Maritime Entdeckung und Expansion: Kontinuitäten, Parallelen und Brüche von der Antike bis in die Neuzeit 9783110670547, 9783110666809

The exploration of sea routes and distant shores has been a crucial aspect of Eurasian history since ancient times. Long

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German Pages 404 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
I. Erkundung und Eroberung der Meere
Rezeption oder Innovation?: Archäologische Spuren hellenistischen Schiffbaus in Indochina
Ozeanische Seewege nach Indien. Der große Traum des Westens in der Antike
Als Indien das Römische Reich entdeckte: Exploration und Handel im Indischen Ozean vom Osten aus gesehen
Der Atlantische Ozean und die griechischrömische Welt
Die Integration Chinas in die Welt des Indischen Ozeans von der Antike bis zum Beginn der Song-Dynastie: Seewege, Verbindungen und Handel
Imaginationen des Ozeans und atlantische Erkundungen im frühen Mittelalter
Die Formierung der neuzeitlichen atlantischen Welt
II. Die räumliche Verortung des Neuen: Maritime Exploration und Geographie
Entdeckungsfahrten und Kartographie: Anmerkungen zu einer problembefrachteten Beziehung im Altertum
Neue Karten für die Neue Welt? Kartographische Praktiken der Exploration
Die ersten Weltkarten Matteo Riccis in China
III. Fremde Völker an fernen Küsten – Konjunkturen und Methoden ethnographischer Welterfassung
Neue Ethnien am Südmeer. Die Sicht des Agatharchides von Knidos
Poseidonios von Apameia und die Ethnographie der Kelten im Westen der Oikumene
Kaufleute als Ethnographen. Die Berichte über die Expeditionen zu den Kanarischen Inseln und an die Küste Westafrikas des 14. und 15.Jahrhunderts
Frühneuzeitliche Indienwahrnehmung zwischen Empirie, Antike und Antiquarianismus. Die Briefe des Pietro della Valle (1586–1652)
Abkürzungen und Siglen
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Register
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Maritime Entdeckung und Expansion: Kontinuitäten, Parallelen und Brüche von der Antike bis in die Neuzeit
 9783110670547, 9783110666809

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Maritime Entdeckung und Expansion

Historische Zeitschrift // Beihefte (Neue Folge)

beiheft 77 herausgegeben von andreas fahrmeir und hartmut leppin

Raimund Schulz (Hrsg.)

Maritime Entdeckung und Expansion Kontinuitäten, Parallelen und Brüche von der Antike bis in die Neuzeit

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Library of Congress Control Number: 2019944917

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Gestaltung: Katja v. Ruville, Frankfurt a. M. Satz: Roland Schmid, mediaventa, München Druck und Bindung: Franz X. Stückle Druck und Verlag e.K., Ettenheim isbn 978-3-11-066680-9 e-isbn (pdf) 978-3-11-067054-7 e-isbn (epub) 978-3-11-066714-1

Inhalt

Vorwort

_____

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Einleitung // Raimund Schulz

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_____

61

_____

81

I. Erkundung und Eroberung der Meere Rezeption oder Innovation? Archäologische Spuren hellenistischen Schiffbaus in Indochina // Ronald Bockius Ozeanische Seewege nach Indien. Der große Traum des Westens in der Antike // Raimund Schulz Als Indien das Römische Reich entdeckte. Exploration und Handel im Indischen Ozean vom Osten aus gesehen // Eivind Heldaas Seland

_____ 109

Der Atlantische Ozean und die griechisch-römische Welt // Duane W. Roller

_____ 121

Die Integration Chinas in die Welt des Indischen Ozeans von der Antike bis zum Beginn der Song-Dynastie. Seewege, Verbindungen und Handel // Angela Schottenhammer

_____ 137

Imaginationen des Ozeans und atlantische Erkundungen im frühen Mittelalter // Sebastian Kolditz

_____ 173

Die Formierung der neuzeitlichen atlantischen Welt // Jürgen Elvert

_____ 205

II. Die räumliche Verortung des Neuen: Maritime Exploration und Geographie Entdeckungsfahrten und Kartographie. Anmerkungen zu einer problembefrachteten Beziehung im Altertum // Klaus Geus und Irina Tupikova

_____ 223

Neue Karten für die Neue Welt? Kartographische Praktiken der Exploration // Ingrid Baumgärtner Die ersten Weltkarten Matteo Riccis in China // Yingyan Gong

_____ 243 _____ 269

III. Fremde Völker an fernen Küsten – Konjunkturen und Methoden ethnographischer Welterfassung Neue Ethnien am Südmeer. Die Sicht des Agatharchides von Knidos // Marie Lemser

_____ 283

Poseidonios von Apameia und die Ethnographie der Kelten im Westen der Oikumene // Julian Gieseke

_____ 307

Kaufleute als Ethnographen. Die Berichte über die Expeditionen zu den Kanarischen Inseln und an die Küste Westafrikas des 14. und 15. Jahrhunderts // Benjamin Scheller

_____ 335

Frühneuzeitliche Indienwahrnehmung zwischen Empirie, Antike und Antiquarianismus. Die Briefe des Pietro della Valle (1586–1652) // Antje Flüchter

_____ 361

Abkürzungen und Siglen

_____ 391

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

_____ 393

Register

_____ 395

1. Namen

_____ 395

2. Orte und geographische Bezeichnungen

_____ 398

Vorwort

Der hier vorgelegte Band geht auf eine Konferenz zurück, die vom 7. bis 9.Juni 2018 am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld durchgeführt und durch die selbige Institution finanziert wurde. Sie gab uns über zwei Tage Gelegenheit, das historische Thema „Maritime Exploration und Expansion“ komparativ und über die Epochengrenzen hinweg aus der Perspektive verschiedener Wissenschaftsdisziplinen zu erörtern. Da wir uns nicht nur auf den Verlauf, sondern auch auf die Folgen und die „Verarbeitung“ des Ausgreifens über die Meere konzentrierten, erhielten zudem einige der Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Möglichkeit, Fragen zu verhandeln, die uns im Rahmen des Bielefelder SFB 1288 („Praktiken des Vergleichens“) beschäftigen. 1 Die Vorträge wurden durch rege Diskussionen der Teilnehmer sowie zahlreicher Besucher aus dem In- und Ausland begleitet. Das und nicht zuletzt die Tatsache, dass die Konferenz sich einiger medialer Aufmerksamkeit erfreute (unter anderem Beiträge im Deutschlandfunk Kultur), waren ein zusätzlicher Antrieb, die Beiträge unter Einarbeitung der Kommentare und Querverweise zu veröffentlichen sowie durch eine ausführliche Einleitung seitens des Tagungsleiters zu verbinden. Ich danke allen, die hierbei mitgewirkt und der Konferenz zum Erfolg verholfen haben: den Vortragenden und Beiträgern, den Diskutierenden, den hilfreichen Geistern des ZiF sowie des Arbeitsbereiches Alte Geschichte der Universität und insbesondere meinem geschätzten Kollegen Hermann Hiery, der aus neuhistorischer Seite die Tagung kundig begleitet und die erste Sektion moderiert hat. Ferner danke ich

1 Die Beiträge von Raimund Schulz (S. 81–108), Marie Lemser (S. 283–305), Julian Gieseke (S. 307–333) und Antje Flüchter (S. 361–390) entstanden im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Bielefelder Sonderforschungsbereichs (SFB) 1288 „Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern“ (TP B04: Der Vergleich im ethnografischen Denken der Antike – Die Griechen [7. v.–1. Jahrhundert n. Chr.]; TP B01: Ordnung in der Vielfalt: Vergleichspraktiken in interkultureller Rechtsprechung [17.–19. Jahrhundert]).

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den Herausgebern der HZ-Beihefte, den Kollegen Andreas Fahrmeir und Hartmut Leppin für die Aufnahme des Bandes in die Reihe sowie Jürgen Müller und Michaela Dirschlmayer für ihre sorgfältige redaktionelle Arbeit, die noch manche Fehler auszumerzen half. Raimund Schulz, Bielefeld, im April 2019

Einleitung von Raimund Schulz

I. Thema und Fragestellungen Maritime Mobilität ist ein voraussetzungs- und folgenreiches Fundamentalphänomen menschlicher Geschichte. Während sich Bewegungen über Festland und Inseln hinweg an markanten Geländepunkten und Routen auf festem Terrain orientieren konnten und in der Regel außer gebietskundigen Führern und Transporttieren keine aufwendigen technischen Mittel benötigten, bedurften der Schritt auf das Meer und das Anvisieren ferner Küsten langer Planung und Erfahrung, erheblicher materieller Mittel sowie technisch anspruchsvoller Fahrzeuge mit professionellen Mannschaften. Die Risiken waren dabei mindestens so groß wie die möglichen Gewinne. Seefahrt war Aufbruch in eine Welt des Unwägbaren, die sich selbst von den unwirtlichsten Landräumen durch ihre naturale Andersartigkeit unterscheidet. Sie setzte eine Gesellschaft voraus, die bereit und in der Lage war, sich über längere Zeit den Gesetzen und Rhythmen des Meeres anzupassen; sie musste umfangreiche Ressourcen mobilisieren, spezielle Techniken beherrschen sowie klare Ziele setzen und deren Erreichen mit sozialer (sowie politischer und gegebenenfalls finanzieller) Anerkennung belohnen. Derlei Grundbedingungen prägten auch die „große“ Politik: Territoriale Expansion kann ohne die Kontrolle des Meeres erfolgen und setzt die Kunst der Seefahrt nicht zwingend voraus; häufig ist diese sogar hinderlich, weil sie gewaltige Mittel bindet. Das Ausgreifen über die Meere benötigt dagegen besondere politische, gesellschaftliche, materielle und ökologische Konstellationen zu Lande, die sich längerfristig nur in bestimmten Räumen herausbildeten. Eurasien unterscheidet sich darin grundlegend von der Geschichte des amerikanischen Doppelkontinents, der zwar lange vor der Ankunft der Europäer über ausgedehnte Handels- und Kommunikationsnetze zu Wasser und zu Lande sowie exzellente Seefahrer (vor allem in der Karibik) 1 verfügte, aber weder einen „Zivilisationen übergreifenden […] Handel“ 1 Vgl. Richard T. Callaghan, The Taino of the Caribbean, in: Philip de Souza/Pascal Arnaud (Eds.), The Sea in History / La mer dans l’histoire: The Ancient World / L’Antiquité. Woodbridge 2017, 66–77.

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noch eine nachhaltige maritime Expansion als Summe kumulativer Einzelaktionen kannte. 2 Diese führte dagegen in den eurasischen Gewässern auch aufgrund des Aufwandes, mit der sie betrieben werden musste, zu nachhaltigen Veränderungen nicht nur im Zielgebiet, sondern auch in den Ausgangsräumen. Sie beeinflusste sämtliche Gesellschaften, die an ihr mittelbar oder unmittelbar beteiligt waren. Explorative Seefahrt und die ihr folgenden Migrations-, Handels- und Expansionsbewegungen setzten neue Energien frei, sie forderten zur Überprüfung des Vertrauten heraus, forcierten spezifische Identitätsbildungen und beflügelten die Imagination in einer Weise, die Menschen über Generationen in ihren Bann zog. 3 Maritime Expansion ist so zusammen mit den sie initiierenden explorativen Unternehmungen schon aufgrund ihrer enormen Wirkkraft ein historisches Analyseobjekt von unbestreitbarer Relevanz. Nicht ohne Grund hat sich das Interesse an maritimer (Welt-)Geschichte auch im deutschen Sprachraum in den letzten Jahrzehnten verstärkt. 4 Dennoch hält sich in weiten Kreisen der interessierten Öffentlichkeit und nicht minder unter professionellen Historikerinnen und Historikern die Mei-

2 Vgl. Felipe Fernández-Armesto, Pathfinders. A Global History of Exploration. New York/London 2006, 47 (zu den Thesen über die Besiedlung der Osterinseln von Südamerika), 98 (zu fehlenden Kontakten zwischen Mesoamerika und der Andenregion vor der Ankunft der Spanier), 102–105; Philip de Souza, Die Beherrschung der Meere. Wie die Seefahrt die Menschheitsgeschichte prägte. München/Zürich 2006, 68–70. Zu prominenten Einzelbeispielen etwa: Daniel H. Sandweiss, Maritime Aspects of Early Andean Civilizations, in: de Souza/Arnaud (Eds.), The Sea in History (wie Anm.1), 41–54. 3 Auch hierzu gibt es inzwischen eine Reihe von Spezialuntersuchungen, die aber weitgehend epochenspezifisch arbeiten; vgl. z.B. David Álvarez Jimenez Correio/Sergio Remedios Sánchez Correio, Men of the Sea. The Making of an Identity. Les hombres del mar. La creación de una idendidad, in: Revista Diálogos Mediterranicos 7, 2014, 128–140; Duncan Redford, Maritime History and Identity. The Sea and Culture in the Modern World. London/New York 2013. 4 Zum Beispiel das kompakte und souverän durch die Zeiten führende Buch von Michael North, Zwischen Hafen und Horizont. Weltgeschichte der Meere. München 2016. Bezeichnend ist, dass neuere Darstellungen aus einer Hand die Antike weiterhin recht stiefmütterlich behandeln (North kommt mit zwanzig Seiten aus!), während ältere Gelehrte wie Egmont Zechlin, Maritime Weltgeschichte. Hamburg 1947, ein ganzes Buch den älteren Epochen widmeten (der zweite Teil zur Neuzeit erschien nicht mehr). Vorbildlich und erfrischend ist die jüngst publizierte Reihe: The Sea in History / La mer dans l’histoire, die einen inhaltlich sehr differenzierten, von Philip de Souza und Pascal Arnaud herausgegebenen Band der Antike reserviert (wie Anm.1). Weitere Bände sind dem Mittelalter, der Frühen Neuzeit und der Moderne gewidmet. Vgl. ferner Felipe Fernández-Armesto, Maritime History and World History, in: Daniel Finamore (Ed.), Maritime History as World History. New Perspectives on Maritime History. Gainsville 2001, 7–34; Lincoln Paine, The Sea and Civilization. A Maritime History of the World. New York 2015; de Souza, Beherrschung (wie Anm.2) mit irreführendem Obertitel des englischen Originals: Seafaring and Civilization. Maritime Perspectives on World History. London 2001. Die erste Übersetzung lautete: Seefahrt und Zivilisation. Hamburg 2003.

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nung, maritime Entdeckungen und Expansionsbewegungen seien vornehmlich ein Kennzeichen der Frühen Neuzeit gewesen und nur in dieser Epoche hätten sie unumkehrbare Konsequenzen auf machtpolitischem, technischem und wirtschaftlichem Gebiet gehabt, die den Unternehmungen früherer Zeiten fremd gewesen seien. Das ist jedoch allenfalls die halbe Wahrheit. Niemand bezweifelt den epochalen Durchbruch, der mit der Überquerung des Atlantiks und der Umrundung Afrikas unter Initiative der spanischen beziehungsweise portugiesischen Krone erzielt wurde (wobei die Auswirkungen der portugiesischen Expansion in den Indischen Ozean zunehmend relativiert werden). 5 Doch wie immer in der Geschichte waren diese Ereignisse, so spektakulär sie den Zeitgenossen erschienen und als revolutionäre Tat stilisiert wurden, nicht voraussetzungslos. 6 Sie knüpften an langfristige Entwicklungen, Trends und Erfahrungen an, die weit in die Vergangenheit zurückreichten und bereits dort eine erstaunliche Wissens- und Explorationsdynamik entfalteten. So wurden die konzeptionellen Voraussetzungen einer Atlantiküberquerung auf der Suche nach den gold- und gewürzreichen Wunderländern des Fernen Ostens genauso wie die Südumfahrung Afrikas bereits in der Antike entwickelt. Griechische und römische Gelehrte zweifelten spätestens seit dem 1.Jahrhundert v.Chr. kaum noch an der Kugelgestalt der Erde und diskutierten verschiedene, sich hieraus ergebende Konstellationen maritimer Globalverbindungen. All diese Überlegungen, die auch die Existenz unentdeckter Kontinente im Süden (terra australis) und im Atlantik (Antipoden) miteinschlossen, wurden über das Mittelalter tradiert und weiterentwickelt, und sie wurden von realen Erkundungen begleitet, die den Wissens- und Erfahrungshorizont der Alten bereits lange vor Kolumbus bis ins Chinesische Meer im Osten sowie an die atlantischen Küsten Afrikas samt der vorgelagerten Inseln (Kanaren, Kapverden, vielleicht auch die Azoren) ausdehnten. Es verwundert insofern nicht, dass sich maritime Explorations- und Expansionsbewegungen bereits seit der Antike im Prinzip in die gleichen Räume und über die gleichen Routen entfalteten wie in späteren Epochen. Dies gilt im Besonderen für Handelsunternehmungen, deren Erfahrungen und Netzwerke – auch dies eine epochenübergreifende Gemeinsamkeit – eine erstaunliche Beharrungskraft selbst ge-

5 Michael Pearson, The Indian Ocean. London/New York 2003, 137–139. 6 Dazu immer noch vorbildlich der problemorientierte Überblick von Hermann Hiery, Europa und die Öffnung der Welt, in: Geschichte für heute 2, 2008, 42–85.

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genüber militärischen Großkonflikten besaßen und immer wieder neu dynamisiert werden konnten. Nicht von ungefähr bewegt sich selbst das moderne, von China betriebene Konzept der „Neuen Seidenstraße“ auf den gleichen maritimen und territorialen Großrouten, die schon im 1.Jahrhundert n.Chr. und danach benutzt wurden. 7 Des Weiteren hat bereits in der Antike nicht nur die Eroberung des Mittelmeeres, sondern auch die Erschließung des Atlantiks und des Indischen Ozeans folgenreiche Wirkungen entfaltet, an die spätere Epochen anknüpften: von der Urbanisierung der Küsten und der Belebung des Handels über sich verdichtende Routennetze bis hin zu den Impulsen, die der Kampf mit dem Meer sowie die Erschließung ferner Länder (und Produkte) auf die Entwicklung von Geographie, Kosmographie, Ethnographie, Astronomie und andere Naturwissenschaften (Botanik und Zoologie) bis in die Frühe Neuzeit hatten. Vor diesem Hintergrund liegt die Frage nach den epochenübergreifenden Kontinuitäten, Gemeinsamkeiten und Konvergenzen, aber auch nach den Unterschieden, Eigenarten und Brüchen maritimer Explorations- und Expansionsbewegungen mehr als nahe. Vom 7. bis 8.Juni 2018 fand am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld eine internationale Tagung statt, die sich diesen Themen widmete. Sie knüpfte an ein Vorhaben an, das vor fünfzehn Jahren ähnliche, aber weitaus begrenztere Ziele verfolgte. 8 Seinerzeit ging es vornehmlich um die vergleichende Analyse der Landnahme als Folge maritimer Expansion, ihrer Formen („Kolonisation“) sowie ihrer Legitimation und literarischen Verarbeitung, und der Raum beschränkte sich auf die Mittelmeerküsten und den Atlantik beziehungsweise die Landnahme in der „Neuen Welt“. 9 Schon damals riet der zusammenfassende Kommentator (Eberhard Schmitt) dazu, die Perspektiven in den Indischen Ozean zu erweitern. 10 Die vorliegende Publikation folgt diesem Rat, und sie kann dabei auf eine seitdem boomende Forschung zum Thema aufbauen. 7 Siehe dazu die Karte auf: https://internationalesforumblog.wordpress.com/2017/04/22. 8 Raimund Schulz (Hrsg.), Aufbruch in neue Welten und neue Zeiten. Die großen maritimen Expansionsbewegungen der Antike und Frühen Neuzeit im Vergleich. (HZ, Beihefte, NF., Bd. 34.) München 2003. Weitere Vergleichsperspektiven bei Raimund Schulz, Der weite Weg gen Westen. Maritime Expansion und geographische Horizonterweiterung in der Antike und die Möglichkeiten des Vergleichs mit der frühen Neuzeit, in: Thomas Beck/Maria dos Santos Lopes/Christoph Rädel (Hrsg.), Barrieren und Zugänge. Die Geschichte der Europäischen Expansion. Festschrift Eberhard Schmitt. Wiesbaden 2004, 51–62, bes. 60–62. 9 Vgl. Raimund Schulz, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Aufbruch (wie Anm.8), 1–12. 10

Eberhard Schmitt, Zusammenfassender Kommentar, in: Schulz (Hrsg.), Aufbruch (wie Anm.8), 122f.

und 133.

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Angesichts des erweiterten geographischen beziehungsweise maritimen Horizontes erschien es sinnvoll, sich zunächst noch einmal der Voraussetzungen, Motive und Verläufe zu vergewissern (diese wurden im früheren Band nicht gesondert behandelt), bevor man, anknüpfend an die erzielten Erkenntnisse, die Auswirkungen maritimer Expansion im Hinblick auf die Wahrnehmung und Erklärung der Welt sowie die Weiterentwicklung relevanter Wissensformationen analysierte. Ein besonderes Augenmerk sollte dabei jeweils der Frage gewidmet werden, in welcher Weise antikes Wissen sowie antike Erklärungsmodelle und Erfahrungen spätere Expansionsbewegungen und vornehmlich den frühneuzeitlichen Aufbruch über die Meere mit beeinflusst haben und sich mit jeweils zeitgenössischen Erfahrungen verbanden oder von diesen ersetzt wurden. Zu diesem Zweck vereinte die Konferenz fachliche Expertisen, die sich für unterschiedliche maritime Großräume (Indischer Ozean, Atlantik, Chinesisches Meer) und Epochen (Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit) zuständig fühlten, und sie suchte verschiedene Forschungsstränge der Geschichtswissenschaft, der (Schiffs-)Archäologie und der historisch arbeitenden Geographie zu bündeln. Mit diesem gleichermaßen epochen- und disziplinübergreifenden Ansatz, der erstmals nicht nur die europäische, sondern auch die fernöstliche Perspektive komparativ berücksichtigte, betrat die Konferenz in vielerlei Hinsicht Neuland. Während die frühere Publikation durch ihre Konzentration auf Landnahme und Legitimation das Phänomen maritimer Exploration gewissermaßen von ihrem Ergebnis her betrachtete, stehen im vorliegenden Band Phänomene im Vordergrund, die maritime Entdeckungsfahrten und die Erschließung von Meeresräumen funktional umklammern. Erfahrungsgemäß führte maritime Exploration nach einer gewissen Phase der Konsolidierung zu einer Neubewertung („re-evaluation“) der Welt, indem man Vertrautes an Neuem maß und Unbekanntes dem Bekannten einfügte. 11 Ethnographische und geographische Wissensfelder bildeten dabei stets wichtige Indikatoren komplexer Veränderungen. Die Modifizierung geographischer Weltbilder und die Anreicherung des ethnographischen Erfahrungsraums müssen aber nicht nur als Konsequenz von maritimer Exploration begriffen werden; sie wirkten in einem verwickelten Prozess der Rückkopplung und der Weiterentwicklung früherer Formati-

11 Antike: Oswyn Murray, Herodotus and Hellenistic Culture, in: Classical Quarterly, NS.22, 1971, 200; Katherine Clarke, Between Geography and History. Hellenistic Construction of the Roman World. Oxford 1999, 69f.; Frühe Neuzeit: John Huxtable Elliot, The Old World and the New. Cambridge 1970.

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onen auch auf die Entscheidung zu neuen Unternehmungen hin, indem sie diese forcierten oder (in bestimmten Fällen) auch blockierten. 12 Im zweiten Teil des Bandes wird deshalb dezidiert der Frage nachgegangen, mit welchen geographischen Vorstellungen und ethnographischen Erwartungen einerseits Entdecker aufbrachen und inwieweit andererseits ihre Erkenntnisse in die Neukonstruktion geographischer und kosmographischer Weltbilder einflossen und so das Feld für neue Aufbruchsdynamiken bereiteten – oder aber möglicherweise auch in einer Sackgasse mündeten. Der interdisziplinäre Zugriff verspricht insofern beträchtlichen Erkenntnisgewinn, weil nur so die literarische und wissenschaftsgeschichtliche Dimension dieser Prozesse mit den realhistorischen und sozialen Kontexten abgeglichen und die in Texten (und später in Karten) fassbare Neuarrondierung maritimterritorialer Raumkonstellationen und ihrer Bewohner viel stärker, als es meist geschieht, als integraler Teil exploratorischer Praxis analysiert werden kann.

II. Maritime Exploration – ein komplexes Zusammenspiel mehrerer Akteure über die Epochengrenzen hinaus Die im Hinblick auf die Räume und Konsequenzen maritimer Expansion erweiterten Fragestellungen berücksichtigen auch entsprechende Wandlungen der Forschungslandschaft. Lange von der postkolonialen Forschung als eurozentrisch und westlich dominant gebrandmarkt sowie von verschiedenen Ansätzen globalhistorischer Forschung zunächst an den Rand gedrängt, gewann die Entdeckungsgeschichte in den letzten Jahren unter neuen Vorzeichen wieder an Aufmerksamkeit, und zwar nicht nur für die Epoche der Frühen Neuzeit. 13 So sucht eine intensiv betriebene Forschungsrichtung das Mittelalter als eine maritim und exploratorisch aktive Phase zu rehabilitieren, die nicht nur dem „klassischen“ Entdeckungszeitalter der Frühen Neuzeit wichtige Impulse gab, sondern auch aus sich heraus als eine Epoche bedeutender Erkundungsschübe im Rahmen der gesellschaftlichen, wirtschaftli12

So z.B. wenn karthagische Seefahrer Schauermärchen von der Unbefahrbarkeit der Gewässer jenseits

der Straße von Gibraltar verbreiteten, um Konkurrenten abzuschrecken; gleiches ist bei der Diskussion um die Verbrannte Zone im Süden sowie der Ausfahrt aus dem südlichen Roten Meer durch den Bab-El Mandeb in Rechnung zu stellen. 13

Überblick z.B. bei Dane Kennedy, Introduction, in: dies. (Ed.), Reinterpreting Exploration. The West in

the World. Oxford 2014, 1–18.

