ausgewirkt. D i e dritte Strophe hat daher eine wichtige politische F u n k t i o n : Im großen Schwung vereint sie alle wichtigen Gewerke auf sehr konkrete Weise - durch das einfache Mittel des Gebrauchs von Namen, die zwar fiktiv, aber in jeder Hinsicht typisch für die Gemeinschaft sind: D a steht der T o m O ' H a r a , das ist unser Monteur, Da

steht der Plattenschneider, K l e m p n e r und Ingenieur,

D a steht jung W i l l i e W i l e y mit seinem Schweißgerät, Bis einer der Experten sagt, d a ß es weitergeht. D e r Produktionsprozeß bis zum Stapellauf endet mit dem M a l e r , der „seine" letzte Schicht aufträgt, was

an das B i l d des jungen

Schweißers mit „seinem" Schweißgerät erinnert und das Gefühl der Identifizierung mit dem Schiff hervorhebt: W i r formen und wir biegen und löten alle Mann, W i r brennen und wir schweißen und schließen D r ä h t e an, U n d trägt zum Schluß der M a l e r seine letzte Farbschicht auf, K o m m t für das schönste Schiff bald der große Stapellauf. Auf

dem

Höhepunkt

des Lieds wird beschrieben, wie sich

die

Schiffsbauer zurücklehnen, um das, was sie hergestellt haben, zu bewundern - die Summe ihres gemeinsamen Könnens und Schweißes. Sie sind Experten und sie wissen es. W i e d e r wird das W o r t „ H a n d " betont: W i r schufteten und schwitzten und schufen unverwandt, V o n Bug bis Heck erkennt ihr des Spezialisten Hand. D a s Schiff ist jetzt gerüstet für F a h r t in Sturm und W i n d , E s ehrt den Clyde und uns, die wir die E r b a u e r sind !* Im Original vereint die abschließende Zeile in vier betonten Silben das Schiff, die Gemeinschaft, die Arbeiter und den Verfasser des * Meines Wissens ist das Lied nie im Druck erschienen. Es ist auf der Schallplatte Tbe Streets of Glasgow. Topic Records 12TS226, Seite B, Spur 5 zu hören. 121

Lieds. Interessanterweise erscheint das Wort „wir" siebenmal in dem kurzen Lied (dazu das „uns" in der letzten Zeile); und fünf Zeilen beginnen mit „wir". Die Ballade von der Q 4 ist der sehr dichte lyrische Ausdruck eines organischen kulturellen Ganzen. Seine Stärke besteht einerseits darin, daß es eine Seite des Schiffsbauvorgangs hervorhebt, andererseits, daß es a l s L i e d funktioniert. Sein Geheimnis liegt in seiner Konkretheit und Einfachheit, aber vor allem in seiner Konzentriertheit. Es fängt Wesentliches in einer Wendung ein, wie etwa in der Schlußzeile oder der Anfangszeile des Kehrreims. Der leise hämmernde Rhythmus des Originals eignet sich gut für einsilbige Verben wie b u r n a n d c u t a n d s h a p e a n d b e n d in diesen Strophen, wonach er zu einem federnden Trott im Kehrreim zurückkehrt. Doch es ist vielleicht allzuleicht, dem euphorischen Reiz der Ballade von der Q 4 zu verfallen. Es muß betont werden, daß es sich um ein außergewöhnlich gutes Lied über ein außergewöhnlich großes Schiff handelt; Fregatten und Bohrtürme sind heute das Brot der Clydeside-Arbeiter. Aber das Lied erhebt keinen Anspruch auf epische Totalität; als Lobgedicht auf die Clydeside-Arbeiter und ihre Arbeit betont es innerhalb des knappen Raums seines Genres fortwährend den Stolz der arbeitenden Menschen in ihrer Rolle als Schöpfer materiellen Wohlstands und Fortschritts. Aus diesem Grund konnte Die Ballade von der Q 4, obwohl sie die Werftarbeit ohne Unfälle, schlechtes Wetter, Streitereien unter den Gewerken oder die geringste Andeutung von Klassenkampf darstellt, während des wichtigen 1971er work-in 23 der Werftarbeiter vom Oberen Clyde zum Kampflied werden, als es um das Recht auf Arbeit und das Existenzrecht der Bewohner von Clydeside ging. Im Gegensatz zur Wark o' the Weavers ist dieser Handwerksstolz alles andere als blind gegenüber der Geschichte. Denn es ist kein Zufall, daß es die Glasgower Werftarbeiter mit ihrer langen Klassenerfahrung und Kampftradition waren, die die Losung vom „Recht auf Arbeit" in die Praxis umsetzen sollten.* Sie erkannten, daß nur * Vgl. Willie Thompson und Finley Hart: The UCS Work-in. London 1972, S. 91: „Ein Buch, das vor einigen Jahren herauskam, stellte in seinem Titel die Frage: Können die Arbeiter die Industrie leiten? Die Antwort, die von der Werft am Upper Clyde kommt, lautet zweifellos: Ja." Die Wichtigkeit des Kampfes für das Recht auf Arbeit bedeutete im Fall der Werft am Upper Clyde einen riesigen Sprung vorwärts in der Entwicklung des Klassenbewußtseins der Betroffenen.

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die Möglichkeit zu arbeiten ihnen die Gelegenheit geben würde, die Erfahrungen, die Organisation, die Disziplin und das Bewußtsein zu entwickeln, die sie in die Lage versetzen würden, die gesellschaftlichen Widersprüche des Kapitalismus zu überwinden. Jede Suche nach den „Elementen einer demokratischen und sozialistischen Kultur" muß den Arbeitsprozeß und seine Widerspiegelung im Lied und in der Literatur zu ihrer wichtigsten Richtschnur machen. Maxim Gorki schrieb, „die neue Kultur muß als Voraussetzung eine Hochachtung vor den arbeitenden Menschen und Hochachtung vor der Arbeit haben". Diesen Gesichtspunkt darf man nicht vergessen, und das umso weniger, als das e i g e n e Kulturerbe des arbeitenden Volkes, die Volkstradition, diese grundsätzliche Wahrheit immer erkannt hat, indem sie im Arbeitsprozeß (selbst in Zeiten der schlimmsten Entfremdung und Ausbeutung) die gesellschaftliche lebensspendende Kraft gesehen hat. So antizipieren diese Lieder eine Zeit, in der die Arbeit von den Zwängen, die ihr ihren dualistischen Charakter verleihen, befreit ist.

4 CHRISTOPHER

HILL

Jobn Bunyan und die englische Revolution I John Bunyans The Pilgrim's Progress26 gehört seit drei Jahrhunderten zu den beliebtesten und verbreitetsten Büchern in englischer Sprache. Die Gründe hierfür sind vielgestaltig. Das Thema der Pilgerfahrt - der Reise durch Gefahren zum Lande der Glückseligkeit - ist archetypisch. Bunyans Stil ist volkstümlich: einfach, geradeaus, und doch lebendig, witzig, oft von unerwarteter Schärfe. Vielleicht zu wenig Aufmerksamkeit hat man bisher dem Umstand zugewandt, wie stark die volkstümlichen Züge in Bunyans Schriften mit der bürgerlichen englischen Revolution zusammenhängen, für die er sich engagierte. Eigentlich gab es zwei Revolutionen im England des 17. Jahrhunderts. 27 In der schließlich erfolgreichen erlitten die absolutistischen Bestrebungen der Stuart-Könige und ihrer Bischöfe 123

die Möglichkeit zu arbeiten ihnen die Gelegenheit geben würde, die Erfahrungen, die Organisation, die Disziplin und das Bewußtsein zu entwickeln, die sie in die Lage versetzen würden, die gesellschaftlichen Widersprüche des Kapitalismus zu überwinden. Jede Suche nach den „Elementen einer demokratischen und sozialistischen Kultur" muß den Arbeitsprozeß und seine Widerspiegelung im Lied und in der Literatur zu ihrer wichtigsten Richtschnur machen. Maxim Gorki schrieb, „die neue Kultur muß als Voraussetzung eine Hochachtung vor den arbeitenden Menschen und Hochachtung vor der Arbeit haben". Diesen Gesichtspunkt darf man nicht vergessen, und das umso weniger, als das e i g e n e Kulturerbe des arbeitenden Volkes, die Volkstradition, diese grundsätzliche Wahrheit immer erkannt hat, indem sie im Arbeitsprozeß (selbst in Zeiten der schlimmsten Entfremdung und Ausbeutung) die gesellschaftliche lebensspendende Kraft gesehen hat. So antizipieren diese Lieder eine Zeit, in der die Arbeit von den Zwängen, die ihr ihren dualistischen Charakter verleihen, befreit ist.

4 CHRISTOPHER

HILL

Jobn Bunyan und die englische Revolution I John Bunyans The Pilgrim's Progress26 gehört seit drei Jahrhunderten zu den beliebtesten und verbreitetsten Büchern in englischer Sprache. Die Gründe hierfür sind vielgestaltig. Das Thema der Pilgerfahrt - der Reise durch Gefahren zum Lande der Glückseligkeit - ist archetypisch. Bunyans Stil ist volkstümlich: einfach, geradeaus, und doch lebendig, witzig, oft von unerwarteter Schärfe. Vielleicht zu wenig Aufmerksamkeit hat man bisher dem Umstand zugewandt, wie stark die volkstümlichen Züge in Bunyans Schriften mit der bürgerlichen englischen Revolution zusammenhängen, für die er sich engagierte. Eigentlich gab es zwei Revolutionen im England des 17. Jahrhunderts. 27 In der schließlich erfolgreichen erlitten die absolutistischen Bestrebungen der Stuart-Könige und ihrer Bischöfe 123

eine Niederlage. Diese Revolution kulminierte im Jahre 1688 mit der Vertreibung von Jakob II., dem letzten Stuart-König. Krone und Kirche wurden dem Parlament untergeordnet (das den ländlichen Neuadel und die Kaufleute repräsentierte) und dem allgemeinen Recht (das den Interessen der besitzenden Klassen angepaßt war). Aber dazwischen hatte es den Bürgerkrieg 1642-1646 gegeben, die Anklage und die Hinrichtung König Karls I., die Proklamierung der englischen Republik, die Abschaffung des Oberhauses. Die zweite, letztlich erfolglose, Revolution setzte nach dem Bürgerkrieg ein. Die einfachen Soldaten der Armee, die das Parlament zum Kampf gegen Karl gerufen hatte, begannen ihre eigenen Hoffnungen und Ziele zu entfalten. Sie und die Londoner Leveller-Partei schlugen vor, das Parlamentswahlrecht neu aufzuteilen und auf alle Männer - oder zumindest fast alle - auszudehnen, das Recht im Interesse der mittleren Schichten zu reformieren, das Eigentum der kleinen Leute ebenso zu sichern wie das der Reichen, die religiöse Freiheit gesetztlich festzulegen, die sich nach dem Zusammenbruch des alten Regimes 1640 etabliert hatte. Es war diese radikale Bewegung, die die Anklage und die Hinrichtung des Königs als Verräter am Volke Englands erzwang und die durch, die außergewöhnliche Freiheit der vierziger und frühen fünfziger Jahre mitreißende Debatten über jedes nur erdenkliche Thema entfesselte. Diese Diskussionen wurden zwar unter religiösem Vorzeichen geführt, doch war ihr Inhalt oft revolutionär. Die Leveller riefen zur politischen Demokratie, die Digger zum Kommunismus, die Ranter zur freien Liebe auf. Andere stellten das allgemeine Recht, die Bibel, die Existenz von Himmel und Hölle, Gott und den Teufel in Frage. Die zweite Revolution brachte man nur mühsam in den fünfziger Jahren unter Kontrolle; und im Jahre 1660 begruben die beunruhigten Reichen - die ehemaligen Royalisten und die ehemaligen Parlamentsanhänger - ihren Streit, um Karl II. auf den Thron seiner Väter zurückzurufen. Nun aber war er untergeordneter Bündnispartner des Landadels, den das Parlament vertrat. Karl hatte im Exil eine Menge gelernt und wollte nicht noch einmal auf Reisen gehen; so akzeptierte er seine Position. Sein Nachfolger Jakob II. - mag er nun dümmer oder ehrficKer gewesen sein, gleich wie man es betrachtet - strebte im Bündnis mit Ludwig XIV. von Frankreich danach, den Absolutismus und Katholizismus zu restaurieren. Er mußte in der „Glorreichen Revolution" von 1688 vertrieben werden, die den Sieg dessen, was ich als erste Revolution bezeichnet habe, absicherte. 124

Bunyan lebte von 1628 bis 1688. Er war vierzehn, als der Bürgerkrieg 1642 ausbrach. Im Alter von sechzehn oder siebzehn wurde er in das Parlamentsheer eingezogen, in dem er zwei oder drei Jahre diente, auch wenn er niemals weiter als in die benachbarte Garnisonsstadt Newport Pagneil gekommen zu sein scheint - ein Zentrum radikaler Debatten in und nach dem Bürgerkrieg. So wurde Bunyan in seinen fruchtbarsten Jahren mit den Diskussionen konfrontiert, die die zweite Revolution begleiteten. 1647, in dem Jahr, als die New Model Army erstmals entscheidend in die Politik eingriff, wurde er entlassen, und 1648 ging er in die Markstadt Bedford. Diese Jahre waren fast ebenso bedeutsam in der Geschichte Bedfords wie der ganzen Nation: Die Kämpfe um die Kontrolle der Gemeindebehörden waren eng verknüpft mit jenen in Westminster. Im Januar 1650, ein Jahr nach der" Hinrichtung Karls, wurde die herrschende Oligarchie von Bedford gestürzt und die städtische Regierung demokratisiert. Die Männer, die in den vierziger Jahren die Oligarchie am schärfsten angegriffen hatten und 1650 die städtische Regierung übernahmen, waren Independenten aus Religion und sich des Zusammenhangs zwischen lokaler und nationaler Politik wohl bewußt. 1653 begrüßten Bunyan und andere Angehörige seiner Kongregation Oliver Cromwells gewaltsame Auflösung des Rumpfes des „Langen Parlaments" 28 und dessen Vorschlag, an seiner Stelle eine nominierte Versammlung einzusetzen. Sie wählten die Vertreter für Bedfordshire in jener Versammlung, die in der Geschichte unter dem Namen „Barebones Parliament" bekannt wurde: Einer von ihnen wurde Mitglied. In diesem Brief verurteilte die Kongregation die Unterdrückung durch den König; so waren sie, wie auch andere Republikaner, wahrscheinlich entsetzt über den 1657 gemachten Vorschlag, Cromwell solle auf den Thron gehoben werden, der durch die Hinrichtung Karls I. acht Jahre zuvor vakant geworden war. Bunyans Kongregation widmete einen Tag dem Bemühen, „Gottes Willen zu erforschen über die Angelegenheiten der Kirche, die Angelegenheiten der Nation und das Werk Gottes in der Welt". Mehrere Angehörige der Kongregation protestierten gemeinsam gegen die vorgeschlagene Neubelebung des Königtums im Namen der „Guten Alten Sache" des Parlaments. Als der Druck radikaler Strömungen in der Armee Cromwell schließlich überzeugte, die Krone abzulehnen, widmete Bunyans Kirche einen Tag dem Lob Gottes für seine Güte, sie aus ihren jüngsten Nöten zu erlösen. 125

Kurz vor der Restauration durch K a r l II. im Jahre 1660 hielt die Kircfce Gebete für die Nation und Gottes Werk a b ; kurz danach betete sie, Gott möge ihre Herrschenden leiten. Danach hüllte sich die Kirche in weises Schweigen zu politischen Dingen. D i e Restauration brachte die Zensur und religiöse Verfolgung wieder, und ebenso die Oligarchie allerorten, 'auch in Bedford. Städte mit eigener Verwaltung wurden als überaus gefährliche Zentren des Republikanismus, der Demokratie und des religiösen Radikalismus angesehen. Im Jahre 1662 wies das Parlament Säuberungen aller Gemeindebehörden an. Mit diesen Säuberungen wurden Bevollmächtigte aus dem lokalen Neuadel betraut, der inzwischen überwiegend royalistisch war - frühere Parlamentsanhänger vergaßen bequemerweise ihre Vergangenheit im Bestreben, dem politischen und religiösen Radikalismus ein E n d e zu bereiten. Diese lokalen Amtspersonen wußten sehr wohl, wer die gefährlichsten Männer in einer Gemeindebehörde waren, und sie beseitigten sogar Männer, die gewillt waren, die Restauration zu akzeptieren. In Bedford wurden zwei Stadträte und fünf Abgeordnete beseitigt, die Oligarchie wurde wiederhergestellt und „solche Personen, die durch die gleichmachenden Gesetze (von 1650) zum Abgeordnetensitz gelangt sind", wurden ausgeschlossen. Eine große Zahl von Peers, Rittern und Männern von Stand wurden zu Abgeordneten gemacht, darunter vier von den fünf Friedensrichtern, die Bunyan 1660 ins Gefängnis gebracht hatten. Bunyan war nicht für ein bestimmtes politisches Vergehen eingekerkert worden, sondern weil er sich weigerte zu versprechen, er würde zu predigen aufhören. Doch wir können im England des 17. Jahrhunderts die Religion nicht von der Politik trennen. Vor 1640 und nach 1660 wurden alle Männer und Frauen Englands zu Angehörigen der (anglikanischen) Staatskirche erklärt, ob sie wollten oder nicht. Nichtteilnahme am sonntäglichen Gottesdienst in der Kirche der eigenen Gemeinde war ein strafbares Vergehen. Kirchliche Gerichte überwachten die Moral der niederen Klassen, und alle Engländer waren durch Gesetz gezwungen, den Zehnten zu zahlen (ein Zehntel ihres Einkommens), um einen Gemeindegeistlichen zu unterhalten, bei dessen Auswahl sie - in 9 9 , 9 % aller Fälle - überhaupt kein Mitspracherecht hatten. Unter solchen Umständen brach ein jeder, der sich aus Gewissensgründen nicht in der L a g e fühlte, am Gottesdienst der anglikanischen Kirche teilzunehmen, automatisch das Gesetz. D i e Teilnahme an einer separatistischen Versammlung war eine ungesetzliche Handlung. 126

Die Kirche kontrollierte Bildungswesen und Zensur. Der Geistliche einer jeden Gemeinde steckte gewöhnlich mit dem Zehnten sozusagen in der Tasche des örtlichen Gutsherren, durch dessen Vorschlag er wahrscheinlich erst in den Genuß dieser Pfründe gelangt war. D a obrigkeitsergeben in Oxford oder Cambridge ausgebildet, würde er keine gefährlichen Ideen im Kopfe haben. Dieses System war 1640 zusammengebrochen, als sich das, was wir kaum schon als religiöse Toleranz bezeichnen können, durchgesetzt "hatte. Jede beliebige Gruppe von Männern und/oder Frauen konnte sich zusammentun und einen Vorsitzenden wählen - oft einen sogenannten „Handwerker-Prediger", einen Mann, der sechs Tage in der Woche arbeitete. Unter seiner Leitung führten sie religiöse Diskussionen, die oft sehr weit von dem abschweiften, was wir im engeren Sinne des Wortes als „religiös" betrachten würden - in ökonomische, moralische und politische Themen, wie wir dies bei Bunyans Versammlung sahen, die 1657 das Königtum diskutierte. Sie waren der Kontrolle derer, die gesellschaftlich über ihnen standen, entronnen. Auch die Zensur brach zusammen, und es gab in den vierziger und fünfziger Jahren eine Flut aufrührerischer Literatur, die weder vorher noch nach 1660 hätte veröffentlicht werden können. Auch in der Armee gärten Diskussionen, sowohl in London als auch in Bedfordshire. In der New Model Army, in der besonders den Befähigten eine Karriere offenstand, erwiesen sich Männer mit radikalen Ideen als engagierteste Gegner Karls I. und erlangten Führungspositionen. So herrschte für fünfzehn bis zwanzig Jahre Versammlungs- und Diskussionsfreiheit („religiöse Toleranz"). Bischöfe wurden abgeschafft, und kirchliche Gerichte arbeiteten nicht mehr. Im Jahre 1650 erkannte das Parlament an, daß es nicht mehr möglich war, Männer und Frauen durch das Gesetz für Nichtbesuch ihrer Gemeindekirchen mit Strafen zu belegen. „Handwerker-Prediger" wie der Kesselschmied John Bunyan predigten frei. Viele der Ideen, die sich in dieser kurzen Zwischenzeit der Freiheit verbreiteten, versetzten die traditionellen Herrscher des Landes in Schrecken - den Neuadel, dessen Macht von der Armee usurpiert worden war, und die Kaufleute-Oligarchien, die in vielen anderen Städten ebenso wie in Bedford entmachtet worden waren. Wahlrecht für alle Männer, Kommunismus, Beseitigung vom Zehnten und der Staatskirche, Wahl aller örtlichen Beamten - all diese Fragen wurden aufgeworfen. Zwei absolut sichere Feststallungen kann man über jedes Parlament im 17. Jahrhundert machen, das in traditionel127

ler Wahl gewählt wurde, d. h., das den Neuadel und die KaufleuteOligarchien repräsentierte. Erstens wird es gegen religiöse Toleranz sein. Zweitens wird es gegen jede starke Zentralgewalt sein, welche seine Kontrolle der lokalen Regierungen umstoßen könnte, insbesondere, wenn diese Zentralgewalt durch ein radikales stehendes Heer gestützt wird. Karl II. und die Bischöfe kamen 1660 zurück - als Folge der Wiedervereinigung des royalistischen und des parlamentarischen Adels gegen das Gespenst einer noch radikaleren Revolution, das durch ihre Zwietracht im Bürgerkrieg aufgetaucht war. Die Friedensrichter, die Bunyan 1660 ins Gefängnis schickten, machten ihre Ansicht vom Ziel der Restauration deutlich, einfache Männer wie ihn vom Predigen abzuhalten. Hätte er sich bereit erklärt, in aller Stille zu seinem Beruf als Kesselschmied zurückzukehren, hätte man ihn nicht ins Gefängnis geworfen. Wir brauchen uns Bunyan nicht als einen besonders politischen Menschen vorzustellen - das war er nicht - , um zu begreifen, daß ihn die Restauration schmerzte und daß er sehnsüchtig auf die revolutionären Jahrzehnte zurückschaute. Seine Schriften machen dies deutlich. Wir müssen daran denken, daß 1660 eine strikte Zensur wiedereingeführt wurde, so daß Opposition gegen die Regierung in Kirche oder Senat nicht frei zum Ausdruck gebracht werden konnte. Wir müssen auch beachten, daß die Machtbesitzenden nach 1660 dazu neigten, hartnäckigen Nonkonformismus mit Aufrührerei und Rebellion gleichzusetzen: Eben deshalb wurden Männer wie Bunyan eingekerkert. 1669 beschuldigte ein Renegat unter den vormaligen Mitgliedern Bunyans Kirche, sie habe ihre Hände mit dem Blute des hingerichteten Karl I. befleckt. Bunyan und seinesgleichen mußten viele Anschuldigungen ertragen. So können wir in Bunyans Schriften keine unverhüllten und direkten politischen Äußerungen erwarten, doch können wir eine Fülle von Andeutungen zwischen den Zeilen lesen. Man denke nur an die Worte des Lieds in The Pilgrim's Progress: „Er, der sich voll Kühnheit wendet /Gegen alles Unheil . . . " . Bunyan war, wie auch John Milton, bemüht, den verbliebenen Getreuen Mut zuzusprechen, standfest zu bleiben gegen das Unheil, das ihre Sache vernichtet hatte, die sie für die Sache Gottes gehalten hatten. Wie Milton kämpfte auch Bunyan sehr ernsthaft mit sich selbst, ob es rechtens sei, der Verfolgung zu entfliehen. Er floh selbst nicht, doch er weigerte sich auch, jene zu verurteilen, die es taten. 128

Bunyans The Holy War (1682; Der Heilige Krieg) ist eine Allegorie über die seelischen Konflikte des Menschen. Doch erscheint sie in der Form einer Geschichte des Schicksals von Mansoul, eines Gemeinwesens und einer Marktstadt (wie Bedford), die aus Mangel an Eifer von Emmanuel abfiel und in die Macht von Diabolus geriet. Die Haupthelfer von Diabolus waren Lords und reiche Bürger, obwohl es auch Vagabunden unter den Diabolianern gab. (Fast alle zeitgenössischen Beobachter sind sich in dieser sozialen Analyse der beiden Seiten im Bürgerkrieg einig: Die mittleren Schichten waren für das Parlament, die Aristokratie, die Besitzenden und „der Pöbel" für den König.) Als Diabolus die Stadt eroberte, säuberte er die Stadtverwaltung, so wie die Royalisten Bedford 1662 säuberten; „Rotröcke und Schwarzröcke", Soldaten und Geistliche, durchstreiften als Polizei die Stadt. Denunzianten spielten in Mansoul eine ähnliche Rolle wie im England Karls II. Bunyans Klassenbewußtsein kommt in indirekter Form, aber eindeutig zum Ausdruck. In The Pilgrim's Progress waren Worldly Wiseman, Formalist und Hypocrisy alle Herren von Rang, und ebenso Giant Pope und Antichrist. Madam Bubble, „die Gebieterin der Welt", war eine Frau aus reicher Familie. Frau Wanton war „eine bewundernswert wohlerzogene Frau von Stand". Herr ByEnds war ein „Gentleman von hoher Qualität", der mit Lord Turnabout und Lord Timeserver verwandt und mit Lady Fainings Tochter verheiratet war. Faithful wurde vor Lord Hate-Good gebracht, weil er mehrere Edelleute und „die meisten vornehmen Leute unserer Stadt" verleumdet hatte. („Sünden sind Herren, und zwar große", fügt die Randbemerkung hinzu.) Der Held von The Life and Deatb of Mr. Badman (1680; Mr. Quaats Leben und Sterben) war „ein Mann von Rang". „Kains Brut" waren „Lords und Herrscher", während „Abel und seine Nachkommenschaft unter der Unterdrückung schmachteten". In The Holy War verfaßte Bunyan eine lange Liste der diabolianischen Edelleute und feinen Herren. Herr Lustings war „ein Mann von hoher Geburt". Die Teufel verbeugten sich und machten Kratzfüße voreinander in höchst wohlerzogener Manier. Doch die Oberhäupter der Stadt Mansoul waren vom Volke abhängig. Sie wurden schwach, wenn das Volk sie nicht unterstützte und ermutigte. Dann aber wurden sie „wie so viele Samsons". Bunyan wandte sich gegen „reiche gottlose Gutsherren", die die religiösen Radikalen unter ihren Pächtern eher „bedrohten oder vertrieben oder ihnen das Dach über dem Kopfe niederrissen, als daß sie dar9

Southall/Magistec

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auf verzichteten, solche Pächter loszuwerden". Der Mann, der nach Reichtümern strebte, war der Mann mit der Mistharke, „der nirgendwo andershin als nach unten schauen konnte". All dies ist nur ein Ausdruck der revolutionären Erfahrungen Bunyans. In Newport Pagnell war er vielleicht unter den Einfluß von Captain Paul Hobson geraten, einem radikalen Baptisten, der die Doktrin der ewigen Qual abstritt und von seinem befehlshabenden Offizier der Blasphemie und als ein Gegner der Dreieinigkeitslehre beschuldigt wurde. 1650 hatte es Kommunistenkolonien der Diggers in Dunstable und Wellingborough gegeben, beide weniger als 20 Meilen von Bedford entfernt, und wahrscheinlich eine weitere in HusBands Bosworth ein paar Meilen weiter in Leicestershire. Emissäre der Digger besuchten im April 1650 Bedford auf einer Propagandamission auf ihrem Wege von Dunstable nach Newport Pagnell. Auch von einer Erhebung der Levellers in Bedfordshire 1653 ist die Rede, doch konnte ich keine Einzelheiten finden. Bunyans Verbündete in den fünfziger Jahren waren Radikale. Henry Denne verteidigte ihn 1650. („Ihr scheint dem Kesselschmied dafür zu zürnen, daß er sich um die Ausbesserung von Seelen ebenso bemüht wie um die von Kesseln und Tiegeln.") Der ehemalige Leveller Denne, Führer der Meuterei von Burford 1649, erzürnte seine Mitkämpfer dadurch, daß er nach der Niederlage widerrief. William Dell lud Bunyan ein, in seiner Kirche in Yelden zu predigen; er sagte, „er würde lieber einen einfachen Mann vom Lande in der Kirche sprechen hören, der geradewegs vom Pfluge gekommen war, als den besten orthodoxen Pfarrer im Lande". Dell war ein scharfer radikaler Kritiker der Universitäten und ein Befürworter einer breiten Entfaltung freier Bildungsmöglichkeiten für die unteren Klassen. Während der Restauration, als Bunyan ins Gefängnis kam, verlor Dell seine Pfründe und seine Lehrstelle am Gonville-and-Caius-College. Bunyan hatte gewiß die millenarische Begeisterung derer geteilt, die in den vierziger und frühen fünfziger Jahren glaubten, das Reich Christi werde nun bald auf der Erde errichtet. „Der Tag des Jüngsten Gerichts steht bevor", erklärte Bunyan noch 1658. In seinem ersten veröffentlichten Werk hatte er zwei Jahre zuvor die Quäker angegriffen, da sie die Lehre der Wiederkehr Jesu Christi verspotteten. Es gibt jedoch keinen Hinweis darauf, daß er jemals den Plan der Fifth Monarchists akzeptierte, durch Errichtung einer Diktatur der Gottesfürchtigen die Wiederkehr Christi und eine bessere Gesellschaft zu beschleunigen; nach 1660 lehnte er diese Idee ausdrück130

lieh ab. „Der Schaden, den jene durch ihre Kühnheit der Kirche Gottes zugefügt haben, wird nie wieder gutzumachen sein." Bunyan war klug genug, nicht klar und offen zu sagen, daß er die Restauration von 1660 als eine Katastrophe für die Sache Gottes betrachtete. Aber er muß es gedacht haben. Wiederum wie Milton, griff er die Monarchie indirekt an (da ein direkter Angriff unmöglich war), indem er sich auf den biblischen Nimrod bezog - „den ersten, der in dieser neuen Welt nach absoluter Monarchie strebte". Nimrod, so betonte Bunyan, verabscheute Gleichheit und verfolgte Andersdenkende, setzte Götzenkult und Aberglauben durch - genau wie es (nach Bunyans Auffassung) Karl II. tat. Für jene früheren Puritaner, die Kompromisse schlössen oder sogar aus einem Wechsel der Seiten während der Restauration Gewinn zogen, hatte Bunyan nichts als Verachtung übrig. „Kanntest du nicht", so fragt Faithful, „vor zehn Jahren einen gewissen Temporary bei euch, der d a m a l s in der Religion vorwärts strebte?" (Hervorhebung - C. H.). „Es ist ein trauriger Anblick", schrieb Bunyan 1684, „zu sehen, wie ein Mann, der für seine Rechtschaffenheit litt, wieder zu seinem früheren Besitz und Stand gelangt, während die Rechtschaffenheit, für die er litt, hinter Schloß und Riegel sitzt." Herrn By-Ends' Urgroßvater war ein Fährmann, „der in die eine Richtung schaute und in die andere ruderte". Er selbst „erlangte das meiste meines Besitzes durch dieselbe Tätigkeit". By-Ends, wir erinneri) uns, war verwandt mit Lord Turnabout und Lord Timeserver. Bunyan geißelte jene formalen Christen, die ihre Religion nur sonntags zur Schau tragen. „Wir sind stets am eifrigsten", so schrieb er, „wenn die Religion in Silberschuhen geht; wir zeigen uns gern damit auf der Straße, wenn die Sonne scheint und die Leute Beifall spenden." Immer wieder kam Bunyan auf die Heuchelei der wohlhabenden Frommen zu sprechen, die „die Armen bedrängen und ihnen ihren Anteil abnehmen, um damit ihren eigenen Stolz und ihre Eitelkeit zu nähren" und gleichzeitig vermeiden sie den Eindruck, etwas Besonders zu sein. Heuchelei, so empfand er wie Milton und Winstanley29, „ist die größte Sünde, zu der ein armer Erdenwurm gelangen kann"; doch im England der Restauration benutzten viele die Religion „als einen Deckmantel". In Tbe Holy War verdankte Mansoul seine Niederlage der Tatsache, daß seine Bürger sich den bourgeoisen Lastern ergaben, auch wenn sie dies heuchlerisch leugneten. Herr Covetousness zum Beispiel „deckt sich selbst mit dem Namen Good9*

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Husbandry". Belial argumentiert, der Weg, Mansoul herabzusetzen, sei, „sie satt und reich werden zu lassen". Die Diabolianer dringen als Händler verkleidet in die Stadt ein und schmeicheln sich dadurch ein, daß sie billig verkaufen. Der Jahrmarkt der Eitelkeit in The Pilgritn's Progress repräsentiert auch die Welt des aufsteigenden Kapitalismus, in der alles gekauft und verkauft werden kann. Doch während die Pilger dort Fremde waren, fühlte sich Herr Badman in jener Welt zu Hause. Es muß hervorgehoben werden, daß Bunyan kein gegen alle Freuden gewandter Puritaner war. (Die meisten Puritaner des 17. Jahrhunderts waren das nicht, doch das steht auf einem anderen Blatt.) Die Pilger erfreuen sich an Musik und Tanz. Sie trinken Wein und Schnaps. Ein Mann, der aus Prinzip Antialkoholiker ist, geht seinen eigenen Launen nach und nicht dem Geist Gottes, sagte Bunyan. Ein Gedicht in A Book for Boys and Girls (Ein Buch für Jungen und Mädchen) verwendet ein kompliziertes Bild, das etwas andeutet, was viele für den sündhaften Zeitvertreib des Glockenläutens hielten. In Grace Abounding (Gnade im Überfluß) wendet sich Bunyan gegen übermäßige Ängstlichkeit und gleicht auch hierin wieder Milton. Der Titel Grace Abounding mag sich aus einem Madrigal von John Dowland 3 0 herleiten: Where sin, sore wounding, daily .doth oppress me, Then grace abounding freely doth redress me. (Wo Sünde schwere Wunden schlägt und täglich mich bedrückt, Schafft überreiche Gnade mir wieder Trost.) Es jst ein interessanter Zufall, daß der Band, in welchem dieses Lied abgedruckt war, den Titel A Pilgrim's Solace (Der Trost der Pilgers) trug. D a ß die Vagabunden in The Holy War Diabolianer waren, erinnert uns an Bunyans soziale Position innerhalb der mittleren Schichten. Er übertrieb, wenn er behauptete, seine Eltern gehörten zu den „elendsten und verachtetsten Familien im Lande". Die Bunyans waren seit Generationen Eigentümer ihrer Behausung. Sie schrieben Testamente, was die wirklich Armen nicht taten. Doch befand sich seine Familie im Abstieg: Im 16. Jahrhundert waren sie gezwungen gewesen, Land zu verkaufen. Jack Lindsay meinte, dies sei der Grund für Bunyans Entsetzen in Grace Abounding bei dem Gedanken, sein Geburtsrecht zu verkaufen, „Christus zu verkaufen" 31 . 132

Seine Frau bezeichnete ihn 1661 als „einen Kesselflicker und armen Mann": folglich, so dachte sie, war er „verachtet, und ihm kann kein Recht zuteil werden". Bunyans Standpunkt war der eines kleinen Familienoberhauptes. „Ein Mann, der seine Familie gut führt, hat eine Befähigung, wie sie einem Pfarrer oder Diakon ziemt", schrieb er. Doch er ist ein Familenoberhaupt, das sich der verwirrenden Welt des aufsteigenden Kapitalismus gegenübersieht. The Life and Death of Mr. Badmart ist unter anderem ein Handbuch der Kaufmannsmoral und ein Leitfaden für die Kleinproduzenten in einer Gesellschaft, in der die bisher geltenden Normen zerfallen. Bunyan teilte eine sehr traditionelle Abneigung des Kleinproduzenten gegen Zwischenhändler, Wucherer und Getreidehamsterer. Seine Kirche wandte sich mit großer Strenge gegen jene ihrer Mitglieder, die ihre Schulden nicht zahlten, und Bunyan selbst riet den Diakonen, die Gaben der Kirche zu nutzen, um den Fleiß zu fördern und dem Müßiggang entgegenzuwirken. Bunyans Theologie ist, wie die der meisten Kalvinisten, in hohem Grade individualistisch. The Pilgrim's Progress ist ein Beispiel dafür, was man „die Robinson-Crusoe-Situation" genannt hat, in welcher der Held oder die Heldin von der Gesellschaft isoliert wird, um allein mit Gott zu ringen. In John Miltons Paradise Lost (1667; Das verlorene Paradies) vollzog sich das Drama, das die Zukunft der Menschheit entschied, aber auch den Kampf in jedem Menschen vorwegnahm, in einem noch urgesellschaftlichen Garten. Die Dame in Miltons Cotnus (1634) ist ähnlich isoliert. Der Held in Paradise Regained (1671, Das wiedergewonnene Paradies) wird allein in der Wildnis in Versuchung geführt. In Samson Agonistes (1671, Samson der Kämpfer) mußte Samson, durch Blindheit und Gefangenschaft isoliert, seine Versöhnung mit Gott allein zuwegebringen und vernichtete schließlich auch allein die Philister im Tempel. Bunyans Christian verließ Frau und Kinder im Streben nach Erlösung. Gulliver war von seinesgleichen isoliert, und Richardsons Clarissa Harlowe 32 wurde zuerst von ihrer Familie getrennt und dann von jeglicher Möglichkeit, in ihrer Gesellschaft zu leben. II Ich habe mit einiger Ausführlichkeit dargestellt, auf welche Weise Bunyan durch die radikalen Bewegungen des Interregnums33 beeinflußt wurde, da ich glaube, daß dies bisher unzureichend hervorge133

hoben worden ist. Doch an bestimmten Punkten trennte sich Bunyan von den extremen Radikalen. Seine ersten Pamphlete richteten sich gegen die Quäker. Der Grund für diese Abneigung war, daß er keinen wirklichen Unterschied zwischen der Quäkerlehre vom inneren Licht und den antinomistischen Ideen der Ranter sah, die lehrten, daß es so etwas wie Sünde nicht gebe, daß die zehn Gebote abgeschafft seien und daß man Gott folge, wenn man seinen eigenen Instinkten folge. Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, das Bild des Quäkertums des 18. Jahrhunderts auf die 1650er Jahre zu übertra'gen - das Bild der Nüchternen, Graugekleideten, fast bis zum Übermaß Tugendhaften - , daß es schwerfällt, einen Mann ernst zu nehmen, der sie mit den unmoralischen Rantern vermischt. Doch - wie Bunyans erster Herausgeber scharfsinnig bemerkte - . waren die Quäker in den 1650er Jahren noch keine organisierte Sekte: Sie waren eine amorphe Masse - dafür von ihren Gegnern auch gehalten. Die Worte „Roter" oder „Marxist" wären ein Äquivalent aus heutiger Zeit. Bunyan stand in seiner Gleichsetzung von Rantern und Quäkern nicht allein, und je mehr wir das Verhalten der frühen Quäker unvoreingenommen betrachten, um so klarer wird es, daß sie sich erheblich von ihren Nachfolgern unterschieden. Pazifismus und politische Enthaltsamkeit wurden der Sekte erst lange nach 1660 unterstellt. 1659 boten einige führende Quäker der republikanischen Regierung ihre Mitarbeit an; andere griffen zu den Waffen, um die Republik zu verteidigen. Sie unterbrachen Gottesdienste in den Kirchen. Viele Quäker erlaubten sich symbolische Aktionen - zum Beispiel gingen sie nackt, bloß mit einem Lendenschurz anstandshalber um die Körpermitte geschlungen - was ihre Historiker des 18. Jahrhunderts nur allzu gern vergaßen. Bunyan schrieb den Quäkern die Überzeugungen zu, daß jedermann den Geist Christi in sich trage und daß Christi Kreuzigung und Wiederauferstehung nur ein Gleichnis seien für den Prozeß der Bekehrung im Inneren des Gläubigen. Eine Wiederkehr Christi wird es nicht geben. In Grace Abounding erzählt uns Bunyan, daß er versucht gewesen sei, sich gegen das Jüngste Gericht und die Auferstehung des Fleisches zu wenden - eine typische Haltung der Ranter, obwohl Bunyan sie auch den Quäkern zuschrieb. Wenn Christus nur in den Gläubigen existierte, dann war alles Lehren und Predigen überflüssig. Sowohl die Ranter als auch die Quäker lehnten Taufe und heilige Kommunion ab. „Die Ranter bekennen, sie seien ohne Sünde; und wie weit sind die Quäker von 134

dieser Ansicht entfernt?" fragte Bunyan 1658. „Eben jene Meinungen, die die Quäker heutigentags vertreten, sind dieselben, die die Ranter seit langem vertraten. Nur wurden sie im Bierhause zu abgedroschenen Phrasen, und die Quäker haben ihnen wieder neuen Glanz verliehen durch äußerliche rechtliche Heiligkeit und Rechtschaffenheit." Quäker und Ranter entstammen der gleichen Welt radikaler Ideen am Ende der vierziger und zu Beginn der fünfziger Jahre. Ohne alle ihre Auffassungen den Quäkern zuschreiben zu wollen, sollten wir doch stets an dieses radikale Milieu denken, wenn wir Bunyans geistige Entwicklung einschätzen. Betrachten wir nur eine Passage aus Mr. Bodman, von der Bunyan sagt, daß sie sich voll auf persönliche Beobachtung stützt: „Ich selbst hörte (einen Mann) sagen, als er ein Mädchen versuchte, Unkeuschheit mit ihm zu begehen - das war in Olivers Tagen - , daß sie, wenn sie ein Kind bekommen sollte . . . 'Sage, wenn du vor den Richter kommst, daß du ein Kind vom Heiligen Geist trägst.'" Es klingt doch recht unwahrscheinlich, daß Bunyan ein solches Gespräch abgelauscht haben soll. Wann könnte das gewesen sein? Er, so erzählt er uns, war zu jener Zeit „arm und jung". Die Antwort findet sich in einer Beschreibung der Garnison von Newport Pagneil zu der Zeit, als Bunyan dort stationiert war. „Hier können Frauen von Kindern entbunden werden, ohne Männer zu kennen (wenn sie sich nicht selbst Lügen strafen), und Männer und Frauen können nur auf ihr Wort hin zusammen sein und darauf beharren, es sei kein Ehebruch." Diese Auffassung wurde „Sektierern" zugeschrieben, „die sowohl unsere Kirche als auch unsere Pfarrer ablehnen". Grace Abounding belegt noch mehrfach Bunyans Bekanntschaft, ja sogar Freundschaft mit den Rantern nahestehenden Männern, entweder am Ende der vierziger oder zu Beginn der fünfziger Jahre. Er fragte sich, „ob es in Wahrheit einen Gott oder Christus gab oder nicht? Und ob die Heilige Schrift nicht vielmehr eine Fabel und ein überaus geschickt erzähltes Märchen sei? . . . von einigen Politikern in der Absicht geschrieben, arme und unwissende Leute dazu zu bringen, daß sie sich einer Religion und Regierung unterwerfen." „Wie kann man wissen, daß die Türken nicht eine ebenso gute Schrift hatten, um zu beweisen, daß ihr Mohammed der Erlöser war?" Vielen Zehntausenden fehlte das Wissen über den rechten Weg zum Himmel, überlegte Bunyan: wie nun, wenn all unser Glaube, wenn Christus und die Bibel „auch bloß ein Hirngespinst sein sollten?" Zu einer Zeit dachte er, die Bibel wäre nur „ein toter Buchstabe, 135

etwas Druckerschwärze und Papier", und Paulus vielleicht ein Täuscher. Bunyan war versucht zu glauben, daß es so etwas wie das Jüngste Gericht nicht gäbe und daß die Sünde keine gar so schlimme Sache sei. Als sei all dies noch nicht genug, hatte er viele noch schlimmere Gedanken, „welche ich nunmehr nicht mehr äußern darf oder zu äußern wage". Herr Badman fragt, wie wir denn wissen, daß die Bibel das Wort Gottes ist; die Heilige Schrift steckt voller Widersprüche und ist „die Ursache allen Zwists und aller Zwietracht im Lande". Solche Auffassungen gehörten zu einem Ranter wie Thomas Tany; der Quäker Samuel Fisher schrieb einen großen Band, um zu beweisen, daß die Bibel nicht das Wort Gottes sei. Die Ranter waren aus Prinzip große Flucher: Abiezer Coppe enthielt sich siebzehn Jahre lang des Fluchens, dann aber brachte er seine Befreiung von diesem Tabu zum Ausdruck, indem er eine ganze Stunde ununterbrochen fluchte - von der Kanzel. Einer von Bunyans besten Freunden in Bedford vor seiner Bekehrung war „eine überaus verdorbene Kreatur, was Verwünschungen, Fluchen und Hurerei anbelangt", und Bunyan selbst war zu jener Zeit auch ein großer Flucher. Ohne Zweifel stand Bunyan zu Beginn der fünfziger Jahre unter dem Einfluß der Ranter. Ein anderer seiner nahen Freunde „wurde zu einem ganz teuflischen Ranter und gab sich aller Art von Unflätigkeit hin, leugnete die Existenz Gottes oder der Engel." Bunyan berichtet uns, daß einige Ranter-Bücher von „manchen alten Glaubensbekennern hoch geschätzt wurden". Solche Männer, die von der Ranter-Lehre überzeugt waren, verurteilten Bunyan als „der äußeren Werkheiligkeit ergeben und düster"; sie „gaben vor, nur sie hätten die Vollkommenheit erreicht, zu tun, was sie wollten, ohne zu sündigen". Diese Idee, die der Ranter Lawrence Clarkson propagierte, fand Bunyan sehr verführerisch. „Ich war schließlich nur ein junger Mann", sagt er uns ausdrücklich. Wenn es kein Jüngstes Gericht und keine Wiederauferstehung gab, dann „war die Sünde keine so schlimme Sache"; insbesondere diese Schlußfolgerung, die „Atheisten und Ranter gebrauchen, um sich selbst damit zu helfen", reizte Bunyan. „Es war ebensogut, in ein Hurenhaus zu gehen als sich eine Predigt anzuhören", sagt Atheismus in The Holy War. Es muß auch ein Ranter oder den Rantern nahestehender Mann gewesen sein, von dem Bunyan den Ausspruch über den heiligen Ehestand übernahm, den er Mr. Quaats in den Mund legt: „Wer würde sich je eine eigene Kuh halten, der ein Quart Milch für einen Penny haben kann?" 136

Bunyans Antwort an solche Spötter, an die Ranter und Quäker, war schließlich orthodox: ihnen fehlte ein Gespür für Sünde. „Wenn all die Quäker und Ranter der Welt nur unter dem Schuldgefühl eines einzigen sündhaften Gedankens stünden", erklärte er, „so würden sie wie Kain aufschreien: Meine Strafe ist mehr, als ich ertragen kann." In Tbe Pilgrim's Progress ist es die Gestalt „Unwissenheit", die glaubt, alle moralischen Probleme seien gelöst, wenn man sagt: „Mein Herz sagt es mir so." Ein interessanter Aspekt des gärend religiösen Denkens in den vierziger und fünfziger Jahren war die weitverbreitete Ablehnung der kalvinistischen Prädestinationslehre - das Aufkommen der Idee, daß alle Menschen gerettet werden könnten, daß etwas vom Göttlichen in uns allen steckt. Digger, Ranter und Quäker predigten dies, und etliche von ihnen glaubten gewiß, daß die Sünde nicht existiere - daß es den Menschen freistünde, nach dem Gebot ihres Gewissens (dem Geist Christi in allen Menschen) zu handeln. Dies entsetzte Bunyan; er glaubte, die „meisten armen Seelen auf der Welt" würden zur Hölle gehen. Seine eigene Bekehrung war die Auswirkung eines starken Empfindens seiner eigenen Sündhaftigkeit und Unfähigkeit, sich selbst zu retten. Den Zeitpunkt von Bunyans Bekehrung und Abwendung von den Rantern festzustellen ist schwer. Es muß wahrscheinlich irgendwann zwischen 1650 und 1653 gewesen sein, im Alter zwischen einundzwanzig und fünfundzwanzig Jahren, wahrscheinlich eher früher als später. Es kam als eine plötzliche visionäre Erleuchtung. Das waren die Jahre, als die Radikalen wieder unterdrückt wurden und die Reichen die Staatskirche und die Zensur wieder errichteten. Bunyans Rückbesinnung zum Kalvinismus erinnert an das ergreifende Bild von dem Manne mit der Bürde auf dem Rücken, derer er sich bei allen Mühen sein Leben hindurch nicht entledigen kann. Sie führt aber auch zu dem, was wir wohl oder übel als die weniger ansprechenden Züge in Bunyans Denken zur Kenntnis nehmen müssen. Gott, so sagt er uns, „wird die Sünder in den Flammen der Hölle brennen lassen . . . mit Freude . . . , um sich zu erleichtern und seine Gerechtigkeit zu befriedigen". Die Hölle läßt menschliche Grausamkeit auf der Erde relativ unbedeutend erscheinen: was Bunyan „jene geringen Strafen unter den Menschen, wie In-den-StockLegen, Auspeitschen oder Handbrennen" nennt, „erweist sich oft als nutzbringend für jene, die damit gestraft werden." Radikale Gesetzesreformer, die für die Beseitigung solcher grausamen Strafen eingetreten waren, können das wohl kaum mit Freude gelesen haben. 137

Bunyan war ein wahrer Prediger des Höllenfeuers. Er wollte, „daß die Seele ohne Entschuldigung verbleibe, daß du herabgerissen werdest in die Strafe des Höllenfeuers, des verschlingenden Feuers, des Sees von Feuer, ewigem, immerwährendem Feuer. O daß du schwimmst und dich wälzest auf und nieder in den Flammen des gewaltigen Feuerofens." „Kannst du denn glauben, daß solch ein Schmutzhaufen der Sünde wie du je zum Himmel erhoben werdest?" E r mahnte Eltern, „ihren Kindern zu Zeiten zu sagen, was für verworfene Geschöpfe sie seien, . . . ihnen vom Höllenfeuer und ihren Sünden, von der Verdammnis und der Erlösung zu erzählen". Christian verließ Weib und Kind und hielt sich die Ohren zu, um ihre Schreie nicht zu hören, als er auf die Suche nach seiner eigenen Erlösung rannte. Bunyan verteidigt dies in einem späteren Traktat: „Deine Seele ist deine eigene Seele . . . ; du sollst nicht m e i n e Seele durch d e i n e Trägheit verlieren." Wir müssen dies alles in historischer Perspektive sehen. Nach der traditionellen mittelalterlichen Auffassung, die der Kalvinismus übernahm, war die Masse der Menschheit unheilbar sündig und konnte nur durch die stellvertretenden Tugenden eines göttlichen Erlösers gerettet werden. Dies spiegelt eine Welt wider, in welcher der Mensch der Gnade anscheinend blinder Kräfte ausgeliefert war dem Wetter der Ernte, der Pest, Kriegen. Es gab keine Anästhetika, und so war der Schmerz, eine alltägliche Erscheinung. Nur ein Idealist wie Francis Bacon vermochte zu erkennen, daß die Menschen ihre eigenen Geschicke lenken könnten. Bacon hatte die neuen Möglichkeiten erfaßt, die sich aus der Öffnung der Welt für den Außenhandel, aus der Neuinterpretation des Himmels durch Kopernikus und Galilei und durch den Buchdruck mit seiner weiteren Verbreitung von Ideen ergaben. Eine kurze Zeit während des Interregnums verschmolzen die Ideen der Millenarier, die hofften, das Reich Christi auf Erden zuwege zu bringen, mit dem Optimismus der Wissenschaftler, die glaubten, innerhalb von einer oder zwei Generationen könnte die Natur unter die Kontrolle des Menschen gebracht werden. Ranter, Quäker und der Digger Winstanley fingen etwas von diesem naiven Optimismus ein und drückten es in theologischer Form aus: In allen von uns ist etwas Göttliches; wir können uns durch unsere eigenen Bemühungen erlösen. Die Auferstehung war für Winstanley eine Metapher für den Aufstieg der Vernunft und des Geistes der Zusammenarbeit aller Menschen, wonach die Unterdrükkung verschwinden und Kirchen nicht mehr nötig sein würden. Die 138

Leveller äußerten in politischer Form eine ähnliche Zuversicht; sie riefen zu einer demokratischen Gesellschaft auf, in der alle Amtspersonen nach einem stark 1 erweiterten Wahlrecht gewählt werden sollten. Das war eine fesselnde Vision, doch erwies sie sich zumindest als zu verfrüht. Die Unterdrückung der Leveller setzte 1649 ein, die der Digger 1650, die der Ranter 1651. Im Jahre 1656 wurde auf ein Urteil des Parlaments hin der Quäkerführer James Nayler fast zu Tode gepeitscht, da er mit einem symbolischen Einzug in Bristol beabsichtigt hatte, Christi Einzug in Jerusalem ins Gedächtnis zu rufen und die Existenz des Göttlichen im Menschen zu proklamieren. Schon lange vor 1660 war der überschwengliche Optimismus, sowohl politisch als auch religiös, verschwunden. Die theologische Ausdrucksform dieser Niederlage war eine Neubelebung der Sünde. Mllton begann, Paradise Lost zu schreiben, um Gottes Wege zum Menschen zu rechtfertigen - eines Gottes, der die Hoffnungen seiner Diener enttäuscht zu haben schien. Theologische Standpunkte sind sowohl eine Sache des Temperaments als auch eine Reaktion auf historischen Druck. Doch die Tatsache, daß dem theologischen Optimismus der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre des 17. Jahrhunderts eine Neubelebung des traditionellen theologischen Pessimismus in den späten fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre folgte, läßt sich nicht völlig von den traumatischen Ereignissen trennen, die eintraten, als die englische Revolution in ihre Niederlage abglitt. Die Quäker akzeptierten schließlich, daß das Reich Christi nicht von dieser Welt ist: In den sechziger Jahren wandten sie sich von politischen Aktivitäten ab. Die Radikalen hatten eine völlige Niederlage erlitten. Die Vision von einer Menschheit, die ihre Geschicke in die eigenen Hände nahm, verschwand. Die Menschen konnten ihre eigene Erlösung nicht bewirken. Die traditionelle Auffassung, daß die Erlösung das Werk eines von außen kommenden Retters sein muß, wurde neu gestärkt. In Christi Opfer am Kreuze, sagt uns Bunyan, „sehen wir die Aussöhnung der höchsten .Widersprüche, hier küßt die Gerechtigkeit den Sünder". Auf Erden könnten die Widersprüche nicht ausgesöhnt werden. Unser Lohn im Himmel wird ein Ausgleich dafür sein, daß es unmöglich ist, auf Erden eine gute Gesellschaft zu errichten. Jesus Christus, so schrieb Bunyan, „bereitet die Häuser vor für jene seiner Armen, die heute von seinen Feinden hin und her gestoßen werden wie Fußbälle auf dieser Welt; und ist dies nicht ein segensreicher 139

Ausblick?" Das Augenmerk wurde nach innen gewandt, fort von der Politik in diesem Leben, hin zur Erreichung der Erlösung im nächsten. Weit entfernt ist das von den Worten Gerrard Winstanleys: „Während die Menschen zum Himmel starren und sich die Seligkeit ausmalen oder die Hölle nach ihrem Tode fürchten, werden ihre Augen verwirrt, so daß sie nicht sehen, was ihre Geburtsrechte sind und was sie hier auf Erden tun sollen, während sie leben." Bunyan, der jünger war als die Führer der Digger, Ranter und Quäker, gelangte in den enttäuschenden fünfziger Jahren zur Reife. Seine Ablehnung der Theologie der Ranter und Quäker ist Teil dieser Desillusionierung; die Quäker selbst näherten sich nach 1660 seiner Position. Doch unterscheidet sich Bunyans Theologie vielfach vom traditionellen Kalvinismus. Sie ist durchaus nicht passiv; sie gleicht dem kämpferischen Kalvinismus der großen puritanischen Prediger der zwanziger und dreißiger Jahre, eines John Preston und Richard Sibbes. Am Tag des Jüngsten Gerichts, so glaubte Bunyan, wird Gott nicht nur fragen: „Hast du geglaubt?" sondern: „Warst du ein tätiger Mensch oder hast du nur geredet?" „Die Seele der Religion liegt im Praktischen", sagt Christian; Glauben ist „schweißtreibende Arbeit", denn „der Mensch ist von seiner Natur her mehr zum Hören als zum Tätigsein geneigt". Bunyan hoffte, daß The Pilgrim's Progress „die Faulen zum Tätigsein bewegen werde". Bunyan fehlt die Enge und Ausschließlichkeit mancher Kalvimsten. Die Kirche in Bedford hielt sich an die ökumenischen Prinzipien, die ihr Begründer John Gifford festgelegt hatte: „Die Einheit mit Christus ist die Grundlage der Gemeinschaft aller Heiligen, und nicht irgendwelche Riten Christi oder irgendwelche Urteile oder Auffassungen über äußere Formen." „Unterschiede im Urteil über diese Dinge sollten nicht zu Streitigkeiten oder Trennung führen." Sogar die Taufe ist relativ unwichtig. „Es ist sehr nützlich, daß es in unserer Mitte Ketzerei gibt", schrieb Bunyan 1657 in Miltonscher Art, denn sie enthüllt die Wahrheit. Intoleranz ist antichristlich. Uneinigkeit und Verfolgung hatten „sehr stark darauf hingewirkt, dieses Strafgericht, unter dem wir heute stöhnen, über uns zu bringen", schrieb er 1670. Ebenso wie wir gut dran tun, wenn wir Bunyans Angaben über die extreme Armut seiner Familie, etwa wie er und seine Frau einen Hausstand gründeten, ohne auch nur „eine Schüssel oder einen Löffel zu haben", mit Skepsis aufnehmen, so sollten wir auch seiner Behauptung mißtrauen, er habe Bücher überhaupt nicht gekannt, ehe er 140

Piain Maris Patbway to Heaveti (Der klare Weg zum Himmel) und Practice of Piety (Praxis der Frömmigkeit) von seiner Frau in die Hände bekam. Falls er Perkins, Preston und Sibbes nicht las, so doch gewiß Autoren ihrer Schule. Manche glauben, daß Bunyans Thomas Hobbes gelesen hat: Herr Badman bringt sicherlich Hobbessche Auffassungen zum Ausdruck. Bunyan zitiert George Herbert, und eines der Lieder des Schäfers in The Pilgr'tm's Progress scheint mir an Sidney Godolphins Hymnus34 anzuklingen. Es ist nicht wahrscheinlich, doch durchaus möglich, daß bei Bunyan auch Anklänge an Christopher Marlowe und Thomas Middleton zu finden sind. Bunyans Stil erinnert an die schlichte Prosa der puritanischen Prediger Perkins und Preston, deren Traktate und Predigten oft der Dialogform Bunyans nahekamen. Er erinnert auch an den Stil der Flugschriftenverfasser der Leveller, insbesondere Overtons Tbe Araignement of Mr. Persecution (1645, Das Arrangement von Herrn Verfolgung) und Walwyns A Prediction of Mr. Edwards bis Conversion (1646; Eine Prophezeiung von Herrn Edwards Bekehrung) und Walwyns Just Defence (1649; Walwyns gerechte Verteidigung). „Worte, die leicht verständlich sind", schrieb Bunyan, „erreichen oft ihr Ziel, während hochgestochene und gelehrte Worte nur die Luft durchbohren." Nicht ohne Grund waren Roger L'Estranges Vorschläge zur Lizenzierung des Pressewesens von 1663 hauptsächlich gegen die „großen Meister des volkstümlichen Stils", die „den Charakter und die Neigungen der Menge ansprechen", gerichtet. Genau das charakterisiert auch Bunyans Stil. Ich habe wenig über Bunyans Leben nach 1669 gesagt, da ich glaube, daß die frühen Jahre seinen Charakter und seine Weltanschauung formten. Nur wenige von uns ändern ihr Denken nach dem dreißigsten Lebensjahr, und Bunyan war keine Ausnahme. Er erlebte, wie sich seine schlimmsten Befürchtungen über die Folgen menschlicher Sündhaftigkeit im Jahre 1660 bestätigten, und er selbst schmachtete zwölf Jahre lang im Gefängnis. Es muß ihm damals so erschienen sein, als ob ihn und die Gott getreuen Menschen in England nichts als Leiden und Verfolgung erwarteten. Christian fühlte sich zerschmettert, als er und Hopeful von dem Riesen Despair eingekerkert wurden. Doch Hopeful sagte: „Wer weiß, ob nicht doch Gott, der die Welt schuf, den Riesen Despair sterben lassen kann?" „Daher", so sagte der Bürgermeister von Mansoul, „werden wir nicht verzweifeln, sondern warten, harren und hoffen dennoch auf die Erlösung." In den achtziger Jahren erschien das Leben in Bedford wie eine 141

Kopie des künstlerischen Bildes, das Bunyan in Tbe Holy War geschaffen hatte. 1683-84, ein Jahr nach der Veröffentlichung von Bunyans Buch, wurde Bedfords Stadtcharta konfisziert, und der Bürgermeister, der Archivar und mehrere Stadträte und Abgeordnete wurden entlassen; sechsundsiebzig neue Abgeordnete wurden auf einmal neu eingesetzt - genau wie es in Mansoul unter Diabolus geschehen war. Vier Jahre später kehrte Jakob II. den ganzen Prozeß um. In der Hoffnung, ein Parlament zu erhalten, das die römischen Katholiken tolerieren und ihnen den Zugang zu politischer und militärischer Macht gewähren würde, bot er sowohl protestantischen als auch katholischen Dissidenten Toleranz an und nahm eine erneute Säuberung der Gemeindebehörden vor. In Bedford wurden der Bürgermeister, sieben Ratsherren und sechs Mitglieder des Stadtrates entfernt und (unter, anderen) durch sechs oder sieben Mitglieder von Bunyans Kongregation ersetzt. Die neuen Ratsherren führten sofort ein Reformregime ein und verlangten von früheren Bürgermeistern Wohltätigkeitsgelder zurück, die jene in die Taschen der Oligarchie hatten fließen lassen. Doch es war eine Sache, das Bestreben König Jakobs auszunutzen, sich der Kontrolle durch den anglikanischen Adel zu entziehen, eine ganz andere aber, die Restauration der politischen Macht des Katholizismus in England zu unterstützen. Ein Agent Jakobs II. sprach mit Bunyan und anderen über die Wahl von einigermaßen ergebenen Abgeordneten für Bedford, und Bunyan selbst, so heißt es, wurde „eine Position öffentlichen Vertrauens" angeboten. Wenn dies stimmt, so hat er abgelehnt. Er wußte gut genug, was die wirkliche Absicht Jakobs war. In einem Traktat von 1684 hatte er vor der Gefahr einer neuerlichen Verfolgungswelle durch die Katholiken gewarnt. „Sie geben keine Warnung, bevor sie zuschlagen", schrieb Bunyan und erinnerte an die bekannten Beispiele des Massakers der Bartholomäusnacht 1572, der irischen Revolte von 1641, des Massakers von Piedmont 1655, über das Milton sein berühmtes Sonett schrieb, 'und der Papistenverschwörung von 1678, an deren Echtheit Bunyan fest glaubte. Seine Überzeugung konnte durch Ludwigs XIV. Aufhebung des Ediktes von Nantes und die Verfolgung der Hugenotten im Jahre 1685 und danach nur bestärkt worden sein. Bunyan muß auch gewußt haben, daß es keine Möglichkeit gab, gegen die Bestrebungen des Landadels und der Kaufleute-Oligarchien eine dauerhafte Toleranz zu erlangen; das Beispiel von Quäkern wie William Penn trug zu dieser Erkenntnis bei. Aber Bunyan erlebte 142

nicht mehr das Umschlagen der Gunst der besitzenden Klasse gegen Jakob II. Er starb im August 1688, weniger als drei Monate bevor Wilhelm der Befreier nach England in See stach, neun Monate bevor die Toleration Act die protestantischen Dissidenten dafür belohnte, daß sie Jakob II. ihre Unterstützung verweigert hatten. Ich habe Bunyans Verbindungen mit einigen Radikalen - wenn auch nicht den extremen Sektierern - der revolutionären Jahrzehnte hervorgehoben. Doch das wahrhaft Umstürzlerische liegt in seinen Schriften - nicht nur in den umgangssprachlich, nüchtern, lebensnah erzählenden Schriften, sondern auch in seinen Themen. Helden, die aus dem einfachen Volke stammten, hatte es schon vorher gegeben: „Jedermann" im Mittelalter, einige der Gestalten bei Thomas Dekker. Doch der Held von Tbe Pilgrim's Progress entstammt eindeutig den unteren Schichten. Er erfreut sich der Freiheit der Besitzloses. Er kann sein Haus verlassen, wann er will; seine Frau kann ihm folgen, wenn sie es wünscht. Sie haben ihr Leben in eigenen Händen: Sie können sich selbst helfen in der Zuversicht, daß Gott ihnen helfen wird, wenn sie es tun. Doch diese Freiheit ist begrenzt; Gesetz und Gerichte werden, das weiß Christian genauso wie Frau Bunyan, ihm keine Gerechtigkeit geben. Die geistliche Autobiographie, deren Auftauchen W. Y. Tindall in Job» Bunyan Mecbanick Preacber (1964) mit 1649 datiert, wurde rasch eine weitverbreitete Form, doch ist heute Grace Abounding (1666) als einzige noch weithin bekannt Aber die geistliche Autobiographie selbst wird umstürzlerisch, wenn ihr Held ein fahrender Geselle aus den Unterschichten ist, dessen größte Versuchungen ihm widerfahren, wenn er Spatzefck spielt. Es könnte keinen banaleren Schurken geben als den kleinbürgerlichen Herrn Badman, auch wenn er, wie der Satan in Paradise Lost, oft viel lebendiger ist als die tugendhaften Gestalten. Episoden wie sein Liebeswerben und seine zweite Hochzeit lassen im Thema wie im Stil Defoe vorausahnen. Bunyan hilft uns zu verstehen, wie das Leben nach den ungestümen Tagen der Revolution wieder in „normale" Bahnen zurückkehrte, wie jene, die Christi Reich auf Erden erwartet hatten, sich nun an die restaurierte Herrschaft von Königen und Herren anpassen mußten. Aber wenn auch Monarchen und Friedensrichter ihre Machtpositionen wiedererlangten, war doch die „Normalität" nie wieder ganz dieselbe. Bei allem Realismus seiner Erzählung reist doch Bunyans Pilger in eine umgekehrte Welt, die fast ebenso konkret und materialistisch ist wie die utopischen Welten der radikalen Chiliasten 143

zwei Jahrzehnte vorher. Nur ist sie nicht auf der Erde zu finden. Christian nimmt an, daß er seine Bürde in dieser Welt tragen muß, so wie seine Vorväter dies jahrhundertelang vor der Revolution getan hatten. Christian hat sich an eine Gesellschaft angepaßt, deren Umsturz die Radikalen erhofft hatten. So wie George Fox schließlich die Sünde akzeptierte, so wie die Sünde in Paradise Lost eine gewichtigere Rolle spielt als in Areopagttica (1644, dt. 1852), so entspringt die besondere Schärfe von The Pilgrim's Progress (wie auch von Paradise Lost) dem Spannungsverhältnis zwischen Vision und Realität, dem Traum und der nur allzu realen Welt. Ausgehend vom gefallenen Menschen, zeigen sowohl Milton als auch Bunyan, wie das Göttliche im Menschen langsam wieder vordringt, bei Milton in „ein Paradies, ein schönres, dann in dir!", das auf Erden gewonijgn wird, wie es die Radikalen erhofft hatten; bei Bunyan zu einer festen Zuversicht, die über die Qualen und den frühen Tod triumphieren konnte, welche das übliche Schicksal des besitzlosen Wanderers waren. Bunyans Pilger wandte sich von der Welt und ihren Werken ab und ging durch das enge Tor, nahm das Kreuz auf sich. Die Bürde rollte von seinem Rücken, dank keiner anderen Anstrengung außer seiner hartnäckigen Weigerung, die Hoffnung aufzugeben. Wenn der natürliche Mensch sich durch eigenes Bemühen von seiner Bürde befreien könnte, so dachte Bunyan, dann würde er auch Gott abwerfen. Die Erlösung muß das willkürliche Geschenk aus Gottes Gnade von außerhalb sein, da die Welt und die Gesellschaft willkürlich waren; der Sündenfall war geschehen durch den Verstoß gegen Gottes willkürliches, irrationales Verbot. Bunyan verabscheute willkürliche kleine Herren, die die alten Gesetze verwarfen; aber er anerkannte, daß sie, wie auch die Armen, unter uns sein werden bis zum Ende der Welt. (Richard Schlatter wies in The Social Ideas of Religious Leaders [Die gesellschaftlichen Ideen von Kirchenfürsten] darauf hin, daß die Armen weiterexistieren und der Wohltätigkeit bedurften, auch nachdem Emmanuel in Mansoul eine gottgefällige Gemeinschaft errichtet hatte.) In der englischen Revolution scheiterte die Baconsche Vision einer Menschheit, die ihr Schicksal selbst lenkt; die Diggers, die zur Seligkeit auf Erden aufgerufen hatten, wurden auseinandergetrieben und verschwanden. Das Reich Gottes mußte in das Leben nach dem Tode verschoben werden. Heute scheint es möglich, ihre Vision, dank drei Jahrhunderten wirtschaftlichen Fortschreitens, wiederaufzugreifen, so daß die Menschen wie144

der daran denken können, ihre Bürde auf Erden abzuwerfen. Doch um die Fährnisse und Versuchungen auf dem Wege zum Land der Verheißung zu überwinden, wird es all der Zähigkeit, all der hartnäckigen Zuversicht bedürfen, die Bunyans Pilger „kühn . . . fegen alles Unheil" machten.

5 ALICK WEST

Jonathan Swift: Satire und Revolution Swift war ein Whig, der zum Tory wurde. Was kann seine Satire dann mit Revolution gemein haben? Als er sich mit seiner Schrift A Tale of a Tub (1704; Ein Tonnenmär eben) in die Kontroverse seiner Zeit zwischen den 'Alten' und den 'Modernen* einmischte, tat er dies in Parteinahme für die 'Alten'. Zugegeben, er schockierte beide Seiten durch seine unehrerbietige Haltung gegenüber dem, was sogar die 'Modernen' respektierten: „Mit einem Wort", sagte Dr. Wotton, ein 'Moderner', der wiederholt Swifts Zielscheibe gewesen war, „Gott und Religion, Wahrheit und moralische Ehrbarkeit, Wissen und Fleiß, mit allem wird Scherz getrieben . . ."35 Swift aber versicherte die Rechtgläubigkeit seines Werkes. Er schrieb in The Autbor's Apology (1704; Apologie)-. „Es preist die anglikanische Kirche als die in Zucht und Lehre vor allen anderen vollkommenste . . ,"36 Swift, so denke ich, glaubte auch selbst daran. Doch er irrte sich in seiner Auffassung von dem, was er getan hatte. I Die anglikanische Kirche zu preisen ist das Ziel der Allegorie von den drei Brüdern, die den Rahmen von A Tale of a Tub darstellt. Peter, Martin und Jack, die den Katholizismus, die anglikanische Kirche und die Dissidenten verkörpern, haben von ihrem Vater auf dem Totenbette drei Mäntel erhalten, und in seinem letzten Willen gibt er ihnen eine Regel fürs Leben, der sie folgen sollen; und Martin, der Anglikaner, bereut aufrichtig. Er macht sich daran, den Schaden 10

Southall/Magister

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der daran denken können, ihre Bürde auf Erden abzuwerfen. Doch um die Fährnisse und Versuchungen auf dem Wege zum Land der Verheißung zu überwinden, wird es all der Zähigkeit, all der hartnäckigen Zuversicht bedürfen, die Bunyans Pilger „kühn . . . fegen alles Unheil" machten.