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chen und machtpolitischen Entwicklungen gelten muss. Ein solcher Versuch einer „integrierten Entdeckungsgeschichte“ liegt monographisch inzwischen auch für die Antike vor. 14 Allerdings bewegen sich diese Initiativen noch weitgehend innerhalb vorgegebener Epochengrenzen und ihrer spezifischen Traditionen und Erkenntnisinteressen. Es gibt bis heute keine Arbeit, die maritime Erkundungsunternehmungen epochenübergreifend und komparativ analysiert und dabei auch die Antike hinreichend berücksichtigt. 15 Und es mangelt dementsprechend auch an einer fruchtbaren Diskussion insbesondere zwischen den Fachvertretern der Antike und der späteren Epochen, obwohl es gerade in Bezug auf die Eigenart maritimer Expansion genügend Anknüpfungspunkte gäbe. Der vorliegende Band möchte hierzu einen Anstoß geben und den Boden bereiten für einen (dringend notwendigen) Austausch über die Epochen- und Fachgrenzen hinweg. Leitend ist dabei die Grundüberzeugung, dass traditionelle zeitliche Abgrenzungen dem Phänomen explorativer Mobilität gerade im Hinblick auf den Indischen Ozean (der eine beinahe ununterbrochene Kontinuität arabischer und indischer sowie „westlicher“ Seefahrt seit der Antike kennt) kaum gerecht wird. Ähnliches könnte man in Bezug auf den Atlantik geltend machen, ablesbar an dem anhaltenden Publikationsboom zum Thema der Altantikexpansion „before Columbus“. 16 Tatsächlich versperren traditionelle Zeitmarken häufig und besonders dann, wenn man „nichteuropäische“ Akteure mitberücksichtigen möchte, den Blick auf die längerfristigen Konstellationen und Voraussetzungen maritimer Exploration. Diese wird heute zudem nicht mehr (oder zumindest nicht mehr vornehmlich) als heroische Einzeltat westeuropäischer beziehungsweise mediterraner Akteure verstanden, die den Schleier des Unbekannten ruckartig durchstießen und zu Vor-

14 Raimund Schulz, Abenteurer der Ferne. Die großen Entdeckungsfahrten und das Weltwissen der Antike. 2.Aufl. Stuttgart 2016. 15 Bezeichnenderweise fehlt in der von Eberhard Schmitt herausgegebenen Reihe „Dokumente zur Geschichte der Europäischen Expansion“ der dringend benötigte Band zur Antike. Englischsprachige Handbücher wie Benedict Allen (Ed.), The Faber Book of Exploration. An Anthology of Worlds Revealed by Explorers through the Ages. London 2002, oder Robin Hanbury-Tenison (Ed.), The Oxford Handbook of Exploration. Oxford 2005, sind lexikonartige Anthologien zu den „great explorers“ mit Auswahltexten, grob geordnet nach Großräumen und Kontinenten; sie machen aber keinen Unterschied zwischen territorialer und maritimer Expansion und sie zielen auch nicht auf eine vergleichende historische Analyse ab. Zudem sind die Antike und das frühe Mittelalter deutlich unterrepräsentiert oder gar nicht vorhanden. 16 Der wegweisende Klassiker ist Felipe Fernández-Armesto, Before Columbus. Exploration and Colonization from the Mediterranean to the Atlantic, 1229–1492. Philadelphia 1987.

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reitern einer dynamischen Erfolgsgeschichte wurden. Natürlich gab es solche Szenarien, doch nicht selten übernahm die ältere Forschung unkritisch die Narrative der Akteure und der zeitgenössischen Quellen, ohne die komplexen Voraussetzungen explorativer Seefahrt, ihre Einbettung in langfristige gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Trends sowie den großen Anteil nichteuropäischer Mitspieler hinreichend zu berücksichtigen. Neuere Arbeiten bemühen sich darum, Entdeckungsgeschichte stärker in den allgemeinen Trend der Global- und Verflechtungsgeschichte einzuordnen, indem sie sich zum Beispiel auf die Kontakte zwischen ethnisch unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in den „middle grounds“, die Rolle indigener Akteure, Helfer und Vermittler sowie die von verschiedenen Seiten ausgehende maritime Netzwerkbildung („connectivity“) konzentrieren – um nur einige Ansätze zu nennen. 17 Das läuft häufig auf eine „Entzauberung“ heroischer Explorationsgeschichten hinaus, was der Bedeutung des Gesamtphänomens keinen Abbruch tut und seinem Verständnis nur zugutekommen kann. Denn nur selten dürften Seefahrer mit dem Ziel aufgebrochen sein, etwas völlig Neues zu „entdecken“; das hätte die Risikotoleranz der Mannschaften und Geldgeber trotz aller Gewinnprognosen überfordert. Die griechischen Quellen haben hierfür zum Beispiel auch gar keinen spezifischen Begriff (sie drücken den Vorgang vielmehr in der Form adliger Wettbewerbsethik dadurch aus, dass Kapitäne „als erste“ einen Ort oder eine Menschengruppe erreicht hätten), während für die Römer „exploratio“ militärische Vorfelderkundung, aber keine gezielte Weitung zum Zwecke maritimer Erkundung bedeutet. 18 Tatsächlich schickt kein Kapitän sein Schiff in ein völlig unbekanntes Nirgendwo auf der Suche nach Phantomen. Explorative Seefahrt knüpft – mag sie im Nachhinein auch noch so heroisiert und auf einzelne Großtaten hin kondensiert worden sein – vielmehr an bereits von anderen Akteuren und Ethnien etablierte Verbindungsrouten an, sie ist stets die Summe mehrerer Einzeletappen und nutzt dabei weit in das Unvertraute vorgeschobene Ausgangsbasen. Dieser grundlegenden Tatsache der Ein- und Rückbindung von „Entdeckungsfahrten“ in etablierte Bewegungsroutinen hat die Forschung insofern Rechnung getragen, als sie Exploration gerne im Rahmen umfangreicher Arbeiten zu Reisen (und

17

Kennedy, Introduction (wie Anm.13), 3, 11ff.; vgl. ferner Fernández-Armesto, Pathfinders (wie Anm.2),

z.B. 20f. 18

16

Schulz, Abenteurer der Ferne (wie Anm.14), 479.

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Migration) mitbehandelt und/oder Erkundungsunternehmungen selbst das recht unspezifische Label des Reisens („Entdeckungsreisen“) verleiht. 19 In der Regel sind diese Werke epochenspezifisch angelegt und auf die „großen“ Fahrten hin ausgerichtet 20; Sammelbände behandeln recht heterogene Aspekte und konzentrieren sich auf die literarische Verarbeitung territorialer und maritimer Mobilität sowie die Entwicklung von Reiseliteratur („travel writing“, siehe unten zum Indischen Ozean). 21 Die Spezifika maritimer Exploration sowie ihrer in der Regel recht komplexen technischen und wirtschaftlich-politischen Voraussetzungen kommen dabei jedoch häufig zu kurz, was nicht verwundert: Natürlich gibt es Überschneidungen zwischen dem Phänomen des Reisens als transregionaler Bewegungsform und der Erkundung maritimer Räume 22, und vielfach werden explorative Bewegungen zur See als eine Sonderform des Reisens („voyage“) mit spezifischen Zielen und Formen innerhalb eines begrenzteren Zeitraums unter dem allgemeineren Begriff subsumiert. 23 Reisen impliziert jedoch immer eine gewisse Mobilitätsroutine auf bereits halbwegs erschlossenen und vorgegebenen Routen, auch wenn sie in einem abenteuerlichen Ambiente spielt. Exploration bezeichnet dagegen Schübe der Raumgewinnung und Horizonterweiterung, die zwar nicht immer gezielt angestrebt, sondern häufig erst im Nachhinein erkennbar wurden, aber in jedem Falle das Zusammenspiel einer Vielzahl von Konstellationen der Mobilitätsbereitschaft voraus-

19 Für die Antike z.B. Lionel Casson, Travel in the Ancient World. Baltimore 1994 (technisch und stark auf maritimes Reisen bezogen); Hervé Duchêne (Ed.), Voyageurs et Antiquité classique. Dijon 2003 (geteilt in einen Block zu antiken Reisen und einen zur Rezeption und europäischen Reiseerfahrungen der Neuzeit); Jean-Marie André/Marie Françoise Baslez, Voyager dans l’Antiquité. Paris 1993 (Reisen als kulturelles Phänomen in all seinen Ausprägungen). Spezielle Räume und Kulturen: Colin Adams/Jim Roy (Eds.), Travel, Geography and Culture in Ancient Greece, Egypt and the Near East. Oxford 2007; Colin Adams/Ray Laurence (Eds.), Travel and Geography in the Roman Empire. New York 2011. 20 Vgl. etwa Jürgen Sarnowsky, Die Erkundung der Welt. Die großen Entdeckungsreisen von Marco Polo bis Humboldt. 2.Aufl. München 2016. 21 Manfred Landfester, Reise und Roman in der Antike. Über die Bedeutung des Reisens für die Entstehung und Verarbeitung des antiken Romans, in: Chloe 13, 1992, 29–41. 22 Roy Bridges, Exploration and Travel outside Europe (1720–1914), in: Peter Hulme/Tim Youngs (Eds.), The Cambridge Companion to Travel Writing. Cambridge 2002, 53: „,Exploration‘ and ,travel‘ may indeed be distinguished even if there is a large grey area between them.“ 23 Entdecker bilden deshalb auch nur eine sehr kleine Minderheit unter denjenigen, die über ihre Reisen schriftlich berichten. In der Regel sind sie schreibfaul; vgl. William H. Sherman, Stirrings and Searchings (1500–1720), in: Hulme/Youngs (Eds.), The Cambridge Companion to Travel Writing (wie Anm.22), 17– 36, hier 25f.

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setzen und mittelfristig zur Verknüpfung regionaler Subsysteme zu transregionalen Transferrouten führen. Sie schaffen auf diese Weise die Voraussetzung zum Reisen, gehorchen aber selbst einem anderen Modus der Mobilität. Für das Mittelmeer ist diese Form der Verdichtung von Routen und Handelsnetzen weithin bekannt und erforscht. Sie gilt aber auch für Teile des Nordatlantiks und der westafrikanischen Gewässer und ganz besonders für die Geschichte des Indischen Ozeans. Dessen maritimer „Verkehr“ war schon in der Antike dichter als in allen anderen Meeresräumen, und er basierte auf verschiedenen Traditionen maritimer Aktivität. 24 Der vorliegende Band nimmt deshalb nicht nur die explorativen Aktivitäten in den östlichen Weltmeeren aus westlicher Richtung in den Blick, sondern berücksichtigt auch die indische und chinesische Seefahrt in die Gegenrichtung, weil nur so die Voraussetzungen, Funktionen und Folgen maritimer Exploration komparativ zu analysieren sind.

III. Das Problem des Raumes: Mittelmeer – Indischer Ozean – Atlantik … und eine heterogene Forschungslandschaft Was bedeutet es aber und was ist genau damit gemeint, dass sich Seefahrer in bestimmten Räumen bewegen und diese Räume entdeckt, erschlossen und verdichtet werden? Aus dem Bisherigen wird klar, dass Forschungen zur Entdeckungsgeschichte stets mit unterschiedlichen und teils komplexen Raumkategorien arbeiten, auch wenn diese nicht immer als solche benannt und problematisiert werden. Wenn zum Beispiel Historiker vom Mittelmeerraum oder dem Indischen Ozean sprechen, dann werden häufig zwei oder sogar drei Raumvorstellungen abstrahierend miteinander vermischt oder mitgedacht: erstens Raum als naturale Einheit oder Großregion („area“), die sich trotz unterschiedlicher Mikroregionen durch bestimmte ökologische und geographische Eigenheiten (das sogenannte Mittelmeerklima, typische Wind- und Strömungsverhältnisse, Tide, Monsun etc.) auszeichnet; zweitens politisch, kulturell und gesellschaftlich konstruierte und konnotierte

24

Fernández-Armesto, Pathfinders (wie Anm.2), 68, ferner 33–37 (auch zur Kartographie) sowie jüngst:

Kaspar Grønlund Evers, Worlds Apart Trading Together. The Organisation of Long-Distance Trade between Rome and India in Antiquity. (Archaeopress Roman Archaeology, 32.) Oxford 2017, besonders die letzten Kapitel zu den indischen Organisationen.

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Raumgrößen – so spricht man gerne von einer städtisch-urban geprägten Küstenkultur des Mittelmeers, die seit dem 1.Jahrhundert n.Chr. mit einer machtpolitischen Figuration, dem Imperium Romanum, mehr oder weniger zusammenfällt; drittens einen durch menschliche Aktivität und Mobilität erzeugten, getragenen und erfahrbaren Handlungs- oder Aktionsraum. 25 Maritime Exploration, Handel, Piraterie und Kolonisation erscheinen vor diesem Hintergrund selbst als „komplexe räumliche Konfiguration(en)“ (Susanne Rau), die sich in spezifischen Praktiken der Raumbewältigung und Raumaneignung niederschlagen (Anlage von Handelsplätzen, Kontoren), neue Raumfigurationen (Handelsnetze, transregionale Finanzkonsortien, diplomatische Verbindungen, Vertragsbeziehungen) schaffen und unterschiedliches Raumwissen generieren (Kenntnisse über Seehandelsrouten, über die Verteilung von Handelswaren und Märkte = Händlerwissen, Wissen über nautische und ökologisch-ethnographische Spezifika und politisch-militärische Konstellationen). 26 Dieses über mehrere Stufen erworbene und stets wandelbare Raumwissen wird häufig mündlich bewahrt und setzt sich in den Köpfen der Akteure als „mental maps“ fest. 27 Es kann aber auch (meist als Auftragsarbeit und/oder zur Erinnerungsstütze) schriftlich fixiert werden, etwa in Form von Listen oder Itinerarien, die in einer weiteren Stufe zu größeren Kartenwerken und wissenschaftlichen oder literarisch ambitionierten Büchern verarbeitet werden. Diese schaffen eigene poetische Räume und sie transportieren Topoi der Wahrnehmung und Erinnerung: neben (negativen) Schreckensvisionen auch (positiv) idealisierte Raumvorstellungen. Beide reflektieren und verdichten Wünsche, Hoffnungen und Erfahrungen in einem schwer entwirrbaren Verhältnis („real and imagined“) und besitzen als „hybride Räumlichkeiten“ 28 gerade deshalb eine erstaunliche Suggestiv- und Beharrungskraft: Dem tödlichen „wilden“ Atlantik und der unpassierbaren „heißen Zone“ im Süden steht die Vorstellung von Indien und dem

25 Vgl. Torsten Hägerstrand, What about People in Regional Science?, in: Papers of the Regional Science Association 24, 1970, 7–21. 26 Zum Handel als räumliche Konfiguration und den mit ihm verbundenen Raumpraktiken vgl. übersichtlich und zusammenfassend: Susanne Rau, Räume. Frankfurt am Main/New York 2013, 157–160. 27 Was David J. Mattingly, The Garamantes and the Origins of Saharan Trade. State of the Field and Future Agendas, in: ders./Victoria Leitch/C. N. Duckworth et al. (Eds.), Trade in the Ancient Sahara and Beyond. Cambridge 2017, 6, über das Raumwissen und die Erinnerung von „desert guides“ sagt, gilt im Prinzip auch für Lotsen und Kapitäne auf dem Meer. 28 Rau, Räume (wie Anm.26), 79, mit Homi K. Bhaba, Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000.

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Raum des Indischen Ozeans als legendär fruchtbares Wunderland voller Reichtümer und sonderbarer Wesen gegenüber. Untrennbar mit maritimer Exploration verbunden ist ferner die magische Insel im fernen Westen (Atlantik) oder fernen Osten (Indik), die grausamen Tod (durch Kannibalen oder Ungeheuer) oder als Oase des Schiffbrüchigen unermessliche Reichtümer, nautische Hilfen oder gar Unsterblichkeit verspricht. Der vorliegende Band versucht die genannten Raumkategorien in ihrem jeweiligen historischen Kontext als interagierende und in komplizierten Rückkopplungsprozessen miteinander verbundene Teilaspekte maritimer Exploration zu erfassen. Ein wichtiges Ziel besteht darin, die Mobilität der Akteure mit der Wandelbarkeit und Konstrukthaftigkeit von Raumkategorien zu verbinden. Allerdings benötigt jede epochenübergreifende Analyse einen klaren Ausgangspunkt und Bezugsrahmen, und es erschien nicht zuletzt aufgrund der etablierten Forschung sinnvoll, diesen zunächst in den beiden ersten Raumkategorien, nämlich den naturalen Großräumen („areas“) und den auf sie bezogenen Handlungsräumen seefahrender Akteure zu suchen. Konzepte wie das „Mittelmeer“, der „Mittelmeerraum“ oder der „Indische Ozean“ sind moderne, häufig mit romantischen Vorstellungen, wissenschaftshistorischen Traditionen und politischen Konjunkturen belastete Konstrukte; sie bilden die Wahrnehmung und Erfahrung historischer Akteure allenfalls unvollkommen ab, konterkarieren mitunter die ökologische Vielfalt zumal der Küstenzonen und sind als Ergebnis einer langen Phase von Exploration und maritimer Verdichtung auf frühere Zeiten zurückprojiziert worden, welche die Einheit eines solchen Großraums vage oder erst recht spät wahrnahmen. 29 Dennoch und trotz all dieser Vorbehalte hält die Forschung bis heute vielfach (und zu recht) an ihnen fest, nicht zuletzt deshalb, weil sie als Ordnungsmodelle wichtige epistemologische Perspektiven 30 sowie die Möglichkeit der transregionalen Synthese und der Zusammenführung verschiedener Disziplinen eröffnen. Regionale Spezifika sowie die ökologische Fragmentierung und Zersplitterung in Mi-

29

Vgl. Dieter Timpe, Der Mythos vom Mittelmeerraum. Über die Grenzen der alten Welt, in: Chiron 34,

2004, 3–24, hier 15f.: „Die relative und zeitweilige Einheit des Mittelmeerraums ist ein spezifisches Ergebnis, nicht aber die allgemeine Voraussetzung der antiken Geschichte.“ Vgl. ebd.16 zum Mittelmeerraum als (heuristischem) Ordnungsmodell. 30

Vgl. Birgit Schäbler, Einleitung. Das Studium der Weltregionen (Area Studies) zwischen Fachdiszipli-

nen und der Öffnung zum Globalen: eine wissenschaftsgeschichtliche Annäherung, in: dies. (Hrsg.), Area Studies und die Welt. Weltregionen und neue Globalgeschichte. Wien 2007, 11–44, hier 12f.

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kroregionen werden vor diesem Hintergrund nicht geleugnet, sondern als wesentliche Voraussetzungen und unabdingbare Quellen maritimer Mobilitätsdynamiken erfasst, die ihrerseits transregionale „connectivity“ begründeten und in der Summe einen maritimen Großraum als historischen Aktionsraum hinreichend strukturieren, konturieren und erforschbar machen. So ergibt die Fragmentierung des Mittelmeerraums in zahllose Mikroökologien auch eine „unity in diversity“. 31 Innerhalb dieser Einheit, die bereits von einigen Schriftstellern des 4.Jahrhunderts (Platon) als solche wahrgenommen wurde, bildeten sich nicht nur ähnliche Siedlungs- und Handlungsmuster der Küstenbewohner (Leben in Städten und Ausrichtung auf die See) heraus, sondern mit ihr seit der Antike und zumindest für gewisse Zeiträume auch eine über die maritime „connectivity“ ermöglichte und befruchtete „common material and religious culture“, die sich von den territorialen Inlandsgebieten abhob. 32 Ähnliche Überlegungen lassen sich auch auf die übrigen maritimen Großräume Eurasiens anwenden, auch wenn diese sich unter anderem hinsichtlich ihrer Ökologie und ihrer Rolle als historische Aktions- und Handlungsräume in vielerlei Hinsicht unterscheiden. Während die antike (und frühmittelalterliche) Erschließung des Atlantiks und seiner Inseln nach wie vor eher ein Feld für Spezialisten ist 33, bildet der Indische Ozean ein regelrechtes Boom-Thema, das von Gelehrten unterschiedlicher Provenienz bearbeitet wird. 34 Der Grund hierfür dürfte zum einen in einer gewissen Ermüdung gegenüber klassischen Mittelmeerstudien liegen. Diese

31 Neville Morley, Trade in Antiquity. Cambridge 2007, 21, mit Peregrine Horden/Nicholas Purcell, The Corrupting Sea. A Study of Mediterranean History. Malden/Oxford 2000, 53–88. 32 So jüngst dezidiert und vielfach überzeugend zur Zeit des 8.–5.Jahrhunderts v.Chr.: Denise Demetriou, Negotiating Identity in the Ancient Mediterranean. The Archaic and Classical Greek Multiethnic Emporia. Cambridge 2012, 55, 72, 90–98, 100, 108. Zu Autoren des 4.Jahrhunderts v.Chr. und der Einheit des Mittelmeerraums: William V. Harris, The Mediterranean and Ancient History, in: ders. (Ed.), Rethinking the Mediterranean. Oxford 2005, 1–43, hier 15ff. 33 Zur Antike: Duane W. Roller, Through the Pillars of Herakles. Greco-Roman Exploration of the Atlantic. New York 2006; Fernando López Pardo, El empẽno de Heracles. (La exploración del Atántico en la Antigüedad.) Madrid 2000. Für die afrikanischen Gewässer wichtig, wenn auch recht eigenwillig: Jehan Desanges, Recherches sur l’activité des méditerrannéens aux confins de l’afrique (IVe siècle avant J.-C. – IVe siècle après J.-C.). Rom 1978. 34 Zur Antike vgl. zuletzt neben den in Anm.23 genannten, meist auf den Handel konzentrierten Synthesen die äußerst instruktive Zusammenfassung des Forschungs- und Kenntnisstandes bei Matthew Adam Cobb, Rome and the Indian Ocean Trade from Augustus to the Early Third Century CE. Leiden/Boston 2018, sowie die (teilweise problematische) Sicht bei Rajan Gurukkal, Rethinking Classical Indo-Roman Trade.

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hatten für den Bereich der Antike und der Mediävistik in den letzten Jahrzehnten eine große Konjunktur 35, ihr Erkenntnispotential erscheint aber inzwischen ausgereizt, vor allem, wenn sie sich auf ihr Untersuchungsobjekt als einen geschlossenen Großraum konzentrieren, was er – wie gesagt – real nicht war. Tatsächlich bildete (und bildet) der Mittelmeerraum seit der Antike nicht nur eine in sich zersplitterte Welt veränderlicher Mikroökologien und Mikroklimata, die ein spezifisches und recht labiles Eigenleben entwickelten; er war auch Durchgangsraum zu benachbarten Meeren sowie Scharnier zwischen weit auseinanderliegenden Ozeanen, gleichermaßen ein „Trainingsgelände“ und Kraftfeld maritimer Energien, die sich nach außen entfalteten und sich explorativ in die Seewege des Atlantiks und des Indischen Ozeans einfädelten und diese erweiterten. Die Kapitäne der phönikischkarthagischen sowie der italienischen Hafenstädte wurden auf diese Weise in der Antike beziehungsweise im späten Mittelalter zu den bedeutendsten Akteuren maritimer Expansion, die selbständig oder im Fremdauftrag mehrere Großräume erschlossen und miteinander verbanden. Jüngere Konferenzen haben dieser Perspektive, welche die großen Meeresbecken als interagierende Aktionsräume begreift, zunehmend Aufmerksamkeit gewidmet, und hierin dürfte auch eine der fruchtbarsten Ausrichtungen künftiger Forschung liegen. 36 Eine solche Perspektiverweiterung kommt nicht zuletzt dem allgemeinen Interesse an globalhistorischen Fragestellungen, an transregionaler Konnektivität und Netzwerkbildung im welthistorischen Maßstab entgegen, und sie vermag die Ziele der klassischen „maritime history“ (die schon immer sämtliche Meere in den Blick nahm) mit der oben genannten Neuausrichtung der modernen Explorationsgeschichte instruktiv zu verbinden. Genau dies ist ein wesentliches Anliegen des vorliegenden Bandes.

Political Economy of Eastern Mediterranean Exchange Relations. Oxford 2016. Für die folgenden Epochen die knappe, aber ingeniöse Synthese von Edward A. Alpers, The Indian Ocean in World History. Oxford 2014, mit Literaturhinweisen. 35

Zur Frühzeit: Cyprian Broodbank, The Making of the Middle Sea. A History of the Mediterranean from

the Beginning to the Emergence of the Classical World. London 2013; epochenübergreifend: David Abulafia, Das Mittelmeer. Eine Biographie. Frankfurt am Main 2013; Antike und Mittelalter verbindend: Horden/ Purcell, The Corrupting Sea (wie Anm.31). 36

Nikolas Jaspert/Sebastian Kolditz (Eds.), Entre mers – Outre-mer. Spaces, Modes and Agents of Indo-

Mediterranean Connectivity. Heidelberg 2018.

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Das Bemühen um eine Zusammenschau maritimer Explorationsaktivitäten in und zwischen den großen Meeresräumen bedeutet freilich nicht, dass man deren ökologische, wirtschaftliche und politische Eigenarten einebnet, sondern sie in einen funktionalen und komparativen Zusammenhang stellt. Vielfach gewinnen die historischen Entwicklungen erst dadurch an Kontur, auch im Hinblick auf ihre Rolle im Rahmen einer modernen, an Vernetzung und Konnektivität interessierten Globalgeschichte. Der Indische Ozean gilt hierfür über die Epochen hinweg als Paradebeispiel. Er kannte weniger markante historische Brüche als der Westen des Mittelmeerraums; die entscheidenden Veränderungen setzten nicht etwa mit dem Eindringen der Portugiesen, sondern mit der imperialen Ausbreitung der Engländer Mitte des 18.Jahrhunderts ein. 37 Bis dahin verlief die Entwicklung trotz des Wechsels und der Zunahme der Akteure sowie sich verändernder politischer und wirtschaftlicher Konjunkturen vergleichsweise kontinuierlich und nach ähnlichen Prinzipien. So sind nicht nur die ökologisch-ökonomischen Bedingungen, sondern auch die naturalen Produkte, die über das Meer verhandelt wurden (auch in der Wahrnehmung der Akteure), im Wesentlichen über die Jahrtausende gleichgeblieben. 38 Diese Grundbedingungen bestimmten denn auch die Einschätzung des Zielgebietes maritimer Exploration von Beginn an. Indien und die Gefilde des Indischen Ozeans galten zwar dem mediterranen Westen seit der Antike ungebrochen als eine Wunderwelt unermesslicher Reichtümer und übersprießender Fruchtbarkeit. Diese Imagination wurde jedoch kontinuierlich durch reale und sich verdichtende Handelskontakte ergänzt, so dass man zwar immer wieder neue (und bessere) Zufahrtswege und Verbindungen suchte, aber an der realen Existenz eines überaus lukrativen Zielgebietes niemals zweifelte. Indien und der Indische Ozean waren und blieben bei allen Wissensverlusten und Kontaktbrüchen über die Jahrhunderte gewissermaßen der vertrauteste Fremde des mediterranen Westens, dessen Exotik und Mirabilität aber von jedem Ankömmling neu zu entdecken und zu erfahren war. Anders als die Spanier in der Neuen Welt trafen weder persische, griechische oder ara37 Vgl. Pearson, Indian Ocean (wie Anm.5), 136, noch zur Zeit des portugiesischen Vordringens: „The key word must be continuity. Most things did not change.“ Vgl. ebd.148. 38 Für die Antike: Roberta Tomber, Indo-Roman Trade. From Pots to Pepper. London 2008; Ursula Heimberg, Gewürze, Weihrauch, Seide. Welthandel in der Antike. Waiblingen 1981; Grant Parker, Ex Oriente Luxuria. Indian Commodities and Roman Experience, in: Journal of the Economic and Social History of the Orient 45, 2002, 40–95; für die Neuzeit: North, Hafen und Horizont (wie Anm.4), 133ff.

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bische Seefahrer noch auch die portugiesischen Kapitäne im 15.Jahrhundert nach der Afrikaumrundung im Indischen Ozean auf eine ihnen unbekannte Welt, die auf die Ankunft der Europäer völlig unvorbereitet war und entsprechend leicht erobert, missioniert und einer kolonisatorischen Durchdringung zugänglich gemacht werden konnte. Stattdessen wurden die östlichen Gewässer und Seewege von etablierten einheimischen Machtzentren kontrolliert und – auch dies ein entscheidender Unterschied gegenüber der maritimen Expansion über den Atlantik auf die Kanaren und dann nach Amerika – von kundigen indischen, arabischen und indonesischen Seefahrern dominiert. Angesichts der begrenzten eigenen Machtressourcen und geringen Bevölkerungszahl sowie der arabisch-muslimischen Konkurrenz (deren Flotten zeitweise auch noch von Venedig finanziell unterstützt wurden) 39 mussten deshalb die Portugiesen, wie alle anderen Akteure aus dem mediterranen Bereich vor ihnen, trotz anfänglicher militärischer Erfolge gänzlich andere Strategien entwickeln, um sich zu behaupten und sich in dieses komplexe Gefüge bestehender macht- und handelspolitischer Formationen und kaufmännischer Routinen einzufädeln. Das lief im Ergebnis darauf hinaus, dass man zwar mit Hilfe der überlegenen Feuerkraft eigener Schiffe eine bisher unbekannte 40 Form der gewaltsamen Dominanz zur See beanspruchte (die man fiskalisch und wirtschaftlich auszunutzen suchte) und zu Beginn des 16.Jahrhunderts an der Küste strategisch wichtige und florierende Handels- und Hafenstädte besetzen sowie Forts errichten konnte, materielle und händlerische (und missionarische) Interessen weiter im Landesinneren aber auf dem Verhandlungswege mit einheimischen Fürsten und Kleinstaaten durchsetzen musste. 41 Dass unter diesen Bedingungen einer dezidiert meeres- und küstenzentrierten Präsenz, die auf die Errichtung von Seehandelsmonopolen mit Pfeffer und Gewürzen, nicht aber auf territoriale Eroberung zielte, auch die literarische Verarbeitung mari-

39

Ulrich Matthée, „Zu den Christen und zu den Gewürzen“. Wie die Portugiesen den Indischen Ozean ge-

wannen, in: Stephan Conermann (Hrsg.), Der Indische Ozean in historischer Perspektive. (Asien und Afrika. Beiträge des Zentrums für Asiatische und Afrikanische Studien der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 1.) Hamburg 1998, 201; North, Hafen und Horizont (wie Anm.4), 138. 40

Pearson, Indian Ocean (wie Anm.5), 123: „It is not too much of an exaggeration to say that the Portu-

guese introduced state controlled violence into the Indian Ocean.“ 41

Stephan Conermann, Muslimische Seefahrt auf dem Indischen Ozean vom 14. bis zum 16.Jahrhundert,

in: ders. (Hrsg.), Der Indische Ozean (wie Anm.39), 201, mit weiterer Literatur in den Anmerkungen; ferner Pearson, Indian Ocean (wie Anm.5), 120f.

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timer Exploration im Indik (besonders im Hinblick auf die Ethnographie) andere Wege ging als die in der Neuen Welt, liegt nahe und bildet ein faszinierendes Forschungsobjekt, das auch im vorliegenden Band aufgegriffen wird. Vor dem Hintergrund der langen und nie gänzlich unterbrochenen Kontinuität maritimer Konnektivität im Indischen Ozean sowie der Gemengelage politischer Macht, die sich viel langsamer als in der Neuen Welt zugunsten der Europäer entwickelte, erscheinen klassische Epochengrenzen, die wir aus der mediterran-europäischen Geschichte gewohnt sind, gerade im Hinblick auf den Indischen Ozean durchaus kontraproduktiv: Die zuletzt von der Mediävistik so intensiv erforschte Erschließung des Indischen Ozeans und die Verdichtung der maritimen Vernetzungen 42 sind ohne die Kenntnis antiker Grundlagen und Impulse schwer zu verstehen, während umgekehrt Althistoriker die Kenntnis späterer Abläufe nutzen müssen, um bestimmte Phänomene durch Vergleich und Analogie klarer zu konturieren. Insofern bietet sich gerade für den Indik eine epochenübergreifende und komparative Betrachtungsweise nicht nur an 43, sie erscheint geradezu unerlässlich. Für den atlantischen Raum liegen die Dinge anders. Abgesehen davon, dass es hier und vor allem später an den Küsten der Neuen Welt für mediterran-europäische Seefahrer keine ernsthafte einheimische Konkurrenz gab, war die wirtschaftliche Bedeutung der Meere jenseits der Straße von Gibraltar im Vergleich zu den nahöstlichen Meeren lange Zeit marginal (auch wenn es am Guadalquivir reiche Silberminen und in Südbritannien begehrte Zinnvorkommen gab). Die Erkundungsfahrten und Kolonisationsunternehmungen der Phöniker und Karthager an der westafrikanischen Küste wurden im Zuge des Machtaufstieges Roms nicht fortgesetzt 44, die

42 Die Literatur ist inzwischen auch hier Legion und bezieht sich auf verschiedene Akteure: islamische Araber, Inder, indonesische sowie jüdische Händler, Kaufleute und Seefahrer; vgl. deshalb für viele: Ulrike Freitag, Islamische Netzwerke im Indischen Ozean, in: Dietmar Rothermund/Susanne WeigelinSchwiedrzik/Peter Feldbauer (Hrsg.), Der Indische Ozean. Das afro-asiatische Mittelmeer als Kultur- und Wirtschaftsraum. Wien 2004, 61–81, sowie: Anette Schmiedchen, Die Akteure der mittelalterlichen Kommunikation im Indischen Ozean – von Gujarat über Ceylon und den Golf von Bengalen bis nach Sumatra, in: Michael Borgolte/Nikolas Jaspert (Hrsg.), Maritimes Mittelalter. (Vorträge und Forschungen, 83.) Ostfildern 2016, 283–320, mit Literatur und Quellen. 43 Neuere Überblicke versuchen dies in geraffter Form, so Dietmar Rothermund, Der Blick vom Westen auf den Indischen Ozean vom „Periplus“ bis zum „Suma Oriental“, in: ders./Weigelin-Schwiedrzik/Feldbauer (Hrsg.), Der Indische Ozean (wie Anm.42), 9–35. 44 Polybios kam vielleicht nicht einmal über die Straße von Gibraltar hinaus, Caesar fuhr von Cadiz bis nach Brigantium.

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Kenntnis der Kanaren, Madeiras (und der Azoren?) verblasste und wurde lediglich literarisch verbrämt bewahrt. Suchten Seefahrer aus Massilia im 4.Jahrhundert v. Chr. in Konkurrenz zu Karthago die Route zu den Zinn- und Bernsteinschätzen der Nord- und Ostsee, so bestimmten strategische, logistische und machtpolitische Interessen das tastende Vordringen der Römer in die Nordmeere. Bezeichnenderweise suchten römische Händler Zugang zu den Bernsteinschätzen der Ostsee nicht über See, sondern über Land (auf der sogenannten Bernsteinroute). Wie relativ unbedeutend der nördliche Atlantik von der römischen Führung eingeschätzt wurde, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass es in der Nordsee keine dauerhafte Marinepräsenz gab. 45 Die Geschichte des „römischen“ Atlantiks wird dementsprechend meist im Rahmen der „Reichsgeschichte“ Roms und seiner Provinzen (Britannien) behandelt. Eine umfassende Studie, die den atlantischen Raum als eigenständiges Aktionsfeld unterschiedlicher Akteure mit der mediterranen Geschichte in Beziehung setzt, steht bisher aus. 46 Erst mit der Etablierung neuer monarchischer Herrschaftszentren in Mittel- und Nordeuropa nach dem Zusammenbruch des Westreiches gewannen die Nordmeere eine neue Bedeutung. Während in der Antike Wanderbewegungen und Vorstöße aus dem Norden in das Mittelmeergebiet zumeist über Land erfolgten und umgekehrt Initiativen über See von mediterranen Akteuren ausgingen, deutet sich mit den Vorstößen fränkischer Piraten in das Mittelmeer im 3.Jahrhundert n.Chr. ein fundamentaler Richtungswechsel an. Im Frühmittelalter entwickelte sich der skandinavische Raum zu einem Zentrum monarchischer Herrschaft, die eine enge Beziehung zum Meer wahrte und den Ausgangspunkt von weiten Raubzügen und Handelsunternehmungen über See und die mittel- und westasiatischen Flusssysteme

45

Philipp Culham, The Roman Empire and the Seas, in: de Souza/Arnaud (Eds.), Sea in History (wie Anm.

1), 290. 46

Vgl. William H. McNeill, Transatlantic History in World Perspective, in: Stephen G. Reinhardt/Dennis

Reinhartz (Eds.), Transatlantic History. Arlington 2006, 3–18, hier 7: „I am in doubt that anyone has yet integrated the background story of Atlantic Europe’s navigation, shipbuilding, and resulting raid, trade, migration, and cultural exchanges into a single whole.“ Sowie ebd.mit den Bedingungen für eine solche Synthese. Interessante Perspektiven eröffnet besonders für die Frühzeit: Barry Cunliffe, Europe between the Oceans 9000 BC–AD 1000. New Haven/London 2011; Holger Afflerbach, Das entfesselte Meer. Die Geschichte des Atlantik. München 2001, bietet einen kompakten Überblick mit klugen und instruktiven Deutungen, konzentriert sich aber auf die Erschließung der Seeroute. Wie üblich ist der Teil zur Antike knapp und nicht frei von Ungenauigkeiten (Sokrates wird z.B. – anstelle von Platon – als Urheber kosmologischer Entwürfe vorgestellt).

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bildete. 47 Im Zentrum auch des öffentlichen Interesses standen und stehen die Wikinger. 48 Sie bezeichnen weder eine ethnisch einheitliche Menschengruppe (ähnliches gilt für die antike Bezeichnung „etruskische Piraten“ in griechischen oder den Terminus Ionier/Yavanas in indischen Texten) noch waren sie ausschließlich maritim orientiert. 49 Seeraub diente dem Erwerb von Prestige (zum Aufbau und der Festigung von Gefolgschaften) und Macht zu Lande. 50 Diese Verbindung von strukturell bedingter Suche nach Ruhm und Beute, die enge Verflechtung von Raub, Handel und territorialer Machtsicherung sowie die explorative Weitung ihrer (mit dem Erwerb von Rohmaterialien verbundenen) Fahrten 51 – all das erinnert an die archaischen Griechen, und es würde sich lohnen, die für beide Kulturen ähnliche Form maritimer Aktivität vergleichend herauszuarbeiten (was im vorliegenden Band nicht geleistet werden konnte). Die Etablierung „maritimer Königreiche“ im skandinavischen Raum (Dänemark und Norwegen) 52, die Vernetzung des Nordatlantiks über (miteinander konkurrierende) Handels- und Erkundungsrouten nicht nur durch Raubfahrten, sondern auch durch die Aktivitäten „freier“ Händlergruppen 53 bis nach Grönland und Kanada (Vinland) bildeten in jedem Falle wichtige Voraussetzungen dafür, dass die Nordund Ostsee für christliche, aber auch für arabische Händler des Mittelmeerraums ein lohnendes Ziel wurde. 54 Den entscheidenden Durchbruch für den Seehandel in den Atlantik bildeten der Aufstieg Kastiliens (Aragon) und die Eroberung Gibraltars

47 North, Hafen und Horizont (wie Anm.4), 40f. 48 Vgl. Christian Jahnke, Die „Nordsee“. Ein verbindendes oder trennendes Element, in: Borgolte/Jaspert (Hrsg.), Maritimes Mittelalter (wie Anm.42), 195–210, hier 201. 49 Ebd.; Christian Capelle, Die Eroberung des Nordatlantiks. Archäologie am Rande des Meeres. Neumünster 1987. 50 Hans Jacob Orning, Unpredictabability and Presence. Norwegian Kinship in the High Middle Ages. (The Northern World, 38.) Leiden 2008; North, Hafen und Horizont (wie Anm.4), 37 (Aufbau von Gefolgschaften). 51 Zu den Fahrten der Grönländer nach Labrador zum Holzerwerb (!) vgl. Gisli Sigordsson, Introduction, in: ders. (Ed.), The Vinland Sagas. London 2012, XXXVI. 52 Jahnke, Nordsee (wie Anm.48), 203; Verdichtung der Handelswege: ebd.205. 53 Ebd.205. 54 North, Hafen und Horizont (wie Anm.4), 47f., 50f.; Heiko Steuer, Geldgeschäfte und Hoheitsrechte zwischen Ostseeländern und islamischer Welt, in: Zeitschrift für Archäologie 12, 1978, 255–260; Dariusz Adamczyk, Friesen, Wikinger, Araber. Die Ostseewelt zwischen Dorestad und Samarkand ca. 700–1100, in: Andrea Komlosy/Hans-Heinrich Nolte/Imbi Sooman (Hrsg.), Ostsee 700–2000. Gesellschaft – Wirtschaft – Kultur. Wien 2008, 32–48.

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1309 55; seitdem fuhren immer mehr mediterrane Schiffe in die Nordsee, während sich (vornehmlich italienische) Kapitäne unter portugiesischer Fahne an der westafrikanischen Küste entlang bewegten. Eine wesentliche Voraussetzung dieser maritimen Expansion war, dass der christliche Nordwesten seit dem 11.Jahrhundert Schritt für Schritt die militärische Vorherrschaft im Mittelmeer gewonnen hatte und mit den Stadtrepubliken Pisa, Genua, Florenz und Venedig Hafen- und Handelsstädte bereitstanden, welche die sich ändernden machtpolitischen Verhältnisse zu nutzen verstanden. Ihre Aktivitäten, ihre politisch-gesellschaftliche Struktur (eine auf den Fernhandel ausgerichtete Führungsschicht), ihre Bereitschaft, Handelsinteressen wenn nötig mit punktueller territorialer Eroberung zu verbinden, sowie ihre Konkurrenz untereinander erinnern an die antike Blütezeit der phönikischen Hafenstädte der Levante. Auch diesen wurde aufgrund ihrer händlerischen und nautischen Expertise ähnlich wie den italienischen Stadtrepubliken von den mächtigeren Territorialstaaten immer eine gewisse politische Autonomie gewährt. 56 Und noch etwas anderes verbindet die italienischen Stadtrepubliken strukturell mit den phönikischen Hafenstädten: ihre praktisch in alle Himmelsrichtungen reichenden und alle politischen, ethnischen (oder religiösen) Grenzen überbrückenden Handelskontakte. 57 Genauso wie die Phöniker Verbindungen besaßen, die über das Mittelmeer in den Atlantik und das Rote Meer reichten, waren italienische Händlerfamilien im 13. und 14.Jahrhundert nicht nur in der Levante und im Schwarzmeerraum, sondern auch in Ägypten, Nordafrika und Spanien aktiv. Es waren phönikische Kapitäne, die auf eigene Kosten und im Auftrag materiell potenter Territorialherrscher Entdeckungsfahrten in den Indischen Ozean und von Ägypten aus um Afrika herum unternahmen sowie den Atlantik erschlossen, genauso wie italienische Kapitäne für ihre Familien und Gemeinden sowie unter der Flagge kastilischer und portugiesischer Herrscher die atlanti-

55

Nikolas Jaspert, Austausch-, Transfer- und Abgrenzungsprozesse. Der Mittelmeerraum, in: Thomas

Ertl/Michael Limberger (Hrsg.), Globalgeschichte. Die Welt 1000–2000. Wien 2009, 138–174, hier 141, 147. 56

Ebd.147.

57

Zu italienischen Handelsstädten und ihren Verbindungen bis tief in die islamische Welt in Ost und

West am Beispiel Genuas und Venedigs: Peter Feldbauer/Gottfried Liedl, Fragmentierung und Rekonstruktion. Die westliche islamische Welt, in: Ertl/Limberger (Hrsg.), Globalgeschichte (wie Anm.55), 190–199; Phöniker: Schulz, Abenteurer der Ferne (wie Anm.14), 41–53, 151–164; Claude Baurain/Corrine Bonnet (Eds.), Les Phéniciens. Marins des trois continents. Paris 1992; Maria Eugenia Aubet, The Phoenicians and the West. Politics, Colonies, and Trade. Cambridge 1997.

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schen Gewässer erforschten und mit Kolumbus einen Mann stellten, der den bereits weit in den Atlantik vorgeschobenen Erfahrungsraum bis in die „Neue Welt“ erweiterte. Nicht von ungefähr zählen Phöniker und Karthager zu den ersten Kandidaten, denen selbst seriöse Forscher gleiches bereits in der Antike zumindest zutrauen. 58

IV. Die großen Konstanten: Schiffstechnik, Handelsinteressen und das Zusammenspiel von staatlicher Macht und den „communities of seafarers“ Auch solche Parallelen drängen nach einer epochenübergreifenden Analyse der Ausgangssituationen, Motive und Kapazitäten maritimer Erkundungsfahrten in die großen Meeresräume. Eine grundlegende Frage war und ist dabei die nach den technischen und nautischen Voraussetzungen. Dass der Expansion in den Atlantik seit dem 13.Jahrhundert n.Chr. eine bedeutende, sich aus mehreren Traditionen speisende Entwicklung des westmediterranen Schiffbaus vorausging und im 15.Jahrhundert mit der Karavelle und der Nao Schiffstypen bereitstanden, die für Atlantikfahrten bestens geeignet waren, ist genauso bekannt 59 wie die Tatsache, dass den Phönikern und Griechen in der Archaik mit dem zweireihigen Fünfzigruderer (Bireme) ein Standardtyp zur Verfügung stand, der sich aufgrund seiner Bauweise für lange Handels-, Kolonisations- und Erkundungsfahrten im Mittelmeer und darüber hinaus als äußerst effizient erwies. Als mediterrane Seefahrer im 1. und 2.Jahrhundert n.Chr. vom Roten Meer in den Indischen Ozean drängten, benutzten sie größere

58 Seriöse Überlegungen, knapp und konzentriert auf die Inschrift bei Paraiba bei Maria Giulia Amadasi Guzzo, Waren die Phönizier in Amerika?, in: Sabatino Moscati (Hrsg.), Die Phönizier. Berlin 2000, 570–572 (kritisch); Lienhard Delekat, Phönizier in Amerika. Die Echtheit der 1873 bekanntgewordenen kanaanäischen (altsidonischen) Inschrift aus Paraiba in Brasilien nachgewiesen. (Bonner biblische Beiträge, 32.) Bonn 1969 (optimistisch und mit linguistisch-archäologischen Argumenten für eine Kolonisation über den Atlantik). 59 Alexander Marboe, Zur Einführung. Schiffsbau und Nautik im vorneuzeitlichen Europa, in: ders./Andreas Obenaus (Hrsg.), Seefahrt und die frühe europäische Expansion. (Expansion – Interaktion – Akkulturation, Bd. 15.) Wien/Berlin 2009, 14–18; Richard W. Unger, Ships and Shipbuilding, in: John Block Friedman/Kristen Mossler Figg (Eds.), Trade, Travel, and Exploration in the Middle Ages. An Encyclopedia. New York/London 2000, 553–558, bes. 554–557; Archibald R. Lewis/Timothy J. Runyan, European Naval and Maritime History, 300–1500. Bloomington 1985.

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und stabilere Schiffe 60, mit denen man einerseits die Herausforderungen des Monsuns meistern konnte und die anderseits einen so großen Laderaum boten, dass sich die Fahrten finanziell rentierten; die exzellenten, „von geschickten Baumeistern sorgsam gefertigten“ Schiffe der „Westler“ (Yavanas) werden von indisch-tamilischen Autoren ausdrücklich gepriesen, und es gibt keinen Grund an ihrem Urteil zu zweifeln. 61 Hinter all diesen Entwicklungen standen in erster Linie nicht etwa militärische Erwägungen, sondern – auch dies bildet eine epochenübergreifende Kontinuität – Handelsinteressen und das Bemühen, größere und sichere Gewinne zu erzielen. Immer wieder erstaunlich sind nicht nur die finanziellen Mittel, die in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten auf Seiten der römischen Akteure für den Erwerb und Transport fernöstlicher Waren aufgewendet wurden, sondern auch das hohe und weitgespannte organisatorische Niveau der Finanzierung von „Indienfahrten“. 62 Dabei spielte die aus griechisch-hellenistischer Tradition stammende und an ihren Formen orientierte Institution des Seehandelsdarlehen (pecunia nautica oder pecunia traiecticia) eine wichtige Rolle 63, aber offenbar kamen auch andere, den besonderen Bedingungen der Indienfahrten angepasste Formen der Finanzierung und gegenseitigen Absicherung der Beteiligten zum Einsatz. 64 Sie verteilten in einer monetarisierten Handelswelt einerseits die Risiken und akkumulierten auf der anderen Seite erhebliches Kapital, das nicht nur für den Einkauf und die Schiffsausrüstung, son-

60

Lionel Casson, The Periplus Maris Erythraei. Text with Introduction, Translation, and Commentary.

Princeton 1989, 35; ders., Ancient Naval Technology and the Route to India, in: Vimala Begley/Richard D. de Puma (Eds.), Rome and India. The Ancient Sea Trade. Madison 1991, 8–12; Andrew L. Wilson, The Economic Influence of Developments in Maritime Technology in Antiquity, in: William V. Harris/Kristine Iara (Eds.), Maritime Technology in the Ancient Economy, Ship-Design and Navigation. Portsmouth/Rhode Island 2011, 211–233, hier 217, 232. 61

Bram Fauconnier, Graeco-Roman Merchants in the Indian Ocean Revealing a Multicultural Trade, in:

Topoi Suppl. 11, 2012, 87; Fabrizia Baldissera, The Mobility of People and Ideas on the Seas of Ancient India, in: de Souza/Arnaud (Eds.), Sea in History (wie Anm.1), 548–559, hier 554. 62

Dazu jetzt sehr instruktiv und detailreich: Grønlund, World Apart (wie Anm.24).