5 ALICK WEST

Jonathan Swift: Satire und Revolution Swift war ein Whig, der zum Tory wurde. Was kann seine Satire dann mit Revolution gemein haben? Als er sich mit seiner Schrift A Tale of a Tub (1704; Ein Tonnenmär eben) in die Kontroverse seiner Zeit zwischen den 'Alten' und den 'Modernen* einmischte, tat er dies in Parteinahme für die 'Alten'. Zugegeben, er schockierte beide Seiten durch seine unehrerbietige Haltung gegenüber dem, was sogar die 'Modernen' respektierten: „Mit einem Wort", sagte Dr. Wotton, ein 'Moderner', der wiederholt Swifts Zielscheibe gewesen war, „Gott und Religion, Wahrheit und moralische Ehrbarkeit, Wissen und Fleiß, mit allem wird Scherz getrieben . . ."35 Swift aber versicherte die Rechtgläubigkeit seines Werkes. Er schrieb in The Autbor's Apology (1704; Apologie)-. „Es preist die anglikanische Kirche als die in Zucht und Lehre vor allen anderen vollkommenste . . ,"36 Swift, so denke ich, glaubte auch selbst daran. Doch er irrte sich in seiner Auffassung von dem, was er getan hatte. I Die anglikanische Kirche zu preisen ist das Ziel der Allegorie von den drei Brüdern, die den Rahmen von A Tale of a Tub darstellt. Peter, Martin und Jack, die den Katholizismus, die anglikanische Kirche und die Dissidenten verkörpern, haben von ihrem Vater auf dem Totenbette drei Mäntel erhalten, und in seinem letzten Willen gibt er ihnen eine Regel fürs Leben, der sie folgen sollen; und Martin, der Anglikaner, bereut aufrichtig. Er macht sich daran, den Schaden 10

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wieder auszubessern, den sein Ungehorsam seinem Mantel zugefügt hat, und dabei vermeidet er sorgsam alle übereilten Maßnahmen, die den Schaden nur verschlimmern könnten. Er allein erreicht so die Deformation einer korrumpierten Christenheit. Jack reißt den gottlosen Saum mit solcher Wut von seinem Mantel, daß er dessen Gewebe zerstört; und je mehr er daran zerrt, um so mehr wird er seinem Bruder Peter ähnlich. Denn Swifts Überzeugung war, daß das Presbyterianertum zum päpstlichen Glauben führt. Die Allegorie vertritt somit gegenüber allen Extremisten den gemäßigten Weg der anglikanischen Kirche. Mehr noch, sie bekräftigt ein absolutes moralisches Gebot. Denn die drei Söhne erhalten von ihrem Vater eine Lebensregel, die sie nicht in Frage stellen dürfen; sie müssen gehorchen. Aus diesem absoluten moralischen Gebot, das von Gott gegeben ist und dessen Autorität und Macht der anglikanischen Kirche und dem Staat innewohnen, erhält das Leben der Gesellschaft seine Bedeutung. Diese Konzeption ist fundamental in Swifts Denksystem. In dem Bewußtsein, daß er ein Glied einer Gesellschaft ist, deren Existenz moralische Ordnung verkörpert, muß der einzelne nach dem Guten streben. Die Satire in A Tale of a Tub richtet sich gegen jene, die statt dessen ihre eigenen Interessen verfolgen und die Gesellschaft zu ihrer eigenen Selbsterhöhung und ihrem eigenen Ruhme auf Kosten anderer ausnutzen. „Wer den Ehrgeiz hat, sich in einer Menge Gehör zu verschaffen, muß unermüdlich drängen und drükken und schieben und klettern, bis er sich zu einer gewissen Höhe über sie erhoben hat." (JSW I, 131.) Mit diesen Worten beginnt der fiktive Erzähler das Tonnenmärchen. Er teilt diesen Ehrgeiz, und er wird unbewußt die Leere einer Konkurrenzgesellschaft enthüllen, in der jeder einzelne handelt, als solle er allein gesehen und gehört und bewundert werden. Das Streben nach solchem gesellschaftlichen Erfolg führte zum ersten Abfall vom wahren Christentum. „Da sie nun das richtige Alter erreicht hatten, um sich der Welt zu zeigen, kamen" die drei Brüder „in die Stadt und verliebten sich in die Damen, vorzüglich aber in drei, die zu jener Zeit in höchstem Ansehen standen: die Herzogin d'Argent, Madame de Grands Titres und die Gräfin d'Orgueil." Da sie eine sehr schlechte Aufnahme fanden und „den Grund dafür bald errieten, waren sie flugs dabei, sich die Manieren der Stadt anzueignen: . . . Sie schwadronierten von Empfängen und waren doch nie dort gewesen; speisten mit großen Herren, die sie niemals sahen; tuschelten mit einer Herzogin 146

und sprachen nie ein Wort mit ihr . . D o c h die drei Damen blieben weiter unerbittlich. Der Grund war, so erklärt der fiktive Erzähler, daß zu jener Zeit „eine Sekte aufgekommen [war], deren Glaubenssätze viel Anklang und weite Verbreitung fanden, besonders bei der Grand Monde". Ihre Anhänger „beteten eine Art Götzen an, der, wie ihre Lehre verkündete, mittels eines handwerklichen Verfahrens täglich Menschen schuf." (JSW I, 145-146.) Die so hergestellten Menschen sind Anzüge; und die Sekte glaubte, daß unsere Anzüge, unsere Kleider unser eigentliches Selbst seien. - „Denn ist es nicht offensichtlich, daß sie leben und sich bewegen und sprechen und alle sonstigen Funktionen menschlichen Lebens erfüllen: . . . Sind sie es nicht, die auf den Straßen promenieren, die die Parlaments-, Kaffee-, Schauspiel- und Hurenhäuser füllen?" Kleider machen Leute, und die drei Brüder haben die falschen Kleider. „'Dieser Kerl dort', hieß es, .'hat keine Seele; wo ist seine Schulterkordel?'" (JSW I, 148 und 150.) Also nähen sich die drei Brüder Schulterkordeln an und verdrehen das Testament ihres Vaters, um sich dafür zu rechtfertigen. Wo die Menschen vergessen - so sagt diese Satire auf die Welt des Geldes und des Ranges - , daß die Gesellschaft die Verkörperung der moralischen Ordnung Gottes ist, dort werden sie zu nichts mehr als leerem gesellschaftlichem Schein. II Doch der Passus hat eine solche Vielfalt möglicher Bedeutungen für die Gesamtaussage des Tale of a Tub, daß die Gewißheit des Glaubens an Gott und an die moralische Ordnung in Frage gestellt wird. Die Vision der gehenden Anzüge erregt Furcht, als hätte die Welt ihre Vertrautheit verloren. Es sind auch nicht nur die gewöhnlichen Stadtbewohner, die zu Figuren in einem Bild entfremdeter Wahrheit werden. Plötzlich ist die Autorität von Staat und Kirche Teil desselben unwirklichen Schauspiels. Der oben zitierte Passus geht weiter: „Je nach ihrer Zusammensetzung erhalten diese gemeinhin Anzüge oder Kleider genannten Tiere nun allerdings verschiedene Bezeichnungen. Ist eines mit goldener Kette, rotem Talar und weißem Stab versehen und sitzt es auf hohem Roß, heißt es Oberbürgermeister; wenn bestimmte Hermelinfelle und anderes Pelzwerk eine bestimmte Anordnung erfahren, nennen wir sie Richter; und 10*

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ebenso bezeichnen wir eine geschickte Zusammenstellung von Batist und schwarzem Satin als Bischof." (JSW I, 148.) Kein „Moderner" könnte eine tödlichere Formulierung gegen einen Würdenträger der anglikanischen Kirche richten. Der Passus verwirrt auch die Vorstellung des Lesers mit einer unsichtbaren Energie, die nicht von Gott stammt. D i e Beschreibung des Götzen, der Menschen „mittels eines handwerklichen Verfahrens" erschafft, ist sowohl komisch als auch bedrohlich und physisch abstoßend: „Diesen Götzen setzten sie im obersten Teil des Hauses auf einen ungefähr drei Fuß hohen Altar. Man stellte ihn in der Haltung eines persischen Kaisers dar, mit kreuzweis untergeschlagenen Beinen, auf einer ebenen Fläche sitzend. D a s Symbol dieses Gottes war ein Bügeleisen, das einer Gans glich, weshalb einige Gelehrte seinen Ursprung auch auf Jupiter Capiijolinus zurückführen wollen. Zu seiner Linken, unter dem Altar, schien sich die Hölle zu öffnen und nach den Lebewesen zu greifen, die der Götze schuf; um dies zu verhindern, warfen einige seiner Priester immerfort Stücke der unbelebten Masse oder Substanz hinein, zuweilen auch ganze, bereits lebendige Gliedmaßen, die jener furchtbare, unersättliche Abgrund verschlang - ein entsetzlicher Anblick. D i e Gans galt auch als untere Gottheit oder Deus minorum gentium, an deren Altar jenes Geschöpf geopfert wurde, das sich stets von Menschenblut nährt und das in anderen Ländern so großes Ansehen genießt, weil es der besondere Liebling des ägyptischen Cercopithecus war. Tagtäglich wurden Millionen dieser Tiere grausam hingemetzelt, um den Hunger jener gefräßigen Göttin zu stillen. D e r oberste Götze wurde zudem als Erfinder des Fadens und der Nadel verehrt; ob als Gott der Seeleute oder wegen gewisser anderer mystischer Eigenschaften, ist nicht genügend geklärt." (JSW I, 146-147.) D e r äygptische Cercopithecus ist ein A f f e ; die Millionen von Tieren, die er verzehrt und die „sich stets von Menschenblut nähren", sind Läuse. D i e „gewissen anderen mystischen Eigenschaften" leiten sich daraus ab, daß „der Faden und die N a d e l " auch Sexualsymbole sind. So auch unter dem einzelnen Anzug: „ . . . aber auch wenn man die Errungenschaften seines Geistes untersucht, wird man finden, daß sie, jede auf ihre Art, dazu beitragen, ein passendes Gewand zu liefern; um nur ein paar Beispiele zu nennen: Ist nicht die Religion ein Mantel, die Ehrlichkeit ein auf schmutzigen Wegen abgetragenes Paar Schuhe, die Eigenliebe ein Überrock, die Eitelkeit ein Hemd und das Gewissen eine Hose, die zwar unzüchtige und schmutzige

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Teile bedeckt, aber für unzüchtige und schmutzige Zwecke leicht heruntergelassen wird?" (JSW I, 147-148.) Was unter dem Mantel, den Schuhen, dem Überrock oder dem Hemd sein mag, schafft keine neuen Ideen; aber die Hose wird für einen körperlichen Akt heruntergelassen, und der Körper ist real. Alles hier latent Verborgene macht Swift im folgenden deutlich, insbesondere in der Satire gegen den Enthusiasmus der Sektierer, deren Repräsentant Jack in der Allegorie der drei Brüder ist. Zwischen Swift und den Sektierern der bürgerlichen Revolution bestand, so scheint es, ein unversönlicher Antagonismus. Swift verwarf die bürgerliche Revolution ohne Einschränkung. Er wandte sich zu seiner Zeit gegen jegliches Schisma, denn von seinem ureigensten Wesen her muß ein Schisma Zweifel an der Berechtigung von Autorität erwecken. Er schrieb in The Sentiments of a Cbtirch of England Man (1708; Die Ansichten eines Anhängers der K.irche von England über Religion und Regierung): „Wenn sich ein Schisma einmal in einer Nation ausgebreitet hat, entsteht schließlich ein Disput darüber, wer die Schismatiker sind. Ohne mich auf die Argumente einzulassen, die bei uns von jeder Seite benutzt werden, um der anderen die Schuld anzuhängen, will ich nur sagen, daß vom Standpunkt des Gesetzes das Schisma mit Bestimmtheit bei der Partei liegt, die sich der Staatsreligion widersetzt." (JSW II, 119.) Denn es konnte für Swift keinen Zweifel daran geben, daß es der herrschende Staat war, welcher moralischen Vergehen sich seine Ministerien auch schuldig gemacht haben mochten, auf dem die Einheit des Volkes beruhte, und nicht jene „Schar vor Leuten", von der er im nächsten Satz spricht, „die stets bereit sind, irgendwelchen unzufriedenen Köpfen zu folgen." Swift betrachtete die Sektierer als eine solche Schar, und das aus gutem Grund. Für sie bestand die Einheit des Volkes in ihrer eigenen Bruderschaft. In ihren Augen war der Staat, der für sich das Verdienst der Einheit des Volkes in Anspruch nahm, eine ihnen fremde Tyrannei. Was Swift und die Vertreter der „Staatsreligion" als den „Enthusiasmus" der Sektierer brandmarkten, war zum einen deren Überzeugung, daß sie, und nicht der Staat, das Gemeinwesen waren, und zum anderen deren Vorsatz, den Staat zu stürzen. Sie erklärten dieses Ziel nicht in der Sprache der Religion im allgemeinen, sondern in der des Christentums. Durch die Menschwerdung Christi war Gott zum Menschen geworden, und der Mensch war dadurch von 149

der Sünde erlöst und von seiner Verurteilung zum Sünder, durch das Gesetz. D a Gott Mensch geworden war, hatte der Mensch durch die Menschwerdung Christi Teil an der Existenz Gottes. Die Herrschaft des Gesetzes war zu Ende, und die Herrschaft der Gnade hatte begonnen. Mögen die Menschen der Tyrannei des toten Gesetzes die Stirn bieten und als Brüder alle miteinander in der Gnade des lebendigen Christus das Neue Jerusalem auf Erden errichten. Solche Ideen verabscheute Swift. Das von Gott gegebene Gesetz konnte nicht aufgehoben werden. Zu sagen, es wäre durch Christus aufgehoben worden, war eine sinnlose Blasphemie. Es war Blasphemie, wenn ein Mensch erklärte, Christus sei in ihm. D a ß Männer und Frauen, weil sie glaubten, Christus sei in ihnen, sich alle miteinander als Brüder erklären sollten, stieß Swifts intellektuellen Charakter ab. Swift trennte daher das enthusiastische Christentum der Sektierer von seiner eigenen Religion. Er argumentiert nicht einmal gegen ihren Glauben, daß die Menschen durch die Gnade Christi in ihnen eine neue Gemeinschaft der Brüderlichkeit schaffen können und müssen. Wenn sie es entsprechend diesem Glauben ablehnten, am Altar niederzuknien und von einem Tyrannen-Priester das Brot und den Wein des Abendmahls zu empfangen, so antwortet Swift mit der Allegorie von den drei Brüdern, in der Jack, der Sektierer, es nicht gelernt hat, seine Nahrung wie ein Christenmensch zu sich zu nehmen. Swifts Gott ist nicht Christus, den er in seinen Predigten kaum erwähnt, sondern Gottvater. Gott ist die Autorität der etablierten Ordnung, nicht die Einheit und Kraft im Volke, das eine neue Ordnung schafft, wie der Christus der Sektierer. Swifts Gott hat das Gesetz der Gesellschaft bereits festgelegt. Die Tugend Martins, des guten Sohnes, ist Gehorsam. Swifts Methode, den Enthusiasmus der Sektierer zu verspotten, besteht darin, dessen Ursprung zu erklären. Er folgte, wie Philip Hart in seiner Schrift Swift and Anglican Rationalism (Chicago London 1961) dargelegt hat, der neueren Stragegie des Angriffs auf die Sekten. Joseph Glanvill 37 schrieb in den 1660er Jahren, daß es eine falsche Politik sei, die Puritaner, wie Ben Jonson es getan hatte, als Heuchler zu verdammen; denn „das gemeine Volk" glaubte an ihre Ehrlichkeit. Klüger war es, ihren Glaubenseifer zuzugeben, aber dessen wahren Charakter bloßzustellen. Begeisterung entspringt, so schreibt Meric Casaubon in seinem A Treatise concerning Etithusiasme (1655; Eine Abhandlung über den Enthusiasmus), 150

„aus einem Prinzip, das nichts Göttliches und Übernatürliches in sich hat"; sie ist von natürlichem Ursprung, und es gibt verschiedene Arten, darunter auch „technischen Enthusiasmus". Swift verwendet dasselbe Adjektiv und gibt ihm einen neuen sozialen Ton: „Diese t e c h n i s c h e S t i m u l i e r u n g d e s G e i s t e s also will ich nun näher untersuchen, wie sie heute von unseren britischen Werkleuten ausgeübt wird." (JSW I, 289.) Die Stimulierung des Geistes bedarf der Energie des Körpers. Der fiktive Verfasser von The Mechamcal Operation of the Spirit (1704; Abhandlung über die Technik der Stimulierung des Geistes), aus der obiges Zitat entnommen ist, berichtet: so ist mir doch von gewissen heißblütigen Brüdern erster Ordnung gesagt worden, es sei ihnen auf dem Höhepunkt und O r g a s m u s ihrer geistigen Übung oft . . , wonach sie sogleich eine jähe Erschlaffung und Schwächung des Geistes und der Nerven gespürt . . . " (JSW I, 305.) In ähnlicher Weise informiert der Erzähler von A Tale of a Tub den Leser, daß der Heilige Geist, von dem die Sektierer inspiriert zu sein glauben, ihr eigener Wind ist. Daher „erklären die weisen Äolisten das Rülpsen für die edelste Handlung eines vernünftigen Wesens". Die Äolisten (die stellvertretend für alle Sekten stehen) verbanden sich daher „zu einer kreisförmigen Kette [ . . . ] , wobei jeder seinem Vordermann einen Blasebalg in den Hintern steckte, womit sie sich gegenseitig aufbliesen, bis sie Größe und Form einer Tonne hatten, weshalb sie ihren Leib mit einem höchst angemessenen Ausdruck als ihr Gefäß zu bezeichnen pflegten". (JSW I, 201.) Enthusiasmus wird auch als ein irrationaler Zustand verspottet, der mechanisch durch kollektive Aktivität hervorgerufen wird: Es „muß hier vermerkt werden, daß an der Erzeugung und Aufrührung des Geistes die Gemeindemitglieder nicht minder teilhaben als der Prediger . . . Wenn Iren sich zusammenfinden, pflegen Männer wie Frauen dem Irdischen entrückt zu werden und mit betäubten Sinnen in schwärmerische Verzückung zu geraten, und zwar unter der Wirkung einer Stummelpfeife, die in der ganzen Gesellschaft die Runde macht, wobei jeder den Rauch so lange im Munde hält, bis er wieder mit einem neuen Zug an der Reihe ist . . . Mit den kunstgerecht verdrehten Augen sieht man zuerst gar nichts, doch nach einem Weilchen erscheint ein schimmerndes Lichtlein und fängt vor einem zu tanzen an. Beim häufigen Heben und Senken des Körpers nimmt man wahr, wie dadurch die Dünste rasch aufsteigen, bis man vollkommen benebelt und wirr im Kopf ist, so, als hätte man schon 151

am frühen Morgen zuviel getrunken. Unterdes ist auch der Prediger bei der Arbeit; er beginnt mit einem lauten Summen, das einem durch Mark und Bein geht; die Gemeinde gibt es sogleich zurück, und man fühlt sich veranlaßt, es ihr nachzutun, rein aus spontanem Antrieb, ohne zu wissen, was man tut." (JSW I, 292-293.) Ziel dieser Satire war es zweifellos, die Sektierer durch den Kontrast zwischen ihrem sich in der Begeisterung äußernden Glauben an die Einheit in Christus einerseits und ihrer physiologischen und irrationalen Welt andererseits zu diskreditieren, und ebenso durch die Auffassung, daß die Begeisterung, ,ydiese Zauberkunst, geistliche Gaben an den Mann zu bringen", nur eine Zauberkunst im ökonomischen Sinne des Wortes, „ein Händwerk", war, welches vornehme Leute nicht ausüben. (JSW I, 295.) Gewiß diskreditiert diese Satire die Sektierer. Doch die „Religion des Staates", welche die Satire gegen jene verteidigen sollte, verliert ebenfalls an Kraft. Denn Swift erklärt das religiöse Erleben auf eine Weise, die ohne Gott auskommt; und eben durch die Komik der genauen Beschreibung kollektiver Irrationalität und durch die sexuelle Bewußtheit des Körpers wird die Erklärung überzeugend. Hat man erst einmal begonnen, auf solche Weise über Religion nachzudenken, dann hört dies nicht beim Enthusiasmus der Sektierer auf. „Ausgehend von vorstehendem kurzen Überblick über einige maßgebliche Sekten . . . kann ich mir gut vorstellen, daß der Keim oder Urgrund, aus dem von jeher die Visionen der Menschen von unsichtbaren Dingen entstanden, von körperlicher Natur ist; erklären uns doch die tiefgründigeren Alchimisten, daß sich der stärkste Geist aus menschlichem Fleisch extrahieren lasse. D a ferner das Rückenmark nichts weiter als eine Verlängerung des Hirns ist, stellt es naturgemäß eine völlig reibungslose Verbindung zwischen den oberen und den unteren Fähigkeiten her, und somit wirkt der Stachel im Fleisch als Sporn für den Geist." (JSW I, 304-305.) Der Apostel Paulus hatte vom Stachel im Fleisch gesprochen. Einen ähnlichen Widerspruch zwischen Absicht und Wirkung gibt- es in Swifts Satire auf den Enthusiasmus im weiteren Sinne. Der fiktive Erzähler in A Tale of a Tub setzt die religiöse Begeisterung mit einem allgemeinen Wahnsinn gleich, der in den von ihm angegebenen Beispielen wie der Begeisterung der Sektierer seine Quelle in den sexuellen und analen Funktionen des Körpers hat. Kriege, Revolutionen und Philosophien entspringen alle derselben Art von physischer und geistiger Erregung, wie sie die Sektierer 152

in sich selbst hervorrufen. Nur die „inkommensurablen Unterschiede der Hirne" vermögen „so ungeheuer andersartige Wirkungen aus ein und demselben Dunst hervorzurufen, daß sie zum alleinigen Unterscheidungsmerkmal zwischen Alexander dem Großen, Johann von Leyden und Monsieur Descartes werden". (JSW I, 213.) Swift malt sich dann ein England aus, in dem diese Energie, die die treibende Kraft in allen Menschen ist - Anwälte, Kaufleute, Ärzte, Poeten und Politiker werden genannt freigesetzt worden ist. Der Wahnsinn, so sagt der fiktive Erzähler, sollte in den Dienst des Staates eingespannt werden. „Nach dem, was ich hier ausgeführt habe, sollte daher offensichtlich sein, daß es wesentlich darauf ankommt, mit Takt und Umsicht für diesen Überschuß an Dunst praktische Verwendung zu finden und hierfür die rechte Zeit abzupassen; dann nämlich könnte er dem Staatswesen zu eitel Nutz und Frommen gereichen." (JSW I, 21.) Daher macht er den Vorschlag, daß vier führende Tory-Abgeordnete im Parlament „ein Gesetz einbringen möchten zur Ernennung von Kommissären für Bedlam und Umgebung", woher man „höchst brauchbare Anwärter für die einzelnen Staatsdienste in . . . Verwaltung und Armee gewinnen" könnte. Die Punkte stehen für 'Kirche'. In Bedlam ist alles darauf gerichtet, jene „geschickte Zusammenstellung von Batist und schwarzem Satin, die wir als Bischof bezeichnen", zu beleben (JSW I, 217). Es folgt ein Passus, der erklärt, warum Alexander zu den Wahnsinnigen gezählt wird, und der in seinem grimmigen Haß gegen den Krieg eine Vorahnung von Gulliver's Travels (1726; Gullivers Reisen) gibt: „Ist da ein Zögling, der sein Stroh zu Häcksel zerreißt, der flucht und lästert, in sein Gitter beißt, Schaum vor dem Mund hat und den Zuschauern seinen Nachttopf ins Gesicht kippt? Dann mögen ihm die hochwürdigen Kommissäre ein Regiment Dragoner geben und ihn zu den anderen nach Flandern schicken." (JSW I, 218.) In Bedlam ist der Prototyp der gesellschaftlichen Ordnung zu finden. In seiner Rolle als Kenner der Wissenschaft - weil er dazugehört, wird Descartes als „Neuerei; im Reiche der Vernunft" (JSW I, 210) bezeichnet - beschreibt der fiktive Erzähler in A Tale of a Tub gelassen eine ähnlich schockierende Realität unter der äußeren Erscheinung des einzelnen: „In der vergangenen Woche sah ich eine Frau mit abgezogener Haut, und man wird mir kaum glauben, wie sehr sich ihr Aussehen zum Nachteil verändert hatte. Gestern ließ ich die Leiche eines Stutzers in meinem Beisein ent153

kleiden, und alle waren wir erstaunt, unter einem einzigen Anzug so viele unerwartete Mängel zu finden. Dann legte ich sein Gehirn, sein Herz und seine Milz frei . . . " (JSW I, 215.) In 7'he Mechanical Operation of the Spirit findet sich ein Passus, der darstellt, wie die wattierten Kappen, die die Sektierer zu tragen 'pflegen, schweißdurchnäßt dieselbe Wirkung hervorrufen, wie sie eine geschickte Hausfrau erzielt, wenn sie ihren Weinballon mit einem nassen Lappen umwickelt. In dem Weinballon und im Gehirn findet ein ähnlicher Gärungsprozeß statt; und der Prozeß im Gehirn des Individuums hat sein Gegenstück in der Gesellschaft: „Denn nach Meinung erstrangiger Sachverständiger ist das Gehirn lediglich eine Anhäufung kleiner Tierchen, die ungemein spitze Zähne und Krallen haben und deshalb so fest zusammenhalten, daß sie den von uns wahrgenommenen Klumpen ergeben, gleich dem Bilde von Hobbes' Leviathan oder wie ein Bienenschwarm, der an einem Baume hängt, oder wie ein schon nur noch aus Würmern bestehendes Aas, das noch immer Form und Gestalt des verendeten Tieres bewahrt." (JSW I, 296.) Auf dem Titelbild von Thomas Hobbes' Leviathan (1651), auf das dieser Passus Bezug nimmt, bilden zahllose menschliche Gesichter die beherrschende Gestalt jenes „künstlichen Menschen", des Staates, mit der Krone auf dem Kopf, gezogenem Schwert in einer Hand und in der anderen einen Bischofsstab. Hier bewahren die Würmer, welche die Gedanken im Geist eines Sektierers darstellen, die „Form und Gestalt des verendeten Tieres". Damit verwandelt sich die Gestalt in ein Bild, das ich schon in Swifts Darstellung des „technischen Verfahrens", nach dem Menschen geschaffen werden, verborgen fand. Der Affe und die Läuse, die er verzehrt, der sexuelle und kollektiv-irrationale Enthusiasmus der Sektierer, der Wahnsinn von Bedlam, die Frau mit der abgezogenen Haut und der sezierte Leichnam des Stutzers, und nun der Leviathan, der sich umwandelt in die Fäulnis des verendeten Tieres - in all diesen Darstellungen liegt eine Kraft, die den Leser abstößt und zugleich gefangennimmt. Seine Absicht war, zwischen sich und diese Bilder eine Barriere von Ironie und Satire zu setzen und so durch den Kontrast die Lehre und Zucht der anglikanischen Kirche zu preisen. Eine Schwächung der anglikanischen Kirche ist nicht nur dadurch bewirkt, daß gezeigt wird, wie das religiöse Erleben aus Geist und Körper der Menschen entspringt. Die gemeinsame Beschaffenheit dieser Schriften 154

zwingt den Leser, sich dessen bewußt zu werden, daß unter dem, was man als die natürliche Form der Gesellschaft betrachtet, eine Energie vorhanden ist, die weder Lehre noch Zucht kennt, jedoch gerade wegen ihres abstoßenden Charakters den Geist an sich zieht und gefangenhält. In A Tale of a Tub kann sich die „Staatsreligion", die diese Energie beherrschen sollte, auf nichts außer Martin stützen. Geringes Bestreben wird im Leser erweckt, für ihn Partei zu ergreifen, wenn er „äußerst phlegmatisch und gelassen" seinen Bruder inständig bittet, er solle doch auf keinen Fall seinen Rock beschädigen, und er hätte „zweifellos einen wunderschönen moralischen Vortrag gehalten, . . . hervorragend dazu angetan, des Lesers Leib und Seele zu erquicken . . . , wenn Hansens Geduldsfaden nicht schon gerissen wäre". (JSW I, 102.) Er wird dadurch nicht eindrucksvoller, daß man weiß, er verkörpert die anglikanische Kirche. Die Kirche verleiht wenig Autorität, wenn das Christentum wie hier zu einem komischen Märchen über drei Brüder geworden ist, die „gemeinsam aus [zogen], ihr Glück zu suchen . . . , durch verschiedene Länder reisten" - so erzählt die Allegorie von der Ausbreitung des Christentums - , „mit der üblichen Zahl von Riesen kämpften und einige Drachen erschlugen" (JSW I, 145). Vor allem gibt es keine Eigenschaft, von welcher A Tale of a Tub weiter entfernt ist als gerade Martins wesentliche Tugend: blinden Gehorsam. Der Stil stellt alles in Frage und gibt keine sichere Antwort. Die Form des Tonnenmärchens ist ein beabsichtigtes Durcheinander und Chaos, in welchem der Leser die Bedeutung entdecken muß. Die Vieldeutigkeit seiner Ironie zwingt dem Leser die Freiheit und Verantwortung auf, selbst zu entscheiden, was der wirkliche, nicht der fiktive, Erzähler meint. Es ist das Denken eines einsamen Mannes. Denn so, wie Swift den Enthusiasmus der Sektierer von seiner „Staatsreligion" trennte, so trennte er sich aus demselben Grunde von jener Energie, die seiner Vorstellung Bilder von verwirrender Kraft eingab.

f

III

Gulliver jedoch muß am Ende seiner Reisen in einer ähnlichen Art von Energie seine eigene wahre Natur erkennen. Das Verhältnis zwischen den Houyhnhnms und den Yahoos ähnelt jenem zwischen dem Staat und dem Enthusiasmus der Sektierer in 155

Swifts früheren Schriften. Die Houyhnhnms sind die moralische Vernunft und etablierte Ordnung; die Yahoos sind das menschliche Tier. Sie werden für den Leser durch dieselbe Art sexueller und exkrementeller Bilder real vorstellbar gemacht, wie Swift sie auch zur Darstellung der Sektierer und der Insassen von Bedlam benutzte. Wie die Sektierer, so agieren auch die Yahoos nicht als Individuen, sondern immer in einer Herde; und für einen Angehörigen dessen, was man seinerzeit die feine Gesellschaft nannte, ist ihre Einheit als Herde abstoßend wie jene der Sektierer in ihrer „kreisförmigen Kette". Sie stellen eine explizitere Bedrohung einer solchen Gesellschaft dar als die Energie der religiösen Schwärmerei oder des Wahnsinns. Noch ohne besondere Betonung hatte Swift von den Sektierern als den „britischen Werkleuten" gesprochen. Jetzt aber ist die Betonung stark: D i e Yahoos sind nicht nur das sexuelle und ausscheidende menschliche Tier; sie arbeiten für ihre Herren. Sie müssen in einem Zustand der Unterordnung gehalten werden; und Gulliver wird so von den Houyhnhnms verbannt, weil sie befürchten, daß er eine Erhebung der Yahoos anführen könnte: „ . . . sie führten an, da ich einige Elemente Vernunft besäße, so sei, wenn sie zu der natürlichen Verderbtheit dieser Tiere noch hinzukomme, zu fürchten, daß ich sie in die waldigen und gebirgigen Teile des Landes locken und sie nachts in Scharen herbeiführen könnte, um das Vieh der Houyhnhnms zu töten . . . " (JSW HI, 381.) Auch wird der Leser den Yahoos weit näher gebracht als den Sektierern oder den Wahnsinnigen, von welchen die Satire ihn auf Distanz hielt. In ihrer selbstsicheren Anwendung von Ironie und Witz zeigte die Satire die Gewißheit, daß trotz des Widerspruchs zwischen Absicht und Wirkung die moralischen Normen, nach welchen die Sektierer verurteilt wurden, Normen von Autorität und Macht waren. Wenn Swift erzählt, wie Gulliver erkennt, daß er selbst ein verabscheuungswürdiger Yahoo ist, liegt darin weder Witz noch Ironie. D i e Wahrheit ist ein Schock für sein ganzes Sein, den der Leser unmittelbar teilt. Aus Gullivers Abenteuern in Lilliput und Brobdingnag weiß der Leser, daß Gulliver einen Körper mit ebendenselben Funktionen hat wie die Yahoos. D i e Lilliputaner hatten die Größe seiner Geschlechtsteile bewundert. Der abstoßende Beweis seiner Yahoo-Natur - daß der Anblick seines nackten Körpers ein Yahooweibchen mit sexueller Begierde entflammt - hat körperliche Überzeugungskraft. „Denn jetzt konnte ich nicht mehr leugnen, daß ich in jedem 156

Glied und nach jedem Merkmal ein richtiger Yahoo war, da die Weibchen eine natürliche Zuneigung zu mir empfanden, wie zu einem ihrer eigenen Art." (JSW III, 366.) Dieser Vorfall ereignet sich jedoch erst, nachdem zwei Drittel des Weges der Reise in das Land der Houyhnhnms zurückgelegt sind. Bis zu diesem Zeitpunkt hat Gulliver nicht Abneigung dagegen empfunden, daß er selbst ein Yahoo ist, sondern Besorgnis darüber, daß die Houyhnhnms ihn ohne seine Kleider sehen könnten. Es ist nicht seine Nacktheit, die er zu verstecken braucht - für die Houyhnhnms ist Sex nicht mehr als natürliche und zweckmäßige Fortpflanzung; es ist das Zeugnis dafür, daß Kleider, wie in A Tale of a Tub, den Menschen machen und die Wirklichkeit der menschlichen Gesellschaft verbergen. In moralischem und nicht in körperlichem Sinne wird England als ein Land von Yahoos bezeichnet. Zuerst steht Gulliver für sein Land ein. Ironischerweise läßt Swift ihn überlegen-wissend über die Bemerkung seines HouyhnhnmHerrn lächeln, daß die Menschen in ihren Kriegen glücklicherweise nicht viel Schaden anrichten könnten: „Da nämlich euer Mund nicht aus eurem Gesicht herausragt, könnt ihr euch kaum wirkungsvoll beißen, es sei denn mit Einwilligung." (JSW III, 341.) Gulliver klärt ihn auf, und die Schrecken des Krieges werden Beispiele der „Tapferkeit meiner eigenen teuren Landsleute": So „versicherte ich ihm, ich hätte gesehen, daß sie bei einer Belagerung hundert Feinde auf einmal und ebenso viele auf einem Schiff in die Luft gesprengt hätten, und hätte zugeschaut, wie die Leichen zum großen Ergötzen der Zuschauer stückweise aus den Wolken herunterfielen." (JSW III, 342.) Doch bald schwindet die Ironie, und Gulliver selbst spricht von seinen Landsleuten als Yahoos in einem Sinne, der sich von seiner eigenen Vorstellung als Yahoowesen stark unterscheidet. Die Substanz dessen, was er sagt, hätte so auch Swift direkt aussprechen können. „Daraufhin gab ich mir große Mühe, ihm den Gebrauch des Geldes, das Material, aus dem es hergestellt wird, und den Wert der Metalle zu beschreiben. Wenn ein Yahoo einen großen Vorrat von dieser kostbaren Substanz habe, so sei er imstande, alles zu kaufen, wonach es ihn gelüste: die herrlichste Kleidung, die prächtigsten Häuser, große Landstriche, die kostspieligsten Speisen und Getränke, und er könne seine Wahl unter den schönsten Frauen treffen. Da nun das Geld allein imstande sei, all dies zu bewirken, so glaubten unsere Yahoos, sie könnten nie genug davon haben, um 157

es auszugeben oder zu sparen, je nachdem sie sich ihrem natürlichen Hang zufolge entweder zur Verschwendung oder zum Geiz geneigt fänden. Der Reiche genieße die Früchte der Arbeit der Armen, und die Zahl der Reichen verhalte sich zu der der Armen wie eins zu tausend. Diese Masse unseres Volkes sei gezwungen, im Elend zu leben, indem sie jeden Tag für geringen Lohn schwer arbeite, damit einige wenige im Überfluß leben könnten." (JSW III, 347.) Es sind jene mit Geld, wie wir feststellen müssen, die als Yahoos bezeichnet werden. Auch wenn Swift die Yahoos im Lande der Houyhnhnms mittels derselben Bilder beschreibt, die er zur Verspottung der Sektierer verwendet hatte, richtet sich doch jetzt der Abscheu, den das Wort „Yahoo" erregt, nicht gegen Sektierer, sondern gegen die Reichen, gegen Fürsten, Staatsminister und den Adel. In seiner Anwendung auf England wird „Yahoo" zu einem Begriff, der allein die Herrschenden .der Gesellschaft verurteilt D a seine Bedeutung so gewandelt wurde, ist nun nicht mehr die Rede vom körperlich-menschlichen Tier oder von einer minderwertigen Klasse, die für ihre Herren arbeiten muß. Der Tatsache, daß tausend Arme schwer arbeiten müssen, damit einige wenige im Überfluß leben können, wird nicht weiter nachgegangen, und ebensowenig der ironischen Erklärung der Rechte der Armen in dem Passus, welcher dem oben zitierten folgt: „Ich ließ mich sehr weitläufig über diese und viele andere diesbezügliche Einzelheiten aus; Seine Gnaden verstand mich aber immer noch nicht, denn er ging von der. Voraussetzung aus, daß alle Lebewesen ein Recht auf ihren Anteil an den Produkten der Erde hätten, und vor allem diejenigen, die über die anderen herrschten." (JSW III, 347.) Das Gespräch verläßt dieses Thema und wendet sich den schlechten Auswirkungen dessen zu, daß England den größeren Teil seiner Bedarfsgüter exportiert und „dafür die Grundstoffe für Krankheiten, Torheit und Laster" zurückerhält, denen nur die Reichen anheimfallen. (JSW III, 348.) In England gibt es keine solchen Yahoos . wie im Land der Houyhnhnms. Hier gibt es moralische Yahoos; doch es gibt keine Herde menschliche Tiere außerhalb der sittlichen Ordnung, die sich gegen ihre Herren erheben könnten. Die Gesellschaft ist, wenn auch moralisch verderbt, feststehend. Krone und Staat werden aus "der Satire ausgeschlossen, und die anglikanische Kirche wird nicht erwähnt. Da die Yahoos des Houyhnhnm-Landes so aus England fernge158

halten werden, kann man sagen, daß Swift, auch wenn er Gulliver in ihnen sich selbst erkennen läßt, sich letztlich doch von ihrer Energie distanziert. Doch man muß daran denken, wie Swift den Leser zwischen zwei entgegengesetzten Standpunkten unterscheiden und sich im Geiste zwischen ihnen hin- und herbewegen läßt - zum Beispiel um zu sehen, daß Gulliver in Brobdingnag selbst das geworden ist, was er in Lilliput sah, und daß die ihn jetzt umgebenden Riesen das sind, was er damals für die anderen war. Wenn die Engländer Yahoos sind, dann gibt es keine Spannung in der Gesellschaft, denn alle sind Yahoos. Wenn jedoch das Land der Houyhnhnms England ist, dann gibt es Spannungen. Denn es gibt eine Herde menschlicher Tiere, die in Unterwerfung gehalten werden müssen; doch diese sind wir selbst. IV Wenn Swift seinen Gulliver bei dessen Rückkehr nach England sich von aller menschlichen Gesellschaft zurückziehen ließ, da er an einer Besserung der Yahpos verzweifelt, stellte er sich nicht selbst dar. In den Jahren, nachdem er Gulliver's Travels geschrieben hatte, widmete er seine Kräfte der Führung des Kampfes des irischen Volkes. Was er vordem satirisch dargestellt hatte, brachte er jetzt zum Leben. Durch seine Drapier's Letters (1723/24; Briefe eines Tucbhändlers) erweckte er eine Zeitlang im irischen Volk jenes Bewußtsein seiner selbst als einer ihrer Freiheit beraubten Nation, welches vordem Objekt seines Angriffs gewesen war, als er den Enthusiasmus der Sektierer satirisch darstellte. Er brachte die kollektive Begeisterung des Volkes zum Höhepunkt und richtete sich gegen einen Staat, den er nicht als Verkörperung einer rationellen und moralischen göttlichen Ordnung begriff, sondern als die fremde Tyrannei Englands verabscheute. Er wandte sich an das ganze Volk in der volkstümlichen Sprache der Flugschrift und des Gedichts A New Song on Wood's Halfpence (Ein neues Lied über Woods Halfpennystücke): Ihr Menschen von Irland, in Stadt und in Land, Kommt, hört mit Geduld, hört zu meinem Sang, Diesmal entscheide ich mich Noch klüger bedacht als nur witzig zu sein Was keiner leugnen kann. 159

Die Halfpennies kommen, das Ende der Nation, Das Ende Eures Pflügens, Eures Backens und Brauens, Nun kurz: Ihr alle müßt in den Ruin gehen Was keiner leugnen kann. Die Höh'ren und die Niedrigen, die Dicken und Dünnen, Die Reichen und Armen, und Freiheit und Sklaverei, Alles wird leiden, dieser und jener und jedermann Was keiner leugnen kann. 38 Dennoch schrieb Swift an Pope: „Ich gestehe, und dies ganz ohne Heuchelei, daß Ihre freundliche Meinung von mir als einem Patrioten, da Sie es so nennen, von mir flicht verdient ist; denn was ich tue, ist durch reinen Zorn und Abscheu verursacht, und durch den verzweifelten Anblick von Sklaverei, Wahnwitz und Niedrigkeit rund um mich her, unter welchen zu leben ich gezwungen bin." Obwohl Swift nach Woods Niederlage und der Zurückziehung seiner Halfpennystücke der „Liebling des Volkes" war, identifizierte er sich doch nicht mit ihm. Zwar rief er das ganze Volk auf, für die Freiheit Irlands zu kämpfen, doch wünschte er nicht, daß alle die Freiheit genießen sollten. Er sprach für das, was als das „irische Interesse" bezeichnet wurde, nämlich der Anglo-Iren, die als Abkömmlinge der ursprünglichen englischen Siedler in Irland für sich in Anspruch nahmen, die Rechte von Untertanen der englischen Krone zu haben, welche das englische Parlament durch seine Einmischung in irische Angelegenheiten verletzte. Doch hatten nach Swifts Auffassung die Untertanen der Krone in Irland keine größeren Rechte als in England. Er war ebenso stark gegen irische Dissenter und1 Katholiken wie gegen englische; und in den 1730er Jahren schrieb er weiterhin Pamphlete und ließ frühere Schriften nachdrukken, in denen er gegen die Beseitigung des Testeids auftrat. Obwohl der englische Staat tyrannisch war, verteidigte Swift doch „die Religion des Staates". Obwohl er auf seiten der ärmeren Geistlichen gegen die Bischöfe stand, verteidigte er doch die Kirche von Irland, deren Geist anglikanisch war. Er glaubte auch immer noch, wie mir scheint, an Gott. Trotz seines tiefen Verständnisses der ökonomischen Lage Irlands und der Politik der englischen Regierung glaubte er wie eh und je daran, daß das Sein der Gesellschaft in die Kategorie metaphysischer Sittlichkeit gehört.

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Seine letzte große Satire, A Modest Proposal... (1729; Bescheidener Vorschlag, wie man verhüten kann, daß die Kinder armer Leute in Irland ihren Eltern oder dem Lande zur Last fallen und wie sie der Allgemeinheit nutzbar gemacht werden können), bestätigt gewissermaßen gerade durch die Negation das unveränderliche moralische Sein der Gesellschaft. Um das Elend seines Landes zu heilen, schlägt ein Mann mit ruhiger und vernunftbeherrschter Stimme vor, daß die kleinen Kinder der Armen gemästet und an die Reichen als Fleisch verkauft werden sollten. Als Beweis dafür, daß er nicht das geringste persönliche Interesse verfolge, gibt er an, daß seine eigenen Kinder über das marktfähige Alter und seine Frau über das Kinderkriegen hinaus seien. Der Leser ist vom Schrecken geradezu überwältigt. Das Wesen des Menschen ist die moralische Verderbtheit, deren er sich in seiner Selbstzufriedenheit nicht bewußt ist. Die Satire sagt: dies ist das Wesen des Menschen; aber gerade dadurch, daß sie es so sagt, bestreitet sie es. Wie es scheint, erleben wir den ganz normalen Fall einer vernünftigen Unterhaltung über soziale Probleme: wir sollen uns einen „bescheidenen Vorschlag" anhören. Dann gelangt unter dieses Bewußtsein der Beteiligung an einer gebildeten Diskussion ein Gefühl sexueller Neugier angesichts der „Bettler weiblichen Geschlechts"; und da sie Bettler sind: ein Gefühl der Freiheit. Sie sind nur menschliche Tiere: man weiß, „daß ein frisch geworfenes Kind ein Sonnenjahr lang mit Muttermilch ernährt werden kann": „ . . . zwanzigtausend [sollten] für die Zucht, zurückbehalten werden . . . ; davon braucht nur ein Viertel männlichen Geschlechts zu sein, was mehr ist, als wir bei Schafen, schwarzen Rindern oder Schweinen dafür vorsehen". Es rührt sich auch ein Gefühl der Grausamkeit bei der Vorstellung, „die Kinder lebendig zu kaufen", den Leichnam abzuhäuten, wie damals die Frau abgehäutet war, um „Sommerstiefel für feine Herren" herzustellen, wie ja auch Gulliver sich Schuhe aus der Haut der Yahoos herstellte. (JSW III, 514-517.) In der Phantasie begeht der Leser selbst diese ungeheuerlichen Taten. Dann, während er den Rechnungen für die Ausgaben für die Zucht und Gewinne beim Verkauf folgt, wird er sich dessen bewußt, daß er den Vorschlag ernst nahm. Der Schock stimuliert die Fähigkeit im Menschen, sich seiner selbst bewußt zu werden. So bestätigt die Satire, daß es im Menschen nicht nur moralische Verderbtheit, sondern auch eine entgegengerichtete Kraft gibt. 11

Southall/Magister

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Diese soll er nicht nur anwenden, indem er sich selbst als Individuum moralisch verändert. Der Zweck des Bewußtmachens von Handlungen des sexuellen Sadismus, die er in seiner Phantasie und durch seine Komplizenschaft beim „bescheidenen Vorschlag" begangen hat, ist, daß er in sich selbst die soziale Unmenschlichkeit erkennt, die diese Handlungen und diese Komplizenschaft verkörpern. Diese Unmenschlichkeit aber kann nicht durch das Bewußtwerden der Sünde des Individuums beendigt werden, sondern nur durch die Tätigkeit der Nation. Somit richtet sich diese Satire gegen das Unvermögen des irischen Volkes, für die Besserung seiner Lage zu handeln. „Deshalb rede mir keiner von anderen Auswegen: Unsere im Ausland lebenden Grundbesitzer mit fünf Shilling pro Pfund zu besteuern; weder Kleider noch Haushaltsstoffe zu benutzen, die nicht bei uns erzeugt und verarbeitet sind; ausnahmslos alle Stoffe und Artikel zu verpönen, die ausländischen Luxus fördern; unseren Frauen die kostspieligen Laster der Hoffart, der Eitelkeit, der Faulheit und des Kartenspiels auszutreiben; eine Neigung zu Sparsamkeit, Klugheit und Mäßigung zu wecken; zu lernen, unser Vaterland zu lieben, worin wir uns sogar von Lappländern und den Einwohnern von Topinambu unterscheiden; unsere Feindseligkeiten und unseren Parteigeist aufzugeben und nicht länger wie die Juden zu bandeln, die sich selbst in dem Augenblick noch gegenseitig umbrachten, als ihre Stadt erobert wurde; uns ein wenig in acht zu nehmen, nicht Land und Gewissen umsonst zu verkaufen; den Grundbesitzern beizubringen, ihren Pächtern gegenüber wenigstens eine Spur von Erbarmen zu zeigen; oder schließlich den Geist der Ehrlichheit, des Fleißes und der Sachkenntnis unseren Ladenbesitzern einzuflößen, die sieb, wenn man fetzt einen Beschluß fassen könnte, nur noch unsere einheimischen Waren zu kaufen, sofort verbünden würden, um uns im Preis, im Maß und in der Güte zu betrügen und zu übervorteilen; wie man sie auch bisher trotz wiederholter eindringlicher Appelle nie dazu hat bewegen können, auch nur ein ehrliches Anerbieten zu anständigem Geschäftsgebaren zu machen." (JSW III, 521-522.) Der Ton der Ruhe und Vernunft ist verschwunden, und ebenso auch vom Schluß: Es gibt „im ganzen Königreich eine runde Million Lebewesen in Menschengestalt, deren gesamte Unterhaltungsmittel, miteinander verschmolzen, ein Debet von zwei Millionen Pfund Sterling ergeben würden; wobei wir zu den gewerbsmäßigen Bettlern 162

die große Masse von Pächtern, Häuslern und Arbeitern mit ihren Weibern und Kindern hinzurechnen, die effektiv Bettler sind. Ich bitte jene Politiker, denen mein Vorschlag nicht gefällt und die viel4eicht so kühn sind, eine Entgegnung zu versuchen, zuerst einmal die Eltern dieser Menschen zu fragen, ob sie nicht heute dächten, es wäre ein großes Glück gewesen, wenn man sie im Alter von einem Jahr in der vorn beschriebenen Weise als Nahrungsmittel verkauft hätte, so daß ihnen ein Dasein immerwährenden Elends erspart geblieben wäre, wie sie es seither durchgemacht haben infolge der Unterdrückung durch die Grundbesitzer, infolge der Unmöglichkeit, ohne Geld oder Verkaufserlös ihre Pacht zu zahlen, mangels alltäglicher Lebensmittel, ohne Haus oder Kleider, um sich vor den Unbilden des Wetters zu schützen, und mit der unvermeidlichen Aussicht, ihren Nachkommen auf ewig das gleiche oder noch größeres Elend zu vererben." QSW II, 522-523.) Swift spricht hier nicht nur für die Anglo-Iren, sondern für alle irischen Bauern. Nun muß der einzelne, dem seine Mitverantwortung für ihr unmenschliches Elend bewußt gemacht wurde, für sie gegen die Grundbesitzer und gegen den englischen Staat kämpfen. Dann, zum Ende hin, kehrt wieder der Ton ruhiger Vernunft zurück: „Ich erkläre mit reinem Gewissen, daß ich nicht das geringste persönliche Interesse verfolge, wenn ich mich bemühe, dieses notwendige Werk voranzutreiben, denn mir liegt einzig d i e W o h l f a h r t m e i n e s L a n d e s am Herzen - d u r c h d i e F ö r derung unseres Handels, Versorgung der Kinder, U n t e r s t ü t z u n g der Armen und G e w ä h r u n g e i n i g e n V e r g n ü g e n s f ü r d i e R e i c h e n . Ich habe keine Kinder .. ." (JSW III, 523.) Die Last des moralischen Schreckens vernichtet alle Hoffnung. Wenn dies der Mann ist, der zur Tat ruft, kann es nur Verzweiflung geben. Wie in dem England von Gulliver's Travels ist die gesamte Gesellschaft moralisch korrupt; es gibt keine fruchtbare Spannung zwischen Gut und Böse, aus der Veränderung entspringen könnte. Doch in Swifts Schreiben gibt es Veränderung. Denn die wirklichen Yhahoos aus dem Houyhnhnmland sind hinrin Iranland und sind nicht mehr unter dem moralischen Yahootum englischer Staatsminister versteckt. Und der Leser wird nun durch Swifts Gebrauch der Sprache gezwungen, als Teil seiner selbst das zu erleben, wogegen er noch als Mitglied einer zweckmäßigen Gesellschaft unter der 11*

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einenden „Religion des Staates" durch die Ironie in A Tale of a Tub verteidigt worden war. Diese verteidigende Ironie war auch zerstörerisch. Trotz und wegen seines Glaubens an den rationellen Charakter des Staates als Verkörperung des göttlichen Willens sammelte Swift sein Leben lang Material - wie er an Pope zur Zeit von Gulliver's Travels schrieb - , das zeigte, daß der Mensch in Wahrheit nicht als ein a n i m a 1 r a t i o n a l e , sondern „nur als a n i m a l r a t i o n i s capax"39 zu definieren sei. Die Vernunft, die Swift den Menschen zubilligte, war nicht dieselbe, die sie zu besitzen glaubten. Die Vernunft, derer das menschliche Tier fähig ist, ist die Erkenntnis seiner selbst als Tier. Unter der Kleidung steckt der Körper; und in dem Körper steckt die Fähigkeit zur Begeisterung, der Wahnsinn, stecken die Yahoos aus dem Hoyhnhnmlanid. Wenn die Gesellschaft die Verkörperung des göttlichen Willens sein soll, so müssen die Menschen gegen die Tyrannei des Bösen in sich selbst und im Staate ankämpfen. ' Trotz seines Festhaltens an „der Religion des Staates" und seiner tiefen Abscheu vor der Gewalt des tierischen Wesens im Menschen betrachte ich doch Swifts erbarmungslosen Gebrauch der Satire, die den Menschen zur Erkenntnis seiner selbst und seiner wirklichen Fähigkeiten zwingt, als einen Teil des revolutionären Prozesses.

6 EDGELL

RICKWORD

William Hone40 1. Das Herkommen

eines Parodisten

[...] Das Thema von William Hones Satiren sind nicht, wie man nach den ihnen beigegebenen Illustrationen vermuten könnte, die laxe Moral des Prinzen von Wales und die Indiskretionen seiner königlichen Gemahlin, Caroline von Braunschweig. Es geht auch nicht um die drohende (oder ersehnte) Revolution. Es geht in Wirklichkeit vielmehr um das Wahlrecht zum Parlament, 41 um das Schwur164

einenden „Religion des Staates" durch die Ironie in A Tale of a Tub verteidigt worden war. Diese verteidigende Ironie war auch zerstörerisch. Trotz und wegen seines Glaubens an den rationellen Charakter des Staates als Verkörperung des göttlichen Willens sammelte Swift sein Leben lang Material - wie er an Pope zur Zeit von Gulliver's Travels schrieb - , das zeigte, daß der Mensch in Wahrheit nicht als ein a n i m a 1 r a t i o n a l e , sondern „nur als a n i m a l r a t i o n i s capax"39 zu definieren sei. Die Vernunft, die Swift den Menschen zubilligte, war nicht dieselbe, die sie zu besitzen glaubten. Die Vernunft, derer das menschliche Tier fähig ist, ist die Erkenntnis seiner selbst als Tier. Unter der Kleidung steckt der Körper; und in dem Körper steckt die Fähigkeit zur Begeisterung, der Wahnsinn, stecken die Yahoos aus dem Hoyhnhnmlanid. Wenn die Gesellschaft die Verkörperung des göttlichen Willens sein soll, so müssen die Menschen gegen die Tyrannei des Bösen in sich selbst und im Staate ankämpfen. ' Trotz seines Festhaltens an „der Religion des Staates" und seiner tiefen Abscheu vor der Gewalt des tierischen Wesens im Menschen betrachte ich doch Swifts erbarmungslosen Gebrauch der Satire, die den Menschen zur Erkenntnis seiner selbst und seiner wirklichen Fähigkeiten zwingt, als einen Teil des revolutionären Prozesses.

6 EDGELL

RICKWORD

William Hone40 1. Das Herkommen

eines Parodisten

[...] Das Thema von William Hones Satiren sind nicht, wie man nach den ihnen beigegebenen Illustrationen vermuten könnte, die laxe Moral des Prinzen von Wales und die Indiskretionen seiner königlichen Gemahlin, Caroline von Braunschweig. Es geht auch nicht um die drohende (oder ersehnte) Revolution. Es geht in Wirklichkeit vielmehr um das Wahlrecht zum Parlament, 41 um das Schwur164

gerichtsverfahren und um die Pressefreiheit. Der Ehebruch und die $chlemmerei sind nur die Würze, um jene Satiren genießbar zu machen. D i e Verschwendung und die Ausschweifung, die übermütigen Launen in höfischen Kreisen, der schwindelerregende Karneval der Regentschaftsgesellschaft 4 2 - das alles war noch nicht der Hauptgrund des Elends, das in Großbritannien herrschte. Niemand wußte die vollständige Lösung, und wir werden sie auch nicht zu finden versuchen. Und doch spürte man überall einen Geist, der den Menschen Vertrauen einflößte, daß eine Lösung zu finden war. Manche folgten Major Cartwright' 13 und glaubten, die Rückkehr zu den alten angelsächsischen Institutionen sei die gesuchte Antwort; andere, mehr an der Zahl, waren überzeugt, die Franzosen hätten 1789 einen guten Start gemacht. Diese Ideen - insbesondere die zweite - riefen im Regime eine geistlose Reaktion hervor. Obwohl die zwanzig Jahre währenden Opfer an Blut und Besitz schließlich einen Bourbonen auf den französischen Thron zurückgebracht sowie die Hegemonie der Thronfolge und der römisch-katholischen Kirche über ganz Westeuropa wiederhergestellt hatten, zeigte die furchtbare Krankheit des „Jakobinertums" in Großbritannien erneut ihre Lebenskraft. Infolgedessen flüchteten die Nachfolger William Pitts und E d mund Burkes 4 4 in eine Politik der Unterdrückung und der Aufreizung; dabei fehlten ihnen allerdings sowohl das Talent des einen Vorgängers als auch die Beredsamkeit des anderen. Aber sie sorgten zumindest für ein reiches E r b e an Karikaturen für ihre Nachwelt. Und dafür lieferten Hone und Cruikshank /l5 die bedeutsamsten Beiträge. [ . . . ] Man wird es als Charakteristikum der Pamphlete, deren Text von Hone verfaßt war, verstehen, daß sie mit sehr vielen Zitaten durchsetzt sind, die aus einem erstaunlich breiten Quellenspektrum stammen und in der Regel von unmittelbarer Relevanz sind. D a s erklärt sich einerseits aus einer magischen Anziehungskraft des Gedruckten, andererseits natürlich aus einem Gedächtnis von geradezu photographischer Schärfe. So berichtet er: „ E s war meine Angewohnheit, mir jedes Stück bedruckten und beschriebenen Papiers zu eigen zu machen, stamme es auch vom Käsehändler oder aus einem anderen Laden. Eines Tages begegnete mir ein altes Blatt, das einen Teil der energischen Verteidigungsrede irgendeines Mannes darzustellen schien. Weder ich noch mein Vater konnten entdecken, um wen es sich dabei handelte . . . Schließlich 165

erhielt ich die Auskunft von einem Buchhändler, der ein Exemplar des ganzen Buches besaß. Es war The Trial of John Lilburne (Der Prozeß des John Lilburne) . . . Mit Geduld, Fleiß und außergewöhnlicher Geschicklichkeit brachte ich eine halbe Krone zusammen eine Zeitlang hatte ich meine Ressourcen dadurch vergrößert, daß ich Spielsachen und Kästen verkaufte, die ich aus Karton gemacht hatte - und kaufte das Buch." Obwohl er zu dieser Zeit erst elf Jahre alt war, sagt er: „Seit dem Pilgrim's Progress hatte mich kein Buch so gefesselt. Ich spürte Lilburnes46 entrüstete Gefühle, bewunderte seinen unerschrockenen Geist, frohlockte über seinen Freispruch und verabscheute Cromwell als Tyrann, weil er ihn zurück in den Tower schaffen ließ, obwohl ihn das Gericht von der Anschuldigung (des Hochverrats) freigesprochen hatte." Er sagt, diese Lektüre ließ in ihm neue Gefühle entstehen - und den Wunsch, Verfassungsrecht zu studieren. Ein frühreifer Jüngling! Es wäre sicher keine Phantasterei, sich vorzustellen, daß die Erinnerung an diesen starken Eindruck von Lilburnes Standhaftigkeit seine erlahmenden Kräfte während seiner eigenen endlosen Prozesse wieder geweckt hat. Aber er berichtet von einer noch früheren politischen Erfahrung, mehr mit den Nerven gefühlt als mit dem Verstand begriffen, denn er war zu dieser Zeit erst neun Jahre und einen Monat alt. „Im Juli 1779 hielt mich plötzlich ein Junge, den ich kannte, in Hand Court, Holborn, beim Reifenschlagen an. Sich geheimnisvoll umsehend, flüsterte er mir zu: 'In Frankreich ist Revolution!' Da ich noch wenig wußte, war mir das Wort 'Revolution' fremd. Ich starrte ihn an und fragte ihn: 'Eine Revolution - was ist das?' - 'Nun, die Leute in Paris haben die Bastille erobert und den Kommandanten aufgehängt; dann haben sie alle Gefangenen freigelassen und die Bastille abgerissen.""17 Hönes Mutter war eine charaktervolle Frau mit eigenen Ansichten. Sie bewunderte Cromwell. Als die Nationalversammlung den konterrevolutionären Kräften den Krieg erklärte, begann sie, sich eine Tageszeitung zu halten. Mit der zusätzlichen Hilfe der von der „Association for Preserving Liberty and Property against Republicans and Levellers" (Gesellschaft zur Wahrung von Freiheit und Besitz gegen Republikaner und Leveller) ausgehenden Propaganda schmiedete der junge Hone ein Gedicht zusammen, das erkennen läßt, daß er immer noch im Bann des „Konstitutionalismus" stand. Es hieß The Contrast (Der Gegensatz). Auf einem Viertelbogen gedruckt,

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wurde ein Exemplar an die Gesellschaft geschickt, „was mir einen schmeichelnden Dankesbrief ihres Sekretärs eintrug". Es ist lustig, den zukünftigen Radikalen, Schreckgespenst aller Loyalisten, so flüssig mit konservativen Klischees umgehen zu sehen: „Sei einig, stolzer Brite, für unser groß' Gefecht" für König und für Freiheit, für unser aller Recht, sei stolz und preis' dich glücklich, wir haben die Konstitution, im Staube soll zerfallen der Franzosen Revolution! Gleichmacherischer Marat, und Tom Paine, trüber Wicht, bleibt wo ihr seid, wir brauchen Euch hier im Lande nicht!" 2. Rauhe Zeiten des

Erwachsenwerdens

„So barbarisch waren manche Taten, die in jener Zeit im Namen des Rechts geschahen, und so schmerzhaft war der Eindruck, den sie auf mich machten, als ich etwa sechzehn Jahre alt war, daß ich sicher nach Amerika ausgewandert wäre, hätte ich die finanziellen Mittel dafür gehabt, und ich wäre auch, fürchte ich, nicht pingelig gewesen, sie mir zu verschaffen . . . " Der dies schrieb, Ebenezer Elliott 48 , war später unter dem Namen Corn-Law Rhymer bekanntgeworden. Er war ein Jahr jünger als Hone und wuchs auf dem Lande in Yorkshire auf, allerdings in der Nähe einer Eisengießerei. Elliotts Vater, der die Gießerei leitete, war ein Dissenter, wie es auch Hone war; der Eisenhüttenbesitzer gehörte jedoch einer extremeren Sekte an. Er war glühender Calvinist und pflegte von der Hölle zu predigen, „in der spannenlange Kinder herumhängen". Seine politischen Ansichten waren ultra-radikal; „er liebte es, sich über die Tugenden des verleumdeten Cromwell und des Rebellen Washington zu ereifern". Als es der örtlichen Polizeitruppe gefiel, ihre Pferde zu satteln, um die Fenster dieses jakobinischen Hauses einzuschlagen, war ihm klar, daß ihm die Gerichte nicht beistehen würden. Dieser „weiße Terror" hatte in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts das ganze Land erfaßt. Gab es nur den Schatten einer rechtlichen Begründung, bedienten sich die Behörden seiner mit Freuden; gab es keinen rechtlichen Vorwand, wurde eine Art Lynch- oder Mob-Recht praktiziert: Die erste Methode wurde anschaulich durch jenen Prozeß exemplifiziert, in dem die Delegierten der „London Corresponding Society to the Scottish Convention" (Londoner Kor167

respondierende Gesellschaft für die Schottische Versammlung) 1794 in Edinburgh zu langen Verbannungsstrafen verurteilt wurden. Ein typisches Beispiel der zweiten Methode ist der „Church-and-KingMob", der 1792 Joseph Priestleys49 Bücherei und Arbeitsstätte in Birmingham zerstörte. Als der noch nicht fünfzehnjährige Hone in London Vorträge zu hören begann, die mehr oder weniger versteckt unter der Schirmherrschaft der „London Corresponding Society"50 standen, lief er Gefahr, sich nach den scharfen Gesetzen des Pitt-Regimes strafbar zu machen. Zweifellos schlichen genug finstere Individuen herum, die nicht gezögert hätten, sich seine Jugend zunutze zu machen, um ihn in die „eiserne Falle des Gesetzes" zu locken. Ich habe jene zwei herausragenden Beispiele genannt, um das allgemeine, allgegenwärtige Wesen des Terrors zu illustrieren. Diese Tatsache wurde von all jenen „unparteilichen" Historikern heruntergespielt, die - einst für ihre „ausgeglichene", „neutrale" Darstellung gepriesen - inzwischen von einer Schule abgelöst worden sind, die eine dynamische Interpretation nicht scheut. Uns vorliegende zeitgenössische Darstellungen der Verhältnisse, unter denen in jener Zeit „Gerechtigkeit" durchgesetzt wurde, beseitigen jenen Respekt für die Apologeten des Regimes. In der Besserungsanstalt von Cold Bath Fields, keine Meile von Hönes Wohnung entfernt, waren die Lebensbedingungen nicht besser als unter der Folter auf dem europäischen Kontinent. Geld konnte manchmal eine Erleichterung der Gefängnisbedingungen bewirken, und oft wurden Sammlungen durchgeführt, um die Gefangenen auf diese Weise zu unterstützen, aber das war eben nur ein Linderungsmittel. Der junge Hone wuchs in dieser so gespannten Atmosphäre auf, die einen dramatischen Höhepunkt erreichte, als den Anführern der „London Corresponding Society" im Oktober 1794 in einem Prozeß vor dem Old Bailey die Todesstrafe drohte. Die von der „Society" veranstalteten Massenmeetings müssen den Jungen angezogen haben, dessen Geist einst durch Lilburnes Herausforderung einer tyrannischen Regierung in Spannung gesetzt worden war. Es ist bedauerlich, daß die reaktionären Maßnahmen gegen das Engagement in politischen Fragen, das Hone in seinen mittleren Jahren ergriff, ihn daran hinderten, seine Haltung in jenen Tagen umfassender darzustellen. Er hat uns nur einen ganz knappen Bericht in seinem Memoir hinterlassen: „Als ich ungefähr sechzehn Jahre alt war, wurde ich Mitglied der 'London Corresponding Society' - sehr zum Kummer meines Vaters. 168

Meine Verbindung zu ihr und zu anderen Debattierklubs machte das Unglück noch vollständiger . . . Ich ließ mich zu dieser miserablen Neuen Philosophie bekehren, wie man sie damals nannte; inzwischen hat sie Mr. Robert Owen überarbeitet und sie unter der Bezeichnung 'Sozialismus' systematisch zu verbreiten versucht." 51 In den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts müssen es ein Godwinscher Anarchismus und ein oberflächlicher Materialismus gewesen sein, was ihn verführte; Sozialismus war es nicht. [...] Deismus und Materialismus wurden in dieser Zeit viel diskutiert. Richard Carlile 52 veröffentlichte noch nicht seine häretischen Traktate, aber D. I. Eaton war ihm zuvorgekommen und veröffentlichte 1795 den ersten Teil von Paines Age of Reason (Zeitalter der Vernunft). Von den achtziger Jahren an waren außerdem Übersetzungen (teilweise in Auszügen) der französischen P h i l o s o p h i e Rousseau, Voltaire, Helvetius, Diderot, Volney, d'Holbach - im Umlauf.

3. Hohe Ziele eines kleinen

Buchhändlers

Als Hone von Chatham nach London zurückkehrte, 53 ging er auf die achtzehn zu. Abgesehen von seinem liebenswürdigen Charakter, schnellen Verstand und vielseitigen Allgemeinwissen brachte er für seine berufliche Karriere keinerlei Qualifikation mit. E r nahm eine Wohnung in Lambeth und arbeitete eine Zeitlang als Schreiber bei einem Rechtsanwalt. Sonntags ging er zur Kirche, weil er fand, daß ihn sein Verlust jedes religiösen Glaubens der Frustration ausgeliefert hatte. Systematisch studierte er die Bibel und war bestrebt, ihr ethische Verhaltensregeln zu entnehmen, frei von allem Übernatürlichen. Obwohl damit nicht zufriedengestellt, schien er sich zunächst auf eine Art Nächstenliebe eingerichtet zu haben. Dann verliebte er sich in die Tochter seiner Wirtin, heiratete sie und eröffnete eine kleine Buchhandlung mit Leihbücherei und Papierwarenverkauf. Es wurde schnell deutlich, daß er keinen Geschäftssinn hatte - so hoch auch seine sonstigen Talente zu veranschlagen sein mochten. Bei der Wahl seiner Ehefrau hatte er Glück gehabt, und ihre gegenseitige Zuneigung rettete sie durch ein Leben der Zahlungsunfähigkeit und der Sorgen für eine große Familie. Als in den Jahren 1805/1806 die Invasion drohte, 54 trat er dem Freiwilligencorps des Prinzen von Wales 169

bei. Da sich Lamberti als ungünstige Stelle für solch ein Geschäft erwies, wie sie es führten, zogen sie in die St. Martin's Lane um. Dort fanden sie einen besseren Kundenkreis, darunter einen berühmten Büchersammler, Sir Charles Townley. Mit seiner Hilfe erweiterte Hone sein Wissen über Antiquitäten und seltene Drucke. Doch immer schienen ihm irgendwelche unglücklichen Zufälle zu passieren, die seine schon gefährliche Situation noch verschlimmerten - so war die Mietdauer seiner Geschäftsräume kürzer, als man ihn hatte glauben lassen, und das brachte die Kosten eines neuen Umzugs mit sich. Einige Zeit vor seiner Heirat, als er an Versammlungen der „London Corresponding Society" teilnahm, machte er die Bekanntschaft von John Bone, einem führenden Mitglied und zeitweise ihrem Sekretär. Er war ein berühmter Redner und wurde am Ende des Jahrhunderts zu Gefängnishaft verurteilt. E r soll Buchhändler gewesen sein, was zu einem engeren Kontakt mit Hone geführt haben muß. Auf jeden Fall waren sie an einer gemeinsamen Unternehmung beteiligt, die wir als erste Eintragung in Hönes Bibliographie im Katalog des Britischen Museums finden: The Rules and Regulations of an Institute called Tranquillity (1807; Regeln und Statuten eines Instituts, das sich 'Ruhe' nennt; mit einem Geleitwort von W. Hone). Dieses Geleitwort ist eine Warnung vor der Not der Armut im Alter und ein Loblied auf das jetzt angebotene magische Heilmittel: regelmäßige Sparleistungen aus dem laufenden Verdienst. Eine emotionale Passage in Hönes Tbird Trial (Dritter Prozeß) vermittelt einen Eindruck von den hohen Erwartungen, mit denen er dieses inzwischen diskreditierte Vorhaben in Gang zu setzen bestrebt war: „Ich versuchte, zusammen mit einem Freund, von dem dieser Plan stammte, eine Einrichtung ähnlich den Sparkassen zu schaffen, die jetzt so verbreitet sind. Es waren schon einige Gründer zusammengetreten, und ich sollte ihr Sekretär sein. Unser Ziel war es, die Schirmherrschaft eines Ministers für unseren Plan zu erringen. Damals war Mr. Fox an der Macht. Es war das Regime der Liberalen. Wir hofften, ein Samenkorn in die Erde zu legen, das zu einem großen Baum werden würde - doch den Erfolg fand es in anderen Händen. Es war eine ziemliche Donquichotterie - wir waren närrische Gestalten, närrisch, weil wir glaubten, wenn eine Absicht gut sei, dann ließe sie sich auch verwirklichen. Doch wir begegneten stattdessen soviel Oberflächlichkeit und Hinhaltetaktik, daß es einem das Herz schwermachte." 170

„Don-Quichotte"-Hone blieb sich selbst bis zum Schluß treu, zumindest blieb er gegenüber allen Konsequenzen gleichgültig, in die ihn selbstlose Projekte verwickelten. Weitere neun oder zehn Jahre sollten mit Unternehmungen vergehen, die ihn durch den einen oder anderen Unglücksfall - Feuer, Diebstähl, wirtschaftliche Krisen - immer näher an die Gosse brachten. Und seine Familie wurde immer größer. Er schrieb Kritiken für das Ladies Magazine, gab sechs Monate lang die Critical Review heraus, redigierte Shaw's Gardener und indizierte Froissart, behielt aber nur mit Mühe den Kopf über Wasser. Einmal wurde er zum Auktionator der Buchhändler gewählt, die ein Geschäft mit spekulativen Remissionen machten. Doch Britton bemerkt: „Seine Buchführung war unordentlich, woraus sich in seinem späteren Leben viele Verwicklungen ergabeti."