63

Vgl. Peter Temin, Financial Intermediation in the Early Roman Empire, in: The Journal of Economic

History 64, 2004, 705–733; Stephan Schuster, Das Seedarlehen in den Gerichtsreden des Demosthenes. Mit einem Ausblick auf die weitere historische Entwicklung: dánein nautikón, fenus nauticum und Bodmerei. Berlin 2005; zur römischen Zeit vgl. ferner die immer noch gut informierende Zusammenfassung bei Francesco De Martino, Wirtschaftsgeschichte des Alten Rom. 2.Aufl. München 1991, 150–154. 64

So versteht Grønlund, World Apart (wie Anm.24), den Muziris-Papyrus neuerdings im Gegensatz zur

Mehrheit der Forschung nicht mehr als „a maritime loan proper“.

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dern insbesondere für die in Alexandria und Antiochia zu leistenden Importzölle (25 Prozent des Warenwertes) aufgewendet werden musste. 65 Jüngere Funde wie der berühmte Muziris-Papyrus, aber auch Hinweise aus indischen Quellen zeigen die transregionale Reichweite dieser Institutionen, die von den Westküsten des Indischen Ozeans über die Häfen des Roten Meeres bis nach Alexandria (und mittelbar bis nach Rom) reichte und eine unmittelbar oder über erfahrene Mittelsmänner (Freigelassene) weitgehend problem- und reibungslos miteinander kommunizierende Koinè indischer, syrischer, griechischer und römischer Händler und Finanziers voraussetzt. 66 Auf diesen oder ähnlichen Kanälen, die von diplomatischen Kontakten flankiert und stabilisiert werden konnten (aber nicht mussten), bewegten sich auch andere Spezialisten, wie etwa Ingenieure, Baumeister, Söldner oder Musiker, die an den Höfen der Rajas so begehrt waren. Es liegt angesichts dieser Verhältnisse nahe, auch nach den marinetechnischen Entwicklungen zu fragen, die von diesen Verbindungen befruchtet und möglicherweise weitergegeben wurden. Sicherlich fehlte in der Antike ein auf Kapitänen, Reedern und Geldgebern sowie Machthabern lastender ökonomischer beziehungsweise nautischer Dauerdruck, der zu einer der frühneuzeitlichen Expansion vergleichbaren Innovationsdynamik führte und marinetechnische Entwicklungsschübe in kurzer Zeit forcierte. Dass jedoch generell mit maritimen Explorations- und Expansionsbewegungen spezifische Entwicklungen in der Schiffbautechnik verbunden waren und sich diese an die Bedingungen der Meeresräume anpassten, ist unstrittig. Auch wenn die frühneuzeitlichen Einheiten robuster und leistungsfähiger waren als ihre antiken Vorläufer 67, so heißt das nicht, dass diese nicht ebenso in der Lage waren, weite Strecken über das offene Meer auch jenseits des Mittelmeeres (mit oder ohne Einsatz des im 1.Jahrhundert v.Chr. aus Indi-

65 Vgl. Dominic Rathbone, Roman Egypt, in: Walter Scheidel/Ian Morris/Richard P. Saller (Eds.), The Cambridge Economic History of the Greco-Roman World. Cambridge 2007, 717, der die Höhe des 25-prozentigen Importzolls ausgeglichen sieht durch vergleichsweise geringe und wenige Taxen im Reich. 66 Vgl. Grønlund, World Apart (wie Anm.24); Schulz, Abenteurer (wie Anm.14), 364–375; Raoul McLaughlin, The Roman Empire and the Indian Ocean. The Ancient World Economy and the Kingdoms of Africa, Arabia, and India. Barnsley 2014, 102–107; Dominic Rathbone, The Financing of Maritime Commerce in the Roman Empire I–II AD, in: Elio Lo Cascio (Ed.), Credito e moneta nel mondo romano. Bari 2003, 197–230. Zur (hellenistisch-griechischen) Herkunft des Faenum nauticum und seiner Entwicklung siehe: Schuster, Seedarlehen (wie Anm.63); Baldissera, Mobility (wie Anm.61), 555, zu indischen Quellen. 67 Vgl. Fernández-Armesto, Pathfinders (wie Anm.2), 141ff.

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en eingeführten Lateinsegels) zu überqueren. 68 Die Meinung, antike Seefahrt habe sich ausschließlich oder vornehmlich an der Küste entlang und nie im Winter (mare clausum) abgespielt, ist von der jüngeren Forschung als Mythos entlarvt worden. 69 Nur wenige zweifeln heute noch daran, dass antike Segler gegen den Wind kreuzen und gegen widrige Strömungen anrudern konnten. 70 Die Nahrungs- und Wasserversorgung längerer Hochseefahrten (Mitnahme von Tieren, Salzfleisch, Obst und fermentierter Fisch) stand nicht hinter frühneuzeitlichen Standards zurück. Die ozeanische Navigation nach den Sternen beziehungsweise nach dem Sonnenstand war für kaiserzeitliche Kapitäne kein Problem; sie bot noch zur Zeit des Kolumbus neben der Beobachtung naturaler Verhältnisse (Wind, Vogelflug, Strömung) die wesentliche Orientierung, die durch den Kompass ergänzt, aber nicht ersetzt wurde. 71 Wichtiger als die Frage nach den Kapazitäten vormoderner Seefahrt erscheint zumal angesichts des Verständnisses von maritimer Exploration als eines Zusammenspiels mehrerer Akteure in einem sich vernetzenden Raum das Phänomen des Austausches, der Weitergabe und des Zusammenwirkens maritimer Techniken. Die „maritime Revolution“ des 12.Jahrhunderts n.Chr., die über mehrere Zwischenstufen zur Entwicklung der Karavelle in den italienischen Hafenstädten führte, ergab sich in einem verwickelten Prozess der Zusammenführung atlantisch(-keltischer) und mediterran-römischer Schiffsbaukunst. 72 Ebenso sind in die Entwicklung des 68

Olaf Höckmann, Antike Seefahrt. München 1985, 161ff.; Fik Meijer, A History of Seafaring in the Clas-

sical World. London/Sydney 1986, 1ff.; Stefano Medas, De rebus nauticis: L’arte della navigazione nel mondo antico. Rom 2004, 155f.; zur Einführung des Lateinsegels vgl. ebd.201–205; David Fabre, Seafaring in Ancient Egypt. London 2004/05, 118f. Allerdings konnte man in der Antike auch ohne Lateinsegel, nur mit dem mediterranen Quersegel den Indischen Ozean überqueren; vgl. Fauconnier, Graeco-Roman Merchants (wie Anm.61), 83. 69

Höckmann, Seefahrt (wie Anm.68), 61; Heinz Warnecke, Zur Phänomenologie und zum Verlauf antiker

Überseewege, in: Eckhard Olshausen (Hrsg.), Zu Wasser und zu Land. Verkehrswege in der antiken Welt. Stuttgarter Kolloquium zur Historischen Geographie des Altertums 7. Stuttgart 2002, 93–107, hier 97; Schifffahrt im Winter: Jamie Morton, The Role of the Physical Environment in Ancient Greek Seafaring. Leiden 2001. 70

Fabre, Seafaring (wie Anm.68), 117; Medas, De rebus nauticis (wie Anm.68), 172f., 191–199; Friedrich

Gelsdorf, Antike Schifffahrtsrouten im Mittelmeer, in: Gisela Hellenkemper Salies/Hans-Hoyer von Prittwitz und Gaffron/Gerhard Bauchhenß (Hrsg.), Das Wrack. Der antike Schiffsfund von Mahdia. Bd.2. Köln 1994, 751–758, hier 753. 71

Vgl. jüngst: Raimund Schulz, Krieg und Seefahrt in der Antike, in: Jürgen Elvert/Martina Elvert (Hrsg.),

Agenten, Akteure, Abenteurer. Beiträge zur Ausstellung „Europa und das Meer“ im Deutschen Historischen Museum Berlin. Berlin 2018, 37–41, hier 39f. 72

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Unger, Ships (wie Anm.59), 553–557.

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antiken Fünfzigruderers unterschiedliche Traditionen, Erfahrungen und Experimente eingeflossen, die von den Phönikern gebündelt wurden. 73 Im Indischen Ozean ist dagegen die Entwicklung noch einmal komplexer. Hier standen alte Traditionen ägyptischer, vorderasiatischer, indischer, arabischer, austronesischer und (seit dem 1.Jahrhundert) mediterraner Schifffahrt bereit, deren Anwendung in hohem Maße von den ökologischen und politischen Bedingungen der Küstenzonen abhing. Ägypten und die Rotmeerküsten verfügten im Gegensatz zum nördlichen Indusgebiet (Gandhara) und den indischen Westküsten nur über geringe Mengen von geeignetem Schiffsbauholz, um die Konstruktion und die Instandhaltung von Schiffen in größerer Zahl zu gewährleisten 74, abgesehen von den wenigen Häfen, die sich als Standort für den Schiffsbau eigneten. Sicherlich gab es die Möglichkeit, Schiffsteile von Alexandria über den Nil und die Karawanenrouten nach Berenike oder Myos Hormos oder weiter nördlich nach Clymsa (arabisch Qulzum, das spätere Suez, über das auch die Muslime Holz bezogen) zu transportieren und dort wieder zusammenzusetzen. Doch war dies nicht die Norm und die Menge des Materials viel zu gering, um einen regelmäßigen Unterhalt der Indienfahrer zu ermöglichen. 75 Stattdessen wurden qualitativ hochwertiges Schiffsbauholz sowie andere Materialien (indische Baumwolle als Segeltuch) aus Indien und Ostafrika über See importiert; erste Wahl waren Schwarzholz und Teakholz aus Südostasien (Indien) und Ostafrika, das später auch von den arabischen Konstrukteuren für den Bau ihrer dhowes verwendet wurde. 76 Doch was bedeutet dieser regelmäßige Import südasiatisch-ostafrikanischer Naturprodukte (sowie ganzer Schiffsteile) für den Bau westlicher Indienfahrer, die der mediterranen Schiffskonstruktion verpflichtet waren? 77 Gab es auch indische Schiffe in den Rotmeerhäfen und wie ging man mit deren Bautraditionen um? Neuere

73 Ebd. 74 Nathalie Baum, Arbres et arbustres de l’Egypte ancienne. (Orientalia Lovaniensia Analecta, 31.) Leuven 1988, 79. 75 Diskussion bei Fauconnier, Graeco-Roman Merchants (wie Anm.61), 80, und Himanshu Prabha Ray, The Winds of Change. Buddhism and the Maritime Links of Early South Asia. New Delhi 1994, 169. 76 Fauconnier, Graeco-Roman Merchants (wie Anm.61), 80; Julian Whitewright, Roman Rigging Material from the Red Sea Port at Myos Hormos, in: The International Journal of Nautical Archaeology 36, 2007, 282–292; Carolyn F. Vermeeren, The Use of Imported and Local Wood Species at the Roman Port of Berenike, Red Sea Coast, Egypt, in: Marijke van der Veen (Ed.), The Exploitation of Plant Ressources in Ancient Africa. Boston 1999, 199–204, hier 199f. 77 Whitewright, Rigging (wie Anm.76), 287; Fauconnier, Graeco-Roman Merchants (wie Anm.61), 83.

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Untersuchungen kommen zu dem vorsichtigen Schluss, dass beim Bau und bei der Reparatur der „Rote-Meer-Schiffe“ offenbar „a mixture of Mediterranean and Indian techniques“ angewandt wurde sowie den indischen und afrikanischen Hölzern auch einige Hölzer mediterran-europäischer Herkunft beigefügt wurden; offenbar verhielt man sich – wie meist in der Seefahrt – pragmatisch. 78 Wanderten demnach mit dem Handel von Bauhölzern und Ausrüstungsmaterialien auch fernöstliche Schiffsbautechniken nach Westen und/oder erweiterte sich umgekehrt die mediterrane, vornehmlich mit fernöstlichem Baumaterial betriebene Konstruktion („mortise-and-tenon-fashion“) 79 in die Gegenrichtung, und wenn ja, wie weit und unter welchen Umständen? Wie haben diese Austauschprozesse die Expansion in den Indischen Ozean und deren Vernetzung unterstützt beziehungsweise gelenkt (so wie zum Beispiel später die Wikinger vom Holzreichtum Grönlands und Vinlands angezogen wurden)? Diesen auch für andere Räume und Epochen wesentlichen Fragen 80 geht im vorliegenden Band Ronald Bockius nach. Er zeigt zunächst, auf welchen Transferkanälen hellenistischer und kaiserzeitlicher See- und Handelskontakte möglicherweise auch spezifische Kenntnisse und Fertigkeiten des Schiffbaus wandern konnten. Daran anknüpfend lassen sich an einem markanten Fallbeispiel wohlbegründete Überlegungen darüber anstellen, wie sich Elemente mediterraner Schiffbautechnik bis in den fernen Osten (Vietnam?) verbreiten und sich dort in ganz neuen Kontexten manifestieren konnten. Inwieweit solche Phänomene der Technikwanderung und Ressourcenverteilung schon in der Antike die Richtung und Dynamik von Explorationsbewegungen mitbestimmten, zeigt die auffällige, aber in der Forschung selten problematisierte Tatsache, dass vorderasiatische und ostmediterrane Herrscher wie der Perser Dareios und der Makedone Alexander den Indischen Ozean in der frühen Phase vom 6. bis zum 4.Jahrhundert v.Chr. von Afghanistan über den Indus und die Indusmündung

78

Anna M. Kotarba-Morley, The Maritime Context of the Trans-Mediterranean – Indian Ocean Trade. Cri-

tical Review of Roman Era Vessels of the Red Sea, in: Dionisius A. Agius/Emad Khalil/Eleanor M. L. Scerri/ Aluin Williams (Eds.), Human Interaction with the Environment in the Red Sea. (Selected Papers of the Red Sea Project, 6.) London/Boston 2017, 171–206, hier 204 und 206: „[…] it would seem likely that a hybridised mix of the more rigidly planned and structured Mediterranean vessels, and the more free-flowing and flexible Indian Ocean tradition crafts would be suitable“. 79

Stephen E. Sidebotham, Berenike and the Ancient Maritime Spice Trade. Berkeley 2011, 197f.

80

Vgl. z.B. Fernández-Armesto, Pathfinders (wie Anm.2), 143, zur Frage arabischer Einflüsse auf die Kon-

struktion der Karavelle.

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erschlossen und dabei bezeichnenderweise ihre Flotten in Nordindien mit den hochwertigen Hölzern von Gandhara und des Industals bauen ließen. 81 Dagegen hatten die früher einsetzenden und tastenden Expeditionen vom Roten Meer aus genug damit zu tun, die schwierigen maritimen und ökologischen Bedingungen (mit Booten, die anfangs aus Papyrus, dann aus levantinischem Zedernholz gefertigt waren) zu meistern, und sie kamen nur wenig über den Bab el-Mandeb bis nach Nordsomalia (Punt) und Südwestarabien hinaus. 82 Raimund Schulz analysiert diese und weitere Etappen der Erschließung des Indischen Ozeans und seiner Zufahrtswege vom Westen aus. Er erklärt die Motive staatlicher Auftraggeber und ihre Kooperation mit erfahrenen, bereits in den südlichen Gewässern aktiven Seefahrern griechischer und phönikischer Herkunft, und er zeigt auf, welche grundlegenden machtpolitischen Entwicklungen dafür nötig waren, dass seit dem 2.Jahrhundert v.Chr. und verstärkt mit der Inkorporierung Ägyptens als augusteisches Kronland nun auch das Rote Meer als Ausgangsbasis einer stupenden maritimen Expansion westlicher Händler genutzt wurde, die punktuell sogar über die Straße von Malakka reichte. Eivind Heldaas Seland kehrt die Blickrichtung um und fragt danach, inwieweit indische Seefahrer in der Antike ihrerseits an die südarabischen Küsten und ins Rote Meer vorgestoßen sind. Er betritt damit ein heikles Feld, das kontrovers ist und nicht frei von ideologisch-politischen Vorannahmen diskutiert wird. Westliche (vornehmlich englische) Forscher gingen noch bis in die 1950er Jahre wie selbstverständlich davon aus, dass griechisch-römische Händler den Westindischen Ozean seit dem 1.Jahrhundert v.Chr. dominierten und sogar Kolonien (wie angeblich die von Arikamedu) an der indischen Ostküste errichteten. 83 Diese aus einem kolonialen Überlegenheitsgefühl entwickelte Position wurde in den achtziger und neunziger Jahren des 20.Jahrhunderts durch indische, aber auch durch angloamerikanische Forscher erschüttert, die ihrerseits die führende Rolle indischer (und arabi81 Tom Vosmer, Watercraft and Navigation in the Indian Ocean. An Evolutionary Perspective, in: Gennadii E. Avanas’ev/Serge Cleuziou/John R. Lukacs/Maurizio Tosi (Eds.), The Prehistory of Asia and Oceania. Colloquium XXXIII. Trade as a Subsistence Strategy. Past Pleistocene Adaptions in Arabia and Early Maritime Trade in the Indian Ocean. Forli Abaco 1996, 229–331. 82 Andrew Wilson, Red Sea Trade and the State, in: Federico De Romanis/Mario Maiuro (Eds.), Across the Ocean. Nine Essays on Indo-Mediterranean Trade. Leiden/Boston 2011, 22–27. 83 Zu den Vertretern dieser Ansicht zählen prominente Werke wie die von Eric H. Warmington, The Commerce between the Roman Empire and India. Cambridge 1928, sowie Mortimer Wheeler, Rome beyond the Imperial Frontiers. London 1954; vgl. zuvor seinen Aufsatz: Arikamedu. An Indo-Roman Trading-Station on the East Coast of India, in: Ancient India 2, 1946, 17–124.

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scher) Seefahrer sowie die technische Überlegenheit ihrer Schiffe betonten. Einige folgerten hieraus, dass römisch-griechische Schiffe gar nicht in der Lage waren, den Indischen Ozean zu befahren, und westliche Händler dementsprechend auf indischarabische Einheiten angewiesen waren. 84 Auch wenn dieser Streit bis heute nicht gänzlich beigelegt ist 85, so hat sich doch das Pendel der Forschungsmeinungen auf eine mittlere Position eingeschwungen. 86 Entsprechend dem oben skizzierten Modell von maritimer Expansion als eines Zusammenwirkens unterschiedlicher Akteursgruppen wird das Postulat weitreichender Dominanzbestrebungen einzelner Ethnien zumindest im Bereich des Seehandels der komplexen Welt des Indischen Ozeans nicht gerecht, und dies gilt nicht nur für die Antike, sondern auch für die Frühe Neuzeit. 87 Die schwierigen nautischen Bedingungen, die Abhängigkeit von der saisonalen Wirkung des Monsunsystems, die kleinteiligen politischen Verhältnisse sowie die in sich verflochtenen Handelsbedürfnisse tendierten eher zu einer Anlagerung und Amalgamierung unterschiedlicher Traditionen und Interessen. Diese waren zwar nie frei von Konkurrenz und

84

Extremposition bei Warwick Ball, Rome in the East. The Transformation of an Empire. London/New

York 2000, bes. 131–133. Vermittelnder, aber an der grundsätzlichen Dominanz indischer Seefahrer (und der Abhängigkeit westlicher Kaufleute von ihnen) festhaltend präsentieren sich die Arbeiten von Himanshu Prabha Ray, Winds of Change (wie Anm.75); ders., The Archaeology of Seafaring in Ancient South Asia. Cambridge 2003; ders., A Resurvey of Roman Contacts with the East, in: Marie-Françoise Boussac/JeanFrançois Salles (Eds.), Athens, Aden, Arikamedu. Essays on the Interrelations between India, Arabia, and the Eastern Mediterranean. New Delhi 1995, 97–114. 85

Neuerdings sucht Gurukkal, Rethinking Indo-Roman Trade (wie Anm.34), wieder ein deutliches Über-

gewicht des römischen Seehandels im Indischen Ozean zu erweisen, aufbauend auf der an sich nicht unplausiblen Beobachtung, dass der geballten Macht eines prosperierenden Großreiches im Westen nur sehr schwache und zersplitterte „tamil rulers“ gegenüberstanden; zusammenfassend S. 296: „In short, the expression ,Indo-Roman trade‘, popularized by Indian historiography, is appropriate, for what happened was largely Roman trade, in the organization and control of which the rulers and merchants of the Indian subcontinent had no role.“ Immerhin würde das die doch erstaunlich marginale Präsenz indischer Kaufleute an den Rotmeerhäfen erklären; andererseits gilt es zu bedenken, dass auch für das Imperium Romanum der Indik politisch und wirtschaftlich aufs Ganze gesehen nur ein marginaler Raum war. 86

Gelungene Beispiele (wenn auch nicht frei von sachlichen Fehlern) sind: Gary K. Young, Rome’s Eas-

tern Trade. International Commerce and Imperial Policy, 31 BC–AD 305. London/New York 2001, sowie Raoul McLaughlin, Roman Empire and the Indian Ocean. The Ancient World Economy and the Kingdoms of Africa, Arabia and India. Barnsley 2014. Zu einzelnen Aspekten vgl. Eivind Heldaas Seland, Trade and Christianity in the Indian Ocean during Late Antiquity, in: Journal of Late Antiquity 5, 2012, 72–86; ders., The Indian Ocean in the Ancient Period. Definite Places, Translocal Exchange. Oxford 2007. 87

Vgl. hierzu die klärenden und nüchternen Beobachtungen bei Pearson, Indian Ocean (wie Anm.5),

113 f., 118ff.

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Verheimlichung, aber insgesamt zu sehr miteinander verflochten und aufeinander angewiesen, als dass eine dauerhafte Überlegenheit einer Seite durchgesetzt werden konnte. 88 Allerdings ist es aufgrund des schwierigen Quellenmaterials nicht einfach, die Rolle indischer Seefahrer und Kaufleute in diesem System sich ergänzender und überlappender Aktivitäten zu bestimmen. Es gibt zwar eine Fülle von Quellen frühbuddhistischer Provenienz, die von Seefahrten indischer Händler erzählen, diesen (im Gegensatz zu älteren brahmanischen Texten) gegenüber positiv eingestellt sind und den Fernhändler als Leitfigur stilisieren. 89 Ebenso ist die enge Kooperation von buddhistischen Klöstern und (maritim und territorial betriebenem) Fernhandel unbestritten. 90 Dem steht jedoch die (auch im Vergleich zu den Angaben über die Yavanas an den indischen Küsten 91) geringe Zahl von archäologischen und literarischen Zeugnissen gegenüber, welche die Anwesenheit indischer Kaufleute und Kapitäne an den Häfen des Roten Meeres bezeugen. Seland führt diese Quellen vor, sucht sie in den Kontext des frühkaiserzeitlichen Seehandels einzuordnen und mit den möglichen Einflüssen indischer Kultur im Westen (Alexandria) abzugleichen. Vielleicht erklärt sich die schwache Resonanz indischer Aktivitäten im Westen auch damit, dass sich das Hauptinteresse indischer Rajas und der von ihnen unterstützten Händler, soweit es das arabische Meer angeht, auf die Reichtümer Südarabiens und der Somaliaküste konzentrierte (das würde zum Beispiel die inschriftlich bezeugte Anwesenheit indischer Kaufleute auf Sokotra erklären), generell aber stärker nach Fernosten hin ausgerichtet war. Das entspräche nicht nur der Verbreitung indisch-hinduistischer Kultur, sondern auch der Migrationsrichtung buddhistischer Mönche, die sich zu Wasser und zu Lande insbesondere nach China wandten. 92

88 Vgl. Monika Schuol, Globalisierung in der Antike? Seegestützter Fernhandel zwischen Rom und Indien, in: Orbis Terrarum 12, 2014 (ersch. 2016), 273–286. 89 Eine kompakte Zusammenstellung z.B. bei Jason Neelis, Early Buddhist Transmission and Trade Networks. Mobility and Exchange within and beyond the Northwestern Borderlands of South Asia. (Dynamics in the History of Religion, 2.) Leiden/Boston 2011, 28–33; ferner Fernández-Armesto, Pathfinders (wie Anm. 2), 34f., 59. 90 Neben dem älteren Werk von Ray, Winds of Change (wie Anm.75) vgl. jüngst Neelis, Transmission (wie Anm.89), 12–39. 91 Vgl. Cobb, Rome (wie Anm.34), 163–179. 92 Die Literatur hierzu ist stetig im Wachsen; vgl. Neelis, Transmission (wie Anm.89), 289–309, sowie konzentriert auf die Seewege als Transferkanäle: Tansen Sen, Buddhism and the Maritime Crossings, in: Do-

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Schon deshalb liegt es nahe, den Blick noch einmal zu weiten und die Rolle des Han-Reiches in der Welt des Indischen Ozeans zu überprüfen. China ist das lehrreiche Beispiel für eine politische Großformation, die zwar einerseits – wie Rom – als Abnehmer und Exporteur vieler, über die maritimen und territorialen Seidenstraßen gehandelter Waren fungierte 93, aber im Gegensatz zu den gewaltigen Energien, welche die frühen Han seit Kaiser Wudi in die Eroberung der territorialen Routen um die Taklamakan herum bis nach Nordafghanistan investierten (diese wird inzwischen gerne als Kolonisation in Analogie zur mediterranen Kolonisation der Griechen und Phöniker beschrieben) 94, im Indischen Ozean bis zum 8.Jahrhundert n.Chr. eher passiv blieb. 95 Die chinesische Expansion griff zwar auch nach Süden aus und erreichte das maritim aktive Küstengebiet von Vietnam (Funan); und es gibt Hinweise auf eine chinesische Gesandtschaft, die der Kaiserhof bereits um 2 und 5 n.Chr. nach Indien entsandte, um buddhistische Schriften und Objekte herbeizuschaffen 96, ferner eine Gesandtschaft, die im 3.Jahrhundert bis nach Funan kam und den Hafen von Oc Eo aufsuchte, wahrscheinlich das im 1.Jahrhundert auch von griechischen Seefahrern angesteuerte und von Ptolemaios erwähnte Kattigara. 97 Diese Missionen nutzten jedoch indische, arabische oder austronesische Schiffe. 98 Eine

rothy C. Wong/Gustav Heldt (Eds.), China and Beyond in the Medieval Period. Cultural Crossings and InterRegional Connections. New Delhi/New York 2014, 39–62. 93 Zu den Waren, die die chinesischen Küsten über Funan in der Zeit der Qin und früheren Han (206 v. bis 9 n.Chr.) erreichten, gehörten Glaswaren, Rhinozeroshörner, Elfenbein, Perlen, Glasperlen und Weihrauch, vieles davon gefunden in den Gräbern der Elite von Hepu in der Provinz Guangxi; vgl. Zhaoming Xiong, The Hepu Han Tombs and the Maritime Silk Road of the Han Dynasty, in: Antiquity 88, 2014, 1229– 1243. 94

Chun-shu Chang, The Rise of the Chinese Empire. Vol.1: Nation, State and Imperialism in Early China,

ca. 1600 B.C. – A.D. 8. Ann Arbor 2007, 161–179 und besonders 191–266. 95

Tansen Sen, Early China and the Indian Ocean Networks, in: de Souza/Arnaud (Eds.), Sea in History

(wie Anm.1), 536–547, hier besonders 537f. 96

Gungwu Wang, The Nanhai Trade. A Study of the Early History of Chinese Trade in the South China

Seas, in: Journal of the Malayan Branch of the Royal Asiatic Society 31, 1958, 7–10. 97

Ptol. Geogr. 1,14; 7,3,3; Schulz, Abenteurer der Ferne (wie Anm.13), 387–389. Von dort gelangte einiges

Wissen über die Seerouten durch die Straße von Malakka gen Westen; Baldissera, Mobility (wie Anm.61), 552f. 98

John Miksic, Ships, Sailors and Kingdoms of Ancient Southeast Asia, in: de Souza/Arnaud (Eds.), Sea in

History (wie Anm.1), 560–572, hier 562; Bérénice Bellina, The Inception of the Transnational Processes between the Indian Ocean and the South China Sea from an Early City-State on the Thai-Malay Peninsula (Fourth-Second Centuries BCE), in: Marie-Françoise Boussac/Jean-François Salles/Jean-Baptiste Yon (Eds.), Ports of the Indian Ocean. New Delhi 2016, 481–510.

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eigene, mit den mediterranen oder fernöstlichen Verhältnissen vergleichbare „Schiffbauindustrie“ kannte China in der Antike offenbar nicht. 99 Dementsprechend ist von chinesischen Seehändlern, die den Gesandtschaften folgten oder vorausgingen und mit eigenen Schiffen gen Süden und Westen segelten, in den Quellen nirgends die Rede. 100 Man ist auf die Auswertung archäologischer Funde an den wenigen Hafenstädten des südchinesischen Meeres angewiesen, um das Verhalten des Han-Reiches und seiner Kaufleute im Konzert der Indienfahrer zu verorten. Dies tut Angela Schottenhammer in einem Beitrag, der neuere Funde fernöstlicher Handelswaren, Schiffswracks und maritimer Infrastrukturen vorstellt (und damit auch das Kapitel von Roland Bockius ergänzt) sowie die politischen Konjunkturen des chinesischen Engagements zur See von der Antike bis in die Frühe Neuzeit auf der Grundlage detaillierter Quellenanalysen beschreibt. Diese steigerten sich seit dem 8.Jahrhundert (während der Tang-Dynastie) kontinuierlich und zielstrebig 101, so dass das allgemeine Postulat chinesischer Passivität auf dem Meer doch zunehmend fragwürdig wird; es mündete aber erst im 15.Jahrhundert – vergleichbar der europäischen Expansion in den Atlantik – in die berühmte Flottenexpedition des Zheng He bis nach Indien, Arabien und Ostafrika. 102 Welch pulsierende Anziehungskraft der Indische Ozean und sein Produktreichtum selbst auf die fernen Anrainer ausübten, zeigt die Tatsache, dass es bereits in der Antike Versuche gab, Indien von Spanien um Afrika herum zu erreichen und eine Westfahrt über den Atlantik zumindest konzeptionell durchgespielt wurde (dazu auch der Beitrag von Raimund Schulz). Schon in dieser Zeit war die maritime Expansion in den Atlantik von der Erschließung des Indischen Ozeans durch mediterrane Akteure nicht gänzlich zu trennen. Duane Roller verfolgt die Etappen der atlanti-

99 Sen, Early China (wie Anm.95), 538f. 100 Manche Forscher glauben neuerdings von den Hinweisen einer chinesischen Chronik auf die Kenntnis und Anwesenheit von Chinesen in Madagaskar schließen zu können, doch ist dies eine spekulative und schwer verifizierbare Minderheitsmeinung: Felix Chami, Ancient Seafaring in Eastern African Indian Ocean Waters, in: de Souza/Arnaud (Eds.), Sea in History (wie Anm.1), 523–535, hier 528. Dass die Han-Chinesen von der Umfahrbarkeit des afrikanischen Kontinents wussten (so ebd.), scheint mir denn doch im wahrsten Sinne des Wortes abwegig und hochspekulativ. Aus dem von Chami herangezogenen chinesischen Dokument: Yu H., The Peoples of the West: from the Weilue. A Third Century Chinese Account Composed between 239 and 265 CE, in: Section 15, 2004, ist dies nicht herauszulesen. 101 Sen, Early China (wie Anm.95), 546f. 102 Louise Levathes, When China Ruled the Sea. The Treasure Fleet of the Dragon Throne, 1405–1433. New York 1994.

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schen Expeditions- und Explorationsunternehmungen von den archaischen Seefahrten der Phöniker und Griechen über die Westafrika- und Nordseefahrten der Karthager (Hanno und Himilko) und der Massilier (Euthymenes und Pytheas) bis zu den Fahrten des Polybios im 2.Jahrhundert v. Chr. jenseits der Straße von Gibraltar und den vereinzelten Vorstößen römischer Flotten in die Nord- und Ostsee. Die Palette der Naturprodukte, die man an fernen Küsten zu erlangen suchte, war viel geringer als im Osten. Die Vorstöße archaischer Seefahrer wurden vor allem durch die Suche nach den Mineralreichtümern (Silber) des Dorado von Tartessos (am Guadalquivir), nach den atlantischen Zinninseln sowie den Bernsteinschätzen Jütlands und der Ostsee vorangetrieben; hinzu kam in Westafrika wahrscheinlich die Hoffnung, auf Gold zu stoßen. 103 Doch stärker als im Indischen Ozean wurde diese Suche mit der Erschließung und Sicherung fluvialer und maritimer Makroverbindungen verknüpft: Die Exploration eines Seewegs um Afrika nach Indien und des Seewegs zu den Zinninseln schloss die Hoffnung auf die Entdeckung fluvialer Routen von der Nordsee bis ins Schwarze Meer und vom Senegal zum Nil (später vom Gambia nach Aithiopien) ein. Davon abgesehen – und das ist neben den Differenzen eine wichtige Gemeinsamkeit – zeigt auch die Erschließung des Atlantiks, wie wichtig zum einen die Kooperation zwischen staatlichen Ressourcen (in diesem Fall der großen Stadtstaaten) und der nautischen Expertise einzelner Seefahrer(-familien) war, wie aber auch zum anderen die Konkurrenz zum Beispiel zwischen Rhodos und Samos oder (weiter im Westen) zwischen Karthago und Massilia um die Erschließung und Kontrolle von Seerouten zu den Reichtümern atlantischer Küsten und Inseln die maritime Exploration befeuerte. Auch hierbei erweist sich das Mittelmeer als ein über Jahrhunderte genutztes „Trainingsgelände“, das den Schritt in die viel schwierigeren ozeanischen Gewässer vorbereitete, bevor im 3.Jahrhundert n.Chr. und im Frühmittelalter nordische beziehungsweise skandinavische Seefahrer ihrerseits ins Mittelmeer und damit in einen ihnen vorher nur vage vertrauten Raum vorstießen. Der in der Spätantike eingeleitete und im Frühmittelalter vollzogene Wechsel der Akteure und die Verlagerung der maritim aktiven machtpolitischen Figurationen sind inzwischen so gut erforscht, dass eine erneute Behandlung im Rahmen der Konferenz wenig sinnvoll erschien. Wichtiger ist die Frage, wie sich unter der neuen 103 Vgl. Schulz, Aufbruch (wie Anm.8), 47–49 (Tartessos), 152–162 (Westafrika), 219–229 (Nord- und Ostsee).

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Konstellation maritimer Expansion im Westen und Osten (mit dem Aufstieg der muslimischen Araber und dann mit der Ankunft der Portugiesen) die Wahrnehmung maritimer Aktionsfelder wandelte. Sebastian Kolditz zeigt dies eindrucksvoll am Beispiel früh- und hochmittelalterlicher Quellen. Er verfolgt die Entwicklung des Wissens vom nordatlantischen Raum und seinen Inseln im Wechselspiel der Rezeption antiker Wissensbestände und rezenter Entdeckungsreisen. Dabei wurde neben dem erstaunlichen Aktionsspielraum westeuropäischer Seefahrer die Fluidität der Bilder vom (westlichen) Ozean im Kontrast zu den mediterranen Sphären deutlich. Es ergibt sich gewissermaßen eine Explorationsgeschichte auf zwei Ebenen: die der mentalen und die der realen Bewältigung, die sich gegenseitig bedingten und in den Quellen als Resultat von Zwischenstationen der Verarbeitung und des Neuaufbruchs materialisierten. Den Bogen vom Spätmittelalter in die Neuzeit spannt der Beitrag von Jürgen Elvert. Sein Untersuchungszeitraum gehört zu den am besten erforschten Epochen maritimer Expansion überhaupt. Der Wert des bis ins 18.Jahrhundert reichenden Überblicks besteht vor allem darin, dass er einerseits viele der zuvor gesponnenen Einzelfäden wie etwa die Bedeutung des Schiffbaus, der Urbanisierung sowie des Phänomens der schrittweisen Erschließung von maritimen Teilräumen und Inseln (Madeira, Kanaren, Kapverden) weiterentwickelt sowie andererseits über die Herausarbeitung epochenübergreifender Konvergenzen (in Bezug auf die Räume und handelspolitischen Verflechtungen) die epochalen Folgen und Rückwirkungen der Überquerung des Atlantiks und der Etablierung eines atlantischen Handelsnetzwerkes aufzeigt. Die Verbindung der atlantischen und indischen Seehandelsrouten über den Pazifik und um Afrika durch die Weltumsegelungen der Portugiesen und durch andere europäische Seefahrer war tatsächlich etwas ganz Neues. Erstmals wurde der gesamte Globus als maritimes Aktionsfeld real erfahren. Alte Erfahrungen und Vorannahmen mussten mit den maritimen und territorialen Dimensionen einer Welt abgeglichen werden, die in sich keine Grenzen mehr kannte, sondern nur noch verdichtet werden konnte.

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V. Die räumliche Verortung des Neuen: Exploration und Geographie Der komplexe Prozess der Aneignung und Verarbeitung des Neuen und der mit ihm einhergehenden Überprüfung des Alten lässt sich parallel zur Exploration am besten in zwei Bereichen analysieren, nämlich dem der Beschreibung fremder Völker (Ethnographie) und dem der geographischen Verortung maritimer Entdeckungen. Die Forschung beschäftigt sich jüngst wieder verstärkt mit der Genese und Entwicklung der antiken Geographie und Ethnographie. 104 Allerdings beziehen sich die Arbeiten meist auf einzelne Autoren und Probleme, und sie umfassen relativ eng umgrenzte Zeiten und Räume, ohne konsequent der Frage nach dem Zusammenhang zwischen maritimer Exploration und der Neuformulierung geographischethnographischer Wissensordnungen zumal im epochenübergreifenden Kontext nachzugehen. Abgesehen von Arbeiten zu den geographisch-kosmologischen Weltvorstellungen 105, die Kolumbus und seine Nachfolger beeinflussten 106, bildet das bekannte Buch von Haase und Reinhold aus dem Jahre 1994 107 nach wie vor das ein104 Z.B. Kurt A. Raaflaub/Richard John Alexander Talbert (Eds.), Geography and Ethnography. Perceptions of the World in Pre-Modern Societies. Malden/Oxford 2010; Joseph E. Skinner, The Invention of Greek Ethnography. From Homer to Herodotus. Oxford 2012; Eran Almagor/Joseph Skinner (Eds.), Ancient Ethnography. New Approaches. Bloomsbury 2013; Klaus Geus/Michael Rathmann (Hrsg.), Vermessung der Oikumene. (Topoi, 14.) Berlin/Boston 2013. 105 Im deutschen Sprachraum besonders wichtig: Reinhard Krüger, Das Überleben des Erdkugelmodells in der Spätantike (ca. 60 v. u. Z. – ca. 550). (Eine Welt ohne Amerika, 2.) Berlin 2000; ders. Das lateinische Mittelalter und die Tradition des antiken Erdkugelmodells (ca. 550 – ca. 1080). (Eine Welt ohne Amerika, 3.) Berlin 2000; ders., „Atiro ao Oriente“: Die portugiesischen Seeunternehmungen des Spätmittelalters und die europäische Tradition des Erdraumbewusstseins, in: Lusorama 41, 2000, 9–44; ders., Moles globosa, globus terrae und arenosus globus in Spätantike und Mittelalter. Eine Kritik des Mythos von der Erdscheibe. Berlin 2012. 106 Bruno Rech, Bartolomé de las Casas und die Antike, in: Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Humanismus und Neue Welt. Weinheim 1987, 167–198; Diskin Clay, Columbus’ Senecan Prophecy, in: American Journal of Philology 113, 1992, 617–620; Pietro Janni, Fernando Colombo e l’Indiké di Arriano, in: Geographia Antiqua 1, 1992, 161–166; W. G. L. Randles, Classical Models of World Geography and Their Transformation Following the Discovery of America. Berlin 1994; Gabriela Moretti, Gli Antipode. Aventure letterarie di un mito scientifico. Parma 1994; Anthony Grafton, New Worlds, Ancient Texts. The Power of Tradition and the Shock of Discovery. Cambridge 1995; Jean-Pierre Sanchez, Myths and Legends in the Old World and European Expansionism on the American Continent, in: Wolfgang Haase/Meyer Reinhold (Eds.), The Classical Tradition and the Americas. European Images of the Americas and the Classical Tradition. 2 Vols. Berlin 1994, hier Vol. 1, 24–48. 107 Haase/Reinhold (Eds.), The Classical Tradition and the Americas (wie Anm. 106).

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zige umfassend angelegte (aber nicht vollendete) Werk, das die komplizierte Geschichte der Entwicklung, Aufnahme und Veränderung antiker geographischkosmologischer Modelle im Zuge der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Expansion in den Atlantik aufzuschlüsseln sucht; jüngere Arbeiten und kürzere Synthesen setzen andere Akzente im Detail. 108 Die Einzelbeiträge tendieren jedoch dazu, ihren Gegenstand relativ unabhängig von den realen Bedingungen und Verläufen der Entdeckungsunternehmungen (in Antike und Früher Neuzeit) und den Praktiken der Wissens- und Traditionsverarbeitung zu erklären. Die Beiträge des vorliegenden Bandes wollen dies ändern und versuchen die Praxis maritimer Erkundung wieder stärker an die Produktion geographischer (und ethnographischer) Texte anzubinden. Die Zusammenhänge sind an sich evident. Jeder Kapitän, der zu fernen Ufern aufbrach, benötigte eine in sich stimmige Gesamtkonzeption von der relativen Lage des anvisierten Zieles im Verhältnis zu den bekannten Räumen und dem Weg dorthin, auch wenn die konkreten Umstände und die genaue Länge des Weges (noch) unbekannt gewesen sein mögen. Jede Expedition führte so zu einer Neujustierung bestehender Raumordnungen, die jedoch in der Regel zunächst mündlich festgehalten wurde und – wenn überhaupt – über verwickelte Pfade Eingang in unterschiedliche literarische Genera und räumliche Darstellungen fand. Viele vormoderne „Weltkarten“ – der Begriff ist eigentlich irreführend, weil er Prinzipien und Funktionen moderner Kartographie suggeriert – waren zwar bestrebt, empirisches Erfahrungswissen aufzunehmen, und sie zeigten sich anpassungsfähig gegenüber maritimen Horizonterweiterungen. Neue Daten wurden jedoch politischen, religiösen und/ oder philosophischen Ordnungsintentionen eingepasst, die sich von dem exploratorisch-pragmatischen Kontext, in dem sie gewonnen und (meist mündlich) festgehalten wurden, weit entfernten und entfernen konnten. So dienten die aus der schriftlichen Überlieferung zu rekonstruierenden „Weltkarten“ der ionischen Naturphilosophen, die im Zuge griechisch-phönikischer Kolonisations- und Entdeckungsfahrten entstanden, in erster Linie dazu, die Welt als eine harmonische Ord-

108 So z.B. die Zusammenschau mit Berücksichtigung christlicher Elemente bei Francesco Surdich, Riferimenti alla tradizione classica e biblia nella percezione e rappresentazione del nuovo mundo, in: Maria Gabriella Angeli Bertinelli/Angala Donati (Eds.), Le vie della storia. Migrazioni di popoli, viaggi di individui, circolazione di idee nel Mediterraneo antico. Atti del II Incontro Internazionale di Storia Antica (Genova 6–8 ottobre 2004). Rom 2006, 3–26.

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nung abzubilden; deshalb war die Oikumene kreisrund. Zu diesem Zweck musste man von den realen Küstenverläufen scharf abstrahieren und die Erdteile (Asien, Europa, Libyen) in ein annähernd ausgewogenes Verhältnis zueinander bringen. Immerhin – und das zeigt die ursprüngliche Bedeutung maritimer Basisperspektiven – war die Oikumene (anders als in den orientalischen Vorläuferkarten) stets um eine „fixed mental orientation line along the waterways“ herum konstruiert, die von Gibraltar über das Mittelmeer bis in das Schwarze Meer reichte. 109 Noch stärker abstrahieren mussten die im 2. und 1.Jahrhundert v.Chr. aufkommenden (hölzernen) Globen. Sie verorteten neben den bekannten Kontinenten in der Regel drei weitere Oikumenen auf der Erdkugel nach dem Kriterium eines geometrisch harmonischen Verhältnisses zueinander und einer ausgewogenen Verteilung von Land und Wasserfläche, so dass die gesamte Erdoberfläche in vier Segmente aufgeteilt wurde. 110 Die Kenntnis des Erdkugelmodells verhinderte nicht, dass christliche Gelehrte aus dem syrischen Raum in der Spätantike wiederum an das pagane Scheibenmodell anknüpften und dieses zu einem an geometrischen Mustern und biblischen Symbolen (Bundeszelt) orientierten Weltbild komponierten. Kosmas Indikopleustes (um 550 n.Chr.), der letzte und bekannteste Vertreter dieser (syrisch-antiochenischen) Tradition 111, stellte sich die Erde als rechteckige Plattform vor, umströmt vom Ozean und wiederum von einem riesigen Land ringförmig (wie bei Platon) umgrenzt. Kosmas war kein reiner Schreibtischgelehrter, sondern hatte immerhin als ehemaliger Kaufmann das Rote Meer und Teile des Indischen Ozeans (vielleicht sogar bis Sri Lanka) bereist sowie Kaufleute und Missionare befragt 112, was erneut demonstriert, wie die

109 Reinhold Bichler, Persian Geography and the Ionians: Herodotus, in: Serena Bianchetti/Michele Cataudella/Hans-Joachim Gehrke (Eds.), Brill’s Companion to Ancient Geography: The Inhabited World in Greek and Roman Tradition. Leiden 2006, 1–20, hier 5. 110 Ingrid Baumgärtner, Die Welt in Karten. Umbrüche und Kontinuitäten im Mittelalter, in: Das Mittelalter 22, 2017, 55–74, hier 65f.; Schulz, Abenteurer der Ferne (wie Anm.13), 445. Noch einen Schritt weiter gingen die aus dem Konzept antiker Klimazonen in Zusammenhang mit dem Kugelmodell entwickelten mittelalterlichen Zonenkarten; sie dienten der Memorierung und Veranschaulichung eines einzigen Ordnungsmodells (nämlich dem der Zoneneinteilung). 111 Frank Schleicher, Cosmographia Christiana. Kosmologie und Geographie im frühen Christentum. Paderborn 2014, 241f.; Horst Schneider (Hrsg.), Kosmas Indikopleustes. Christliche Topographie. Textkritische Analysen. Übersetzung. Kommentar. (Indicopleustoi. Archaeologies of the Indian Ocean, 7.) Turnhout 2010. 112 Wanda Wolska-Conus, Cosmas Indikopleustes, in: John Block Friedman/Kristen Mossler Figg (Eds.), Trade, Travel, and Exploration in the Middle Ages. An Encyclopedia. New York/London 2000, 129–131.

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Erarbeitung stark geometrischer und an Symbolen ausgerichteter Erd- und Weltbilder von der Realempirie abstrahieren und offenbar problemlos neben ihr existieren konnte. 113 Auch wenn die Akzeptanz der „christlichen Topographie“ des Kosmas gering war und mit der von ihr repräsentierten Tradition im lateinischen Westen bald völlig vergessen wurde, so zeigt es die Herausforderungen, die das Christentum der geographischen Welterfassung bereits im Frühmittelalter stellte. War es das Bemühen um eine harmonisch-geometrische Raumordnung, das viele antike Darstellungen bestimmte, so gehorchten die sogenannten TO-Karten des lateinischen Mittelalters mehrdimensionalen religiösen Vorgaben: Sie sollten die Sinnhaftigkeit der Schöpfung Gottes in dieser Welt darstellen. Der Erdkreis wird wie bei den antiken Vorläufern vom Okeanos umflossen, doch die Ausrichtung der Kontinente sowie die Auswahl und Zuordnung der topographischen Einzelheiten richteten sich nach ihrer heilsgeschichtlichen Bedeutung (was auch die Integration nicht exakt lokalisierbarer Orte wie des Paradieses mit einschloss). Gänzlich anderen Vorgaben gehorchten dagegen die Bemühungen der sogenannten mathematischen Geographie, die sich in Alexandria im 3.Jahrhundert v.Chr. entwickelte. Sie musste sich um philosophische, politische oder religiöse Ordnungsvorstellungen wenig kümmern, sondern war an einer exakten Verortung von Plätzen, Küsten und Räumen auf einer der gewölbten Erde angepassten („planigloben“) Fläche mittels relativer Entfernungsberechnungen interessiert. Dass diese Bemühungen in einem engeren Verhältnis zur Realempirie explorativer Seefahrer standen, liegt auf der Hand; sämtliche geographischen Werke der Griechen sind vom Meer aus entwickelt 114 und basieren auf Entfernungsangaben, welche die Seefahrt lieferte (erst nach Alexander kamen territoriale Angaben hinzu). Deshalb und wegen der großen Autorität ihrer bedeutendsten Vertreter (Ptolemaios) konnten sie 113 Hiermit ließen sich instruktiv die Kenntnisse arabischer Seefahrer vom fernen Westen und deren Tradierung vergleichen. Obwohl diese im Frühmittelalter bis in den Atlantik vorstießen, gingen deren Kenntnisse über die Jahrhunderte offenbar nicht in den Wissensschatz osmanischer Gelehrter ein, auch wenn diese manche nautischen Kenntnisse der Europäer adaptierten. Vgl. dazu Bernard Lewis, The Muslim Discovery of Europe. London 1982, 3. Aufl. 2003, 152–154, insbesondere über die osmanische Adaption der nautischen Kenntnisse der Europäer; ebd. 153: „It is doubtful whether Turkish mariners or geographers knew much beyond the Mediterranean.“ Das beschränkte geographische Weltbild der Osmanen macht er mit einigen drastischen Beispielen deutlich: Noch im Jahr 1800 weigerte sich der Großwesir zu glauben, „that British reinforcements could be brought from India by the Red Sea“, ebd. 154. 114 Strab. 2,5,17.