4. Verleger mit wenig

Kapital

Wie er selber berichtet, begann Hone im zweiten Quartal des Jahres 1815 mit seiner verlegerischen Tätigkeit. Das wird deutlich in The Reformits' Register vom 25. Oktober 1817 ausgesagt. Er schreibt dort: „Es ist jetzt -zweieinhalb Jahre her, seit ich zu verlegen begonnen habe. In dieser Zeit habe ich mehr als 130 Titel herausgebracht, vorwiegend von mir selbst verfaßt. In dieser Zeit ist keine Woche vergangen, ohne daß ich etwas zusammengestellt oder geschrieben habe. War es Prosa oder Poesie, 'Feierliches oder Fröhliches, Lebendiges oder Ernstes' - ich tröste mich mit dem Gedanken: unter dem, was ich aufs Papier gebracht habe, war 'nie Unmoral, nichts ohne Anstand gar, kein Wort, das Grund zum Schämen war.' Es findet sich auch kein einzelnes Stück, ja nicht einmal eine Zeile von profaner oder antireligiöser Tendenz unter meinen Publikationen. Mit einer lebendigen Auffassung vom Mutterwitz und einem unwiderstehlichen Hang zum Humor habe ich gleichzeitig ein solches Interesse an dem Wohlergehen der Gesellschaft und eine so große Ehrfurcht vor der öffentlichen Moral entwickelt, daß ich mir keine Versuchung vorzustellen vermag, die mich dazu verleiten könnte, auch nur eine einzige Zeile zu schreiben, die dem Glück der Gesell171

schaft schaden würde oder gegen die Tugend des einzelnen gerichtet wäre." Es sei festgehalten, daß dieser Widerruf nicht die Empfindlichkeit der Politiker einkalkuliert. Hone muß naiver gewesen sein, als von ihm zu glauben ist, wenn es wirklich nicht seine Absicht war, daß die meisten seiner Publikationen sich gegen diese Leute als höchst aggressiv erwiesen. Aber es ist nicht unmöglich, daß die reine Freude an satirischen Ausflügen seinen Blick für das Risiko getrübt hat, das er in einer Zeit erregter Gegensätze einging. Mit Ausnahme weniger Pamphlete mit humaner Zielsetzung gegen die schlechte Behandlung von Geisteskranken, gegen den Mißbrauch von Blutgeld, über die Gefahren bei der Anerkennung des Indizienbeweises - demonstrierten seine Publikationen die politische Haltung uneingeschränkter Feindseligkeit gegen politische Maßnahmen, Verfahren und Prinzipien der Regierung. In der Zeit, für die Hone den Beginn seines verlegerischen Unternehmens ansetzt, hatten seine Lebensbedingungen ein Niveau erreicht, das fast ans Elend grenzte. Er besaß irgendeine Unterkunft in Old Bailey oder in dessen Nähe, aber verfügte nicht über die Mittel, mehr als ein Zimmer zu möblieren. Seine Frau und vier ihrer sieben Kinder lebten hier, während drei Kinder bei ihrer Großmutter mütterlicherseits in Lambeth in Pflege waren. Er verfügte auch über einen abgeschlossenen Laden im Haus Fleet Street 5 mit einem nur drei Fuß breiten Schaufensterchen. Von dieser Adresse aus vertrieb er seine ersten Veröffentlichungen; hier unterhielt er auch ein kleines Lager von Büchern, Pamphleten und Zeitungen. In den Laden wurde dreimal eingebrochen, und alles wurde ausgeraubt. Es ist nicht überraschend, daß er bei all dieser Mühsal und Sorge einen Schlaganfall erlitten haben will, wie er berichtet. Hone wurde nicht, wie ihm ein Biograph unterstellte, zum Aufdecker von Korruption, der Berichte von Skandalprozessen oder blutigen Kriminalfällen veröffentlichte. Den meisten seiner nicht satirischen Veröffentlichungen lag eine ernsthafte Absicht zugrunde. Er begann mit sehr kurzen Texten, die er für zwei oder sechs Pence verkaufte. Von Anfang an war ihm klar, welche Steigerung der Wirkung durch die Verbindung von Bild und Buchdruck zu erreichen ist. Diese Tradition war damals unter den Lieferanten volkstümlicher Literatur sehr lebendig, deren fruchtbarste Vertreter die Seven Dials 55 waren. [•••] 172

Hönes Pamphlet Tbe King's Statue, at Guildball war der Anfang jener langen und produktiven Zusammenarbeit mit George Cruikshank, die zu einer neuen Form der Karikatur und des Stils der Illustration führte. Der Künstler war zwölf Jahre jünger als sein Verleger, so daß diese Beziehung etwas von dem Verhältnis des älteren und des jüngeren Bruders an sich hatte. Eine herzliche Freundschaft bestand zwischen ihnen. [..•] Cruikshank hatte inzwischen Rowlandsons56 Nachfolge als führender politischer Karikaturist angetreten. Die Zusammenarbeit mit ihm war für Hone sicherlich keine Empfehlung in den Augen der Sicherheitskräfte, die wachsam auf alle Bekundungen radikaler Auffassungen achteten, zumal Cruikshank bereits einige der grausamsten Phantasien gestaltet hatte, zu denen er durch die amourösen Torheiten des Prinzen inspiriert wurde. Eine von ihnen war durch Charles Lambs57 Spottgedifht auf des Prinzen Fettleibigkeit, The Triumph of the Whale (Der Triumph des Wals), angeregt. [.••] Jene wenigen Publikationen können nicht viel dazu beigetragen haben, die Zwangslage eines verheirateten Mannes mit sieben Kindern zu erleichtern. Nur eines der Pamphlete, das der Produktion dieses Jahres (1815) zugerechnet werden kann, leistete eine wesentliche Hilfe zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse der Familie. Es war die einzige Gelegenheit, bei der Hönes grundsätzlich humane Antriebe, die oft von seiner Zeit und Arbeitskraft Besitz ergriffen hatten, wenn er es sich eigentlich schlecht leisten konnte, ihm geschäftlichen Nutzen brachten. Das Pamphlet war von tiefem Mitleid für das Schicksal eines jungen Dienstmädchens inspiriert, das wegen angeblicher Vergiftung ihres Herren, ihrer Herrin und deren Kinder zum Tode verurteilt worden war. Der Prozeß hatte viel Interesse erregt, und auf die Schlüssigkeit des Beweises waren so viele Zweifel gefallen, daß man ihre Begnadigung erwartet hatte. Doch die Begnadigung war abgelehnt worden. Durch das Eingreifen der Vorsehung, so schien es hinterher, fand sich Hone in der Menge außerhalb Newgate zu der Zeit wieder, als das Mädchen gehängt werden sollte. Jahre danach beschrieb er die Szene und die Kette der Ereignisse, die ihr unerwartet folgten. Ich zitiere ausführlich, weil die unzusammenhängende Erzählung, wie sie von Mrs. Rolleston dargeboten wird, den Eindruck der Aktualisierung vermittelt: „Ich ging die Newgate Street hinunter, weil ich etwas Geschäft173

liches zu erledigen hatte. Ich1 geriet dabei in eine riesige Menschenmenge, die mich gegen meinen Willen mit forttrug. Schließlich befand ich mich unter dem Galgen, an dem Eliza Fenning aufgehängt werden sollte. Mich packte ungeheures Entsetzen, den Vollzug der Todesstrafe mitzuerleben, und besonders in diesem Fall, wo es sich um ein junges Mädchen handelte, das eine ganze Familie ermordet hatte. Doch ich konnte mir nicht helfen, ich war zu eng eingekeilt. Dann wurde sie herausgebracht. Ich konnte nichts sehen, hörte aber alles. Ich hörte sie ihre Unschuld beteuern - ich hörte das Gebet - ich konnte nichts mehr hören. Ich stopfte mir die Ohren zu und weiß nichts mehr, bis ich mich inmitten der auseinandergehenden Menge fern von dem entsetzlichen Platz wiederfand. Ich ging zu dem Haus des Buchhändlers, mit dem ich sehr befreundet war. Ich bat ihn um ein Glas Wasser, setzte mich und erzählte ihm, was ich gesehen hatte. Ich sagte: 'Dieses unglückliche Mädchen Eliza Fenning starb mit einer Lüge auf den Lippen.' - 'Freund Hone', antwortete er, 'sie ist jetzt bei ihrem allmächtigen Vater; ich habe sie im Gefängnis besucht genau wie einige meiner Freunde, und wir sind alle von ihrer Unschuld überzeugt.' Ich fuhr sofort auf: 'Warum wurde sie dann gehängt?' - 'Wir haben alle nur möglichen Anstrengungen unternommen, um ihr Leben zu retten', antwortete er, 'aber auf uns hat leider niemand gehört.' - 'Man müßte die Öffentlichkeit aufrütteln', sagte ich. 'Sie sind der Mann, der das tun könnte', erwiderte er. (Ich glaube, Mr. Hone sagte, er würde für ihn alles drucken, was er schreiben wolle. E r fuhr fort.) Ich suchte mir eine Wohnmöglichkeit von meiner Familie entfernt, denn bei ihr schaffte ich nichts. Drei Wochen lang war ich völlig durch Eliza Fennings Fall in Anspruch genommen. Zu der Zeit hatten wir einen kleinen Buchladen. Die Morgenkutscher pflegten bei mir die Sonntagszeitungen zu kaufen (damals war mir der Wert der Sabbatruhe nicht klar), und außerdem nahmen sie die kleinen Spottgedichte, die ich für sie besorgt hatte. Am vierten Sonnabend kam in der Abenddämmerung meine Frau in den Laden. Ich sagte: 'Setz dich und sei still, ich schreibe gerade, ich kann im Augenblick nicht mit dir sprechen.' Sie setzte sich still hin, und ich schrieb weiter. Schließlich sagte sie: 'Vater, die Kinder haben kein Brot und es ist kein Geld da für cjie Zeitungen morgen früh.' - 'Geh nach Hause', antwortete ich, 'ich werde dir das Geld bringen.' Sie ging, aber ich hatte keine Vorstellung, wo ich das Geld hernehmen sollte; ich besaß keinen Groschen. Ich ging zu dem Schrank, in dem ich das aufbewahrte, was ich zu essen hatte. Ich hatte hauptsächlich 174

von Tee gelebt, und im Schrank war nichts weiter als eine trockene Brotkruste. Ich aß das Brot, trank etwas Wasser und ging zu meinem Freund, dem Buchhändler. Ich sprach ihn an: 'Sie müssen mir fünf Pfund leihen.' - 'So etwas werde ich nicht tun.' - ' S i e m ü s s e n ! ' 'Warum sollte ich das tun?' - 'Meine Kinder verhungern - und Sie sind schuld, daß ich meine Familie vernachlässige.' - So gab er mir das Geld; ich steckte es sicher weg und machte mich auf den Weg nach Hause. Als ich durch das Drehkreuz in Lincoln's Inn Fields kam, war dort der erleuchtete Laden eines Pastetenbäckers. Ich stand, schaute mir seine Waren an und dachte an mein Wasser und Brot und 'an den alten Philosophen; mit ihm sagte ich, wieviel Dinge gibt es, für die ich kein Bedürfnis habe! Die aufgehängten Theaterzettel mit ihren großen roten Lettern sprangen mir ins Auge: 'Das Mädchen und die Elster - bei grenzenlosem Beifall vor vollem Haus wiederholt!' Wie ein Blitz schoß mir ein Gedanke durch den Kopf. Ich änderte meinen Plan, ging in das Theater, nahm einen Platz im Parkett und sah mir 'Das Mädchen und die Elster' an. Als ich nach Hause kam, sagte ich zu meiner Frau: 'Bring mir ein paar Kerzen und eine Lichtputzschere nach oben und hole George Cruikshank!' E r kam auch. Ich sagte zu ihm: 'Schneide mir ein Bild von einer Elster, die mit dem Hals am Galgen hängt', wobei ich den Kopf zur Seite hängen- ließ, um möglichst wie eine sterbende Elster auszusehen. Ich schrieb nicht, sondern ich ging, und zwar zu meinem Drucker - und um sechs Uhr morgens war Das Mädchen und die Elster fertig, eine Auflage von tausend Stück. Cruikshank war mit seinem Titelbild fertig, und meine Frau heftete die Exemplare. Als die Kutschen wegen der Zeitungen vorfuhren, waren wir mit unseren Pamphleten fertig: 'Möchten Sie dies haben? Wie viele?' - 'Fünfzig', - 'hundert!' So rüttelten wir die Öffentlichkeit für Eliza Fennings Fall auf; und Das Mädchen und die Elster ermöglichte es meiner Familie, vier Monate lang davon zu leben." 58 Das Mädchen und die Elster - oder: Wer war der Dieb? war ein neues, nach dem Französischen bearbeitetes Melodrama, das seit dem 28. August am Lyceum Theatre lief. Ich habe es nicht gelesen, und es gelang mir auch nicht, ein Exemplar von Hönes Pamphlet aufzutreiben. Aber es ist anzunehmen, daß die Bedeutung des Stücks in einer Kette von Indizienbeweisen lag, die das Mädchen in Verbindung mit der Tat brachten, die die Elster begangen hatte. Wenn man vier Monate lang vom Verkauf eines Pamphlets für Sixpence leben kann, muß seine Verbreitung gewaltig gewesen sein 175

oder der Lebensstandard, den man damit aufrechterhält, kann nicht weit vom Elend entfernt gewesen sein. Natürlich gab es noch einige andere kleine Einnahmen, so die paar Shillinge, die aus der Großhandelsspanne für die auswärtigen Aufträge flössen, die er von anderen Verlegern erhielt. Einen etwas höheren Ertrag erzielte er aus der Agentur für die Zeitschrift Traveller, von der John Britton berichtet, daß Hone sie veröffentlicht hat. Doch seine Situation muß sehr schwierig gewesen sein, und nur ein entsprechender Ausbau seines Veröffentlichungsprogramms in kurzer Zeit und mit geringem Aufwand konnte sein Geschäft dahin bringen, daß es sich selbst trug. Im Jahre 1817 trugen etwa 50 Titel sein Impressum. Viele davon hatte er selbst geschrieben oder zusammengestellt. Wenige kosteten einen Shilling, keiner mehr als sechs Shilling Sixpence. Zweifellos war eine Menge Arbeit erforderlich, um einen höchstens mittelmäßigen Gewinn zu erzielen. Einer der teureren Titel soll besonders erwähnt werden. Es war eine Ausgabe von Wat Tyler, dem dramatischen Gedicht, das Robert Southey 59 in seinen jungen Jahren geschrieben hatte, als er noch Republikaner und Egalitarier war. In George Cannings 60 Einschätzung war er wenig besser denn als Jakobiner weggekommen. Canning hatte dennoch seine Ernennung zum Poeta laureatus unterstützt. Von dem genannten Titel gab es viele Raubdrucke. Gerichtliche Verfügungen gegen deren Verbreitung konnte Southey nicht erreichen; in der Person des Oberrichters Ellenborough befand der Gerichtshof, Southeys Werk sei aufrührerisch und stünde daher außerhalb des gesetzlichen Schutzes. Verschiedene Verleger zogen aus dieser absurden Situation mit gutem Gewinn ihren Nutzen. Hönes Ausgabe verdient jedoch besonderes Interesse, denn sie enthält ein Vorwort im Hinblick auf die jüngsten Ereignisse. Mit anderen Worten: Hone hatte William Hazlitt überredet, ihm den Nachdruck der sehr scharfen Bemerkungen zu gestatten, die Hazlitt dem ehemaligen Pantisokraten 61 auf den Seiten des Examiner gewidmet hatte. Dies ist meiner Meinung nach der früheste Hinweis darauf, daß Hone mit der hochbegabten und mutigen Gruppe in persönlichem Kontakt stand, die John und Leigh Hunt 6 ^ um ihre beständig demokratische Zeitschrift gesammelt hatten. Es ist nicht anzunehmen, daß sich die Regierung um die verletzten Gefühle des Poeta laureatus Gedanken machte, aber diese Sache war zweifellos ein weiterer Fleck auf Hönes Namensschild. Ernsthafter waren drei Flugblätter mit farbigen Karikaturen von 176

Cruikshank*.

Der

Prinzregent

war

bekanntermaßen

empfindlich

gegen jeden Spott über die königliche Person. J e t z t war er allerdings dadurch in eine peinliche Situation geraten, d a ß ihm sein Waffenbruder, Ferdinand von Spanien, feierlich ein Geschenk gemacht hatte, um ihren gemeinsamen Sieg über den Tyrannen und Usurpator Bonaparte zu feiern: eine ungeheure K a n o n e , eher ein Mörser, zu jener Zeit bekannt unter der Bezfcichnung „ B o m b e " . E s war vielleicht das gehässigste Geschenk, an das ein F e i n d schweige denn ein Bündnispartner -

hätte denken können.

geDas

„ D i n g " * * war höchst schwierig zu transportieren; es war ohne Gerüst oder

Lafette

angekommen.

Überdies

wurde

das

Wort

„bomb"

( B o m b e ) damals wie „bum" (Hintern) ausgesprochen. Ferdinand

war der britischen

öffentlichen

Meinung

besonders

verhaßt. E r galt als Musterbeispiel papistischen Irrglaubens (er soll einen großen T e i l seiner Zeit dafür angewandt haben, einen seidenen Unterrock für eine Statue der Heiligen Jungfrau zu besticken) und war berüchtigt für die brutale Behandlung seiner liberalen G e g n e r . Die Yacht

des Prinzregenten

war das Ziel mancher K r i t i k

als

Q u e l l e großer Ausgaben und wurde zu dieser Zeit gerade renoviert. E i n e neue humane Aufgabe nahm Hone im J a h r e 1 8 1 6 in Anspruch. E s war die Förderung einer Kampagne, die ursprünglich von Matthew W o o d ausgelöst worden war, zu dessen Aktivitäten als Oberbürgermeister es gehörte, mit einigen in der City von L o n don verbreiteten Mißbräuchen aufzuräumen. Derjenige S k a n d a l , der Hönes Anstrengungen auslöste, war die Tätigkeit von Gangs, die kleine Kriminelle dazu verführten, Einbrüche zu begehen, was damals ein Kapitalverbrechen darstellte, sie dann denunzierten und nach ihrer Verurteilung die Belohnungen einstrichen. E i n e solche G a n g war im September ausgehoben und verurteilt worden. Dieses * Die Titel lauteten: - Hone's View of the Regent's Bomb, now Uncovered for the Gratification of the Public: - Saluting the R—t's Bomb Uncovered on His Birthday; - The Yacht for the R—t's B-m-. In Versen entwickelte oder erklärte Hone die spaßigen Anspielungen. * * Das „Ding" war zu jener Zeit die volkstümliche Bezeichnung für das (männliche oder weibliche) Geschlechtsorgan. S. W. Fores veröffentlichte ein Pamphlet von C. Williams mit dem Titel 'A Representation of tbe Regent's Tremendous Tbing, E r e c t e d in tbe Park' (Darstellung des riesigen Dings des Prinzregenten, aufgerichtet im Park). 12

Soutfaall/Magister

177

Ereignis brachte zwei Traktate von Hone hervor. Einer war der Bericht über einen schockierenden Fall aus dem Jahre 1756, Hone's Interesting History of the Memorable Blood Conspiracy, Carried on by S. Macdaniel (and three others) Thief takers, and their Trials and Sentences in 1756 (Hones interessante Geschichte der denkwürdigen blutigen Verschwörung des S. Macdaniel und dreier anderer Diebe und ihren Prozessen und Verurteilungen im Jahre 1756). Ein Titelbild nach einem zeitgenössischen Druck von Macdaniel war von George Cruikshank gestochen. Den Londoner Fall beschrieb er in Four Trials of the Blood Conspirators of 1816, The only Authentic Report, with a Preface etc. (Vier Prozesse der blutigen Verschwörer von 1816; der einzige authentische Bericht, mit einem Vorwort, etc.) In seinem Verkaufskatalog Catalogue of Books for Sale aus dem Jahre 1820 bezeichnet Hone diesen Titel als „selten" und fordert dafür 4 Shilling, einen beachtlichen Preis in jenen Tagen. Ratsherr Wood war zweifellos ein Bollwerk des loyalistischen Klüngels, wurde aber von den Radikalen sehr respektiert. Sein Plan, die Straßenprostitution abzuschaffen, war Thema mindestens zweier saftiger Pamphlete. Außerdem wurde er für sein Eintreten für Queen Caroline verspottet. 5. Die drei Prozesse des William

Hone

Schon damals, also am Ende des Jahres 1816, waren Hones Schriften der gesellschaftlichen Oberschicht seiner Zeit gegenüber ungeheuer respektlos. Es ist unvorstellbar, daß das in jenen Kreisen nicht bemerkt worden sein sollte, aber Karikaturen waren kaum je wirksam verfolgt worden. Doch jetzt unternahm er einen Schritt, der es seinen Widersachern ermöglichte, Hand an ihn zu legen, wenn auch mit einigem Zögern. Sein nächster äußerst gefährlicher Schritt war, einige Texte zu schreiben oder zusammenzuzimmern, die Teile der kirchlichen Liturgie parodierten, wie sie offiziell im Book of Common Prayer veröffentlicht waren. Es waren fünf solcher Texte, jeder einen halben Bogen lang, was zusammengefaltet ein achtseitiges Traktat ergab. Die drei verfolgten Texte waren John Wilkes's Catechism (John Wilkes' Katechismus), The Sinecurist's Creed (Der Glaube eines Sinekureinhabers) und The Political Litany (Die politische Litanei) ; die anderen hießen A Political Catechism by an Englishman (Der politische Katechismus eines Engländers) und The Bullet 178

Te Deum (Die Kugel dir Gott) mit dem Canticle of the Stone (Lobgesang des Steines) 63 . Als Hone am 22. Februar mit Rücksicht auf die pietistischen Auffassungen seiner Familie die Parodien zurückzog, nahm Richard Carlile einen Nachdruck vor. Es heißt, daß Hone keinen Widerspruch erhob, aber er hätte den Nachdruck auch nicht verhindern können. [•••] Es ist nicht bekannt, ob diese Tatsache den Entschluß der Regierung beeinflußte, gegen Hone vorzugehen. Carlile wurde in diesem Fall unbehelligt gelassen, aber er hatte mehr als genug, was auf ihn zukam. Es ist wahrscheinlicher, daß es Hönes nächster Schritt war, der sie zum Einschreiten veranlaßte. Der Verleger einer radikalen Wochenzeitung mußte schon eher zum Schweigen gebracht werden. Denn Hone hatte jetzt begonnen, The Reformists' Register zu redigieren und zu veröffentlichen, eine Zeitschrift, die sich unmittelbar gegen die Whigs und andere mögliche Kompromißler wandte, die versuchten, den Reformisten das volle Stimmrecht abspenstig zu machen. [...] Ein kurzes Zitat aus Wilkes's Catecbism soll die Art des Spaßes zeigen, den die „kleinen Bücher" vermittelten - Gift in den Augen der Pfründeninhaber, aber warm begrüßt von allen sozialen Schichten, bei denen Widerwillen über die Korruption und Unfähigkeit des vorhandenen Systems herrschte. Hier ist eine Kostprobe: Ein Katechismus, das heißt: eine Instruktion, von jeder Person zu erlernen, bevor er als Pöstchen- oder Pensionsinhaber durch den Minister bestätigt werden soll. F R A G E : Wie heißt du? A N T W O R T : Speichel Lecker. F R A G E : Wer hat dich so genannt? A N T W O R T : Meine Bürgen für das Ministerium, in meinem politischen Wechsel, als ich Mitglied der Majorität wurde, Kind der Korruption, eine gefräßige Heuschrecke, um die guten Dinge dieses Königreichs zu verschlingen. F R A G E : Was taten deine Bürgen weiter für dich? A N T W O R T : Sie versprachen und gelobten drei Dinge in meinem Namen. Zum ersten, daß ich den Reformisten und allen ihren Werken abschwöre, dem Gepränge und der Eitelkeit öffentlicher Zustimmung, aller sündigen Lust der Unabhängigkeit. Zum zweiten, 12»

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daß ich alle Glaubensartikel des Hofes für richtig halte. Zum dritten, daß ich allein des Ministers Willen und Befehl halten und ihm mein ganzes Leben lang folgen werde . . . F R A G E : Wiederhole jene Glaubensartikel! A N T W O R T : Ich glaube an George, den allmächtigen Prinzregenten, Schöpfer neuer Straßen und der Ritter des Baath-Ordens. Und an die gegenwärtige Regierung, ihre eingeborene Wahl, empfangen vom Toryismus, geboren durch William Pitt, gelitten an Stellungsverlust unter Charles James Fox, verflucht, gestorben und begraben. Nach ein paar Monaten von ihrer Minorität wiederauferstanden, aufgefahren zu den Bänken des Schatzamtes, sitzend zur Rechten eines Mannes mit einer großen Perücke; von dort lachen sie über die Petitionen des Volkes, das um Reformen bitten kann und hofft, daß es im Schweiße seines Angesichts Brot für seine Kinder schaffen kann. [•••] The Canticle of the Stone und The Bullet Te Deum verspotteten die übertriebene Aufregung über den Vorfall, bei dem ein Fenster der Kutsche des Prinzregenten eingeschlagen wurde, als er am 28. Januar von der Parlamentseröffnung zurückkehrte. Dieses letzte Traktat konnte also erst einen oder zwei Tage nach den anderen zum Verkauf angeboten werden. Die erste Sache, mit der sich das neue Parlament zu beschäftigen hatte, war die Aussetzung der Habeascorpusakte64. Zur Rechtfertigung für diese Maßnahme hatte die Regierung eine Reihe von Dokumenten in einer grünen Mappe vorgelegt und in beiden Häusern Kommissionen bestellt, die darüber berichten sollten. Während der Debatte über die Gesetzesvorlage spielte Sidmouth den angeblich ausschweifenden Charakter der Presse hoch; Hönes Traktate wurden besonders angeprangert als „blasphemisch" (obwohl Blasphemie gerichtlich nicht verfolgt wurde). [...] Es kann nicht kräftig genug betont werden, daß nach Hönes freiwilliger Unterdrückung der Parodien (obwohl das nur dazu geführt hätte, die Schwere der Bestrafung zu mildern, wenn ihm ein rechtliches Vergehen nachgewiesen worden wäre) die Regierung bis zum 3. Mai nichts unternahm. An diesem Tage wurde Hone ohne Vorwarnung verhaftet. Zwei Monate lang blieb er eingesperrt. Dann wurde er freigelassen, nachdem er seine Schuld anerkannt hatte. Sowohl Hone als auch andere Beobachter nahmen an, daß nunmehr das Verfahren gegen ihn eingestellt würde, wie es oft nach amtlichen 180

Hinweisen geschah - ihre Vollstreckung wurde ausgesetzt, so daß sie als eine Art Drohung in der Luft hängenblieben. Doch Hone fuhr fort, Beweise seiner unverbesserlichen Bosheit abzugeben, wie es seinen Widersachern schien. Trotz der Gerüchte über die gegen ihn anbhängigen Maßnahmen führte er das Reformists' Register weiter; außerdem gab er ein Spottgedicht heraus, in dem Lord Eldons 65 häusliche Knauserigkeit lächerlich gemacht wurde. Infolge seiner Unfähigkeit, die erforderliche Kaution zu stellen (zwei Bürgschaften über tausend Pfund für j e d e s der Vergehen, deren er angeklagt war), wurde er zwei Monate lang von der Ersten Kammer des High Court in Haft genommen. Danach veröffentlichte er zwei'kleine Stücke, in denen Castlereagh66 verspottet wurde, von dem berichtet worden war, er sei von einem Hund gebissen worden (Vgl. Black Dwarf vom 6. August 1817 unter der Überschrift Schockierendes Ereignis. Hier schlug der Redakteur namens Wooler vor, die Wunde mit einer Mischung von Salz und Schießpulver zu behandeln, wie es sich in Irland nach Auspeitschungen bewahrt habe). Im September machte Hone dann Sidmouth wegen der panischen Maßnahmen lächerlich, die dieser zur Bekämpfung des Bartholomäusmesse-Aufstandes ergreifen wollte, dessen Ausbruch in dem betreffenden Monat ein Schwindler prophezeit hatte. Alle diese kleinen Stücke waren mit entsprechenden grotesken Zeichnungen von George Cruikshank ausgestattet. Die Regierung mußte erwartet haben, Hone wäre nicht in der Lage, eine ausreichende Verteidigung gegen den führenden Staatsanwalt der Krone aufzubauen, zumal wenn er von einem Richter gestützt würde, dessen Loyalität ihm bereits vorschrieb, was für ein Urteil er anzustreben hätte. Es gab auch keine Vermutungen, daß sich der Prozeß sehr lange hinziehen könnte. Der Angeklagte wurde durch keinen Rechtsanwalt vertreten, und ein auf sich selbst gestellter Mann konnte ohne Schwierigkeiten durch juristische Argumentation in Verlegenheit gebracht-werden. Im übrigen schien Hone eindeutig schuldig zu sein. Sicherlich hätte kein Rechtsanwalt Hönes Freispruch erreicht, denn Anwälte denken - wie Richter - in juristischen Kategorien. Hone wandte sich lediglich an die Geschworenen, und Geschworene denken menschlich, wenn man sie denken läßt. Ein wörtlicher oder zumindest weitgehend vollständiger Bericht von jedem Prozeß wurde sehr bald vertrieben, nachdem das Urteil gefällt worden war. Einem Mann dreimal hintereinander wegen 181

praktisch desselben Vergehens den Prozeß zu machen, das hatte es bisher kaum gegeben, und das Ergebnis wurde im ganzen Land mit höchstem Interesse erwartet. Die Verwirrung der Anklagebehörde und der Richter war etwas, was das Herz eines einfachen Menschen bewegte, der instinktiv wußte, daß ein gut Teil Sündhaftigkeit zum menschlichen Leben gehört und sich nicht durch feierliche Sünder in langen Perücken aus der Welt schaffen läßt. Hone versichert, er habe sich nie wieder von der Last der drohenden Gefängnisstrafe mit ihren Auswirkungen auf seine unsichere Gesundheit und die sichere Notlage seiner Familie erholt. E r hatte bereits einen Schiaganfall erlitten und sollte später teilweise gelähmt werden. Es ist wirklich bemerkenswert, daß er die dreitägige Nervenprobe durchhielt - er erklärte auch vor Gericht, offensichtlich sei die Regierung entschlossen, ihn nötigenfalls einfach durch körperliche Erschöpfung zu besiegen. Insgesamt sprach er an den drei Tagen einundzwanzig Stunden lang unter vielen Behinderungen der Prozeß fand in Guildhall statt, und der Verhandlungssaal war die ganze Zeit bis zum Ersticken überfüllt. Abends war er zu erschöpft, um ordentliche Nahrung zu sich zu nehmen. Es ist überraschend, daß Hönes Verfahren in keine Sammlung berühmter Prozesse aufgenommen worden ist - die Sache ist weit interessanter als Mord, und an dem Wortwechsel zwischen Angeklagten und Richter bzw. Staatsanwalt kann man manchen Spaß haben. Hone war wieder frei und zugleich der populärste Mann in Großbritannien. Außerdem war er finanziell völlig abgebrannt. Glücklicherweise kannten viele, die ihm in der einen oder anderen Weise bei seiner Verteidigung geholfen hatten, seine Lage. Ein paar Tage nach seinem Freispruch organisierten die „Friends of Trial by Jury and Liberty of the Press" ein Galadinner in der City of London Tavern. Zu seinen Zielen gehörte die Auflage einer Spendenliste, „um WILLIAM H O N E Gelegenheit zu geben, die Schwierigkeiten zu überwinden, in die er dadurch geraten ist, daß ihn die Minister der Krone zur Zielscheibe ihrer Verfolgung gewählt haben". [...] 6. Ein Trugbild des

Wohlstands

Die Spendenliste erbrachte mehr als dreitausend Pfund. Aber Hone beklagte sich, daß er wegen der hohen Reklamekosten und mancher Unfähigkeit weit weniger erhielt. Doch konnte er aus seiner engen 182

Behausung in Old Bailey in ein einigermaßen großes Haus in Ludgate Hill 45 umziehen, und ein paar Jahre lang lebte er in gewisser Bequemlichkeit und Ruhe. Der Buchhandel enttäuschte ihn, und er bedauerte, daß einige seiner Freunde ihre Gelder im Buchbestand seines Ladens angelegt hatten. „Die Leute kamen herein, sahen sich eine Ausgabe von Johnson oder Shakespeare an - und kauften dann ein Pamphlet für einen Shilling", erzählte er später einem Nachbarn. Aber er steigerte seine Aktivitäten bei der „Herstellung" von Büchern oft dadurch, so bekennt er, daß er diese aus anderen zusammenschnitt: „Eines Tages ging ich Holborn hinunter und blieb an einem alten Bücherstand stehen. Dort lag ein Buch aufgeschlagen mit einigen Geschichten darin, von denen ich sofort bemerkte, daß sie Licht auf einige meiner alten Drucke werfen würden, über die ich sonst nichts erfahren konnte. Das Buch war von Jeremiah Jones über die Schnitten der Bibel; bei den Geschichten, die mir aufgefallen waren, handelte es sich um die Apokryphen. Ich las meine Drucke zusammen mit ihnen und stellte fest, welches Licht sie auf deren Inhalt warfen. Ich dachte, das wäre für die Öffentlichkeit geeignet, insbesondere für Antiquitätenliebhaber und Büchersammler. Ich nahm mir also eine Schere (denn das ist mein Werkzeug zur Herstellung von Büchern) und schnitt aus, was ich haben wollte und schickte sie dem Drucker. Heraus kamen meine Apokryphen Predigten, die solch einen Lärm in der Welt erregten." Aus den Anzeigen in den Pamphleten wird deutlich, daß Hone in dieser Phase seiner Karriere eine sehr interessante, für ihn charakteristische Liste von Publikationen zusammengetragen hatte. Wie er im Vorwort zu den Trials erklärt, war es seine Absicht, "ein „respektabler" Verlag zu werden. Ich nehme an, er meinte damit einen, der wirkliche Bücher veröffentlicht, nicht nur Pamphlete. Obwohl er einige solche Drucke anzeigt, scheint das finanzielle Ergebnis nicht ganz zufriedenstellend gewesen zu sein. Dieser Periode von Hönes Tätigkeit verdanken wir die Veröffentlichung von William Hazlitts gesammelten Politischen Essays. Sicherlich wäre zu dieser Zeit kein anderer Verleger bereit gewesen, Geld in den Druck solch eines dicken Bandes von so kompromißlos oppositionellem Charakter zu investieren. Nach meiner Überzeugung war keiner von Hazlitts Biographen großzügig genug, um Hönes mutige Aktion richtig anzuerkennen. Das Buch hatte immerhin einen Umfang von fast vierhundert Seiten, und Hone bezahlte dem Autor hundert 183

Pfund für das Geschäft. Es scheint dem Verleger nicht viel Nutzen gebracht zu haben, denn wir finden die mit Ausschuß zusammengebundenen Bögen nur drei Jahre später bei Simpkin Marshall wieder. Eine andere „Scheren-Arbeit" erschien unter Pseudonym. Ihr Inhalt läßt jedoch eine Reihe von Hönes Hauptthemen erkennen: „Sechzig seltsame und authentische Erzählungen und Anekdoten, außerordentliche Gestalten betreffend: die Neigung zu Leichtgläubigkeit und Fanatismus beleuchtend; die Mängel des Indizienbeweises aufzeigend; einzigartige Beispiele des freiwilligen Leidens des Menschen und interessante Geschehnisse berichtend. Von John Cecil." Dieses Werk ist unter Hönes Namen als Pseudonym im Katalog des Britischen Museums verzeichnet. Ein anderes Werk, das von Hone in demselben Jahr veröffentlicht wurde - The Age of Intellect (Das Zeitalter des Intellekts) mit einem Titelbild von Cruikshank nach einer Zeichnung des angeblichen Autors Francis Moore 67 - , ist dagegen nur unter Moore eingetragen. Ich sage mit Bedacht „angeblicher Autor", denn es ist kein anderer als der berühmte Seher und Kalendermacher, dessen Todesjahr im Dictionary of National Biography mit 1815 angegeben ist. Dieses Problem soll uns jedoch nicht beunruhigen, denn niemand behauptet, er sei 1819 zur Schriftstellerei zurückgekehrt. Diesem Moore werden keine weiteren Veröffentlichungen zugeschrieben; es ist vielsagend, daß die von ihm in seinem witzigen Mischmasch angeschnittenen Themen von der Art sind, die - wie wir wissen - Hone interessierten, und daß sie um 1819 allgemein diskutiert wurden, wie der Besuch der „Tscherkessischen Schönheit" in der Suite des persischen Botschafters. Hönes Verfasserschaft wird weiterhin durch die bewundernden Hinweise auf Keats, Hazlitt und andere aus dem liberalen Milieu glaubhaft. (In seinem Every Day Book verwies Hone mehrmals auf Keats und zitierte ihn 1 ausführlich - vielleicht war er der erste, der das überhaupt tat). Die Frage der Verfasserschaft ist für mich durch die absonderlichen einleitenden Adressen an Bob Blazon entschieden. Bob Blazon war natürlich eine Schöpfung von Tom Brown dem Jüngeren (alias Thomas Moore) 66 , einer der Schreiber in dem Briefwechsel mit der Familie Fudge. Jetzt, Ende 1818, veröffentlichte Moore die Replies to the Letters of the Fudge Family in Paris (1818; Antworten auf die Briefe der Fudge-Familie in Paris); die zwei Stücke enthalten, die Hönes Freispruch feierten. Und wer wäre daran wohl mehr interessiert gewesen und hätte mehr gewünscht, dem Schreiber seinen Dank auszusprechen, als das Opfer des Falles selbst?

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7. Der Krieg der

Pamphlete

Es ist nur sehr wenigen gegeben, auf zwei verschiedenen Gebieten zu einer nationalen Figur zu werden, doch bei Hone war das ganz bestimmt der Fall. Seine zweite Apotheose ist durch nichts vorgebilddet, was er in den Jahren 1818 und 1819 hervorgebracht hatte - bis zum Dezember des letztgenannten Jahres, fast genau zwei Jahre nach seinem Freispruch. Und es gibt keine Zweifel: es hätte kaum solchen Aufruhr gegeben, wäre The Political House that Jack Built (Das politische Haus, das Jack gebaut hat) ohne die Illustrationen von George Cruikshank erschienen. Während des größeren Teils dieser zwei Jahre war Hone voll mit der Vorbereitung seiner „respektablen" Veröffentlichungen beschäftigt sowie mit der Materialsammlung für die Geschichte der Parodie, die zusammenzustellen er in dem Vorwort zur gesammelten Ausgabe seiner Trials versprochen hatte, die Anfang Januar 1818 herauskam. Es waren seine Definition der Parodie und ihrer Beziehungen zu der parodierten Vorlage, die die Wende in seiner Verteidigung herbeigeführt hatten; darauf hatte er seine Verteidigung grundsätzlich aufgebaut. Das Geschick dieser Geschichte der Parodie ist eine weitere der kleinen Tragödien, die Hone widerfuhren, weil ihm bei der Abwicklung seiner finanziellen Angelegenheiten jede Methode fehlte. Über seine kurze Zeit des Wohlstandes berichtete er: „Solange das Geld reichte, pflegte ich mir von meinem Kassierer fünf oder zehn Pfund auf einmal zu holen - im allgemeinen, um alte Drucke und merkwürdige Bücher zu kaufen. Als ich ihn wieder um Geld bat, sagte er mir, es sei nichts mehr da. Ich bestand darauf: 'Ich m u ß die Bücher haben, die ich mir angesehen habe!' - und er gab mir das letzte Geld." Schließlich wurde die schöne Sammlung, die er angehäuft hatte, für ein Darlehn verpfändet. Als er sie nicht einlösen konnte, wurde sie e n b 1 o c für einen Bruchteil ihres Wertes verkauft. Die letzte Anzeige der unmittelbar bevorstehenden Veröffentlichung der Geschichte der Parodie stammt aus dem Jahre 1824. Mit einer neuen Art von Verlagstätigkeit beschäftigt, fand Hone wenig Gelegenheit, Cruikshanks' Talente zu nutzen. Einige Titelblätter und einige verkleinerte Kopien früherer Karikaturen, die für die Geschichte der Parodie bestimmt waren, sind alles, was man fand. Aber es gibt keinen Zweifel, daß die beiden Männer Freunde blieben; denn sobald Hone den Text seines Kinderliedes soweit 185

grob bearbeitet hatte, daß er auf die gegebenen Zeitumstände anwendbar war, fand er Cruikshank bei der Hand und gerne zur Zusammenarbeit bereit. Mrs. Rolleston bewahrte glücklicherweise Hönes Erinnerung an die Entstehung seines berühmtesten Werkes: „Nach meinem Prozeß hatten mich die Zeitungen ständig beim Wikkel. Sie nannten mich einen freigesprochenen Verbrecher. Der Wurm windet sich, wenn man auf ihn tritt. Eines Tages, als ich deswegen unerträglich erbost war, hatte sich mir eines meiner Kinder, ein kleines Mädchen von vier Jahren, aufs Knie gesetzt und war sehr damit beschäftigt, sich die Bilder in einem Kinderbuch anzusehen. 'Was hast du da?' fragte ich sie. 'Das Haus, das Jack gebaut hat.' Wie ein Blitz schoß mir ein Gedanke durch den Kopf. Mir war sofort klar, welchen Nutzen ich daraus ziehen konnte, und nahm das Buch an mich. 'Mutter', sagte ich, 'nimm das Kind, bring mir den Tee und zwei Kerzen hinauf und laß niemand zu mir, bevor ich klingele!' Ich blieb die ganze Nacht auf und schrieb - 'Das Haus, das Jack gebaut hat.' Am anderen Morgen ließ ich Cruikshank holen, las es ihm vor und nahm die Haltung der Figuren an, die ich gezeichnet haben wollte. Einige dieser Gestalten hatte Cruikshank niemals gesehen. Ich beschrieb ihm aber ihr Aussehen wie ihre Haltung. So versetzte er sich sozusagen in die Gestalt von Lord Lyndhurst, der dort als Ratte mit Perücke vorgestellt wird. Cruikshank hatte ihn nie gesehen, aber die Gestalt hatte eine höchst absonderliche Ähnlichkeit." Über das Schwären eines alten Grolls hinaus muß es einen unmittelbaren Reiz gegeben haben, der ihn aufstachelte, so abrupt zur Satire auf die zeitgenössische politische Szene zurückzukehren. Hatte er sie doch seit dem letzten kleinen Spottgedicht vor seinem Prozeß fast zwei Jahre an sich vorbeiziehen lassen. Das letzte Jahr war eine Zeit wachsender Spannungen, die mit dem Peterloo-Massaker 69 im August anscheinend ihren Gipfel erreicht hatten. [...] Hönes Kinderlied hatte das Verdienst, als Propaganda die Wachsamkeit des Lesers zu unterlaufen, so daß er sich beim Lachen ertappte und dabei, daß er etwas gegen die Regierenden akzeptiert hatte, wogegen sich der aufmerksame Verstand gewehrt hätte. Die meisten Leser waren dankbar, etwas zum Lachen zu haben, ohne daß sie merkten, daß ihre politische Unschuld für immer erschüttert war. In den späteren Spottgedichten ist die Absicht klar, der Witz ist zugespitzter, aber seine Schärfe ist tödlich. Zum ersten Mal im 186

Dezember veröffentlicht, erreichte The Political House that Jack Built im März seine zweiundfünfzigste Auflage, und eine D e l u x e - Ausgabe auf Zeichenpapier, koloriert, war zu drei Schilling im Angebot. [•••] Dem ungeheuren Erfolg des Political House mußten weitere folgen, aus ihm mußte Kapital geschlagen werden. Ab sofort gestattete es Hone keiner seiner vielen anderen liebgewonnenen Leidenschaften, ihn von diesem Ziel abzulenken. Das zweite Traktat, The Man in the Moon, wurde Anfang Januar 1820 veröffentlicht. Sein Erfolg kam fast dem des ersten Pamphlets gleich, und im März hatte es seine sechsundzwanzigste Auflage. Wieder war die Aktualität die Triebkraft. Denn während damals das frische Entsetzen über Peterloo das beherrschende Thema des ersten Traktats war, gab das zweite eine unbeschwerte Karikatur der drohenden Thronrede des Prinzregenten bei der Parlamentseröffnung am 23. November. Wie allgemein bekannt war, wollte die Regierung anläßlich des erneuten Zusammentretens des Parlaments strengere Unterdrückungsund Vergeltungsmaßnahmen gegen alle Äußerungen des extremen Unwillens fordern, der das Land überschwemmte. Cruikshanks Holzschnitte in The Man in the Moon sind sehr leicht und voller Bewegung, während die im House emotional statisch waren. Nicht der Unwille ist jetzt das herrschende Gefühl, sondern Verachtung für die hinterlistigen Possen der Regierung bei der Verfolgung ihrer offenkundig anrüchigen Ziele. Die neue Gesetzgebung, die die ruhelosen Volksmassen beruhigen sollte, waren die berühmten Six Acts, die Knebelgesetze; für ihre Vorlage, ihre Debatte und die königliche Zustimmung wurde insgesamt nur genau ein Monat benötigt. Trotz der beherzten Art und Weise, in der Cruikshank darauf reagierte, erwiesen sich zwei dieser Six Acts, durch die die Presse diszipliniert wurde, eine Zeitlang als erfolgreich; sie hemmten ernsthaft die Verbreitung billiger Zeitschriften und aller Veröffentlichungen, deren Preis unter Sixpence lag. Auf dem letzten Blatt von The Man in the Moon gibt Hone eine Erklärung ab. Es gäbe zahlreiche Satiren, die den Anspruch erhöben, von dem Verfasser des Political House that Jack Built geschrieben worden zu sein. Er müsse jedoch darauf hinweisen, daß keine von ihnen wirklich das Werk dieses Autors sei, wenn sie nicht von Hone selbst verlegt sei. „Und seine letzte - im Hinblick auf gebiete187

rische Forderungen höherer Ordnung gegenüber seiner Feder möglicherweise sogar die allerletzte - Produktion dieser Art findet sich in The Man in the Moon." Die „Forderungen höherer Ordnung" müssen sich auf die Geschichte der Parodie beziehen, die er am Ende seiner drei Prozeßberichte versprochen hatte: Er hatte Material dafür zusammengetragen, alte Bücher und Drucke - die ganze Zeit, bis zur Zahlungsunfähigkeit. Doch die Absicht, offensichtlich ernsthaft empfunden, war nicht aufrechtzuerhalten. Ein Ereignis trat ein, zwar nicht unvermutet, doch von unvorhersehbaren Konsequenzen, das den Einsatz seiner satirischen Talente zur Verteidigung einer verleumdeten Frau und seiner rechtmäßigen Königin erforderte. Hätte die Entscheidung in seinem freien Willen gestanden, hätte er sich sicher nicht an der Aktion beteiligt. Nachdem Georg III. gestorben war und ihr Ehemann den Thron bestiegen hatte, kehrte Caroline in der Erwartung nach England zurück, neben ihrem Ehemann bei dessen Krönung zur englischen Königin gekrönt zu werden - zumindest war sie entschlossen, das zu fordern. [...] Hone befand sich in einem Dilemma, ajs sich die Führer der Reformbewegung mit der Bitte an ihn wandten, die Sache der Königin zu unterstützen. [...] Der Antrag auf „Strafen und Bußen" gegen die Königin wurde von dem Premierminister Lord Liverpool am 17. August im House of Lords eingebracht. Hönes Pamphlet (The Queen's Matrimonial Ladder, Die Eheleiter der Königin) erschien vermutlich kurz davor. Es fand reißenden Absatz, da es außerordentlich aktuell war. Es enthält außerdem mehr „erzählendes Material" als die früheren Satiren. Zum Preise von einem Shilling war es ein günstiger Kauf. Vorurteile nicht gerechnet, ist es eijne gute Zusammenfassung der traurigen Geschichte einer Heirat aus dynastischen Interessen. Die Prinzessin wird mit zarter Würde und ohne Übertreibung dargestellt; die Gestalt des Prinzen wird zwar brutal enthüllt, trifft jedoch auf so phantastische Vergeltung, daß ihre Grausamkeit kaum bewußt wird. [...] In The Political Showman - at Home (Der politische Schausteller zu Hause) erweist sich die Erfindungskraft des Verfassers und des Künstlers als besonders ergiebig. Meiner Meinung nach ist es - insgesamt gesehen - das beste Pamphlet, obwohl es in anderen Trakta188

ten Illustrationen gibt, die noch phantasievoller sind (ich denke dabei insbesondere an das Titelblatt und die letzte Illustration von The Right Dev'tne of Kings to Govern Wrong, Göttliches Recht der Könige zum falschen Regieren). Der Political Showman ist eine synthetische Enthüllung all der Übel, die zu den Funktionen eines autokratischen Regierungssystems gehören. Sie prangert zwar Einzelpersonen an, zielt aber natürlich auf das Grundsätzliche. Großbritannien befand sich noch nicht in der so skizzierten Situation, aber es bestanden reale Befürchtungen, es könne in eine solche Schande absinken. Daraus ist auch die fast sentimentale Ehrfurcht zu erklären, die von den Schlagworten „Trial by Jury" (Gerichtsverhandlung mit Geschworenen) und „Liberty of the Press" (Freiheit für die Presse) hervorgerufen wurde. Unsere Regierung ,war mit allen reaktionären Thronen Europas befreundet, und ihre mehr als zwanzig Jahre verfolgte Politik hatte dazu geführt, daß es gar keine anderen gab. Es war eine Zeit, die einen ängstigen mußte, wenn man nicht den Realitäten gegenüber blind war. [•••] Das Jahr 1820 war sozusagen ein Jahr der Weinlese für Verfasser, Künstler und Verleger. Es sah das Erscheinen von vier Titeln. Einer war eine Wiederaufnahme, die anderen drei gehörten zu den glänzendsten unter den Satiren, die sie gemeinsam (Hone und Cruikshank) ausgeheckt hatten: The Right Devine of Kings to Govern Wrong, The Spirit of Despotism (Der Geist des Despotismus), The Political Showman - at Home und A Slap at Slop (Ein Schlag in der Pfütze). Der erste, der dritte und der vierte Titel enthalten einige der feinsten Schöpfungen Cruikshanks . . . Die letzten und längsten Spottgedichte aufzunehmen hätten diesen Essay unangemessen ausgedehnt. Es gab auch keinerlei Erwiderung - alle intellektuellen Ressourcen der Bridge Street Gang hätten nicht ausgereicht, um auch nur eine zusammenzuschmieden. A Slap at Slop and the Bridge Street Gang zeigt kein Nachlassen des Witzes oder der gestalterischen Vitalität. Aber sein Inhalt zielt auf eine spezielle Gruppe von Personen von nur geringem allgemeinem Interesse. Die Aktivitäten der „Constitutional Association" sollten sich vergeblich darauf richten, Veröffentlichungen "von Radikalen und Reformern entgegenzuwirken, gegen die vorzugehen der Generalstaatsanwalt zu bequem war. Doch das taten sie erfolglos, und Hönes Pamphlet vermutet, daß die Geldsammlungen für private Zwecke eingesetzt wurden. 189

A Slop at Slop war ursprünglich im Zeitungsformat herausgegeben worden. Dieses Layout verlieh Hönes Parodien auf journalistische Darstellungen und Pseudo-Anzeigen mit glänzenden Bildern von Cruikshank die erforderliche Berühmtheit. Drei sehr große Blöcke, die über drei Spalten liefen, sind besonders denkwürdig. Eine kleinere Figur, die Peterloo-Medaille, wurde weit bekannt. Das Layout des Zeitungspamphlets mußte neu gestaltet werden, als es für die Aufnahme in den Sammelband auf Oktavgröße gefaltet werden mußte. Das bedeutete einen gewissen Verlust der Kraft, die es in vollem Bogenformat hatte, aber es ist damit kein weniger glänzender Abschiedsgruß an ihre damit auf diesen Gebiet endende Zusammenarbeit. Eine ganz berühmte Platte wurde von Cruikshank für einen ernstgemeinten Streich gestochen, den er und Hone gemeinsam begingen (denn im Gegensatz zu George Cruikshanks zahlreichen falschen Behauptungen, er wäre der Vater sowohl des Textes als auch der Zeichnungen in den Werken, die er illustrierte, erscheint es diesmal glaubhaft, ihm einen großen Anteil an dem Projekt einzuräumen). The Bank Restriction Barometer (Das Barometer der Beschränkung der Bank) bestand aus einem Umschlag, der eine ausgedachte Banknote enthielt; ihr Hauptbild besteht in einer Reihe von Männern und Frauen, die an Galgen hängen. Die häufigen Hinrichtungen für die Weitergabe gefälschter Ein-Pfund-Noten, bei denen die Experten der Bank oft Schwierigkeiten hatten, sie als Fälschung zu erkennen, waren zum Skandal geworden. Jene Banknote von Hone und Cruikshank war ein glänzender Schlag zur Unterstützung der Kampagne zur Veränderung der gesetzlichen Bestimmungen, an der viele andere beteiligt waren. Das Slap at Slop war unbestreitbar däs letzte von Hönes Spottgedichten, obwohl Biographen ihm manchmal auch noch spätere zuschreiben. Er veröffentlichte das letzte Buch unter seinem Impressum im Jahr 1823 und sein letztes Pamphlet, eine Verteidigung gegen Angriffe auf sein Apocrypbal New Testament (Apokryphes Neues Testament), 1824. Das Buch Ancient Mysteries Described (Mysterien aus alten Zeiten) ist als bahnbrechender Versuch bemerkenswert, die literarischen und dramatischen Leistungen der spätmittelalterlichen Mysterienspiele dem Verständnis der Öffentlichkeit zu erschließen. Daß er Cherry Tree Carol (Das Lied vom Kirschbaum) in das Buch aufnahm, ist ein Zeichen seines tiefen Sinnes für Poesie. Man erinnert sich an einen Abschnitt aus seinem ersten Prozeßbericht, als er 190

das Gedicht zitierte, das mit der Zeile beginnt: „Die erste große Freude, die Maria hatte . . . " - und damit das Schamgefühl des Generahtaatsanwaltes ernsthaft verletzte! Hone war natürlich frei von dem falschen „guten Geschmack", der lange der Fluch des literarischen Establishments war. Er hatte bessere Voraussetzungen als jeder beliebige Universitätsdekan, das Verständnis für unsere ältere Literatur und die Traditionen, aus denen sie kam, sowie die Freude an ihr zu fördern. Das war die Grundlage für den Erfolg seiner letzten langen und anstrengenden Aufgabe. Der Rest des Jahres 1824 muß ihn voll in Anspruch genommen haben, sowohl literarisches als auch illustratives Material für das Every Day Book (Tagebuch) auszusuchen, dessen wöchentliches Erscheinen in Dreipence-Fortsetzungen zu je sechzehn Seiten angekündigt wurde - nach einigen anfänglichen Unregelmäßigkeiten, die er aufgrund einer freundlichen Ermahnung von Charles Lamb ausräumte, hielt Hone dieses Versprechen auch getreulich ein. Aber kaum war der Jahresband des Every Day Book abgeschlossen, da brachte ihn seine finanzielle Verwundbarkeit in eine verzweifelte Situation. Er wurde 1826 ins Schuldgefängnis geworfen, wie wir aus einem Brief entnehmen,-den er an Rev. W. J. Fox, Hilfsprediger an der South-Place-Kapelle, schrieb: „3. Juni . . . Ich stehe gänzlich in der Gewalt des Gesetzes, nachdem gerechte Forderungen gegen mich durchgesetzt wurden, deren Berechtigung ich nicht bestreiten konnte . . . Ich war sechs Wochen lang von meiner Familie getrennt, in welcher Zeit sie obdachlos war. Am Ende sind wir wieder zusammengekommen; wir haben jetzt ein kleines Haus allein für uns." Um aus jener Situation wieder herauszukommen, mußte er die wertvolle Sammlung von Büchern und Drucken verpfänden, die er zusammengetragen hatte, um seine History of Parody zu schreiben; er bekam die Sammlung nie wieder in Besitz. Er beendete 1826 das Every Day Book und stellte 1827 einen genauso unterhaltsamen Band, genannt das Table Book (Tafelbuch), zusammen. Diese drei Bände hatten einen Gesamtumfang von mehr als 2 000 Seiten mit 436 Illustrationen. Es blieb ihm nichts weiter übrig, als das Eigentumsrecht an ihnen zu verkaufen, und zwar an Thomas Tegg, einen erfolgreichen Verleger. Für ihn stellte er 1831 noch einen ähnlichen Band, The Year Book (Das Jahrbuch), zusammen. Im Jahr 1830 hatte Charles Lamb bewirkt, daß The Times für Hone einen Spendenfonds eröffnete, damit er The Grasshopper Coffee 191

House and Reading Room - sozusagen ein Lesecafé - erwerben konnte. Der Spendenaufruf wurden zum Erfolg, nicht aber sein Café. Von dieser Zeit an spricht der Bericht über ihn von zurückgehender Aktivität durch eine sich verschlechternde Gesundheit und wachsende religiöse Befangenheit. Im Jahre 1834 wurden Hone und einige seiner Familienmitglieder in einer der kongregationalistischen Kirchengemeinden in London aufgenommen. Zeitweise pflegte er in der Weighouse-Kapelle in Eastcheap zu predigen. Später zog er nach Tottenham hinaus, mußte jedoch regelmäßig in die Stadt kommen, weil er als Redakteur einer Dissenter-Zeitschrift, The Patriot, für 2 Pfund pro Woche bestallt worden war. Seine Gesundheit verschlechterte sich weiter, und er wurde teilweise gelähmt. H. C. Robinson72 trug unter dem 17. Februar 1841 ein: Ich ging in das Büro von Joe Parke (Rechtsanwalt, aktiver Reformer) ; ich wollte ihn aufsuchen und ihm fünf Pfund für den armen Hone geben, zu dessen Gunsten er mir einen Bittbrief geschickt hatte. George Cruikshank besuchte Hone an dessen Lebensabend und bedauerte, daß er ihre alte Freundschaft im Laufe der Jahre habe verfallen lassen. Hone starb Ende 1842. Im folgenden Februar brachte The Gentleman s Magazine einen respektvollen Nachruf, der wie folgt schloß: „In der Gesellschaft war Mr. Hone ein fröhlicher Gefährte, und sein Herz verschloß sich niemals gegenüber den Sorgen seiner Mitmenschen. Von seiner Familie von zwölf Kindern leben noch neun, von denen verschiedene zusammen mit ihrer Mutter, wie wir bedauern es sagen zu müssen, fast völlig mittellos zurückgeblieben sind." Irgendwie muß das die Zukunft wieder gutgemacht haben, denn wie wir hören, wird seine hinterbliebene Witwe im Alter von zweiundachtzig Jahren als „feine, kluge alte Lady" bezeichnet. Und zwei seiner Töchter waren viele Jahre danach Eigentümerinnen einer Schule. Ohne Zweifel wäre es Hone lieber, wenn man sich an ihn eher wegen seiner Anthologien und weniger wegen seiner Satire erinnerte. Charles Lamb würdigte sie in passender Weise mit den Versen, die er „dem Parodisten" widmete: Art den Herausgeber

des

„Tagebuchs"

Ich mag dich, kluger Hone, und dein Buch, das Blatt für Blatt uns zeigt der Welten Lauf, das Herz und Mark der längst vergang'nen Zeit, 192

Geschichte ganz, von Dichtung vieles auch, das uns'rer Tage Bilder malt. Ein jeder lobt und preist des Buches Sinn, verknüpft mit manchem, was beliebt einst war. So viele Themen für der Leser H ä u f . Die Lumpen, Hexen, Geister, Teufel, Rest von gestern, alle füllen dieses Buch, der Väter Mummenschanz, wir sehen ihn, doch stolz, daß uns're Zeit so klug jetzt ist, seh'n wir manch altem Unsinn freundlich nach. Apollo liebt dein Buch - glaub's mir, mein Freund! Doch völlig stimmt der Titel nicht, sagt er: Viel Kunst, viel Witz, viel Klugheit darin steckt das war nicht nur a l l t ä g l i c h Werk!

7 GRAHAM

HOLDERNESS

Freiheit und Notwendigheit: Die Poesie des Marxismus Theoretisch sollte die marxistische Literaturtheorie die Trennung zwischen dem Bildungsstand der Arbeiterklasse und dem der Mittelklasse, zwischen höherer und allgemeiner Schulbildung, zwischen Theorie und Praxis ablehnen - eine Trennung, wie sie die Kultur der bürgerlichen Demokratie zwangsläufig gefangenhält. Doch in der Praxis können wir diese Trennung nicht ignorieren. Solche Bedingungen zu ignorieren hieße, die Wirklichkeit zu verleugnen; sie als gegeben hinzunehmen und auf ihrer Grundlage zu arbeiten bedeutet andererseits, ihre kulturelle Vorherrschaft gutzuheißen. Wir sprechen heute mit Selbstvertrauen von der theoretischen Unreife eines großen Teils der frühen Arbeiten der marxistischen Literaturgeschichte Großbritanniens, und wir tun recht daran; doch dürfen wir, wenn wir diese Vorbehalte anmelden, ihre bedeutsamen Stärken nicht aus den Augen verlieren - in erster Linie ihre enge Beziehung zur Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung. Ihre größte Errungenschaft war die Klarheit, die Einfachheit, die Verständlichkeit ihrer Sprache - Eigenschaften, die in den Werken vieler zeitgenössischer 13

Southall/Magister

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Geschichte ganz, von Dichtung vieles auch, das uns'rer Tage Bilder malt. Ein jeder lobt und preist des Buches Sinn, verknüpft mit manchem, was beliebt einst war. So viele Themen für der Leser H ä u f . Die Lumpen, Hexen, Geister, Teufel, Rest von gestern, alle füllen dieses Buch, der Väter Mummenschanz, wir sehen ihn, doch stolz, daß uns're Zeit so klug jetzt ist, seh'n wir manch altem Unsinn freundlich nach. Apollo liebt dein Buch - glaub's mir, mein Freund! Doch völlig stimmt der Titel nicht, sagt er: Viel Kunst, viel Witz, viel Klugheit darin steckt das war nicht nur a l l t ä g l i c h Werk!

7 GRAHAM

HOLDERNESS

Freiheit und Notwendigheit: Die Poesie des Marxismus Theoretisch sollte die marxistische Literaturtheorie die Trennung zwischen dem Bildungsstand der Arbeiterklasse und dem der Mittelklasse, zwischen höherer und allgemeiner Schulbildung, zwischen Theorie und Praxis ablehnen - eine Trennung, wie sie die Kultur der bürgerlichen Demokratie zwangsläufig gefangenhält. Doch in der Praxis können wir diese Trennung nicht ignorieren. Solche Bedingungen zu ignorieren hieße, die Wirklichkeit zu verleugnen; sie als gegeben hinzunehmen und auf ihrer Grundlage zu arbeiten bedeutet andererseits, ihre kulturelle Vorherrschaft gutzuheißen. Wir sprechen heute mit Selbstvertrauen von der theoretischen Unreife eines großen Teils der frühen Arbeiten der marxistischen Literaturgeschichte Großbritanniens, und wir tun recht daran; doch dürfen wir, wenn wir diese Vorbehalte anmelden, ihre bedeutsamen Stärken nicht aus den Augen verlieren - in erster Linie ihre enge Beziehung zur Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung. Ihre größte Errungenschaft war die Klarheit, die Einfachheit, die Verständlichkeit ihrer Sprache - Eigenschaften, die in den Werken vieler zeitgenössischer 13

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Literaturtheoretiker in hohem Maße verlorengegangen sind. Wo gibt es die enge Beziehung zwischen 'akademischem' Marxismus und der eher p r a k t i s c h e n Seite der marxistischen Bewegung; wo findet man diejenigen, die marxistische Kritik oder Literatur verfassen und zugleich in der Bildungsarbeit der Arbeiterklasse aktiv sind, Erwachsene unterrichten, an der politischen Bewegung teilnehmen? Gibt es so etwas, dann kann die marxistische Literaturtheorie danach streben, mit dem gemeinen Volk eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Zerbricht diese Beziehung und wird die theoretische Seite auf Kosten der „praktischen" entwickelt, dann wird die Sprache unserer Arbeiten unverständlich, exklusiv, professionell. Es gibt keinen Weg, den Marxismus einfach und leicht zu machen. Und es gibt auch keine Möglichkeiten, der hochwichtigen Aufgabe aus dem Weg zu gehen, das allgemeine theoretische Niveau literarischer Studien zu erhöhen. Doch das kann nicht wirksam geschehen, wenn es nicht zu dem allgemeinen Kampf im Bildungs\yesen und woanders in Beziehung gesetzt wird. Und in gleicher Weise g i b t es unbestreitbar eine Kluft zwischen dem Akademiker mit Universitätsbildung und dem einfachen sozialistischen Leser. Es ist eine der Aufgaben, die vor uns stehen, diese Kluft zu überbrücken, schmaler werden zu lassen und dazu beizutragen, daß sie schließlich ganz verschwindet. Lenin stellte fest, daß es ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Bewegung geben kann; allerdings sprach er von der Notwendigkeit einer B e z i e h u n g zwischen diesen beiden Elementen und nicht davon, daß sich das eine auf Kosten des anderen entwickeln solle. Die notwendige Einheit von Theorie und Praxis - könnte es eine grundlegendere Erkenntnis marxistischer Philosophie geben? Was aber i s t in der Sprache der Literatur „Praxis"? Sicherlich die Erfahrung, Literatur zu lesen - von irgend jemand irgendwo gemacht. Doch es gehört zu Terry Eagletons 71 eindrucksvollsten Leistungen, unsere herkömmlichen Ansichten über E r f a h r u n g als eine Art fester, materieller, ideologiefreier Lebensgrundlage in Frage gestellt zu haben; er bestand darauf, daß eine „Praxis" wie das Lesen von Literatur niemals eine wertfreie Tätigkeit ist. In der Sprache der Literatur die P r a x i s über die T h e o r i e zu erheben (wobei wir mit Praxis das Lesen meinen) heißt, die speziellen sozialen Gegebenheiten aus dem Blick zu verlieren, auf die alles „Lesen" bezogen ist. Wir müssen die Theorie entwickeln, wollen wir zu einem Verständnis dafür kommen, was in der „Praxis" wirklich vor sich 194

geht. Doch wir sollten immer nach dem gegenseitigen, d i a l e k t i s c h e n Wechselverhältnis der beiden Bereiche in unserer literarischen, kritischen und theoretischen Arbeit suchen. Wenn wir unser L e s e n in den Rahmen einer D i s k u s s i o n stellen und wenn diese Diskussion mit Menschen geführt wird, die in die Praxis des Sozialismus einbezogen sind, dann wird unsere theoretische Arbeit durch diese Verbindung bereichert und nicht herabgesetzt. Jüngere Genossen, die sich für Marxismus und Literatur interessieren, bewegen sich anscheinend durch das Medium der Althusserschen Sprache und Konzeptionen ohne Respekt, zwanglos und vertraut. Doch meine Erfahrung aus dem Literaturunterricht für Sozialisten aus der Arbeiterklasse und für Gewerkschafter läßt mich vermuten, daß ältere Genossen und solche ohne höhere Schulbildung grundlegendere Probleme mit der Literatur haben als jene, die unsere literarischen Journale beherrschen (und verwirren). Viele Genossen, mit denen ich über Literatur diskutiert habe, waren unter dem Einfluß einer überholten Schule marxistischer Philosophie aufgewachsen. Obwohl einige von ihnen literarische Werke gelesen hatten und Freude daran fanden, hatten sie doch im Ergebnis jenes Einflusses sehr wenig Sinn für die B e d e u t u n g der Literatur; manche fanden es sogar schwierig, ihr I n t e r e s s e dafür überhaupt zu rechtfertigen. Um Marx' Worte abzuwandeln: in solcher Situation muß sich der Erzieher selbst erziehen lassen - der Prozeß des Lernens muß sich gleichzeitig in z w e i Richtungen abspielen. 72 Ich möchte in diesem Beitrag ein Beispiel eines literarischen Experiments bieten, das mit eben solchen Studenten durchgeführt wurde: mit Lesern, deren Literatur-Erfahrungen (ganz zu schweigen von den Lebenserfahrungen) nichtakademisch waren. Die Ansichten und Erfahrungen dieser Gruppe veränderten und formten radikal das Wesen dieses Literaturkursus; schon das allein kann diesen Beitrag zu einem nützlichen Ausgangspunkt für den nichtakademischen Leser machen. Er stützt sich nicht auf umfangreiche Erfahrungen im Lesen, sondern benutzt ein leicht verständliches Gedicht als Illustration. Und weil sich sein Inhalt über die ursprüngliche Planung hinaus aus dem Versuch ergab und entwickelte, einige eher mißtrauische und distanzierte Genossen davon zu überzeugen, daß Poesie nicht nur lesenswert, sondern sogar für Marxisten n ü t z l i c h ist, versucht er, die komplizierten, jedoch engen Beziehungen zwischen Literatur und praktischer Lebenserfahrung zu betonen und nicht herabzusetzen. 13*

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Das bedeutsamste theoretische Problem, das unter Marxisten das Verständnis von Literatur erschwert, ist unsere Auffassung von der Rolle des menschlichen B e w u ß t s e i n s . Viele der Genossen, mit denen ich über Literatur diskutiert habe, betrachten die Literatur so eindeutig als Produkt des Bewußtseins, daß ihr eigentlicher Nutzen für Marxisten notwendigwerweise begrenzt sein muß. Schließlich ist das Bewußtsein nur eine Reflexion der Realität - so daß also die Literatur die Reflexion einer Reflexion ist. Man erkläre die ökonomischen Kräfte, die das Bewußtsein prägen, und man hat die Literatur erklärt. Es ist mir klar, daß solche Auffassungen für die gebildeten Genossen an den Universitäten keine Probleme mehr sind, doch woanders in der Bewegung sind das sicherlich noch Probleme. Deswegen möchte ich einige Gedanken zu dieser speziellen theoretischen Frage entwickeln und sie auf die praktische Diskussion über Literatur anwenden, damit zugleich die Beschäftigung mit Literatur gegenüber jenen Genossen r e c h t f e r t i g e n d , für die das notwendig sein mag. I „ D i e G e s c h i c h t e tut n i c h t s , sie 'besitzt k e i n e n ungeheuren Reichtum', sie 'kämpft k e i n e Kämpfe'! Es ist vielmehr d e r M e n s c h , der wirkliche, lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht etwa die 'Geschichte', die den Menschen zum Mittel braucht, um i h r e - als ob sie eine aparte Person wäre - Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist n i c h t s als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen." 73 Das ist das marxistische Verständnis der Geschichte. Die Triebkraft der sozialen Veränderung sind nicht die „ökonomischen Gesetze der historischen Entwicklung", unpersönliche ökonomische Kräfte, die unabhängig vom Willen und von der Wahl des Menschen wirken. Es ist die Tätigkeit des Menschen, und diese Tätigkeit kann man nicht von seinem Bewußtsein trennen. Eine Analyse der Gesellschaft kann sich daher nicht darauf beschränken, die Dialektik der „ökonomischen Basis" zu beschreiben; sie muß vielmehr verstehen, daß die Auseinandersetzung von wirklichen, lebendigen, individuellen Männern und Frauen in praktischen Situationen geführt wird, die in der Geschichte leben, welche wiederum nichts anderes ist als das Ergebnis ihrer eigenen Aktivitäten; sie muß erkennen, daß die bedeutsamsten Formen des menschlichen Bewußtseins entscheidende Faktoren sind, einen gesellschaftlichen Fortschritt zu erreichen. Die

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Welt wird durch die Tätigkeit des Menschen verändert - und durch sein Bewußtsein, das von seiner Aktivität nicht zu trennen ist. Der Mensch steht im Mittelpunkt der Geschichte; sie ist in Marx' Worten „nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen". Im Mittelpunkt der Geschichte stehen daher auch menschliches Wissen und Verständnis. Das war Marx' Auffassung, zum Teil aus Hegels Theorien abgeleitet. Marx sah Hegels wichtigsten Beitrag zur Erkenntnistheorie in dessen Betonung der „aktiven Seite des Wissens". Sowohl Hegel als auch Marx begriffen das Wissen nicht als etwas durch Reflexion Erworbenes, sondern als Element des Prozesses der Gestaltung und Veränderung der Welt. Durch die Arbeit formt der Mensch sowohl seine materielle Umwelt als auch sich selbst. Es gibt eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit zwischen zwei unterschiedlichen Gruppen von Marxisten. Da sind einerseits diejenigen, die sich auf das Gesetz der Geschichte stützen, das die Gesellschaft zum zwangsläufigen Zusammenbruch des Kapitalismus und zur unwiderstehlichen Flut des Sozialismus führen wird - und die sich infolgedessen damit zufriedengeben, daß sich die Arbeiterklasse eines Tages instinktiv zur Revolution erheben wird, ohne eigenen Willen von der sich ändernden ökonomischen Basis dazu bestimmt. Und es gibt jene, die - wie Marx und Lenin - verstanden haben, daß die wirkliche Triebkraft der Geschichte nicht ein unbewußtes Naturgesetz ist, das wir nur erkennen müssen, sondern - auf der Seite der Arbeiterklasse - die Erkenntnis des Ü b e r g a n g s Charakters der bestehenden Gesellschaft und ihrer Gesetze sowie der Funktion der Arbeiterklasse bei ihrem Umsturz. Lenin zeigte in Was tun ganz klar, daß dieser Bewußtseinsstand nicht zu erreichen ist, wenn man sich auf ein instinktives Klassenbewußtsein verläßt.

Die Funktion des Bewußtseins Wenn man die Bedeutung des Bewußtseins betont, wird man oft des „Voluntarismus" bezichtigt, als stellte man sich vor, man könnte durch reine Willenskraft und missionarischen Eifer alles zur Realität werden lassen, was man nur wolle. Marx und Engels kritisierten energisch die utopischen Sozialisten und die idealistischen Philosophen, die glaubten, ihre abstrakten Ideen von Freiheit und Gleichheit ließen sich einfach dadurch realisieren, daß man die übrigen 197

Menschen von ihrer Wahrheit überzeugte, ohne den wirklichen Charakter der Gesellschaft zu ändern. Aber gibt es etwa keine Alternative zum „Determinismus", zur Unterwerfung unter Naturgesetze, die sich nach einem fatalistischen Modell entwickeln, was immer die Menschen auch wollen, wünschen und zu erkämpfen versuchen? Gibt es so etwas wie eine „Freiheit", die über die „Einsicht in die Notwendigkeit" hinausgeht? Gibt es einen Unterschied zwischen der Handlung auf der Basis von Wissen und dem Handeln ohne Verständnis? Ohne Wissen zu handeln heißt, sich der blinden Herrschaft äußerer Kräfte zu unterwerfen. Auf der Basis von Wissen kann die Handlung dagegen ein Ausdruck von Freiheit sein. Der „deterministische" Marxist sieht keinen Unterschied darin, ob er nun von äußeren Kräften gezwungen wird oder ob er auf der Suche nach dem richtigen Handlungsweg überzeugt wird. In seiner „Dritten Feuerbach-These" kritisiert Marx den alten „mechanistischen" Materialismus: „Die" materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß." 74 Im Gegensatz zu der m e c h a n i s c h e n Auffassung, daß die Menschen einfach durch ihre materielle Umwelt geformt und bestimmt werden, behauptet Marx die d i a l e k t i s c h e Auffassung, daß es eine Wechselbeziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt gibt: Sie formt ihn, zugleich formt er sie. Wenn er begriffen hat, wie sie ihn formt, kann er sie verändern, zugleich die Art verändernd, wie sie ihn formt. Das bedeutet, daß er im Prozeß der Veränderung der Welt sich selbst verändern kann. „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen."* Die Welt, die wir vorfinden, besteht aus Verhältnissen, die nicht unserer Wahl unterlagen. Doch wenn wir die Welt verändern, können wir unsere „eigene Geschichte [machen]". Was Marx das „Machen" der Umstände nennt, ist ein sowohl theoretischer als praktischer Prozeß gegenseitiger Veränderung. Er schließt das Handeln ein, die Abschaffung des Klasseneigentums, einen heißen politischen Kampf. Doch er hängt vom Begreifen ab, von dem Aufgeklärtsein der Ar* Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Boaaparte. In: MEW 1978, Bd. 8, S. 115.

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beiterklasse; davon, daß sie aufgrund philosophischer und theoretischer Analyse die Verhältnisse begreift, und von dem darauf folgenden Handeln - von Willen, Entscheidung, Wunsch, Wahl und bewußt formuliertem und theoretisch angeleitetem Handeln. Nichtwissen bedeutet nicht wählen zu können, vorher festgesetzt zu sein. Das Bewußtsein ist also nicht die Reflexion des Wesens der Wirklichkeit in abstrakten Bildern, von jener Wirklichkeit völlig determiniert. Das würde heißen, das Bewußtsein rezipiere nur die Lektionen seiner „Erzieher". Doch wie es Marx formuliert hat: In der Praxis erzieht das Bewußtsein die Erzieher, verändert die Welt, der es gegenübersteht. Was die Welt verändert, ist das Wissen: das Wissen, das zur revolutionären Tat aufruft, das Wissen, das nur das Proletariat erwerben kann. „Es ist das Wissen, das sieht, w a r u m die Welt verändert werden muß und w i e sie zu verändern ist, das sich nicht darauf richtet, den S t a t u s q u o zu akzeptieren, sondern ihn zu überwinden . . . Vor allem ist es Wissen, das vom Handeln nicht getrennt werden kann; Wissen, das zugleich die Welt kennt und das verändert, was es kennt. Es ist das Handeln, das die Veränderungen in seinem Objekt bewirkt und das daher nach einem neuen Begreifen der Tatsachen verlangt - und dann nach neuem Handeln. Das ist die Dialektik von Wissen und Handeln, die Marx P r a x i s nennt."* II. Die „deterministische" oder „mechanistisch-materialistische" Philosophie muß schon von der Definition her alle Literatur - und insbesondere Poesie - notwendigerweise als eine Fiktion betrachten, als etwas Unwirkliches, Abstraktes, Illusionäres; als verschwommene Verkettung von Wörtern, die nicht unbedingt in signifikanter Beziehung zur Wirklichkeit stehen müßte. Solch eine Philosophie erkennt nur positive, „objektive", wissenschaftliche Fakten als w i r k l i c h an. Daher sieht eine solche Philosophie die gesellschaftliche Entwicklung als das Wirken einer nichtmenschlichen Dialektik der Natur, unabhängig vom Willen, von der Wahl, dem Verständnis und der Entscheidung des Menschen. Solch eine Philosophie muß notwendigerweise der Sprache mißtrauen - es sei denn, es ist die Sprache * John Lewis: On the Althusser Discussion: In: Marxism Today 18 (1978), 6, S. 174.

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der Naturwissenschaft. Jede Sprache, die sich mit nicht quantifizierbaren Tatsachen beschäftigt, muß als ungenau, unzuverlässig, verschwommen, trügerisch, illusionär erscheinen. Nach dieser Auffassung ist die „Wirklichkeit" die Summe von wissenschaftlich beweisbaren, objektiven Tatsachen: die „ökonomische Basis" der Gesellschaft. Nach dieser Auffassung wird das B e w u ß t s e i n immer eine abstrakte Wolke von Illusionen sein - abgesehen von seinem harten, zentralen Kern „wissenschaftlicher", objektiver Information über die Außenwelt. Nach dieser Auffassung ist das echte Bewußtsein das objektive Wissen von Tatsachen; alles andere ist falsches Bewußtsein - Ideologie, Idealismus, Träume, Märchen, Poesie. Poesie als Wissen Wenn wir jedoch eine solche Philosophie ablehnen, wie es Marx tat, und wir stattdessen Marx' eigene Auffassung übernehmen, seine Ansicht, „die Geschichte . >. kämpft keine Kämpfe. Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der alles tut" - , dann müssen wir die m e n s c h l i c h e T ä t i g k e i t als das anerkennen, was in jeder Situation entscheidend und unerläßlich ist. Deswegen erweist sich jedes Wissen als nützlich, das die bedeutsame Tätigkeit des Menschen, jene dialektische Wechselwirkung zwischen dem Menschen und der Welt, durch die beide verändert werden, bestimmt, erklärt oder auch nur ausdrückt. Poesie ist eine sölche Form des Wissens. Dialektisch gesehen ist die menschliche Tätigkeit ein zutiefst k o m p l i z i e r t e r Prozeß. Unser Verständnis d a f ü r muß daher dieser Kompliziertheit entsprechen. D i e Bestimmung, Erklärung und Interpretation eines solchen komplizierten Prozesses erfordert auch eine komplizierte Sprache, denn die Sprache muß der Komplexität des Prozesses entsprechen. D i e Poesie kann gewissermaßen behaupten, die komplizierteste Form des Gebrauchs der Sprache zu sein, die der Mensch je als Mittel des Ausdrucks und des Verständnisses seiner Lebensaktivität ersonnen hat. Die Frage der Sprache ist wichtig. Wenn wir zugeben, daß die Poesie eine Funktion in dem Prozeß haben k a n n , in dem das theoretische Bewußtsein das Wesen der Welt erfaßt und erkennt, wie es verändert werden kann - dann muß daraus vermutlich eines folgen: daß nämlich eine wesentliche Eigenschaft sozialistischer, marxistischer, „wissenschaftlicher" Poesie in der Einfachheit der Sprache besteht. Diese Sprache muß für die Arbeiterklasse verständlich sein. Wenn 200

die Poesie ein wirksames Mittel marxistischen Verständnisses sein soll, muß sie doch natürlich für jene Klasse zugänglich sein, deren politische Aktivität so revolutionär wie möglich ist. Aber folgt das zwingend? Ist das marxistische Verständnis von der Welt „einfach"? Ist es nicht im Gegenteil eine ungeheuer komplizierte Wissenschaft eines unendlich komplexen Entwicklungsprozesses - der menschlichen Geschichte selbst? In welchem Sinne ist Marx' eigenes Werk e i n f a c h ? In Büchern wie dem 'Kapital ist die theoretische Komplexität des Gedankens geradezu überwältigend. Und daher gibt es natürlich die entsprechende Kompliziertheit der Sprache. Obwohl die meisten von uns diese Werke nur in der Übersetzung kennen, ist es ganz offenkundig, daß die Marxsche Prosa verschiedene Sprachebenen benutzt - die Sprache der Ökonomie, die Sprache der Naturwissenschaft, die der Geschichtswissenschaft durchwoben von philosophischer Sprache. Damit wird eine neue Ausdrucksweise - eine m e n s c h l i c h e r e Wissenschaft als jede andere Wissenschaft dieser Zeit - geschaffen. Es gibt hier in der kapitalistischen Gesellschaft und der bürgerlichen Kultur einen Widerspruch zwischen der notwendigen Komplexität der Philosophie, die aufzuzeigen in der Lage ist, wie man die Welt ändern kann, und dem allgemeinen Bildungsniveau der Arbeiterklasse. Ein Dichter muß verständlich sein, wenn er nicht nur von einer ganz kleinen gebildeten Elite gelesen werden soll. Doch sollte er versuchen, die Einfachheit dadurch zu erreichen, daß er die Komplexität seiner Weltsicht opfert - dann würde er jene Sicht verfälschen und damit die Wirklichkeit. III Das Gedicht, das ich diskutieren möchte, ist gleichzeitig eine theoretische Ausführung dieser Ideen und eine Demonstration ihrer Gültigkeit und Wahrheit. Es ist John Cornfords Füll Moon at Tierz before tbe Storming of Huesca (Vollmond über Tierz - vor dem Sturm auf Huesca). 1 Der Gletscher der Vergangenheit hängt an dem Berg Zollweis* bewegt er sich, gehüllt in Nacht. Doch dann fällt er an jener Strecke End, wo Dialektik zur Veränd'rung führt, im Licht in einem Augenblick zerstört. 201

Die Gegenwart, ein Wasserfall von Kraft, zerbricht die Ufer schon von Anfang an. Geschichte ist in uns'rer Hand nicht Knete, sondern stürmend' Sand, doch bringen wir sie in die letzte Form. Die Linie, die das Feld durchtrennt, die Zukunft ohne Bild im Raum, gekrümmt wie dieser Weg vor uns, gerade wie der Kugel Flug. Wir sind die Zukunft, auf dem Weg zur letzten Schlacht. 2 Der Vollmond über Huesca wirft den Schatten klar wie Tageslicht. Die Unschuld dieses stillen Orts vergeht in Schweiß und Blut und Schmerz. Verlust, Gewinn, ja Kampf um den entscheidend' Halt. Die kahlen Hügel hier von Aragon verkünden, daß die Probe jetzt begann. Der Siebente Kongreß uns sagt, was wahr ist und was falsch, was Leben oder Tod. Die Mauser von Oviedo singt sein Lied. Drei Jahre früher, Dimitroff hielt allein stand, stolz machte uns sein großer Sieg. Doch jener Drachen Leipzigs bleckt die Zähne allen jetzt und hier, Armeen uns weisend, nicht ein feindlich Tier allein. Wir lernten gut, wie man den Kampf beginnt, Maurice Thorez war unser Licht, doch jetzt, am Monte Aragon, im Dunklen stehn wir wieder ganz allein, der Erdtrabant durchkreist die Nacht. 3 Der Kommunismus meiner Jugendzeit im Licht der Heimat strahlend klar, ganz deutlich, vor den Augen hell, war immer Hilfe, Schutz und Schirm jetzt steh allein ich, Kämpfer der Partei. 202

Ich kämpfe gegen meine eig'ne Angst, die Furcht vor Schmerz, der immer bleibt, die Liebe, die mich ganz zerreißt, die Einsamkeit, die mich erwürgt; doch eingeschweißt in uns're feste Front. Sei sieghaft wie das Sonnenlicht und stählern wie das Eisen in der Hand, laß uns'res Zuges schnellen Lauf des Fußes Gleiten rasch vergessen, Oktober-Rhythmus auch bei uns. 4 Die Nacht fällt über Deutschland jetzt. Der Sterne unteilbarer Schein fällt von dem kalten Firmament auf Sachsenhausen und die Narben all. Wir können diesen Schmerz nicht lindern, doch soll er nicht vergebens sein. England schweigt tief im Mondeslicht, die Clyde schläft wie die leeren Gruben Wales'. Die Unschuldsmaske deckt es zu, wie sehr auch unsre Freiheit schwankt. Begreif es noch zur rechten Zeit: Kampf ist der Preis der Freiheit stets. Freiheit - das spricht so leicht man aus, doch wie schwer ist die Wirklichkeit! Die Sieg wird unser nur, wenn unsere Klasse überall sich stellt an unsere Seite in Huesca, schwört, daß unser Tod nicht war umsonst, erhebt die rote Fahne hoch für Kommunismus und für Freiheit stolz. (verfaßt 1936) John Cornford gehörte zu der Generation gebildeter junger Männer der dreißiger Jahre und ging 1936 nach Spanien, um für die Republik zu kämpfen. E r war Mitglied der Kommunistischen Partei. Schon früh fiel er in diesem Krieg. Einen kurzen Eindruck von Cornford

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vermittelt Louis MacNeice in seiner Autobiographie. Er erinnert sich daran, daß er in seinem Wagen zwei Studenten aus Cambridge mitnahm: „Einer gehörte zu den jungen Studenten aus Cambridge, die klug waren, Karrieristen, Linke, voll von Statistiken. Der andere war John Cornford, ebenfalls ein Student aus Cambridge, klug, Kommunist und voll von Statistiken. Doch der Gedanke an eine Karriere ging bei ihm völlig in der 'Sache' unter; er war auf dem Weg nachBirmingham, wo ihm der Prozeß gemacht werden sollte wegen Behinderung des freien Straßenverkehrs, weil er auf dem Bull Ring (wo 1838 die Chartisten-Bewegung entstanden war) kommunistische Flugblätter verteilt hatte. John Cornford war der erste Kommunist, der mich begeisterte; er war der erste, der eine selbstlose Hingabe an seine Überzeugung mit einer wirklich hervorragenden Intelligenz verband."* Cornford zeigte seinen Kommunismus in seinem Leben und in seiner Poesie. Ich meine, der Schlüssel zu Füll Mooti at Tierz liegt in dem letzten Teil: Freiheit - das spricht so leicht man aus, doch wie schwer ist die Wirklichkeit! Das Gedicht handelt sodann von der dialektischen Auffassung von Freiheit. Die Freiheit ist ein Wert, eine Sehnsucht, ein Verlangen im Bewußtsein; doch außerhalb des Bewußtseins gibt es die „harte" Realität, materielle Bedingungen, die verändert werden müssen, bevor die Freiheit v e r w i r k l i c h t werden kann. Einerseits gibt es die „Bestimmung des Menschen, die Entfremdung zu beenden"**, das Verlangen nach Freiheit, Freiheit als menschlichen Wert; andererseits stehen dieser Bestimmung objektive Hindernisse entgegen. Das Gedicht untersucht die Beziehung zwischen diesen voneinander abhängigen Elementen der Lebenstätigkeit des Menschen. Cornford sieht „Freiheit" nicht in der abstrakten Weise eines utopischen Idealisten als eine Bedingung, die unabhängig von gegebenen ökonomischen und sozialen Umständen allein dadurch verwirklicht werden könnte, daß man andere Menschen von ihrem wahren Wert über* Louis Macneice: The Strings Are False. An unfinished autobiography. Hg. v. E . R. Dodds. London 1965. * * John Lewis: On the Althusser Discussion. In: Marxism Today 18 (1974), 6, S. 174.

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zeugte. Freiheit wird hier vielmehr als Einsicht in die Notwendigkeit verstanden; allerdings wird die Notwendigkeit nicht als blinde, unpersönliche Kraft verstanden, die unabhängig von Willen, Wahl und Entscheidung des Menschen wirkt, sondern als die Summe der materiellen Bedingungen, die so beschaffen als Ergebnis der menschlichen Tätigkeit zu betrachten sind. Sie können entweder die „harte Realität" sein, Hindernisse, die sich der menschlichen Entwicklung entgegenstellen, oder sie können das Vehikel sein, um die Freiheit zu erreichen - was sie sind, hängt ab vom Verständnis, vom Willen und vom Handeln des Menschen. „Auf der Basis des Wissens kann das Handeln zur Freiheit werden." Auf vollkommenste Weise drückt dieses Gedicht jene Wahrheit aus. Seine Haltung ist weder utopischidealistisch noch mechanisch-materialistisch: seine Philosophie ist die des Marxismus.

Geschichte und qualitative

Veränderung

Der Anfangsabschnitt des Gedichts stellt die Situation in ihren zeitlichen Rahmen. Im Hintergrund steht die Vergangenheit: ein „Gletscher", eine dunkle, feste, unveränderliche Masse, langsam kriechend, sich nur „zollweise" bewegend, sich langsam, mühselig, blind, deterministisch dahinschleppend. Doch jener Vorgang der langsamen Bewegung hat jetzt einen entscheidenden Punkt erreicht - „wo Dialektik zur Veränderung führt" - , jin dem der Gletscher der Vergangenheit das Ende der Strecke erreicht und in eine völlig neue Situation hineinstürzt, „im Licht in einem Augenblick zerstört". Die Nacht macht dem Licht Platz, die „zollweise" Bewegung dem plötzlichen Geschehen des „Augenblicks". Cornford benutzt das dialektische Prinzip der „qualitativen Veränderung", wonach der Entwicklungsprozeß schließlich den Punkt des Übergangs erreicht, wo der Prozeß der Anhäufung und des langsamen quantitativen Wachsens zu einem plötzlichen Durchbruch der Entwicklung führt, zu etwas völlig Neuem. Hegels berühmtes Beispiel war die Entwicklung des Kindes im Mutterleib, das nur quantitativ wächst und an Größe zunimmt, bis das Stadium des Übergangs oder „Durchbruchs" erreicht wird die Geburt. Der Übergang vom Embryo zum lebenden Kind ist ein Punkt qualitativer Veränderung, an dem ein Prozeß etwas völligNeues hervorbringt und seine Gesetze der Veränderung und Entwicklung völlig andere Formen annehmen. Das gleiche geschieht mit der Ge205

schichte. In Cornfords Gedicht ist hier im Spanien des Jahres 1936 auf diesem speziellen Schlachtfeld ein solcher Punkt erreicht. Die Vergangenheit hört an dieser Stelle auf, eine unbewegliche, objektive Masse beherrschender Bedingungen zu sein, und wird zur Gegenwart, in der die menschliche Entwicklung in der Schwebe hängt, in der mehrere unterschiedliche Entwicklungsrichtungen möglich sind. Und die Verantwortung für die Orientierung und Gestaltung dieses Prozesses liegt bei den Menschen selbst. Die Menschen stehen vor einer Wahl, die die künftige Entwicklung der Geschichte entscheidet. In der zweiten Strophe drückt Cornford in glänzender Weise das paradoxe Wesen dieser Situation aus. Die Geschichte erscheint jetzt nicht mehr als Gletscher (die Vergangenheit, gefroren, fern jeder Veränderung), sondern als ein Wasserfall, der seine Ufer in eine chaotische, wirbelnde Veränderung hineinstürzt - „stürmender Sand". Das ist die Gegenwart - eine riesige und offensichtlich chaotische Flut von tatsächlichen Erscheinungen und möglichen Entwicklungen, das stürmende Chaos des Schlachtfeldes der Geschichte. Wie kann dieses Chaos gebändigt, dem menschlichen Willen unterworfen werden? Dennoch: das. m ü s s e n wir schaffen, das Chaos muß gemeistert werden, wir müssen die Geschichte „in die letzte Form" bringen. Geschichte ist nicht „Knete", ein festes Material, das leicht in jegliche gewünschte Form gebracht werden kann. In der Praxis ähnelt sie mehr einem wütenden Sturzbach, der sein eigenes Leben und seinen eigenen Willen zu haben scheint; und dennoch k a n n sie geformt, durch menschliches Verständnis gedeutet, ja dem Willen, der Anstrengung und der Entscheidung des Menschen unterworfen werden. Wenn Cornford solche Metaphern benutzt, macht er nicht die eigentliche Frage durch unwesentliche Vergleiche verworren. E r klärt vielmehr die Situation dadurch, daß er uns eine dramatische Situation vorführt, die wir verstehen können, und daß er diese Situation in den Rahmen der historischen Entwicklung und der Zeit stellt. Solch eine Untersuchung hilft uns nicht nur zu verstehen; sie kann uns auch helfen zu handeln. Die dritte Strophe beschreibt die Zukunft. Cornford versteht die Zukunft noch als unvermeidliche, notwendige Erscheinung zum Sozialismus. Die Zukunft existiert noch nicht, sie hat keine notwendige Form, kein „Bild im Raum". „Die Geschichte . . . kämpft keine Kämpfe", hatte Marx gesagt, die Geschichte offenbart uns nicht die Zukunft - „wir s i n d die Zukunft". Und welcher Weg führt zur Zukunft? Cornfords Konzeption ist die dialektische Anerkennung

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des komplizierten und widersprüchlichen Wesens des revolution«»*~.. Kampfes. D e r Weg ist „gekrümmt"; nicht gerade, glatte Vorwärtsfahrt, sondern eine komplizierte Bewegung, die vorwärts und zurück pendelt, voranschreitet und zurückweicht, in alle Richtungen führend. Und doch, sich in diesem offenkundigen Gewirr der Komplexität behauptend, bewahrt sich auch die wirkliche Richtung: „gerade wie der Kugel Flug". - „Wir sind die Zukunft." Wenn der Mensch die Geschichte, analysiert, findet er nur sich selbst und seine eigene Aktivität. Mit jener Schlußzeile aus der Internationale drückt Cornford die dialektische Beziehung zwischen dem Menschen und dem Kampf um ihn herum aus. Es sind Individuen in einem kollektiven Kampf mit objektiven Bedingungen: „ W i r , auf dem Weg zur letzten Schlacht." Das Gedicht stellt sein Subjekt (und damit sich selbst) in die objektiven Prozesse der Zeit und der Veränderung: „Er versucht, den Sinn des Wegs aufzuzeigen, den die Geschichte geht, den Sinn des Augenblicks der dialektischen Veränderung - unpersönlich, doch nicht mechanisch oder vorherbestimmt in dem sich neue Möglichkeiten zeigen. E r gibt uns einen Begriff, von der aktiven Rolle der Menschen in diesem Prozeß als der Gestalter der Geschichte. Besonders deutlich wird das in den Zeilen, die die notwendigen Abweichungen menschlicher Strategien mit der kompromißlosen Geradheit des Prozesses und seiner Endgültigkeit individuell kontrastieren. Die Zukunft hat kein vorherbestimmtes Bild: alles hängt von der Wahl ab, die die Menschen treffen, und von den Handlungen, die sie unternehmen. Doch diese Wahl und diese Handlungen erfolgen innerhalb gegebener Situationen und nicht auf der Basis abstrakter Ideen."* Wie Arnold Kettle hier bemerkt, stellt das Gedicht die entscheidende Beziehung zwischen dem Menschen und der Welt, die durch die menschliche Aktivität verändert wird, sehr genau dar. Und damit drückt es das Wesen des Marxismus aus. Individuelle

Isolation und kollektive

Einheit

In Abschnitt 2 sind „entscheidend [er] Halt" und „Probe" die Schlüsselwörter. „Probe" bedeutet einerseits „Versuch", „schwierig", „mühsam", doch damit soll noch mehr gesagt werden. D e r H a l t des Men* Arnold Kettle: Poetry and Politics. London 1976.

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sehen an der Geschichte, die Art, wie der Mensch die Verhältnisse im Griff hat, stehen auf der Probe, können verloren oder gewonnen werden. Und dann die Bezugnahme auf den Siebenten Weltkongreß 75 , auf Dimitroff und Thorez, die Baumeister der Volksfront. Die Wahrheit oder die Unrichtigkeit dieser Theorien erwarten jetzt die entscheidende Probe der Praxis: „Der Siebente Kongreß uns sagt, was wahr ist und was falsch, was Leben oder Tod." „Tote" Theorien bedeutet „tote" Menschen. Ist die Theorie jedoch wahr, müssen zwar viele sterben, um sie zu bestätigen, aber sie „lebt" dennoch. Die Entwicklung von Dimitroff, der „allein" stand, über „Armeen" wieder zurück zu „allein" drückt eine tiefe dialektische Wahrheit und eine tiefe menschliche Erfahrung aus. Die republikanischen Kämpfer sind ein Teil der großen weltgeschichtlichen Bewegung des Sozialismus. Und doch kann es noch einsam sein, hier draußen auf dem Feld in der Nacht vor einer Schlacht. Sie sind immer noch eine kleine Kraft, international isoliert. Trotz der Solidarität und der Gemeinschaft des Kollektivs muß jeder Mann den „Kampf gegen seine eigene Angst", gegen seine individuelle Furcht führen. Dieses Paradoxon - die Einsamkeit und Isolation des Individuums einerseits, die kollektive Einheit und Unversehrtheit der Partei, der Bewegung, andererseits - ist eine zutiefst wahre Beschreibung der Wirklichkeit. Cornford spricht die Hoffnung aus, daß in der Schlacht die individuellen Befürchtungen - „Furcht", „Schmerz", „Einsamkeit" - im Kollektiv aufgesogen werden: „doch eingeschweißt in unsere feste Front", wobei „Front" natürlich sowohl die politische als auch die militärische Front bedeutet. Cornfords Gebet, das er (an sich selbst gerichtet!) ausspricht, ist, daß „des Fußes Gleiten" des Individuums kraftvoll und unerbittlich in „unseres Zuges schnellen Lauf" eingeht, angetrieben von der Oktoberrevolution: „Oktober-Rhythmus auch bei uns". Dieses an sich selbst gerichtete Gebet vermittelt uns wieder Verständnis und Klarheit in bezug auf das komplizierte Verhältnis von Individuum und seinen objektiven Bedingungen: er bittet, die stählerne Härte des Eisens, das er in der Hand hält, und der Rhythmus seines Zuges mögen vermenschlicht und Eigenschaften seines eigenen Handelns als Teil der kollektiven Bewegung werden. Das Gedicht begann damit, die Situation in ihren zeitlichen Rahmen zu stellen - in die Bewegung der Geschichte. In den Teilen zwei und drei untersuchte Cornford dann seine eigene Position als eines Individuums in jener Situation und die Bedeutung der Theo208

rien und Überzeugungen von Individuen und Bewegungen. Im Teil vier steht jetzt der Ort im Mittelpunkt - das Vordringen des F a schismus ist kein isoliertes spanisches Problem, sondern ein Problem für die Menschheit: „Auch u n s e r e Freiheit schwankt." D i e B e deutung des historischen Moments wird damit internationalisiert. D i e abschließenden Zeilen wiederholen die Dialektik von Mensch und Geschichte: „Kampf ist der Preis der Freiheit stets." „Freiheit" ist eine Erklärung der Überzeugung, des Sehnens, ein verbaler Akt. Und doch - was könnte der Kampf ohne ein solches W o r t bedeuten? Das B e w u ß t s e i n des Bedürfnisses nach Freiheit u n d zugleich des Kampfes um ihre Erringung, Bewahrung und Entwicklung hängen voneinander ab, bestimmen sich gegenseitig und können nicht voneinander getrennt werden. D i e Geschichte „ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen". Ich glaube, es ist kein Zufall, daß wir das Wesen der marxistischen Philosophie gerade in den Worten eines jungen Dichters so genau ausgedrückt finden. Natürlich war Cornford nur einer von den vielen, die auf Spaniens Schlachtfeldern kämpften und starben, und ich will ihm unter den Tausenden, die fielei^, keinen besonderen Lorbeerkranz winden. Doch als Dichter, der außerdem Marxist und Freiheitskämpfer war, bewies Cornford ein bemerkenswertes Spektrum menschlicher Kreativität. Als Dichter war er ein Schöpfer, ein Meister des Wortes. E r mußte eine schwierige und anspruchsvolle Aufgabe bewältigen: die Konfrontation mit einer Sprache, die nicht sein eigenes Produkt war, sondern ein besonderes sozialgeschichtliches Herkommen hatte, und auf ihrer Grundlage die Herausbildung einer neuen, lebendigen Vision - seiner eigenen und doch nicht ganz seiner eigenen. Dieses „unerträgliche Ringen mit Wörtern und Bedeutungen" reizt zu dem Vergleich mit dem Prozeß, Geschichte zu machen und den Sozialismus aufzubauen. In jeder dieser beiden Tätigkeiten muß mit objektiven Materialien gerungen und diese müssen in Übereinstimmung mit der menschlichen Vision geformt werden. In beiden Tätigkeiten hat der Mensch, die W a h l : er kann entweder der Schöpfer, der Gestalter, der Bildner sein oder er kann die determinierenden Zwänge der Wirklichkeit hinnehmen und s i e seine Sprache, seine Handlungen, seine Lebenstätigkeit bestimmen lassen. Cornford hätte auch sagen können: „ P o e s i e - das spricht so leicht man aus, doch wie schwer sind die W ö r t e r " ! 14

Southall/Magistec

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Ein Dichter versteht sich auf die ungeheure kreative Macht, die die menschliche Phantasie über Wörter und Gedanken ausüben kann. Verbindet er diese Macht der Phantasie mit dem theoretischen Verständnis des Intellekts und der praktischen K r a f t des Willens, wie es Cornford tat - dann fängt er an, Leben als Kreativität aufzufassen: die Formung von Worten und die Formung der Gesellschaft als verwandte Aktivitäten, dieselbe Dimension des kämpferischen Lebens darstellend.

8 ARNOLD

KETTLE

Bernard Shaw und der neue Geist E s schien mir eine Zeitlang so, daß vieles von marxistischen oder anderen linken Einschätzungen zum Werk von Bernard Shaw unbefriedigend war. E s trifft zu, daß Shaw in vielerlei Hinsicht eine angreifbare Gestalt war. Sowohl in seinem Leben als auch in seiner Kunst gab es viel, was er dem Schicksal zu überantworten bereit war - und das Schicksal (in Form der sich vertiefenden Krise der kapitalistischen Gesellschaft, die er so lange durchlebte) zögerte nicht, aus dieser Situation seinen Nutzen zu ziehen. Doch wenn man seine Irrtümer und Dummheiten zusammenzählt, die falschen Vorahnungen und die Späße, die fehlschlugen oder auf ihn zurückprallten - was dann übrigblieb, ist immer noch höchst eindrucksvoll und wie so viele gute Literatur in ihrer Wirkung nicht einfach voraussagbar. E s ist allgemein nicht schwer zu sehen, wie er aus den Spannungen und Widersprüchen seiner Zeit emporsteigt. Und doch ist es genauso unmöglich, ihn zu „erklären", wie es der Versuch gewesen wäre, jene anderen vorherzusehen, die er so sehr bewunderte: Mozart und Wagner, Dickens und Ibsen. Vielleicht ist es das, was man über ihn am meisten sagen möchte: daß er letztlich eben in ihre Gesellschaft gehört. Was folgt, kann natürlich keinerlei Gesamturteil über Shaws Werk darstellen. Dazu wäre weit mehr erforderlich als ein kurzer Essay.

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Ein Dichter versteht sich auf die ungeheure kreative Macht, die die menschliche Phantasie über Wörter und Gedanken ausüben kann. Verbindet er diese Macht der Phantasie mit dem theoretischen Verständnis des Intellekts und der praktischen K r a f t des Willens, wie es Cornford tat - dann fängt er an, Leben als Kreativität aufzufassen: die Formung von Worten und die Formung der Gesellschaft als verwandte Aktivitäten, dieselbe Dimension des kämpferischen Lebens darstellend.

8 ARNOLD

KETTLE

Bernard Shaw und der neue Geist E s schien mir eine Zeitlang so, daß vieles von marxistischen oder anderen linken Einschätzungen zum Werk von Bernard Shaw unbefriedigend war. E s trifft zu, daß Shaw in vielerlei Hinsicht eine angreifbare Gestalt war. Sowohl in seinem Leben als auch in seiner Kunst gab es viel, was er dem Schicksal zu überantworten bereit war - und das Schicksal (in Form der sich vertiefenden Krise der kapitalistischen Gesellschaft, die er so lange durchlebte) zögerte nicht, aus dieser Situation seinen Nutzen zu ziehen. Doch wenn man seine Irrtümer und Dummheiten zusammenzählt, die falschen Vorahnungen und die Späße, die fehlschlugen oder auf ihn zurückprallten - was dann übrigblieb, ist immer noch höchst eindrucksvoll und wie so viele gute Literatur in ihrer Wirkung nicht einfach voraussagbar. E s ist allgemein nicht schwer zu sehen, wie er aus den Spannungen und Widersprüchen seiner Zeit emporsteigt. Und doch ist es genauso unmöglich, ihn zu „erklären", wie es der Versuch gewesen wäre, jene anderen vorherzusehen, die er so sehr bewunderte: Mozart und Wagner, Dickens und Ibsen. Vielleicht ist es das, was man über ihn am meisten sagen möchte: daß er letztlich eben in ihre Gesellschaft gehört. Was folgt, kann natürlich keinerlei Gesamturteil über Shaws Werk darstellen. Dazu wäre weit mehr erforderlich als ein kurzer Essay.

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Alles, was ich zu tun hoffen kann, ist, gewisse Annäherungen und Perspektiven anzuregen, die für ein vollständigeres und befriedigenderes Urteil die Grundlage schaffen. In seinem Essay über Shaw in Studies in a Dying Culture (1938; Studien zu einer sterbenden Kultur) schlägt Caudwell76 einen Ton an, den ich in Frage stellen möchte: „Die drohende Proletarisierung vor Augen, klammerte er sich an die bürgerliche Klasse. Ebenso wehrte er sich gegen die ideologische Proletarisierung, ein Problem, vor das er sich durch die Lektüre von Marx gestellt sah, und hielt am Fabiertum mit seinen bürgerlichen Traditionen und seiner gesellschaftlichen Respektabilität fest." 77 Nun ja, man sieht durchaus, was er meint. Und es ist nicht falsch. Aber ist es wirklich das, worum es geht, was vor allen Dingen gesagt werden muß? Liegt in dieser Einstellung nicht etwas recht gefährlich Platonisches, der Versuch, einen Idealmaßstab aufzustellen, wie ihn das Wort „Proletarisierung" ausdrückt, und nicht nur das Leben eines Menschen, sondern auch sein Werk hartnäckig an diesem Idealmaßstab zu messen? Man zögert, diesen Maßstäben Caudwells zu folgen, der um den Preis seines Lebens genau die Bemühung unternahm, deren Vermeiden er Shaw als Flucht vor der Realität vorwarf. Es bleibt der Verdacht bestehen, daß Caudwell bei seiner so aufrichtigen Konzentration darauf, was Shaw n i c h t war oder was Shaw hätte sein müssen, das Risiko eingeht, zu übersehen, was Shaw wirklich war, was er für die Bewegung erbrachte, der er trotz aller Schwächen und Fehler immer zu dienen bestrebt war. Wenn man zu sehr Shaws Rolle als falscher Führer herausstellt, bleibt das Urteil über ihn unbefriedigend - nicht etwa, weil an den gegen ihn erhobenen Vorwürfen nichts Wahres wäre, sondern weil es bei einem solchen Verfahren so leicht geschieht, daß man das wirkliche Originelle übersieht, jenen Beitrag, den niemand anders leistete oder leisten konnte. Es ist übrigens interessant, sich daran zu erinnern, daß Caudwells Kritik, die zu bereitwillig Shaws Schwächen mit seinem Herkommen aus der Fabian Society gleichsetzt, sich nicht so sehr von der von Shaws Fabier-Freundin und Kollegin Beatrice Webb 7 9 unterscheidet. Sie war ebenfalls durch das schockiert, was ihr als Shaws Frivolität oder Verantwortungslosigkeit erschien, und war der Auffassung, er habe im Interesse der Wirkung oder des Beifalls oder einer Art bürgerlicher Zustimmung alles verraten. Im Jahre 1905 schrieb sie am Tage, nachdem sie zusammen mit dem (konservativen) Premierminister Major Barbara (1906) im Royal Court gesehen 14»

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hatte, in ihr Tagebuch: „Ich bezweifle, daß das Stück in der Öffentlichkeit Erfolg haben wird. Es ist die Hölle, die da auf die Bühne geworfen wird - ohne jede Hoffnung auf den Himmel. G. B. S. spielt in einer Weise mit Gedanken und Gefühlen, die schwerfällige Pedanten wie Sidney und mich beunruhigt... Doch die dumme Öffentlichkeit läßt sich eine Menge von jemandem bieten, dem die Großen dieser Welt als einem unvergleichlichen Geist applaudieren . . . " Ich glaube, sowohl Caudwell als auch Beatrice Webb unterschätzen die befreiende Wirkung guter Kunst und insbesondere die Kompliziertheit des Weges, auf dem diese Wirkung vor sich geht. Es trifft zu, die „Moral" von Major Barbara scheint darin zu liegen, daß der kapitalistische Realist Undershaft alle Trümpfe in der Hand hält. Doch der tiefere Gehalt des Stückes ist der, daß die Macht niemals durch bloßen Idealismus wirklich in Frage gestellt werden kann. Shaws Fähigkeit, seinen Zuschauern gerade d i e s e Problematik zu erschließen, ist auf die Dauer soviel wert wie zwanzig leichter errungene moralische Siege, mit denen man nur den schon Bekehrten trösten kann. Ein jüngeres Urteil über Shaw von einem linken Kritiker - Raymond Williams - scheint mir für das repräsentativ zu sein, was heute sehr viele Leute über Shaw denken: „Shaws Schwungkraft als Dramatiker nimmt sicher ab; es scheint unmöglich zu sein, daß sie als bedeutende Kraft die Zeit überlebt, deren Opfer er war. Der Respekt für seine Fähigkeit, eine Menge hartnäckigen Unsinn zu verlachen, wird gewiß bleiben; auch der Respekt für seinen großartigen Witz, für seine gekonnten Gerichtsszenen upd Possen . . . Doch die emotionale Unzulänglichkeit seiner Stücke verwehrt ihm einen bedeutenderen Status. Er zerstörte das greifbare Leben der Erfahrungen, indem er der Vorstellung von reiner Intelligenz und reiner Macht folgte." 79 Das ist eine rigorose Abwertung, und zwar um so mehr, als sie Shaws Rolle als „Opfer" betont, isoliert und hoffnungslos gemacht durch die sozialgeschichtlichen Bedingungen seiner Zeit, insbesondere durch die Schwäche der britischen Arbeiterbewegung und die Kräfte des bürgerlichen Philistertums in Großbritannien. Ich habe abermals das Gefühl, daß hier etwas falsch läuft und Shaw zu wenig zugebilligt wird. Und damit steht dieses Urteil im schlagenden Gegensatz zu der Auffassung von Shaws hartnäckigstem Verteidiger unter den Dramatikern des zwanzigsten Jahrhunderts: Bertolt Brecht. Brecht idealisierte Shaw nicht. Doch er erkannte ihn als einen der 212

Schriftsteller an, zu dem er eine besondere Verwandtschaft besaß. Als er an seinem Leben des Galilei arbeitete, gingen seine Gedanken zu Shaws Saint ]oart (1923; Die heilige Jobanna), einem anderen historischen Drama zurück, das er in den zwanziger Jahren in Berlin während seiner Einstudierung aus den Kulissen beobachtet hatte, als Max Reinhardt Regie führte und Elisabeth Bergner die Johanna spielte. Brecht sah Shaws Nachspiel, in dem Johanna wiederkehrt, sozusagen innerhalb und zugleich außerhalb der Geschichte, als seinen Versuch, jene „Distanzierung" oder „Objektivierung" zu erreichen, die er V e r f r e m d u n g nannte und als so wichtig für sein eigenes Drama betrachtete. Ihn befriedigte Shaws Lösung nicht, und als er nach dem Kriege in Berlin an einem Johanna-Stück für das Berliner Ensemble arbeitete (eine Adaption eines Hörspiels von Anna Segh'ers mit dem Titel Der Prozeß der Jeanne d'Arc zu Rouen 1431)m, stellte er seine eigene Lösung vor. Er schrieb eine Schlußszene für das Stück, deutlich im Frankreich des Jahres 1436 angesiedelt, womit er das mystische Element aus Shaws Nachspiel vermied. Ich erwähne diesen Punkt nur, um nachzuweisen, daß Brechts Beziehung zu Shaw nicht nur eine Behauptung der Literaturgeschichte oder gar nur meine persönliche Vermutung ist. Ich glaube, es kann fruchtbar sein, Shaw im Licht von Brechts späterem Werk zu betrachten, denn es gibt die Tendenz, Shaws Werk zu sehr als den gescheiterten Versuch zu sehen, ein sozialistisches Drama zu schaffen, und zu wenig als einen schöpferischen Anstoß in eben jene Richtung. Diese Tendenz ist es, glaube ich, die zu Raymond Williams' Abwertung führt, die ich oben zitiert habe, und sie scheint mir auch viel von dem zu erschließen, was die bei weitem seriöseste und lohnendste marxistische Arbeit über Shaw ist - A Good Man Fallen among Fabians (Ein guter Mann den Fabianern erlegen) von Alick West. Um meine Sichtweise - die mehr von dem offenbart, was in seinem Drama wirklich wertvoll und fortschrittlich ist - zu verstehen, muß man Shaw in seinen historischen Zusammenhängen sehen, nicht nur in seinem Bezug zur sozialistischen Bewegung seiner Zeit, sondern auch in seinem Bezug zur Entwicklung des modernen europäischen Dramas. Es ist meine Hypothese, daß es zwei ganz große europäische Dramatiker gibt, beherrschend in dem Sinne, wie wir heute Shakespeare als beherrschend für das Drama seiner Zeit und danach verstehen. Es sind Ibsen und Brecht. Sie sind nicht nur in sich selbst groß, meß213

bar an der Qualität ihrer individuellen Leistung, sondern auch durch ihre zentrale Rolle in ihrer Zeit, durch die sich daraus ergebende Tiefe ihres Einflusses, die oberflächliche Tendenzen des Geschmacks und der Mode überdauern wird. Ibsen kam von einer unfaßbaren Realität in Skandinavien und einer nur wenig verheißungsvolleren deutschen Tradition her. Aus dem ganz grundlegenden menschlichen Dilemma und den Entwicklungen im bürgerlichen Europa der Mitte des 19. Jahrhunderts heraus schuf er ein höchst bedeutendes Drama. Wenn man es ein bürgerliches Drama nennt, dann weder deswegen, weil die meisten darin vorkommenden Personen der Mittelklasse angehören, noch deswegen, weil Ibsen der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Werten unkritisch gegenüberstände. Der Grund ist vielmehr der, daß es ein Drama ist, das in einer Gefühlsstruktur und - in erheblichem Umfang - unter ideologischen Voraussetzungen spielt und wirkt, die im Grunde bürgerlich sind. Ibsens Figuren werden - vor uns und vor einander und vor sich selbst - schichtweise aller ideologischen Tröstung, Illusion und Falschheit entkleidet. Doch wird kaum irgendwo auch nur die Andeutung einer alternativen Lebensweise sichtbar: Wie bei Wagner wird manchmal die Hoffnung auf die erlösende Liebe einer guten Frau angeboten, doch ist das kein ernsthafter Weg, jene Widersprüche zu lösen, die in einem solch unbarmherzigen Vorgang der Entblößung von Gespenstern offenbart werden, die Ibsen zur Vollendung führt. Wie Shakespeare und Brecht legt auch Ibsen eine ganze Welt offen. Doch „offen" ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort, das man sucht, denn seine Kunst ist selbst in Peer Gyrtt (1867), dem „offensten" seiner Stücke, wesentlich weniger offen als die der beiden anderen, viel stärker eingefangen in die Zwangsvorstellungen und Neurosen, die sie abbildet; dabei zeichnete sie eine gewisse immanente Überintensität aus, im Vergleich zu der selbst Brecht bei s e i n e m ständigen Versuch, die Welt für Männer und Frauen des 20. Jahrhunderts offen darzustellen, noch als bewußt konservativ zu bezeichnen wäre. Zwischen Ibsen und Brecht trugen die besten Dramatiker - Tschechow, Strindberg, Synge, O'Casey, selbst Pirandello - dazu bei, das Ibsensche Drama zu erschließen. Unter allen diesen ist der originellste, der brillanteste und der am schwersten zu charakterisierende - Bernard Shaw. Seine Stücke sind bemerkenswert anders als die von irgend jemand sonst; wenn man ihn im historischen Zusammenhang sieht, wie man es tun muß, ist man niemals in Gefahr, seine 214

persönliche Eigenart zu untergraben. Und da er sich selbst im historischen Zusammenhang sah und seine Kunst nicht einen Augenblick als von Zeit und Raum losgelöst verstand, gäbe es für uns keine Entschuldigung, das nicht ebenfalls zu tun. Im Gegensatz zu Brecht, der oft Ibsens Stücke aus dessen mittlerer Schaffensperiode als Beispiele jener Art des Dramas benutzte, der er mißtraute und die er zu vermeiden suchte, sah Shaw in Ibsen einen Befreier und stellte ihn als einen solchen der Öffentlichkeit vor, insbesondere in The Quintessence of Ibsenism (Ein Ibsenbrevier), zuerst 1891 veröffentlicht, später - 1913 - nach, Ibsens Tod überarbeitet. The Quintessence sagt uns, dem wird jeder zustimmen, mehr über Shaw als über Ibsen. Es läßt Ibsens Stücke didaktischer und selbstbewußt „fortschrittlicher" erscheinen, als sie sind, und übertreibt jene Elemente, mit denen sie zu Shaws eigenen Absichten paßten, seine Entschlossenheit zu unterstreichen, „den Bourgeois zu verblüffen". Shaw ergriff von Ibsen Besitz, weil ihm dessen Stücke im Gegensatz zu allen anderen zeitgenössischen Dramen - als wirklich ernst zu nehmen auffielen. Er repräsentierte, wie Shaw sagte, jenen „neuen Geist", der allein in der Lage war, die Bedürfnisse der Zeit anzupacken. Dieser „neue Geist" läßt sich keineswegs einfach definieren. Shaw verband ihn ausdrücklich mit Mozart und Wagner, mit Tschechow und Tolstoi, mit Samuel Butler und dem späten Dickens: Gestalten, deren größter gemeinsamer Faktor der Neuheit einem nicht spontan aufgeht. Negativ ausgedrückt war der „neue Geist" das, was George Eliot und Matthew Arnold nicht besaßen. Besonders fiel ihm sein Fehlen im Werk von Henry James auf. In bezug auf eines seiner Stücke drückte sich Shaw in den neunziger Jahren so aus: „HenryJames' intellektuell anspruchsvolles Wesen bleibt von der wiederauflebenden Energie und Hartnäckigkeit des 'neuen Geistes* unberührt. Sie führt uns zurück in die erschöpfte Atmosphäre eines George Eliot, eines Huxley und eines Tyndall, anstatt uns nach vorne zu drängen in den belebenden Kampf, der von Wagner und Ibsen ausgeht." Diese Formulierung stellt einen wichtigen Schlüssel dar, wenn wir die Erwähnung von George Eliot, Huxley und Tyndall mit einer anderen Erklärung von Shaw in Verbindung bringen, die er im Zusammenhang mit seiner Entdeckung der höchsten Bedeutung der „ökonomischen Basis" abgegeben hatte. Er hatte dabei (gegenüber seinem Biographen Archibald Henderson) das Erlebnis beschrieben, 215

wie er im Jahre 1882 eine Rede von Henry George hörte und plötzlich seine eigene intellektuelle Entwicklung in einem ganz neuen Licht sah. „Es wurde mir zum ersten Mal blitzartig klar, daß der ganze 'Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft', . . . die Abkehr von der Bibel, die höhere Bildung für Frauen, Mills Auffassungen vo/i der Freiheit, sowie der ganze Sturm, der in bezug auf Darwin, Tyndall, Huxley, Spencer und die übrigen ausgebrochen war, woran ich mich intellektuell gebildet hatte, nur eine Sache der Mittelklasse war. Wenn man annimmt, daraus hätte eine Nation von Matthew Arnolds und George Eliots hervorgehen können - erfaßt einen der Schauder . . . " Diese ausdrückliche Verbindung der intellektuellen Kräfte, die er inzwischen als „nur eine Sache der Mittelklasse" ablehnte, scheint mir sehr bedeutsam zu sein. Shaw nahm niemals eine marxistische Position ein Und führte einen ständigen Kampf gegen die Marxsche Ökonomie. Doch die Lektüre des Kapitals war ein entscheidendes Ereignis für seine intellektuelle Entwicklung, und auch davor war er eindeutig durch jene Fragestellungen beeinflußt, die wir heute als marxistisch bezeichnen würden. Jene Beschreibung eines so breiten Spektrums seriösen viktorianischen Denkens als „nur eine Sache der Mittelklasse" läßt erkennen, was ihn an den schöpferischen Künstlern anzog, in denen er einen „neuen Geist" erkannte. Wagner, Tolstoi, der späte Dickens, Ibsen - sie waren alle zu Künstformen vorgestoßen, die nicht mehr als „nur eine Sache der Mittelklasse" bezeichnet werden konnte. Ihr Werk stellte einen „belebenden Kampf" dar und fachte ihn an, während ihre stärker an die Mittelklasse gebundenen „Zunftbrüder" versuchten, diesen Kampf zu dämpfen oder zu vertuschen. Die vdn dem „neuen Geist" erfüllte Kunst bewirkte, daß das Wesen und die Probleme der bürgerlichen Gesellschaft in einer Weise erschlossen wurden, die jene, deren Werk als „nur eine Sache der Mittelklasse" beschrieben werden konnte, nicht zu erreichen in der Lage waren. Was die Produzenten des „neuen Geistes" verband, war keine gemeinsame Philosophie im formaleren Sinne des Wortes. Es war auch nichts, was man leicht mit dem Wort „Ideologie" fassen kann, selbst wenn man es nur lose interpretiert. Es war vielmehr die Fähigkeit, durch ihre Kunst die Welt „aufzutun", in die sie hineingeboren waren. Was Die Zauber flöte, Little Dornt (1855/57; Kleine Dorrit), Der Ring der Nibelungen, Peer Gynt, Anna Karenina, Der Kirsch216

garten und Heartbreak House (1917; Haus Herzenstod) miteinander verbindet, ist keineswegs leicht zu bestimmen. Die Marxisten neigten dazu, das Wort „Realismus" zu benutzen - was darauf hinweist, daß gute Kunst die Wirklichkeit freilegt und vielleicht gibt es auch kein besseres Wort. Andererseits wird man das Gefühl nicht los, daß es ein Wort ist, das genauso viel Haken wie Vorzüge hat, das entweder zu viel beinhaltet oder zu wenig und das dazu tendiert, die Bedeütung der künstlerischen Form herunterzuspielen. Wenn ich den Ausdruck „auftun" so betone, dann geschieht das deswegen, um darauf hinzuweisen, daß ein wichtiger Teil des Werkes von denjenigen, in denen Bernard Shaw den „neuen Geist" erkannt hatte, in ihrem Streben nach neuen F o r m e n lag, die sie und ihr Publikum oder ihre Leser von einer gefühlsmäßigen Bindung an eine Kunst befreiten, die zu ihrer Reduktion zu „nur einer Sache der Mittelklasse" führte. Shaw griff zwei Aspekte von Ibsens Stücken heraus, die ihn besonders ansprachen. Den einen nannte er „Realismus", den er mit der Ausweitung des künstlerischen Gegenstands verband - der ernsthaften Behandlung von Menschen (Dienstboten, Arbeitern, „einfachen Leuten") und Situationen, die am Rand der Kunst der herrschenden Klasse gestanden hatten. Den anderen nannte er „Diskussion" - und er behauptete, daß die Einführung dieses analytischen Elements in seine Stücke Ibsens bedeutsamste technische Neuerung war. Vermutlich übertrieb Shaw das Element der „Diskussion" bei Ibsen (etwa die Sache, die im letzten Akt von Nora oder Ein Puppenbeim (1879) vorkommt, als Nora darauf besteht, ihre Ehe zu a n a l y s i e r e n ) . Doch das geschah von seinem Standpunkt aus für eine gute Sache; denn worauf er drängte, war die Notwendigkeit eines Dramas, das die Zuschauer zum Nachdenken genauso wie zum Mitfühlen brachte und sie dazu zwang, gehätschelte emotionale Haltungen und Überzeugungen zu überprüfen. Seine Bemerkung, „die Frage, die sein (Ibsens - A. K.) Stück interessant macht, ist: Wer ist der Schurke und wer ist der Held?" zeigt, was ihn an Ibsen anzog. Zugleich wird deutlich, in welchem Maße er die aristotelische Sicht des Dramas mit ihrer Betonung einer „Identifizierung" des Publikums mit dem Fortschreiten des Helden ablehnte. Doch bei aller Propaganda für Ibsen war sich Shaw immer darüber klar, daß seine Stücke von ganz anderer Art waren als die des Norwegers. „Mein eigenes Drama", schrieb er im Jahre 1904, „ist in seinen Bühnenmethoden und der sozialistischen Auffassung von dem 217

menschlichen Elend ganz anders als das von Ibsen." Das ist eine wichtige Feststellung, weil sie uns davor warnen sollte, uns Shaw als Imitation, als „minderen" Ibsen, vorzustellen, aber auch wegen seiner Verbindung der Form mit Ideen. Es war Shaws S o z i a l i s m u s , der ihn nach einer neuen F o r m des Dramas streben ließ, nicht einfach nach einem Drama von propagandistischer Nützlichkeit, obwohl er so etwas nicht verachtete. Shaw spielte Ibsen hoch und spielte Shakespeare herunter. Brecht tat das Gegenteil. Trotz des bedeutenden Unterschiedes zwischen ihm selbst und Ibsen, den ich gerade betont habe, sah Shaw in Ibsen in erster Linie eine befreiende Kraft. Brecht, der fast ein halbes Jahrhundert später wirkte (obwohl er nur sechs Jahre nach Shaw starb) und sich in einer sehr andersartigen sozialgeschichtlichen Situation befand, mußte Ibsens Drama ablehnen. Das lag nicht etwa daran, daß er Ibsen nicht s c h ä t z t e oder dessen Größe nicht anerkannte, sondern daran, daß er - ein engagierter Kommunist in einem Sinne, wie es Shaw nie war - sich in der Lage fühlte, eine dramatische Theorie zu entwickeln, die weit kompromißloser und radikaler war, als sie Shaw - eingebunden in die britische Situation hätte erwägen können. Durch seine Ablehnung der ganzen aristotelischen Theorie des Dramas mit ihrem Schwergewicht auf dem Ritual, der Katharsis und der besonderen Rolle des Helden war Brecht in der Lage, eine neue Grundlage für das Erschließen des Dramas als integralen Teil der Erschließung der sozialen Welt zu entwickeln. Trotz aller seiner K r a f t und Ehrlichkeit sah er das Ibsensche Drama in den Kategorien der bürgerlichen Ideologie befangen. Es zerrte seiner Meinung nach die Zuschauer in eine Art Komplizenschaft mit den bürgerlichen Haltungen, die es so schonungslos offenlegte. Wie wir gesehen haben, nahm Shaw eine ähnliche Haltung ein und betonte sowohl die Unterschiede zu Ibsen als auch die Tatsache, daß er in seiner Schuld stand. Und doch war er nicht in der Lage, für seine eigene Praxis eine Theorie zu entwickeln, die so grundlegend hilfreich gewesen wäre wie Brechts „episches Theater". Aus unserer heutigen Sicht ist es nicht schwer festzustellen, daß Shaw sich zwar behutsam, aber beharrlich zu einer Art dramatischer Theorie vortastete, die Brecht von Nutzen werden sollte. Andererseits ist es noch auf keinen Fall möglich, eine endgültige Einschätzung des Wertes der Brechtschen Theorie zu geben (er würde auch nicht wollen, daß wir uns übereilt in eine hineinstürzten, zumal er immer darauf bestanden hatte, daß Probieren über Studieren geht). 218

Doch erscheint es mir nützlich, sich Shaws Praxis im Lichte der Brechtschen Theorie anzusehen. Ich glaube nämlich, daß ein Teil der gegenwärtigen Unterschätzung von Shaws Werk daran liegt, daß man diese beiden hervorragenden sozialistischen Dramatiker nicht in ausreichendem Maße in Beziehung zueinander sieht. Wenn Raymond Williams in dem oben zitierten Abschnitt Shaws Stücken „emotionale Unzulänglichkeit" vorwirft, dann scheint er mir zu erwarten, ein Stück von Shaw müsse in Struktur und Handlungsablauf wie ein Stück von Ibsen aussehen. Das heißt, er scheint anzunehmen, daß die Form und Struktur des Stücks von der Form und Struktur der emotionalen Situation bestimmt wird, die der Dramatiker zu vermitteln bestrebt ist. Das Erlebnis des Publikums schließt also ein hohes Maß an „Identifizierung" mit der Entwicklung der Situation auf der Bühne ein. Nun, ich will nicht mit dem Argument kommen, daß Shaw niemals in solcher Weise arbeitet: die Schlußszenen von Candida (1895) und Saint Joan sind Musterbeispiele dafür - und gerade da ist Shaw am verwundbarsten. Doch ich betrachte sie ein bißchen als Ausnahme: nicht in dem Sinne, daß in einem Stück von Shaw notwendigerweise mehr Gutes als Schlechtes sein muß, sondern in dem Sinne, daß sie uns von seiner grundlegenden Originalität wegführt. Jene Originalität liegt nach meiner Meinung ganz zentral in seinem Interesse an der Ideologie und in seiner Entdeckung einer dramatischen Struktur, die - auf seinem Witz aufbauend - jenes Interesse kreativ umfaßt. Das Interesse für die Ideologie habe ich bereits berührt, seine Entschlossenheit, ein Drama zu schreiben, das mehr ist als „nur eine Sache der Mittelklasse". Shaws Stücke handeln von der Macht; das ist seine Besessenheit - eine Besessenheit, die ihn aus dem Gros der britischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts heraushebt, die vor den Fragen der Macht flohen wie vor der Pest und eine bürgerliche Auffassung von der Politik als einer Art Handwerk übernahmen. Deshalb führt es in die Irre, seine Stücke als „Drama der Ideen" zu beschreiben. Das, woran er vor allem interessiert ist, ist die Macht der I d e o l o g i e - das meint Ansammlungen von Ideen, Haltungen, Gefühlen und Vorurteilen, dadurch ineinander verwoben, daß sie mit gemeinsamen allgemeinen Bedürfnissen und Zielen verbunden sind, den Bedürfnissen und Zielen bestimmter Menschen zu einer bestimmten Zeit. Der Zusammenhang einer Ideologie wird in der Praxis durch die Rolle bestimmt, die sie für die Bedürfnisse einer Klasse spielt. Die Konzeption einer jeden Ideologie be219

ruht auf der Erkenntnis, daß Ideen nicht „rein" auftreten, sondern den Geist der Menschen durch ihre Bedeutung als Kräfte ergreifen, die das Erkennen empfundener und entdeckter Bedürfnisse fördern oder hemmen. Shaw begann das - gleichsam wie durch eine Offenbarung - in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu begreifen. Er brauchte ein Jahrzehnt, bis er entdeckt hatte, wie er diese Erkenntnis in seinen Stil einfließen lassen konnte. Und der Stil ist genau das, was (in den neunziger Jahren) ein Stück wie Mrs. Warren's Profession (1893; Frau Warrens Gewerbe) von dem bürgerlichen Drama seiner Zeit unterscheidet. Weil die Prostitution sein Thema ist, mußten dreißig Jahre vergehen, bis sich der Vorhang zu einer öffentlichen Aufführung von Mrs. Warren's Profession hob. Doch wenn er sich hebt, dann geht der Vorhang (ein gewöhnlicher Westend-Vorhang in einem Westend-Theater, durch und durch Mittelklasse) auf vor einer gewöhnlichen Theaterszene aus dem Westend, und die Menschen auf der Bühne sehen genau wie die Menschen aus, die Pinero oder Henry Arthur Jones oder Tom Robertson oder Wilde - zumindest vor The Importance of Being Rarnest (1895; Bunbury oder Ernst sein ist alles) - dort hingestellt hätten. Doch wenn sie zu reden beginnen, entdeckt man, daß es keineswegs dieselben Menschen sind; oder vielmehr doch dieselbe Art von Menschen, auf neue Weise enthüllt und dadurch andere Menschen. Es ist Shaws Stil, der sie verändert hat, und dieser Stil ist auf keinen Fäll eine Sache von Tricks oder Methoden oder rein „literarischen" Qualitäten. Dieser Stil ist die Fähigkeit, die Macht der Ideologie in die Gestaltung einer menschlichen Situation einzubringen. Wenn Raymond Williams schreibt, daß wir trotz unseres Respekts für Shaws großartigen Witz die emotionale Unzulänglichkeit seiner Stücke erkennen müßten, dann glaube ich, unterschätzt er die Rolle des Witzes in Shaws dramatischer Kunst. In einem Stück wie Major Barbara ist der Witz keine Ausschmückung, die das Stück verziert, sondern die Triebkraft, die seine Struktur und seinen Gang deutlich macht. Da gibt es die Szene im zweiten Akt des Stücks, der in der Herberge der Heilsarmee im Eastend spielt, als Barbara ihren Vater, den kapitalistischen Waffenfabrikanten Undershaft, dem armen Peter Shirley vorstellt, der zu seiner Demütigung gezwungen war, die Hilfe der Heilsarmee anzunehmen. Das folgende Gespräch findet statt. . . . Apropos, Papa, was ist deine Religion - für den Fall, daß ich dich wieder vorzustellen habe? BARBARA:

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Meine Religion . . . liebes Kind, ich bin ein Millionär, das ist meine Religipn. B A R B A R A : Dann, fürchte ich, werdet ihr, du und Herr Shirley, einander doch nicht trösten können. Sie sind kein Millionär - nicht wahr, Peter? SHIRLEY : Nein. Und stolz darauf. U N D E R S H A F T : (ernst) Armut, mein Freund, ist nichts, worauf man stolz sein kann. S H I R L E Y : (ärgerlich) Wer hat Ihre Millionen für Sie erworben? Ich und meinesgleichen. Was erhält uns arm? D a ß wir euch reich erhalten. Ich möchte nicht Ihr Gewissen haben - nicht um Ihr ganzes Einkommen. U N D E R S H A F T : Und ich möchte nicht Ihr Einkommen haben, nicht um Ihr ganzes Gewissen, Herr Shirley. 81 Worum es sich hier dreht, ist nicht eine dramatische Situation, die durch einen hübsch gedrechselten D i a l o g verziert wird. Der Witz ist vielmehr die Grundlage der ganzen Unternehmung und beseelt ihr Wesen - einschließlich dem Konzept und der Darstellung der Figuren. Die Auffassung, daß eine Gesellschaft unerträglich ist, bei der man sich zwischen Gewissen und Einkommen entscheiden muß, ist genau das, worum dies Stück sich dreht, nicht die Liebesgeschichte (wenn das überhaupt das richtige Wort dafür ist) von Barbara und Cusins oder das Familienproblem, wer Undershafts Millionen erben soll. Worauf ich hinaus will, ist die Erkenntnis, daß der dialektische Witz, den jedermann als typisch für Shaws Stücke betrachtet, die eigentliche Grundlage seiner dramatischen Methode und das strukturelle Prinzip ist, auf das seine Stücke aufgebaut sind. Das ist die Ursache dafür, daß sich Leute, die Stücke Ibsenscher Art erwarten, oft beschweren, Shaws Dramen würden „verpuffen", würden den emotionalen Gipfel nicht erreichen, den die Zuschauer, durchdrungen von Ibsenschen-Aristotelischen Vorstellungen vom Verlauf eines Stücks, erwarten. Wenn der Ausgang von Shaws Stücken oft willkürlich und beinahe zufällig erscheint, so deswegen, weil die von ihm erarbeitete Lösung der Situation - das Wechselspiel der Kräfte - in der Zukunft weiterarbeiten muß. Der Luftangriff in Heartbreak House beispielsweise läßt das Stück zwar zu einem Ende kommen, ist aber auf keine Weise emotional „unvermeidlich". Er wirkt auf das Publikum nicht als Katharsis, und der Regisseur, der eine solche Wirkung unbedingt erzielen wollte, würde seine Zeit verschwenden. UNDERSHAFT:

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Durch einen guten Teil der Kritik an Shaw als Dramatiker zieht sich die Klage, daß er bei all seinem Talent nicht wirklich ernsthaft sei: er würde seine guten Absichten verderben. Natürlich gibt es viel, was solche Kritik rechtfertigt; etwa in dem Sinn, daß seine Stücke sehr unausgeglichen sind, zu viel schlechte Scherze beinhalten und von aufreizenden persönlichen Eigenheiten erfüllt sind, denen die Zeit nicht freundlich gesinnt gewesen ist. Doch im Grunde ist solche Beschwerde meiner Meinung nach unglücklich, denn sie fegt Shaws Triumphe zusammen mit seinen Fehlern vom Tisch. Wieder kann Brecht helfen, die Perspektive zurechtzurücken. Im Jahre 1926, als er in den Zwanzigern stand und Shaw siebzig Jahre alt war, schrieb er: „Shaw hat einen großen Teil seines Talentes dazu verwendet, die Leute so einzuschüchtern, daß sie schon eine eiserne Stirne besitzen müßten, um vor ihm auf dem Bauche kriechend zu erscheinen. Man wird es schon gemerkt haben, daß Shaw Terrorist ist. Der Shawsche Terror ist ungewöhnlich, und er bedient sich einer ungewöhnlichen Waffe, nämlich des Humors . . . Der Shawsche Terror besteht darin, daß Shaw es für das Recht jedes Menschen erklärt, in jedem Fall anständig, logisch und humorvoll zu handeln, und für die Pflicht, dies auch zu tun, wenn es Anstoß erregt. Er weiß genau, was für ein Mut dazu gehört, über das Lustige zu lachen, und wieviel Ernst nötig ist, um das Lustige herauszufinden. Und wie alle Leute, die ein Ziel verfolgen, weiß er, daß das Zeitraubendste und Ablenkendste, was es gibt, andererseits eine gewisse Sorte von Ernst ist, die in der Literatur populär ist, sonst aber nirgends." 82 Natürlich war Brecht nicht so naiv, das Wort „Terrorist" blind zu gebrauchen. Er wußte sehr gut, daß Terrorismus in der revolutionären Bewegung Haltungen einschließt, die für das Kleinbürgertum typisch sind und nicht für die Arbeiterklasse. Er hätte auch nicht Caudwells (oder Lenins) Analyse von Shaws politischer Position widersprochen. Das Wort „Terrorist" zeigt tatsächlich eine von Shaws künstlerischen Schwächen auf. So wie der politische Terrorist leicht bombenversessen wird, so neigt der intellektuelle dazu, ideenversessen zu werden. Shaw konnte einer glänzenden Idee selten widerstehen, selbst wenn sie seine eigenen tiefen Ziele zerbrach. Doch Brechts Bemerkungen tun mehr, als nur den Finger auf Shaws Schwächen zu legen: sie machen zugleich seine Stärken deutlich. Hinter dem, was Brecht über Shaw zu sagen hat, stecken seine 222

eigenen Erfahrungen mit jener „besonderen Art von Ernst" und seine Reaktion darauf. Gemeint ist die deutsche Art, die nicht nur in der Schwere von so viel romantischer Kunst ihren Ausdruck fand, sondern auch in der Technik der Verdunkelung, auf die Marx seine besondere Aufmerksamkeit richtete. Brechts Bezeichnung von Shaw als „Terrorist" ist außergewöhnlich treffend, insbesondere, wenn das Wort mit der Betonung seines Humors oder (wie ich zu sagen vorziehen würde) seines Witzes verbunden wird. Dieses Bild von Shaw, dem Terroristen, der einen Karren mit bürgerlichen Konzeptionen, was ernst ist und was nicht, über den Haufen wirft, scheint mir den springenden Punkt genau zu treffen - nicht nur, weil es Shaws Rolle auf eindrucksvolle Weise charakterisiert, sondern weil es uns auch zum Nachdenken über die ganze Konzeption der Ernsthaftigkeit zwingt. Eine sehr hilfreiche Form, einen großen Teil der „modernistischen" Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts zu betrachten, besteht meiner Meinung nach darin, ihre Rolle beim Durchbohren oder Unterminieren jener A r t von Ernsthaftigkeit anzuerkennen, jener Art von Bewußtsein und damit jener Art von Kunst, die die kapitalistische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts immer hervorzubringen und zu fördern versuchte. Shaw und seine modernistischen Zeitgenossen unter den Schriftstellern hatten wenig Sympathie füreinander (T. S. Eliot sagte, als Dichter sei Shaw totgeboren). Doch ich denke, es ist fruchtbar, das zu betonen, was Shaw und Brecht und den Modernisten gemein war: der Angriff auf die F o r m e n des bürgerlichen Realismus.

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LINDSAY

Die Dimension der Zeit in modernistischer Literatur: Marcel Proust und James Joyce In seinem Buch Wider den mißverstandenen Realismus schreibt Georg Lukäcs: „Der Avantgardist macht aus einer - notwendig subjektiven Spiegelung eine Realität, ja die eigentliche Realität, 223

eigenen Erfahrungen mit jener „besonderen Art von Ernst" und seine Reaktion darauf. Gemeint ist die deutsche Art, die nicht nur in der Schwere von so viel romantischer Kunst ihren Ausdruck fand, sondern auch in der Technik der Verdunkelung, auf die Marx seine besondere Aufmerksamkeit richtete. Brechts Bezeichnung von Shaw als „Terrorist" ist außergewöhnlich treffend, insbesondere, wenn das Wort mit der Betonung seines Humors oder (wie ich zu sagen vorziehen würde) seines Witzes verbunden wird. Dieses Bild von Shaw, dem Terroristen, der einen Karren mit bürgerlichen Konzeptionen, was ernst ist und was nicht, über den Haufen wirft, scheint mir den springenden Punkt genau zu treffen - nicht nur, weil es Shaws Rolle auf eindrucksvolle Weise charakterisiert, sondern weil es uns auch zum Nachdenken über die ganze Konzeption der Ernsthaftigkeit zwingt. Eine sehr hilfreiche Form, einen großen Teil der „modernistischen" Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts zu betrachten, besteht meiner Meinung nach darin, ihre Rolle beim Durchbohren oder Unterminieren jener A r t von Ernsthaftigkeit anzuerkennen, jener Art von Bewußtsein und damit jener Art von Kunst, die die kapitalistische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts immer hervorzubringen und zu fördern versuchte. Shaw und seine modernistischen Zeitgenossen unter den Schriftstellern hatten wenig Sympathie füreinander (T. S. Eliot sagte, als Dichter sei Shaw totgeboren). Doch ich denke, es ist fruchtbar, das zu betonen, was Shaw und Brecht und den Modernisten gemein war: der Angriff auf die F o r m e n des bürgerlichen Realismus.

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Die Dimension der Zeit in modernistischer Literatur: Marcel Proust und James Joyce In seinem Buch Wider den mißverstandenen Realismus schreibt Georg Lukäcs: „Der Avantgardist macht aus einer - notwendig subjektiven Spiegelung eine Realität, ja die eigentliche Realität, 223

eine angeblich konstituierende Objektivität, und gibt dadurch ein verzerrtes Abbild der Wirklichkeit als Ganzes betrachtet. (Virginia Woolf ist ein extremes Beispiel dieser Tendenz.) Dagegen führt die kritische Aufhebung dieser Unmittelbarkeit im Realismus dazu, ein notwendiges Phänomen unserer Zeit an jene Stelle im Zusammenhang des Ganzen zu stellen, die ihm seinem objektiven Wesen nach gebührt." 8 3 E s gab allerdings schon viele Schriftsteller vor der Zeit des Modernismus (diese Bezeichnung sei grob benutzt, um dominierende Tendenzen etwa ab 1900 zu beschreiben), die die subjektive Erfahrung mit der Wirklichkeit gleichsetzten. W i r müssen uns also darüber klar werden, was der Subjektivismus genau ist, der im Modernismus solch eine große Rolle spielt, und was die „bedeutsame, insbesondere moderne Erfahrung" ist, die der Realist in einen größeren Rahmen zu stellen vermag. Ich glaube, wir können diese Fragen am besten beantworten, wenn wir auf Henri Bergson zurückblicken. Sein Einfluß auf Schriftsteller um die Jahrhundertwende ist ein Gemeinplatz, wenn es auch schwer wäre, irgend jemand aufzuzeigen, der sich erst nach 1914 entwickelt hat und von ihm wesentlich und direkt beeinflußt wurde. Doch seine Bedeutung endete nicht mit dem Jahre 1914, denn seine Ideen wurden durch die Wirkung jener Schriftsteller weitergeführt, denen er ge holfen hatte, sich auszubilden. E s läßt sich zeigen, daß die von ihm aufgeworfenen Probleme in den Schriftstellern weiter vorwärtsdrängten, ob sie nun in den Begriffen seiner Philosophie dachten oder nicht. W i r können also zu Recht auf ihn zurückgreifen, wenn wir erklären wollen, was mit einem spezifisch modernistischen Subjektivismus gemeint ist. D e r Bereich seines Denkens, der uns in diesem Zusammenhang am meisten interessiert, ist derjenige, der der konkreten Erfahrung von Zeit und Zeitdauer bis hin zu dem abstrakten Mechanismus quantitativ gemessener Uhrzeit widerspricht - zu jenem Mechanismus, der mit allen feststehenden, gewohnten, wiederkehrenden Reaktionen oder Handlungen gleichgesetzt wird. E r betont das „entscheidend aktive, ich möchte fast sagen: das gewaltsame" Wesen der Intuition, die den buis clos 8 4 durchbricht und „Natur und Gewohnheit" überschreitet. In ihrer ursprünglichen Reinheit soll diese Intuition die Wirklichkeit wiederentdecken, die äußerlich ist und doch sofort unserem Geist vermittelt wird. Das schließt die Absage an alle Versuche ein, die Wirklichkeit gewaltsam in den starren Rahmen einzubauen, den unser Verständnis geschaffen hat, oder- sie in ein ein-

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ziges, alles andere ausschließendes System von Beziehungen einzusperren. D i e intuitive Methode des-Kennenlernens, mit der wir die Wirklichkeit in all ihrer Fülle und der Undefinierbarkeit ihrer B e wegung erfassen, kommt von innen; sie ist der analytischen Methode absolut entgegengesetzt, die mechanistisch und quantitativ ist und von außen kommt. Bergson breitete diese Ideen aus und vervollkommnete sie; doch schon die kurze Zusammenfassung, die wir oben gegeben haben, läßt erkennen, was davon die Schriftsteller aufwühlte. In vieler Beziehung wiederholte er nur die alten idealistischen Abstraktionen und erhob erneut den romantischen Widerspruch der Phantasie gegen die Welt der Spießbürger; aber in seinen Begriffen und Standpunkten gab es ein neues Element, und dieses Element sprach die Menschen an. E s war im übrigen mit einem echten zeitgenössischen Dilemma verbunden. Bergson schrieb in einer Welt, in der die Darwinsche Entwicklungslehre tiefe Wirkungen hinterlassen hatte, Vorstellungen von organischer Veränderung und Entwicklung anregend, und in der zur selben Zeit die von Galilei ausgehende mechanistische Wissenschaft den Höhepunkt ihres Triumphes als Teil der vollen Expansion der bürgerlichen Gesellschaft erreichte. Zeit war in dieser Wissenschaft zu einem Abstraktum geworden, zu einer Koordinate, die letztlich von räumlichen Koordinaten nicht zu unterscheiden und daher umkehrbar war; demgegenüber ist die herausragendste Eigenschaft der konkreten Zeit unserer Erfahrung ihre Nichtumkehrbarkeit. D e r Gegensatz zwischen Zeitdauer und mechanistischer Zeit, den Bergson metaphysisch herausarbeitete, hatte also tiefe Wurzeln in den Widersprüchen zwischen der zeitgenössischen Wissenschaft und der allgemeinen Kultur. E r entsprang einem aktuellen Problem, das es immer noch gibt, das der Quantenmechanik zugrunde liegt und das bis heute nicht gelöst ist. In seinen ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844 betonte Marx die Überzeugung, die bürgerliche Wissenschaft habe den Menschen von seinem eigenen Körper getrennt und sei im Grunde asinnlich. Auf seine idealistische Art kam Bergson zu derselben Auffassung, obwohl er nicht in der Lage war, diese Frage zur Geschichte und zur sozialen Auseinandersetzung in B e ziehung zu setzen. Was die Schriftsteller ansprach, war jedoch nicht seine Metaphysik, sondern das Maß, in dem die von ihm beschriebenen Widersprüche ihre eigene tiefe Erfahrung der Entfremdung illustrierten, der trennenden Kräfte der Gesellschaft, die sich nicht 15

Southall/Magister

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von den inneren Kräften unterscheiden ließen, die den einzelnen zerrissen, von seiner Isolierung und seiner A n g s t . Noch niemand hatte so bequem eine Sprache angeboten, die dem Schriftsteller bei seiner notwendigen Bemühung half, das entfremdete asinnliche Wesen der herrschenden Wissenschaft und der Gesellschaft zu fassen, der sie diente und die sie ausdrückte. Marx hatte in seinen ökonomisch-philosophischen Manuskripten geschrieben: „An Stelle a l l e r physischen und geistigen Sinne ist daher die einfache Entfremdung a l l e r dieser Sinne, der Sinn des H a b e n s getreten. Auf diese absolute Armut mußte das menschliche Wesen reduziert werden, damit es seinen innern Reichtum aus sich herausgebäre." 85 (Das heißt, einen Überfluß an Gütern herzustellen, während es selbst immer zerrissener und ausgeweideter wurde.) Im Elend, der Philosophie erklärt Marx über die kapitalistische Welt: „Zeit ist alles, der Mensch ist nichts mehr, er ist höchstens noch die Verkörperung der Zeit. Es handelt sich nicht mehr um die Qualität. Die Quantität allein entscheidet alles . . ." 86 Die Uhrzeit ist der Herr; die qualitativen Erfahrungen des konkreten Menschen werden herabgewürdigt, abgeschnitten. Wenn diese Analyse richtig war, wovon ich überzeugt bin, dann war es also für den Schriftsteller nur natürlich, der in einer Situation, gegen die er sich erbittert wandte, nach den Wurzeln des Menschlichen suchte, den „inneren Wert" herauszustellen, dessen die Menschen beraubt werden. Damit setzte er die Uhrzeit, die Welt der Gewohnheiten des Arbeitstages mit ihrem Trott und ihrer Ausbeutung der Arbeitskraft, mit jenen Kräften gleich, die die Quellen der Freude und der Kreativität ausraubten, zum Klischee machten und austrocknen ließen. Bergsons Verbindung der kreativen Intuition mit der Erfahrung konkreter und einmaliger (nichtumkehrbarer) Zeit lieferte die benötigte Sprache der Revolte, den Schlüssel für die Neugestaltung der künstlerischen Formen auf eine Weise, die die tiefsten Widersprüche seiner Zeit widerspiegelte. Folglich können wir die Nutzung der Bergsonschen Ideen durch schöpferische Schriftsteller nicht auf die metaphysische Schwäche und Unbestimmtheit von Bergsons eigenem System seiner Ausführung reduzieren. Wir müssen vielmehr erwarten, daß vieles von Bergsons Verwirrung und abstrakter Opposition von denen wiederholt wurde, die er beeinflußt hatte, und wir finden es auch tatsächlich. Wir können sogar sagen, daß es der idealistische Wirrwarr in vielen seiner Gedanken den Schriftstellern, die selbst verwirrt waren und vor sozialer Parteinahme zurückschreckten, leichtmachte, seine 226

Prämissen zu übernehmen und sich als Rebellen zu fühlen, ohne in der wirklichen Welt der Auseinandersetzungen Partei ergreifen zu müssen. Doch beweist das noch nicht, daß in diesen Schriftstellern die Stärken und Schwächen in demselben Verhältnis gemischt gewesen wären wie bei Bergson oder daß sie dieselbe Wirkung gehabt hätten. Bergson half oft, die Schriftsteller zu verwirren und ihnen die Ausreden für eine bequeme Flucht an die Hand zu geben anstelle einer Sprache der energischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit; doch gleichzeitig hatte er oft eine zutiefst befreiende Wirkung. Hier habe ich nur soviel Platz, einen Blick darauf zu werfen, wie Marcel Proust und James Joyce beeinflußt wurden. Die enge Beziehung von Proust zu Bergson ist offenkundig und muß nicht erst ausführlich dargelegt werden. Joyce' Verbindung zu ihm ist dagegen nicht so klar. Doch wenn er auch zur Opposition von Intuition und Intellekt durch viele nicht-Bergsonsche Schritte kam, gab es für ihn ebenfalls eine entscheidende Verbindung; das war Dujardins Les Lauriers Sont Coupes81, jenes Werk, von dem er selbst sagte, es habe ihm den Schlüssel für seine Methode des inneren Dialogs gegeben, und das ein eindeutiger Ableger des Bergsonismus war. Trotz der vielen Unterschiede in Stil und Struktur zwischen A la recberche du temps perdu (1917/25, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) und Ulysses (1922, Ulysses) liegt den beiden Werken doch eine enge Verwandtschaft zugrunde. Beide Verfasser versuchten unmittelbar, ihre eigenen sehr bedeutsamen Erfahrungen zum Thema ihrer Werke zu machen und Oberflächlichkeit durch eine komplexe philosophische Konstruktion zu vermeiden, die das von der Erinnerung gelieferte Material neu ordnete, um Allgemeingültigkeit zu erreichen. Letzten Endes folgt jedes ihrer großen Werke einem kreisförmigen Modell: jedes Werk will den Prozeß bestimmen, durch den es selbst dazu kam, geschrieben zu werden. Darin liegt der spezifische Bergsonsche Subjektivismus. Und genau so, wie Bergson ein echtes Dilemma des modernen Bewußtseins ausdrückte, wenn wir auch seine Lösungsvorschläge ablehnen mögen, so gelang Proust und Joyce ein durchschlagendes Bild des modernen Individuums und seiner Welt trotz der Begrenztheit ihrer Perspektive. In ihrem Werk gibt es einen endlosen Konflikt zwischen dem kreisförmigen System eines zeitlosen Bewußtseins und dem konkreten Element ihrer künstlerischen Ambition, das nolens volens ihre Aussage mit Gesellschaft und Geschichte verbindet. Wir können einwenden, daß viele entstellende und einschränkende Elemente in das 15*