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später im Vorfeld der frühneuzeitlichen Expansion auch eine so große Wirkung entfalten. Wie und auf welchen Wegen empirische Informationen aufgenommen und verarbeitet wurden, ist jedoch bis heute weithin unklar. Irina Tupikova und Klaus Geus suchen das (aufgrund der defizitären Quellenlage) schwer zu bestimmende Verhältnis zwischen maritimer Exploration und Kartographie am Beispiel der Geographia des Ptolemäus zu erklären. Im Zentrum ihrer komplexen Analyse steht die Frage, wie ein antiker Kartograph die empirischen (in der Regel von Händlern, Diplomaten oder Soldaten beschafften und in Listenform vorliegenden) Raumdaten in eine bildliche („kartographische“) Form umsetzte. Dabei gab es offenbar keine festen Regeln oder Traditionen, sondern die Kartenzeichner fanden je nach Auftraggeber, Medium, Größe der geplanten Karten, Aufstellungsort und Zweck höchst unterschiedliche Lösungen. Auch hier dominierte die Pragmatik. Ingrid Baumgärtner verlängert die geographische Perspektive in das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit. Die Auseinandersetzung mit antiken Vorbildern ermöglichte und forcierte neue Raumerfahrungen und navigatorische Leistungen, deren Ergebnisse ihrerseits danach verlangten, kartiert zu werden. Auch wenn man sich hierbei an ptolemäischen Traditionen zu orientieren und die neuen Kartenwerke an die des antiken Meisters anzupassen suchte, zeigte sich schnell, dass die antiken Informationen zu große Abweichungen aufwiesen und nicht ausreichten, um das Neue adäquat zu erfassen. Die hieraus entstandenen Irritationen waren ein wichtiger Stimulus, um die Ergebnisse eigener Empirie von den Vorgaben antiker Autoritäten zu emanzipieren und jener ein größeres Gewicht beizumessen, auch wenn die antike und mittelalterliche Geographie und Kosmographie ihre Rolle als diskursiver Referenzrahmen nie gänzlich verloren haben. Was passierte nun aber, wenn das sich in kartographischen Darstellungen niederschlagende exploratorische Wissen in gänzlich andere ethnisch-zivilisatorische Zusammenhänge eingeordnet werden sollte? Wie verhalten sich überhaupt geographische Darstellungstraditionen, wenn sie von Akteuren anderer Kulturen aufgegriffen und mit deren Traditionen konfrontiert werden? So erwähnt zum Beispiel Marco Polo, er habe während seiner Unternehmungen im Indischen Ozean auf Karten zurückgegriffen, von denen manche Forscher annehmen, dass sie mongolischen beziehungsweise chinesischen Ursprunges waren. 115 Tatsächlich bilden der Indische Ozean und seine

115 John Kenneth Hyde, Ethnographers in Search of an Audience, in: Joan-Pau Rubiés (Ed.), Medieval

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Randgebiete auch in dieser, von der Forschung selten thematisierten Frage ein faszinierendes Untersuchungsfeld, weil hier so viele unterschiedliche Traditionen (indischer, iranischer, vorderasiatischer und chinesischer) graphischer Raumdarstellungen aufeinandertrafen. 116 Als Fallbeispiel bietet sich erneut China an, dessen Rolle im Rahmen des indischen Seehandels bereits oben angesprochen wurde. Yingyan Gong nimmt sich eines prominenten Objektes, nämlich der von Matteo Ricci Ende des 16.Jahrhunderts n.Chr. in Nanchang erstellten Weltkarten Yu-di-shan-hai-quan-tu (YDSHQT) und Yu-di-tu (YDT) an. Ursprünglich auf Bitte eines chinesischen Gouverneurs entstanden, waren sie für die Bedürfnisse der chinesischen Elite konzipiert und sollten als „,Türöffner‘ für die Glaubensvermittlung“ 117 dienen. Deshalb waren sie getreu chinesischer Tradition mit einer Fülle von Toponymen und Erläuterungen (ethnographischer und geographischer Art) in chinesischer Schrift versehen; sie vermittelten so im vertrauten Gewande dem Reich der Mitte ein provozierend neues Weltbild, das von runden (anstatt quadratischen) Formen ausging, große Wasserflächen und erstmals das neuentdeckte Amerika zeigte – ein einmaliges Dokument des Kulturtransfers im Kontext maritimer Entdeckungen. Der Beitrag erläutert, wie Ricci den Spagat zwischen der Vermittlung eines unerhört Neuen und der Berücksichtigung des Alten zu meistern suchte und auf welche Quellen (zum Beispiel Ortelius’ Theatrum Orbis) mittelalterlicher und antiker Provenienz er zurückgriff. Gleichzeitig sucht er die kulturellen „Übersetzungsleistungen“ und Verwerfungen aufzuspüren, die sich dadurch einstellen mussten, dass der Kartograph chinesische Bezeichnungen für westliche Orte und mythische Anspielungen (aus der Antike) verwendete. Bei all diesen Fallbeispielen zeigt sich, in welchem Maße Kartographen empirische Daten in eine spezifische Traditionsmatrix integrierten und gleichzeitig in ein neues Gesamtbild der Welt überführten, das den „kulturellen“ Erwartungen ihrer (gebildeten) Zeitgenossen entsprach. Eine ganz andere Frage ist, ob und inwieweit „Karten“ und Visualisierungen von Meeresräumen als Orientierungshilfe zur Durchführung explorativer Unternehmungen einen praktischen Nutzen hatten, ob

Ethnographies. European Perceptions of the World Beyond. (The Expansion of Latin Europe, 1000–1500, Vol.9.) Farnham 2009, 65–119, hier 90, Milione 176, 209. 116 Fernández-Armesto, Pathfinders (wie Anm.2), 37, 61. 117 Vadim Oswalt, Weltkarten – Weltbilder. Zehn Schlüsseldokumente der Globalgeschichte. Stuttgart 2015, 155, mit weiterer Literatur und Erläuterungen.

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also Karten nicht nur als „instrument of knowledge“, sondern auch als „guide for practical use“ 118 dienten. Diese Frage wurde während der Konferenz heftig und kontrovers diskutiert. Gerne verweist man auf die in den italienischen Hafenstädten entstandenen Portulane, die ihrerseits – so vielfach vermutet – angeblich auf die antiken Periploi zurückgehen. Nun ist aber zum einen der praktische Wert der Portulane und anderer „maritimer“ Karten als Hilfsmittel an Bord hochumstritten; wichtiger scheint ihre repräsentative Funktion gewesen zu sein. 119 Zum anderen sind die antiken Periploi literarische Erzeugnisse, die zwar häufig (wenn nicht gar durchweg) auf Rechenschaftsberichte von Expeditionsleitern an ihre staatlichen Auftraggeber zurückgingen 120, aber kein Kartenmaterial enthielten und auch ohne solches gelesen werden konnten. Dass es in der Antike so etwas wie Seekarten („sea-charts“) gab, die Seefahrern mehr oder weniger regelmäßig Orientierung boten, wird denn auch von der Mehrheit der Forschung mit guten Gründen bestritten. 121 Nun kann es allerdings sein, dass den ursprünglichen Rechenschaftsberichten antiker Expeditionsleiter je nach Wissenskultur der Auftraggeber (die Perser hatten eine gänzlich andere Tradition der Raumvisualisierung als Griechen und Karthager) nach dem Ziel der Erkundung und besonders dann, wenn diese der Vorbereitung größerer militärischer Operationen diente, knappe Aufzeichnungen von Küstenverläufen mit Entfernungsangaben beigegeben wurden, die bei der literarischen Verarbeitung entfielen oder von staatlichen Behörden geheimgehalten und einem breiteren Publikum entzogen wurden. Ähnliche Gesichtspunkte bestimmen die Diskussion um die Rolle der portugiesischen Kartographie des 15.Jahrhunderts. Während einige Forscher aus dem Fehlen von Kartenwerken selbst in der Zeit der Erkundung

118 Pietro Janni, The Sea of the Greeks and Romans, in: Bianchetti/Cataudella/Gehrke (Eds.), Companion (wie Anm.109), 21–42, hier 25. 119 Sebastian Kolditz, Horizonte maritimer Konnektivität, in: Borgolte/Jaspert (Hrsg.), Maritimes Mittelalter (wie Anm.42), 59–106, hier 90f.; Ingrid Baumgärtner/Stefan Schröder, Weltbild, Kartographie und geographische Kenntnisse, in: Johannes Fried/Ernst-Dieter Hehl (Hrsg.), WBG Weltgeschichte. Bd. 3: Weltdeutungen und Weltreligionen 600–1500. Darmstadt 2010, 57–83, hier 80; Baumgärtner, Die Welt in Karten (wie Anm.110), 70; Piero Falchetta, The Use of Portulan Charts in European Navigation during the Middle Ages, in: Ingrid Baumgärtner/Hartmut Kugler (Hrsg.), Europa im Weltbild des Mittelalters. Kartographische Konzepte. (Orbis medievalis, 10.) Berlin 2008, 269–276. 120 Doris Meyer, Hellenistische Geographie zwischen Wissenschaft und Literatur. Timosthenes von Rhodos und der griechische Periplus, in: Wolfgang Kullmann/Jochen Althoff/Markus Asper (Hrsg.), Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike. (ScripOralia, 95.) Tübingen 1998, 193–215. 121 Janni, Sea (wie Anm.118), 25, mit Literatur in den Anmerkungen.

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des Seeweges um Afrika herum schlossen, dass es solche gar nicht gab, verweisen andere auf die Geheimhaltungspflicht der Kapitäne und Mannschaften sowie die Tatsache, dass das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 große Teile der Bestände vernichtet habe. 122 Dieses Argument lässt sich auch auf antike Verhältnisse übertragen. Den Zerstörungen der Bibliotheken von Alexandria und Karthago könnten auch kartographische Aufzeichnungen karthagisch/phönikischer beziehungsweise ptolemäischer Fernexpeditionen zum Opfer gefallen sein, von denen wir heute nichts mehr wissen.

VI. Fremde Völker an fernen Küsten – Die Konjunkturen ethnographischer Welterfassung Bei der Analyse ethnographischer Narrative geht es dagegen weniger um die Frage von Zerstörung, Geheimhaltung und Konkurrenz als vielmehr darum, wie überhaupt Texte mit ethnographischen Inhalten im Zuge maritimer Erkundungen entstanden und welche Botschaften sie transportierten. Generell ist mit einer komplexen Stufenfolge der Aufnahme und Verarbeitung empirischer Daten zu rechnen, die von mehreren Dimensionen des Erkenntnisgewinns beeinflusst werden: erstens der kulturellen Tradition und Erziehung, die den Autoren entsprechende rhetorische und sprachliche „Übersetzungsstrategien“ des Fremden an die Hand gaben; zweitens den politischen, gesellschaftlichen, religiösen und wirtschaftlichen Interessenkontexten, in die sie eingebunden waren; und drittens der eigenen individuellen Erfahrung von Fremdheit, die sie bei der Begegnung mit dem ethnographischen Phänomen und seiner Beschreibung machten. 123 Das Problem besteht nun allerdings ähnlich wie im Fall der Geographie häufig

122 Vgl. Marília dos Santos Lopes, Importing Knowledge. Portugal and the Scientific Culture in 15th and 16th Century’s Germany, in: Thomas Horst/Marília dos Santos Lopes/Henrique Leitão (Eds.), Renaissance Craftsmen and Humanistic Scholars. Circulation of Knowledge between Portugal and Germany. Frankfurt am Main 2017, 73–90; Jürgen Pohle, Kaiser Maximilian I. und die Rezeption der portugiesischen Entdeckungen im Nürnberger Kaufmanns- und Gelehrtenkreis am Ende des 15.Jahrhunderts, in: ebd.57–72; Wolfgang Köberer, „The Right Foundation of Seafaring“. German-Portuguese Connections in the 16th Century with Regard to Nautical Science, in: ebd.223–240. 123 Vgl. Jacques Le Goff, The Medieval West and the Indian Ocean. An Oneiric Horizon, in: Rubiés (Ed.), Medieval Ethnographies (wie Anm.115), 155–173, hier 157.

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darin, dass gerade diejenigen Akteure, die eigentlich die besten Informationen liefern konnten und den intensivsten Kontakt mit fremden Ethnien pflegten, nämlich die Fernhändler (Indienfahrer mussten zum Beispiel aufgrund des Monsunsystems bis zu drei Monate in den Hafenstädten der Westküste zubringen), in der Regel kein sonderlich großes Interesse an und auch keinen Grund zu einer schriftlichen Fixierung ihres Wissens hatten und dass sie von denjenigen, die später Fernerkundungen literarisch verarbeiteten, wegen ihrer Herkunft und Profession häufig als unglaubwürdig desavouiert wurden. 124 Hinzu kommt: Anders als im Bereich der Geographie (und Kosmographie) gab es für den gesamten von uns behandelten Zeitraum keine eigene Wissenschafts- oder Lehrdisziplin, die sich der Ethnographie widmete. Ethnographische Daten speisten sich – wenn sie überhaupt aufgenommen wurden – in unterschiedliche literarische Genres ein. Diese reichten von der Epik über die Geschichtsschreibung, die Länderbeschreibung (Indiká, Aithiopiké, Keltiké) und die Geographie bis hin zu romanhaften und fiktionalen Reiseschilderungen, welche die Informationen ihren jeweiligen Gattungsgesetzen und Publikumsinteressen anpassten. Gerade im Bereich der Ethnographie erwies sich dabei die Kraft der Tradition als besonders mächtig. Hatte man bestimmte Texte und Motive als „klassisch“ akzeptiert, so tradierte man fortan gewissermaßen eingefrorene Bilder fremder Völker und Länder, die so erfolgreich waren, dass sie gegenüber neuen Informationen resistent blieben und – neben anderen Faktoren – eine empirische Weiterentwicklung regelrecht blockieren konnten. Dies gilt insbesondere für Indien. So hielt die römische Kaiserzeit fast durchweg an dem Indienbild fest, das die als Klassiker empfundenen Historiker in der Nachfolge Alexanders entwickelt hatten (besonders Megasthenes), obwohl man längst auf eine Fülle verlässlicher Neuinformationen hätte zurückgreifen können. 125 Gleiches wiederholte sich im mittelalterlichen Europa. Die Dominanz von Geschichtsschreibung, Kosmographie und Geographie beließ ethnographischen Interessen und Fragestellungen ohnehin nur geringe Entfaltungsspielräume. 126 Man frönte einem zählebigen, durch antike Autoren und den Alexanderroman geprägten sowie durch den Milione Marco Polos und den Reiseroman Mandevilles in seiner Mirabilität er-

124 Hyde, Ethnographers (wie Anm.115), 89. 125 Vgl. dazu Grant Parker, The Making of Roman India. Cambridge/New York 2008. 126 Hyde, Ethnographers (wie Anm.115), 68–73. Die geographische und ethnographische Horizonterweiterung der Kreuzzüge war deshalb auch bescheiden (ebd.71).

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weiterten (und bestätigten!) Indienbild, obwohl Händler und Missionare verlässliche empirische Informationen besaßen, die dieses Bild korrigieren oder zumindest relativierend hätten ergänzen können. Es bedurfte jeweils eines starken Impulses sowie spezifischer politischer Konstellationen, dass der nie gänzlich versiegende Fluss empirischer Daten die stabile Wand festgefügter Traditionen durchbrechen und in literarische Formen überführt werden konnte, die der Empirie – in Auseinandersetzung mit dem Vertrauten – einen breiteren Entfaltungsraum eröffneten. 127 Eine These dieses Bandes ist, dass auch hierbei maritime Explorations- und Expansionsbewegungen als Folge machtpolitischer Veränderungen eine wesentliche Rolle spielten. Wie in der Antike, so hatte auch im Mittelalter zunächst die militärische Konfrontation mit einer bis dahin unbekannten expansiven Ethnie den Anstoß zur Entfachung eines neuen Interesses an ethnographischen Fragen sowie zu einer qualitativen Steigerung ethnographischer Texte gegeben: Die Invasion der Perser in den Ägäisraum drängte die Griechen dazu, sich mit dem fremden Volk und seinen Eigenschaften, Fähigkeiten und Sitten intensiv zu beschäftigen, genauso wie sich die Europäer 1500 Jahre später nach der Expansion der Mongolen mit einem ihnen bis dahin völlig unbekannten Angreifer aus den Weiten Asiens auseinandersetzen mussten, um mit der Bedrohung fertig zu werden beziehungsweise den Gegner als Bündnispartner zu gewinnen. Nach einer Stabilisierung der Verhältnisse bot der gewaltige Herrschaftsraum des ehemaligen Gegners in beiden Fällen die Chance, den ethnographischen Wissens- und Erfahrungshorizont in ferne (östliche) Dimensionen auszuweiten, von denen man vorher nichts Genaues wusste 128, sei es als Händler, Gesandter oder „Forschungsreisender“, sei es als Missionar, Spion beziehungsweise Handelsreisender oder – das war besonders ertragreich – im Dienst des fremden Herrschers selbst, so wie der Kapitän Skylax von Karyanda, als er (wie viele andere) im Auftrag des Perserkönigs das Indische und Arabische Meer erforschte, und wie es Marco Polo tat, der im Auftrag des Khans die fernöstlichen Länder und Meere bereiste. All dies bewirkte

127 Vgl. Hyde, Ethnographers (wie Anm.115), 101: „The relative stagnation of ethnography compared with the considerable advances in other kinds of writing during this period highlights the importance of external stimuli and opportunities for extra European travel.“ Ein Urteil, das man vice versa auf die Zeit nach den Perserkriegen und die erste Hälfte des 4.Jahrhunderts v.Chr. anwenden kann. 128 Zur Folge der Etablierung der Mongolenherrschaft in dieser Hinsicht vgl. z.B. Bernard Hamilton, Continental Drift. Prester John’s Progress through the Indies, in: Rubiés (Ed.), Medieval Ethnographies (wie Anm.115), 122–153, hier 134.

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einen Aufschwung ethnographischer Interessen auf der Grundlage von Autopsie und Empirie 129, doch führte die Verschriftlichung der Erlebnisse zumal im Indischen Ozean zunächst noch eher zu einer Erweiterung bestehender Topoi und Muster (das begründete den Erfolg der Werke). Erst als westliche Mächte und ihre Feldherren selbst militärisch nahe an oder in die Wunderwelt des Indischen Ozeans vordrangen und belastbare Daten nicht nur über die Geographie und Ökologie, sondern auch über die Völker benötigten, auf die sie stoßen konnten, öffnete sich die Tür zu einer neuen Stufe ethnographischer Wissensaufnahme. Die über die Zeiten stets wache Neugier am faszinierenden Osten verband sich nun erstmals mit den pragmatischen Erfordernissen der Expansions-, Herrschafts- und Militärpolitik vor Ort. 130 Maritime Erkundungen gaben dabei häufig ausschlaggebende Impulse 131: Alexander hatte nach der Eroberung des Industales seinen Admiral Nearchos mit der Erkundung der Küsten in Richtung des Persischen Golfes beauftragt, wenig später verfasste Megasthenes ein auf Autopsie, Befragung und Selbsterkundung beruhendes Indienbuch (kein griechischer Schriftsteller hatte zuvor das Gangestal aufgesucht), und als die Ptolemäer im 3. und 2.Jahrhundert v.Chr. von Alexandria das Rote Meer und die Südarabische See erkunden ließen, enthielten die Expeditionsberichte eine Fülle von neuen Informationen, die von den Gelehrten in Alexandria literarisch verarbeitet werden konnten. Zu den qualitativ hochwertigsten Texten zählt die Schrift „Über das Rote Meer“ aus der Feder des Agatharchides von Knidos (2.Jahrhundert v. Chr.). Der Verfasser war ein typischer Vertreter eines hellenistischen Schreibtischgelehrten, der die fernen Küsten des Roten Meeres wahrscheinlich selbst nie gesehen hatte, aber offenbar offizielle Berichte der ptolemäischen Kapitäne auswertete sowie zusätzlich Kaufleute und Augenzeugen in Alexandria befragte. Marie Lemser zeigt am Beispiel der Ichthyophagen („Fischesser“), wie auf diese Weise empirische Daten in Auseinandersetzung mit ethnographischen Traditionen zu einer überaus plastischen Darstellung eines Küstenvolkes verdichtet wurden, dessen beinahe ideale „Primitivität“ nicht nur die Integration ethischer Botschaften erlaubte, sondern

129 Hyde, Ethnographers (wie Anm.115), 74–82, 86f. Die Mongolenbriefe erreichten kein sonderlich großes Publikum. 130 Vgl. Jas Elsner/Joan-Pau Rubiés, The Emergence of a Naturalistic and Ethnographic Paradigm in Late Medieval Travel Writing, in: Rubiés (Ed.), Medieval Ethnographies (wie Anm.115), 43–64, hier 46: „[…] emerging systematic empiricism led by a combination of curiosity and practical needs“. 131 Vgl. Hyde, Ethnographers (wie Anm.115), 110.

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vielleicht sogar Kritik an den realen Zuständen einer mediterranen Welt beinhaltete, die alles dem Ziel von Krieg, Expansion und Machtpolitik unterordnete. Nur wenige Jahrzehnte später machte sich Poseidonios von Apamea auf, um die Möglichkeiten zu nutzen, welche die römische Expansion im fernen Westen und am Atlantik eröffnete. Seinen ethnographischen Interessen widmet sich Julian Gieseke. Die auf Autopsie beruhende Beschreibung eines keltischen Gastmahles gehört zu den berühmtesten ethnographischen Texten der Antike, und sie lässt sich instruktiv mit den Ichthyophagen-Partien des Agatharchides vergleichend in Beziehung setzen. Wie der Periplus des Agatharchides, so waren auch die von der Küste (Massilia) weiter inländisch gerichteten Interessen des Poseidonios eingebunden in übergreifende Forschungen zum äußeren Meer – der Titel eines seiner Werke lautete in Anschluss an das des Pytheas peri tou Okeanou –, dessen Naturphänomenen (Tide in Gades) sowie seinen Ländern und Völkern, die immer wieder durch die zerstörerische Kraft des Ozeans (Sturmfluten) gen Süden getrieben wurden. Und auch wenn Poseidonios anders als Agatharchides die Völker und Naturphänomene selbst beobachtete, erweist sich der Keltenexkurs als komplexer Mix von Realempirie, literarischen Topoi und Anspielungen (Homer) sowie naturphilosophischen Theoremen (Klimatheorie). Die Texte des Agatharchides und Poseidonios dokumentieren in unterschiedlichen literarischen Genres, welche Impulse die Expansion von mediterranen Mächten an die äußeren Meere sowie der Wunsch von Admirälen und Feldherren nach ethnographischer Erfassung der Küstenregionen und der weiter im Landesinneren lebenden Völker auf die Erfassung ethnographischer Daten auch unabhängig von den ansonsten so dominierenden kommerziellen Interessen setzen konnten. Sie deuten ferner an, welch hohe, wenn auch nicht immer sachdienliche Erwartungen das – in der Regel gelehrte – Publikum gegenüber solchen Texten hegte. Die Autoren waren regelrecht dazu gezwungen, ethnographische Realien immer wieder kreativ in vertraute philosophische und literarische Muster einzubinden und sie mit dem Schauer des Wundersam-Exotischen zu würzen, weil dies – und nicht allein die Güte der Realinformationen – faszinierte und ein Beweis für ihre Kunstfertigkeit war. Vergleichbare Prozesse setzten mit dem Vordringen der Portugiesen zunächst an der westafrikanischen Küste und der Umrundung Afrikas im frühen 16.Jahrhundert ein. Die im Zuge der Mongoleninvasion gesteigerte Wertschätzung für empirische Autopsie verband sich (ähnlich wie in der Antike rund 1500 Jahre zuvor) mit dem Willen, verlässliche Informationen zu erhalten. Die Erkundungsfahrten an der west-

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afrikanischen Küste und ihrer Inselwelt (Kanaren) bildeten in vielerlei Hinsicht geradezu eine Art Blaupause für die Begegnung der Europäer mit den Bewohnern der Karibik. 132 Die im Zuge dieser Unternehmungen entstandenen und in autobiographischem Stil abgefassten Texte lassen noch klarer als die antiken Zeugnisse (zum Beispiel der Periplus des Karthagers Hanno) eine Kombination wirtschaftlicher sowie macht- beziehungsweise handelspolitischer Interessen erkennen; neu ist die Auslotung missionarischer Chancen, was für die Antike keine Rolle spielte. 133 Die Leiter der Expeditionen, die unter den Fahnen des Portugiesen Heinrich aufbrachen, stammten häufig aus italienischen Kaufmannsfamilien, und sie verfassten Briefe und Berichte wohl auch, um ihre Kollegen über die neuen Möglichkeiten zu informieren, die sich in Guinea eröffneten. 134 Man spricht deshalb auch von Kaufmannsethnographie („merchant ethnography“), die es in der Antike so nicht gab, auch wenn der berühmte „Periplus des Roten Meeres“ aus dem späten 1.Jahrhundert n.Chr. (nicht zu verwechseln mit dem Buch des Agatharchides) gewisse Funktionsparallelen aufweist. Benjamin Scheller konzentriert sich auf zwei Texte: die in der Mitte des 14.Jahrhunderts n.Chr. verfasste Schrift „De Canaria et insulis reliquis ultra Ispaniam in Oceano noviter repertis“ über eine genuesisch-kastilisch-portugiesische Expedition unter Leitung des Genuesen Niccolò da Recco zu den Kanaren 135 und den um 1463 entstandenen Bericht des Venezianers Alvise Cadamosto (Cá da Mosto, 1432–1483) über seine Fahrt entlang der Küste und über die Kanarischen Inseln bis zum Gambia. Die erste Quelle gibt instruktive Einblicke, wie der Kapitän und die Kaufleute im Wissen um die antike Kenntnis der Insel eigene ethnographische (und chorographische) Beobachtungen detailreich verarbeiteten. Der zweite Text lebt dagegen stärker von der explorativen Narration des Reiseberichtes. Cadamosto hoffte – ähnlich wie schon die karthagischen und massiliotischen Entdecker

132 Für enge Traditionskonnexe vgl. David Abulafia, Neolithic Meets Medieval. First Encounters in the Canary Islands, in: Rubiés (Ed.), Medieval Ethnographies (wie Anm.115), 291–314, hier 312f.; skeptischer: Peter Russel, Veni, vidi, vici. Some Fifteenth-Century Eyewitness Accounts of Travel in the African Atlantic before 1491, in: Rubiés (Ed.), Medieval Ethnographies (wie Anm.115), 315–328, hier 316. 133 Vgl. Benjamin Scheller, Verkaufen, Verhandeln und Verstehen. Die Atlantikexpansion der Europäer, die Fernhändler und die neue Erfahrung des Fremden im 14. und 15.Jahrhundert, in: Borgolte/Jaspert (Hrsg.), Maritimes Mittelalter (wie Anm.42), 233–260. 134 So jedenfalls die Deutung von Russel, Veni (wie Anm.132), 322. 135 Vgl. Martial Staub, Die ‚Wiederentdeckung‘ der Kanarischen Inseln. Kolonialität und neue Weltsicht, in: Andreas Speer/David Wirmer (Hrsg.), 1308: Eine Topographie historischer Gleichzeitigkeit. (Miscellanea Medievalia, 35.) Berlin 2010, 27–40.