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Bild kommen. Doch das Gesamtergebnis einfach als Entstellung der Wirklichkeit abzutun würde eine unzureichende Sensibilität gegenüber den Bildern offenbaren, aus denen ein Kunstwerk besteht, und die Unfähigkeit beweisen, das Wesen der inneren Konflikte des modernen Bewußtseins zu erfassen. Durch das ganze La recherche hindurch wurde Proust von einem Bergsonschen System getragen, wonach zwei Arten von Erinnerung zu sehen sind, die eine passiv von der Gewohnheit gebildet, die andere aus einmaligen Ereignissen bestehend. Die zweite Erinnerung in diesem System kann nicht als das Ergebnis von Assoziationen erklärt werden, die sich im Prozeß der Wiederholung ergeben; sie hat also eine spezielle Funktion bei der Suche nach der Wiedergewinnung, der konkreten Verwirklichung, von Zeit und Persönlichkeit. Sie bringt die kreative Phantasie in Bewegung. Und diese Phantasie ist nichts als kreatives Wachrufen, was im Gegensatz zur inaktiven Wiederholung gewohnten Erinnerungs-Widerhalls steht. Ein Kunstwerk zu konstruieren bedeutet, die Welt der Erfahrung zu rekonstruieren, ein einmaliges Ereignis in seiner ganzen konkreten Stärke wieder zu ergreifen. Die Persönlichkeit verwirklicht sich nicht in den gewohnten Tätigkeiten der Uhrzeit, sondern in dem Akt des Wachrufens, der in den künstlerischen Prozeß übersetzt wird. In der alltäglichen Welt besitzt die Persönlichkeit keine echte Einheit oder Kontinuität; doch diese Eigenschaften existieren auf anderer Ebene und offenbaren sich in dem einmaligen Ereignis. Alle diese Ereignisse sind eines, obwohl ihre Bestandteile „selbständig und verschieden" sind. Der Prozeß des Wachrufens ist in dem Sinne zeitlos, daß jede Erinnerung andere tiefe Erinnerungen anzieht und verschmilzt wie Facetten der Persönlichkeit, über die Uhrzeit hinaus und außerhalb von ihr existierend. Die volle Rekonstruktion eines einzelnen Ereignisses schließt die bedeutenden Augenblicke eines ganzen Lebens ein. Die Gesamtsumme von Prousts Leben ist in einem einzelnen Ereignis, der Wiedererlangung der Madeleine, potentiell gegenwärtig. „Ein einzelner Augenblick befreit von der chronologischen Ordnung der Zeit, hat in uns das in ähnlicher Weise befreite menschliche Wesen wiedererweckt", sagt er. Und wiederum: „Alle Erinnerungen, wie sie einander folgten, flössen zu einem einzigen"Stoff zusammen." Erst das fertiggestellte Kunstwerk kann die Gleichzeitigkeit der wesentlichen Elemente offenbaren, wenn sie auch schon während des ganzen Prozesses der Hervorbringung des Werkes vermutet wurde. (Dieser Gesichtspunkt trifft in gleicher Weise auf Ulysses wie auf 228

viele weniger modernistische Werke wie Mrs. Dalloway [1925; Mrs. Dalloway] zu. Wir können sogar behaupten, daß er ein Ideal aufstellt, dem wenigstens ein großer Teil der modernistischen Werke nacheifert.) Bergson könnte übrigens Prousts Methode gemeint haben, als er in Matière et Memoire (1896; Materie und Gedächtnis) schrieb: „Man stelle die Verbindung zwischen den einzelnen Elementen seiner alltäglichen Erfahrung wieder her. Dann löse man die statische Kontinuität ihrer Eigenschaften in spontane Schwingungen auf. Man konzentriere sich auf diese Bewegungen, ignoriere dabei den teilbaren Raiim, der sie trägt und nicht nur ihre Beweglichkeit, und richte den Geist fest auf diesen unteilbaren Akt. Dann hat man eine Vision von der Sache, die für die Phantasie erschöpfend sein kann, aber rein und frei von allem ist, was die Notwendigkeit des Lebens der Wahrnehmung hinzufügt." 88 Da wir in diesem System an jeder Stelle beginnen, von jedem einmaligen Ereignis oder zeitlosen Augenblick ausgehen können, ist die Konzeption des Lebens letztlich ein kreisförmiger Prozeß. La recherche wiederholt Modelle (beispielsweise Swann - Odette, Erzähler Albertine), und Proust behauptet, infolge der Lage des Hauses des Erzählers in bezug auf die Häuser von Swann und den Guermantes könne er in jede beliebige Richtung gehen; wenn er seinen Weg fortsetze, umschließe er beide und finde sich wieder bei sich zu Hause. Er spricht von den Jahren, die er „wie einen Kreis" um sich hält. Die Auflösung der objektiven Zeit schließt wiederum die Auflösung dessen ein, was als wesentlich für den Charakter, die Regelmäßigkeit der Reaktion und die Konsequenz der Zielstellung gilt. Alle diese Aspekte werden der aufgelösten Welt der Uhrzeit preisgegeben. Eindrücke werden nur durch den äußerlichen Ablauf der Zeit verbunden, so wie einzelne Dinge, festgehaltene, getrennte, verlorene. Selbst solche Gefühle wie Liebe und Eifersucht stellen trotz ihrer Intensität von Freude oder Leid nur eine scheinbare Einheit dar; in Wirklichkeit bestehen sie aus einer unendlichen Folge einzelner Empfindungen von Liebe, Haß und Furcht. Nur die Regelmäßigkeit dieser Folge, ihr Nebeneinanderliegen, vermittelt den Eindruck von Kontinuität. Wenn man unsere Charaktere untersucht, erweisen sie sich als aus verschiedenen selbständigen Einheiten zusammengesetzt, die durch die Schläge der Uhrzeit zusammengebracht worden und miteinander verbunden sind. Doch unterhalb des sich verkleidenden Charakters, der Eindrücke und der Bruchstücke der verlorenen Zeit, aus denen sie sich zusammensetzt, gibt es ein wirkliches Subjekt, das 229

als absolute Einheit erahnt werden kann; sie wird spürbar an den nichtwiederholbaren Eigenschaften und der komplexen Einheit der Empfindung des zeitlosen Moments. Wir haben hier, wie man erkannt hat, eine Umkehrung von Kants Position des objektiven Idealismus. Für Kant erzeugt die Synthese der Vorstellungen die Einheit des Objekts in der Natur; hier erzeugt die Synthese die Einheit des Subjekts. Doch nun von der ästhetischen Theorie zu ihrem Produkt. Was sich ergibt, ist nicht nur ein subjektiver Idealismus. Es gibt vielmehr einen ständigen Konflikt innerhalb der künstlerischen Methode. Die äußerliche Zeit muß zusammengerafft und bestimmt werden, um das Material sowohl des zeitlosen Moments als auch seines Gegenteils zu liefern. Die zeitlose Struktur wird nicht nur der objektiven Struktur der persönlichen und gesellschaftlichen Veränderung entgegengesetzt; beide sind zugleich miteinander verwoben. Und so entsteht eine andere Einheit, als sie von dem metaphysischen Streben gesucht wurde. Wenn Prousts Erzähler den Swann-und-Guermantes-Weg geht, beabsichtigt er vielleicht nur eine Reise zu sich selbst entsprechend seiner eigenen Vorstellungen von den Dingen. Doch nolens volens entdeckt er zugleich die Swann-und-Guermantes-Welt in ihren äußeren Einzelheiten und ihrer innerern Bedeutung, wobei ständig Schleier und Illusionen zerrissen werden. Als Aspekt der Uhrzeit beurteilt er nicht nur seine eigenen gewohnten Reaktionen, sondern auch den verwickelten Prozeß des Niedergangs der bürgerlichen Welt, als deren Teil sich die Aristokratie zeigt. Der Höhepunkt seiner Reise ist sowohl der entscheidende Moment, der ihn auf seine eigentliche Natur zurückführt und damit das Kriterium, das Verständnis schafft, wodurch das Buch möglich wird, als auch die letzte Vision eines Gerichtes, das eine ganze Gesellschaft (oder zumindest ihre herrschenden Kreise) einbezieht, die beurteilt und für unzulänglich befunden wird. Die Gedankenbewegung geht nicht nur nach innen zur eigentlichen Natur seines Ichs, sondern zugleich nach außen, und zwar über eine Serie von Einwirkungen, Verbindungen, Ernüchterungen, Erkenntnissen mit dem beständigen und wachsenden Erkennen der Leere der bürgerlichen Welt. So wird emotional die leere Uhrzeit, die zurückgewiesen wird, mit jener Welt gleichgesetzt, und die eigentliche Natur des Ichs wird mit allem als identisch betrachtet, was die bürgerliche Welt nicht ist. Sie ist nicht die Verkörperung eines metaphysischen Wesens, sondern die Vorstellung und der Ausdruck einer wahren Menschlichkeit, die die bürgerliche Welt leugnet

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und hemmt. Obwohl sie jeder politischen Beziehung entblößt ist, verfügt sie im Kern über ein revolutionäres Element totaler Ablehnung, und die Freude, die sie durchdringt, ist eine wahrhaft schöpferische. Wir haben nicht die soziale Wirklichkeit zu einem zeitlosen Moment, zum existentiellen Erkennen der einmaligen Natur der Persönlichkeit des Erzählers aufgelöst. Wir haben vielmehr den Prozeß nachvollzogen, der ihn geformt hat; und das ist ein sozialer Prozeß trotz seiner unbestreitbaren Existenz als organisches Einzelwesen, was durch die einmaligen Ereignisse mit ihrer unwiederholbaren Verschmelzung von Eigenschaften bestätigt wird, durch ihr Entstehen aus der nichtumkehrbaren Zeit. Und so bringt das Ende einen reichen Satz von Widersprüchen zusammen (die bürgerliche Uhrzeit und die Darstellung ihres Verfalls; die volle organische Persönlichkeit, die von der Uhrzeit gekreuzigt wird, aber dennoch in der Erwartung eines neuen Lebens weiterbesteht) und verschmilzt sie in einem freudigen Moment. Der Erzähler hat dadurch, daß er das Tagebuch gelesen hat (eine Art Parodie auf die Goncourts, verbunden mit dem Salon der Verdurius) und dieses als völlig unehrlich empfindet, weil es nur die Illusionen der Welt widerspiegelt, den Glauben an die Literatur verloren. E r verliert auch den Glauben an die natürliche Schönheit. E r scheint einem hoffnungslosen inneren Widerspruch preisgegeben zu sein. Dann nimmt er Guermantes Einladung an. Sechzehn Jahre lang war er ohne jeden Kontakt zu der Gruppe und ist nicht mehr an ihr interessiert. Doch langsam erwacht die Vergangenheit wieder zum Leben. Auf dem Wege zu dem Empfang kehrt er zu sich selbst und zu seinen verlorenen Zielstellungen zurück. E r trifft M. de Charlus, der von den vielen spricht, die tot sind. Durch eine zufällige Bewegung des Körpers wird die Erinnerung an den ungleichmäßigen Fußboden eines Baptisteriums in Venedig geweckt. E r wird in eine völlig neue Beziehung zur Welt hineingestoßen, wozu gehört, daß er auf einer tieferen Ebene sich selbst entdeckt. Während des ganzen Lebens „hat unser Ego jene Ziele im Auge, die^der eigenen Persönlichkeit wertvoll erscheinen; aber es versäumt, eben gerade diese Persönlichkeit zu beobachten, die niemals aufhört, jene Ziele zu überprüfen". Jetzt, da ihn der Tod umgibt, spürt er, daß sein Leben einem bedeutungsvollen Muster verfallen ist, das sich während der ganzen Zeit unterhalb seines illusionären Suchens aufgebaut hat. Der letzte Bruch mit der Uhr-Welt bürgerlicher Werte ergibt sich mit der Erkenntnis seiner eigenen Menschlichkeit und dem Wiedergewinnen schöpferischer Zielstellun231

gen. E r macht sich daran, „ein Universum, das vollständig 'neugestaltet' wird", nachzuzeichnen; dabei ist er sich darüber im klaren, daß er sich während der ganzen Zeit in einem Prozeß der Wahl und Entscheidung befunden hat, der nichts Willkürliches hatte. Es wurde behauptet (und zwar von G. Bree) 89 , daß Prousts künstlerisches Werk weder eine Hoffnung noch ein erfüllter Wunsch sei, sondern das konkrete Äquivalent einer Wirklichkeit, die zu einer anderen Ordnung gehört und den Dingen das Rätsel einer neuen und autonomen Schönheit verleiht. Das war in der Tat Prousts Zielstellung; doch alles hängt davon ab, wie wir die „andere Ordnung" interpretieren. Wir können sie in Bergsonschen Begriffen sehen als eine Art mystischer Lebenskraft, als eine Welt konkreter Eigenschaften, letztlich mit Gott gleichzusetzen, von der das Individuum durch das tote Gewicht der Materie (Uhrzeit!) abgeschnitten worden ist und mit der es nur in den Momenten visionärer Eingebung wieder in Kontakt kommen kann. Doch wir können genauso den metaphysischen Rahmen verwerfen und uns allein auf die konkrete ästhetische Definition verlassen. Dann sehen wir, den Versuch des Körpers und des Geistes, ihre Einheit wieder geltend zu machen und ihre verlorene organische Natur (Natur in der Menschlichkeit und Menschlichkeit in der Natur) wiederzufinden - jenseits der Trennung von Denken und Fühlen, von Verstand und Sinn, die das Ergebnis des Prozesses der Entfremdung ist. Der Versuch des Wiedergeltendmachens und des Wiederfindens wird im Rahmen eines philosophisch begrenzten Bezugssystems gemacht, doch ist er dadurch um nichts weniger bewegend und kraftvoll. Die Aufgabe des realistischen Schriftstellers unserer Tage in Lukäcs' Sinne des Wortes ist es nicht, die in Prousts Darstellung liegende tiefe Wahrheit zu leugnen, sondern ihren begrenzten Bereich der Definition in Frage zu stellen und herauszufinden, wie das, was in der Methode und dem Ergebnis ständig wertvoll bleibt, wieder angewendet werden kann, nachdem der metaphysische Rahmen entfernt worden ist. Dann wird die Wirklichkeit, die dem Widerstand des kreativen Momeifts des ganzen Menschen gegen die tödliche Wiederholung der Uhr-Welt der Entfremdung zugrunde liegt, hervorbrechen und ihre volle Bedeutung für die Krisis des Denkens und der Kunst in unserer Welt zeigen. Eine der Gefahren, die Prousts System innewohnten, war die sich daraus ergebende Tendenz des Schriftstellers, die von ihm bewußt beobachtete Szene als etwas Äußerliches zu behandeln, durch allein illustrative oder naturalistische Einzelheiten fasziniert zu werden. 232

James Joyce mußte noch energischer gegen die tödliche Wirkung gehäuft auftretender nebensächlicher Details ankämpfen, die er durch eine Reihe von symbolischen und stilistischen Mitteln gewaltsam zu Bedeutung zu bringen versuchte. Prousts Gebrauch der ersten Person in der Erzählüng versetzte ihn in die Lage, eine sich frei bewegende Methode auszuarbeiten, die für die Bewegung von äußerer Beschreibung zu innerer Entdeckung eine maximale Flexibilität aufwies. Bei dem Unternehmen, vierundzwanzig Stunden von Dublin durch Gestalten darzustellen, die in der dritten Person konzipiert waren, hatte Joyce es schwerer mit der Durchdringung, der Gegenüberstellung und zugleich Verschmelzung der todgeweihten äußeren Welt mit den vitalen inneren Bewegungen der Persönlichkeit. Unter einem Aspekt könnte man Ulysses den gigantischen Höhepunkt des naturalistischen Romans nennen; aber gerade aus jenem Grund ist Joyce so sehr wie Proust bestrebt, die Synthese zu schaffen, die die Einheit des Subjektes hervorruft. Sein Buch offenbart das unvermeidliche Ergebnis der auf die Spitze getriebenen naturalistischen Methode und unternimmt gleichzeitig den verzweifelten Versuch, den Zwiespalt von außen und innen, von zusammengetragenen äußeren Details und geistiger Erfahrung zu überwinden. Der methodische Unterschied zwischen den beiden Schriftstellern wird weiterhin darin deutlich, daß Proust einen einzelnen Erzähler hat und damit in die L a g e versetzt wird, die frei verlaufenden und zugleich zusammengefaßten Blöcke der Erzählung auszuarbeiten, während Joyce damit beginnt, den Zwiespalt des Lebens zu betonen und sich selbst (den Künstler) in zwei Aspekte aufzuteilen, in Stephen und Bloom, in den verlorenen Intellektuellen, der sich leidenschaftlich der Entfremdung bewußt ist, und den vergleichsweise gleichgültigen, in die Gesellschaft integrierten gemeinen Mann. D i e Bedeutung wird nicht durch eine abschließende Vision eines Gerichts, einen dramatischen Schluß, herausgestellt, sondern durch die gesamte Struktur des Buches. Am nächsten kommt einer dramatischen Offenbarung die Betrunkenenszene in dem Bordell mit ihren gewalttätigen Momenten, die das Thema illustrieren, doch danach wird das Tempo bewußt langsamer. Indem Proust den Gedanken der Kontinuität im Charakter ablehnt, führt er die psychologische Analyse zum höchsten Grad raffinierter Verwicklung, dabei jede scheinbare Sicherheit und Stabilität von Menschen und Dingen auflösend, andererseits aber das riesige Bild zusammenhaltend durch die innere Bewegung des Erzählers auf der Suche nach dem Kern des Lebens 23,3

in seiner wahren Menschlichkeit. Joyce türmt zunächst die größtmögliche Menge zusammenhangloser und trivialer Einzelheiten auf; es gelingt ihm letzten Endes jedoch, seinem riesigen Bild Zusammenhang und tiefempfundene Bedeutung durch die Suche nach Verständnis, geistiger Freiheit und Zugang zur Fülle des Lebens zu geben; diese Suche wird in den Bewegungen und Begegnungen von Bloom und Stephen versteckt deutlich bis hin zu ihrem scheinbar sinnlosen Zusammenstoß und der schließlichen Vereinigung. In Ulysses ist die Suche bei weitem unklarer verborgen als in La recherche. D a der Erzähler auf Stephen und Bloom aufgeteilt ist, findet sich die Lösung nicht in irgendeiner bestimmten Bewegung oder Handlung wie in dem Treffen im Bordell oder in der Heimkehr (so notwendig beides auch ist), sondern in dem Buch als ganzem. Dort und nur dort, in Joyce' eigenem Geist, werden Stephen und Bloom in umfassendem Verständnis vereint und dazu gebracht, das Geheimnis einer künstlerischen Lösung zu vermitteln, die die Trennung von Geist und Körper überwindet. So wie sich Proust am Ende von La recherche schließlich als fähig erweist, das Buch zu schreiben, das er die ganze Zeit geschrieben hat, so erweist sich Joyce am Ende von Ulysses als fähig, das Buch zu schreiben, dessen Inhalt er bis zu dem Punkt durchlebt hat, an dem Stephen und Bloom tatsächlich zusammenkommen. Beide Werke beginnen am Ende und haben den Prozeß zum Inhalt, durch den sie in die Lage kommen, geschrieben zu werden. Und die Erfahrung, die sie beide zu verkörpern suchen, ist die kreative Entdeckung der Einheit des Lebensprozesses, die Vision, die die überwältigende Last der Uhrzeit (Entfremdung) zu Fall bringt. Doch Joyce dramatisiert diese Entdeckung nicht innerhalb des eigentlichen Werkes, wie es Proust tut. Das zeigt, daß er einen Schritt weiter auf den Subjektivismus zugeht - was auch dadurch demonstriert wird, wie er nach Ulysses in reine Träumerei verfällt. 90 In Ulysses ist er sich noch des Problems der Integration des Inneren und des Äußeren in eine allgemein dramatisierte Form bewußt in eine Form mit einem kontinuierlichen Bezugspunkt zur Gesellschaft, zu einem historischen Moment. Inmitten einer Überfülle von intellektuellen Tricks und literarischen Hilfsmitteln verfügt er über eine umfassende künstlerische Methode, mit Hilfe derer er dem leeren und trivialen Fluß der Welt entgegenzutreten und ihn aufzuhalten, ihn mit menschlichem Gehalt gerade an der Stelle zu erfüllen versucht, an der sein entfremdender Druck am höchsten triumphiert. Mit dem Mittel, das Innenleben von Stephen und Bloom 234

darzustellen, ist er bemüht, die gesamte Situation von innen nach außen umzukrempeln, den Naturalismus zum Vitalismus werden zu lassen, aus einer ungeheuren Menge einzelner Momente und Eindrücke die Synthese der subjektiven Einheit zu gewinnen. Dieses versteckte, aber überzeugende System symbolischer Bedeutungen ist Joyce' Gegenstück zu der „anderen Ordnung", die Proust durch das zeitlose Moment zu schaffen versuchte. Der Kern von Joyce' Theorie und Praxis ist hier das, was er die Epiphanien nannte. Er arbeitete die Theorie schon früh aus und wandte sie bereits in Stepben Hero (1944; Stepben der Held) an, dem Vorläufer von A Portrait of the Artist as a Young Man (1916; Ein Porträt des Künstlers als junger Manri). Er erfand eine scholastische Erklärung, die Formulierungen des Thomas von Aquino heranziehend; doch im Grunde war das, was er mit einer Epiphanie meinte, der Moment des dynamischen Kontakts, der im Bewußtsein des Künstlers eine Einheit von Subjekt und Objekt hervorbringt, einen Moment erleuchteten Eindringens in die objektive Wirklichkeit und der Verbindung mit ihr, eine Verwandlung ihres Objektes durch seine zwingende Einbeziehung in den Bereich subjektiver Wertvorstellungen. Die Epiphanie soll also die Widersprüche der Erfahrung in der Einheit der Abbildung lösen. Es wurde (von Irene Hendry) bereits bemerkt, daß Ulysses - ja Joyce' gesamtes Werk - „ein Geflecht von Epiphanien ist, von flüchtig dahineilenden Bildern bis zu ganzen Büchern, von der kürzesten Offenbarung in seiner Logik bis zu der Epiphanie, die einen gigantischen endlosen 'Moment' in Finnegans Wake (1939; Finnegans Nachtwache) in Besitz hält". Im Herzen eines toten naturalistischen Universums (dem bürgerlichen Dublin) hofft Joyce, ein dem entgegengesetztes Moment der Wiedererweckung zu bestimmen, sowohl die Kontinuität als auch die Diskontinuität ausdrückend, erfüllt von dem unaufhörlichen Bestreben des Geistes, die äußere Wirklichkeit zu durchdringen, sie zu verstehen, mit ihr zu verschmelzen, sich von ihr zurückzuziehen, sie abzulehnen, sie zu akzeptieren, abermals mit ihr zu verschmelzen. Die kleineren Stücke der Epiphanie vermitteln uns den gebrochenen und ungleichmäßigen Prozeß des Kontaktes mit der Wirklichkeit, die ruhelose Bewegung des Geistes hinein und hinaus und wieder hinein. Sie verbinden sich mit dem künstlerischen Bestreben, unmittelbare Erfahrung hervorzurufen als losgelöste Reste der Sinne, doch im Besitz einer eigenen vorübergehenden, zusammenschließenden Konkretheit. Die größeren Stücke steuern die verschiedenen Momente und ziehen sie zusammen. Sie verbinden sich mit 235

dem künstlerischen Bestreben, die Erfahrung in Begriffen umfassender mythischer Formen zu bestimmen. So verteilt Joyce hier, dort, überall Teilchen und Stücke von Epiphanien, die von seinen Gestalten als Themen oder Motive begriffen werden. Diese wiederum erscheinen in anderen Epiphanien und helfen, die Überzeugung der individuellen Gegenwart aufzubauen, wobei sie mit anderen, gängigeren Mitteln der Charakterisierung verbunden sind: Dialog, Handlung, unmittelbare Beschreibung, Analyse, stilistische Variationen. Im Ergebnis konstruiert Joyce aus den Gestalten selbst wiederum eine große Gruppe von Symbolen oder Motiven, die neue Farben annehmen, wenn sie in unterschiedlichem Kontext erscheinen. Joyce' Verwendung des inneren Dialogs ist in erster Linie zu verstehen als eine Methode, die Epiphanie anzuwenden, um eine ständige Spannung des Individuums und seiner Umgebung auszudrücken, um sozialen Kommentaren oder Kritiken eine konkrete Form zu geben, um eine sich dynamisch verändernde Konkretheit heraufzubeschwören. Nur in Mollys Schlußmeditationen wird sie zu einer Form von Träumerei, von sich frei dahinschlängelnden Mustern ohne einschränkende Spannung. Ansonsten ist sie eng in die Handlung und Bewegung des Buches innerhalb der Dubliner Szene eingebunden. Zusammen mit den symbolisierenden Stilmitteln wirkt sie gleichzeitig als Instrument zum Aufbrechen der Charakterisierung im alten Sinne, vergleichbar Prousts Konzeption der alltäglichen Erfahrung als Sache der unzusammenhängenden Uhrzeit. Das Individuum ist unaufhörlich in der Gefahr, von der es umgebenden Welt überflutet zu werden; sie weigert sich, an ihrem Platz zu bleiben, indem sie auf seinen Geist und seine Gefühle einwirkt und sich ihnen aufdrängt. Er selbst fühlt sich einfach durch das Gewicht der Dinge, durch zusammenhanglose Ereignisse und eine Art Trägheit der Masse überwältigt und entpersönlicht. Der Höhepunkt des verfremdenden Drucks wird in dem vorletzten Buch erreicht, dem der Heimkehr; anstatt in irgendeiner Art von menschlichem Verstehen und Wärme zusammenzukommen, werden Bloom und Stephen auf abstrakte statistische Figuren in einem Fragebogen mechanistischer Wissenschaft reduziert. Dieser Herabsetzung der Männer zu rein intellektuellen Kategorien steht das völlig sinnliche Dahintreiben in Mollys Meditieren gegenüber. Das Leben ist absolut gespalten, wenn auch in Joyce' Verstand wieder schematisch zusammengefügt - der Künstler ist so etwas wie ein Gott bei Flaubert geworden, vorgeblich 236

in völliger Neutralität über seiner Schöpfung stehend, sie jedoch in Wirklichkeit die ganze Zeit hindurch bis in das kleinste Detail manipulierend. Die Epiphanie fährt jedoch fort, sich um die Rettung des verfremdeten Individuums zu bemühen, indem sie ihm den Schimmer einer Lebensart vermittelt, in der der Zwiespalt überwunden ist. Diese Momente sind so konzipiert, daß sie in Übereinstimmung mit der generellen Sicht des Verfassers stehen, die in der Gesamtstruktur des Werkes zum Ausdruck kommt. Wie bei Proust müssen wir wieder einräumen, daß der Verfasser als Gefangener der Methode endet, die ihn befreit hatte. Eine abschließende Lösung kommt nur zustande, wenn wir den zyklischen Prozeß als gegeben betrachten, der das Ende des Buches zu seinem Anfang macht (Joyce wurde sehr von Giambattista Vicos Ansichten über die zyklische Bewegung beeinflußt). Wir müssen die zufällige Begegnung von Stephen und Bloom als künftiges Reifen des Künstlers sehen, der zur Bejahung des Lebens gelangt, ohne die Überzeugung von seiner einmaligen Bestimmung zu verlieren. Und doch, wenn wir den metaphysischen Rahmen entfernen, finden wir uns in einer Situation wieder, die derjenigen sehr ähnelt, die wir in bezug auf Proust dargestellt haben. Wir können nicht anders - wir müssen das Bild der Entfremdung, des Trennungsprozesses, der Geist und Sinne, Intellekt und Gefühl voneinander scheidet, als typisch für den modernen Menschen anerkennen. Dennoch: das Bild ist einseitig und subjektiv; es ignoriert beinahe völlig den Zusammenhang der persönlichen Entfremdung mit der Welt der Ausbeutung, mit der Arbeitsteilung, mit der Zerstückelung des Menschen durch eben jene Teilung, mit dem Warenfetischismus, mit dem überall anzutreffenden Druck der staatlichen Macht. Der Realist hat die Aufgabe, diese umfassenderen Aspekte hinzuzufügen. Wenn man diese Art von Untersuchung fortführt, wird man auf die eine oder andere Weise auch Kafka, Pirandello, D. H. Lawrence, Virginia Woolf, Sartre, Faulkner, Thomas Wolfe erfassen - tatsächlich jeden Schriftsteller, sei er nun groß oder klein, der einen bedeutungsvollen Beitrag zu dem geleistet hat, was wir die modernistische Ästhetik genannt haben. Trotz aller Unterschiede im Ansatz und in der Methode geht keiner von ihnen über die Bergsonschen Positionen hinaus. Der Konflikt zwischen innerer und äußerer Zeit, zwischen konkreter existentieller Erfahrung und einer Welt toter Gewohnheiten und veräußerlichter Zwänge, bleibt das eigentliche Thema. Andererseits haben die Schriftsteller, die im sozialen Kampf 237

Bedeutung und Wert zu finden gesucht haben, sich zu oft als blind gegenüber der Tiefe des Entfremdungsprozesses in ihrer Welt erwiesen, verfrühte oder zu stark vereinfachende Lösungen suchend. Wir stehen immer noch vor dem Problem, die Elemente der Wahrheit und des Verständnisses für modernistische Ausdrucksformen in eine völlig realistische Literatur einzubringen. Das mangelnde Verständnis dafür, was an jenen Ausdrucksformen positiv ist, hat sogenannten realistischen Werken eine Beschränkung eingebracht, die zumindest genauso ernst ist wie jene, die solche Werke entstellt, die die Synthese einer subjektiven Einheit suchen. Und da letztere unbestreitbar in den Erfahrungen der realen, existentiellen Widersprüche wurzeln, sind sie trotz aller Einseitigkeit diejenigen, die die größten künstlerischen Triumphe verzeichnen. Und diese Situation wird sich vermutlich erst ändern, wenn die Realisten in der Lage sind, in die Welt der Entfremdung ernsthaft einzusteigen, ohne ihre Vorstellung von ihrer Veränderung zu verlieren und ohne dem Glauben zu erliegen, die existentiellen Widersprüche würden einfach nur ewig menschliche Verhältnisse widerspiegeln.

10 JEREMY

HAWTHORN

Die historische Entwicklung der menschlichen Individualität und der Cbarakter^eicbnung im modernistischen Roman Die Dinge der Welt werden in der Kunst nicht unmittelbar abgebildet. Wie John Berger es ausgedrückt hat: in bestimmtem Sinne hat alle Kunst etwas Künstliches an sich.* Man kann es auch auf eine andere Art ausdrücken (eine Art, die ich vorziehen würde): Man kann sagen, bevor aus der Welt ein Gegenstand in ein Kunstwerk einbezogen werden kann, ist er mit bestimmten literarischen Konzeptionen in Übereinstimmung zu bringen. Der Künstler mag diese Konventionen modifizieren - insgesamt ignorieren kann er sie nicht. * John Berger: Problems of Socialist Art. In: Lee Baxand^ll (Hg.): Radical Perspectives in the Arts. Harmondsworth 1972.

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Bedeutung und Wert zu finden gesucht haben, sich zu oft als blind gegenüber der Tiefe des Entfremdungsprozesses in ihrer Welt erwiesen, verfrühte oder zu stark vereinfachende Lösungen suchend. Wir stehen immer noch vor dem Problem, die Elemente der Wahrheit und des Verständnisses für modernistische Ausdrucksformen in eine völlig realistische Literatur einzubringen. Das mangelnde Verständnis dafür, was an jenen Ausdrucksformen positiv ist, hat sogenannten realistischen Werken eine Beschränkung eingebracht, die zumindest genauso ernst ist wie jene, die solche Werke entstellt, die die Synthese einer subjektiven Einheit suchen. Und da letztere unbestreitbar in den Erfahrungen der realen, existentiellen Widersprüche wurzeln, sind sie trotz aller Einseitigkeit diejenigen, die die größten künstlerischen Triumphe verzeichnen. Und diese Situation wird sich vermutlich erst ändern, wenn die Realisten in der Lage sind, in die Welt der Entfremdung ernsthaft einzusteigen, ohne ihre Vorstellung von ihrer Veränderung zu verlieren und ohne dem Glauben zu erliegen, die existentiellen Widersprüche würden einfach nur ewig menschliche Verhältnisse widerspiegeln.

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Die historische Entwicklung der menschlichen Individualität und der Cbarakter^eicbnung im modernistischen Roman Die Dinge der Welt werden in der Kunst nicht unmittelbar abgebildet. Wie John Berger es ausgedrückt hat: in bestimmtem Sinne hat alle Kunst etwas Künstliches an sich.* Man kann es auch auf eine andere Art ausdrücken (eine Art, die ich vorziehen würde): Man kann sagen, bevor aus der Welt ein Gegenstand in ein Kunstwerk einbezogen werden kann, ist er mit bestimmten literarischen Konzeptionen in Übereinstimmung zu bringen. Der Künstler mag diese Konventionen modifizieren - insgesamt ignorieren kann er sie nicht. * John Berger: Problems of Socialist Art. In: Lee Baxand^ll (Hg.): Radical Perspectives in the Arts. Harmondsworth 1972.

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So wird die Sprache, die im Roman wiedergegeben wird, auf bestimmte Weise angepaßt - wenn sie auch die wirkliche Sprache w i e d e r g i b t , ist sie damit doch nicht identisch. Die Art und Weise, in der die menschliche Individualität im Roman dargestellt wird, ist ebenfalls dem Wirken bestimmter Konventionen unterworfen Konventionen, die wir als Auffassungen vom literarischen Charakter begreifen können. Doch genau so, wie die fiktionale Rede von der tatsächlichen verbalen Kommunikation in der Wirklichkeit abhängt, wenn sie mit dieser auch nicht identisch ist, so ist auch die Konzeption eines Autors - oder eines Zeitalters - von seinem literarischen Charakter abhängig von der tatsächlichen, historischen Entwicklung der menschlichen Individualität. Deswegen werden wir zwischen den historischen Veränderungen im Wesen der menschlichen Individualität und den Veränderungen in den literarischen Konventionen, die die Darstellung der Charaktere steuern, eine Beziehung finden (wenn sie auch keinen mechanischen Charakter hat). In diesem Essay möchte ich darlegen, daß sich im gegenwärtigen Jahrhundert die schärfer werdenden Widersprüche in unserer Gesellschaft mehr und mehr in den Menschen verinnerlicht haben; das hat in bedeutsamer Weise zur Entwicklung einer neuen Art des menschlichen Individuums geführt. Ich möchte weiterhin behaupten, daß die neue Art des literarischen Charakters, die wir im modernistischen Roman finden, diese Bewegung widerspiegelt; vielleicht hilft uns diese Tatsache in gewisser bedeutsamer Weise, sie zu begreifen und zu verstehen. Das wird mich dazu führen, in Widerspruch zu jenen marxistischen Kritikern zu treten, die bisher den literarischen Modernismus als eine völlig negative Entwicklung gesehen haben. Die Bezeichnung „Modernismus" hat erst in den letzten etwa zehn Jahren weite Verbreitung gefunden, wie Peter Faulkner in seinem nützlichen kleinen Buch Modernism (Modernismus)* darlegt. Sie ist wohl allumfassender als etwa der Ausdruck „experimentell" und läßt an die ganze Gruppe von formalen und anderen Revolutionen in der Kunst denken, zu deren Funktion die Zurückweisung dessen gehört, was Faulkner die „Postulate des neunzehnten Jahrhunderts" nennt. Wenn ich von dem modernistischen Roman spreche, denke ich an solche Schriftsteller wie Virginia Woolf, James Joyce, Franz Kafka und Albert Camus. * Peter Faulkner: Modernism. London 1977.

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Es ist absolut keine neue Behauptung, daß die Entwicklung des Romans von den Veränderungen des Wesens der menschlichen Individualität betroffen ist. Georg Lukäcs argumentierte, „daß mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der Komplizierung der gesellschaftlichen Beziehungen in den Klassengesellschaften eine Trennung des Öffentlichen und des Privaten sich im Leben selbst als Trennung vollzieht. Die Literatur als Widerspiegelung des Lebens kann nicht umhin, diesen Prozeß abzubilden. Doch geschieht dies nicht nur inhaltlich, indem die menschlichen Probleme, die dieser Entwicklung entstammen, von der Literatur gestaltet werden : auch die literarischen Formen, als verallgemeinerte Formen der Widerspiegelung der ständigen und wiederkehrenden, in der Entwicklung sich verstärkenden Züge des Lebens können von diesem Prozeß nicht unberührt bleiben."* Einige Kritiker haben auf den Unterschied zwischen dem Epos und dem Roman in der Frage aufmerksam gemacht, wie solche Veränderungen des Wesens der menschlichen Erfahrung und der menschlichen Individualität zu Veränderungen der künstlerischen und literarischen Form und des Genres führen. Ralph Fox zum Beispiel bezieht sich auf die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft, um zu erklären, warum das Epos dem i n d i v i d u e l l e n Charakter so wenig Aufmerksamkeit widmet: „Zwischen den Personen des Epos und der Gesellschaft, in der sie lebten, bestand ein Gleichgewicht, das seither verlorengegangen ist. Tatsächlich ist die llias mehr das Bild einer Gesellschaft als das irgendeines ihrer Personen, einer Gesellschaft, in der sich der einzelne genausowenig im Gegensatz zur Gemeinschaft wie im Konflikt mit der Natur empfindet."** In seinem Buch Mimesis über die Odyssee schreibt Erich Auerbach, eine ihrer Passagen kommentierend: „Klar umschrieben, hell und gleichmäßig belichtet, stehen oder bewegen sich Menschen und Dinge innerhalb eines überschaubaren Raumes; und nicht minder klar, restlos ausgedrückt, auch im Affekt wohlgeordnet, sind die Gefühle und Gedanken."*** Wenn man es anders ausdrücken will, kann man sagen, daß es in einer Gesellschaft, die frei von grundsätzlichen Spannungen zwischen den Menschen ist, keine abgeschlossene Privatsphäre bei den Menschen gibt und daß daher solche Menschen eine andere * Georg Lukäcs: Der historische Roman. Neuwied - Berlin (West) 1965, S. 160. ** Ralph Fox: Der Roman und das Volk. Berlin 1953, S. 39. *** Erich Auerbach: Mimesis. Bern 1946, S. 8.

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Form der künstlerischen Darstellung erfordern als jene, deren Leben weniger sichtbar und offen ist. Arnold Kettle sagt von der Isländer-Saga, daß sie von einer sehr ö f f e n t l i c h e n Gesellschaft* geschaffen wurde, einer Gesellschaft, der die uns vertrauten Unterschiede zwischen öffentlichem Leben und Privatleben nicht geläufig waren. In solch einer Gesellschaft wird der Künstler, läßt sich vermuten, gar nicht daran interessiert sein, in Charaktere „einzudringen" - aus dem einfachen Grunde, weil dort vermutlich nicht viel Interessantes zu entdecken sein wird. In seinen Gedanken über Epos und Roman sagt Lukacs: „Epopöe und Roman, die beiden Objektivationen der großen Epik, trennen sich nicht nach den gestaltenden Gesinnungen, sondern nach den geschichtsphilosophischen Gegebenheiten, die sie zur Gestaltung vorfinden. Der Roman ist die Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat."** Meiner Meinung nach ist dies ein glänzendes und überzeugendes Bild der Spannungen, denen der Roman zum Teil seine Geburt verdankt. Von allen literarischen Formen versucht der Roman am nachdrücklichsten, die Totalität einzufangen - sowohl sozial als auch historisch. Andererseits findet keine literarische Form die Enthüllung des Vollständigen so sehr mit Schwierigkeiten beladen, so problematisch wie der Roman. Das trifft sowohl auf die Totalität des einzelnen menschlichen Wesens als auch auf die Totalität der menschlichen Gesellschaft zu, wobei man die beiden Aspekte natürlich nicht voneinander trennen kann. Solche Veränderungen auf genaue Daten festzunageln ist immer eine riskante Sache. Mit Sicherheit kann man allerdings sagen, daß am Ende des achtzehnten Jahrhunderts das deutliche Bedürfnis besteht, die komplizierten, historisch neuen Wechselbeziehungen von öffentlichem und Privatem, vom Teil und vom Ganzen, von Objektivem und Subjektivem zu untersuchen und daß die Entwicklung des Romans von diesem Bedürfnis durchgängig beeinflußt ist. Die literarische Beschäftigung mit dem scheinbar autonomen, über sich selbst bestimmenden Charakter kann also nicht von dem Wachs* Arnold Kettle: The Late Nineteenth-Century Novel. Milton Keynes 1973, S. 10. (Unit 23 of Open University Course A 302.) * * Georg Lukäcs: Die Theorie des Romans. Stuttgart 1916, S. 21. 16

Southall/Magister

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tum einer Gesellschaft getrennt werden, in der echte Veränderungen im Wesen der menschlichen Individualität stattfinden. Sicher ist es in gewisser Weise richtiger, nicht von einer Veränderung der menschlichen Individualität in einer Zeit zu sprechen, in der es - wie Lukäcs es ausdrückte - zu einer Spaltung zwischen dem öffentlichen und dem Privaten im Leben selbst kommt. D i e Gesellschaft ist nicht mehr nur öffentlich, sondern sie ist zugleich eine Ansammlung von Intimsphären. Solch eine Veränderung schließt ein, daß viele Zusammenhänge verborgen werden - und das bedeutet den offenkundigen Verlust jener Totalität, die der Roman neu zu entdecken versucht. Und obwohl die menschlichen Individuen im frühen Kapitalismus unabhängiger, selbstbestimmter, individueller sowie sozial und intellektuell beweglicher s i n d , ist diese Entwicklung jedoch paradoxerweise von enormen Veränderungen in der Gesellschaft abhängig, die das Ergebnis menschlicher Zusammenarbeit und kollektiver T ä tigkeit sind - eine Paradoxie, die für den Aufstieg des Romans als literarische Form von entscheidender Bedeutung war. Ironischerweise ist das „unabhängige" Individuum weniger in der Lage, aus eigener K r a f t am Leben zu bleiben, als das der Bauer der Feudalzeit war, der in einem weit gemeinschaftlicheren Leben verankert zu sein schien und es auch tatsächlich war. Robinson Crusoe verkörpert exakt einen der stärksten Mythen der Bourgeoisie, weil seine vollständige materielle Autarkie etwas darstellt, was den Bourgeois dunkel, aber nachdrücklich spüren läßt, daß er selbst das nie erreichen wird. Dieses Paradoxon widerspiegelt sich in der typischen Form des Romans, der erlaubt, ausgewählte Intimitäten und Geheimnisse in ihren gegenseitigen Abhängigkeiten und in ihrer Beziehung zu dem herrschenden gesellschaftlichen Rahmen zu offenbaren; zugleich aber auch in der Soziologie des Romans in weiterem Umfang: D e r Roman wird privat, still, geradezu beschaulich „konsumiert", während seine Existenz von dem Wachstum einer kollektiven, industrialisierten G e sellschaft abhängt, die Bücher - und literarisch interessierte Individuen - zu Hunderttausenden hervorbringt. In einem Essay, auf den ich noch mehrfach zurückkommen möchte, zeichnet Harley C. Shands einen aufschlußreichen Vergleich zwischen der Gesellschaft eines heutigen Entwicklungslandes und der Gesellschaft einer westlichen Industrienation. Im Verlauf seines Vergleiches macht er eine Reihe von Feststellungen zur „Konstruktion der Individualität" in diesem unterschiedlichen Rahmen, die Parallelen zu manchen der Bemerkungen über die Unterschiede zwischen

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den Gesellschaften zeigen, die das Epos und den Roman hervorgebracht haben. Ich könnte die Bemerkung dazwischenschieben, daß ich den Ansatz von Shands und von denjenigen, die ich vorher zitiert habe, lohnender finde als die neuesten neufreudianischen Ansätze von der „Konstruktion des Ich", die generell asozial und ahistorisch sind ; ihnen fehlt daher das Verständnis für den nach meiner Meinung wesentlichen Fakt, daß ein menschliches „Ich" nicht identisch mit dem anderen ist. Von Claude Lévi-Strauss' Unterscheidung zwischen „konkretem" und „abstraktem" Denken ausgehend, legt Shands dar, daß der „konkrete Wilde" (Ausdruck von Lévi-Strauss) „in seine Gruppe 'eingebettet' i s t ; . . . e r b r a u c h t k e i n e verinnerlichten Gedanken oder Gefühle."* E r bemerkt weiterhin, daß der „moderne Mensch" im Gegensatz dazu „ein a b g e s o n d e r t e r , ein h e r a u s g e l ö s t e r Mensch ist ; er lebt nicht in der Welt unmittelbarer und bedeutsamer sinnlicher Erfahrungen, sondern in einer Welt vager, indirekter begrifflicher Strukturen".** Shands argumentiert, daß das „Eingebettetsein" („embeddedness") eine zwangsläufige Schranke für die Entwicklung zur Industriegesellschaft darstellt, die unabhängige Individuen benötigt, die sich über traditionelle, durch soziale Konventionen bestimmte Verhaltensweisen hinwegsetzen können (ob eine solche Mobilität wirkliche Unabhängigkeit schafft, ist natürlich eine strittige Frage). Ich finde, der Begriff des „Eingebettetseins" ist ein nützliches Instrument bei der Diskussion über die Entwicklung der menschlichen Individualität. Sicher gibt es verschiedene Arten und Grade des Eingebettetseins. Der präliterarische „konkrete Wilde" kann als in konkrete Empfindungen eingebettet verstanden werden. Der moderne Industriearbeiter, der - nach Shands Formulierung - in bestimmter Weise deutlich „herausgelöst" („disembedded") ist, wird zugleich in bestimmte ideologische Vorstellungen zutiefst eingebettet. In der modernen Welt kann also dieselbe Person verschiedene Grade von Eingebettetsein und Herausgelöstsein in sich vereinen. Desäen ungeachtet bietet uns der Begriff eine bequeme Möglichkeit zum Erfassen des Maßes, in dem das Individuum (Mann oder Frau) eine Vorstellung von sich hat, wieweit es in der einen oder anderen Weise von der Gesellschaft ge t r e n n t ist. Interessanterweise argu* Harley C. Shands: Verbal and Medicai Disease. Prophylactic Implications of Learning. In : T . A. Sebeok (Hg.) : Sight, Sound and Sense. Bloomington London 1978, S. 194. * * Ebenda, S. 195. 16»

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mentiert Shands, daß zur Erreichung des Herausgelöstseins ein bestimmtes Maß von Selbstobjektivierung erforderlich ist, das wiederum nur da erreicht werden kann, wo schriftliche Festlegungen zur Verfahrensweise vorliegen. „Wenn und solange die menschlichen Wesen keine schriftlichen Festlegungen zur Verfahrensweise vorfinden, ist es ihnen unmöglich, bestimmte intellektuelle Operationen durchzuführen - sind diese Festlegungen einmal ausgearbeitet und verinnerlicht, wird es andererseits möglich, viele intellektuelle Operationen 'im Kopf auszuführen [...] ."* Noch interessanter ist folgender Aspekt: jener Prozeß der Selbstobjektivierung vermag eher ein kompliziertes Ich als ein einfaches, einheitliches hervorzubringen. Dieses Ich kann verschiedene Identitäten umfassen und miteinander verbinden, Identitäten, die sogar miteinander sprechen können: „Der Prozeß, in dem ein menschliches Wesen lernt, wie es sich so aufspaltet, daß es sein eigener Hauptgesprächspartner wird, läßt sich am besten als i n n e r e s ' G e s p r ä c h beschreiben, bei dem das 'Ich' sozusagen dem 'Mir' etwas sagt; dann tauschen beide plötzlich ihre Plätze, wobei oft gar nicht bemerkt wird, daß das 'Subjekt' jetzt ein anderes ist [ . . . ] Ein anderes 'Ich' hörte eine andere Botschaft."** Die entscheidende Frage, die sich hier ergibt und auf die ich bei der Diskussion der Charakterzeichnung in modernistischen Romanen zurückkommen werde, ist diejenige, ob diese unterschiedlichen Teilpersonen einander ergänzen oder widersprechen - ob sie in Spannung zueinander stehen oder in Übereinstimmung miteinander. Eine erste Antwort auf diese Frage ist, daß das von' dem sozialen Ursprung dieser verinnerlichten Identitäten abhängt. Wenn die unterschiedlichen Identitäten unterschiedliche und einander widerstreitende gesellschaftliche Kräfte vertreten, können wir erwarten, ein konfliktgeplagtes Individuum vorzufinden. Shands' Beobachtungen können dadurch sinnvoll ergänzt werden, daß man das Werk des sowjetischen Psychologen Lev Vygotsky über den Erwerb der „inneren Sprache" durch das Kind heranzieht. In Thought and Language (Gedanke und Sprache) argumentiert Vygotsky, daß in dem Reifeprozeß eines menschlichen Wesens Denken und Sprechen eine komplizierte, dialektische Beziehung entwickeln; Fortschritte auf dem einen Gebiet werden durch Fortschritte auf * Ebenda, S. 198. ** Ebenda, S. 198.

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dem anderen ermöglicht und fördern sie gleichzeitig.* Um Vygotskys Argument zu vereinfachen: Er zieht eine Linie von der gesellschaftlichen Sprache über die egozentrische Sprache zur inneren Sprache und schließlich zum Gedanken. Der kritische Aspekt eines solchen Modells von Sprechen und Denken besteht darin, daß es die gesellschaftliche Sprache, die als das primäre Element verstanden wird, privilegiert. Dadurch wird uns ein Bild eines genauen Mechanismus vermittelt, wobei die herrschenden Beziehungen im gesellschaftlichen Leben in modifizierter Form zu der Beziehung von Denken und Psyche werden können. Nach solch einem Modell sind Subjektivität und Identität des Individuums in einer gesellschaftlichen Form geprägt worden. Shands' Artikel beschäftigt sich vorwiegend mit jenen Menschen in der modernen Industriegesellschaft, die dabei versagt haben, sich ein harmonisches inneres Selbst zu schaffen - ein Versagen, das Shands mit dem Hinweis auf fehlende formale Bildung zu erklären versucht. Sicherlich stimmt eine solche Erklärung mit den Feststellungen überein, die Vygotskys Schüler und Kollege A. R. Luria** getroffen hat. Doch eine weitere Möglichkeit muß erwogen werden: Was wird, wenn die gesellschaftliche Wirklichkeit, auf deren Grundlage und in deren Rahmen das innere Selbst zu formen wäre, von einigen Menschen als zu widersprüchlich empfunden wird, um es kohärent verinnerlichen zu können? Zweifellos haben Shands' Begriffe von „eingebettet" und „herausgelöst" einen gewissen Wert, wenn man sie auf das Epos und den Roman anwendet. Das Epos ist die Kunstform von Männern und Frauen, die in die Werte und Aktivitäten einer Gruppe eingebettet sind. Im Gegensatz dazu beschäftigt sich der Roman mit „Charakteren", mit menschlichen Individuen, die normalerweise einen ausgeprägten Sinn für ihr eigenes Ich haben, weit weniger von einem alltäglichen Aufbau mit Hilfe von „unmittelbaren und bedeutungsvollen Sinneserfahrungen". An dieser Stelle möchte ich zusammenfassen und betonen, daß bei dem Aufbau der menschlichen Individualität in der Moderne z w e i entscheidende Elemente bedacht werden müssen. Zum einen ist das die Verbreitung von Bildung und bewußter Erziehung, die * Lev S. Vygotsky: Thought and Language. Cambridge, Mass. 1971 (Repr.) ** Vgl. insbesondere A. R. Luria: Cognitive Development. Cambridge, Mass.London 1976.

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es möglich machen, auf mehrere Wirklichkeiten gefaßt zu sein und Techniken der Selbstanalyse zu entwickeln. A. R. Lurias Gespräche mit analphabetischen Bauern, die er in seinem Buch Cognitive Development (1976; Entwicklung der Erkenntnis) wiedergibt, bieten den klaren und überzeugenden Beweis dafür, daß ein Mensch, der nicht lesen und schreiben kann und der keine formale Bildung erfahren hat, sich in seiner Vorstellung nicht in Situationen, die nicht auf unmittelbarer persönlicher Erfahrung beruhen, hineinversetzen und sein Selbst nicht von außen analysieren kann. Kurz gesagt, in bedeutsamem Umfang fehlt ihm das private Selbst, wie es ein typisches gebildetes Individuum in einer Industriegesellschaft besitzt.* Zum zweiten haben die weiter gespannten sozialen und produktiven Beziehungen in der Gesellschaft einen entscheidenden Einfluß auf den Aufbau der Individualität in der entsprechenden Gesellschaft. Menschen antagonistischer Klassen neigen dazu, im weiteren oder engeren Maße von sich innerlich widersprechenden oder antagonistischen Formen des Selbst erfüllt zu sein. In den frühen Tagen der Entwicklung einer Klassengesellschaft mögen solche Widersprüche nicht als sehr naheliegend und drückend empfunden worden sein. In den frühen Tagen der Herausbildung des Romans ist der Romancier offensichtlich mehr damit beschäftigt, die verborgenen Seiten des Lebens ans Licht zu bringen, als damit, die Widersprüche zwischen Öffentlichem und Privatem zu untersuchen. So ist E. M. Forster durchaus zuzustimmen, wenn er (ohne allerdings bewußt die h i s t o r i s c h e Frage aufzuwerfen) die Auffassung vertritt, daß der Hauptunterschied zwischen einer literarischen Gestalt wie Moll Flanders und einer „wirklichen Person" darin liegt, daß Moll „zu einer Welt gehört, in der das geheime Leben sichtbar ist, zu einer Welt, die die unsere nicht ist und nicht sein kann [...]."** Wenn ein Romancier alles über eine Gestalt weiß, was es über sie zu wissen gibt, so bemerkt er weiterhin, dann wird uns solch eine Wirklichkeit vermittelt, wie sie uns im Alltagsleben niemals begegnet.*** Hinter Forsters (und Defoes) Annäherung an den Roman steht, 'möchte man meinen, die letztlich aus der Zeit vor dem Modernismus stammende Auffassung, das Leben sei nur insoweit kompliziert, als viel von ihm verborgen sei. Wenn man einmal * Vgl. Ebenda. ** Edward Morgan Forster: Aspects of the Novel. Harmondsworth 1970 (Repr.), S. 69. *** Ebenda, S. 70.

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die verschüttete Wirklichkeit entdeckt habe, passe das sichtbar Gewordene wie bei einem Puzzle-Spiel wunderbar zusammen; es mag kompliziert sein, ergibt aber einen Sinn. Im Gegensatz dazu ist für den modernistischen Schriftsteller die Aufdeckung dessen, was Forster „das geheime Leben" nennt, zwar auch notwendig, doch fehlt ihm die entsprechende Zuversicht, daß aus diesem Prozeß etwas Kohärentes hervorgehen werde. Viele Steine des Puzzle-Spiels passen nicht zusammen, und aus denen, die passen, kann man die verschiedenartigsten Bilder zusammenstellen. Dostojewski ist ein Romancier, dessen Werk interessanterweise zwischen diese gegensätzlichen Formen und Perioden fällt. In seiner Charaktergestaltung können wir eine frühe Antwort auf die Zwänge sehen, die in dem modernistischen Roman entscheidend werden sollen. Seine kreative Gestaltung des Mörder-Geheimnisses gestattet ihm, in einem gängigen Formrahmen zu arbeiten, der die Aufmerksamkeit darauf richtet, etwas zu „entdecken", ein Geheimnis zu enthüllen. Doch im Gegensatz zu dem verbreiteten Mörder-Geheimnis hat hier der Leser nicht den Eindruck, daß alles klar und unproblematisch geworden sei, wenn jenes gewisse Etwas entdeckt worden ist. Irgendwie haben wir noch mehr unbeantwortete Fragen, wenn wir wissen, wer den alten Karamasow umgebracht hat, als vorher. Eine mögliche Erklärung dafür liegt darin, daß Dostojewski auf die Tatsache reagiert, daß in seiner Gesellschaft der „kleinste gemeinsame Nenner" des Privaten nicht die individuelle Handlung ist oder das Bewußtsein, sondern irgend etwas anderes in dem Individuum, dessen sich die betreffende Person nicht bewußt ist. Um es mit anderen Worten zu sagen: die menschliche Subjektivität ist nicht einfach etwas Privates geworden, sondern ein Ort der Gegensätze. In den Brüdern Karamasow charakterisiert der Starez Sossima in seiner Abschiedsrede sein Jahrhundert, in welchem „'sich doch alle aufgeteilt [haben] in die vielen einzelnen, jeder verschließt sich in seiner Höhle, jeder entfernt sich vom andern, versteckt sich, er versteckt auch, was er hat, letztlich stößt er sich selbst von den Menschen zurück und stößt die Menschen von sich zurück. Er häuft, verschließend, Reichtümer und denkt: Wie stark bin ich jetzt und wie gesichert, und in seinem Wahnwitz weiß er nicht, daß er, je mehr er häuft, desto tiefer in selbstmörderische Ohnmacht sinkt. Denn er ist gewohnt, sich'allein auf sich zu verlassen, er hat sich als einzelner vom Ganzen gelöst, hat seine Seele gelehrt, nicht an menschliche Hilfe zu glauben, nicht an die Menschen und die Menschheit, 247

er zittert nur davor, daß er sein Geld und die von ihm erworbenen Rechte verlieren könnte. Allerorten beginnt sich heutzutage der menschliche Geist spottlustig gegen die Einsicht zu sperren, daß die wahre Sicherung der Person nicht in dem Bemühen liegt, das er für sich, sich verschließend, unternimmt, sondern in der menschlichen allgemeinen Ganzheit.'"* Das neue Element ist hier das Verständnis für das selbstzerstörerische Wesen der Privatisierung in einer Klassengesellschaft. Dieses Element hat prophetischen Charakter für manche spätere Entwicklung im modernistischen Roman. Natürlich muß, man sich darüber im klaren sein, daß die K o m p l i z i e r t h e i t der Charaktere - selbst seine Widersprüche und inneren Konflikte - nicht erst mit dem Roman auftauchen. In Mimesis weist Auerbach darauf hin, daß es dafür noch eine andere Tradition gibt, die auf das Homerische Epos zurückzuführen ist. Auf den biblischen Bericht von Abrahams Weg zur Opferung seines Sohnes Isaak eingehend, bemerkt Auerbach: „Aber das Wichtigste ist das Vielschichtige innerhalb des einzelnen Menschen; dies ist bei Homer kaum anzutreffen, höchstens in der Form des bewußten Zweifels zwischen zwei möglichen Handlungsweisen; im übrigen zeigt sich bei ihm die Vielfalt des seelischen Lebens nur im Nacheinander, im Sichablösen der Affekte; indes es den jüdischen Schriftstellern gelingt, die gleichzeitig übereinander gelagerten Schichten des Bewußtseins und den K o n f l i k t d e r s e l b e n zum Ausdruck zu bringen." (Hervorhebung - J. H.)** Es ist sicher nicht zufällig, daß gerade im Werk jüdischer Schriftsteller diese Tradition entstanden ist, die Gedanken und Gefühle einer Gestalt sowie d i e W i d e r s p r ü c h e z w i s c h e n i h n e n darzustellen: ein Kontext, der nicht nur höchsten literarischen Wert besitzt, sondern auch typisch für eine unterdrückte Gruppe ist, wo sich individuelle Subjektivitäten im Schmelztiegel umfassender gesellschaftlicher Konflikte und Spannungen herausbilden. Zugleich mag das erklären, wieso, Elemente der jüdisch-christlichen Tradition in kapitalistischen Gesellschaften so bereitwillig aufgenommen werden, denn in beiden Zusammenhängen sind soziale Konflikte an der Herausbildung widersprüchlicher, vielschichtiger Individuen beteiligt. Das Wissen um den K o n f l i k t hat zentrale Bedeutung für Do* Fjodor Dostojewski: D i e Brüder Karamasow. Bd. 1, Berlin 1962, S. 487. * * Erich Auerbach: Mimesis. Berlin 1946, S. 17.

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stojewskis Bild der Menschheit seiner Zeit, sowohl was das Individuum anbetrifft als auch in bezug auf die Menschheit insgesamt. An einer Stelle in den Brüdern Karamasow klingt es fast so, als nähme er die Forderungen Von Marshall McLuhan vorweg, nach der nämlich die technische Entwicklung, eine „bessere Kommunikation", alle Konflikte - also auch jeden „Zusammenbruch der Kommunikation" beenden und eine heitere, einheitliche Weltgemeinde schaffen wird. „Es heißt, die Welt werde, weil man doch Entfernungen verkürzen und Gedanken durch die Luft übertragen könne, im Laufe der Zeit sich immer mehr einigen, sich zu einer brüderlichen Gemeinschaft zusammenfinden. Oh, glaubt nicht an eine solche Vereinigung der Menschen. Indem sie unter Freiheit die Mehrung und rasche Befriedigung ihrer Bedürfnisse verstehen, verunstalten sie ihre Natur, denn sie rufen in sich viele unsinnige und dumme Wünsche und Gewohnheiten und die abgeschmacktesten Einfälle wach."* Um jedoch zu meinem Ausgangspunkt zurückzukehren: Es lohnt sich, daran zu erinnern, daß dann, wenn sich die Wirklichkeit ändert, die Kunst neue Konventionen entwickeln muß, um diesen Veränderungen zu entsprechen. Der Romancier muß neue Methoden erlernen, die Art des inneren Konfliktes wiederzugeben, die für das gegenwärtige Zeitalter immer wichtiger werden. In einer Passage, die ich oben zitiert habe, stellte Auerbach heraus, daß Homer einen inneren Konflikt durchblicken lassen kann, indem er eine Gestalt darstellt, die zwischen zwei möglichen Handlungsrichtungen schwankt - anders gesagt, durch die Objektivierung einer möglichen subjektiven Spannung. Um dem Leser die inneren Konflikte und Spannungen des Iwan Karamasow vorzuführen, zeigt uns Dostojewski den Iwan im Frühstadium eines Nervenzusammenbruchs im Gespräch mit einer halluzinatorischen Vorstellung von einem Teil seiner selbst. Solch eine Technik muß ziemlich konstruiert und mechanisch wirken; es ist interessant zu sehen, wie Dostojewski in verschiedenen Romanen eine immer raffiniertere Technik zunehmend verfeinert - bis hin zur Darstellung sozialer Sonderlinge. Diese Vorliebe für die Zeichnung von Sonderlingen kann man mit dem Hinweis darauf erklären, wie sehr die Abbildung des Sonderlings es Dostojewski gestattet, das offenkundig und deutlich zu machen, was normalerweise in der Psyche einer Gestalt verborgen ist; dabei bekommt der Leser nicht den Eindruck, daß ihm eine * Fjodor Dostojewski: Die Brüder Karamasow. Bd. 1, Berlin 1962, S. 503.

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recht mechanische Konstruktion vorgesetzt wird. Sonderlinge gibt es im wirklichen Leben; sie werden in Dostojewskis Romanen von den anderen Gestalten so behandelt, wie wirkliche Sonderlinge von anderen Menschen behandelt werden. Der Unterschied besteht darin, daß Dostojewskis Sonderlinge etwas auf gesellschaftlich bedeutsame Weise enthüllen. In seinem Vorwort „An den Leser" am Anfang der Brüder Karamasow erklärt Dostojewski folgendes: „Denn nicht nur, daß ein Sonderling keineswegs immer einen Einzelfall darstellt, eine Erscheinung ganz für sich, nein, dann und wann macht wohl er, der Sonderling, sogar Hirn und Herz des Ganzen aus, während die übrigen Menschen seiner Epoche allesamt für eine Weile sozusagen von ihm losgerissen worden sind . . ."* Weil Dostojewski so klar die Verbindung der inneren Widersprüche seiner Charaktere mit den äußeren Widersprüchen der Gesellschaft erkennt (wie die Rede des Staatsanwalts in den Brüdern Karamasow zeigt), stellt sein Werk solch einen wichtigen Meilenstein in der Entwicklung des Romans dar. Man vergleiche zum Beispiel die Demaskierung des Mörders in den Brüdern Karamasow mit der Demaskierung des Mörders in Dickens Martin Chuzzlewit (1843/44; Leben und Abenteuer Martin Cbuzzlewits); in dem letztgenannten Roman hat man kaum den Eindruck, daß nach diesem Ereignis viel G e h e i m n i s v o l l e s für den Leser übrigbleibt. Dickens' Darstellung innerer Konflikte sind wie die seines russischen Zeitgenossen noch auf der Suche nach passenden konventionellen Ausdrucksformen. In Great Expectations (1860/61; Die großen Erwartungen) ist Wemmick zwar äußerst aufschlußreich für den Sozialhistoriker, doch vermutlich weit weniger befriedigend für den Literaturkritiker. Seine Darstellung macht deutlich, daß sich Dickens durchaus der Tatsache bewußt war, daß soziale Institutionen für den Menschen Interessen- und Identitätskonflikte schaffen. Es ist jedoch keine Darstellung, von der wir sagen könnten, sie erfaßte die verworrenen und komplizierten Wege, auf denen jene Konflikte verinnerlicht werden, in jeder Weise zufriedenstellend. Wenn man die Widersprüche so offenlegt, läßt man sie einfacher, leichter begreifbar erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind. Wemmick ist gleichzeitig eines der ersten literarischen Beispiele dafür, welche Spaltungen der Beruf in einem Individuum hervorrufen kann, und zugleich eines der letzten Beispiele, bei dem diese * Ebenda, S. 8.

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Spaltungen als völlig an der Oberfläche verbleibend, völlig offenkundig dargestellt werden können. Von jetzt an tendiert der Roman dazu, die Widersprüche in einem Individuum als weniger offenkundig, als komplizierter und verborgener darzustellen. Wenn wir die Romanform nach Beispielen für ungespaltene Helden ohne Widersprüchlichkeit durchstöbern, entdecken wir normalerweise, daß sie Dummköpfe, Aussteiger, Versager, Irre sind: Stevie in Joseph Conrads The Secret Agent (1907; Der Geheimagent), Septimus in Virginia Woolfs Mrs. Dalloway (1925); Meursault in Albert Camus' L'Etranger (1942; Der Fremde). Solch eine Entwicklung ist wohl nicht nur eine literarische. Wenn wir an Willy Loman in Arthur Millers The Death of a Salesman (1949; Der Tod des Handlungsreisenden) denken, erkennen wir folgendes: der Grund dafür, daß ihn die Widersprüche seines Lebens zerbrechen, während sich die Widersprüche in Wemmicks Leben hübsch in Schubfächer einordnen und hinnehmen lassen, liegt darin, daß in Lomans Gesellschaft ein starker ideologischer Zwang besteht, die Existenz derartiger Widersprüche überhaupt zu leugnen. Aus verschiedenen komplizierten Gründen scheint das zu Dickens' Zeiten nicht der Fall gewesen zu sein - zum Teil deswegen, weil das ganze Ausmaß der Widersprüche noch nicht so vollständig erkannt wurde. Zum anderen ist sich Wemmick klar darüber, daß er zwei Leben lebt, was Loman nicht erkennt. Lomans Versuch, ein ungeteiltes, einheitlich geordnetes Leben zu führen, das „öffentliche" und private Werte gemeinsam einschließt, ist für ihn genauso zerstörerisch wie - aufschlußreicherweise - für Stevie, Septimus und Meursault. Von allen marxistischen Literaturkritikern ist Georg Lukäcs für seinen Mangel an Sympathie für die modernistische Literatur am bekanntesten. Zum Thema der modernistischen Charakterzeichnung hat er viele Schriftsteller kritisiert. Ich bin überzeugt, daß manche dieser Kritiken berechtigt sind. Ich finde es aber gleichzeitig ironisch, daß gerade der Kritiker, der am deutlichsten den Zusammenhang zwischen den sozialgeschichtlichen Veränderungen und dem Aufkommen des Romans gesehen hatte, nicht verstehen sollte, daß weitere sozialgeschichtliche Veränderungen neue Methoden der literarischen Charakterzeichnung fordern. Im besonderen gilt das für Lukäcs' Forderung, daß die Charaktere von einem historischen B e w u ß t s e i n erfüllt sein müssen, was Probleme aufwirft. Da sagt er lobpreisend über Scott: „Der 'notwendige Anachronismus' Scotts 251

besteht also nur darin, daß er seinen Menschen einen deutlichen Ausdruck der Gefühle und der Gedanken über reale historische Zusammenhänge gibt, den die Menschen in dieser Klarheit und Deutlichkeit damals unmöglich kannten."* Bei einer solchen Voreingenommenheit ist es verständlich, daß Lukäcs zum Beispiel keine Sympathie für Kafkas Werk hatte. Aber hätte Kafka seine Charaktere in demselben historischen Bewußtsein gezeichnet, wie es Walter Scott getan hat, hätten dann seine Leser ihre gefahrvolle historische Lage in diesen Darstellungen erkannt? Kafkas Werk kann zu Recht kritisiert werden, daß es den Eindruck erweckt, das Leben wäre bedeutungslos. Doch sein Werk hat den großen Vorzug, daß es die Wahrheit eingefangen hat, daß das Leben vielen Menschen in unserem Jahrhundert tatsächlich bedeutungslos erschien. Bis dahin hat es zumindest den Prozeß in Gang gebracht, diese Wahrheit zu bewältigen und sie zu erklären zu versuchen. Lukäcs' eigene Bewunderung für Don Quichote (1605/15)** hätte ihm, meint man, zeigen können, daß geistesverwirrte Charaktere beim Hervorbringen geistesgegenwärtiger Leser eine Rolle spielen können. Jack Lindsay sagte von Lukäcs, bei der Beschäftigung mit modernistischen Werken vergäße er seine eigene Lehre von der Vermittlung*** - anders gesagt, die Tatsache, daß der Schriftsteller dem Leser nicht die reine Wirklichkeit bietet, sondern sozusagen eine Wirklichkeit, die durch die Anwendung von Regeln und Konventionen bereits umgeformt wurde. Die modernistische Gestalt ist nicht „wie das Leben" im vordergründigen Sinne, wie auch Dostojewskis Sonderlinge nicht zu Hunderten auf den Straßen Rußlands herumliefen, aber dessenungeachtet kann sie uns in die Lage versetzen, das Leben besser zu verstehen. Lukäcs würde zweifellos argumentieren, daß das volle Bewußtsein der Welt ein Grundzug der Entwicklung des Sozialismus in unserem Jahrhundert sei und sich im Roman widerspiegeln solle. Aber die i * Georg Lukäcs: Der historische Roman. Neuwied - Berlin (West) 1965, S. 75-76. ** In seinem Essay „Die intellektuelle Physiognomie der künstlerischen Gestalten" (in: Essays über den Realismus. Berlin 1948, S. 37) argumentiert Lukäcs: „Der Don Quichotte ist in diesem hohen Sinne des Wortes einer der typischsten Charaktere der Weltliteratur . .." und man könnte sagen, „daß das Typische am Charakter und an der Situation ein solches Hinausgehen über die Alltagswirklichkeit voraussetzt." (Vgl. Georg Lukäcs: Writer and Critic and Other Essays. London 1970, S. 158.) *** Jack Lindsay: Decay and Renewal. London 1977, S. 41.

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Darscellung dec unbewußten Gestalt kann auch ein Element in der gesellschaftlichen Aneignung dieses Wissens sein. Meiner Ansicht nach zutreffend schreibt Lukäcs von dem „großen sozialen Bedürfnis", „dem Wunsch nach der widersprüchlichen, aber untrennbaren Einheit [ . . . ] von Individualität und Gesellschaft, dessen Erfüllung die Aufgabe der Kunst ist".* „Je entwickelter ein menschliches Wesen ist, desto mehr ist es ein Individuum, aber das kann in ihm nur dann wirklich, ernsthaft und tief verwirklicht werden, wenn dieses Individuum mehr ist, sich qualitativ unterscheidet von der regellosen Kombination zufälliger individueller Eigenschaften. In ihm muß sich also mehr manifestieren als lediglich die tauben und stummen, rein natürlichen Talente der menschlichen Rasse, muß die wahrhaft menschliche Artikulation dieser Rasse sich in seinen Taten und Worten mit intelligenter Stimme melden [.. .]."** Das ist eine schöne Erklärung, über die man nicht lakonisch hinweggehen sollte. Auf dem Wege von diesem in hohem Maße abstrakten und allgemeinen Niveau dieser Erklärung zu dem materiellen Inhalt der Kunst scheint Lukäcs jedoch unglücklicher- und irrtümlicherweise anzunehmen, dieses menschliche Ideal müsse in der künstlerischen Gestalt voll wiedergegeben werden. „Der ästhetische Typ, in dem sich die Besonderheit auf zutiefst künstlerische Weise manifestiert, kennzeichnet den Weg der konkreten Erfüllung der menschlichen Existenz als Rasse. E r ist die zentrale Kategorie des künstlerischen Schaffens, denn durch ihn wird das künstlerische Schaffen zu der sinnlich entfalteten und einheitlichen konkreten Reflexion der Verkörperung einer Etappe auf dem langen Weg der menschlichen Rasse, die sich selbst sucht und findet."*** Lindsays Kommentar scheint mir hier besonders treffend zu sein. Es ist, als ob Lukäcs das ganze Problem der künstlerischen Vermittlung ignorierte - die komplizierten Wege, auf denen von unterschiedlichen Menschen Kunstwerke aufgenommen, interpretiert und genutzt werden. Wenn ein Kunstwerk der menschlichen Rasse helfen soll, sich zu suchen und zu finden, dann muß nach Lukäcs der Prozeß des Suchens und Findens in dem Werk gegenwärtig und sichtbar sein. Lukäcs scheint nie auf den Gedanken zu kommen, daß ein Werk, * György Lukäcs: Art and Society. In: The New Hungarian Quarterly 13 (1972), S. 47, 53. ** Ebenda, S. 54. *** Ebenda, S. 54.

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das nur das Suchen zeigt, den Leser dazu anregen könnte, das Finden selbst zu bewältigen. Soweit es unsere Erörterung der Charaktere angeht, scheint Lukäcs darauf zu bestehen, der Roman müsse in seiner Charakterzeichnung die menschlichen Spaltungen und Widersprüche zeigen, anstatt diese Spaltungen und Widersprüche frei heraus darzustellen und nur die Notwendigkeit durchblicken zu lassen, sie zu überwinden. Vor langer Zeit wies schon Engels darauf hin, daß sozialistische Schriftsteller nicht vergessen dürften, für wen sie "schrieben, und machte darauf aufmerksam, „unter unsren Verhältnissen" seien die Romane „vorwiegend an Leser aus bürgerlichen . . . Kreisen" gerichtet, „und da erfüllt auch der sozialistische Tendenzroman, nach meiner Ansicht, vollständig seinen Beruf, wenn er durch treue Schilderung der wirklichen Verhältnisse die darüber herrschenden konventionellen Illusionen zerreißt, den Optimismus der bürgerlichen Welt erschüttert, den Zweifel an der ewigen Gültigkeit des Bestehenden unvermeidlich macht, auch ohne selbst direkt eine Lösung zu bieten, ja unter Umständen ohne selbst Partei ostensibel zu ergreifen."* Engels verstand sicherlich die Frage, die von einem zeitgenössischen Lukäcs-Kritiker** erneut aufgeworfen wurde, daß nämlich der Roman nur ein Teil und oft nur ein kleiner - der Kräfte ist, die das Bewußtsein eines individuellen Lesers verändern können, und daß der einzelne Roman nicht dafür Verantwortung trägt, auf seinen Seiten die gesamte Wirklichkeit darzustellen und alle Antworten zu geben. In bezug auf die Charakterzeichnung geht Engels ebenfalls davon aus, daß die historische Veränderung der Menschen (eine Veränderung, die von Lukäcs' Bezeichnung „die menschliche Rasse" vielleicht manchmal zugedeckt wird) dazu führt, daß auch die Charakterisierung verändert werden muß. In seinem Brief an Ferdinand Lassalle über dessen Schauspiel Franz von Sickingen bemerkte Engels: „Die Charakteristik der A l t e n reicht heutzutage nicht mehr aus, und hier, meine ich, hätten Sie der Bedeutung Shakespeares für die Entwicklungsgeschichte des Dramas wohl unbeschadet ein wenig mehr Rechnung tragen können."* Hochinteressanterweise bemerkte * Friedrich Engels: Brief an Minna Kautsky, London, 2 6 . 1 1 . 1 8 8 5 .

In:

M E W 1979, 36, S. 394. * * John O. Thompsen: Up aporia creek. I n : Screen Education 31

(1979),

Sum., S. 29. * * * Friedrich Engels: Brief an Ferdinand Lassalle, Manchester, 1 8 . 5 . 1 8 5 9 . I n : M E W 1978, Bd. 29, S. 602.

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Marx, als er ebenfalls wegen dieses Schauspiels an Lasalle schrieb, er vermisse „das Charakteristische in den Charakteren"; er vertrat die Auffassung, sie würden in „bloße Sprachröhren" verwandelt und wären „viel zu abstrakt gezeichnet".* Man muß befürchten, er hätte denselben Eindruck gehabt, hätte er Lukäcs' Bemerkungen über den ästhetischen Typ lesen können. Ich möchte am Schluß zu Überlegungen zur Charakterzeichnung in modernistischen Romanen zurückkehren. Mein Argument ist, daß sie oft Aspekte der Entwicklung der menschlichen Individualität in unserer Gesellschaft beleuchtet (da sie sie auf komplizierte Weise reflektiert). Als Ausgangspunkt sei die folgende Beschreibung genommen, die Harley C. Shands von einem typischen psychosomatischen Patienten seiner Praxis gibt: „Er mag hochintelligent und intellektuell gebildet sein, doch gleichzeitig einen starken Defekt seiner emotionalen Funktion aufweisen. Er scheint buchstäblich nichts zu wissen über seine Gefühle, und er weiß so 'bewußt' kaum etwas über seine Beziehungen selbst zu seinen nächsten Verwandten. In einem früheren Artikel habe ich vermutet, daß der Verlust naher Verwandter oft für das plötzliche Auftreten psychosomatischer Störungen verantwortlich ist. Dem kann jetzt die Vermutung hinzugefügt werden, daß diese Verluste deswegen bedeutsam sind, weil sich ihre emotionalen Auswirkungen nicht in Rechnung stellen lassen."** Shands nimmt an, daß es solchen Individuen nicht gelungen ist, ein beständiges inneres Selbst aufzubauen, daß sie sich infolgedessen allein durch äußere Faktoren bestimmen ließen. Wenn sich diese Faktoren ändern, verliert das Individuum sein Selbst, wird es „selbstlos". Ich möchte meinen, eine solche Erfahrung ist besonders typisch für eine moderne Krise in der Behauptung ständiger Ichbezogenheit; man kann sie mit den widersprüchlichen Werten erklären, die das Individuum in unserer Gesellschaft verinnerlichen muß, um sein Selbst zu bilden. Man denke an Meursault in Camus' L'Etranger und Septimus Smith in Virginia Woolfs Mrs. Dalloway. In beiden Fällen führt der Verlust eines geliebten Menschen (Meursaults Mutter, Smiths Freund * Karl Marx: Brief an Ferdinand Lassalle, London, 1 9 . 4 . 1 8 5 9 . In: MEW 1978, Bd. 29, S. 592. ** Harley C. Shands: Verbal Patterns and Medical Disease. Prophylactic Implications of Learning. In: T. A.' Sebeok (Hg.): Sight, Sound and Sense, Blomington - London 1978, S. 177.

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Evans) zum Ausbruch einer Krise. Sie haben beide den Eindruck, sie können das nicht länger ertragen, was Shands die „emotionalen Auswirkungen" jener Todesfälle nennt, und sie können sie eindeutig nicht einordnen. In Meursaults Fall möchte ich sagen, wir haben einen „eingebetteten" Menschen in einer Gesellschaft vor uns, in der nichts beständig und zusammenhängend genug ist, um sich darin einzubetten. Seine Gesellschaft ist in doppelter Weise gespalten: Er lebt im arabischen Teil einer algerischen Stadt in der Zeit der französischen Kolonialherrschaft. Sein ganzes Engagement beschränkt sich auf k o n k r e t e Erfahrungen: Schwimmen, Essen, Lieben. Doch diese Erfahrungen können ihm nicht die Kenntnis der Welt vermitteln, die er braucht, um in ihr zu überleben. Sein Eingebettetsein nimmt die Form der Leere gegenüber allem an, was ohne körperliche Empfindung ist: „Ich antworte, daß ich mich nicht mehr viel beobachte und ihm deswegen kaum Auskunft geben könne. Natürlich mochte ich Mama sehr gern, aber das besagte ja nichts."* Sein Verständnis für abstrakte Begriffe wie „Schuld" ist rein mechanisch, aus zweiter Hand durch die Übernahme gesellschaftlich verbreiteter Haltungen anstatt durch das Berufen auf ein beständiges System verinnerlichter Werte gewonnen. „Da fühle ich, daß es wie Empörung durch den Saal ging, und ich begriff zum ersten Mal, daß ich schuldig war."** Wie Rhoda in Virginia Woolfs The Waves (Die Wellen) - eine andere klassische „selbst-lose" Gestalt - muß er in Situationen, in denen die Äußerung von Gefühlen erforderlich ist, „sich erst umschauen und sehen, was andere Leute tun". Im Gefängnis entdeckt Meursault ein Stück Zeitung, das die Geschichte von der Ermordung eines böhmischen Dorfbewohners enthält. Mord fasziniert Camus anscheinend genauso, wie er Dostojewski fasziniert hat, denn er dient als ein enthüllendes, objektives Korrelativ für einen ganzen Satz anfänglich destruktiver Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer einzelnen Gesellschaft. „Ein Mann hatte sein tschechisches Dorf verlassen, um sein Glück zu machen. Nach fünfundzwanzig Jahren war er als reicher Mann mit Frau und Kind zurückgekommen. Seine Mutter betrieb mit seiner Schwester in seinem Heimatdorf einen Gasthof. Um sie zu überra* Albert Camus: Der Fremde. Düsseldorf 1960, S. 73. ** Ebenda, S. 101.

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sehen, hatte er Frau und Kind in einem anderen Gasthof untergebracht und war zu seiner Mutter gegangen, die ihn nicht erkannte. Aus Jux verfiel er auf den Gedanken, in dem Gasthaus ein Zimmer zu mieten. E r hatte sein Geld gezeigt. In der Nacht hatten Mutter und Schwester ihn mit Hammerschlägen ermordet, um ihn auszurauben, und hatten die Leiche in den Fluß geworfen. Am Morgen war die Frau gekommen und hatte ganx ohne Absicht verraten, wer der Reisende war. Die Mutter hatte sich erhängt. Die Schwester hatte sich in einen Brunnen gestürzt. Ich las diese Geschichte wohl tausendmal. Einerseits war sie unwahrscheinlich, andererseits aber ganz natürlich."* Die Vorstellung von einer Mutter, die ihren Sohn umbringt, ist von spezieller Kraft im Kontext des Romans L'Etranger, in dem Meursaults sozialer Zusammenbruch - ähnlich wie bei vielen von Shands' Patienten - durch den Tod seiner Mutter hervorgerufen wurde. Doch die Geschichte gibt uns auch einen Hinweis, warum Meursault kein „herausgelöster" Mensch werden kann, warum er nicht in der Lage ist, seine Welt erfolgreich in Begriffe zu fassen und ein abstraktes Verständnis mit einem System bestätigender konkret-sinnlicher Erfahrungen zu verbinden. Wie bei dem böhmischen Dorfbewohner wird seine Welt durch einander widersprechende Elemente rätselhaft, durch Elemente, die nicht ordentlich zusammengebracht werden können. Lukács behauptet von dem Werk der führenden modernistischen Romanciers, daß es ein Bild des Menschen bietet, wonach „diese (die anderen Individuen gegenüber dem einzelnen - K.-H. M.) . . . ihrem Wesen nach letztlich ebenso einsam, (sind, sie) existieren ebenso in ihrer Unabhängigkeit von menschlichen Beziehungen, rein auf sich gestellt."** Ohne Mühe ist einzusehen, daß ein Roman wie L'Etranger dafür benutzt werden kann, solch eine Auffassung zu unterschreiben. Und doch ist das in bezug auf diesen Roman von der ganzen Wahrheit weit entfernt. Meursault ist einsam, er ist in mancher Hinsicht asozial, und er ist zur Aufnahme von Beziehungen zu anderen Menschen unfähig. Doch gibt es genug Beweise in dem Roman, daß das nicht „seiner Natur" entspricht, daß sich vielmehr seine ganze Natur gegen dieses Leben auflehnt. Der Roman zeigt dem mitfühlenden * Albert Camus: Der Fremde. Düsseldorf 1960, S. 89-90. ** Georg Lukács: Die Gegenwartsbewegung des kritischen Realismus. GLW, Bd. 4, S. 470. 17

Southall/Magister

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In:

Leser einen Mann, der g e g e n s e i n e N a t u r g e z w u n g e n wird, einsam und asozial zu sein. Oder man denke an Kafkas „K", eine Gestalt, die unaufhörlich v e r s u c h t , aus ihrer immer verzweifelter werdenden Isolierung auszubrechen. Es ist wahr, daß uns Kafka keinen deutlichen Hinweis auf den möglichen Fluchtweg gibt. Doch wie die größten modernistischen Schriftsteller bezeugt er das menschliche Bedürfnis, nach ihm zu suchen. Diese Bestätigung der menschlichen Solidarität in einer Welt, in der die sozialen Widersprüche bis unmittelbar in das Zentrum des inneren Selbsts der Menschen vorgedrungen ist, mag manchen Lesern mehr wert sein als sogenannte bewußte oder „positive" Helden. In ihren besten Stücken ermöglicht ups die modernistische Charakterdarstellung, in der Kunst Dinge zu sehen, die uns die Gewohnheit im Leben verbirgt. Insbesondere kann sie uns daran erinnern, daß die Spaltungen in unserer Gesellschaft nicht nur „dort draußen" sind, sondern daß viele von ihnen den Weg nach „hier drinnen", direkt in das Wesen menschlicher Subjektivität gefunden haben. Wir können von dem Schriftsteller nicht erwarten, daß er unsere Verdrängung dieser Probleme früher als ihre allgemeine Anerkennung darstellt, und wenn solche Schriftsteller wie Kafka oder Camus sonst nichts weiter täten, so erfüllen sie doch die altehrwürdige künstlerische Aufgabe, der Natur einen Spiegel vorzuhalten. Wenn wir das nicht mögen, was wir sehen, so kann sich das gut als der erste Schritt erweisen, das zu verändern, was da zu spiegeln ist. Über Shaw schreibend, bemerkte Arnold Kettle: „Eine sehr hilfreiche Form, einen großen Teil der 'modernistischen' Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts zu betrachten, besteht meiner Meinung nach darin, ihre Rolle beim Durchbohren oder Unterminieren jener A r t von Ernsthaftigkeit anzuerkennen, jener Art von Bewußtsein und damit jener Art von Kunst, die die kapitalistische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts immer hervorzubringen und zu fördern versuchte."* Meiner Meinung nach ist einer der entscheidendsten dieser Mythen der von der inneren Beständigkeit des „freien" Individuums, die Auffassung: wie verwirrt und gespalten die äußere Welt auch sein mag, würden die Menschen doch „hell" geboren, mit einem System geschlossener innerer Werte, auf die man sich berufen kann. Romane wie L'Etranger oder Das Schloß (1921/22) mögen uns * Arnold Kettle: Bernard Shaw and the New Spirit. In: diesem Band, vgl. S. 223.

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kein Bild von einer besseren Welt geben, ja nicht einmal den Weg zeigen, wie eine solche bessere Welt zu erreichen ist. Doch wenn man sie mit Anteilnahme liest, können sie jene Art von Bewußtsein unterminieren, die von der kapitalistischen Gesellschaft geschaffen und gefördert wurde. Insbesondere durch die Entwicklung eines neuen Typs der literarischen Gestalt werfen sie Fragen zu der Beziehung auf, die zwischen unserem inneren Selbst und der Gesellschaft bestehen, in der wir leben.

11 ARTHUR LESLIE MORTON

David Herbert Lawrence — „ Söbne und Liebhaber" Man kann darüber geteilter Meinung sein, ob Sons and Lovers (1913; Söbne und Liebhaber) Lawrence' größter Roman war - es gibt Leser, die The Rainbow (1915; Der Regenbogen) oder Women in Love (1920; Liebende Frauen) vorziehen würden - aber ich glaube, nur wenige Leute werden bestreiten, daß man gerade in jenem Roman das Außergewöhnliche des Genies und der Persönlichkeit des Verfassers am stärksten spürt. Dies war der erste Roman, in dem er zu seiner ganzen Kraft fand und sie benutzte, um, so gut er nur konnte, die Wahrheit über sich selbst und seine Welt zu erzählen. Er ist - auf jeden Fall in den Anfangskapiteln - völlig autobiographisch. Paul Morel ist Lawrence. Pauls Vater und Mutter sind seine eigenen Eltern, der Schauplatz ist das Bergmannsdorf Eastwood in Nottinghamshire, in dem er geboren wurde und aufwuchs. Jedoch im Gegensatz zu so vielen autobiographischen Romanen junger Männer ist es fein ausgereiftes Kunstwerk. „Es ist von guter Form", behauptete er in einem Brief an Edward Garnett. Und das ist tatsächlich etwas, was man über seine späteren Bücher nicht immer sagen kann. Sein Essay über Lawrence in den Studies in a Dying Culture (1938; Studien zu einer sterbenden Kultur) nannte Christopher Caudwell „Eine Studie über den bürgerlichen Künstler". Dieser Essay ist in vieler Hinsicht eine scharfsinnige und aufschlußreiche Einschätzung, aber jene Formulierung ist nicht die ganze Wahrheit über Lawrence, nicht einmal ihr wichtigster Teil. Man käme der Sache weit näher, 17*

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kein Bild von einer besseren Welt geben, ja nicht einmal den Weg zeigen, wie eine solche bessere Welt zu erreichen ist. Doch wenn man sie mit Anteilnahme liest, können sie jene Art von Bewußtsein unterminieren, die von der kapitalistischen Gesellschaft geschaffen und gefördert wurde. Insbesondere durch die Entwicklung eines neuen Typs der literarischen Gestalt werfen sie Fragen zu der Beziehung auf, die zwischen unserem inneren Selbst und der Gesellschaft bestehen, in der wir leben.

11 ARTHUR LESLIE MORTON

David Herbert Lawrence — „ Söbne und Liebhaber" Man kann darüber geteilter Meinung sein, ob Sons and Lovers (1913; Söbne und Liebhaber) Lawrence' größter Roman war - es gibt Leser, die The Rainbow (1915; Der Regenbogen) oder Women in Love (1920; Liebende Frauen) vorziehen würden - aber ich glaube, nur wenige Leute werden bestreiten, daß man gerade in jenem Roman das Außergewöhnliche des Genies und der Persönlichkeit des Verfassers am stärksten spürt. Dies war der erste Roman, in dem er zu seiner ganzen Kraft fand und sie benutzte, um, so gut er nur konnte, die Wahrheit über sich selbst und seine Welt zu erzählen. Er ist - auf jeden Fall in den Anfangskapiteln - völlig autobiographisch. Paul Morel ist Lawrence. Pauls Vater und Mutter sind seine eigenen Eltern, der Schauplatz ist das Bergmannsdorf Eastwood in Nottinghamshire, in dem er geboren wurde und aufwuchs. Jedoch im Gegensatz zu so vielen autobiographischen Romanen junger Männer ist es fein ausgereiftes Kunstwerk. „Es ist von guter Form", behauptete er in einem Brief an Edward Garnett. Und das ist tatsächlich etwas, was man über seine späteren Bücher nicht immer sagen kann. Sein Essay über Lawrence in den Studies in a Dying Culture (1938; Studien zu einer sterbenden Kultur) nannte Christopher Caudwell „Eine Studie über den bürgerlichen Künstler". Dieser Essay ist in vieler Hinsicht eine scharfsinnige und aufschlußreiche Einschätzung, aber jene Formulierung ist nicht die ganze Wahrheit über Lawrence, nicht einmal ihr wichtigster Teil. Man käme der Sache weit näher, 17*

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wenn man davon spräche, daß er ein Künstler war, in dem das Bürgerliche und das Proletarische einen nie entschiedenen und letztlich selbstzerstörerischen Kampf miteinander führten. Dieser Kampf prägte den ganzen Lauf seines Lebens. In Sons and Lovers können wir die Ursachen und das Wesen dieses Kampfes erkennen. Das Kohlegebiet von Nottingham war eines der letzten, die erschlossen wurden. Wie Lawrence am Ende seines Lebens schrieb, „schien es und scheint es immer noch eine außergewöhnlich schöne Landschaft zu sein, genau zwischen dem roten Sandstein und den Eichen von Nottingham einerseits und dem kühlen Kalkstein, den Eschen und den Feldern mit ihren Steinmauern von Derbyshire andererseits. Als Kind und junger Mann war es für mich immer noch das alte England mit den Wäldern und der Landwirtschaft der Vergangenheit: es gab noch keine Autos, und die Bergwerke waren sozusagen nur ein Unglücksfall in der Landschaft; Robin Hood und seine fröhlichen Männer waren nicht sehr weit weg."* In Lawrence' Jugendzeit existierten noch Spuren vorkapitalistischer Beziehungen in dem „Butty"-System, bei dem eine Gruppe von Bergleuten durch einen „Butty" oder Vorarbeiter einen Vertrag über eine bestimmte Arbeit abschloß und kollektiv bezahlt wurde. Lawrence' Vater war solch ein „Butty". Seine Mutter kam aus der unteren Mittelklasse, hatte soziale und intellektuelle Ambitionen und war Lehrerin geworden. Beinahe zufällig lernte sie den stattlichen jungen Bergmann kennen, fühlte sich von ihm romantisch angezogen und heiratete ihn mit geringen (oder gar keinen) Vorstellungen davon, wie das Leben in einem kleinen Bergwerksdorf werden würde. Das Ergebnis waren eine ständig wachsende Verbitterung und Spannungen, in welche die Kinder dieser Ehe unvermeidlich hineingezogen wurden. Lawrence faßte sowohl den Inhalt seines Buches als auch die eigene frühe Geschichte, wie er sie damals sah, in einem interessanten Brief zusammen, den er 1912 schrieb: „Eine Frau von Charakter und gebildetem Wesen steigt in die untere Klasse hinab und findet in ihrem Leben keine Befriedigung. Sie ist ihrem Mann in Leidenschaft zugetan, so daß ihre Kinder aus Leidenschaft geboren werden und eine starke Vitalität zeigen. Als ihre Söhne größer werden, macht sie sie zu ihren Liebhabern - erst den ältesten Sohn, dann den zweiten. * Nottingham and the Mining Countty. In: D. H. Lawrence: Selected Essays. Harmondsworth 1950, S. 114.

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Diese Söhne werden durch die Gegenliebe zu ihrer Mutter ins Leben g e d r ä n g t - immer weiter gedrängt. Doch als sie ins Mannesalter kommen, können sie nicht wirklich lieben, weil ihre Mutter die stärkste Kraft in ihrem Leben ist und sie festhält . . . Sobald die jungen Männer in Kontakt mit Frauen kommen, tritt ein Bruch auf. William wendet seine Sexualität einer Herumtreiberin zu, während seine Mutter seine Seele besitzt; doch der Bruch bringt ihn um, weil er nicht weiß, wo sein Platz ist. Der nächste Sohn findet eine Frau, die um seine Seele kämpft - die gegen seine Mutter kämpft. Der Sohn liebt die Mutter - alle Söhne hassen den Vater und sind auf ihn eifersüchtig. Der Kampf entwickelt sich zwischen der Mutter und dem Mädchen; der Sohn ist dabei das Objekt. Allmählich erweist sich die Mutter als stärker, und zwar durch die Bande des Blutes. Der Sohn entschließt sich, seine Seele in den Händen seiner Mutter zu lassen und sich wie sein älterer Bruder Leidenschaft zu suchen. Er findet auch Leidenschaft. Dann beginnt der Bruch sich wieder bemerkbar zu machen. Fast unbewußt bemerkt die Mutter, worum es sich dreht,- und beginnt zu sterben. Der Sohn verstößt seine Geliebte und kümmert sich um die sterbende Mutter. Am Ende steht er ohne alles da, ziellos dem Tod entgegentreibend."* Diese Zusammenfassung ist deswegen interessant, weil sie zeigt, was Lawrence für den Inhalt seines Buches hielt; das muß nicht notwendigerweise in allen Punkten dem entsprechen, was wir tatsächlich darin finden. Der Autor ist nicht immer der beste Kritiker seines Werkes. Um damit anzufangen, er malt ein unangemessen düsteres Bild. Ohne Zweifel fühlte sich Mrs. Lawrence, die aus anderen Verhältnissen kam, arm. In seinem späteren Leben neigte Lawrence in gewisser Stimmung dazu, herzzerreißende Bilder seiner frühen Entbehrungen zu malen. Doch Armut ist relativ. Wenn auch kein Arbeiter im viktorianischen England im Überfluß lebte, gehörte Mr. Lawrence durch sein Einkommen als „Butty" zu dem, was wir heute die Arbeiteraristokratie nennen würden. Das Haus, in dem sie wohnten, galt als eines der besten des Dorfes, und Mrs. Lawrehce verfügte vermutlich über das doppelte oder dreifache Haushaltsgeld einer zeitgenössischen Landarbeiterfamilie. Das Bild der Lebensumstände, das wir in Sons and Lovers finden - Lawrence schrieb den Roman, als er von seinem frühen Leben noch nicht allzu weit entfernt war - , zeigt auch, daß die Kinder auf ihr Heim und die Möbel stolz waren * The Letters of D. H. Lawrence. Leipzig etc. 1938. Bd. I, S. 139-140.

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und das Gefühl hatten, sie wären eine Stufe besser dran als ihre Nachbarn. Was ihre Kindheit eigentümlich und vielleicht auch ein bißchen weniger glücklich machte als bei ihren Nachbarn sonst üblich, war der Konflikt zwischen ihren Eltern - ein Konflikt, der im Grunde ein Klassengegensatz war. Ich glaube, dies ist der Punkt, an dem wir mit besonderer Aufmerksamkeit untersuchen sollten, was Lawrence uns sagt und was er uns zu sagen glaubte. Mrs. Lawrence hatte gehofft, ihren Mann „zivilisieren" und ihre bürgerlichen Wertvorstellungen vermitteln zu können. Obwohl offensichtlich unpolitisch und, wie uns sein Sohn berichtet, kaum des Lesens und Schreibens mächtig, besaß er eine tief verwurzelte proletarische Einstellung. Sein Leben kreiste um die Grube, die Kneipe und seine Arbeitskollegen. Obwohl sie das nicht zu erkennen vermochte, besaß er tatsächlich eine eigene Kultur, die mit der ihrigen unvereinbar war. Sie nörgelte herum, er reagierte mit Zorn und Gewalt, und es gibt keinen Zweifel, daß sie - wie Mrs. Morel in dem Roman - ihre Kinder lehrte, den Vater zu hassen und zu verachten : „Alle Kinder, besonders aber Paul, nahmen Partei für die Mutter gegen den Vater. Morel tobte und trank weiter. E r hatte seine Zeiten, manchmal dauerten sie Monate, in denen er der ganzen Familie das Leben zur Hölle machte . . . Er wurde von allen Familienangelegenheiten ausgeschlossen. Niemand erzählte ihm etwas. Waren die Kinder mit der Mutter allein, erzählten sie ihr alles, was sich den Tag über ereignet hatte, alles. Alles wurde für sie erst Wirklichkeit, wenn die Mutter darum wußte. Kaum trat der Vater ins Zimmer, hörte alles auf . . . " (S & L, 83, 89.) Von außen betrachtet stellte sich Lawrence in dem Familienkonflikt auf die Seite der Mutter, und zwar in einem solchen Maße, daß er eine geradezu besessene Bindung an sie entwickelte, die ihn für den Rest seines Lebens zum psychischen Krüppel machte. Es gibt in Sons and Lovers einige Szenen zwischen Paul und seiner Mutter, die recht Peinliches an sich haben, aber, es muß als Zeichen von Lawrence' Integrität hinzugefügt werden, daß er sicher wußte, daß sie peinlich waren, und daß er das in voller Absicht so geschrieben hat. Doch ist das nicht die ganze Geschichte; wenn es so wäre, hätte Lawrence als Schriftsteller auch nicht die Bedeutung, die ihm tatsächlich zukommt. Selbst in Sons and Lovers, geschrieben nicht lange nach dem lähmenden Schock, den Lawrence durch den - in Kapitel XIV so be262

wegend beschriebenen - Tod seiner Mutter erlitt, drängt sich noch ein anderer Aspekt auf. Der Vater ist nicht n u r ein betrunkenes Scheusal, und wenn man zwischen den Zeilen liest, beginnt man zu verstehen, daß möglicherweise er durch diese unglückliche Heirat am meisten benachteiligt worden war. Vom Verstand her ergreift Lawrence zwar die Partei seiner Mutter; auf einer anderen Ebene - wie zum Beispiel in den schönen Schilderungen, wie die Kinder ihrem Vater helfen, Zündschnüre zu machen oder Stiefel zu flicken - zeigt er jedoch durchaus Sympathie und Respekt für seinen Vater und für dessen Art zu leben: Die Kinder „verbanden sich mit ihm in der Arbeit, in der augenblicklichen Tätigkeit, wenn er wieder er selbst war. Er war ein guter Arbeiter, war geschickt, und wenn er guter Laune war, sang er immer. Er hatte ganze Perioden - Monate, fast Jahre - der Reizbarkeit und schlechten Laune. Dann war er manchmal wieder lustig. Es sah hübsch aus, wenn er mit einem Stück rotglühenden Eisens in die Spülküche lief und rief: 'Platz da, Platz da!'" ( S & L , 90.) Der Konflikt, unter dem Lawrence steht, spielt sich nicht zwischen seinem Vater und seiner Mutter als Individuen ab, sondern zwischen zwei einander radikal entgegengesetzten Lebensweisen, zwischen denen kein Übereinkommen zu erreichen war; und diesem Konflikt konnte er sich nie entziehen oder ihn lösen. Meiner Überzeugung nach war dies das wesentliche Charakteristikum seiner Natur, das den ganzen Gang seines Lebens bestimmte. Er konnte niemals endgültig entscheiden, wohin er wirklich gehörte, doch versuchte er verzweifelt, das herauszufinden. Manches spricht dafür, daß er, als er älter wurde, zu verstehen begann, was sein Vater für ihn bedeutete. Etwa zehn Jahre nach Sons and Lovers „postierte" er sich in einem wirklich bemerkenswertem Gedicht: „Mein Vater war ein Arbeiter, ein Bergmann ganz und gar, der morgens einfuhr in den Schacht, bis abends unten war. Die Mutter war die Höhere, Gemeines tat sie nie, sie strebte nach der Vornehmheit der feinen Bourgeoisie. Wir Kinder standen schweigend da, wir wußten nicht recht, wie; zu Hause sagten wir schlicht 'du', doch in der Welt stets 'Sie'. Die Mutter starb, der Vater auch, zurück blieben wir drei; wir kennen noch nicht unsern Platz, zwei Wege steh'n uns frei. 263

Ein braver Bürger bin ich jetzt, hab' alles, was ich brauch'; doch nach dem 'Kumpel eh!' von einst, da sehne ich mich auch. Und sagt man dann noch laut zu mir: 'Los, tritt sie in den A . . . , die Sch.. .kerle, die mit dem Geld' - ich folge diesem Marsch."* Später schreibt er in einem Brief über Hucknall Torkard, „wo Byrons Herz begraben liegt. Als Junge hat mein Vater im Chor von Newstead Abbey gesungen." Die Bedeutsamkeit dieser anscheinend zufälligen Verbindung des Herzens mit seinem Vater wird durch den Rest des Briefes unterstrichen. Es folgt nämlich eine liebevolle Beschreibung der Landschaft, in der Sons and Lovers spielt, und in deren Verlauf wird das Wort H e r z noch einmal wiederholt: „Gehe zur Walker Street - bleibe vor dem dritten Haus stehen und schau nach links auf Crich, geradezu auf Underwood, und nach rechts auf die Bäume des High Park sowie auf Annesley hinüber. In jenem Haus habe ich im Alter von 6 bis 18 Jahren gewohnt, und ich kenne diesen Blick besser als alles andere in der Welt . . . Wenn du den Bach überquert hast, biege nach rechts ab durch das Tor von Felley Mill und gehe den Fußweg nach Annesley weiter. Oder noch besser: biege schon oben am Hügel, noch e h e du zu dem Bach hinabgestiegen bist, nach rechts ab und gehe oben weiter bis zu dem rauhen, verlassenen Grasland - weiter an den AnnesleyHundehütten vorbei, die lange leer stehen - und weiter nach Annesley. Das ist das Land, dem mein Herz gehört. Wenn du von den Hügeln zu dem Wald von Underwood hinüberschaust, siehst du am Rande des Waldes einen winzigen roten Bauernhof. Das war Miriams Hof wo ich den ersten Anstoß empfing zu schreiben. Eines Tages werde ich mit dir dort hingehen."** Und schließlich spricht er in einem seiner letzten Artikel, aus dem ich zu Anfang dieses Essays zitiert habe, von der Solidarität, die das Arbeitsleben unter Tage hervorrief: „Die Leute lebten fast vollständig instinktiv; Männer im Alter meines Vaters konnten nicht wirklich lesen. Und die Grube machte * Selected Poems. Harmondsworth 1978, S. 205. Dieses Gedicht heißt seltsamerweise Red Herring; vielleicht nach der Redensart, die von schwierig einzuordnenden Dingen sagt, sie seien „weder Fisch noch Fleisch, weder Vogel noch ein guter Bückling (red herring)". Die Auslassungen sind von Lawrence selbst. Ein paar Jahre später hätte er vermutlich alles ausgeschrieben. * * The Letters of D. H. Lawrence. Leipzig 1938. Bd. III, S. 149-150.

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die Männer nicht zu Maschinen. Im Gegenteil. Bei dem 'Butty'-System arbeiteten die Männer unter Tage wie in einer intimen Gemeinschaft, sie kannten einander praktisch nackt, auf merkwürdig intime Weise; die Dunkelheit und die unterirdische Entlegenheit der 'Strecke' in der Grube sowie die ständige Gefahr, in der sie sich befanden, förderten einen sehr hoch entwickelten physischen, instinktiven und gefühlsmäßigen Kontakt der Männer untereinander. Dieser Kontakt war fast so eng wie eine Berührung, ganz real und stark." Und im Gegensatz dazu: „Die Frau nörgelte fast unveränderlich über materielle Dinge. Dazu war sie erzogen worden, und darin wurde sie bestärkt. Es war Sache einer Mutter, dafür zu sorgen, daß ihre Söhne 'vorankamen', und es war Sache des Mannes, das dafür benötigte Geld herbeizuschaffen."* Wenn er so von „der Frau" spricht, kommt man kaum umhin zu glauben, daß er in Wirklichkeit „meine Mutter" meint. Dieser Bericht über das Alltagsleben einer Arbeiterfamilie im spätviktorianischen England nimmt etwa das erste - und vielleicht beste - Drittel von Sons and Lovers ein. Ich kenne in dieser Art nichts Besseres in unserer Literatur. Der zweite Teil beschreibt Lawrence' frühen Versuch auf dem Gebiet von Liebe und Sexualität, worüber er später so viel und so unterschiedlich geschrieben hat. Dieser Teil ist nicht weniger autobiographisch als der erste. Miriam war ein wirkliches Mädchen, Jessie Chambers, und glücklicherweise in der Lage, uns ihre eigene Version der Ereignisse zu hinterlassen. In beiden Berichten sehen wir zwei intelligente, eifrige junge Leute, sich entfaltend und wißbegierig. In hohem Maße ergänzt ihr Bericht den von Lawrence. Jessie teilt uns höchst wertvolle Einzelheiten mit über die Bücher, die sie lasen, und die Fragen, die sie miteinander diskutierten. Die Tiefe und der Ernst ihrer gemeinsamen Bestrebungen, sich weiterzubilden, werden dabei sichtbar. Jedoch ist ihre Darstellung der Miriam positiver als die Lawrence', und die Beziehung der beiden jupgen Leute erscheint eher als Partnerschaft, in der Lawrence' Rolle zweifelsohne dominierte, denn als ein Lehrer-Schüler-Verhältnis. Was in beiden Berichten sichtbar wird, und das sagt viel über Lawrence' prinzipielle Ehrlichkeit, sind die Arroganz und das Selbstmitleid, die letztlich der Deckmantel der Frustration waren, die ihre Ursache in seinem Unvermögen hatte, eine voll befriedigende Beziehung zu dem ande* Nottingham and the Mining Country. I n : Selected Essays. Harmondsworth 1950, S. 114.

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reri Geschlecht aufzubauen. Es ist klar, daß dieses Unvermögen weitgehend an der Fixierung auf seine Mutter lag, die sowohl im Leben als auch im Roman entschlossen war, dem Verhältnis ein Ende zu machen. Das letzte Drittel von Sons and ,Lovers - die Ereignisse nach Miriams Niederlage also - befriedigt den Leser am wenigsten, weil ihm jeder angemessene Mittelpunkt fehlt. Clara erscheint als ein klares Beispiel für „Sex im Kopf". Lawrence wurde niemals müde, solche Einstellungen anzuprangern - vielleich weil er sich selbst nie davon freimachen konnte. Doch gibt es darin auch ein paar schöne Dinge - Szenen in der Strumpffabrik, in der Paul arbeitete, und die bizarre, aber überzeugende Episode, in der Paul und Clara beim Kartenspiel sitzen, um Claras Mutter zu zwingen, ins Bett zu gehen und die beiden ungestört zu lassen, damit sie die Nacht miteinander verbringen können. Allerdings wirken diese letzten Kapitel im Vergleich zu den anderen konstruiert, und Lawrence war mit 28 Jahren als Romancier noch nicht erfahren genug, um überzeugend genug zu konstruieren. In Wahrheit lag seine Stärke niemals im Konstruieren, sondern im kreativen Gestalten wirklicher Erfahrungen; sein frühes Leben in Nottinghamshire hatte ihm dafür das beste Material geliefert. „Das ist das Land", und wir können hinzufügen: und das Volk, „dem mein Herz gehört". Je weiter er davon entfernt ist, Besto schwächer scheinen seine Eingebungen zu werden. Nach dem Tod seiner Mutter im Frühjahr 1911 wandte er ihm für immer den Rücken zu, eine aristokratische Deutsche entführend, die beträchtlich älter war als er. Mit ihr stritt er sich in der Folgezeit mehr oder weniger glücklich herum. Das war vielleicht für seine persönlichen Probleme die beste Lösung, die vernünftigerweise zu erhoffen war. Nach einigen unglücklichen Erlebnissen während des ersten Weltkrieges - sowohl Lawrence als auch seine Frau waren unglaublich taktlos - begannen sie eine lange Reihe von Re'isen in immer entferntere Winkel der Erde - nach Italien, Australien, Mexiko. In diesen Jahren starb Lawrence allmählich an einer Tuberkulose, die er nie eingestand und die ihn 1930 endgültig hinwegraffte. Aldous Huxley, der Lawrence weit besser verstand, als man nach der Karikatur als Rampion in Point Counter Point (1928; Kontrapunkt des Lebens) vermuten würde, schrieb über diese Zeit: „Seine Reisen waren gleichzeitig eine Flucht und ein Suchen. Er war auf der Suche nach einer Gesellschaft, mit der er in Kontakt treten 266

konnte; nach einer Welt, in der die Zeiten nicht nur individuellen Interessen galten und bewußtes Wissen noch nicht das Leben pervertiert hatte; ein Suchen - und gleichzeitig eine Flucht vor dem Elend der Gesellschaft, in die er hineingeboren war und für die er sich trotz seines Losgelöstseins als Künstler zutiefst verantwortlich fühlen mußte . . . Sein Suchen war so vergeblich wie seine Flucht wirkungslos. E r konnte weder seinem Heimweh noch seinem Verantwortungsgefühl entfliehen; und er fand niemals eine Gesellschaft, zu der er wirklich gehören konnte. In einer Art Verzweiflung tauchte er noch tiefer in das alles umgebende Geheimnis, in die dunkle Nacht jenes Andersseins, dessen Wesen und Symbol das sexuelle Erlebnis ist."* So sehr sie auch zum Scheitern verurteilt war, hatte doch Lawrence' Flucht den Charakter einer sozialen Tat. Obwohl er kein politischer Mensch im engeren Sinne war, hatte er zu seiner Zeit wie kein anderer die klare Einsicht, daß die kapitalistische Zivilisation eine Situation geschaffen hatte, die immer unerträglicher wurde. E r spürte den Angelhaken, an dem er hing, und wäre von ihm gerne losgekommen - wenn er nur gewußt hätte, wie. Einige seiner angestrebten Fluchtwege waren äußerst merkwürdig, so daß ihm einige linke Kritiker' in den dreißiger Jahren des Faschismus bezichtigten. Ich glaube, sie hatten unrecht. E s stimmt, daß sich einige seiner Ideen in faschistischer Richtung entwickeln lassen, aber er hat niemals irgendeinen spürbaren Schritt in Richtung auf eine solche E n t wicklung unternommen. Und wenn er eine Menge Unsinn über das Denken mit dem Blut und die dunklen Götter des Unbewußten geschrieben hat, dann war das nur eine Reflexion seiner inneren Konfusion und seines Unvermögens, seinen Grundkonflikt auf einer bewußten Ebene zu lösen. D i e einzige Lösung hätte darin bestanden, auf dem Fundament aufzubauen, das von den Werten der Arbeiterklasse gebildet worden war. Unter dem Einfluß seiner Mutter hatte er sich aber von diesen Werten schqn vor langer Zeit losgesagt; jetzt fand er es unmöglich, zu ihnen zurückzukehren, so sehr er es vielleicht auch wünschte. E s gilt für ihn noch mehr als für die meisten Menschen, daß man nicht unbedingt einzelne seiner Äußerungen als Spiegel seiner fest gegründeten Ansichten schlechthin verstehen darf. Sie schwanken nämlich wild hin und her, und jede von ihnen muß in

* D . H. Lawrence: Selected Letters. Einleitung. Harmondsworth 1950, S. 22 bis 23.

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Beziehung zu anderen und ihr vielleicht widersprechenden Äußerungen sowie zu den besonderen Umständen gesehen werden, unter denen sie gemacht wurde. So ist es in gleicher W e i s e unsinnig, L a w rence als eine Art Faschisten zu betrachten, wie auch der Versuch, ihn nach seiner eigenen Wertschätzung und nach der seiner noch unkritischeren Bewunderer als Propheten im Besitz eines E v a n g e liums für die Rettung der Menschheit zu interpretieren. In keiner Hinsicht war er unbeständiger als in seiner Haltung gegenüber dem Sozialismus und der Arbeiterklasse. In einem Augenblick - es war 1 9 2 1 - kann er schreiben: „Wenn ich nur wüßte wie, würde ich mich heute den revolutionären Sozialisten anschließen. Ich glaube, die Zeit ist reif für den wirklichen K a m p f . D a s ist das einzige, was mir wichtig ist: der K a m p f bis zum T o d . Ich interessiere mich nicht für Politik. A b e r ich w e i ß , d a ß es sehr bald eine tödliche Revolution geben m u ß und geben w i r d , und ich würde gerne an ihr teilnehmen, wenn ich nur wüßte wie."* A b e r drei J a h r e später heißt es in einem B r i e f , den er aus M e x i k o schreibt: „ D i e Indianer sind seltsame kleine W i l d e , und schreckliche Agitatoren schütten Brocken von Sozialismus über ihnen aus und verhunzen alles. E s ist wirklich ein ziemliches Chaos. Ich fürchte, eine amerikanische Intervention wird unvermeidlich werden. D u weißt, d a ß der Sozialismus ein Blindgänger ist. E r macht nur einen B r e i aus den Menschen, insbesondere aus W i l d e n . . . U n d der Sozialismus ist hier die Farce aller F a r c e n ; jedoch eine sehr g e f ä h r l i c h e . " * * Vielleicht ist er in einem noch späteren B r i e f näher daran, einen charakteristischen Standpunkt auszudrücken: „ D a s ganze System der D i n g e ist ungerecht und verderbt, und G e l d ist nichts weiter als eine Seuche, die auf der Menschheit lastet. D i e Zeit ist reif für eine g e w a l t i g e Revolution - nicht um Sowjets einzusetzen, sondern um dem Leben selbst eine Chance zu geben. W a s ist der Nutzen eines industriellen Systems, das Müll anhäuft, während niemand leben kann. W i r brauchen eine Revolution - nicht im N a m e n des Geldes oder der Arbeit oder irgendwelcher D i n g e sonst, sondern im Namen des Lebens . . . Ich werde mit jeder Minute revolutionärer, aber um des L e b e n s willen. D e r tote Materialis* The Letters of D. H. Lawrence. Leipzig 1938. Bd. II, S. 311. * * Ebenda, Bd. III, S. 86-87.

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mus des marxistischen Sozialismus und der Sowjets scheint mir nicht besser zu sein als das, was wir haben."* Obwohl er das Elend haßte, das die Industrialisierung hervorgerufen hatte, besaß er von seiner Herkunft aus der Arbeiterklasse noch genug gesunden Menschenverstand, um sich vor der Verdammung der Industrialisierung a l s s o l c h e r zu bewahren. Der positive Charakter seiner Haltung wird durch einen eindrucksvollen und symbolischen Abschnitt in Sons and Lovers veranschaulicht. „Sie kamen in die Nähe des Bergwerks. Ganz ruhig und schwarz stand es inmitten der Kornfelder, und es sah aus, als wüchse seine große Schlackenhalde aus dem Hafer hervor. 'Wie schade, daß hier, wo es doch so schön ist, ein Bergwerk steht!' sagte Clara. 'Findest du?' antwortete er. 'Sieh, ich bin so daran gewöhnt, daß es mir geradezu fehlen würde. Nein; ich mag die Bergwerke hier und da gern. Ich liebe die Reihen der Zechenwagen und die Fördertürme, den Rauch am Tage und die Lichter am Abend. Als ich noch ein Junge war, dachte ich immer, ein Bergwerk mit seinem Rauch und seinen Lichtern und den brennenden Halden wäre eine Wolkensäule bei Tag und eine Feuersäule bei Nacht - und der liebe Gott säße immer oben im Förderschacht." (S & L, S. 433.) In seinem Artikel Nottingham and the Mining Country (Nottingham und das Bergbaugebiet) erklärte er, nicht die Industrialisierung wäre das Verbrechen des Kapitalismus, sondern sein Versagen, Industriestädte zu bauen, die wirkliche Gemeinwesen waren und deren Glanz zu den Konturen der Landschaft paßte, in der sie lagen. Dieses Versagen, so sah er es, lag an der Macht des Geldes. Aber für ihn blieb Geld etwas Abstraktes: Er erkannte und haßte die Ungerechtigkeit, aber niemals erkannte oder analysierte er die Ausbeutung. So blieben alle seine Lösungsvorschläge auf der Ebene messianischer Ermahnungen, und seine besten Absichten schwanden dahin zu einem „Wenn ich nur wüßte wie". Er sehnte sich nach einer klassenlosen Gesellschaft, in der seine eigenen verzweifelten inneren Widersprüche hätten gelöst werden können. Aber da er niemals die Klassenstruktur der Gesellschaft verstand, in der er tatsächlich lebte, konnte er im Sieg des Proletariats weder innerlich noch äußerlich Hoffnung für sie sehen. So nahm er Zuflucht zu einem falschen Gegensatz von Denken und Fühlen, zur Rückkehr in die Primitivität, in die Verherrlichung des * Ebenda, S. 265.

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Blutes gegenüber dem Verstand, zu endlosen Reisen, deren einziges konstantes Merkmal darin lag, der er sich beim Erreichen eines ReiseZieles stets woandershin wünschte. Er zog durch die Welt, um Frieden zu suchen, schleppte aber stets seine Konflikte hinter sich her. Er kam immer mehr dazu, alle Werte bürgerlicher Kultur zu hassen und zu verachten, fand aber keine eigenen, die er an deren Stelle setzen konnte. Als Messias war er absurd, als Symptom unserer Zeit war er sowohl tragisch als auch bedeutsam, als Künstler war er oft großartig, und hier muß seine wirkliche Bedeutung liegen. Die Funktion der Kunst besteht nicht darin - wie er manchmal annahm - , das Denken zu ersetzen oder abzuwerten, sondern darin, das Gefühl als Mittel zur Vertiefung der Erkenntnis zu entwickeln. Das tut er i n d e r P r a x i s auch ständig, und seine Praxis widerspricht oft triumphierend seiner widersinnigen Theorie. Was er anzubieten hat, ist eine neue Weise der Betrachtung und des Fühlens - nachdem wir einen seiner größeren Romane gelesen haben, kann die Welt nie mehr ganz dieselbe sein wie vorher. Sie hat sich verändert, wenn auch nur ein klein wenig, und wir mit ihr. Und immer gibt es eine Unterschicht der Hoffnung. Selbst als ihm die Welt schließlich als Alptraum erschien, glaubte er immer noch, irgendwann würden wir aufwachen und zu leben beginnen. Wenn es irgend etwas gab, woran er beständig glaubte, dann war es das „Prinzip des Lebens". So schrieb er in der dunkelsten Zeit des Weltkrieges in einem Brief an Lady Cynthia Asquith: „Mir ist, als ob das wachsende junge Gras die ganze Artillerie auf der Oberfläche der Erde umwirft; daß der Mensch in seiner bösen Dummheit letztlich gar nichts ist, daß ihn die Blätter einfach umblasen. Das Prinzip des Lebens ist letzten Endes stärker als das Prinzip des Todes, und ich spucke auf Ihr London und Ihre Regierung und Ihre Armeen."* Ich finde solch eine Passage sehr charakteristisch für Lawrence sowohl in seiner Stärke als auch in seiner Schwäche. Das „Prinzip des Lebens" kann eine völlig vage Phrase sein, doch als er Sons and Lovers schrieb, war er seinen Wurzeln noch nahe genug, um Miriam und Haggs Farm, die brennende Halde, die Kohlengruben mit ihrem schwarzen Antlitz und den roten Öffnungen darin, die Kinder der „Bottoms", 91 die an einem Winterabend um einen Later* Ebenda, Bd. II, S. 178.

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nenpfosten herum spielten - um das alles in die Arme zu schließen. Noch hatte er sein Erstgeburtsrecht nicht für ein „Kultur"gericht 92 hergegeben.

12 RAYMOND

WILLIAMS

Der walisische Industrieroman Als George Borrow an einem „trüben und düsteren Nachmittag" im November 1854 auf seinem Wege von Swansea nach Neath „einen Hügel erklommen" hatte, „ . . . bot sich meinen Augen eine außergewöhnliche Szenerie. Etwas nach Süden reckten sich ungeheure Schornsteine in den Himmel, umgeben von verrußten, an die Schlünde der Hölle erinnernden Gebäuden, in deren Nachbarschaft sich riesige Haufen von Schlacke und schwarzem Schutt auftürmten. Wenn es auch Sonntag war, quoll doch der Rauch in Massen aus den Schornsteinen, ringsherum die Luft erstickend. Ungefähr eine viertel Meile in südwestlicher Richtung von diesem Inferno entfernt stand dunkelgrau eine Ruine ungeheurer Größe mit Fensterlöchern, Türmen, Spitzen und Bögen. Zwischen ihr und dem verwünschten Inferng lag ein abscheulicher, schmutziger Zwischenraum, zum Teil Sumpf, zum Teil Tümpel: der Tümpel schwarz wie Ruß, der Sumpf von ekelhaft bleigrauer Farbe. Quer über diese Stätte des Schmutzes erstreckte sich das Gleis einer Grubenbahn, das anscheinend von den abscheulichen Häusern zu der Ruine führte. Eine so seltsame Szene hatte ich in der Natur noch nie gesehen. Hätte sie einen Leinwand-Hintergrund gehabt und noch ein paar höllische Figuren aufgewiesen, die an der Grubenbahn entlanggingen, hätte man glauben können, sie stellte den Höllensabbat dar - Teufel auf ihrem Weg zum Abendgottesdienst, ein Bild des kraftvollen, aber geisteskranken Malers Jerome Bos." 93 Der Maler ist wahrscheinlich der alte Hieronymus Bosch. Borrow wandte sich ihm abermals zu, als er in Merthyr ankam, das . „ . . . eine Reihe bemerkenswerter Baulichkeiten hat, wenn auch von düsterem, scheußlichem, höllischem Wesen. Da ist die Eisenhalle mit ihren Gewölben, von der unablässig das Donnergeräusch der Eisenhäm271

nenpfosten herum spielten - um das alles in die Arme zu schließen. Noch hatte er sein Erstgeburtsrecht nicht für ein „Kultur"gericht 92 hergegeben.

12 RAYMOND

WILLIAMS

Der walisische Industrieroman Als George Borrow an einem „trüben und düsteren Nachmittag" im November 1854 auf seinem Wege von Swansea nach Neath „einen Hügel erklommen" hatte, „ . . . bot sich meinen Augen eine außergewöhnliche Szenerie. Etwas nach Süden reckten sich ungeheure Schornsteine in den Himmel, umgeben von verrußten, an die Schlünde der Hölle erinnernden Gebäuden, in deren Nachbarschaft sich riesige Haufen von Schlacke und schwarzem Schutt auftürmten. Wenn es auch Sonntag war, quoll doch der Rauch in Massen aus den Schornsteinen, ringsherum die Luft erstickend. Ungefähr eine viertel Meile in südwestlicher Richtung von diesem Inferno entfernt stand dunkelgrau eine Ruine ungeheurer Größe mit Fensterlöchern, Türmen, Spitzen und Bögen. Zwischen ihr und dem verwünschten Inferng lag ein abscheulicher, schmutziger Zwischenraum, zum Teil Sumpf, zum Teil Tümpel: der Tümpel schwarz wie Ruß, der Sumpf von ekelhaft bleigrauer Farbe. Quer über diese Stätte des Schmutzes erstreckte sich das Gleis einer Grubenbahn, das anscheinend von den abscheulichen Häusern zu der Ruine führte. Eine so seltsame Szene hatte ich in der Natur noch nie gesehen. Hätte sie einen Leinwand-Hintergrund gehabt und noch ein paar höllische Figuren aufgewiesen, die an der Grubenbahn entlanggingen, hätte man glauben können, sie stellte den Höllensabbat dar - Teufel auf ihrem Weg zum Abendgottesdienst, ein Bild des kraftvollen, aber geisteskranken Malers Jerome Bos." 93 Der Maler ist wahrscheinlich der alte Hieronymus Bosch. Borrow wandte sich ihm abermals zu, als er in Merthyr ankam, das . „ . . . eine Reihe bemerkenswerter Baulichkeiten hat, wenn auch von düsterem, scheußlichem, höllischem Wesen. Da ist die Eisenhalle mit ihren Gewölben, von der unablässig das Donnergeräusch der Eisenhäm271

mer ausgeht. Dann gibt es am Fuß des Berges ein Gebäude, an dessen Seite in halber Höhe ein verwünschter Wald steht und dessen Spitze eine riesige schroffe Felskante darstellt. Es ist wirklich ein wunderbares Gebäude, wie es sich Bos ausgedacht hätte, wenn er den Palast des Teufels hätte malen wollen." 94 So kann man das auch sehen, was wir heute gebildeter die industrielle Entwicklung nennen. Diese bewußte Metapher eines Bildes der Hölle ist eine der Betrachtungsweisen, die zum Industrieroman geführt haben. Sie beschränkte sich nicht auf umherziehende, romantische, literarisch gebildete Männer. Man denke an das, was der Erfinder des Dampfhammers,, James Nasmyth, in seiner von Samuel Smiles herausgegebenen Autobiographie sagt: „Die Black Country ist alles andere als malerisch. Die Erde scheint das Innere nach außen gekehrt zu haben. Ihre Eingeweide sind ringsum verstreut; fast der ganze Boden ist mit Aschehaufen und Bergen von Schlacke bedeckt. Die Kohle, die aus der Erde herausgezogen wurde, leuchtet jetzt auf der Oberfläche. Das Gebiet ist voll von Eisenöfen, Puddelöfen und Öfen für Kohlengruben-Maschinen. Tag und Nacht glüht das Land vor Feuer, und der Rauch der Eisenwerke hängt über ihm. Man hört das Rumpeln und Rasseln der Eisenschmieden und Walzwerke. Schmutzbedeckte Arbeiter mit wilden, weißen Augen bewegen sich zwischen dem glühenden Eisen und den dumpfen Schlägen der Schmiedehämmer. Zwischen den lodernden, rauchigen, lärmenden Werken erblickte ich die Reste dessen, was einst glückliche Bauernhäuser gewesen waren, jetzt zerstört und verlassen. Die Erde unter ihnen war durch den Abbau der Kohle eingesunken, und die Häuser zerfielen in Stücke. Früher einmal waren sie von Baumgruppen eingerahmt, doch nur die dürren Skelette der Bäume waren übriggeblieben, verfallen und leblos. Das Gras war durch die Schwefelsäuredämpfe, die von den Schornsteinen ausgestoßen wurden, verdorrt und abgestorben, und jeder krautartige Gegenstand zeigte ein gespenstisches Grau das Symbol des pflanzlichen Todes in seinem traurigen Licht. Vulkan hatte Ceres vertrieben." 95 Was wir in jedem Fall beobachten können, ist das echte Gefühl eines Schocks über den ungewohnten Anblick einer Industrielandschaft und die Verarbeitung dieses Schocks in überkommenen Bildern: das Panorama der Hölle, wie Bosch es gemalt hat, oder das Ausbrechen des klassischen Vulkans. Im 19. Jahrhundert wird viel in dieser Art geschrieben, aber das alles ist nur ein Schritt auf dem 272

Weg zu einer neuen Art von Roman. Denn innerhalb jenes Panoramas gibt es noch keine Menschen, oder nur Menschen als Figuren, die die Landschaft ausschmücken. Das offensichtliche Chaos, durch ihre Arbeit hervorgerufen, hat sie aus dieser Perspektive heraus getilgt oder sich einverleibt. Die Bewegung auf den Industrieroman zu ist in jener Phase eine Richtung, die beschreibt, wie man in der Hölle lebt; wenn die Unordnung langsam zu einer gewohnten Ordnung wird, fängt sie zu beschreiben an, wie man sich daran gewöhnt, wie man in ihr aufwächst, wie sie einem zur Heimat wird. Doch ist diese volle Bewegung noch nicht da. Die erste Phase des Industrieromans ist ein bestimmter Kristaüisationspunkt in der englischen Kultur von der Mitte der vierziger Jahre bis zur Mitte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, als eine Gruppe von Romanciers, die zur Mittelklasse gehörten und größtenteils nicht selbst in den Industriegebieten lebten, jene ungestüme menschliche Welt zu erforschen begann. Charles Dickens besuchte Preston, und seine erste Reaktion darauf, in Coketown von Hard. Times (1854; Harte Zeiten), ist die panoramaartige Beschreibung: „ . . . eine Stadt aus rotem Backstein oder aus Backstein, der rot gewesen wäre, wenn Rauch und Asche es zugelassen hätten, aber wie die Sache lag, war sie eine Stadt von unnatürlichem Rot und Schwarz, wie das bemalte Gesicht eines Wilden." Bei diesem ersten allgemeinen Blick ist Coketown eine Stadt, „ . . . die ein paar große Straßen [hatte], die sich sehr ähnlich sahen, und viele kleine Straßen, die sich noch mehr glichen . . . " , eine recht genaue Beobachtung, doch dann heißt es weiter: „ . . . war von Menschen bewohnt, die sich ebensosehr glichen." 96 Das ist die äußere, einverleibende Perspektive, die Dickens charakteristischerweise nicht aufrechterhielt, ja keine Minute aufrechtzuerhalten versuchte, sobald er andere Quellen anrührte und seine sehr unterschiedlichen Gestalten - Dickens Gestalten sind einander keineswegs ähnlich - sich bewegen und zueinander Beziehungen aufnehmen ließ. Und der zweite Blick ist der entscheidende Wandel. Nicht allein, daß man kein Teufel ist, weil man in diesem neuen Bild der Hölle ist; daß man nicht zum Automaten wird, weil man ein irdischer Vulkan ist; daß man kein Wilder ist, weil man in dieser wild aussehenden Landschaft lebt. Sondern man ist immer noch ein arbeitender Mensch, nichts als ein arbeitender Mensch. Sicherlich ist jene äußere, repräsentierende und tatsächlich von hohem Klassenbewußtsein getragene Perspektive die Methode anderer Romanciers 18

Southall/Magister

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in dieser Gruppe - die Methode von Benjamin Disraeli in Sybil or The Two Nations (1845; Sybil oder Die beiden Nationen von Charles Kingsley in Alton Locke (1850; Alton Locke), selbst von Dickens unter den Arbeitern in Hard Times. Doch der wirkliche zweite Blick kam von einer Schriftstellerin, die in dieser ihrer Landschaft lebte: von Elizabeth Gaskell, besonders in Mary Barton (1848; Mary Barton) und mehr noch in der aufgegebenen ersten Fassung jenes Romans, John Barton, in der die Krise nicht zu beobachten, sondern zu erfahren war, verinnerlicht; die Welt der industriellen Auseinandersetzung, gesehen vom Standpunkt eines Kämpfers, gleichzeitig „ . . . meines Helden, jener Person, der alle meine Sympathien zuflogen." Unter Druck distanzierte sie sich wieder von jener sich wandelnden Identifizierung; doch blieb das, was sie schrieb, der beste jener frühen englischen Industrieromane: eine Geschichte dieses Wandels jener Menschen, die während des ganzen wilden und dynamischen Laufs der sozialen und ökonomischen Veränderungen individuelle menschliche Wesen waren, immer noch sind und bleiben werden. Alle diese englischen Romanciers aus der Mittelklasse beobachteten die industrielle Landschaft unter dem Druck der industriellen und politischen Krise; insbesondere der Krise des Chartismus. Alle gestalteten, was sie sahen und veranschaulichten mit Bildern und Erzählungen die Beilegung des Konfliktes. Jener Teil ihrer Ideologie ist leicht zu erkennen. Doch in gewissem Umfang gelang es ihnen allen - Elizabeth Gaskell sogar in beachtenswertem Maße - , diese fremde, wilde Welt zu bevölkern; das, was ihnen gelang, war der entscheidende Übergang vom Industriepanorama zum Industrieroman. Es war ein bemerkenswerter Kristallisationspunkt, aber es war auch bemerkenswert, daß diese Situation nicht von Dauer war. Als die soziale Krise ihr Ende fand, als sie neue Formen annahm, folgten ihr auch andere literarische Formen. Es gibt ein kurzes, verändertes Beispiel aus den sechziger Jahren in George Eliots Felix Holt (1866; Felix Holt), geformt durch die Krise des Kampfes um das Wahlrecht. Es gibt in den achtziger Jahren eine spezifische neue Form in George Gissings Romanen The Nether World (1889; Die Welt dort unten) und Demos (1892; Demos)-, doch diese sind, wie es in der Cockney School der neunziger Jahre noch eindeutiger der Fall sein wird, in erster Linie Romane der Krise der Stadt - natürlich der Industriestadt, zu der London East End geworden war; 274

doch auch jenes East Ends, das im Gegensatz zum West End stand, eines Gebietes der Dunkelheit - des „dunkelsten Londons" - , zwar geographisch benachbart, doch sozial in einer anderen Welt als der der luxuriösen und mächtigen Hauptstadt des Imperiums. Diese Romane treffen wieder mit einer Periode der offenen Krise zusammen: mit den neuen Klassenkämpfen des Londoner East Ends. Es gibt auch eine neue Ideologie: nicht mehr die der Versöhnung, nicht allein die der zerstörten Hoffnungslosigkeit; vielmehr eine bittere Distanzierung sozusagen zwischen Ost und West, und insbesondere bis Gissing eine Distanzierung zwischen dem Leben der arbeitenden Menschen und den Werten der Literatur: eine Distanz, die dann in dem beherrschenden Bruch in der englischen Literatur zu einer institutionellen Größe wurde. Lawrence mußte natürlich noch kommen, aber wir können manche seiner Schwierigkeiten als Teil seiner Entwicklung verstehen, wenn wir an Katherine Mansfields charakteristische Bemerkung über eines seiner Stücke denken, daß es „ s c h w a r z vor Bergleuten" gewesen sei. Schwarz vor Bergleuten waren inzwischen die Täler von Südwales. Dort sollte sich tatsächlich ein neuer Kristallisationspunkt für den Industrieroman, für seine neue Form ergeben. Doch wenn wir von unserem historischen Wissen ausgehen, müssen wir - zumindest auf den ersten Blick - sagen, daß der walisische Industrieroman überraschend spät auftritt. Diesen späten Zeitpunkt sowie die Bedeutung seines Entstehens müssen wir jetzt zu verstehen versuchen. In manchen Bereichen, insbesondere in der Eisenerzeugung und im Bergbau, begann die industrielle Revolution in Wales fast genauso früh wie in England. In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren in Wales drei von fünf Arbeitern in Berufen tätig, die mit der Landwirtschaft nichts zu tun hatten. Jeder dritte arbeitete in Bergwerken, Steinbrüchen oder Industriebetrieben. Doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es dann einen weiteren Wandel: die intensive Entwicklung von Tälern wie die des Rhondda durch die unabhängigen Kohle-Unternehmungen, das rapide Wachstum Cardiffs als Kohlenhafen. Doch immer noch, fast das gesamte 19. Jahrhundert hindurch, ließen die walisischen Industrieromane auf sich warten. Vielleicht gibt es dafür einen ganz allgemeinen Grund, der sich auch auf England beziehen würde. Sieht man näher hin, so standen die Verfasser des englischen Industrieromans stärker mit jenen Gebieten in Verbindung, in denen die Textilindustrie mit ihren neuen Fabriken zu finden war, oder - wie bei Kingsley - mit den „Schweiß18*

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pressen" von London. In der nächsten Generation steht George Eliot vor allem zu Handwerkern im Kontakt. Obwohl sie - wie in Felix Holt - auch ein Bergwerksgebiet kennt, von dem sie eindeutig phantasiereich (und vielleicht auch anders) erregt wird. Es mag hier komplizierte Besonderheiten im Leben und in der Gemeinschaft der Arbeiterklasse geben, die für solche Art beobachtender Literatur zugänglich ist. Es ist vielleicht von Bedeutung, daß der erste englische Roman, der aus der Arbeiterklasse selbst kam - Robert Tressells The Ragged-Trousered Philantbropists (1914; Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen) - , im kleinen provinziellen Bauwesen spielt: eine soziale Einordnung, die wichtigen Einfluß auf seinen Stil hat - die kleine, weitgehend unorganisierte Gruppe im Unterschied zu den größeren Kollektiven der Großindustrie. So geschieht es selbst im Englischen - erst im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mit Lawrence, daß sich die Literatur wirklich mit jener Art von Industrie und Gemeinwesen beschäftigt, wie sie für Wales besonders wichtig sind. In diesem Sinne, bezogen auf dieses Genre, gab es also vielleicht keine speziell walisische Verzögerung. Dennoch gibt es, glaube ich, einen erkennbar walisischen Grund für solche Verzögerungen. Dies hat - über alles andere hinaus - etwas mit den zentralen Problemen der Sprache und der literarischen Tradition zu tun. Sie sind sehr schwer zu analysieren, aber man braucht sich nur zu einem beliebigen Zeitpunkt im 19. Jahrhundert die englischsprachigen und walisischsprachigen literarischen Traditionen anzuschauen, um zu sehen, einen wieviel zentraleren Platz die Tradition der Prosaliteratur in England einnahm. Es war außerdem gerade in diesem Jahrhundert und in enger Verbindung mit den sozialen und ökonomischen Folgen der Industrialisierung, daß sich innerhalb des Landes die Beziehungen zwischen Walisisch und Englisch entscheidend veränderten. Es ist schwierig, eine sichere Aussage zu treffen, aber man könnte die Hypothese riskieren, daß das Leben der walisischen Industrie-Arbeiterklasse für die neue Art von Literatur weitgehend unzugänglich war wegen ihrer Besonderheiten als Gemeinschaft (die ebenfalls dem Englischen unzugänglich waren), wegen des weitgehenden Fehlens motivierter und fähiger Beobachter aus der Mittelklasse, und vielleicht vorwiegend wegen des Problems zweier Sprachen und der Tatsache, daß die angemessene realistische Form im Walisischen weitgehend unbekannt war. Das können die Ursachen für die Verzögerung sein; doch es sind im 20. Jahrhundert zugleich Ursachen für den speziellen Charakter 276

der walisischen Industrieromane, als sie schließlich erscheinen, Denn im Gegensatz zu den englischen Beispielen äes 19. Jahrhunderts sind es dann Romane, die i n n e r h a l b der industriellen Gemeinschaft, aus ihr heraus geschrieben worden sind; sie sind Arbeiterromane in dem neuen und präzisen Sinn des 20. Jahrhunderts. Trotz aller ihrer Probleme - und wir werden sehen, daß es derer viele gibt - stellen sie daher bei ihrem Erscheinen einen bestimmten und besonderen Beitrag dar. Das entscheidende Jahrzehnt waren die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts, doch ist es erforderlich, ein paar frühere Einzelbeispiele aufzugreifen. Auf walisisch gibt es Arthur Llwyd von John Thomas (1879), wozu ein Bericht von der Eröffnung eines Bergwerkes auf Bauernland gehört, doch ist dies in Wirklichkeit eine Szene im Rahmen eines anderen Typs von Literatur: eines TemperenzlerRomans. T. Gwynn Jones' Gwilym Bevan (1900) beschreibt das Lesben eines Steinbruch-Arbeiters. In der englischsprachigen Literatur gibt es eine einzelne wichtige Erscheinung, oder genaugenommen eine Vor-Erscheinung. Sie ist 1871 anzusetzen - in dem, was der Verfasser „das bezaubernd idyllische Dorf" Mountain Ash nennt. Joseph Keating war der Sohn eines eingewanderten irischen Katholiken und wuchs in der katholischen Siedlung The Barracks auf, gerade in den Jahren, in denen die Bergwerke gegründet wurden. E r war sich des Unterschieds seiner Familie zu den Einwanderern in Newtown, die aus der West Country stammten, und natürlich zu den einheimischen Walisern sehr deutlich bewußt. Er fuhr im Alter von zwölf Jahren zum ersten Mal in das Bergwerk ein und arbeitete dort, bis er sechzehn war. Dann ging er fort zur Arbeit im Büro und schließlich als Journalist bei der Western Mail in Cardiff und dann nach London. Er schrieb seit dem Ende der neunziger Jahre Romane - unter anderem Gwen Lloyd, Maurice and Son of Judith (Sohn von Judith) - und veröffentlichte 1916 eine interessante Autobiographie, My Struggle for Life (Mein Kampf um das Leben). Keating - er wollte, daß man seinen Namen ausspräche, als würde er Kating geschrieben - ist als kulturgeschichtliches Beispiel in weit umfassenderem Sinn bedeutsam. Vom Anfang der Herausbildung der industriellen Arbeiterklasse an - ja schon früher, bereits unter ländlichen Arbeitern, Handwerkern und Schäfern - gab es immer Einzelgestalten mit dem Drang und der Fähigkeit zu schreiben, aber ihr typisches Problem war das Verhältnis ihrer Bestrebungen und Erfahrungen zu den herrschenden literarischen Formen, die von

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einer anderen, der herrschenden, Klasse geprägt worden waren. Innerhalb einer weitgehend einheitlichen religiösen Kultur waren diese Schwierigkeiten nicht so gewaltig; die Formen des Zeugnisses, des Bekenntnisses und des Lobpreises waren allgemeiner zugänglich. Doch innerhalb einer Kultur (und insbesondere einer Literatur), in der die zeitgenössische soziale Erfahrung wichtig oder gar zentral geworden war, wie es sich in England nach der bürgerlichen Konsolidierung des 18. Jahrhunderts deutlich zeigte, wurde die Situation des Arbeiterschriftstellers außergewöhnlich schwierig. In der Poesie kann er sich der Unterstützung traditioneller volkstümlicher Formen bedienen, die ja auch tatsächlich einen wichtigen Fundus von Gassenbauern und Arbeitsliedern hervorbrachten. Doch in der Prosa stehen ihm die Autobiographie und der Roman als Formen am nächsten, und bemerkenswerterweise erwies sich für mehrere Generationen die Autobiographie als am leichtesten zugänglich. Diese Schrifsteller waren sich letzten Endes ihrer Klassensituation sehr bewußt; dennoch waren sie zugleich außergewöhnliche Menschen, und es gibt zentrale formale Merkmale der Autobiographie, die dieser Situation entsprechen: das Zusammentreffen der repräsentativen und der außergewöhnlichen Aspekte. Bei den formalen Aspekten des Romans gibt es deswegen eine solche Entsprechung nicht. Die herkömmlichen Fabeln, die wir vorfinden - die Geldheirat und Existenzgründung, die Verwicklungen des Erbes, das exotische Abenteuer, die weltfremde Romanze - , stehen aus offenkundigen Gründen dem Leben der Arbeiterklasse fern. Es ist also kaum überraschend, daß mehrere Generationen lang die kraftvollste Schilderung der Erfahrungen der Arbeiterklasse in Autobiographien zu finden ist. Und diese Situation hielt so lange an, daß man heute noch sagen kann, die inhaltsreichste Schilderung des Lebens in den süd-walisischen Bergwerken findet sich in B. L. Coombes' autobiographischem Werk, insbesondere in These Poor Hattds (Diese armen Hände). Doch gibt es natürlich noch eine andere, auf den ersten Blick einleuchtende Taktik: eine der herrschenden Formen zu übernehmen und jene anderen Erfahrungen von Arbeit und Kampf in sie einzuführen, sie auf sie aufzupfropfen. Es gibt eine beachtliche Geschichte solcher Versuche, doch Keating ist besonders bedeutungsvoll, weil er die damit entstehenden Probleme so bildhaft darstellt. Als Beispiel will ich The Flower of the Dark (Die Blume der Finsternis), 1917 veröffentlicht, nehmen: ein Roman, der unabhängig voneinander verschiedene bemerkenswerte Elemente enthält, doch so, wie er 278

sich zeigt, wie er sich in der Hauptsache darstellt, ganz eigene bedeutsame Schwierigkeiten hat. Das erste Problem besteht darin, über die zweite Seite hinwegzukommen : „Die Berge unter ihren kleinen Füßen hatten sie dadurch zur reichen jungen Frau gemacht, daß die dunkle Arbeit der Kohlengruben, von denen sie die größten Besitzanteile besaß, und die sich unter ihrem Rasen dahinzogen, ihren Reichtum vergrößerte, während sie sich amüsierte oder in edlem Glück schlief. Ob sie nun zehntausend Pfund oder zwanzigtausend Pfund im Jahr hatte, das hatte sie nie herauszukriegen versucht. Bevor sie zur Welt kam, hatte Richard Parry, ihr Vater, ein paar Felder gekauft, von denen er wußte, daß Kohle darunter lag. Ihre Mutter war gestorben, während ihr Vater darum kämpfte, reich zu werden. Mr. Parry war reich geworden. Dann starb er, und die Früchte des goldenen Baums, den er gepflanzt hatte, fielen seiner Tochter in den roten Mund." 97 Das ist ein so hochromantischer Zug, nicht zu wissen, ob man zehntausend oder zwanzigtausend im Jahr hat, daß selbst die „orangefarbene Aigrette" in Aeronwys Haar und ihre „Brokatschuhe mit Smaragdabsätzen und Smaragdspangen" dem Leser nicht ganz hindurchhelfen. Doch das ist das wirkliche Problem, denn weniger als dreißig Seiten weiter ist man in einer anderen Welt: „An seinem Arbeitsstand tief unten, weit drinnen im Gebirge, die Lampe pendelnd an seinen Gürtel gehängt, prüfte Tomos die Kohle mit seiner Keilhaue. Er hatte sich bis zur Hüfte ausgezogen, denn dort unten war es warm. Ein Wald von Stempeln hielt das Dach über ihm, das so niedrig war, daß er sich darunter fast zweimal bükken mußte. In dem Bergwerk von Cragwyn arbeitete er schon, seit er sieben Jahre alt war, und er kannte all die subtilen Besonderheiten der Kohle, soweit es sich darum handelte, sie aus ihrem Flöz herauszuholen. Jeder Schwung seiner Hacke war der Schlag eines Meisters seines Gewerbes. Seine Keilhaue war das schöpferische Werkzeug eines Künstlers, mit dem er den vollen Ausdruck einer Idee erreicht. Geschickt schlug er Proben heraus. Doch als das große Stück herunterkam, zerkrümelte es, als wäre es nur schwarzes Mehl. In der Staubwolke hustend, fluchte Tomos über den Haufen Dreck. Er brauchte große Brocken für seinen Förderwagen, konnte aber nur zwei oder drei Krümel wie eingesalzene Walnüsse in dem Staub auf dem Boden entdecken. Er versuchte es erneut mit einem anderen 279

Stück. Seine Aufgabe war mühselig, weil es sich als unmöglich erwies, irgendwelche großen Stücke herauszuschlagen, und er hielt häufig inne, um besorgt das Flöz zu betrachten, wobei er seine Lampe dicht daran hielt. Der Stoß schimmerte nicht im Lampenlicht, wie es gute Kohle getan hätte. Das Flöz sah vielmehr matt und düster aus. Es hatte all die Fugen und Schnitte der Kohlenstruktur. Aber wenn die Keilhaue es berührte, erzitterte es und zerbrach, als wäre es ni/chts weiter als fest gewordener Schlamm, geädert durch Schlacke und Bast, die sich über das Flöz erstreckten wie Narben alter Wunden auf dem Gesicht eines schwarzen Mannes. 'Lohnt es sich, seinen Lebensunterhalt in der Grube von Cragwyn zu verdienen?' fragte sich Tomos ernsthaft, denn die ganze Bezahlung seiner Arbeit hing davon ab, wieviel Tonnen fester Kohle er nach oben schickte." 98 Was Keating hier schreibt über eine Arbeit, die er selbst getan hat, ist eine ungewöhnlich frühe und außerordentlich tiefe Vergegenwärtigung eines Zuges, der so wichtig ist: des Zuges zur Arbeit als eines primären Elementes des Bewußtseins; jenes Zuges, der selbst in sehr sozialen, ausgesprochenen Industrieromanen so selten ist und zu dem die überwältigende Mehrheit aller Erzählprosa eine künstliche Distanz hält. Hier spürt man - wenn auch nur fragmentarisch eingeführt, wie ich sagte, vorübergehend koinzidiert - das Bewußtsein eines arbeitenden Menschen: sein Bewußtsein als Arbeiter. Doch dieses Bewußtsein bestimmt nicht die Form des Romans. Zweifellos Keatings eigenem Trend entsprechend, doch auch und entscheidend von seiner Zeit und ihrer herrschenden Ideologie geprägt, gleichsam verquickt mit einer herrschenden und beliebten literarischen Form, ist das prägende Element die Entscheidung einer romantischen Heldin zwischen einem guten und einem schlechten Mann; dabei ist der gute Mann bemerkenswerterweise ein schwer arbeitender Direktor, während Cragwen, der böse Mann, - doch da wirken sich Ideologie und Zeitumstände aus - seine Kohle der deutschen Marine verkauft; alle guten Leute liefern sie natürlich der britischen Marine. Im Rahmen der direkten Darstellung der patriotischen Romanze werden die anderen Elemente - alles potentielle Elemente eines ganz anderen Typs von Roman: realistische Berichte von Streiks, von Streikbrechern in der Kohlegrube, von Arbeitsverpflichtung, vom Abrutschen einer Schlackenhalde - nicht nur verwässert, sondern werden von Grund auf verdrängt; gelegentlich von inhaltlicher Bedeutung, wie der Bericht von Tomos am Kohlenflöz, dann