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des 5.Jahrhunderts am Senegal – auf eine fluviale Verbindung durch Afrika an die Ostküste. 136 Sein Text gilt (wie die Werke des Agatharchides und des Poseidonios für die Ethnographie der Antike) als „masterpiece of travel literature“ 137 und Meilenstein „of the ethnography of the great age of discovery“. 138 Die ausführlichen (offenbar an herodoteischen Rastern orientierten) ethnographischen Beschreibungen wurden – so die These Schellers – nicht nur durch die in der Forschungsliteratur immer wieder bemühte curiositas italienischer Kapitäne 139 und die Interessen der Auftraggeber 140, sondern auch durch die Erfordernisse und politischen Rahmenbedingungen des seit der Mitte des 14.Jahrhunderts intensivierten Sklavenhandels angeregt. Dies wäre ein frappierendes Beispiel dafür, wie das ethnographische Schreiben noch vor der Entdeckung der Amerikas durch praktisch-wirtschaftliche Interessen in einem spezifischen maritimen Explorationsambiente angetrieben und weiterentwickelt wurde. Die Frage liegt auf der Hand, ob und inwieweit sich diese Phänomene auch im Zuge des Eindringens der Portugiesen in den Indischen Ozean fortsetzten. Tatsächlich waren hier die Verhältnisse viel komplexer, und zwar zum einen, weil sich die Europäer trotz anfänglicher militärischer Erfolge mit einflussreichen inländischen Herrschern sowie den etablierten Seehandelsnetzen muslimisch-arabischer Händler arrangieren mussten; zum anderen aber auch deshalb, weil mit dem Hinduismus und dem arabischen Islam zwei mächtige religiöse Systeme die Szene beherrschten, die man nicht einfach (gewaltsam) verdrängen beziehungsweise missionieren konnte. Das Thema Religion, die bildliche und textuale Beschreibung brahmanischer Kulte und insbesondere die Frage, ob man hinter der Idolatrie nicht doch eine für die Mission und Kooperation nutzbare Gemeinsamkeit erkennen könnte, bildeten denn auch ein stets wiederkehrendes und breit behandeltes Thema fast aller Reiseberichte. 141 136 Fernand Salentiny, Die Gewürzroute. Köln 1991, 72; Matthée, Zu den Christen (wie Anm.39), 195. 137 Russel, Veni (wie Anm.132), 316. 138 Vgl. Hyde, Ethnographers (wie Anm.115), 110; zur Westafrikafahrt des Cadamosto: „[he] achieved in a few months a deeper understanding of West African society than Marco Polo gained of the Mongols over twenty years; moreover he did not need the services of a Rustichello to set his views down in writing. With him we have reached the threshold of the ethnography of the great age of discovery.“ 139 Z.B. Russel, Veni (wie Anm.132), 317. 140 Hyde, Ethnographers (wie Anm.115), 102. 141 Joan-Pau Rubiés, Travel and Ethnology in the Renaissance. South India trough European Eyes, 1250– 1625. Cambridge 2000, 165ff.

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Schließlich – das ist die dritte Besonderheit des indischen Raums – waren die im Auftrag der Portugiesen oder unabhängig von ihnen nach Indien reisenden Beobachter stets mit der Tatsache konfrontiert, dass sie ein Land betraten, über das es stabile, bis in die Antike reichende Erzähltraditionen gab. Erstaunlicherweise hat die Forschung dem Prozess der Verarbeitung antiker Motive beziehungsweise ihrer Konfrontation mit der realen Empirie deutlich weniger Aufmerksamkeit gewidmet 142 als der Antikenrezeption in den Amerikas, vielleicht deshalb, weil im Indik alte Modelle und Topoi nicht mit einem völlig Neuen (Amerikas) unter dem „shock of discovery“ (Anthony Grafton) konfrontiert wurden, sondern ‚lediglich‘ mit der zivilisatorischen und politischen Weiterentwicklung eines im Groben stets bekannten Raumes abgeglichen werden mussten. Im Zentrum jüngerer Arbeiten steht somit die Frage, wie sich im Zuge der portugiesischen Expansion das Genre der Reiseerzählung („travel narrative“) von den Vorbildern mittelalterlicher Texte (des Marco Polo und des John Mandeville) und ihren ritterlichen Idealen 143 löste und Formen entwickelte, die den Bildungs- und Erkenntnisprinzipien des europäischen Humanismus der Spätrenaissance verpflichtet waren. Diese machte die Autoren der Reiseberichte (in Form von Briefen und längeren Abhandlungen) einerseits unabhängiger von der Suche nach Mirabilia und dem Streben nach Unterhaltung. Getrieben vom humanistischen und antiquarischen Bildungsehrgeiz suchten sie andererseits ihre umfangreichen ethnographischen Einzelbeobachtungen zumal im Bereich der Religion mit antiken und biblischen Traditionen in eine genetische oder anthropologische Beziehung zu bringen, indem sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede nicht nur aufzeigten, sondern auch zu erklären suchten. 144 Antje Flüchter zeigt auf der Basis mehrerer frühneuzeitlicher Reiseberichte, insbesondere dem des Italieners Pietro della Valle (1586–1652) eindrücklich, wie auf diese Weise antikes Wissen einschließlich biblischer Traditionen jeweils abhängig von der Thematik (Religion, Botanik usw.) sowie den Interessen und Erwartungen von Autor und Publikum für die Darstellung des frühneuzeitlichen Indien verwendet beziehungsweise relativiert und modifiziert wurde. Hierbei wird klar, dass Auto142 Im Zentrum standen und stehen die klassischen Topoi und Motive östlicher (indischer) Wunderund Monstervölker sowie das Brahmanenphänomen. 143 Wie stark dennoch dieser Aspekt in Bezug auf die Amerikas und in der englischen Welt war, zeigt Jennifer R. Goodman, Chivalry and Exploration, 1298–1630. Rochester 1998. 144 Das Standardwerk hierzu ist: Rubiés, Travel (wie Anm.141); zu De La Valle und dem Einfluss des Humanismus der Renaissance ebd.354–387.

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ren des 16.Jahrhunderts die klassischen Quellen (Strabon, Diodor und Plinius) einsetzten, um das Fremde in eine historisch-antiquarische Erkenntnisperspektive einzuordnen: Diese sollte auf der Basis eigener Realempirie (welche die Befragung einheimischer Gewährsleute miteinschloss) Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen zwischen indischen und westlichen Vorstellungen belegen oder die Besonderheit und Unterschiede indischer Verhältnisse (sowie das Nichtwissen antiker Gewährsleute) erweisen. 145 Beides setzte die Überzeugung von einer grundsätzlichen Vergleichbarkeit europäischer und nichteuropäischer Glaubenssysteme voraus. Es ermöglichte einen „relaxed dialogue“ zwischen deren Vertretern und erkannte den fremden Phänomenen einen hohen Eigenwert zu, den es auch unabhängig von praktischen Nützlichkeitswägungen zu würdigen gilt. 146 Es ist insofern nur folgerichtig, wenn ein „aristokratischer“ Reisender wie della Valle ganz in der Tradition des Proömiums der homerischen Odyssee beteuert, er habe seine Heimat mit dem Wunsch verlassen, „verschiedene Länder und Sitten zu sehen sowie vieles zu lernen, was man nur auf einer Reise über die Welt lernt“. 147 Die von ihm repräsentierte Verbindung von „empirical traveller“ und „humanist-educated philosopher and antiquarian“ nimmt die Grand Tour des „gentleman traveller“ des 18. Jahrhunderts vorweg. 148

145 Ebd.376f. 146 Ebd.374–378. 147 Della Valle, India, 229, zitiert bei Rubiés, Travel (wie Anm.141), 365f. 148 Ebd.386f.

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I. Erkundung und Eroberung der Meere

Rezeption oder Innovation? Archäologische Spuren hellenistischen Schiffbaus in Indochina von Ronald Bockius

Der Beitrag widmet sich dem frühen Güteraustausch und Ideentransfer zwischen dem hellenistischen Mittelmeerraum und Südostasien mit dem Schwerpunkt auf Indien, Indonesien und Indochina. Historische und archäologische Quellen bezeugen für das 3./2.Jahrhundert v.Chr. teils diplomatisch motivierte Kontakte, die dem regulären, über ägyptische Häfen abgewickelten römischen Seehandel mit Indien und der Einrichtung westlicher Faktoreien auf dem Subkontinent vorausgehen. Älteste Sachzeugen sind mediterrane Prestigegüter in China und ostägäische Weinamphoren des 2.Jahrhunderts v.Chr., die nach Indien gelangt sind. Dort werden hellenistische Keramikstile und -ornamentik in das regionale Produktportfolio aufgenommen, die sich bis nach Indonesien und Indochina, im Westen bis auf die Arabische Halbinsel und Ägypten verbreiten. Seit dem 1.Jahrhundert v.Chr. gelangten nicht nur Luxuswaren über Indien in das expandierende Han-China, sondern, vermittelt durch südostasiatische maritime Netzwerke, auch mediterran geprägte Schiffbauexpertise in das benachbarte Nordvietnam, das seit 111 v.Chr. unter dem Einfluss und der Kontrolle der Han stand. Für den griechisch-römischen Westen charakteristische Holzverbindungstechnik erscheint dort seit der Mitte des 1.Jahrhunderts v.Chr. als Exot innerhalb der regionalen Dong So’n-Kultur.

I. Einleitung: Die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen maritimer Fernkontakte in hellenistischer Zeit Nach unserem heutigen Kenntnisstand bildete die Etablierung der hellenistischen Territorialmonarchien im östlichen Mittelmeerraum und in Vorderasien einen entscheidenden Ausgangspunkt für die Belebung des maritimen Fernhandels gen Osten und Süden: Vielfach werden die neuen Herrscher Verbindungen aufgenommen haben, wie sie bereits die Perser geknüpft hatten 1, und darüber hinaus haben spezifische, sich aus der geographischen Lage und der machtpolitischen Gesamtentwicklung ergebene Faktoren die Richtung und die Intensität bestimmt, mit der sich die neuen Dynastien dem Meer zuwandten. Besonders deutlich zeigt sich dies für die Ptolemäer. Schon die ersten Könige begannen im 3.Jahrhundert v.Chr.,

1 Siehe dazu die Beiträge von Raimund Schulz und Eivind Heldaas Seland in diesem Band.

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110670547-003

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zielgerichtet die afrikanischen Küsten kolonisatorisch zu erschließen, um Stützpunkte für die Elefantenjagd anzulegen sowie Zugriff auf die Goldminen Aithiopiens nehmen zu können. 2 Rund hundert Jahre später nutzte man die neu errichteten und inzwischen etablierten Basen – bis zum Bab-El Mandeb sollen es mehr als 270 gewesen sein –, um sich im Seehandel im Roten Meer und darüber hinaus zu engagieren, der bis dahin weitgehend in den Händen arabischer und indischer Akteure lag. Die berühmte Expedition des Eudoxos von Kyzikos (Ende des 2.Jahrhunderts) öffnete den Ptolemäern die Geheimnisse des Monsunsystems und bot ihnen die Chance, von den Direktfahrten nach Indien über Zölle und königliche Monopole (auf bestimmte Handelswaren) auch finanziell zu profitieren. Die Einsetzung eines ptolemäischen Spitzenbeamten für die Aufsicht über das Erythräische und Indische Meer (epistrategos epi tes Erythras kai Indikes thalasses) spricht dafür, dass die Ptolemäer die neu erschlossenen maritimen Handelsverbindungen als Teil einer machtpolitischen Einflusssphäre verstanden und nicht zuletzt für fiskalische Zwecke zu nutzen gedachten. 3 All diese Entwicklungen sind inzwischen auf der Basis historischer Quellen eingehend erforscht, ebenso wie die sich anschließende Intensivierung und Ausweitung des maritimen Indienhandels seit der Übernahme Ägyptens als augusteisches Kronland und der Etablierung der römischen Herrschaft an den Küsten des Roten Meeres. Im Folgenden werden unter Heranziehung archäologischer Zeugnisse zwei Thesen vertreten: 1. Mit dem Ausbau der Fernverbindungen seit dem späteren 2.Jahrhundert v.Chr. wurden nicht nur die für den Indienhandel typischen, literarisch und archäologisch bezeugten Waren und Produkte in stetig steigender Quantität auf dem Seeweg über weite Distanzen befördert, sondern jene Kontakte und Netzwerke bildeten gleichsam Transferkanäle und Kommunikationsbrücken, auf denen mediterranes Knowhow einschließlich schiffbautechnischer Expertise über den Subkontinent bis an die Küsten Südchinas gelangte und dort in neue Funktionskontexte integriert wur-

2 Hierzu und zum Folgenden zuletzt mit Berücksichtigung der neueren Spezialliteratur: Raimund Schulz, Abenteurer der Ferne. Die großen Entdeckungsfahrten und das Weltwissen der Antike. 2.Aufl. Stuttgart 2016, 294–304. 3 Dazu André Tchernia, Rome and India. Archaeology alone? A Review of R. V. Begley/R. D. De Puma (Eds.), Rome and India. The Ancient Sea Trade (1991), in: Marie-Françoise Boussac/Jean-François Salles (Eds.), Athens, Aden, Arikamedu. Essays on the Interrelations between India, Arabia and the Eastern Mediterranean. New Delhi 1995, 155; Julian Reade (Ed.), The Indian Ocean in Antiquity. London 1996, 252.

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de. Um einen solchen Austausch räumlich und zeitlich nachvollziehbar zu machen, wird zunächst anhand der Verbreitung aussagekräftigen archäologischen Materials (vor allem Keramik) nebst darin eingebundener Handels- und Hafenzentren erörtert, in welcher Weise diese als Transferorte für westliches Ideengut in Betracht kommen und mit welcher räumlichen Durchdringung zu rechnen ist. 2. Der Etablierung des hellenistisch-römischen Indienhandels ging im 3./2.Jahrhundert v.Chr. eine Phase voraus, die durch den Austausch von Prestigegütern gekennzeichnet war, die nicht auf den regulären Markt gelangten.

II. Die Zwischenstationen: Materielle Zeugen mediterranen Handels mit Indien In der jüngeren Vergangenheit haben Grabungen, namentlich in Berenike/Baranis (Medinet al-Haras) an der Westküste vom Roten Meer (Abb.1), faszinierende Aufschlüsse zum römischen Indienhandel, vor allem des 1.Jahrhunderts und der Spätantike geliefert. 4 Für die Zeit des Hellenismus erweist sich die archäologische Quellenlage leider als eher dürftig. 5 Bei räumlich ausgedehnter Betrachtung zeitgenössischer Funde kann die Archäologie aber vielleicht doch auch für die vorrömische Epoche Ägyptens einen bescheidenen Beitrag liefern, der insbesondere das maritime Geflecht ägyptisch-indischer Beziehungen erhellt. Dass die Ptolemäer im engeren Wortsinn „viel Geld“ in ihre maritimen IndienKontakte gesteckt hätten, lässt sich nicht bestätigen: Die wenigen, auf dem Subkontinent gefundenen spätklassisch-hellenistischen Münzen, darunter auch einzelne ptolemäische Prägungen 6, sind nicht zwangsläufig über See ins Land gelangt. Aller-

4 Zur Übersicht vgl. Steven E. Sidebotham, Berenike and the Ancient Maritime Spice Route. Berkeley 2011 mit älterer Literatur. 5 Zu Funden ptolemäischer Münzen und Keramik in Berenike und Myos Hormos z. B. Steven E. Sidebotham/Willemina Zwanida Wendrich, Interpretative Summary and Conclusion, in: dies. (Eds.), Berenike 1998. Report of the 1998 Excavations at Berenike and the Survey of the Eastern Desert, Including Excavations at Wadi Kalalat. (Centre of Non-Western Studies of Leiden University, Special Series, 5.) Leiden 2000, 414; Steven E. Sidebotham, The Excavations, in: ebd 45f. (3./2.Jh.); Steven E. Sidebotham, Coins, in: ebd.169– 178; David Peacock/Lucie Blue (Eds.), Myos Hormos – Quseir al-Qadim. Roman and Islamic Ports on the Red Sea. Survey and Excavations 1999–2003. Oxford 2006, 174. 6 Tchernia, Rome and India (wie Anm.3), 155.

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Abb.1: Karte mit im Text genannten Plätzen. – 1 Alexandria; 2 Petra; 3 Koptos; 4 Myos Hormos; 5 Berenike; 6 Arikamedu (Poduke, Pondicherry); 7 Tissamaharama; 8 X’ian; 9 Hepu; 10 Dong Xa; 11 Yen Bac; Karte erstellt von Ronald Bockius/Katja Hölzl, Römisch-Germanisches Zentralmuseum.

Abb.2: Verbreitungskarte. Hellenistische Tonware, Wheeler Typ 1 („rouletted ware“). Fundorte nach Schenk (wie Anm.8) mit Ergänzungen durch den Autor; Karte erstellt von Ronald Bockius/Katja Hölzl, Römisch-Germanisches Zentralmuseum.

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dings finden sich weitere und bessere Anhaltspunkte, die eine erstaunliche geographische Tiefe maritimer Netzwerke implizieren, in die nicht allein der Subkontinent, das Ptolemäerreich und Staaten auf der arabischen Halbinsel, sondern auch Süd- und Südostasien involviert waren. Eine bis vor wenigen Jahren noch pauschal in die Jahrhunderte um Christi Geburt datierte Gattung Tongefäße, sogenannte „rolettierte Ware“ 7, wurde von Heidrun Schenk überregional untersucht. Anlass waren deutsche Grabungen in Tissamaharama im Südosten Sri Lankas. Der Ort war ehemals Hauptstadt des singalesischen Ruhuna-Reiches. Radiokarbondatierungen von Rückständen aus dort angetroffenen Siedlungsschichten, die typgleiche Scherben definierter Qualität lieferten, verweisen auf das späte 3. und 2.Jahrhundert v.Chr., ein Ansatz, der inzwischen auch für andere Fundplätze Süd- und Südostasiens bestätigt oder in Erwägung gezogen wird. 8 Mit dem Blick auf die quantitative Verbreitung jener Keramik rechnet man mit ihrer Produktion auf dem Subkontinent; ob sie dort im nordindischen Ganges-Gebiet hergestellt wurde, ist umstritten. 9 Rolettierte Ware gelangte im Westen bis in Häfen des heutigen Jemen und südöstlichen Oman, wurde auch in der Nabatäer-Hauptstadt Petra identifiziert 10; in Ägypten fanden sich Erzeugnisse in und nahe Berenike, in Myos Hormos und Koptos (Abb.1 und 2). Britische und US-amerikanische Ausgräber gehen für den Fundstoff aus den beiden Hafenplätzen am Roten Meer von einer Spätdatierung ins 1.Jahrhundert v.Chr. aus, wobei die dort, in Loculi vermengt mit anderem Fundmaterial, nur spärlich bezeugten Gefäßreste mit

7 Vgl. den Beitrag von Eivind Heldaas Seland in diesem Band. 8 Heidrun Schenk, The Dating and Historical Value of Rouletted Ware, in: Zeitschrift für Archäologie außereuropäischer Kulturen 1, 2006, 136–138, 140–141; dies., Tissamaharama Pottery Sequence and the Early Historic Maritime Silk Route across the Indian Ocean, in: Zeitschrift für Archäologie außereuropäischer Kulturen 6, 2014, 101–114, Abb.10, 12, 14; Boonyarit Chaisuwan, Early Contacts between India and the Andaman Coast in Thailand from the 2nd Century BC to the 11th Century AD, in: Sila Tripati (Ed.), Maritime Contacts of the Past. Deciphering Connections amongst Communities. New Delhi 2015, 129–131, Abb.7. 9 Vimala Begley, Critique of V. D. Gogte’s Interpretations of X-Ray Diffraction Analyses of Arikamedu Pottery, in: dies. et al. (Eds.), The Ancient Port of Arikamedu. New Excavations and Researches, 1989–1992. Part 2. (Memoires Archéologiques, Vol.22.) Paris 2004, 631–642; Schenk, Dating (wie Anm.8), 134–136; dies., Pottery (wie Anm. 8), 97–105. 10

Fundstoff zusammengestellt bei Schenk, Dating (wie Anm.8), 126–134, 142–146, Abb.3–4, Appendix;

dies., Pottery (wie Anm.8), 97f., 113f., Abb.3; Heidrun Schenk, The Role of Ceramics in the Indian Ocean Maritime Trade during the Early Hellenistic Period, in: Tripati (Ed.), Maritime Contacts (wie Anm.8), 150, Abb. 4, 175 mit Anm.21. – Petra: Sidebotham, Berenike (wie Anm.4), 231, 339 mit Anm.94.

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römisch kontrolliertem Indienhandel in Verbindung gebracht werden 11 – gleichwohl nicht als Rückstände von Importware, sondern ursprünglich als persönlicher Besitz, als Tischgeschirr reisender Kauf- oder Seeleute in Betracht kommen. 12 Zu reflektieren, ob sich jene am Nil exotisch anmutenden Gefäße im Besitz von Einheimischen oder Fremden befunden hatten, liefe auf Spekulieren hinaus. Wenn man in ihnen wertgeschätzte Souvenirs vermutet, die zudem nicht zu den älteren Erzeugnissen ihrer Produktionslinie gezählt haben, dann könnte man damit immerhin das chronologische Gefälle zwischen den Altersansätzen im Westen und Osten erklären. 13 Wie Vimala Begley überzeugend darlegte, wurde jene – keineswegs mit Rollstempeln, sondern durch beim Drehen der tellerartigen Gefäße mit flatternden Holzspateln dekorierte 14 – Tonware durch mediterrane Keramik inspiriert. 15 Ähnliches gilt gleichermaßen für nur in Teilen des indischen Subkontinents nachweisbare Schalen und Tassen einheimischer Herstellung aus dem 3. bis 1.Jahrhundert v.Chr.; deren Form, Machart oder Dekor erinnern an westliche Produkte, sie sind jedenfalls nicht aus dem einheimischen Sujet abzuleiten. 16 Im 2. vorchristlichen Jahrhundert entwickelte sich der an der südindischen Koromandelküste an einer im Altertum wohl hafentauglichen Flussmündung gelegene Ort Arikamedu bei Puducherry/Pondicherry (Abb.1) zu einem überregional be11 Zur Datierung der ältesten Zeugnisse in Berenike ins 1.Jahrhundert v.Chr. vgl. Vimala Begley/Roberta Tomber, Indian Pottery Sherds, in: Steven E. Sidebotham/Willemina Zwanida Wendrich (Eds.), Berenike 1997. Report of the 1997 Excavations at Berenike and the Survey of the Eastern Desert, Including Excavations at Shenshef. (Centre of Non-Western Studies of Leiden University, Special Series, 4.) Leiden 1999, 162–170, Tab. 6–1; Roberta Tomber/Vimala Begley, Indian Pottery Sherds, in: Sidebotham/Wendrich (Eds.), Berenike 1998 (wie Anm.5), 150–155. – Noch jüngerer Ansatz („[…] Augustan period, the context date for some of the table ware sherds found at Berenike“) bei Roberta Tomber, Indo-Roman Trade. The Ceramic Evidence from Egypt, in: Antiquity 74, 2000, 629; dies., Indo-Roman Trade. From Pots to Pepper. London 2012, 71; Sidebotham, Berenike (wie Anm.5), 231. 12 Begley/Tomber, Indian Pottery Sherds (wie Anm.11), 168. 13 Funde in Berenike werden einer „[…] jüngeren Produktionsphase“ zugedacht: Begley/Tomber, Indian Pottery Sherds (wie Anm.11), 168. 14 Vimala Begley, Rouletted Ware at Arikamedu. A New Approach, in: American Journal of Archaeology 92, 1988, 430–439; dies., Ceramic Evidence for Pre-Periplus Trade on the Indian Coasts, in: Vimala Begley/ Richard Daniel De Puma (Eds.), Rome and India. The Ancient Sea Trade. Madison 1991, 176. 15 Vimala Begley, Arikamedu Reconsidered, in: American Journal of Archaeology 87, 1983, 470, 478; dies., Rouletted Ware (wie Anm.14), 439; dies., Introduction, in: Begley/De Puma (Eds.), Rome and India (wie Anm.14), 4; dies., Ceramic Evidence (wie Anm.14), 176. 16 Begley, Ceramic Evidence (wie Anm.14), 166–175.