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aber doch formal nur ein unterstützendes Element der Struktur, die sie überwältigt und deren einziges wirkliches Ergebnis am Ende ist, daß Aeronwy ihren Osla heiratet. Das geschah noch 1917, nur ein paar Jahre vor den entscheidenden Ereignissen, die eine neue Etappe der walisischen Geschichte und Kultur - und damit eine neue Generation von Schriftstellern - hervorbrachten. Was wir jetzt sehen können, in den Jahren zwischen den Kriegen - Jahre der tiefen Depression und des intensiven Kampfes - ist eine Erscheinung, die nach meiner Überzeugung innerhalb der generellen Kategorie des Industrieromans eine speziell walisische Struktur des Gefühls ist - jedoch eine Struktur, die zugleich mit recht radikalen Formproblemen konfrontiert-ist. Was macht das Wesen des Industrieromans aus und was unterscheidet ihn von anderen Formen der Literatur? Sowohl der realistische als auch der naturalistische Roman basierten, allgemein gesprochen, auf der klaren Annahme - ich sage Annahme, doch wäre dies keine theoretische Darlegung, würde ich einfach sagen: auf der klaren Tatsache - , daß das Leben der Individuen, wie intensiv und persönlich man es auch erfaßt, durch die allgemeinen sozialen Beziehungen nicht nur beeinflußt, sondern in bestimmter Weise entscheidend geprägt wird. Die industrielle Arbeit sowie ihre typischen Orte und Gruppierungen sind nicht nur ein neuer Hintergrund, ein neues „Szenenbild" für eine Geschichte. Im echten Industrieroman werden diese Elemente vielmehr als gestaltende Faktoren betrachtet. Die sozialen Beziehungen werden nicht nur angenommen, sind nichts Statisches, keine Konvention, in deren Rahmen die Erzählung von einer Heirat oder von einer Erbschaft oder von einem Abenteuer ihren eigenen Weg nimmt. Die arbeitende Gesellschaft - wirkliche Arbeit, wirkliche Beziehungen, ein wirklicher und sichtbar veränderter Ort - steht im Mittelpunkt des Industrieromans: nicht weil (zumindest nicht notwendigerweise weil) der Schriftsteller „mehr an der Soziologie als an den Menschen interessiert" wäre - wie uns herabsetzende Establishment-Kritik glauben machen will - , sondern weil es in diesen arbeitenden Gemeinwesen ein billiger Wahn wäre, ernsthaft anzunehmen, daß diese generellen und drückenden Bedingungen für eine längere Zeit oder gar für immer von den unmittelbaren und persönlichen Umständen getrennt werden könnten. Die abstrakten Kategorien „sozial" und „persönlich" sind hier, unter diesen spezifischen menschlichen Bedingungen - Bedingungen übrigens, unter denen bei weitem die Mehrheit aller menschlichen Wesen lebt - mitein281

ander vermischt und unentwirrbar (obwohl nicht immer so einheitlich, daß man sie nicht unterscheiden könnte). Die vornehme Distanz einer anderen Literatur, wo die handelnden Personen „einfach als menschliche Wesen leben" können, jenseits der Zwänge und Störungen und Unglücksfälle der Gesellschaft, gehört in eine andere Welt oder genauer zu einer anderen Klasse. Hier in der Welt des Industrieromans - wie übrigens auch in der besten ländlichen Literatur, zum Beispiel bei Thomas Hardy - ist die Arbeit zugleich drückend und gestaltend, und die allgemeinsten sozialen Beziehungen werden unmittelbar innerhalb der persönlichsten erfahren. Wenn wir gelernt haben, das Problem auf diese Weise zu betrachten, ist es nicht mehr überraschend, im Mittelpunkt so vieler Industrieromane dieser Zeit eine entscheidende Erfahrung zu finden: den Generalstreik von 1926 in seiner besonderen walisischen Form, das heißt den Generalstreik, dem die langen Monate der Aussperrung der Bergleute folgten, die langen Jahre der Depression, und sehr tiefgreifend das allgegenwärtige Gefühl der Niederlage. Diese Niederlage verband sich mit der allgemeinen Traurigkeit eines ausgeplünderten, hintenangestellten und unterdrückten Wales; doch von diesen beiden Quellen her kommt auch ein ungeheures Bewußtsein des Kampfes - des Kampfgeistes, der Treue, und der echten menschlichen Opfer, die dadurch erzwungen werden; der Konflikte innerhalb des Konflikts, der Verluste und Enttäuschungen, des Schmerzes der Niedergeschlagenheit und schließlich des innersten, ganz direkten Schmerzes, den nur jene spüren, die die Begeisterung des Kampfes gekannt haben und die, nachdem sie alles gegeben hatten, doch wußten, sie hatten noch nicht genug gegeben; nicht genug nach den Begriffen dieser Welt, die sich nicht geändert hatte, nur ständig schlimmer geworden war. Doch darüber hinaus und sehr spezifisch für dieses konkrete Gemeinwesen gibt es auch noch die Struktur eines anderen Gefühls, die ihren Ursprung in dem ganz bestimmten physischen Charakter des walisischen Industriegebietes hat, darüber hinaus in dem ganz bestimmten physischen Charakter von Wales insgesamt. Die unmittelbare Landschaft, die physische Gegenwart der industriellen Entwicklung ist im Zeitalter von Dampf und Kohle beinahe unveränderlich dunkel, rauchgeplagt, zusammengedrängt. Das ist ihr wirklicher physischer Charakter. In den Bergwerken sind diese allgemeinen Eigenschaften noch verstärkt: das Gefühl der Dunkelheit, des allgegenwärtigen Rußes, der zusammengedrängten Enge. Doch nicht nur, 282

wenn man aus der Grube wieder ausfährt und an das Tageslicht kommt, sondern zu jeder Zeit in jedem Waliser Bergwerkstal begegnet man der völlig unterschiedlichen, jedoch direkt zugänglichen Landschaft der offenen Hügel und des Himmels über ihnen, des aufgehenden Lichtes und des klaren Raumes, in den man sowohl körperlich als auch im übertragenen Sinne hineingehen kann. Diese vertraute Erfahrung der Hügel über uns hat eine tiefe Wirkung, selbst wenn sie wie so oft im walisischen Fühlen und Denken etwas Alltägliches ist. Doch in dieser besonderen Umgebung hat sie darüber hinaus noch eine besondere Wirkung. Auf den Hügeln gibt es Schafe, die oft bis hinunter in die Straßen der Ansiedlung streunen. Das ländliche Leben, das einst die walisische Geschichte bestimmte, ist immer noch ein Stück des heutigen Wales. In seiner sichtbaren Gegenwart - nicht als ideeller Gegensatz, sondern als der Hang, der Horizont, unmittelbar von den Straßen und den Fördertürmen aus zu sehen - ist es eine Form, die nicht nur Geschichtsbwußtsein verdeutlicht, sondern ein Bewußtsein von Alternativen, und damit - modern ausgedrückt - ein Bewußtsein von Hoffnungen und Möglichkeiten. Die traditionellen Grundwidersprüche von Dunkelheit und Licht, von Gefangensein und Befreitwerden finden sich auf dieser Erde in ganz besonderer Weise und sind die Grundbewegung aller dieser Literatur. Und doch gibt es Probleme, diesen Grundrhythmus - die adäquate Grundlage so vieler Gedichte - mit den engen, fesselnden menschlichen Beziehungen irgendeines Industrieromans zu verknüpfen. Wie es in der Vorstellung auch laufen kann, gibt es doch noch akute kompositorische Schwierigkeiten zwischen diesen im wesentlichen allgemeinen Gefühlen und allen erreichbaren menschlichen Strukturen. Ich möchte mich jetzt kurz einigen der örtlichen Formen zuwenden, durch die diese allgemein geteilten generellen Gefühle ausgedrückt wurden. Auf dieser Ebene ist dies unvermeidlich eine Geschichte von Verlusten wie von Gewinnen, von Einschränkungen wie von Erfolgen. Die am ehesten erreichbare unmittelbare Form in dieser Art von Roman ist die Geschichte einer Familie. Das läßt den Schriftsteller seine Aufmerksamkeit auf die nächsten Verwandtschaftsbeziehungen konzentrieren, jedoch mit der Schwierigkeit, daß das, was auf diese Weise tatsächlich geschrieben wird, die Geschichte einer Klasse ist, wenn man von den gegebenen örtlichen Umständen ausgeht, letzten Endes sogar eines Volkes. Die Familie muß daher typisch sein, die 283

zentrale allgemeine Erfahrung repräsentieren, doch in Verwandtschaftsbeziehungen, in Familien b a n d e n , die eine viel breitere Erfahrung mit sich bringen. Und da gibt es dann noch ein weiteres Problem. Die engere Familie kann, wie es die Erfahrung oft bestätigt, als die örtliche Bindung gesehen werden, voller Liebe und Fürsorge, der allgemeinen Mühsal entgegengestemmt. Doch auf eine mächtige Weise führt das, was dieser Familie geschieht - nicht nur die industrielle Entwicklung und nicht nur die industrielle Auseinandersetzung, sondern jetzt die industrielle Depression - , zugleich zu ihrer Vereinigung unter ein gemeinsames Schicksal und zerrt sie dann hin und her, wobei sie im Kampf ums Überleben geteilt oder gar zerbrochen wird. Gwyn Jones' Times Like These (Zeiten wie diese), 1936 veröffentlicht, ist ein bemerkenswertes Beispiel für diese Form. Sein bewußt allgemeines und historisches Thema, durch seinen Titel bereits angekündigt, steht in Wechselbeziehungen zu dem gleichzeitig realistischen und formalen Schwergewicht auf den Ereignissen in einer einzelnen Familie: die verwandtschaftlichen Beziehungen als Kern, doch in ihrem Rahmen die Ausbreitung von Alternativen; der Druck, verschiedene Wege zu gehen, wozu auch die Möglichkeit gehört, ganz wegzugehen und die Probleme unterschiedlich zu lösen. Diese Generation der walisischen Literatur zeigt eine typische Spannung: daß die Familie hin- und hergerissen wird und doch als Familie erhalten bleibt, aber erhalten im Sinn von Niederlage und Verlust. Die bitteren Erfahrungen jener Periode - der massiven Auswanderung nach England und des trotzdem starken und beständigen Familiengefühls jener, die bleiben, und jener, die sich erinnern werden kräftig, aber vorübergehend artikuliert. Das ist der Augenblick einer typisch lokalen Traurigkeit: „Ohne es auskommen - das ist das, was wir immer getan haben, sagte sich Luke, wieder in seinem alten Bett. Immer ohne das eine oder das andere auskommen. Was hatte Olive je vom Leben gehabt? Oder Mama? Mary konnte glücklich sein, wirklich. Arme alte Olive! Ich vermisse dich so sehr, schau, Olive. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und er wußte sehr genau, daß niemand das Bett teilte. 'Macht nichts', hörte er seinen Vater sagen: 'Wir können es schaffen, ja. Wir werden es schaffen, Mama.' Vielleicht schafften sie es wirklich. Zuletzt schlief er ein, ohne Einsamkeit im Schlaf, bis er gegen Morgen wieder erwachte, um das Geklapper und das Stampfen der erschöpften Nachtschicht zu hören, die über den Berg nach Camden zurückkehrte. Das war das Leben, das war es: schlafen und wieder 284

aufwachen, für einen leeren Tag nach dem anderen. Unnötig, schon aufzustehen, denn es gab nichts, was ein Kerl tun konnte. Man schlug ein Stück Zeit tot, wenn man im Bett blieb. 'Wirklich, bei Gott', sagte er ruhig und ohne zu lästern, 'für was in der Welt sind wir da? Alles sieht irgendwie so nutzlos aus.'" 99 Ein anderes bemerkenswertes Beispiel derselben Grundform der unmittelbaren Familie, doch der Familie in der Bedrängnis - ist später (1946) Chwalfa von T. Rowland Hughes: in der andersartigen Umgebung der nordwalisischen Schiefer-Steinbrüche und in der früheren historischen Krise des Kampfes um das Kontraktsystem, des langen Streiks und seiner Unterdrückung, schließlich mit dem, was einer Gemeinschaft geschehen konnte, jetzt aber unmittelbar einer Familie, ihrer Zerstreuung nämlich: zu den Wasserwerken von Rhavader, zu den Docks von Liverpool, nach Amerika, in die Kohlen- und Kupferbergwerke. Der alte einfache Kern mit seinen organischen Verbindungen von Familie, Dorf, Platz und Klasse - und darin und dadurch natürlich all den besonderen Bindungen des Walisischen - wird zugleich bestätigt und in seiner Auflösung gesehen. Und diese Form der Bestätigung der Familie als Träger dieser generellen Funktion ist letztlich eine Elegie: das, was bestätigt wird, ist zugleich verloren. Oder für diese Periode der walisischen Literatur allgemeingültiger ausgedrückt: Verlust und Auflösung werden ganz authentisch bestätigt. Natürlich ist das nicht die einzige Art, wie die Familie als unmittelbare kompositorische Form benutzt Werden kann. In Lewis Jones' Romanen - Cwmardy (1937) und We Live (1939; Wir leben) - wird eine verwandte, jedoch unterschiedliche allgemeine Orientierung sichtbar. Die Familie ist jetzt eine Miniatur des politischen Kampfes, und die sich befehdenden Richtungen und Zugehörigkeiten in diesem Kampf werden nicht nur allgemein dargestellt - etwa in den Geschehnissen der Aussperrung oder des Kampfes innerhalb der Vereinigung oder zwischen den Parteien - , sondern auch innerhalb der Familie, zwischen Len und Mary und Ezra - und schließlich geht die Bewegung nach all dem Verlust, der beschrieben wird, über die Familie hinaus, führt zu einem bewußten Bruch: Die Zugehörigkeit wird auf eine Sache und eine Partei übertragen. Wir können jetzt mühelos die Probleme erkennen, die sich sowohl aus dieser als auch aus der früheren Form ergeben. Die tiefe und unmittelbare Auflösung, das Zerbrechen einer Familie kann in einem Gefühl des damit verbundenen Verlustes enden. Der politische Entwurf einer 285

Familie kann sich von dort herausbewegen, doch diese Bewegung würde nur die zwingende Kraft jenes Entwurfs - seines wesentlichen Gehalts - bewahren, während die Form der Zugehörigkeit unproblematisch bleibt. Doch wie problematisch sie war - ernsthaft gesprochen, über die Einzelheiten unmittelbarer und trennender-Gegensätzlichkeiten hinaus - sehen wir, wenn wir uns einer ganz anderen Form zuwenden, nämlich der von Jack Jones' Rhondda Roundabout (1934; Rhondda Karussel), wovon manche Leute sagen, das wäre überhaupt kein wirklicher Roman. Die Schwierigkeit mit der Einführung eines komplizierten politischen Kampfes in eine ortsansässige Familie besteht darin, daß er schnell zu beispielhaft werden kann und zu bald durch beispielhafte Übereinstimmungen persönlicher Fähigkeiten mit politischer Richtigkeit eingeschränkt wird. Die episodenhafte Zufälligkeit, die schon der Titel Rhondda Roundabout so deutlich ankündigt, ist tatsächlich eine Art Verlust, ein emotionaler Verlust. Doch der Roman ist ein Versuch (in gewisser Weise The Ragged-Trousered Philanthropists ähnlich, woran er teilweise auch in der Sprache erinnert), die Mannigfaltigkeit, die Kompliziertheit und - entscheidend - d a s G e t r e n n t s e i n in einem weiten politischen und kulturellen Leben zu beschreiben. Sicherlich fand Tressell auf einer anderen thematischen Ebene eine Einheit, die Jack Jones nicht fand, aber der springende Punkt ist der, daß sich diese episodenhafte Form - wenn auch sprungweise und verbindungslos - auf das weitere Spektrum der tatsächlichen Gesellschaft zubewegt, ein Spektrum, das von der Familienform verdrängt worden war. Bewegung in dieser Richtung ist vorhanden, erreicht jedoch ihr Ziel nicht. Was (wie so oft bei, Schriftstellern aus der Arbeiterklasse) herauskommt, wenn aus verständlichen Gründen die überkommenen Formen nicht zur Verfügung stehen oder zurückgewiesen werden, ist eine Reihe von Skizzen, bestenfalls ein Panorama. Es ist keine neue Gesamtform, aber sie kann Elemente enthalten, die älteren Gesamtformen fehlen. In seinem späteren Werk ging Jack Jones wie andere zu einer besonderen Form über, die eine der möglichen Erweiterungen des Familienromans ist: Die Familie als Geschichte, nicht die Jahre einer Generation, sondern die Zeit mehrerer Generationen. Black Parade (1935; Schwarze Parade), war urspünglich dreimal so Tang wie die veröffentlichte Fassung, und diese Tatsache führt zu einer grundsätzlichen Frage. Es gibt viele innere Probleme in dem Roman des 20. Jahrhunderts, jedoch auch ein paar herausragende äußere 286

Probleme, und dazu gehört insbesondere das der Länge. In unseren Tagen beträgt der aus kaufmännischen Gründen bevorzugte und oft verlangte Umfang eines Romans etwas über achtzigtausend Worte, und das ist für manche Art von Literatur wirklich lang genug. Doch für wichtige Literatur, und insbesondere für den ausgedehnten realistischen Roman, ist das eine lächerliche Einschränkung. Eine herrschende Linie in der englischen Literatur hat sich sowohl von diesen Themen als von dieser Form entfernt. Doch für walisische Schriftsteller, die weniger als die Engländer bereit sind, ihren Sinn für Gemeinschaft und für Geschichte aufzugeben, ist das ein besonderes Hindernis. Ein zeitgenössischer Schriftsteller, der einen ausgedehnten realistischen Roman verfaßt, wird darauf festgelegt, daß das ganze Werk nur eine Länge aufweist, die weniger als einem Viertel oder einem Sechstel der Länge früherer Werke dieser Art entspricht. Jeder Schriftsteller kann seine Arbeit kürzen, fast immer mit Vorteil; doch dieser grundlegende Druck auf die Länge bleibt eine wesentliche Beschränkung dieser sonst attraktiven und bewährten Form. Dennoch zeigt Black Parade, was mit dem Sinn für historische Bewegungen erreicht werden kann. Die „schwarze" Verzweiflung im lokalen Milieu kann paradoxerweise im Lauf der Jahre überwunden werden. Die Spanne von den rauhen Jahren der Einwanderung in das Kohlenrevier bis hin zu den dreißiger Jahren mit der Auswanderung eröffnet eine starke Perspektive; interessanterweise ist es zunehmend diese historische Perspektive, die die Romanciers als formales Element gesucht haben. Doch die historische Perspektive ist nicht der einzige Sinn der Geschichte, auch nicht in Black Parade. Auf diese Form wartete verführerisch etwas anderes, nämlich die historische „romance". Es ist immer schwierig, zwischen dem historischen Roman und der historischen Erzählung kategorisch zu unterscheiden. Abgesehen von den Extrembeispielen der einfacheren Form, die wirklich keine Erzählungen mehr sind, sondern nur noch verkleidete Prosa, finden sich offenkundig dieselben Elemente in der Komposition. Was die walisische Industrie-Literatur angeht, so könnte man sogar sagen, daß sich mehr Geschichte - sowohl von dem größeren Prozeß als auch von den kritischen Details her - in den Erzählungen als in den Romanen findet. Eine der möglichen Unterscheidungen ist übrigens eng mit dieser Tatsache verbunden, da die realistische Literatur ihren Figuren gestattet und von ihnen fordert, daß sie auch zu Zeitpunkten auftreten, in denen es keine ausgeprägte und kräftige histo287

tische Krise gibt, während der Stil der Erzählung eine Art von absoluter Konvergenz zwischen ausgewählten Persönlichkeiten und den bekanntesten Ereignissen bewirkt. In dieser Hinsicht müssen wir uns wirklich daran erinnern, daß es keine notwendige generelle Überlegenheit des realistischen Stils gibt: manche Arten von Konvergenz bewirken eine tiefere Bewegung als die mehr unbeteiligten und zufälligen Versionen des Realismus. Black Parade ist kraftvoll, weil es zumindest in der frühesten Periode die vielseitige Unruhe, die Unvereinbarkeiten und Widersprüche enthält, die die gängigeren Stereotype der Geschichte ausschließen. Gerade in diesem Punkt kann es Richard Llewellyns How Green Was My Valley (1939; Grün war mein Tal) zu Recht gegenübergestellt werden, und dieser Gegensatz zeigt einen der Begriffe, mit denen allgemeine Formkontraste beschrieben werden können. Es ist nicht so, daß der realistische Stil Gefühl oder Rhetorik ausschließen v^ürde. Es ist vielmehr so, daß die Erzählung nach einem einzelnen, zentralen sentimentalen oder rhetorischen Gestaltungsprinzip aufgebaut ist, das zugleich ihren einfachen und besonderen Zusammenhang schafft, ihre schnelle, ja sofortige Kommunikabilität, und auf dem zweiten Blick natürlich auch ihre jede Einschränkung und Reduzierung ausschließende Form. Doch How Green Was My Valley, weithin und zu Recht verstanden als die Exportausführung der walisischen Industrieerfahrung, ist nicht der am schwierigsten zu verstehende Fall. Seine sentimentale Gestaltung entspricht seiner Zeit, doch ist dies vielleicht nicht der einzige Unterschied zur rhetorischen Gestaltung von Alexander Cordeil. Denn das, was bei Cordeil bemerkenswert bleibt, ist der Umfang der Aufnahme - natürlich innerhalb dieses Stils - einer Geschichte, die zugleich weit und intensiv ist: einer Geschichte, deren Folgen die Schriftsteller näher standen und die daher weniger in der Lage waren, Abstand zu halten und die allgemeine Geschichte eines Ortes oder eines Volkes zu l e s e n , sich zumindest anfänglich nicht drängten oder sich sogar weigerten, diese in ihre Arbeit aufzunehmen. Gleichzeitig kann das Werk nur vorübergehenden Charakter tragen. Seine rhetorische Gestaltung, in The Rape of the Fair Country (1959; Der Raub des schönen Landes) und Romanen mit ähnlichen spektakulären Titeln, kühn angekündigt und resolut ausgeführt, war vielleicht verständlicherweise unzugänglich, da es aus einer vergangenen Kultur stammte, und das in einer Zeit enger zeitgenössischer Depression und Aggressivität. Der Wunsch nach einer weiteren Perspek288

tive, wenn sie damals auch einem faszinierten Beobachter schneller zugänglich war als den Söhnen und Töchtern dieser Geschichte, deren Niederlagen, Entscheidungen, örtliche Rhythmen und örtliche Brüche sie in den Knochen hatten, gewinnt jetzt immer mehr Zugkraft und immer mehr Gewicht in einer anderen Phase der nationalen Kultur. Auf jeden Fall ist es diese Richtung, in die sich ein erheblicher Teil der zeitgenössischen Literatur bewegt. An einem Wendepunkt von einer Periode zur nächsten und aus dem Innern der Kultur heraus gab es allerdings eine große Leistung, die eigentlich ganz allein stand, obwohl ihre allgemeine Verbindung mit der ihr zugrunde Hegenden Gefühlsstruktur und mit den bis jetzt beschriebenen mehr speziellen Elementen sehr eng ist. Gwyn Thomas' All Things Betray Thee ( 1 9 4 9 ; Alle Dinge verraten dich) ist eine bemerkenswerte schöpferische Leistung. Im Rückblick erscheint ihre Form überraschend, sowohl in ihrer bewußten Distanz zu den ständigen Identifikationen des realistischen Stils als auch in ihrer tatsächlichen Distanz zu den einfachen Gestaltungsprinzipien der Erzählung. Sie hat offenkundige historische Ursprünge, nicht allzuweit entfernt von den Krisen, die Merthyr im 19. Jahrhundert erlebte. Doch sie ist nicht nur in bezug auf Ortsnamen und Stil bewußt distanziert, wobei sie sich in Charakter und Handlung tatsächlich auf eine wirklich legendenhafte Distanz zubewegt. E s ist auch so, daß es in seinem Stil weniger Darstellung - der übliche Kurs der Literatur - gilt als mehr Probe und Aufführung; eine Komposition, in erster Linie beherrscht durch die Rhythmen von Sprache und Gesang in einer Handlung, in deren Mittelpunkt - traditionell und zugleich mit bedeutsamer zeitgenössischer Betonung - der Harfenist steht. Seine innere Bewegung ist dann die Möglichkeit, diese allgemeine Erfahrung auszudrücken durch Schreiben -^Singen, Spielen - : die erste künstlerische Phase weg von einer ungestümen Verwicklung; die darauf folgende Bewegung in Richtung auf seine tiefste und unvermeidliche Treue und Verpflichtung. Man spürt zugleich die Bedeutsamkeit gegenüber den kleinen literarischen und ideologischen Veränderungen der Geschichte und doch die Leidenschaft, zu entdecken, was es darüber hinaus wirklich gibt und tiefer allgemeingültig ist. D i e tiefe Struktur des Romans ist tatsächlich sehr allgemein: das Bewußtsein des Lichtes, des Gesangs, der menschlichen Freiheit, alles dessen, was nahe genug ist, um es zu fassen, und was doch immer außer Reichweite zu sein scheint in der rauhen, engen Welt des Verlustes und des Kampfes. E s gilt einem Volk und nicht 19

Southall/Magister

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nur einem einzelnen Beobachter, was eine seiner Figuren erklärt: „Manche von uns sind mit dem Trieb geschlagen, Behauptungen aufzustellen, die entweder zu groß oder zu tief sind, um in den Rahmen der gegenwärtigen Verhältnisse zu passen." „Geschlagen", man höre; jene tiefe Unklarheit eines untergeordneten Volkes, einer untergeordneten Klasse, deren Visionen nicht nur größer sind als die des fremden Systems, das sie beherrscht, sondern auch größer als erträglich, wenn man so weit unten ist und noch so weit hochschaut. E s ist ein außerordentlich schwieriges Gefühl, das man ertragen muß. Man folge der Bewegung in diesem Abschnitt: „Männer wie John Simon Adams und ich, wir sind nicht viel mehr als Blätter im Wind, ein Stück von dem schmerzhaften Gefühl, das die Eingeweide der Massen ergriffen hat. Von den Häusern, den Hütten, den Kneipen und den Knochenmühlen steigt der Zorn auf und bewegt uns. E s gibt keine Wahl, Mr. Connor, abgesehen vielleicht von dem Recht der letzten Minute, den Schlüssel für den Schrei, den wir ausstoßen, noch umzudrehen." 1 0 0 D i e Stimmen sind tatsächlich von dieser A r t : aufsteigender Zorn, schmerzhaft, bruchstückartig, als die entscheidende Alternative gegegenüber einem „randvollen und blöden Schweigen". Doch die B e wegung ist so unsicher, daß die Stimme buchstäblich in der Kehle stockt. Gleich hinter jenem Bewußtsein liegt ein anderer T o n : die erleichternde Belanglosigkeit, der bittere, verdrängende Schmerz, di)e ablenkende oder abmindernde Eigenwilligkeit, die nicht nur den Schmerz auf Distanz hält, sondern sich nach einer gewissen Zeit ihrer wiedergewonnenen Stimmung und ihres erleichternden, ansteckenden Lachens sicher ist. Jedoch nicht hier. Jeder Schwierigkeit - und ihr Gewicht wird als zermalmend gezeigt - werden genau die Akzente jener Treue gegenüber gesetzt, die zugleich visionär und historisch ist. E s ist ein Roman von Stimmen und von einer Stimme, und diese Stimme ist nicht die Geschichte, sondern das zeitgenössische Geschichtsbewußtsein. W i r sind in einer Periode des Übergangs; und um jedes Element des Übergangs wird noch immer, wir brauchen daran nicht zu erinnern, sehr heftig gestritten. Was jetzt geschieht in einer neuartigen Krise, ist ein weitergespanntes Moment als allein das der IndustrieErfahrung, und wenn dieses Moment manchmal ausweichend ist denn der Bestand jener Erfahrung ist immer noch da und immer noch entscheidend - , dann ist es zugleich im besten Sinne ein Griff nach neuen Perspektiven und neuen Formen.

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Bei dieser Gelegenheit, und zu Recht bei dieser Gelegenheit, ist es mittlerweile richtig, für einen Augenblick jene erfolgreiche Generation, jene Bruderschaft von Schriftstellern zu ehren - sie zu ehren, weil wir die Schwierigkeiten kennen, sie nur zu gut kennen, nachdem wir sie so gründlich geerbt haben. Wir wollen uns dafür diese Worte aus All Tbings Betray Thee so gut wie möglich zu eigen machen: „'Wir stellen nur die Tatsache fest', sagte Jameson. 'Manchmal leise, manchmal laut. Das nächste Mal wird es leise sein, weil unsere besten Stimmen zu sprechen aufgehört haben. Das Schweigen und die leisen Stimmen werden reifen. Das verlorene Blut wird wieder erzeugt. Der Chorgesang wird aus seinen schmutzigen, schmerzenden Ecken herausschleichen und zurückkommen. Die Welt ist voller Stimmen und Harfenisten, die für die große Hymne üben, aber kaum je gehört werden. Wir sind privilegiert. Unsere Ohren sind voll von dem Gesang. Das Schweigen wird für uns wieder ewig dauern.'" 101

13 DAVID

CRAIG

jBilder aus dem Fabrikleben Vor zehn Jahren [1964] stellte der von breitesten Kreisen gelesene britische Literaturkritiker Walter Allen plötzlich fest, daß in den fünf Jahren davor „fast zum ersten Mal in Großbritannien das Erscheinen einer ganz beträchtlichen Menge von Büchern festzustellen ist, die mit Recht als Arbeiterliteratur zu bezeichnen sind"*. Das „fast" stimmt nicht, denn es war wirklich das erste Mal, daß dies in hoher Qualität und auf breiter Ebene geschah. Es ist eine atemberaubende Tatsache, daß schon anderthalb Jahrhunderte vergangen waren, seit das Fabriksystem die britische Arbeiterklasse hervorbrachte, und daß während dieser Zeit ein wichtiges literarisches Medium - die Prosaliteratur - mündig geworden war, die aber taub, blind und stumm blieb, was das Arbeitsleben der meisten Menschen anbetraf. Das bedarf der Erklärung; und wie könnten wir es erklären, wenn wir uns nicht außerhalb dieses Mediums selbst bewegten, wenn wir nicht die sozialen Bedingungen betrachteten, unter denen die * Walter Allen: Tradition and Dream. London 1964, S. XXII. 19*

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Bei dieser Gelegenheit, und zu Recht bei dieser Gelegenheit, ist es mittlerweile richtig, für einen Augenblick jene erfolgreiche Generation, jene Bruderschaft von Schriftstellern zu ehren - sie zu ehren, weil wir die Schwierigkeiten kennen, sie nur zu gut kennen, nachdem wir sie so gründlich geerbt haben. Wir wollen uns dafür diese Worte aus All Tbings Betray Thee so gut wie möglich zu eigen machen: „'Wir stellen nur die Tatsache fest', sagte Jameson. 'Manchmal leise, manchmal laut. Das nächste Mal wird es leise sein, weil unsere besten Stimmen zu sprechen aufgehört haben. Das Schweigen und die leisen Stimmen werden reifen. Das verlorene Blut wird wieder erzeugt. Der Chorgesang wird aus seinen schmutzigen, schmerzenden Ecken herausschleichen und zurückkommen. Die Welt ist voller Stimmen und Harfenisten, die für die große Hymne üben, aber kaum je gehört werden. Wir sind privilegiert. Unsere Ohren sind voll von dem Gesang. Das Schweigen wird für uns wieder ewig dauern.'" 101

13 DAVID

CRAIG

jBilder aus dem Fabrikleben Vor zehn Jahren [1964] stellte der von breitesten Kreisen gelesene britische Literaturkritiker Walter Allen plötzlich fest, daß in den fünf Jahren davor „fast zum ersten Mal in Großbritannien das Erscheinen einer ganz beträchtlichen Menge von Büchern festzustellen ist, die mit Recht als Arbeiterliteratur zu bezeichnen sind"*. Das „fast" stimmt nicht, denn es war wirklich das erste Mal, daß dies in hoher Qualität und auf breiter Ebene geschah. Es ist eine atemberaubende Tatsache, daß schon anderthalb Jahrhunderte vergangen waren, seit das Fabriksystem die britische Arbeiterklasse hervorbrachte, und daß während dieser Zeit ein wichtiges literarisches Medium - die Prosaliteratur - mündig geworden war, die aber taub, blind und stumm blieb, was das Arbeitsleben der meisten Menschen anbetraf. Das bedarf der Erklärung; und wie könnten wir es erklären, wenn wir uns nicht außerhalb dieses Mediums selbst bewegten, wenn wir nicht die sozialen Bedingungen betrachteten, unter denen die * Walter Allen: Tradition and Dream. London 1964, S. XXII. 19*

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Schriftsteller lebten und denen sie in ihrer Kunst einen Sinn zu geben hofften! Obwohl dieser Essay keinen Überblick über die moderne Arbeiterliteratur insgesamt darstellen will, sollte man sich darüber im klaren sein, daß die Geschichten, Romane und Schauspiele, die vom Fabrikleben handeln, Teile einer sehr reichen und fruchtbaren Gattung sind, die in meinen Augen den vornehmsten Beitrag ausmacht, den britische Schriftsteller nach dem letzten Krieg zur Weltliteratur geleistet haben. In der Prosaliteratur denke ich an Alan Sillitoe, David Storey, Barry Hines, Peter C. Brown und Archie Hill, in der Dramatik an Arnold Wesker, Storey, John Arden, Brendan Behan, David Mercer, Henry Livings und Trevor Griffiths. So unterschiedliche Arbeiten können nicht mit wenigen Worten charakterisiert werden, aber es ist erwähnenswert, daß diese Schriftsteller im großen und ganzen alle umgangssprachlich, nüchtern, aktuell, grob oder unvornehm sind. Ihre Schauplätze sind Fabriken, billige Mietshäuser, Küchen (und Gefängnisse). Ihre Figuren, ob sie nun den blauen Kittel oder den weißen Kittel tragen, erhalten Befehle, aber geben sie nicht, und arbeiten für einen Wochenlohn. Ihre Nahrung, ihre Sprache, ihre Angewohnheiten - das alles ist gewöhnlich, nicht erlesen. Das Auftreten einer solchen Gruppe von Schriftstellern mußte schließlich die Erfahrung der Fabrikarbeit in den Brennpunkt rükken. Arthur Seaton, der Held von Sillitoes Saturday Night and Sunday Morning (1958; Samstagnacht und Sonntagmorgen), ist für den Strom aggressiver und selbstrechtfertigender Phantasien frei, die die Stimme des Romans ausmachen, weil seine Arbeit an der Revolverdrehbank so einfach und abwechslungslos ist. Er stellt Stahlteile für Fahrräder her; dabei fräst, bohrt, schneidet und verarbeitet er vierhundert Teile in drei Stunden, woraus sich in der Ausdrucksweise der Experten eine Taktzeit von etwas unter einer halben Minute pro Stück ergibt.* Diese Arbeit beansprucht so wenig von ihm, daß seine Hände auf einer ganz anderen Ebene als sein Geist funktionieren können. Liza Atkin, die Heldin von Sillitoes Erzählung The Good Women (1960/61; Die guten Frauen), hat eine leichtere Arbeit in einer ähnlichen Fabrik: Mit einer Lehre kontrolliert sie Teile, um sicherzugehen, daß sie den richtigen Durchmesser haben. Ihr Entschluß, nicht mehr nur Hausfrau, Ehefrau und Mutter zu sein, sondern an der Seite Hunderter anderer Frauen und Männer * Vgl. Alan Sillitoe: Samstagnacht und Sonntagmorgen. Berlin

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1 9 7 2 , S. 3 7 .

eine Arbeit aufzunehmen, bringt sie dazu, bei einer entstehenden Auseinandersetzung über die Arbeitszeit das soziale System in Frage zu stellen und dagegen aufzutreten.* In seiner Dramentrilogie bietet uns Arnold Wesker die wesentliche Geschichte einer typischen Arbeiterfamilie. Sie gehört nicht zum Durchschnitt, denn ihre Mitglieder sind politisch militant und versuchen, aus der Fabrikstadt auszubrechen, aber alles andere ist typisch. Im letzten dieser Dramen, l'm Talking About Jerusalem (1960; Nächstes Jahr in Jerusalem), ist die jüngste Generation dieser Familie aufs Land gezogen, um das Leben dort zu erproben und für sich selbst zu arbeiten - um das herzustellen, was sie selber benötigen, nämlich Möbel, und zwar in ihrer eigenen Zeit und mit ihren eigenen Werkzeugen. Als ihr Experiment notwendigerweise zu scheitern beginnt, ist der springende Punkt des Dramas die Diskussion über die Arbeit, die Handwerksarbeit im Gegensatz zur Massenproduktion in der Fabrik. Diese Diskussion verdient es, vollständig zitiert zu werden, denn sie setzt Grundfragen unserer sozialen Erfahrung in ganz einfache oder gar mundartliche Sprache mit klassischer Kraft um. (Dave ist Londoner aus dem East End, war im Spanischen Bürgerkrieg und im zweiten Weltkrieg und versucht jetzt, eine Möbelwerkstatt zu betreiben. Sammy ist sein Lehrling, kommt aus «einem nahegelegenen Dorf und will in die Stadt gehen.) DAVE: Das nennt man: Mit der Tür ins Haus fallen. Du willst weg? SAMMY: Ich bin nicht zufrieden, Dave. DAVE: Nicht zufrieden? SAMMY: Ich hab das Gefühl, ich komme hier auf keinen grünen Zweig. D A V E : Du lernst doch was, Junge. Du lernst ein Handwerk. SAMMY: Was ich hier lerne, macht jede Fabrik genausogut wie wir. DAVE: (betroffen) Warst du schon mal in einer Fabrik? Willst du den ganzen Tag an ein und derselben Maschine stehn? An der Hobelmaschine? An der Schmirgelmaschine? An der Kreissäge? SAMMY: Die wechseln immer ab untereinander. DAVE: Schöne Abwechslung! Von einer Maschine zur andern! Ein schöner Unterschied! Dein ganzes Leben lang, Sammy, denke daran, dein ganzes Leben lang! SAMMY: Ja, aber man verdient mehr dabei. * In Fortsetzungen vorabgedruckt im Daily Worker vom 2 6 . 5. bis 2. 6. 1 9 6 2 ; mit einigen kleineren, aber bedeutsamen Veränderungen abgedruckt in

Ragman's Daugbter.

London 1963.

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The

DAVE: D a r a u f kann ich dir allerdings keine Antwort geben. (Pause.) Sammy, schau mal den Stuhl an. W a s hast du gesagt? „ E r sieht aus, als ob er selber säße." D a s ist Poesie, Junge, Poesie! Ach was, Poesie, was sag'ich d e n n ? ! D a s ist, es ist, äh, o G o t t , wie erklärt man sowas? Sammy, hier, das Gestell, das du dir für dein Werkzeug gemacht hast. D a s ist nicht irgendein Gestell, das sind nicht nur ein paar Bretter und Latten, die du zusammengenagelt hast. D a s ist ein ganz besonderes Gestell, mit Schwalbenschwanz, und verzapft ist es auch. Und da - an der Seite - was ist das? Verzierungen ! D u hast mein Schnitzwerkzeug genommen und Verzierungen gemacht, die du selber entworfen hast. O h n e einen besonderen G r u n d , einfach aus F r e u d e hast du an einem gewöhnlichen Werkzeuggestell Verzierungen angebracht. O d e r hast du vielleicht einen G r u n d gehabt? D u hast einfach Spaß dabei gehabt, das Muster zu machen. Ich habe dich dabei beobachtet. D u hast einen ganzen Nachmittag dazu gebraucht, nur für die Verzierungen . . . und drei Stück E i c h e sind dabei draufgegangen, bis du mit deinem W e r k zufrieden warst. D u schuldest mir siebenundzwanzig Schillinge. SAMMY: D a s war doch nur eine Spielerei. DAVE: Sowas ist keine Spielerei! Schöpferische A r b e i t ! Aus der F r e u d e geboren! W e i ß t du nicht mehr, wieviel S p a ß wir hatten, als wir die W e r k s t a t t hier einrichteten? SAMMY: Ich sage ja nicht, d a ß ich keine Freude dran habe, D a v e . DAVE: Und das ist noch lange nicht alles, mein Junge. E s geht nicht nur um die Freude an der Arbeit. Schau dich doch u m ! Schau dir mal unsern Arbeitsplatz a n ! W i r arbeiten in der S o n n e ! Im Sommer sind wir braungebrannt, und wenn's uns stinkt, packen wir die Sachen zusammen und gehen schwimmen. Begreifst du nicht, was das heißt? D a ß uns niemand dauernd im G e n i c k sitzt? D a ß wir frei sind? Sammy, Junge, wir haben Freude an unserer Arbeit und an uns selbst. SAMMY: D a s weiß ich doch alles, D a v e ! A b e r ich sehe die Jungs bei uns im D o r f rumlungern, jeden T a g , D e n e n ist alles egal. D i e lungern mit ihren paar Groschen in der Tasche ihr ganzes Leben lang herum, und dabei haben sie noch einen großen Anhang zu ernähren. Ich will'S zu was bringen. Findest du das denn nicht richtig, d a ß ich's zu was bringen w i l l ? * * Die Trilogie besteht aus: Chicken Soup with Barley. London 1958; Roots. London 1959; und I'm Talking about Jerusalem. London 1960. Das Zitat siehe Nächstes Jahr in Jerusalem. In: Die Trilogie. Frankfurt am Main 1967, S. 177-178.

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Es gibt noch ein Stück von Weskers fruchtbarster Periode (inzwischen ist er sowohl von jenem Feld der Erfahrung als auch von' seinem Talent abgekommen, einfache Sprache in zugespitzte Dialoge zu verwandeln), das ebenfalls das Fabrikleben abbildet, indem es sich mit hochorganisierter Arbeit beschäftigt, die eine große Zahl einander sehr ähnlicher Dinge für Verbraucher herstellt, zu denen der Produzent kaum eine Beziehung hat. Dies Stück heißt The Kitchen (1960; Die Küche), das sich mit Kellnerinnen und Köchen in einem großen Restaurant beschäftigt. Die Handlung auf der Bühne besteht fast nur im Weiterreichen von Platten, Mischen von Zutaten und so weiter - die dramatische Symbolik, das Bild, wie Menschen sich zueinander verhalten, ist zu drei Vierteln der Arbeit übertragen. Zusammen mit dem letzten Stück, das ich in dieser ersten Probeauswahl erwähnen will, ist jener Umstand das deutlichste Beispiel dafür, daß die Industrialisierung letztlich bis in das Mark der Sensibilität der Schriftsteller vorgedrungen ist. Dieses letzte Stück ist Peter C. Browns Smallcreep's Day (1965; Smallcreeps Tag). Ich hoffe, später zu zeigen, daß es der unentbehrliche, typische Roman dieser Epoche in Großbritannien ist. Er spielt vollständig in einer Maschinenfabrik. Die Menschen dort werden als eine Art neuer menschenartiger Rasse gesehen, deren Lebensraum eher die Maschinen als die Straßen und Häuser darstellen; und den Maschinen wird eine gedrängte^ beängstigende, animalische Gegenwart verliehen. Das gesamte Leben einer Fabrik wird bloßgelegt, von den Abwassergruben bis zum Büro des Direktors. Sechs Generationen hatte es gebraucht, bis die Fabrik für einen begabten und originellen Schriftsteller anziehend genug geworden war. Warum hatte das so lange gedauert? Das Fabrikleben kam auf die Tagesordnung der Schriftsteller im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts. Die erste Welle der Fabrikgründungen stellten die wassergetriebenen Textilfabriken zwischen 1770 und 1790 dar, die die neuen Maschinen benutzten. In dem letztgenannten Jahr gab es noch doppelt soviel Landarbeiter wie Fabrikarbeiter. Zwei Generationen später, 1840, war das Verhältnis umgekehrt. Die Städte Lancanshire und Yorkshire, in denen Woll- und Baumwollstoffe hergestellt wurden, hatten ihre Bevölkerungszahlen bis etwa auf das Sechsfache gesteigert, und die Straßen, ih denen die Menschen lebten, wurden um die Fabriken herum angeordnet, wie man heute noch auf Luftbildern von Städten wie Preston, Lille, Essen

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oder Pittsburgh sehen kann.* Die ersten Fabrikgesetze wurden 1802 und 1819 erlassen. Der erste Boom für Fabriken, die Dampf zum Antrieb der Webstühle benutzten, erfolgte unmittelbar nach dem Ende der Napoleonischen Kriege, als es wieder einfach war, Rohbaumwolle aus Amerika einzuführen. Im Jahre 1812 kostete eine Eisenhütte, die 300 Tonnen pro Woche lieferte, 50 000 Pfund Sterling, aber 1833 schon das Dreifache, und auch der Ausstoß an Eisen und der Verbrauch an Rohbaumwolle verdreifachten sich in derselben Zeit. Im Jahr 1825 gab es den letzten Ausbruch von Auseinandersetzungen, die von Heimarbeitern (Handwebern) ausgingen. Im Jahre 1832 bauten Unternehmer mit großem Kapital ganze Fabriken, und das führte dazu, daß unter den Handwerkern dieses Berufes eine Gewerkschaft der Bauleute entstand.** Die damit verbundene Veränderung der Grundlagen des Lebens wird von dem Sozialhistoriker Peter Laslett bemerkenswerterweise so definiert: „In der Vergangenheit hatte sich das ganze Leben in der Familie abgespielt, im Kreise geliebter, vertrauter Gesichter, bekannter und gewohnter Gegenstände, alle von menschlichem Maß . . . Ein System, das sicherte, daß ein Mann - wie er auch bezahlt wurde, wie wenig er auch besaß, wie nahe er auch dem Verhungern war - normalerweise innerhalb der Familie lebte und arbeitete, in diesem Kreis der Zuneigung, ging zu Ende. Und dieses Ende setzte genug Unzufriedenheit frei, um all die Unruhe hervorzurufen, die den Fortschritt der industriellen Welt gekennzeichnet hat."*** Die Veränderung der Produktionsverhältnisse führte zu einer vielseitigen Veränderung der Formen des sozialen Bewußtseins, zum Beispiel des Gemeinschaftsgefühls sehr großer Gruppen, die die entstehenden Gewerkschaften und die Reformbewegung prägten. Als gedrucktes Wort trat das neue Bewußtsein in der einflußreichsten, am kraftvollsten formulierten Flugblatt-Literatur in Erscheinung, die es je zuvor oder seither gegeben hatte (einschließlich des Werkes von William Cobbett und Thomas Carlyle). Von 1838 an - dem Jahr, in dem sowohl die erste „People's Charter" 102 als auch Oliver Twist (Charles Dickens) erschienen - kam eine Welle von Romanen her* Lewis Mumford: The Culture of Cities. London 1940, Tafel 11, oberstes Photo und Bildunterschrift. * * G . D . H. Cole/Raymond W . Postgate: The Common People, 1 7 4 6 - 1 9 4 6 . London 1950, S. 134, 136, 197, 214, 3 0 5 ; Maurice Herbert D o b b : Studies in the Development of Capitalism. London 1946, S. 2 6 3 - 2 6 4 . * * * Peter Laslett: The World W e Have Lost. London 1965, S. 17, 21.

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aus, offensichtlich von dem aufgerührt, was Carlyle unter der 'Frage nach dem Zustand Englands' verstanden hatte. Die Ordnung, in der sich England befand, konnte in keiner Weise mehr als unabdingbar betrachtet werden. Sie war beunruhigend und bedurfte dringend der Veränderung. Anstrengungen waren notwendig, sich darauf zu konzentrieren, das Problem zu analysieren, ein Rezept dafür zu entwickeln. Im Jahre 1844 veröffentlicht Disraeli Sybil (Sybil oder Die beiden Nationen) über die „beiden Nationen" in England, die Habenden und die Habenichtse, und über die Anstrengung eines recht außergewöhnlichen „Habenden", zugleich Gentleman und Chartist, etwas für die arme Arbeiterschaft zu tun. Im Jahre 1848 veröffentlicht Elizabeth Gaskell den Roman Mary Barton, die Geschichte eines Webers, der durch den Mangel und das Leid seiner Familie zur Verzweiflung getrieben wird. 1854 bringt Dickens den Roman Hard Times (1854; Harte Zeiten) über die unbarmherzige strenge Kindererziehung, Schulausbildung und Arbeitssituation heraus, entwickelt von utilitaristischen Unternehmern auf der Grundlage des Kults, den ihre Geschäftspartner um Mengen, Genauigkeit und Tatsachen machen. Und im Jahre 1855 veröffentlicht George Eliot ihr Buch Felix Holt, the Radical (1866; F. H., der Radikale), über die Familienbeziehungen, die der Klassenpolitik in einer Stadt der Midlands zugrunde liegen. Um die Formulierung von Walter Allen zu benutzen, in jenen Jahren war zum ersten Mal das Erscheinen einer ganz beträchtlichen Menge von Büchern ü b e r die Arbeiterklasse festzustellen. Nicht von ihr und nicht für sie, aber über sie. Die Arbeiter werden gewöhnlich in einem Zustand beunruhigenden Aufruhrs von den Fenstern eines Hauses im West End oder noch ein Stück weiter weg auf dem Land betrachtet. Und das, was von dort aus eben nicht genau gesehen werden kann, ist die Fabrik selbst. Sie tritt in Erscheinung als eine Art klobiger Rohling, ein düsteres, schatten werfend es Etwas, die Quelle nicht genau definierter Plagen und Übel. Was in ihr vorgeht, ist der am ungenauesten gezeichnete Teil des Romans. Kein Gedanke daran, daß eine Person hier jeden Tag zehn oder zwölf Stunden ihres Lebens verbringen muß mit einem darin konzentrierten Wust von genauso verwickelten und verfilzten Beziehungen wie in einem beliebigen Salon oder Tanzsaal. In Sybil werden die Fabriken, in denen die Gestalten aus der Arbeiterklasse ihre Tage verbringen, in einem einzigen, grob gearbeiteten Bild gezeichnet: „Hohe Schornsteine und riesige kasernenartige Gebäude, die überall emporschössen." Nicht

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eine einzige Szerte spielt in ihnen. Die Arbeiter werden durch ihre Diskussionen und ihre Kneipen und Clubs charakterisiert. Das einzige konkrete Bild ihrer Arbeit ist Devildusts erste Arbeit: „Ein Kind wurde gebraucht in Wadding Hole, einem Platz zur Verarbeitung von Abfall- und Ausschußbaumwolle, dem Müll der Fabrik, aus dem hier Tagesdecken und Bettdecken gemacht werden."* In Mary Barton gibt es viele - wenn auch unkonzentrierte - Bezüge zu den Arbeitsbedingungen, aber wir sind niemals innerhalb der Fabriken, und es ist bemerkenswert, daß eine von ihnen erst dann beschrieben wird, als sie Feuer gefangen hat: „Es sandte seine teuflischen Zungen aus jeder Fensterhöhle aus, die schwarzen Wände mit verliebter Wildheit leckend." In ähnlicher Weise wird die Gießerei, in der Jem arbeitet, als Hölle gesehen, auch wenn sie normal in Betrieb ist: „Der Hochofen toste mit einer mächtigen Flamme. In ihrer Feuer-und-Ruß-Färbung wie Teufel aussehend, standen die Männer schwarz herum und warteten auf den Augenblick, da die Tonnen festen Eisens als glühende Flüssigkeit geschmolzen herausschießen würden . . . Die Polizisten standen ehrfürchtig vor dem ungewohnten Anblick."** Sechs Jahre später, in North and South (1854/55; Nord und Süd), hat Elizabeth Gaskell sehr viel mehr Geschick entfaltet, die sozialen Klassen zusammenzubringen und sich solche Fragen wie Streikbruch in lebensechten Gesprächen abzuringen. Doch alles dies findet in der Wohnung des humanistischen, aber unpolitischen Beobachters aus der Mittelklasse statt. Die Angehörigen der Arbeiterklasse werden wieder gesehen wie schwärmende Bienen oder Scharen von Staren - eine Art niederen, weniger differenzierten Lebens. In Sybil „ergoß sich die unterirdische Nation aus den Kellern, um sich der Kühle der Sommernacht zu erfreuen". Als sich in North and South der Aufstand zusammenbraut, ist die Heldin „verblüfft über einen Aufruhr in der Menge der Menschen auf der übervölkerten Straße, . . . die vor Erregung summte . . . Als Margaret in der großen toten Mauer des Marlborough-Fabrikhofes den kleinen Seiteneingang mit der Flügeltür erreichte, . . . schaute sie um sich herum und hörte das erste, lange, noch weit entfernte Grollen des Gewitters - sah an dem weit entfernten Ende der Straße die erste, langsame, wo'gende Welle der dunklen Menge mit ihrem drohenden Kamm kommen, der

* Benjamin Disraeli: Sybil, or, The Two Nations. Buch 1, Kap. 9 - 1 1 . * * Elizabeth Gaskell: Mary Barton. A Tale of Manchester Life. Harmondsworth 1970, S. 88, 276.

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sich überschlug und wieder zurückfloß."* Das ist nicht einmal so gesehen wie vielleicht von einem aufmerksamen Beobachter, der Einzelheiten des Verhaltens klar wahrgenommen hätte. Es ist ein böser Traum - eine aufgestörte Vision von einer fremden Klasse, entstanden aus einer Mischung von Angst (Furcht vor einer Wiederholung der französischen ]acquerie)103 und zu geringem wirklichem Wissen. In Hard Times zeichnet sich Dickens darin aus, wie er die Mentalität der Eigentümer, Direktoren und Verwalter analysiert, doch die Fabriken, die Quellen und Energiezentralen ihrer Herrschaft waren, dienen nur als eine eher auffallende Variante des gewöhnlich ausdruckslosen industriellen Äußeren. Je mehr er das Bild ausmalt, desto mehr offenbart er die Unzulänglichkeit seines Verständnisses. Dies ist der „Grundton"-Abschnitt über Coketown aus Kapitel 5: „Sie war eine Stadt aus rotem Backstein oder aus Backstein, der rot gewesen wäre, wenn Rauch und Asche es zugelassen hätten, aber wie die Sache lag, war sie eine Stadt von unnatürlichem Rot und Schwarz, wie das bemalte Gesicht eines Wilden. Sie war eine Stadt der Maschinen und hohen Schornsteine, aus denen immer und ewig unendliche Rauchschlangen krochen und sich niemals ganz entringelten. Sie enthielt einen schwarzbraunen Kanal und einen Fluß, der von übelriechender Farbe purpurn strömte, und mächtige Gebäudemassen voller Fenster, aus denen den ganzen Tag ein Rattern und Beben drang und in denen der Kolben der Dampfmaschine eintönig auf und ab ging wie der Kopf eines in Trübsinn verfallenen Elefanten. Sie hatte ein paar große Straßen, die sich sehr ähnlich sahen, und viele kleine Straßen, die sich noch mehr glichen, war von Menschen bewohnt, die sich ebensosehr glichen, die zu denselben Stunden mit demselben Geräusch auf demselben Pflaster zu derselben Arbeit kamen und gingen und denen jeder Tag wie der gestrige und der morgige und jedes Jahr das Pendant zum vergangenen und zum nächsten war."** „Menschen . . . , die sich ebensosehr glichen" - k a n n n i c h t g a n z w a h r g e w e s e n s e i n . Aber man achte darauf, wie natürlich Dickens dazu kommt, das zu sagen. Offensichtlich hat es keinen Sinn, kritiksüchtig auf diesen gemeinsamen blinden Fleck zu verweisen, als ob alle diese außerordentlich talentierten Schriftsteller einen entscheidend wichtigen Bereich Englands ihrer Zeit absichtlich * Elizabeth Gaskeell: North and South. Harmondsworth 1 9 7 0 , S. 2 2 6 - 2 2 7 . ** Charles Dickens: Harte Zeiten. Berlin 1 9 7 2 , S. 29.

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ausgeschlossen hätten oder an ihm vorbeigerutscht wären. Tatsächlich griffen sie mit beachtlicher Bereitschaft das auf, was eine völlig neue, verwirrend schnelle und massive Entwicklung der Gesellschaft war. D i e meisten ihrer Klasse zogen es dagegen vor, diese Entwicklung entweder in „einem Chor aus bürgerlicher Habgier und englischem Chauvinismus"* zu rühmen oder sie andererseits zu ignorieren und zu hoffen, daß sie verginge. D i e „hungrigen Vierziger" 1 0 4 oder auch die fünfziger Jahre unmittelbar nach der „Großen Ausstellung" 1 0 5 und dem Zusammenbruch des Chartismus wurden als Höhepunkt des Industrieromans bekannt, was sie auch waren, so weit das damals möglich war. Doch das Fabriksystem war noch so ungleichmäßig entwickelt und unreif, daß es von keinem Künstler wirklich verarbeitet werden konnte, unabhängig von seinem Klassenstandpunkt. Selbst als in der Mitte des Jahrhunderts die Dampfturbine allgemein eingeführt war, tendierte man in den metallverarbeitenden Städten - wie z. B . in Birmingham - dazu, ein Netzwerk kleiner Betriebe beizubehalten - die W e l l e einer Dampfmaschine wurde benutzt, um die Maschinen mehrerer kleiner Werkstätten anzutreiben, von denen jede ihren eigenen Chef hatte. In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ließen in Sheffield die „großen Messerschmiede" einen großen Teil ihrer Arbeit außer Hause verrichten. Im Jahre 1858 arbeitete nur die Hälfte der Wollarbeiter von Yorskhire in Fabriken. Nach dem ersten Patent im Jahr 1780 hatte der mechanische W e b stuhl noch ein halbes Jahrhundert gebraucht, bis er sich weitgehend durchgesetzt hatte. Ein anderes Gewerbe, die Stiefel- und Schuhherstellung, organisierte sich erst in Fabriken, als zwischen 1875 und 1900 amerikanische Maschinen auf den Markt kamen. D a s Urteil des führenden Fachmannes auf dem Gebiet der Geschichte des Kapitalismus, Maurice D o b b , lautet so: „Erst im letzten Viertel des Jahrhunderts begann die Arbeiterklasse, den homogenen Charakter des Fabrikproletariats anzunehmen."** D a s bedeutet, daß es für einen Schriftsteller erst in diesem Jahrhundert möglich war, seine Kunst inmitten der städtischen Arbeiter * Zu all diesen Lobgesängen auf die „beispiellose Prosperität" und die „berauschende Vermehrung von Reichtum und Macht" vgl. Karl Marx: Das Kapital I. I n : M E W , Bd. 32, S. 687 und Matthew Arnolds Parodie auf Reden haltende Unterhausabgeordnete: The Function of Criticism at the Present Time. In: Essays in Criticism. First Series. London 1865. * * Maurice Herbert D o b b : Studies in the Development of Capitalism. London 1946, S. 2 6 4 - 2 6 5 .

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anzusiedeln oder auf sie zu gründen, ja auch städtische Arbeiter oder Arbeiterinnen zu den Hauptfiguren eines Romans von bemerkenswerter Gualität zu machen. Wie George Orwell in seinem Essay über Dickens in seiner bekannt ungewöhnlichen Art sagt: „Wenn man die Arbeiterklasse in der Literatur (und insbesondere in der englischen Literatur) sucht, wird alles, was man findet, ein Loch sein . . . Das gewöhnliche städtische Proletariat, die Menschen, die die Räder sich drehen lassen, sind von den Romanciers immer ignoriert worden." Er betont, daß Dickens' bekannteste Figuren aus der Arbeiterklasse Bill Sykes, Sam Weller und Mrs. Gamp sind: „Ein Einbrecher, ein Diener und eine betrunkene Hebamme - nicht unbedingt ein repräsentativer Querschnitt der englischen Arbeiterklasse."* Ich weiß, daß ich die Unmöglichkeit, daß es anders hätte sein können, genau im Gegensatz zu der verbreiteten Annahme betone, Künstler können erfinden, was sie nur wollen. Aber können sie wirklich aus dem Stand Sprünge über ihren Ort und ihre Zeit hinweg unternehmen? Die Grenzen, die Orwell bei Dickens feststellt, sind das „soziale Äquivalent" (um Plechanows Formulierung zu gebrauchen) einer Tendenz, die jener Gesellschaft so inhärent ist, daß ihr der Künstler unvermeidlich folgen muß. In seinem Nachruf auf Engels schrieb Lenin, daß zu jener Zeit (des viktorianischen Zeitalters) auch die Sozialisten „und sonstigen Freunde der Arbeiterklasse das Proletariat nur als ein G e s c h w ü r (betrachteten) und sahen mit Entsetzen, wie zugleich mit dem Wachstum der Industrie auch dieses Geschwür wächst. Deshalb sannen sie alle darüber nach, wie man die Entwicklung der Industrie und des Proletariats hemmen, wie man das 'Rad der Geschichte' aufhalten könnte."** In der Poesie ließ dies jene Grenzen entstehen, die Edward Thompson sogar in Arbeiten feststellte, die speziell und mit Leidenschaft für Arbeiter geschrieben worden waren, so in William Morris' Chants for Socialists (1884/86; Gesänge für Sozialisten) in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts: „Die Stadt ist 'böse' und eine 'Hölle' . . . Das Leben der Arbeiter ist 'schmutzig' und 'schäbig'; sie selbst sind 'arme Schatten', die 'verschmachten und sterben'. Die Vorstellung von „Menschenmassen" als etwas Bedrückendem ist allgegenwärtig. Morris drückt selten ein Gefühl für die V i t a l i t ä t

* George Orwell: Critical Essays. London 1951, S. 3. * * Wladimir Iljitsch Lenin: Friedrich Engels (Nachruf). I n : Lenin, Werke, Bd. 2, Berlin 1971, S. 6.

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der Arbeiterklasse aus, höchstens für die Sache selbst, für die H o f f n u n g auf die Zukunft. Der Haß gegen die Industrialisierung fehlt nie lange."* Die entsprechenden Grenzen in der Prosaliteratur definiert Jack Mitchell in einem Essay über kämpferische Arbeiterromane: „Jetzt (in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) kann noch nicht die Rede sein von dem Arbeiter-Schriftsteller, der einen Roman schreibt, weil er einem 'spontanen', positiven, ästhetischen B e d ü r f n i s folgt - dem Bedürfnis nämlich, das Leben des Arbeiters trotz aller Entfremdung und allen Elends als ein positives und gültiges L e b e n zu beschreiben . . . Wir bekommen einen gewissen Eindruck, w o v o n sie sich befreien wollen, aber w a s sie nach menschlichen Vorstellungen befreien wollen, das fehlt völlig. Wir spüren nichts von ihrem reichen, vielfältigen, unzerstörbaren, schöpferischen L e b e n , von innen erhellt."** Das ist andererseits genau das, was wir in jener Gruppe von Werken spüren, die ich anfangs nannte. Und was dabei so wichtig ist: Sie führen uns nicht „die Arbeiter" zur Besichtigung vor, sozusagen als eine Art Sonderfall, abseits vom Hauptstrom des menschlichen Lebens, über den man soziologische Betrachtungen anstellen oder den man in ein „Problem" einpacken könnte. Um zwei bedeutende Beispiele zu nennen: In David Storeys Romans Tbis Sporting Life (1960; Dieses Sportleben) wird der Held, Arthur Machin, ein angelernter Arbeiter in einer Maschinenfabrik, durch ein tragisches Dilemma gequält. Er weiß, daß in ihm mehr steckt, als ihm seine beengten Bedingungen je zu entfalten und zu entwickeln gestatten werden. Und er weiß, daß die Frau, bei der er wohnt und die er liebt, Mrs. Hammond, noch mehr eingeengt ist als er selbst; sie ist dem Kult der Selbstverleugnung ergeben, krankhaft in das Leben einer Witwe eingeschlossen. Die Bedingungen, unter denen sich diese Tragödie manifestiert, sind für das Industrieleben typisch. Arthurs einzige Möglichkeit, sich Anerkennung zu verschaffen, die seiner Persönlichkeit nach seiner Überzeugung zukommt, besteht darin, seine Arbeitskraft gleich zweimal zu verkaufen - und an den Wochenenden Rugby (die Lieblingssportart des industriellen Nordens) als Profi zu spielen. E r verdingt sich als Gladiator bei einem Club, dessen Hauptperson ein Mr. Weaver ist, dem auch die Fabrik gehört, in der * Edward Thompson: William Morris. London 1955, S. 775. * * Jack Mitchell: Aesthetic Problems of the Development of the ProletarianRevolutionary Novel in Nineteenth-Century Britain. In: Marxists on Literature. Hg. v. David Craig. Harmondsworth 1975, S. 2 5 8 - 2 5 9 .

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er arbeitet. In dieser Fabrik war übrigens auch Mrs. Hammonds Ehemann getötet worden, als ihm eine Maschine eine Feile in den Bauch gejagt hatte. Der springende Punkt ist der, daß der Sinn des Lebens, der in diesem Roman zum Ausdruck kommt, ebensowenig auf jene spezifischen Bedingungen einzugrenzen ist, wie Macbeth oder King Lear strenggenommen Studien der feudalen Monarchie im Schottland des 12. Jahrhunderts und im England des 10. Jahrhunderts genannt werden könnten. Jene Themen g i b t es bei Shakespeare, und sie haben eine große Bedeutung. Gleichzeitig dramatisieren jene Stücke mehr oder weniger ständige Möglichkeiten und Schwierigkeiten menschlicher Gefühle und Beziehungen, und das tut This Spotting Life ebenfalls. Der Roman (und seine Verfilmung durch Lindsay Anderson, für die Storey selbst das Drehbuch schrieb), wird niemals überholt sein, welche Veränderungen in der Schwerindustrie im Norden Englands, im Wohlstand der Arbeiterklasse und so weiter auch eintreten werden; die Leser und Betrachter werden nämlich ihr menschliches Interesse an dem Drama einer großen Persönlichkeit und ihrem Kampf um einen Platz in der Welt zu keiner Zeit verlieren. Das zweite Beispiel ist Peter Browns Smallcreep's Day. Dieser Roman erscheint mir als ein Prüfstein für Literatur, die versucht, das Fabrikleben abzubilden. Was machte es letztlich möglich, daß ein solches Werk erscheinen konnte? Wie ich bereits erwähnt habe, kam das Fabrikleben Ende des 18. Jahrhunderts auf die Tagesordnung der Schriftsteller. Zu dieser Zeit war die industrielle Entwicklung ungleichmäßig und unterschiedlich abgestuft: Es dauerte Generationen, bis das Fabriksystem ganz ausgewachsen war. Im Jahr 1923 waren 51 Prozent der versicherten Arbeiter in der Industrie tätig. 1939 und 1954 war diese Zahl auf 41 Prozent gefallen; im erstgenannten Jahr infolge der Wirtschaftskrise, die vor allem den Schiffbau, den Maschinenbau und die Textilindustrie traf, im zweiten Fall durch den kriegsbedingten Zuzug zum Militär und in die Verwaltungsorgane. Doch der generelle Trend geht zu den Fabriken und den Warenhäusern, die mit Fabrikmethoden arbeiten, also zu den schwarzen Bildern, die Browns Roman zeichnet. Zwischen 1948 und 1954 erhöhte die Fertigungsindustrie die Zahl ihrer Arbeitskräfte um mehr als eine Million oder um 13 Prozent, und die Beschäftigtenzahl in der Landwirtschaft sank um denselben Prozentsatz. Man kann wirklich sagen, daß viele Fabriken so klein und primitiv blieben, daß sie bestimmte Merkmale der alten Handwerker-Werk303

statt bewahrten; ein Fünftel der Arbeiter des nordenglischen Industriegebietes arbeitete noch unmittelbar vor dem Krieg in „Slum•Fabriken", die in der Regel umgebaute Einfamilienhäuser waren. Doch die sich am schnellsten entwickelnden Industriezweige - K r a f t fahrzeuge, Chemie, Radios und Plattenspieler, Elektrogeräte - waren zugleich diejenigen, die die größten Fabriken benötigten. Auf dem Gebiet der Fertigungsindustrie trat von 1948 bis 1954 auch der stärkste Anstieg der Beschäftigtenzahl gerade in den Branchen Kraftfahrzeuge, Chemie, Elektroartikel sowie sonstiger Maschinenbau (plus Nahrungsmittel, Getränke und Tabak) auf; innerhalb der metallverarbeitenden Industrie gab es das stärkste Wachstum in den Branchen Kraftfahrzeug- und Flugzeugteile, Flugzeugbau, Audiogeräte (Telephon, Radio, Plattenspieler) sowie Werkzeugmaschinen.* So kommt es, daß die am weitesten verbreitete Tätigkeit der meisten Leute, oder genauer gesagt, der größten geschlossenen Gruppe, in unserer Gesellschaft in der Herstellung von Gegenständen aus anorganischen Materialien oder Teilen besteht. Dies geschieht in riesigen Arbeitsteams unter genau geplanten und eingehend überwachten Bedingungen. Im 16. Jahrhundert waren die Arbeitseinheit und die Familieneinheit miteinander identisch, und sie umfaßten nur wenig Personen.** D i e durchschnittliche Familiengröße in Großbritannien beträgt immer noch fünf Personen (Eltern plus 2 , 9 Kinder im Schnitt). Dagegen ist die Arbeitseinheit heute sehr groß. In der Mitte der dreißiger Jahre gab es 140 000 Fabriken in Großbritannien, von denen etwa 30 000 mehr als 25 Arbeiter beschäftigten. In den Wachstumsindustrien arbeitete fast die Hälfte der Arbeiter in solchen größeren Betrieben. Bergwerke beschäftigten seit 1914 mehr als durchschnittlich 300 Arbeiter, und die typische Baumwollfabrik hatte zwischen 100 und 300 Beschäftigte. Unter den wie Pilze aus dem Boden schießenden Kraftfahrzeug- und Chemiebetrieben waren die größten Fabriken entstanden. In diesen Branchen war fast die Hälfte der Arbeiter in den größten Betrieben beschäftigt.*** D a s ist also die Normalsituation des Arbeitslebens von drei Vierteln unserer Bevölkerung. Und doch ist es gerade dieses Gebiet, das im künstle* G. D. Cole/Raymond W . Postgate: The Common People, 1 7 4 6 - 1 9 4 6 . London 1949, S. 6 2 6 ; G. D. Cole: The Postwar Condition of Britain. London 1956, S. 4 6 - 5 0 und Tabellen 3 3 - 3 5 ; Noreen Branson/Margot Heinemann: Britain in the Nineteen Thirties. London 1971, S. 74. * * Peter Laslett: The World We Have Lost. London 1965, S. 6 8 - 6 9 . * * * Eric J. Hobsbawm: Industry and Empire. London 1968, S. 182.

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rischen Bereich einen weißen Fleck bildet, oder, wie Orwell sagt, „ein Loch . . . Das gewöhnliche städtische Proletariat, die Menschen, die die Räder sich drehen lassen, sind von den Romanciers immer ignoriert worden."* Diese ungeheure Menge menschlicher Erfahrung schrie einfach danach, literarisch verarbeitet zu werden, und in der gegenwärtigen Generation hat sie sich den Weg erobert in das volle Bewußtsein der Schriftsteller oder zumindest an den hervortretenden Platz und die Beständigkeit des gedruckten Berichtes. Die Schönheit von Smallcreep's Day liegt darin, daß seine Form und sein Stil unmittelbar aus dem Fabrikleben hervorgehen, davon geprägt und gestaltet sind sowie ihm vollkommen entsprechen, so vollkommen, wie zum Beispiel bei Jane Austen die Form der moralisierenden Unterhaltung dem Lebensstil der begüterten Klasse entspricht. Der Stil von Smallcreep ist dicht gedrängt mit klobigen Dingen, die sich anscheinend von selbst bewegen oder herumstehen und die handelnden Figuren behindern. Diese Figuren werden zum Teil ebenfalls als Dinge gesehen. Es ist nicht ihre Persönlichkeit oder ihr soziales Verhalten, worauf man als erstes stößt (oft nicht einmal als zweites), sondern es ist ihre physische Präsenz. Und mittels der beißenden und grotesken Vorstellungskraft, die sich auf alles auswirkt, erscheinen die alltäglichsten Dinge und Menschen ungeheuerlich, werden deformiert. Der Held, Pinquean Smallcreep, hat zwanzig Jahre lang die Nuten in eine bestimmte Art von Rollen („Rolle Typ 436/3741/G") gemacht. Eine Tages zieht er los, bewaffnet mit zusätzlicher Verpflegung und extra Tabak; er durchsucht die ganze Fabrik, um herauszubekommen, wofür seine Rolle eigentlich gebraucht wird. „Bald war unser kleiner Abschnitt von vier Maschinen weit hinter mir, und das Geräusch schwoll zu einem Stampfen an, das ich als ziemlich schmerzhaft empfand. Das hatte ich erwartet. Ich glaube, es gibt auf der ganzen Erde kein solches Geräusch wie das einer Fabrik. Es ähnelt dem Geräusch einer sich unterhaltenden Menge, bei dem man zwar jede ausgesprochene Silbe hören, aber dennoch kein einziges Wort unterscheiden kann. Ich kenne das Geräusch einer Drehbank sehr gut, und ich kann das Geräusch einer Parkson wirklich ohne Schwierigkeiten von dem einer Colchester unterscheiden. Ich erkenne den Klang einer Ständerbohrmaschine und unterscheide ihn von dem eines Waagerechtbohrwerkes. Genauso ist es * George Orwell: Critical Essays. London 1951, S. 3. 20

Southall/Magister

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mit Körnerspitzenschleifmaschinen und spitzenlosen Schleifmaschinen, mit Zahnradstoßmaschinen und Hoblern, mit Einspindel- und Mehrspindelbohrmaschinen und so weiter . . . Aber jetzt, wo ich von diesen Maschinen und vielen anderen, die ich kannte, auf allen Seiten umgeben und von ihnen überwältigt war, konnte ich keine von ihnen hören. Nichts als ein unaufhörliches Brüllen erfüllte die Luft, was in den Geist nicht nur über die Ohren, sondern auch durch Nase, Mund und Kopfhaut einzudringen schien. Ich glaubte mich mitten in einem Nebel von Geräuschen zu befinden, schwierig zu durchqueren und schwierig in ihm zu atmen, ja sogar schwierig durch ihn hindurchzusehen. Ich war auch auf die nächste Quelle des Unbehagens vorbereitet, das mehr eine Sache der Augen als der Ohren war. Als ich um mich herumschaute, sah ich Augen, die mich im Vorübergehen anstarrten. Sie spähten zwischen Maschinen und aus der Tiefe der Regale hervor, aus Abfalltonnen und von Haufen von Maschinenteilen herab. Sie starrten durch die verrußten Glasluken kleiner, grüner WellblechSchreibstuben, sie tauchten plötzlich über Ständerbohrmaschinen auf und verfolgten meine Bewegungen von Stellen unterhalb des Bettes großer Pressen aus. Sie bildeten Reihen entlang den Kanten fettiger Bänke. Mehrere Augenpaare erschienen plötzlich in der Dunkelheit unterhalb eines Gitters unter meinen Füßen, so daß ich einen Moment fürchtete, ich könnte auf sie treten. Ich kam an eine Stelle, an der ein anderer Durchgang den meinen kreuzte. Mit den Augen darüber hinwegstreifend und mit den Ohren durch die Geräusche in Anspruch genommen, wurde ich durch einen kleinen Rollwagen umgeworfen. D e r Fahrer hielt den Wagen an, sprang vom Sitz herunter und lief in großer Aufregung zu mir herüber. Ich wollte mich gerade entschuldigen, ihm für sein Interesse an mir danken und ihm versichern, daß ich unverletzt war; er rannte aber an mir vorbei und begann meine Butterbrote aufzusammeln, die aus meinem Rucksack über den schmutziger Fußboden gesprungen waren. So schnell er sie aufsammeln konnte, stopfte er sie sich in den Mund, und in ein paar Sekunden war mein Essen fort. Dann kam er zu mir herüber, gestikulierte wie eine Windmühle und bewegte die Lippen zu mir hit(. Ich suchte mit den Fingern beider Hände in meinen Ohren herum, aber meine Wattepfropfen schienen sich tief in die Ohre zurückgezogen zu haben. E r kam auf mich zu, sein Gesicht ganz dicht vor meinem, mit den Kinnbacken kauend und malmend, mit den Lippen sprechend - kleine Stücke von K ä s e und Brot vor

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mir aus dem Munde verlierend. Von Zeit zu Zeit kam mir eine winzige Zweibeischeibe (die meine Frau als Überraschung für mich dazwischengesteckt haben mußte) ins Blickfeld, da das Essen in seinem Mund rotierte wie in einem Zementmischer. Ich grub nach den Wattepfropfen, da ich sicher war, daß er etwas Wichtiges sagte. Aber dann gab er mir einen Knuff auf die Nase, und in blitzschneller Erleuchtung begriff ich, daß er denken mußte, ich würde mir die Finger in die Ohren stecken, um ihn nicht zu hören. Bevor ich ihm die Sache erklären konnte, war er wieder auf seinen Wagen gestiegen und fortgefahren, eine Wolke blauen Rauch hinter sich lassend."* Alles, was passiert, tritt wie ein Schock ein oder wird als Ungeheuerlichkeit verstanden, und das geschieht mit einem Minimum an Veränderung der Wirklichkeit oder Erfindung von Details, die in Wirklichkeit nicht existieren. Wenn auch der Übergang von einem unheimlichen Ereignis zum nächsten an eine verwahrloste Alice in Wonderland (1865; Alice im Wunderland) denken läßt, ist dieser Roman jenem Buch jedoch völlig unähnlich; nichts von seinen Kuriositäten ist zufällig, er ist keine gemächliche, freie Gedankenverknüpfung von einer Grille zur nächsten, sondern er ist eine gründliche Forschungsreise durch die Fabrik von einem Ende zum anderen, von Werkstatt zu Werkstatt, vom Fundament bis zum Dach. Eine Passage über die Arbeit kann als Musterbeispiel für die Methode insgesamt dienen: „Unmittelbar vor mir stand die größte Maschine, die ich je gesehen hatte. Aus dem Geräusch, das sie machte, und aus dem großen Strom weißer Funken, der an der Seite aus ihr herausquoll, schloß ich, daß es eine Flächenschleifmaschine war, aber was für eine. Man hätte die Wände eines Hauses darauf aufbauen können. Die Schleifscheibe, die nach meiner Rechnung so groß wie ein Wagenrad sein mußte, war vollständig verborgen unter einer Metallkappe in der Form und Größe eines kleinen Darrhauses. Die Innenseite der Kappe wurde abwechselnd so hell wie der Sonnenschein und so schwarz wie die tiefste N a c h t . . . Als der letzte Guß hindurchgelaufen und meine Augen wieder klar geworden waren, stand ich am Fuß dieser Kappe und fand mich vor einer beachtlichen Steuertafel mit farbigen Lampen wieder und vor einem großen schuppigen Schwein. Das Schwein schaute mich kurz an und fuhr fort, ein Rad zu wickeln. Das Rad hatte einen * Peter C. Brown: Smallcreep's Day. London 1965, S. 8 - 1 0 . 20»

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G r i f f , aber das Schwein wickelte es, indem es seine Nase zwischen zwei der vier Speichen des Rades steckte und es gekonnt und sehr schnell hin und her drehte. Das Schwein brachte das Rad zum Stehen, gab ihrti noch einen oder zwei Stöße, zog seine Nase zurück und warf einen Blick auf die Skalen und Lichter. Offensichtlich zufriedengestellt, nahm es einen kurzen, mit einem Knauf versehenen Griff ins Maul und stieß ihn nach rechts. Ich stellte fest, daß der Maschinentisch jetzt zurückkam. D a s Schwein schlenderte jetzt schnüffelnd und schnaubend an mir vorbei. Ich bekam denjenigen in den Blick, der die nächste Maschine daneben bediente. E r sah wie ein Mensch aus und schaute in meine Richtung. Ich winkte daher und ging auf ihn zu. 'Guten Morgen', sagte ich. 'Ich war sehr überrascht, ein Schwein an einer Flächenschleifmaschine zu sehen.' D e r Mann lachte, es war ein breites, großzügiges, sprudelndes Lachen wie ein freundschaftlicher Schlag auf den Rücken. ' J a , er ist wirklich ein Schwein! Sieh ihn dir jetzt an.' Ich sah zu ihm hin. D a s Schwein stand an einer Stelle neben der Kappe, an der ein Funkenschauer heraussprühte, in einer solchen Stellung, daß der größte Teil auf seinen Rücken auftraf. Sie prallten in allen Richtungen auf ihn und hüllten ihn von Kopf bis Fuß in einen glitzernden Schirm. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, der einem Lächeln sehr ähnelte. ' E r liebt das', sagte mein Kollege. 'Als ob man ihm den Rücken kratzt, nehme ich an. D a s ist der Grund, warum sie ihm die Arbeit gegeben haben - nicht, weil er viel von einem Schwein an sich hat.' 'Ach?' sagte ich. 'Nein, ich muß für ihn einrichten, ihn an den richtigen Platz stellen und so weiter. Glaub mir, er kommt dann ganz gut zu Rande.' 'Du arbeitest hier auch im Akkord', sagte ich. 'Ich habe mich gerade mit einem Kumpel weiter unten über Akkord unterhalten.' ' J a ' , sagte er, 'darum mußt du entschuldigen, daß ich meine Arbeit weitermache, während ich mich mit dir unterhalte - es ist einfach unmöglich, damit aufzuhören, bevor nicht die Glocke läutet öder so etwas.' 'Ich bin sicher, es ist eine sehr große Belastung', sagte ich. 'Nun, ja und nein', antwortete er. 'Wenn du einen langen Durchlauf hast, ist es wirklich so, als ob du dich zum Schlafen hinlegst, nur daß du am Schluß müde bist. E s ist, als wärst du eine Puppe. D u siehst, wie sich deine Hände und deine Arme vor dir biegen. Sie tun dieselbe Sache immer und immer wieder, und sie scheinen nicht mehr zu dir zu gehören. Auch deine Beine. Als wenn du keinen Körper mehr hast und mitten in der Luft schwebst. Und nach kurzer Zeit wird dir

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schwarz vor den Augen - wie unter einer Narkose, denke ich.' 'Also ohne Schmerzen', sagte ich. ' O ja - nur zu bestimmten Zeiten zum Beispiel, wenn wir auf einen neuen J o b übergehen und die Einrichtung dafür verändern müssen. W i r leiden dann richtig unter Schmerzen wie ein Gelähmter, der wieder gehen lernt; du mußt dann versuchen, deinen eigenen Körper wieder in den Griff zu bekommen. Und zwar so, daß du nur in einer anderen Stellung wieder gelähmt werden kannst. E i n e Zeitlang siehst du dich da Abdeckungen für Kurbelgehäuse und dann Extruderdrüsen machen, alles vielleicht an demselben Vormittag. Wenn du das Gefühl bekommst, irgend etwas ist nicht in Ordnung, dann kämpfst du und versuchst, es in Griff zu kriegen und wieder an die Oberfläche zu kommen, damit du herausfinden kannst, was los ist. Dann kommt der Schmerz, von dem ich gesprochen habe. Und dann gibt es da die Unruhe, zum Beispiel die Unruhe, daß die Zeit sozusagen von hinten über dich herfällt, wie bei einem Surfer, der sich mit seinem Brett nicht auf dem K a m m der Welle halten kann, oder wie bei einem Hasen, der den Berg runter rennt und dabei über die eigenen Beine fällt. Weißt du, es ist alles so aufgeschlüsselt, wie eine Art Vorherbestimmung; mit ein paar Zahlen weißt du es genau, wann du zehn Stück geschafft haben wirst, und dann genau, wann es fünfundzwanzig Stück sein werden. Und wenn die Glocke läutet, werden deine Hände hier und hier stehen und deine F ü ß e da und dort. E s ist alles vor dir aufgezeichnet, jede Bewegung und jede Minute dafür. E s wäre alles nicht so schlimm, wenn mal jemand vorbeikäme und dir auf die Schulter klopfte oder fragte, wieviel du geschafft hast, oder sich sonst für irgend etwas interessierte. Oder einfach ein bißchen plauderte. Manchmal wünsche ich mir, irgend etwas würde kaputtgehen an dem verdammten Ding, einfach, damit jemand kommen und danach sehen muß. W e i ß t du', sagte er mit einem Blick auf mich, 'du bist seit drei Monaten der erste Mensch, der hierher kommt und sich hierher stellt und mit mir spricht.' 'Ach, wirklich', sagte ich. E r fuhr mit der Arbeit an der Maschine fort, ohne zu zögern oder eine Pause zu machen, während sich die Ramme im genauen Zeitrhythmus hob und wieder herunterfiel. ' D e r letzte Mensch war der Vorarbeiter. E r kam, um mich anzublasen, weil ich an einem Vormittag 6 0 0 0 Walzenenden verkehrt herum bearbeitet hatte. D a s war nicht sehr erhebend als erste menschliche Stimme, die ich hier seit Weihnachten gehört hatte. Ich kann nicht mit einem Schwein reden. Hier gibt es nur Feinde. D u bist von Fein-

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den umgeben.' - 'Feinde?' fragte ich überrascht. 'Ja. D a s ist der Feind Nummer eins hier', sagte er und zeigte auf die Uhr. Sie war sehr groß und überschaute die gesamte Werkstatt. 'Du weißt ja, sie beobachtet uns die g a n z e Zeit.' Ich antwortete ihm, ich verstünde, was er fühlte. 'Ach, aber es ist anders mit Akkord. D u arbeitest nicht im Akkord, nicht wahr? Du kannst sie nicht so gut wie wir kennen.' E r sah wieder zur Uhr hoch. 'Dieses alte Miststück. Glatt wie ein Aal.' E r schrie die Uhr an: 'Du würdest dich überhaupt nicht bewegen, wenn wir nicht aufpaßten, nicht wahr, du verdammtes Miststück!' Wie um ihm zu antworten, klackte die Uhr laut, und der Minutenzeiger sprang um einen Strich weiter. Wieder ruhig fuhr er zu mir gewandt fort: 'Und doch, je mehr du auf das Mistding aufpaßt, um so langsamer geht es. Uhren können dich hypnotisieren, weißt du - daß du dein ganzes Zeitgefühl verlierst.'"* D a s Schwein, das die Flächenschleifmaschine bedient, ist die einzige reine Phantasievorstellung in diesem Roman, eine Sache, die natürlich in Wirklichkeit nicht vorkommen kann (obwohl wir daran denken sollten, daß in letzter Zeit Delphine von der Kriegsmarine der U S A abgerichtet wurden, Haftminen an der Unterseite gegnerischer Schiffe anzubringen - die Delphine bekamen Nervenzusammenbrüche). Alles andere ist eine vergrößerte oder beschleunigte Version von etwas Normalem. E s ist die Art von „Übertreibung", wie sie für Dickens typisch ist, und wie Dickens' „Übertreibung", so erweist sich Browns Phantasie als Mittel, bemerkenswert direkt auf typische Merkmale der sozialen Realität hinzuweisen. Was der verzweifelte Akkordarbeiter den „Festwert mit Spielraum für mögliche Variablen" nennt (ihm stehen 0,62 Sekunden zu, um sich das Ohr zu kratzen, an dem er Ausschlag hat), die Besessenheit von der Zeit, das paranoide Gefühl dessen, der ständig überwacht wird, die verzerrten Gesichter, die physisch und damit unmißverständlich zeigen, wie unnatürlich der Arbeitsrhythmus den Menschen aufgezwungen wird, das ständige Weiterarbeiten des Fließbandes, auch wenn es zu Verletzungen oder Tod kommt . . . all dieses paßt zu den Annalen des größten und erfolgreichsten Unternehmens der Welt, der Ford Motor Company mit ihren amerikanischen und englischen Fabriken. D i e River-Rouge-Fabrik, die Ford in Detroit betrieb, verfügte über ein Förderband-System von insgesamt vierzig Kilometer Länge. * Ebenda, S. 41-46.

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Im Jahr 1"950 betrug die Jahresproduktion in Dagenham eine Million Fahrzeuge. In den sechziger Jahren wurden in Haiewood bei Liverpool auf dem Ford-Fließband 16 000 Bauteile zusammengeschraubt, zusammengeklebt oder punktverschweißt, damit ein Fahrzeug entstand. „Manchmal sind sogar der Mann, der die Schraube aufsteckt, und derjenige, der sie festdreht, zwei verschiedene Personen." Die Taktzeit für den Einbau des Getriebes beträgt anderthalb Minute (oder 40 Stück pro Stunde).* In der Rouge-Fabrik war vierzig Jahre lang ein gewisser Sorensen Fords Produktionschef, bei den Arbeitern bekannt unter dem Namen „Gußeisen-Charlie". Er und sein Management waren „Meister der Antreiberei". In den zwanziger Jahren fiel einem Beobachter der Fabrik folgendes auf: „Die Männer scheinet) die Besucher gar nicht wahrzunehmen. In den meisten Fabriken würden sie umherschauen - vielleicht in der Hoffnung, ein hübsches Mädchen in dieser Gruppe zu entdecken. Aber nicht bei Ford. Das Band läuft unerbittlich weiter. Die Männer haben exakt die Zeit, ihre Teilaufgabe zu erfüllen, bevor ihnen das Werkstück außer Reichweite gerät."** Das mag sich wie eine Geschichte aus der schlimmen alten Zeit anhören. Es sei daher ein Bericht von Ford aus Dagenham wiedergegeben, datiert 1962, geschrieben von dem gemeinsamen Ausschuß der gewerkschaftlichen Vertrauensleute: „Die Unfälle begannen im Ausstattungsbereich des Classic. Unsere Mitglieder montieren dort komplette Türfenster, Kanäle, Regler und Seitenlüftungen mit einer Geschwindigkeit von 35 Fahrzeugen pro Schicht. Als das letzte Mal die Arbeitsbelastung stieg, und zwar von 32 auf 35 Fahrzeuge, wurde unseren Mitgliedern gesagt, wenn sie den Satz von 35 akzeptieren, würde keine weitere Steigerung mehr gefordert. Dann versuchte die Firma, die Zahl der Türen um vier pro Mann und Schicht zu erhöhen. Es wurde vorgeschlagen, dies dadurch zu erreichen, daß das Arbeitsteam von neun Männern auf acht bei gleichbleibender Bandgeschwindigkeit reduziert würde. Das Team erklärte sich unter Protest bereit, das zu versuchen, und ab Montag, dem 15. Oktober, wurde ein Mann abgezogen. Da acht Männer die Arbeit nicht schaffen konnten, die bisher von * Georges Friedmann: Industrial Society. London 1955, S. 1 6 3 ; Huw Beynon: Working for Ford. Harmondsworth 1973, S. 12, 95. ** J. N. Leonard: The Tragedy of Ford. New York 1932, zit. in Huw Beynon-. Working for Ford. Harmondsworth 1973, S. 28.

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neun Männern geleistet worden war, wurden sie das Band hinunter aus dem Rhythmus gerissen . . ."* Dies ist ein gewöhnliches Zeugnis dafür, wie Menschen durch das Fließband überanstrengt und schikaniert werden. In komischem Stil hat das Chaplin in Modern Times schon vor fünfzig Jahren abgebildet. Browns am unheimlichsten wirkende Bilder passen alle zu der wirklichen Geschichte von Ford. Kurz vor dem Ende von Kapitel vier bekommt eine Frau ein Baby auf dem Fußboden während eines Kantinenkonzerts. Niemand zeigt dafür irgendein Interesse. Das Baby stirbt. Dazu sei ein Unfall bei Ford in Haiewood angeführt: „Gelegentlich sterben Männer. Einer von ihnen, ein Mann um die vierzig, lag neben dem Band, während seine Kollegen arbeiteten. Wir waren vor Schichtbeginn im Umkleideraum, als er mit Schmerzen in der Brust zusammenbrach. Er nahm eine entsetzliche Farbe an, meinte dann aber, es wäre wieder alles in Ordnung. Wir stiegen die Treppen zu unserer Werkstatt hinab, gingen zum Band hinüber, und er brach erneut zusammen. Weißt du - flach auf dem Fußboden. Sein Gesicht hatte eine entsetzliche graue Farbe. Wir alle stürzten zu ihm, und da tönte der Summer. Das Band lief an. Der Vorarbeiter kam vorbei und rief: „An die A r b e i t . . . an das Band!" Und während wir Teile an den Autos befestigten, lag er daneben. Zehn Minuten muß er so dagelegen haben . . . tot. Vor uns."** Es stellt sich heraus, daß Peter Browns schwarze „Phantasie" nur bei oberflächlicher Betrachtung unrealistisch ist. Sie ist "viel weniger hochstilisiert und viel lebensechter, als man denken würde, und das trifft überall zu, wo man sie auch untersucht. Der Arbeiter an der Presse in Kapitel zwei sagt: „Wenn du einen langen Durchlauf hast, ist es wirklich so, als ob du dich zum Schlafen hinlegst . . . " Die Arbeiter in Haiewood sagen Dinge wie „Wenn ich hier bin, ist mein Geist leer. Ich m a c h e , daß er leer wird." Oder auch: „Du bringst hier nichts zustande. Ein Roboter könnte die Arbeit machen. Das Band hier ist für Schwachsinnige gemacht. Es ist ni'cht nötig, daß man denkt." Huw Beynon fügt hinzu: „Die meisten Ford-Arbeiter, mit denen ich sprach, drückten mehr öder weniger ähnliche Gefühle aus."* Pinquean Smallcreep versucht, der Spur des Teils, das er * What's Wrong at Fords. London 1962, S. 8 - 9 . ** Huw Beynon: Working for Ford. Harmondsworth 1973, S. 76. *** Ebenda, S. 109, 114; vgl. auch S. 118, 121.

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macht, nachzugehen: Was wird aus ihm? Wofür ist es da? Das ist ein komisches Bild dafür, was die meisten Arbeiter in einer großen Fabrik fühlen: Entweder sehen sie nie das fertige Erzeugnis, oder sie hassen es. „Nur wenige Männer sehen die Autos, wie sie vom Band heruntergefahren werden. Der Montagearbeiter hat immer mit Autos zu tun, die sich bewegen, aber nie mit einem Auto, das sich mit eigener Kraft fortbewegt . . . Sie erzählen alle die Geschichte von dem Mann, der von Ford wegging, um in einer Bonbonfabrik zu arbeiten, wo er die roten und die blauen auseinandersortieren mußte. Doch er hörte dort wieder auf, weil er es nicht aushalten konnte, immerzu Entscheidungen zu fällen . . . Oder von dem Burschen vom Lande, der nicht glauben konnte, daß er an j e d e m Auto arbeiten sollte: „Nein, nein, ich habe mein Auto fertig. Das dort drüben. Ein grünes war es."* Was der Roman und der dokumentarische Bericht gemeinsam bestätigen, ist die grundlegende Erkenntnis der Radikalen und der ersten Sozialisten vor anderthalb Jahrhunderten. Thomas Hodgskin (der Begründer der Erwachsenenbildung in Großbritannien) schrieb in seinem Buch Labour Defended Against the Claims of Capital (1825; Die Arbeit zu verteidigen gegen die Forderungen des Kapitals): „Es gibt nichts mehr, was wir den natürlichen Lohn der Arbeit des einzelnen nennen könnten. Jeder Arbeiter erzeugt nur einzelne Teile des Ganzen. Keiner dieser Teile hat für sich selbst Wert oder Nutzen. Es gibt nichts, was der Arbeiter aufgreifen und wovon er sagen könnte: das ist mein Produkt, das will ich für mich behalten . . ."** Das ist das Unbehagen an der Arbeitsteilung und ihre Tragödie. Der Arbeiter kann sich nicht an dem erfreuen, was er macht, sich nicht damit identifizieren, es nicht einmal wirklich sehen. Unter solchen Bedingungen zu arbeiten bedeutet, weniger zu werden, als man ist, oder eine deformierte Version von einem selbst. Das ist das Wesen des mißgestalteten Aussehens der Menschen, die Smallcreep auf allen seinen Wegen trifft. Deformationen waren tatsächlich eine Realität. Zum Beispiel die Deformation des Beckens, die Engels bei jungen Arbeiterinnen der Textilfabriken im Manchester der vierziger Jahre beobachtete, oder dieser weit jüngere Beleg aus den Stiefel- und Schuhfabriken der südlichen Midlands: „Es gab in unserer Familie nur wenige, die auf ihre Arbeit stolz waren oder die Grund dazu hatten. Onkel Charlie, ein Rohrdachdecker . . . ist eine * Ebenda, S. 109. * * Siehe ebenda, S. 25.

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seltene Ausnahme . . . Alle Kinder von Ellen Youl begannen mit der Arbeit in einer jener frühen Fabriken, und sie tragen noch heute die Narben jenes neuartigen Vorrechts: Rücken, die so gekrümmt sind, daß sie nichts als das Pflaster unter sich sehen, wenn sie die Straße lang schlurfen, um sich ein Viertel Margarine und ein Bündel Brennholz zu holen."* Deformation ist aber auch als Metapher zutreffend; in diesem Zusammenhang hat sie die Bedeutung, die Marx ihr in seinen Kapiteln über Arbeitsteilung und Maschinerie gegeben hat: „[Die Manufaktur] verkrüppelt den Arbeiter in eine Abnormität, indem sie sein Detailgeschick treibhausmäßig fördert durch Unterdrückung einer Welt von produktiven Trieben und Anlagen . . . das Individuum selbst wird geteilt, in das automatische Triebwerk einer Teilarbeit verwandelt . . . [Die] lebenslängliche [n] Annexion eines ganzen Menschen an einer Detailoperation . . . [wird durch] die k a p i t a l i s t i s c h e F o r m d e r g r o ß e n I n d u s t r i e . . . noch monströse): reproduziert, in der eigentlichen Fabrik durch Verwandlung des Arbeiters in den selbstbewußten Zubehör einer Teilmaschine".** Trotz der künstlerischen Zeugnisse von Romanciers wie Dickens, Upton Sinclair in The Jungle (1906; Der Dschungel), Tressell in The Ragged Trousered Philantropists, gab es in dem Jahrhundert nach dem Kapital bei den Experten der Industriearbeit die Tendenz, das eine oder andere Argument dafür zu finden, daß diese Arbeit gar nicht so monoton war. In seinem bedeutsamen Buch Industrial Society schreibt Georges Friedmann in dem Kapitel Problems of Monotony: „Es wäre falsch, anzunehmen, daß alle Arbeitsgänge in mechanisierten Werkstätten, die dem Besucher monoton vorkommen, so auch von denen empfunden werden, die sie ausführen . . . Tatsächlich schließen sie gewisse Veränderungen des Rohmaterials, des Maschineneinsatzes und des Arbeitsrhythmus' ein, die dem Arbeiter durchaus augenscheinlich sind." Er erwähnt dann das Ausstanzen von Kurbelwellen aus heißem Metall und sagt: „Die Arbeiter erklärten, daß ihnen diese Arbeit nicht ermüdend erschiene. Außerdem ist es eine Tatsache, daß ein bestimmter Arbeiter für eine bestimmte Maschine eine gewisse Vorliebe hat und es nicht gerne sieht, wenn er zu einer anderen umgesetzt wird." Und ein Forscher des Industrial Fatigue Research Board (Behörde zur Erforschung der Industrie* Jetemy Seabrook: The Unprivileged. London 1973, S. 1 4 0 - 1 4 1 . * * Kapital I. In: M E W , Bd. 23, S. 381, 508.

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müdigkeit) argumentiert, daß ein Arbeiter zwar einerseits eine Operation unaufhörlich wiederholen kann, aber andererseits „sein emotionales Leben durchaus abwechslungsreich sein mag: er muß sich einstellen auf Vorgesetzte, Gleichgeordnete und Untergebene . . . Wenn eine solche Situation entsteht - was nicht selten ist - , geht das Interesse von der Monotonie der Arbeit auf die geweckte Emotion über."* Daran ist schon etwas Wahres, aber wieviel? Zu dem Gefühl des Arbeiters für seine eigene Maschine gibt es einen interessanten Beleg aus der Sowjetunion. Ein Stachanowarbeiter oder Bestarbeiter in der Stiefel- und Schuhindustrie namens Smetanin sagte 1935: „Um gut zu arbeiten, muß du deine Maschine gut kennen, mußt du ihr inneres Leben kennen . . . Ich schaffte meine 1 400 Paare, aber nicht als Ergebnis körperlicher Anstrengung, sondern allein durch die Einhaltung des Arbeitsrhythmus, und weil ich jede einzelne Operation sorgfältig studiert habe." Dies ist augenfällig der Kommentar eines intelligenten und sensiblen Menschen. Aber er war von Anfang an dabei, hatte seine Bedingungen selbst geschaffen. Wir wissen aus der Geschichte der Stachanowbewegung, wie sie das Land überflutete, in durchbruchartiger Weise übernommen von Tausenden, angespornt durch die stark erhöhten Löhne, die sie dadurch erhielten allerdings nur ein paar Jahre lang; dann wurde die Regierung klug und führte die Löhne wieder drastisch zurück. D e r Haken wird sichtbar in dem Kommentar einer anderen Stachanowarbeiterin, einer Frau aus einer Textilfabrik: „Ich bin dadurch zu hervorragenden Ergebnissen gekommen, daß ich alle unnötigen Bewegungen unterlassen habe. D a s ist das ganze Geheimnis meiner A r b e i t . " * * „Unnötige Bewegungen unterlassen" kann man recht gut, wenn man selber darüber zu entscheiden hat. Wird das aber zu einer Forderung, die - auf einer Kontroll- oder Direktionsebene - von oben kommt, wird die betreffende Person in einen Arbeitszyklus eingezwängt; das ist für den Organismus, für unser organisches Selbst unerträglich, so daß wir es einfach n i c h t e r t r a g e n können. Diese Auffassung gründet sich auf medizinische Zahlen eines weiten Spektrums von Quellen. Friedmann zitiert einen Fall aus einer hochmechanisierten Fabrik im Amerika der zwanziger Jahre, die * Georges Friedmann: Industrial Society. London 1955, S. 1 3 3 - 1 3 4 ; Fourth Annual Report, Industrial Fatigue Research Board. 1924, S. 26. * * Maurice H. Dobb: Soviet Economic Development Since 1917. London 1948, S. 432-434.

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Pumpen herstellte. D i e Gesamtzahl der Arbeiter, die sich wegen attestierter „nervöser Depression" krank meldeten, stieg von 1926 bis 1929, als das Werk „rationalisiert", das heißt im Interesse höherer Produktivität völlig umgestaltet wurde. Im Jahre 1926 entfielen 12 Prozent der Krankheitsfälle auf „nervöse Depression"; 1927 waren es 18 Prozent, 1928 schon 2 9 Prozent, 1929 dann 34 Prozent.* Daran hat sich nichts geändert. V o r drei Jahren wies der britische Minister für Gesundheits- und Sozialwesen darauf hin, daß die Zahl der verlorenen Arbeitstage aufgrund von „geistigen Störungen, Neurosen und Erschöpfungszuständen" 38,5 Millionen im Berichtsjahr erreichte, das am 30. Juni 1971 endete; dem standen 28,5 Millionen verlorene Arbeitstage aufgrund von Unfällen und 10 Millionen aufgrund von Erkältungen gegenüber.** Natürlich liegt vielen dieser „Nöurosen und Erschöpfungszuständen" nicht (oder nicht direkt) die Fabrikarbeit zugrunde - ein großer Teil geht s i c h e r auf solche Lebensbedingungen wie Hochhaus-Wohnungen, Verkehrschaos bei der morgendlichen Fahrt zur Arbeit, Nachtarbeit usw. zurück. Alle diese Faktoren ergeben sich aber daraus, daß wir unsere Ansiedlungen so organisiert haben, daß die maximale Anzahl von Arbeitern möglichst schnell zu ihren Maschinen gebracht werden kann. E s gibt jedoch noch eine Menge anderer Beweise dafür, daß die Maschinenarbeit die Menschen in ihren Gefühlen schädigt. In Schweden zum Beispiel war 1968 der Wert der Produktionsverluste infolge Krankheit sehr hoch (21 Millionen Schwedenkronen); 30 Prozent gingen davon auf psychosomatische Erkrankungen zurück. Im Ergebnis dessen bauten viele Firmen ihre Fließbänder ab. Saab-Scania gab ein Fließband zur Produktion von Bussen auf, an dem die Arbeiter eine Taktzeit von eineinhalb Minuten hatten. An seine Stelle trat ein System zur Produktion von Dieselmotoren, bei denen die Arbeiter in Dreiergruppen arbeiteten. Sie produzierten vollständige Motoren und konnten selbst entscheiden, ob sie an diesem Tag gemeinsam an einem Motor arbeiten wollten oder ob jeder allein den vollständigen Motor produzieren sollte. Sie verfügten über eigene Werkzeuge, und sie konnten die Arbeit verlangsamen oder Pausen einlegen, wann immer sie wollten, wenn sie nur das Wochenziel erreichten. D i e Taktzeit war wesentlich länger - 30 Minuten statt anderthalb. D a s Ergebnis waren: geringere Personalfluktuation, weniger

* Georges Friedmann: Industrial Society. London 1955, S. 277. * * Morning Star v. 2. 4. 1973.

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Fehlzeiten, höhere Erzeugnisqualität. Die Arbeiter, vorwiegend Einwanderer aus Finnland, fanden die Arbeit weniger monoton und die Atmosphäre „weniger gespannt".* D a s erscheint mir absolut entscheidend. Dies ist die Art von Veränderung, die unsere Gesellschaft am meisten braucht - wobei ich die Frage dahingestellt sein lasse, welche politischen Veränderungen diese Wandlung der Arbeit am besten bewirken würden. Um dieser Notwendigkeit von Veränderungen zu entgehen, behaupten die E x perten des Industrial Fatigue Research Board, der Arbeiter könne Abwechslungsreichtum in seinem emotionalen Leben dadurch gewinnen, daß er „sich auf seine Vorgesetzten einstelle"! D i e Vorgesetzten, denen die meisten Arbeiter tatsächlich begegnen und auf die sie sich einstellen müssen, sind die Aufseher, einmütig verachtet, abgelehnt und bemitleidet. „Sie sind wie Zombies 1 0 6 . Ich glaube, sie dürfen nicht einmal in der verdammten Nacht von sich aus pinkeln gehen. Sie g e h ö r e n Ford . . . D i e Aufseher hier werden wie der letzte Dreck b e h a n d e l t . . . Neulich hat der Direktor unseren Vorarbeiter angebrüllt: 'Du dämlicher Scheißkerl, ich schmeiße dich raus, wenn du so weitermachst!' . . . Alles, was sie davon haben, ist ein weißer K i t t e l . " * * Eine Analyse einer großen Fabrik heutzutage ist das Bild einer Gemeinschaft unter höchster Spannung, mit niedrigstem Wohlgefühl, mit Reibungen zwischen allen Teilen, mit entsetzlich wenig persönlicher Erfüllung. D a s wird klar an den Zahlen der Streiks. Von 1947 bis 1949 waren daran in ganz Großbritannien in allen Autofabriken 9 000 Arbeiter beteiligt, und 25 000 Arbeitstage wurden verloren. Im Zeitrauim 1953 bis 1955 waren es 42 000 Arbeiter und 137 000 Arbeitstage; von 1959 bis 1961 sogar 116 000 Arbeiter und 307 000 Arbeitstage.*** Eine solche Gemeinschaft ist krank. Ihr Maßstab, ihr Tempo und ihre inneren Beziehungen sind eindeutig schädlich für den menschlichen Organismus. D a s war der Denkkraft jener frühen Sozialisten einleuchtend, die bei der Enteignung der selbständigen Handwerker z u g e g e n waren, und einleuchtend für diejenigen, die in kleinen Gruppen arbeiteten, die sahen, wie es geschah, die die Entwicklung der Arbeitsteilung erkannten, als das Fabriksystem entstand. Und es ist einleuchtend für die schöpferischen Schriftsteller, die ihre Augen * Linda Christmas: The Mickey Mouse Trap. In: The Guardian v. 21. 6. 1973. * * Huw Beynon: Working for Ford. Harmondsworth 1973, S. 125. * * * Ebenda, S. 51.

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gebrauchen und die - weil sie gute Romanciers sind und ihrem Verstand trauen - n i c h t i n d e r L a g e s i n d , dem physischen und psychischen Beweis dadurch aus dem Wege zu gehen, daß sie Schwindeltheorien an seine Stelle setzen. Ein früherer Public-Relations-Mann oder Ideologe des Fabriksystems, Andrew Ure, definierte eine Fabrik als „eine ungeheure Automation, bestehend aus verschiedenen mechanischen und intellektuellen Organen, in ununterbrochener Harmonie wirkend, einer selbstregulierenden Triebkraft unterworfen."* Solche Lobgesänge auf die Fabrik werden heute noch geschrieben: „Eine moderne Fabrik, die Autos, Nähmaschinen, Uhren oder Schuhe produziert, ist wie ein Fluß. D i e verschiedenen E l e mente f l i e ß e n wie Nebenflüsse aus verschiedenen Abteilungen und gehen sanft in den Strom der fertigen Produktion ein, der aus der Montagehalle k o m m t . " * * Was dagegen die Arbeiter sagen, hört sich so an: „Das ist die langweiligste Arbeit der Welt. E s ist immer und immer wieder die gleiche Sache. E s gibt keine Abwechslung in der Arbeit, sie erschöpft sich. D u wirst von ihr entsetzlich müde. Sie läßt dein Denken ganz langsam werden." - „Er ist merkwürdig, dieser Ort. E r hat keine wirklich guten Seiten. Nichts ist interessant. D u könntest die Arbeit nicht mitnehmen. E s gibt nichts mitzunehmen. D u vergißt einfach a l l e s . " * * * Und der Romancier sagt das so: „Wo ist die Freude, wo ist das Lächeln - das Lächeln des K ö r pers, das Lächeln der Beine und Arme, das Lächeln des Rückens und des Bauches, des Kindes im Bauch und des Triumphes beim Ausstoßen des Kindes aus dem Bauch? W o ist der Donner und der Blitz der menschlichen Fleischwerdung, die Feier des Fleisches, die Feier der E r d e und des Gefühls der E r d e ? W o ist die Feier der Flammen im Brennofen, der Muskeln, die das rote Eisen schmieden, und all der Triumphe der Dinge, die ein Mann in die Hand nimmt, um selbst etwas für sich zu tun, um sich selbst zu adeln?" „Doch da waren nur vertrocknete Hülsen, die im Zugwind raschelten. Ich nahm eine Rolle auf und legte sie in die Maschine. M i t meiner rechten Hand drückte ich einen Hebel nach unten und nahm mit der linken Hand die Rolle auf. Ich zog den Hebel hoch, wartete auf das Hochgehen des Preßkolbens, nahm die Rolle mit meiner * The Philosophy of Manufactures (1835). Zit. in: Maurice H. D o b b : Studies in the Development of Capitalism. London 1946, S. 259, Nr. 2. * * Recent Economic Changes in the U . S . (1929). Zit. in: Maurice H. D o o b : Studies in the Development of Capitalism, S. 360. * * * Huw Beynon: Working for Ford. Harmondsworth 1973, S. 48, 121.

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rechten Hand weg und legte die zweite mit der linken ein. Ich drückte den Hebel nach unten und legte die erste Rolle ab. Dann nahm ich die nächste Rolle auf, zog den Hebel hoch, nahm die zweite Rolle heraus und legte die nächste ein. Ich drückte den Hebel nach unten, legte die zweite ab, zog, und nahm eine vierte auf. Ich zog den Hebel hoch, nahm die dritte heraus und legte die vierte ein, bevor ich den Hebel hinunterdrückte, die fertige Rolle ablegte und die nächste aufnahm. Ich zog den Hebel wieder hoch, nahm die Rolle heraus und legte die nächste ein. Ich drückte den Hebel hinunter, legte die Rolle ab und nahm die nächste auf. Dann zog ich den Hebel hoch, nahm die Rolle heraus und ersetzte sie durch die nächste. Ich drückte den Hebel nach unten . . ."* * Peter C. Brown: Smallcreep's Day. London 1965, S. 191-192.

Anhang

Abkürzungen GLW JSW MEW

S & L

- Georg Lukäcs Werke. Neuwied - Berlin (West) 1971. - Jonathan Swift Werke. Hg. von Anselm Schlösser. Berlin - Weimar 1967. - Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 1 - 3 9 (u. 2 Erg.Bde., Verz.Bde.) Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1956-71. - D. H. Lawrence: Söhne und Liebhaber. Berlin 1966.

Anmerkungen 1 Vgl. Marxistische Literaturkritik in England - Das Thirties Movement. Hg. v. H. Gustav Klaus. Frankfurt/M. 1973. 2 Margot Heinemann - geb. 1912, marxistische Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin, Professor für englische Literatur in Cambridge, führendes Mitglied der Kommunistischen Partei Großbritanniens. 3 Robert Weimann: Realität und Realismus. Über Kunst und Theorie in dieser Zeit. I n : Sinn und Form 36 (1984), 5, S. 934. 4 „that Shakespearean rag", Zitat aus T. S. Eliots Poem The Waste Land/Das wüste Land. Frankf. a. M. 1962, S. 4 4 - 4 5 . 5 Nicholas Grimvald (oder Grimald), 1519-62, Geistlicher, übersetzte Vergil und Cicero; Mitarbeit an Tottel's Miscellany (1557), einem Sammelband hauptsächlich der poetischen Werke von Wyatt und Surrey. 6 William Cornish (oder Cornyshe), 1465-1523, engl. Komponist und Schauspieler am Hofe von Heinrich VII. und Heinrich VIII., komponierte religiöse und weltliche Choralwerke. 7 Izaak Walton, 1593-1683, geb. in Stratford, Eisenhändler in der Fleet Street, populärer Schriftsteller. Biographien über John Donne, Henry Wotton, George Herbert, Richard Hooker und poetische Abhandlung zur Kunst des Angelns The Compleat Angler, or the Contemplative Man's Recreation (1553).

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Anhang

Abkürzungen GLW JSW MEW

S & L

- Georg Lukäcs Werke. Neuwied - Berlin (West) 1971. - Jonathan Swift Werke. Hg. von Anselm Schlösser. Berlin - Weimar 1967. - Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 1 - 3 9 (u. 2 Erg.Bde., Verz.Bde.) Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1956-71. - D. H. Lawrence: Söhne und Liebhaber. Berlin 1966.

Anmerkungen 1 Vgl. Marxistische Literaturkritik in England - Das Thirties Movement. Hg. v. H. Gustav Klaus. Frankfurt/M. 1973. 2 Margot Heinemann - geb. 1912, marxistische Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin, Professor für englische Literatur in Cambridge, führendes Mitglied der Kommunistischen Partei Großbritanniens. 3 Robert Weimann: Realität und Realismus. Über Kunst und Theorie in dieser Zeit. I n : Sinn und Form 36 (1984), 5, S. 934. 4 „that Shakespearean rag", Zitat aus T. S. Eliots Poem The Waste Land/Das wüste Land. Frankf. a. M. 1962, S. 4 4 - 4 5 . 5 Nicholas Grimvald (oder Grimald), 1519-62, Geistlicher, übersetzte Vergil und Cicero; Mitarbeit an Tottel's Miscellany (1557), einem Sammelband hauptsächlich der poetischen Werke von Wyatt und Surrey. 6 William Cornish (oder Cornyshe), 1465-1523, engl. Komponist und Schauspieler am Hofe von Heinrich VII. und Heinrich VIII., komponierte religiöse und weltliche Choralwerke. 7 Izaak Walton, 1593-1683, geb. in Stratford, Eisenhändler in der Fleet Street, populärer Schriftsteller. Biographien über John Donne, Henry Wotton, George Herbert, Richard Hooker und poetische Abhandlung zur Kunst des Angelns The Compleat Angler, or the Contemplative Man's Recreation (1553).

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8 Mathew Gregory Lewis, 1775-1818, bekannt durch seinen Roman Tbe Monk '(1796), schrieb zahlreiche Dramen und Gedichte. 9 Shakespeare-Zitate in deutscher Sprache im (olgenden immer nach der Ausgabe: William Shakespeare. Sämtliche Werke in vier Bänden. Hg. v. Anselm Schlösser. Berlin - Weimar 1975. 10 Thomas Walsingham, geb. 1422, Mönch und Historiker, Verfasser von Chroniken zur englischen Geschichte, sein Hauptwerk ist die Htsloria Anglicana für die Periode 1272-1422. 11 Jean Froissart, 1337-1410, frz. Chronikenschreiber, der sich meist an Fürstenhöfen aufhielt; ausgiebige Reisen zum Studium europäischer Geschichte, seine berühmten Cbroniques befassen sich mit historischen Ereignissen in Flandern, Frankreich, Spanien, Portugal, England in der Zeit von 1325-1400. 12 Caputiati - frz. Ketzer des 12. Jh., so genannt wegen ihrer weißen Kappen. 13 William Shakespeare: Der Sturm V, 1, 100-101. 14 „falsch Gezücht" - bei Shakespeare „caterpillars" (dt. „Raupen"). 15 Thomas Becon, 1512-67, engagierter protestantischer Geistlicher. 16 William Harrison, 1534-93, Kanonicus und Historiker, Autor der bekannten Geschichtschronik Description of England (enthalten in Holinsheds Cbronicles, 1577). Übersetzer der schottischen Version von Boeces Description of Scotland, ebenfalls bei Holinshed. 17 Thomas Wilson, 1525-81, Geheimrat und 1'578 Kabinettsminister, veröffentlichte Rule Of Reason (1551) und Tbe Art of Rhetorique (1553), plädiert dort für den Gebrauch eines guten Englisch und für eine korrekte Anwendung der Redefiguren. 18 „Not bricht Eisen" - bei Shakespeare: „hunger broke stone walls" (dt. „Hunger brach Mauern"). 19 Sir Artegall - Gestalt aus Buch V von Edmund Spensers Faerie Queene (1590/96). 20 Bauernaufstand in Philip Sidneys Arcadia (1590) - Aufstand der Heloten gegen die Unterdrückung durch den Adel von Lacedämon, vom Prinzen Palladius aus Arkadien im Stile des höfisch-humanistischen Herrscherideals befriedet; auch als poetischer Reflex auf die Unterdrückung der Iren durch die engl. Kolonisten interpretiert. 21 Sir Walter Ralegh (auch Raleigh), 1552 (?)-1618, nahm teil an zahlreichen Schiffsexpeditionen zum amerikanischen Kontinent, Günstling Elisabeth I., fiel in Ungnade und wurde 1592 im Tower eingekerkert, in einem höchst unfairen Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt und später, nach schwerer Haft bis 1616, begnadigt, nach einer fehlgeschlagenen Goldexpedition zum Orinoko hingerichtet; verfaßte Gedichte und Reisebeschreibungen, seine History of the World blieb unvollendet. 22 Robert Persons (oder Parsons), 1546-1610, streitbarer Jesuit und Missionar, ging nach Rom, später nach Madrid und Lissabon. 23 Vgl. E. M. W. Tillyard: Shakespeare's History Plays. London 1944; Lily B. Campbell: Shakespeare's „History". San Marino 1944. 21

Southall/Magister

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24 „leisure" - nach Marx hier immer mit „Ruhe" zu übersetzen, was eigentlich auch für das Caudwell-Zitat gilt. Vgl. Fußnote S. 116. 25 „work-in" - Protest der Werftarbeiter gegen die Schließung der Werft durch Besetzung und durch deren gewaltsame Fortsetzung und selbständige Leitung der Produktion im Clyde von 1971. 26 John Bunyan: The Pilgrim's Progress from This World to That Which Is To Come (1. Teil: 1678, 2. Teil: 1684; Des Pilgers Wanderschaft), eine traktathafte, demokratisch-christliche Prosa-Allegorie von weltliterarischem Rang; seine scharfe Satiie auf die Gesellschaft und sein puritanisches Bekenntnis darin waren wesentlich für die Herausbildung eines Realismus im klassischbürgerlichen Roman der englischen Aufklärung. 27 zwei Revolutionen im England des 17. Jh. - Die sog. erste Revolution führte zum Sieg der bürgerlich-puritanischen Armee (New Model Army) unter Oliver Cromwell über die absolutistische Monarchie (1. Bürgerkrieg, 1646), die sich jedoch erst mit der Vertreibung Jakobs II. in einem Staatsstreich („Glorreiche Revolution", 1688/89) und der Errichtung einer konstitutionellen Monarchie vollendete. Die sog. „zweite Revolution" begann mit der Hinrichtung Karls II., doch erfüllte sie nach 1649 nicht die Forderungen der demokratischen und kleinbäuerlich-plebejischen Bewegung der Leveller und Digger (einschließlich der Sekten der Ranter und Quäker) und deren utopisch-kommunistische Ideale. 28 Rumpfparlament - Gegenüber dem nach kurzer Amtsdauer 1640 wegen seiner politischen Forderungen vom König aufgelösten „Kurzen Parlament" widersetzte sich das im selben Jahr neu gewählte Parlament dem Befehl zur Auflösung („Langes Parlament") und erklärte dem König den Krieg. Unter Führung des linken Flügels der „Independenten" (Freibauern, mittlere Bourgeoisie und Neuadel) beschloß das vom paktiererischen rechten Flügel der Presbyterianer gesäuberte Parlament („Rumpfparlament") 1649 die Hinrichtung des Königs. Dies Parlament wurde unter der Militärdiktatur Cromwells aufgelöst. 29 Gerrard Winstanley, etwa 1609-33, ideologischer Führer der kleinbäuerlichplebejischen Bewegung der „wahren Leveller" oder Digger mit den Zielen eines utopischen Gleichheitskommunismus; 1633 von der republikanischen Staatsmacht niedergeworfen. 30 John Dowfänd, 1563(?)-1626(?), Lautenspieler und Komponist. 31 Jack Lindsay: John Bunyan. London 1937. 32 Samuel Richardson: Clarissa, or, The History of a Young Lady (1747/48; Clarissa Harlowe). 33 Interregnum - Zeitspanne zwischen der Errichtung der Republik und der Restauration (1649-60). 34 Sidney Godolphin, 1645-1712, konservativer Staatsmann. 35 William Wotton, 1666-1727, Bakkalaureus der Theologie, ein Sprachgenie und etwas pedantischer Gelehrter, hatte 1694 mit seinen Betrachtungen über alte und moderne Gelehrsamkeit gegen die von Swifts Mäzen Sir

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William Temple vertretenen Thesen, speziell zur Naturwissenschaft, Stellung bezogen. Swift ergriff im Tomterimärcben Temples Partei. 36 Im folgenden zitiert nach Jonathan Swift. Ausgewählte Werke in drei Bänden. Hg., eing. und komm. v. Anselm Schlösser. Berlin - Weimar 1967. 37 Joseph Glanville: The Vanity of Dogmatizing: or confidence in opinions. London 1661. 38 Vgl. dazu den Essay „Einige Bemerkungen zu einem Schriftstück mit dem Titel 'Der Bericht der Kommission des Höchst Ehrenwerten Geheimen Rats in England über Woods Halfpennystücke'". In: Werke II, S. 347-374. 39 animal rationale . . . animal rationis capax (tat.) - Vernunftswesen, das zur Vernunft befähigte Wesen. (Der Text ist leicht gekürzt.) 40 William Hone, 1780-1842, Londoner Buchhändler und Verfasser zahlreicher politischer Satiren auf Regierung und gesellschaftliche Mißstände. 41 Parlamentswahlrecht - erste Parlamentsreform im Jahre 1832, Wahlkreise wurden, im Interesse der Industriebourgeoisie neu festgelegt,, jedoch die Werktätigen blieben weiterhin ohne politischen Einfluß; danach formierten sich die politischen Parteien der Bourgeoisie: die „Liberale Partei" (Handelsund Industriebourgeoisie) und die „Konservative Partei" (rechte Tories). 42 „the Regency"-Periode (1811-20), in der George, Prince of Wales, für den schwachsinnigen George III. als Regent fungierte; Begriff auch für den Stil der Architektur bis zur Zeit Victorias. 43 John Cartwright, 1740-1824, Major bei der Miliz von Nottinghamshire, politischer Reformer des Parlaments. 44 William Pitt d. Ä. (1708-78) und Edmund Burke (1729-97) waren bedeutende Politiker der Whig-Partei, führten scharfe Attacken im Parlament gegen die Tories (Kolonialpolitik in Amerika und Indien); W. Pitt galt als einer der brillantesten Parlamentsredner. • 45 George Cruikshank, 1792-1878, Karikaturist und Illustrator für Zeitschriften und Bucheditionen, so für Dickens, Thackeray, Grimms Märchen. 46 John Lilburne, 1614(?)-1657, kleinbügerlich-radikaler Agitator der demokratischen Bewegung der Levellers, die ab 1645 mit Unterstützung des Parlamentsheeres, dem Lilburne als Offizier angehörte, die Revolution vorantrieben; nach 1649 wurde Lilburne inhaftiert oder verbannt, die Levellerbewegung wurde niedergeworfen. 47 William Hone: The Early Life an Conversion of William Hone, . . . a narrative Written by himself, edited by his son, W. Hone. London 1941. 48 Ebenezer Elliott, 1781-1849, Poet aus Sheffield, schrieb Memoirs of EbentZer Elliott. London 1852, vor allem bekannt durch seine Attacken gegen die Brotsteuer als das soziale Hauptübel in seinen „Corn-Law-Rhymes" (1828). 49 Joseph Priestley, 1733-1804, presbyt«rianischer Geistlicher, in seinem Essay on tbe First Principle of Government predigte er das „Glück der Mehrheit" als oberste Maxime sozialer und politischer Verantwortung; Erfolge auch auf dem Gebiet der Chemie. 21»

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50 London Corresponding Society - kleinbürgerlich-radikale Gesellschaft, "trat 1792 hervor und forderte politische und soziale Reformen, zeigte den Widerhall der Ideen der Französischen Revolution in der beginnenden Arbeiterbewegung. 51 Williame Hone: The Early Life and Conversion of William Hone, . . . a narrative written by himself, edited by his son, W. Hone. London 1941. 52 Richard Carlile, 1790-1843, radikaler Publizist und Verbreiter politisch aufklärerischer Schriften (so von Thomas Paine), kämpfte für Informationsfreiheit. 53 William Hone war - wie im vollständigen Text ausgeführt - vom Vater nach Chatham geschickt worden, wo er mit atheistischen Ideen vertraut wurde. 54 Invasionsdrohung von 1805 - durch Napoleon, die mit der Vernichtung der frz. Flotte bei Trafalgar unter Admiral H. Nelson gebannt war. 55 Seven Dials - ein offener Platz in der früheren Londoner Gemeinde St. Giles-in-the-Fields, auf dessen Mitte eine Säule stand und von dem strahlenförmig sieben Straßen ausgingen. 56 Thotäas Rowlandson, 1756-1827, Karikaturist und humoristischer Maler vor allem von Menschen der unteren Schichten. 57 Charles Lamb, 1775-1834, Poet und Erzähler, schrieb zusammen mit seiner Schwester (Mary Ann L.) Tales from Shakespeare, um den großen Elisabethaner der Jugend vertraut zu machen, er schrieb auch The Adventures of Ulysses (1808). 58 F. Rollestone: Some Account of the Conversion of the Late William Hone . . . With further particulars of his life, and extracts from his correspondence. London 1853. 59 Robert Southey, 1774-1843, sehr produktiver Autor von Lyrik und Prosa, Übersetzer"aus dem Spanischen; sein Drama Wat Tyler (1794, veröff. 1817) zeigt vor allem das Erschrecken über den Terror der Massen; bildete zusammen mit Wordsworth und Coleridge die romantische „Lake School". 60 George Canning, 1770-1827, Außenminister und 1827 zum Premierminister ernannt; Schriftsteller, Begründer der Zeitschrift The Anti-]acobin. 61 Pantisokratismus - eine philosophische Richtung mit Ansätzen zum Kommunismus, den deren Anhänger (u. a. Robert Southey und S. T. Coleridge) an den Ufern des Flusses Susquehanna zu verwirklichen glaubten. 62 James Henry Leigh Hunt, 1784-1859, Schriftsteller, Essayist, Kritiker;. Herausgeber eds Examiner, zusammen mit seinem Bruder John für ihre Kritik am Prinz Regenten für zwei Jahre eingekerkert, Vertreter der Romantik. 63 The Three Trials of William Hone. London 1818. 64 Habeas Corpusafcte - erlassen 1679 durch das Parlament zum Schutze der Bürger vor ungesetzlichen Verhaftungen, doch aus Furcht vor Massenbewegungen und den radikalen ökonomischen und politischen Forderungen durch die unteren Schichten von der Regierung jeweils 1794 und 1817 wieder außer Kraft gesetzt. 324

65 John Scott Edon, 1751-1838, Lord Kanzler 1801-06 und 1807-27, seine Tätigkeit als Richter auch berüchtigt durch starke Prozeß Verzögerungen. 66 Robert Stewart Castlereagh, 1769-1822, reaktionärer Kolonialpolitiker, Staatssekretär für Irland. 67 Francis Moore, 1657-1715, Astrologe und Kalendermacher, publizierte Old Moore''s Almanac. 68 Thomas Moore, 1779-1852, irischer romantischer Nationaldichter, besonders bekannt durch seine lrisb Melodies (1807-35). 69 Peterloo-Massaker - Massaker unter den friedlichen Wahlrechtsdemonstranten in Manchester am 16. 8 . 1 8 1 9 durch die Bourgeoisie; dem unmittelbar folgten die Knebelungs- und Armengesetze. (Six Acts) und eine Periode grausamster Ausbeutung durch praktisch unbegrenzte Arbeitszeit und Kinderarbeit und größten Elends der Arbeiterklasse, wie vor allem durch Friedrich Engels dargestellt. 70 Henry Crabb Robinson, 1775-1867, Rechtsanwalt und Auslandskorrespondent, studierte in Jena, lernte Goethe und Schiller kennen, seine veröffentlichten Briefe, Tagebücher, Reisejournale zeigen seine Bekanntschaft mit vielen Persönlichkeiten seiner Zeit. 71 Terry Eagleton - geb. 1943 einer der renommiertesten marxistischen englischen Literaturtheoretiker der jüngeren Generation, zeitweilig mit linksradikalen Tendenzen; bekannt vor allem durch sein Buch: Marxism and Literary Criticism. London 1976. 72 Vgl. Karl Marx: [Thesen über Feuerbach] In: MEW, 1978, Bd. 3, S. 5 - 6 . 73 Karl Marx: Die heilige Familie. In: MEW, Bd. 2, S. 98. 74 Karl Marx: [Thesen über Feuerbach] In: MEW 1978, Bd. 3, 5 - 6 . 75 7. Weltkongreß - Weltkongreß der Kommunistischen Internationale 1935, zu deren Generalsekretär (bis 1943) Georgi Dimitroff gewählt wurde; deren Ziel war vor allem die Schaffung der antifaschistischen Einheits- und Volksfront. 76 Christopher Caudwell - (Pseud. für Christopher St. John Sprigg), 1907-37, einer der schöpferischsten englischen Marxisten; Naturwissenschaftler und Literaturtheoretiker, schrieb auch Kriminalromane und Gedichte. Posthum veröffentlicht: Illusion and Reality (1937), Studies in a Dying Cülture (1938), The Crisis in Physics (1939). 77 Christopher Caudwell: Studien zu einer sterbenden Kultur. Dresden 1973, S. 19. 78 Beatrice Webb, 1858-1943; zusammen mit ihrem Mann, Sidney James Webb, Autor zahlreicher engagierter Arbeiten zur Erforschung sozialökonomischer Verhältnisse in England, ihre Namen sind eng verbunden mit den reformistischen Sozialismustheorien kleinbürgerlich-intellektueller Gesellschaften (Fabian Society, gegr. 1883/84). 79 Raymond Williams: Drama from Ibsen to Eliot. London 1954, S. 152. 80 Anna Seghers: Der Prozeß der Jeanne d'Arc zu Rouen 1431. Bearbeitung des Berliner Ensembles (Bertolt Brecht, Benno Besson). Premiere 2 3 . 1 1 . 1 9 5 2 .

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81 George Bernard Shaw: Major Barbara. In: Dramatische Werke, Bd. 2. Berlin 1956, S. 178. 82 Bertolt Brecht: Ovation für Shaw. In: Werke in fünf Bänden. Berlin Weimar. Bd. 5 1973, S. 15-16. 83 Georg Lukacs: Die Gegenwartsbedeutung des kritischen Realismus. In: GLW, Bd. 4, S. 505. 84 „buis dos" (frz.) geschlossene Buchsbaumhecke. 85 Karl Marx: Die ökonomisch-philosophischen Manuskripte. In: MEW, S. 540, 86 Karl Marx: Das Elend der Philosophie. In: MEW, Bd. 4, S. 85. 87 Edouard Dujardin : Les lauriers Sont Coupes. Paris 1924. 88 Vgl. Henri Bergson: Matière et Mémoire. In: Œuvres. Paris 1970, S. 267 ff. 89 Germaine Bree: Du temps perdu an temps retrouvé. Introduction à l'œuvre de Marcel Proust. Paris 1950. 90 Siehe James Joyce: Ulysses. Bd. 2. Berlin 1980, S. 420-498. 91 die „Bottoms" - Name des von Lawrence beschriebenen Dorfteils. 92 Bezug auf die alttestamentarische Geschichte der Brüder Esau und Jakob, wo Esau, hungrig von der Feldarbeit kommend, sein Erstgeburtsrecht an seinen jüngeren Bruder für ein Linsengericht hergibt (vgl. 1. Buch Mose, Kap. 25/34). 93 George Henry Borrow: Wild Wales. London 1862, Kapitel 162. 94 Ebenda, Kap. 104. 95 James Nasmyth: An Autobiography. Hg. v. Samuel Smiles. London 1883. 96 Charles Dickens: Harte Zeiten. Berlin 1972, S. 29. 97 Joseph Keating: The Flower of the Dark. London 1971, S. 2. 98 Gwyn Jones: Times Like These. London 1936, S. 319. 99 T. Gwynn Jones: Times Like These. London 1936, S. 319. 100 Gwyn Thomas: All Things Betray Thee. Leipzig 1956, S. 228. 101 Ebenda, S. 330. 102 „People's Charter" - die sechs Punkte umfassende Urkunde der englischen revolutionären Arbeiterschaft von 1837, das politische Programm der Chartisten, „der ersten breit angelegten, tatsächlichen Massenbewegung, einer politisch begründeten proletarisch-revolutionären Bewegung" (Lenin). 103 Jacquerie - blutig unterdrückter Bauernaufstand von 1358 in Nordfrankreich unter Guillaume Cale, verursacht durch die schweren Leiden infolge der englischen Invasion. 104 Hungry Forties - Periode äußerster Not und Entbehrung der ärmsten Schichten, bedingt durch die dauernden Mißernten seit 1837 mit dem Höhepunkt von 1842 und durch die in der proletarischen Massenbewegung der Chartisten zu Fall gebrachten Getreidezölle. 105 Great Exhibition - erste internationale Ausstellung von Industrieprodukten 1851 im Crystal Palace im Hyde Park, gefördert von Prinz Albert. 106 Zombies - (afr.) „die wandelnden Toten", gebraucht als Synonym für Spießer, Langweiler.

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Zu den Autoren

Soulball, Raymond geb. 1932 in Birmingham, England, 1962-73 Dozent für englische Sprache und Literatur an der Universität von Sheffield, seit 1974 Professor für englische Sprache und Literatur an der Universität von Wollongong, N.S.W., Australien, Publikationen: 7'be Courtly Maker (1964); Pope, An Essay on Criticism, The Rape of the Lock and the Moral Essays (1973); Literatme and the Rise of Capitalism (1973); Literature, the Individual and Society (1977). Hobday, Charles geb. 1917 in Eastbourne, studierte an der London University, arbeitet als Journalist seit 1949 speziell zur politischen Entwicklung in Südostasien. Publikationen: kritische Beiträge in den Zeitschriften Shakespeare Survey, Shakespeare Quarterly, Modern Quarterly; veröffentlichte drei Bände Lyrik, darunter Talking of Michelangelo (1979). Watson, Ian geb. 1946 in Belfast, Nordirland, 1972-79 Assistenz-Professor, ab 1979 „Professor auf Zeit" für britische Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität in Bremen. Publikationen: zum Volkslied und zum politischen Lied, zur Kultur der Arbeiterklasse; zum Fach „Landeskunde" in der BRD und zum englischen und europäischen Roman. West, Mick 1895-1972, aufgewachsen in London, Internierung in Deutschland 1914-18, Studium am Trinity College in Dublin, 1922 Aufenthalt in Deutschland und in der Schweiz, dort tätig als Dozent für Englisch 1927-35, Rückkehr nach London und Lehrer für Englisch an der sowjetischen Botschaft, widmete sich aktiv der Kultur- und Bildungsarbeit in der Kommunistischen Partei Großbritanniens. Publikationen: Crisis and Criticism (1937); A Good Man Fallen Among Fabians (1950); The Mountain in the Sunlight (1958); One Man in His Time (1969).

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Hill, Christopher geb. 1912, Stipendiat in Oxford 1934-38, Assistenz-Dozent am Universitätscollege von Cardiff 1936-38, Tutor zur modernen Geschichte in Oxford 1938-45, Master of Balliol College, Oxford 1965-78. Unter den zahlreichen Publikationen speziell zur Geschichte des 17. Jh.: The World. Turned Upside Down (1972); Milton and the English Revolution (1977). Rickword, Edgell 1898-1982, Studium in Oxford, erhielt 1978 die Ehrendoktorwürde für Literatur an der Essex University in Colchester. Publikationen zur Lyrik und Literaturgeschichte, Begründer des Calendar of Modern Letters (1925-27), Mitbegründer von Left Review und Our Time in den Dreißigern. Holderness, Graham geb. 1947, M.Phil., Studium in Oxford 1965-70, Lehrer an der Open University 1970-71, Dozent am Universitätscollege von Swansea seit 1971, tätig in der Erwachsenenbildung in Südwales. Publikationen: Bücher für die Kurse an der Open University über viktorianische Gesellschaftskritik, über Emil Bronte; Artikel über D . H. Lawrence, Lew Tolstoi, William Shakespeare, Charles Dikkens; D. H. Lawrence: History, Ideology and Fiction (1981); Shakespeare's History (1985). Kettle, Arnold geb. 1916, Dozent in Cambridge 1947-57, Professor am Department für Englische Literatur an der University von Leeds 1957-67 und an der Universität von D a r es Salaam, Tanzania, 1967-70, Professor für Literatur an der Faculty of Arts, The Open University, 1970-82, Pro-Vice-Chancellor von Academic Policy 1973-82. Publikationen: Introduction to the English Novel, Bd. 1 u. 2, 1 9 5 1 - 5 3 ; Herausgeber von Shakespeare in a Changing World (1964) und The Nineteenth Century Novel (1972); zahlreiche Beiträge in Sammelbänden und Zeitschriften, u. a. in Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik. Lindsay, jack geb. 1900 in Melbourne, Australien, seit 1926 in England. Lyriker, Dramatiker, Romanschriftsteller, Kritiker, Biograph, Herausgeber, Historiker; hervorragender Repräsentant der britischen Arbeiterbewegung und Theoretiker des Marxismus; hervorzuheben sind seine zahlreichen Romane zur ägyptischen, römischen und britischen Geschichte und sein Romanzyklus zum Nachkriegsengland Novels of the British Way (1953-57); wichtiger Beitrag zur Geschichte und Theorie des sozialistisch-realistischen Romans in England mit After the „Thirties". The British Novel and Its Future (1956). Hawthorn, Jeremy geb 1942 in Beckenham, Kent. Seit 1981 Professor für moderne britische Literatur in Trondheim, Norwegen; 1961-66 Dozent an der Leeds Universität,

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1966-72 aim St. David's College in Lampeter, Wales, 1972-81 Dozent für Geschichte und Kommunikation und für Sprachen und Kultur am Sheffield und am Sunderland Technikum. Publikationen: Identity and Relationsbip (1973); Communication Studies: An Introductory Reader (1980); Multiple Personality and the Disintegration of Literary Character (1984); Essays zu Joseph Conrad, Virginia Woolf, Ralph Fox, Jack Lindsay, James Joyce: Ulysses, Herausgeber von Communication Studies und Stratford-upon-Avon Studies, London. Morton, Arthur Leslie geb. 1903, war Dozent für Geschichte und englische Literatur in Cambridge, aktiv tätig in der Kommunistischen Partei seit 1929, Mitbegründer und Theoretiker der History Group der Partei (1946-56). Publikationen: A People's History of England (1938); Language of Men (1945); The English Utopia (1952); The Matter of Britain; The World of the Ranters (1979). Ehrendoktor der Wilhelm-Pieck-Universität in Rostock. Williams, Raymond geb. 1921 in Abergavenny, Wales; Schriftsteller, Kultursoziologe, Literaturwissenschaftler; 1946 Dozent für Literatur in Oxford, später in Cambridge. Publikationen: Romane: Border Country (1960); Second Generation (1964); The Fight for Manod (1979) ; Literaturkritik: Drama from Ibsen to Eliot (1952); Drama from Ibsen to Brecht (1968); Drama in Performance (1954); Culture and Society 1780-1950 (1958); The Long Revolution (1961); Communication (1962); The English Novel from Dickens to Lawrence (1970); Orwell (1971); The Country and the City (1973); Technological and Cultural Form (1974); Keywords (1976). Craig, David geb. 1932 in Aberdeen, lebt in Cumbria, Studium in Aberdeen und Cambridge, Dozent an der Worker's Educational Association und jetzt an der Universität Lancaster, Literaturkritiker und Herausgeber. Publikationen: Scottish Literature and the Scottish People, 1680-1830 (1961); The Real Foundations (1973); Herausgabe von Marxists on Literature - An Anthology (1975); Roman: The Rebels and the Hostage (1978, zusammen mit Nigel Gray); Gedichtbände: Latest New (1978); Homing (1980); Herausgeber von zwei Sammelbänden britischer Erzählungen in der D D R .

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Literaturnachweise

Raymond Soutball: The Mood of the Traditiooal Popular Ballad. Ia: Gullivei. Deutsch-Englische Jahrbücher, Argument-Sonderbände. Bd. 4, Oktober 1978 und Bd. 5, März 1979. Charles Hobday: Clouted Shoon and Leather Aprons: Shakespeare and the Egalitarian Tradition. In: Renaissance and Modern Studies 23 (1979). Ian Watson: Work in Literary History: The Case for the People's Culture. In: Ders.: Song and Democratic Culture. Croom Helm, London 1982. Christopher Hill: John Bunyan and the English Revolution. In: Marxist Perspectives 1979, Fall. Edgell Rickword: William Hone. In: Ders.: Radical Squibs and Loyal Ripostes. Murray & Carcanat Press, London 1971. Alick West: Jonathan Swift: Satire and Revolution. In: Ders.: Crisis and Criticism and Literary Essays: Lawrence & Wishart, London 1975. Graham Holderness: Freedom and Necessity. The Poetry of Marxism. In: Red Letters 1977, Nr. 6. Arnold Kettle: Bernhard Shaw and the New Spirit. In: Festschrift zu A. L. Morton: Rebels and Their Causes. Lawrence & Wishart, London 1978. Jack Lindsay: Time in Modern Literature: Proust and Joyce. In: Festschrift zum 80. Geburtstag von Georg Lukäcs. Hg. v. Frank Benseier. Berlin (West) Neuwied 1965. Jeremy Hawthorn: The Historical Development of Human Individuality, and Characterisation in the Modernist Novel. In: The Uses of Fiction: Essays on the Modern Novel in Honour of Arnold Kettle (Festschrift). Hg. v. Douglas Jefferson and Graham Martin. London. Open University Educational Enterprises Ltd. 1982. Arthur Leslie Morton: Sons and Lovers. (Unveröffentlicht.) Raymond Williams: The Welsh Industrial Novel. Cardiff 1979. - „Inaugural Gwyn Jones"-Vorlesung am University College Cardiff Press. David Craig: Images of Factory Life. In: Gulliver. Deutsch-Englische Jahrbücher, Argument-Sonderbände. Bd. 2, S. 96-112. Mrs. Elisabeth West danken wir für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck von Alick Wests Artikel.

330

Personenregister

Ackland, Valentine 73 Alexander det Große 105 Allen, Walter 291 297 Althusser, Louis 15 Anderson, Lindsay 303 Arden, John 292 Armstrong, E . A. 48 Arnold, Matthew 24 27 215 216 Asquith, Cynthia 270 Aston, Thomas 80 81 85 Auerbach, Erich 240 248 Austen, Jane 100 305 Bacon, Francis 138 144 Ball, John 7 8 - 8 1 83 94 Becon, Thomas 87 321 Behan, Brendan 292 Benjamin, Walter 15 Berger, John 238 Bergner, Elisabeth 213 Bergonzi, Bernard 99 Bergson, Henri 20 224-226 Beynon, Huw 312 Bone, John 170 Borrow, George Henry 271 Bosch, Hieronymus 271 272 Brecht, Bertolt 20 105 212-215 218 bis 219 222-223 Bree, Germaine 232 Britton, John 171 176 Brontë, Charlotte 32 33 Brontë, Emily 16 32

Brown, Peter C. 22 292 295 303 310 312 Browning, Robert 24 Bunyan, John 18 123-145 Burke, Edmund 165 323 Butler, Samuel 215 Campbell, Lily B. 96 Camus, Albert 239 251 255 256 258 Canning, George 176 324 Carlile, Richard 169 179 324 Carlyle, Thomas 296 297 Caroline von Braunschweig 164 178 188 Cartwright, John 166 323 Casaubon, Meric 150 Castlereagh, Robert Stewart 181 325 Catnach, James 31 Caudwell, Christopher 12 20 100 211 212 222 259 325 Chambers, Jessie 265 Chaplin, Charles Spencer 312 Child, F. J . 28 Cholmeley, Hugh 85 Cicero, Marcus Tullius 320 Clarkson, Lawrence 136 Coleridge, Samuel Taylor 24 324 Conrad, Joseph 251 Coombes, B. L. 278 Coppe, Abiezer 136 Copper, Bob 73-75

331

Cooper, Thomas Cornford, John

L'Estrange, Roger

Craig, David

2 9 30 3 2 0

165

173

175

177 178 181 1 8 4 - 1 9 0 192 323 Darwin, Charles Dekker, Thomas Denne, Henry

130

Descartes, René Dickens, 215

216

169

Dimitroff, Georgi

101

210

273 274

68

296

208 325

297 24 25 36 53 70 320

Dostojewski,

F.

M.

21

¿47-249

132 3 2 2

191 88

Froissart, Jean

15 194 325

138 225

Garnett, Edward

259

Gaskell, Elizabeth

101 112 274 297

Georg IV., König von England

Gif ford, John

90

Edon, John Scott

216 274 275

Glanville, Joseph ßS

95

150

Godolphin, Sidney

141 322

Godwin, William Goldmann, Lucien

181

54 215 216 2 7 4 276

297 Eliot, Thomas Stearns Königin

25 26 71 223 von

England

88 90 95 321 Elliott, Ebenezer

169

Goethe, Johann Wolfgang

114 115

Eldon, John Scott

I.,

164

140

Gissing, George 324

Eduard VI., König von England

Eliot, George

188

323

George, Henry

169

Edgar, David

Edward, Ted

314

80 81 321

169 180

Eagleton, Terry

Elliot, Jack

Fox, W . J .

Georg III., König von England

24

79 80 81 82

Elizabeth

12 240

298

Dudley, Edmund (Earl of Leicester)

Eaton, D . I.

144

Fox, Ralph

Galilei, Galileo

2 5 0 252 2 5 6 Dryden, John

Fox, George

246

170

Friedmann, Georges

Donne, John

Dowland, John

229

177

Freeth, John

*

Disraeli, Benjamin (Earl of Beaconfields)

198

Fox, Charles James

251

Spanien

136

Flaubert, Gustave

297 299 301 310 314 323 Diderot, Denis

von

Forster, Edward Morgan

67

250

König

II.,

Fores, S. W .

153

Charles

Ferdinand

Feuerbach, Ludwig

143 130

174 175

Fisher, Samuel

143 246

Dell, William

237 239

Fenning, Eliza 177

2 1 6 225

Defoe, Daniel

239

Faulkner, William

87 125 166 322

George

141

Faulkner, Peter

22 108

Cromwell, Oliver

197 254 301 3 1 3

325

288

19 201 2 0 3 - 2 1 0

Cornish, William

Cruikshank,

Engels, Friedrich

79-81

Cordell, Alexander

Goncourt, Edmond und Jules de Gorki, Maxim

167 323

11 12 123

Gramsci, Antonio Graves, Robert Gray, Thomas Griffiths, Trevor

15 57

33 35 292

Grimm, Jacob und Wilhelm

113

332

325

15

323

231

Grimwald, Nicholas

James, Henry

28 320

Gummere, Francis B.

215

Johnson, Samuel

37 47

Jones, Gwyn Hall, John

Jones, Henry Arthur

63 64

Handle, Johnny (eigtl. John Pandtich) 113 114 Hardy, Thomas

Hazlitt, William

31 4 6 150

237 239 252 2 5 8

197

König von England

95

von

England

Heinrich VIII., König von

England

Keating, Joseph Keats, John

28 6 8 81 320

Hendry, Irene

169

Herbert, George

141 320

292

275

Klaus, Gustav H.

9

102

Lamb, Charles

173 191 192 3 2 4

Laslett, Peter

Hobbes, Thomas

47 141 154

Lawrence,

Hobday, Charles

16

292

2 5 4 255

David

Herbert

130

Leavis, Francis Raymond 35-37

Hodgskin, Thomas

313

Lee, Edward

Holderness, Graham

169

Dudley)

14 19

90

82 91

197 222 301

Lévi-Strauss, Claude

243

Lewis, Matthew Gregory

HoUsman, John

19 1 6 4 - 1 9 3 323 324

Hughes, T . Rowland

Lindsay, Jack

42

153

86 87 166 168 323 9 1 2 - 1 4 20 132 252

253

285 176 324

Liverpool, Earl of (gemeint ist Charles Jenkinson)

176 324

Huxley, Aldous

Leyden, Johann von Lilburne, John

320 58

Hunt, James Henry Leigh

26

101 102

Lenin, W. I.

249

Hooker, Richard

68

Leicester, Earl of (gemeint ist Robert

Holbach, Paul-Henri Dietrich

Hone, William

21

237 2 5 9 - 2 7 1 275 2 7 6

Hodgart, M . J . C.

Hunt, John

324

296

Lassalle, Ferdinand

Holinshed, Raphael

138

Kyles, Danny

9 13 18

Hobson, Paul

9 20 207 241

Kingsley, Charles

Lamb, Mary Ann

Hill, Christopher Hines, Barry

84 85

Kettle, Arnold

Kopernikus, Nikolaus

215

235

Hill, Archie

277 278 2 8 0

184

Kett, Robert

320

Henderson, Archibald

124

126 128 129 131 322

Heinrich VI., König von England

Helvetius, Claude-Adrien

89 124

125 127 128 Karl II.,

12 320

König

230

Karl I., König von England

205 Heinemann, Margot

Homer

20 2 2 3 - 2 3 9

Kant, Immanuel

176 183 184

VII.,

183 21 285

Kafka, Franz 15 20 21

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich

Heinrich

Jones, Jeremiah

Joyce, James

85

Hawthorn, Jeremy

220

286

Jonson, Ben

87 321

150

Harvey, John

Jones, Jack Jones, Lewis

282

Harrison, William Hart, Philip

24 183

277 284

Livings, Henry

215 216 266

333

188 292

Llewellyn, Richard 288 Lloyd, A. L. 97 98 118 Lodge, Thomas 30 Ludwig XIV., König von Frankreich 124 142 Lukäcs, Georg 12 15 21 223 232 240-242 251-255 257 Luria, A. R. 245 246 * MacColl, Ewan 116 Macdaniei, S. 178 ^tacNeice, Louis 204 Mansfield, Katherine 275 Marlowe, Christopher 31 95 141 Marshall, Simpkin 184 Marx, Karl 109 115 116 195 197 bis 200 211 216 223 225 226 255 269 322 McGinn, Matt 119 McLuhan, Marshall 249 Mercer, David 292 Middleton, Thomas 141 Mill, John Stuart 216 Miller, Arthur 251 Milton, John 24 128 131-133 139 140 142 144 Mitchell, Jack 99 302 Montaigne, Michel Eyquem 90 94 Moore, Francis 184 325 Moore, Thomas (Tom Brown der Jüngere) 184 325 Morris, William 301 Morton, Arthur Leslie 9 13 21 Mozart, Wolfgang Amadeus 210 215 Napoleon I., Bonaparte 177 324 Nashe, Thomas 66 Nasmyth, James 272 Nayler, James 139 Nelson, Horatio 324 Nenna, Giovanni Battista 83 O' Casey, Sean Orwell, George

214 33 35 301 305

Overton 141 Owen, Robert

169

Paine, Thomas 324 Parke, Joe 192 Pattisoii, Bruce 31 Penn, William 142 Perkins, William 141 Persons, Robert 95 321 Pinero, Arthur Wing 220 Pirandello, Luigi 214 237 Pitt d. A., William 165 180 323 Plechanow, G. W. 301 Plutarch 90 Pol Pot 91 Pomet, John 77 Pope, Alexander 24 160 164 Preston, John 140 141 Priestley, Joseph 168 323 Prinz von Wales (spater Georg IV.) 164 169 180 323 Proust, Marcel 20 223-238 Ralegh, Walter 90 321 Reed, James 36 Reinhardt,: Max 213 Richardson, Samuel 133 Rickword, Edgell 9 19 Robertson, Tom 220 Robinson, Henry Crabb 192 325 Roger, Derek 34 Rolleston, F. 173 186 Rousseau, Jean-Jacques 169 Rowlandson, Thomas 173 324 Sampson, George 37 Sartre, Jean-Paul 15 21 237 Schiller, Friedrich 325 Schlatter, Richard B. 144 Scott, Walter 36 37 251 252 Seghers, Anna 213 Shakespeare, William 16 17 2 4 - 2 6 30 36 46 47 76 7 7 - 9 6 183 213 2 1 4 . 2 1 8 254 303 321 Shands, Harley C. 2 4 2 - 2 4 5 155 bis 257

334

Sharpe, C. K. 36 Shaw, David 107 108 Shaw, George Bernard 20 210-223 258 Shephard, Leslie 68 69 Sibbes, Richard 140 141 Sidffloutb, Henry Addington 181 Sidney, Philip 24 90 321 Sillitoe, Alan 292 Sinclair, Upton 314 Smetanin 315 Smiles, Samuel 272 Smith, Adam 116 Southey, Robert 176 324 Spencer, Herbert 216 Spenser, Edmund 45 59 90 321 Stafford, Humphrey 82 86 Steere, Bartholomew 84 94 Stevens, J«hn 30 Storey, David 292 302 303 Strindberg, August 214 Surrey, Henry Howard 320 Swainson, C. 42 48 Swift, Jonathan 18 19 67 145-164 323 Synge, John Millington

214

Tany, Thomas 136 Tegg, Thomas 191 Temple, William 323 Thackeray, William Makepeace 323 Thomas, Gwyn 21 289 Thomas, John 277 Thompson, Edward 106 301 Thorez, Maurice 208 Tillyard, E . M . W . 96 Tindall, W. Y. 143 Tolstoi, L. N. 215 216 Torkard, Hucknall 264 Townley, Charles 170 Tressell, Robert (eigtl. Robert Noonan) 22 100 276 314 Tschechow, A. P. 214 215

Tyler, Wat 80 Tyndall, John 215 216 Ure, Andrew

318

Vergil 320 Vico, Giambattista 237 Volney, Constantin-François Chasseboeuf de 169 Voltaire (eigtl. François Marie Arouet) 169 Vygotsky, Lev 244 245 Wagner, Richard 210 214-216 Walsingham, Thomas 80 81 321 Walton, Izaak 31 320 Walwyn, William 86 87 90 94 Washington, George 167 Watson, Ian 17 ' Webb, Beatrice 211 212 325 Webb, Sidney James 325 Wesker, Arnold 292 293 295 West, Alick 9 12 18 20 213 Wightman, Ralph 72 Wilde, Oscar 220 243 Wilhelm III. von Oranien (Wilhelm der Befreier) 143 Wilkes, John 178 179 Williams, C. 177 Williams, Raymond 9 13-15 20-22 68 212 213 219-220 Wilson, John Dover 30 Wilson, Thomas 87 321 Winstanley, Gerrard 131 138 140 322 Wolfe, Thomas 237 Wood, Matthew 160 177 178 Wooler 181 Woolf, Virginia 224 237 239 251 255 256 Wordsworth, William 24 32-34 39 40 70 71 324 Wotton, Henry 145 320 Wyatt, Thomas 28 30 36 40 43 45 46 49 320

335