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deutenden Handelsstützpunkt mit Fernkontakten. Gemäß jüngeren Quellen mit dem antiken Poduke/Poduca identifiziert, sind dort durch archäologische Untersuchungen auch Eisen- und Elfenbeinverarbeitung sowie Produktionsstätten für Perlenschmuck und Muschelarmreifen, womöglich auch für Gemmen, bezeugt. 17 Seit 1945 wiederholt erfolgte Siedlungsgrabungen förderten – als sehr eindeutige Zeugen westlichen materiellen Zuflusses – unter anderem endrepublikanisch-frühkaiserzeitliche arretinische Terra Sigillata zutage (Phase D). Ein älteres Stratum ohne Glanztonware lieferte über die genannte rolettierte Tonware und andere indische Keramik hinaus auch Scherben hellenistischer Weinamphoren (Phase C); dieses Stratum soll indes nicht die älteste Schicht mit Spuren westlichen Einflusses (Phase B) gewesen sein. 18 Transportbehälter von Kos werden noch dem späten 2. Jahrhundert v.Chr. zugewiesen; knidische und rhodische dem 1.Jahrhundert v. Chr. 19 Demnach erreichten spätestens gegen Ende des 2.Jahrhunderts v.Chr. leicht salzige Weine vom Südostrand der Ägäis das indische Poduke; sie wurden zwischen dem letzten Viertel des 1.Jahrhunderts v.Chr. und dem frühen 1.Jahrhundert n.Chr. durch italische Weinimporte abgelöst. 20 Leider bleibt offen, wann die in Arikamedu entdeckte „ägyptische Fayence“ 21 nach Indien gekommen war. Als Zwischenfazit ist festzuhalten: In den ägyptischen Häfen Berenike und Myos Hormos tauchen zwar eindeutige Objekte und Materialien indischer bzw. südasiati17 Vimala Begley, Changing Perceptions of Arikamedu, in: dies. et al. (Eds.), The Ancient Port of Arikamedu. New Excavations and Researches 1989–1992. Part 1. (Memoires Archéologiques, Vol.22.) Paris 1996, 23, 28–30; Tomber, Indo-Roman Trade (wie Anm.11), 135f. 18 Begley, Arikamedu Reconsidered (wie Anm.15), 471–473, 478; dies., Changing Perceptions (wie Anm. 17), 6f., Abb.1.6; dies., Chronology, in: dies. et al. (Eds.), Ancient Port, Part 1 (wie Anm.17), 5f. 19 Elizabeth Lyding Will, The Mediterranean Shipping Amphoras from Arikamedu, in: Begley/De Puma (Eds.), Rome and India (wie Anm.14), 151–153, Abb.9.1; dies., Mediterranean Shipping Amphoras at Arikamedu, 1941–50 Excavations, in: Begley et al. (Eds.), Ancient Port, Part 1 (wie Anm.17), 318, 321–329, Nr.1– 22; dies., Mediterranean Amphoras in India, in: Jonas Eiring/John Lund (Eds.), Transport Amphorae and Trade in the Eastern Mediterranean. Acts of the International Colloquium at the Danish Institute at Athens, September 26–29, 2002. (Monographs of the Danish Institute at Athens, Vol.5.) Athen 2004, 437; dies., The Mediterranean Shipping Amphoras from 1990–92 Excavations, in: Begley et al. (Eds.), Ancient Port, Part 1 (wie Anm.17), 317f., 320–327, Nr.1–20. Ein etwas jüngerer Ansatz im 1.Jahrhundert v.Chr. wird diskutiert bei Begley, Chronology (wie Anm.17), 3–5; Tomber, Indo-Roman Trade (wie Anm.11), 136f. 20 Will, Mediterranean Amphoras (wie Anm.19), 435; David F. Williams, The Eruption of Vesuvius and Its Implications for the Early Roman Amphora Trade, in: Eiring/Lund (Eds.), Transport Amphorae, (wie Anm.19), 447–450. 21 Kathleen Warner Slane, Other Ancient Ceramics Imported from The Mediterranean, in: Begley et al. (Eds.), Ancient Port, Part 1 (wie Anm.17), 352, 363, Nr.49–52.

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scher Herkunft auf, sie gehören jedoch in die römische Kaiserzeit, wohingegen die peripher bis ins Nilland gelangte rolettierte Tonware frühestens in das 1.Jahrhundert v.Chr. datiert. Als Handelsplatz, wenn nicht als westliches Emporion kommt das indische Arikamedu nicht vor dem 2.Jahrhundert v.Chr. in Betracht, als die ersten hellenistischen Transportamphoren, rund ein Jahrhundert später arretinische Sigillata die Koromandelküste erreichten. Archäologisch oder historisch bezeugte ältere Gegenstände westlicher Herkunft in Süd- und Südostasien ordnen sich demnach jenem chronologisch-räumlichen Kontext ebenso wenig unter wie literarisch überlieferte Kontakte früh- bis mittelhellenistischer Zeit.

III. Altmediterrane Objekte in Fernost Für das spätere 2.Jahrhundert v.Chr. berichten chinesische Annalen, Kaiser Han Wudi habe Gesandte und Kaufleute beauftragt, von drei Häfen an der südostchinesischen Küste aus nach Indien sowie Zielen im heutigen Burma und Malaysia und vielleicht Sri Lanka zu reisen, um für den kaiserlichen Hof Prestigegüter – über Perlen hinaus auch ein lebendes Rhinozeros – gegen Gold und Textilien, mutmaßlich chinesische Seidengewänder, einzutauschen. 22 Einer jener Häfen war Hepu (Abb.1), heute ein Stadtbezirk von Beihai, Provinz Guangxi, im Norden des Golfs von Tonkin. Dort haben moderne chinesische Grabungen eine große, seit dem späten westlichen Han (ca. 30 v. – 220 n.Chr.) belegte Nekropole angeschnitten. Teils reich mit Beigaben versehene Bestattungen vermitteln das Bild einer begüterten Bevölkerungsschicht, die sich mit importierten Luxusobjekten indisch-südasiatischer Provenienz sowie aus dem mediterranen und parthischen Raum versorgen konnte. 23 Verlässlich ins 3./2.Jahrhundert v.Chr. zu datierende Gegenstände westlicher Provenienz sind unter dem publizierten Fundmaterial nicht zu finden. Doch hier entsteht der

22

Brian Colless, Han and Shen-tu. China’s Relations with South Asia, in: East and West 30, 1980, 161–176;

Sabine Werner, Zur frühen chinesischen Seefahrt, in: Hermann Müller-Karpe (Hrsg.), Zur geschichtlichen Bedeutung der frühen Seefahrt. (Kolloquien zur Allgemeinen und Vergleichenden Archäologie, Bd. 2.) München 1982, 89f. Anm.21–22. – Zu Han-Gesandtschaften in westliche Staaten vgl. Donald Daniel Leslie/ Kenneth Herbert James Gardiner, The Roman Empire in Chinese Sources. (Studi Orientali, Vol.15.) Rom 1996, 33–39. 23

Zhaoming Xiong, The Hepu Han Tombs and the Maritime Silk Road of the Han Dynasty, in: Antiquity

88, 2014, bes. 1233–1240.

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Eindruck, dass sich seit dem ausgehenden 1.Jahrhundert v.Chr. ein – zweifelsohne intermediär bewältigter – Austausch zwischen der griechisch-römischen Sphäre und Ostasien etabliert hatte. Chinesische Kaiser besaßen eine Obsession für exotische Pretiosen und werden deshalb auch hellenistische Luxusware nicht verschmäht haben. Dies gilt offenbar auch für ein höchst ungewöhnliches antikes Gefäß aus Halbedelstein, das im Jahr 1970 zusammen mit mehr als 1000 Objekten, darunter 270 Gegenstände aus Gold und Silber, zwei Onyx-Gefäße, eine sasanidische Glasschale sowie zahlreiche altpersische und byzantinische Münzen, in Chang’an beim heutigen X’ian, seit dem westlichen Han wiederholt Hauptstadt chinesischer Dynastien, unter einem Palastgebäude als Versteckhort entdeckt wurde. Von einem hellenistischen Trinkgefäß abgesehen, datieren alle übrigen Stücke in die ältere Tang-Zeit. Da sie sich als Bestandteile einer Schatzkammer des Kaiserhauses zu erkennen gaben, wurde ihre Verbergung mit einer Revolte gegen Kaiser Tang Xuanzong im Jahr 756 in Verbindung gebracht. Bei dem antiken Objekt handelt es sich um ein theriomorphes AchatRhyton mit der Protome einer Gazelle oder Antilope und einer Goldauflage auf der Gefäßmündung (Abb.3). Wie Klaus Parlasca darlegte, gehört es in mittelhellenistische Zeit (2.Jahrhundert v.Chr.), eher noch ins 3.Jahrhundert v.Chr. als in die Spätphase. Es kann demnach als Produkt einer ostmediterranen Werkstatt, die wahrscheinlich im ptolemäischen Ägypten zu verorten ist, gelten, wo laut Appian (bellum civile 1,102) Gefäße aus Gold und Halbedelstein die alexandrinischen Schatzkammern der makedonischen Pharaonen füllten. Parlasca verwies auf ein weiteres tierförmiges Rhyton aus Bronze mit Kalbskopf, das nur noch als Zeichnung im Sammlungskatalog des Song-Kaisers Huizong (1082–1135) überliefert ist und nach Parlascas Einschätzung in die Zeit der westlichen Han datiert. 24 Trink- bzw. Spendegefäße in Gestalt einer Tierprotome (Tiergestalt aus Kopf und Hals) kennt man insbesondere als griechische Tonware, bemalt oder unbemalt. So seltene und kostbare, einen besonderen Geschmack bedienende und höchste Kaufkraft abverlangende Luxusartikel wie das Stück aus X’ian stehen freilich nicht im Verdacht, gewöhnliche Handelsware gewesen zu sein. Da sie als offenkundig wertgeschätzte Raritäten in den Pretiosenkabinetten chinesischer Kaiser ihre Zeit um

24 Klaus Parlasca, Ein hellenistisches Achat-Rhyton in China, in: Artibus Asiae 37, 1975, 280–286, Tafel mit Abb.1–2; ders., Griechisches und Römisches im Alten China, in: Allgemeine und Vergleichende Archäologie, Beiträge 2, 1980, 297f., Abb.1.

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Abb.3: Mittelhellenistisches Achat-Rhyton aus X’ian, China; Quelle: Parlasca, Ein hellenistisches AchatRhyton (wie Anm.24).

viele Jahrhunderte überdauerten, dürfte es sich um diplomatische Geschenke gehandelt haben. Niemand weiß, wie die Objekte nach China kamen 25, noch, ob sie ausschließlich auf dem Land- oder auch auf dem Seeweg dorthin gelangt waren. Da nicht mit diplomatischen Beziehungen zwischen der älteren Han-Dynastie und hellenistischen Königen zu rechnen ist, könnte man geneigt sein, das späte MauryaReich bzw. seine Nachfolgedynastie oder benachbarte Herrschaftsgebiete als ursprüngliche Adressaten jener Kostbarkeiten zu vermuten. Eingedenk der frühen Han-zeitlichen Kontakte zum indischen Subkontinent und der zeitlichen Koinzidenz der ältesten überlieferten ptolemäischen Indienfahrt im späteren 2.Jahrhundert v.Chr. (Strabon, geogr. II 3,4), der Gründung einer westlichen Faktorei an der Koromandelküste und der Entstehungszeit des Achat-Rhytons im 2.Jahrhundert v. Chr. erscheint es aber sehr verlockend, den Seeweg zu vermuten. Setzt man voraus, dass auch Philopators Nachfahren Kontakte mit Herrschern Indiens unterhielten, käme als Quelle der ptolemäische Hof in Betracht. Exzeptionelle Gegenstände jener Art können freilich nicht als reguläre Handelsware in Anspruch genommen werden. Deshalb wundert es nicht, wenn die schrift-

25

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Sidebotham, Berenike (wie Anm.4), 223.

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liche Überlieferung im Rahmen der Kontakte der Ptolemäer mit dem Subkontinent für das 3.Jahrhundert v.Chr. als indische „Importe“ Jagdhunde, Zebus und Frauen erwähnt und indische Säulen auflistet, die für die Ausstattung von Ptolemaios Philopators Nil-Palastschiff vorgesehen waren. 26 Die Zurschaustellung jener Exoten war Teil königlicher Prachtentfaltung und herrschaftlichen Selbstverständnisses, ihr Wert – sieht man von den Transportkosten ab – sichtlich ein ideeller. Adressat jener prestigeträchtigen „Güter“ waren der König selbst bzw. der ptolemäische Hof, und man darf unterstellen, dass sich in dieser Weise die in zwei Edikten des MauryaHerrschers Ashoka verbürgten diplomatischen Verbindungen auch zum frühhellenistischen Nilland materialisierten. Für Philadelphos bezeugt Plinius (nat. hist. VI 21,58) einen nach Indien beorderten Dionysios. Dessen Aufgabe wird es gewesen sein, nicht nur im Namen seines Königs Aufwartung zu machen, sondern Gastgeschenke zu übergeben, selbstverständlich auch Gegenleistungen entgegenzunehmen. Noch im späten 2.Jahrhundert v.Chr. ist es Ptolemaios VIII. Euergetes, der ein Schiff ausrüstet und Eudoxos von Kyzikos, mit Geschenken versehen, nach Indien segeln lässt, von wo er mit aromatischen Stoffen und Schmucksteinen zurückkehrt. 27 Der Status des Auftraggebers und die Exklusivität der Reise legen den Verdacht nahe, dass die nach Ägypten gebrachten Waren für eine renditeorientierte Vermarktung gar nicht vorgesehen, sondern für den Konsum aufwändiger königlicher Hofhaltung bestimmt waren. Eudoxos’ Erwartung, als Anerkennung für seine Leistung einen Anteil daran zu erhalten, wurde vom König nicht erfüllt. Unklar bleibt, welcher Natur die von Poseidonios als Zahlungsmittel genannten δόρα waren; von einem diplomatisch motivierten Austausch ist hier auch nicht die Rede. Da Ptolemaios’ Gemahlin und Schwester Kleopatra II. bald nach dessen Ableben denselben Eudoxos mit einer weiteren Indienfahrt betraute, mag man jene Ereignisse als eine Art Initialstufe des westlich-antiken Seehandels mit dem Subkontinent verstehen. Im archäologischen Fundstoff bildet sich das späte 2.Jahrhundert v.Chr. zwar in Arikamedu durch das früheste Auftreten hellenistischer Weinamphoren als Transportbehälter für im östlichen Mittelmeerraum in größerer Liefermenge verfügbaren Massengutes ab, allerdings ohne den klaren Bezug nach Ägypten, das in der hier diskutierten Zeit an der Wende vom 2. zum 1.Jahrhundert v.Chr. ohnedies die Kontrolle über seine Außenwirtschaft zu verlieren drohte. Wenn in 26 Athenaios, deipn. 5, 201. 205 nach Kallixenos v. Rhodos. 27 Strabon, geogr. II 3,4 nach Poseidonios.

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den beiden Jahrhunderten zuvor dem Indienhandel andere, politisch motivierte Formen auf der Basis eines Austausches ausgewählter Pretiosen bzw. sich einer archäologischen Identifizierung entziehender Geschenke, wie Menschen und Tiere, vorangegangen waren, so müsste man den Zufall bemühen; man bräuchte zudem spezifische Überlieferungsbedingungen von Gegenständen, um jene Vorgänge durch Bodenfunde wenigstens ansatzweise zu erhellen. Das oben behandelte AchatRhyton könnte gegebenenfalls hierzu dienen, weil es sich hinsichtlich seiner besonderen Qualität und nicht zuletzt aufgrund seiner Objektgeschichte in den Kontext einfügt. Das ptolemäische Ägypten bezeichnet die am weitesten nach Westen reichende Verbreitung der oben behandelten hellenistisch-indischen rolettierten Ware, die im Osten bis nach Indonesien und Indochina gelangte (Abb.2), somit den hellenistischen Osten des Mittelmeerraumes mit der Peripherie der damals bekannten Welt verband. Das lenkt den Blick auf archäologische Befunde, denen der maritime Bezug aus anderen, aber ganz naheliegenden Gründen ebenso wenig abzusprechen ist. Diese Befunde lassen vermuten, dass noch in der Zeit transkontinentaler Beziehungen der hellenistischen Welt auch westliches Technik-Knowhow Südostasien erreichte.

IV. Zeugnisse altmediterraner Schiffbautechnik in Indochina 2004/05 förderten Grabungen eines australo-vietnamesischen Wissenschaftlerteams im Roter Fluss-Delta südlich von Hanoi (Abb.1) zwei Fundkomplexe zutage, die von mehr als nur regionalem Interesse sind. Es handelt sich um Gräber der metallzeitlichen Dong So’n-Kultur bzw. aus der Zeit der frühen Han-Dynastie, beide mit vorzüglich erhaltenen organischen Objekten. Fund 1 (Dong Xa) 28 ist ein Bootsgrab, hergerichtet aus einem Einbaumsegment (Abb.4). Darin lag ein in Ramie-Textilien gehüllter Körper. Über hölzerne und keramische Beigaben hinaus wurden auch zwei frühe Han-Prägungen entdeckt. Noch nicht näher bestimmt, bietet ihre Emission ab 118 v.Chr. einen terminus post quem für die im Boot vorgenommene Bestattung. Die Radiokarbondaten, die von der die

28

Peter Bellwood/Judith Cameron/Nguyen Van Viet/Bui Van Liem, Ancient Boats, Boat Timbers, and Locked

Mortise-and-Tenon Joints from Bronze/Iron-Age Northern Vietnam, in: International Journal of Nautical Archaeology 36, 2007, 2–11, 15–17, Abb.3–5, 9–10, 22, Tab. 1.

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Abb.4: Dong Xa, Provinz Hung Yen, Vietnam. Als Bestattungsbehältnis genutztes Stammboot-Segment mit Nut-Feder-Verbindungen; Quelle: Bellwood/Cameron/Van Viet/Van Liem, Ancient Boats (wie Anm.28), 4 Abb.3.

Abb.5: Dong Xa, Provinz Hung Yen, Vietnam. Stammboot-Segment mit Details; Quelle: Bellwood/Cameron/ Van Viet/Van Liem, Ancient Boats (wie Anm.28), 11 Abb.12.

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Abb.6: Yen Bac, Provinz Ha Nam, Vietnam. Rekonstruktion eines Grabbaldachins, hergestellt aus Bambusstützen und wiederverwerteten Planken mit Nut-Feder-Verbindungen; Quelle: Bellwood/Cameron/Van Viet/Van Liem, Ancient Boats (wie Anm.28), 7 Abb.6.

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Leiche umhüllenden Grasmatte, ihrer großflächigen Rindenabdeckung sowie von organischen Rückständen an einem dem Toten beigegebenen Gefäß bezogen werden können, verweisen auf das 1.Jahrhundert v.Chr., wohl nicht später als um 30/20 v. Chr. für die Beisetzung. Um wieviel älter das Boot datiert, entzieht sich zwar unserer Kenntnis, da es bedauerlicherweise nicht beprobt wurde. Mit einigen Jahrzehnten Altersunterschied wird man hier aber zu rechnen haben, denn das als Grabbehältnis verwendete Fahrzeugsegment wird wohl kaum aus einem neuwertigen Rumpf hergestellt worden sein. Hierauf deutet auch sein Zustand in situ hin: Bei dem Fahrzeug handelt es sich um ein sogenanntes „erweitertes Stammboot“, dessen monoxyle Bordwände ursprünglich durch je eine aufgesetzte Planke erhöht waren. Davon hatten sich an den Kanten Nutschlitze (Abb.5) und dieselben durchdringende Holznägel erhalten. Sie gehen auf Holzverbindungen mit loser Feder zurück, das heißt auf zungenförmige Elemente, die sich ursprünglich in der Holzdicke verbargen und deren Anwesenheit sich an den Oberflächen miteinander verbundener Bootskompartimente nur durch die Sicherungsstifte ankündigte. Das Verfahren ist ganz untypisch für den im Holzbau des südostasiatischen Altertums (siehe unten S. 80). Fund 2 (Yen Bac) 29, ein modern gestörter Grabfund, ließ sich aus den Beobachtungen in situ und den gehobenen Überresten folgendermaßen rekonstruieren: Vier 30 mm starke, zunächst gegen 4 m lange Bretter wurden geteilt und dann einer antiken Wiederverwendung als Teil einer komplexen Grabarchitektur zugeführt (Abb.6). Ein mit Deckel geschlossener sowie mit Grasmatten umwickelter Baumsarg wurde auf in der Grabgrube ausgelegte Brettsegmente gestellt und von einem Gerüst aus Bambusrohr umgeben. Der Baldachin war gedeckt mit weiteren Brettabschnitten. Alle zeigten die schon am Stammboot von Dong Xa beobachteten serienweisen Nutschlitze mit zugeordneten Holznagelsicherungen (Abb.7). Leider erwies sich die Datierung als problematisch, weil Beigaben fehlten – sie wurden womöglich durch rezente Schatzgräber entwendet, deren Schürfungen zudem den archäologischen Befund zerstört hatten. Radiokarbonmessungen am Bambus sprechen für einen chronologischen Ansatz im 1./2.Jahrhundert, Proben von den Grasmatten für ein rund zwei Jahrhunderte jüngeres Alter. Unverständlicherweise wurde auf die Beprobung von Planken und Sarkophag verzichtet. Die Ausgräber erwägen für den Bambusbaldachin eine sekundäre Errichtung.

29

Ebd.5–8, 11–13, 15–17, Abb.6–8, 22, Tab. 1.

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Ancient Boats (wie Anm.28), 8 Abb.8.

Abb.7: Yen Bac, Provinz Ha Nam, Vietnam. Als Grabbaldachin wiederverwertete Planken mit Nut-Feder-Verbindungen; Quelle: Bellwood/Cameron/Van Viet/Van Liem,

Abb.8: Verbreitungskarte. Schiffsfunde des griechisch-römischen Altertums mit Nut-Feder-Verbindungen (7.Jahrhundert v.Chr. – 6./7.Jahrhundert n.Chr.); Karte erstellt von Ronald Bockius/Katja Hölzl, RömischGermanisches Zentralmuseum.

Was wir hier sehen, sind wohlbekannte Signaturen altmediterranen Plankenschiffbaus. 30 Seit archaischer Zeit (7.Jahrhundert v.Chr.) trifft man im gesamten Mittelmeerraum (Abb.8) auf diese aufwändige Verbindungstechnik, von der sogar ein literarisches Zeugnis berichtet: Cato maior erörtert in seiner Abhandlung über Landwirtschaft (agr. 18,9), wie die stark belastete Druckscheibe einer zeitgenössischen Olivenpresse angefertigt werden sollte, nämlich nicht ohne die hohe Festigkeiten erzeugendenden Nut-Feder-Schlösser (Abb.9). Er nennt auch den dafür gebräuchlichen lateinischen Terminus Technicus – coagmenta Punicana, punische Verbinder. 31 Catos Leser assoziierten demnach jenes im römischen Tischlerhandwerk 30 Lionel Casson, Ships and Seamanship in the Ancient World. Princeton, NJ 1971, 202–209, Taf. Abb.159– 161. 31 André Wegener Sleeswyk, Phoenician Joints, coagmenta punicana, in: International Journal of Nautical Archaeology 9, 1980, 243f., Abb.1.

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und Schiffbau beherrschte Verfahren originär mit Phönikern bzw. Karthagern, eine ethnische Herleitung, die technikgeschichtlich durchaus nachzuvollziehen ist: Differenziert man nämlich die archäologischen Zeugen der Nut-Feder-Technik nach Raum und Zeit, so zeichnet sich als Keimzelle das östliche Mittelmeergebiet ab. Die ältesten schiffbaulichen Belege, darunter auch ikonographische, begegnen in Ägypten seit der 4. Dynastie. Hier wurden nicht nur Boote und Schiffe, sondern auch Möbel sowie hölzerne Sarkophage und Türblätter in dieser Manier gebaut bzw. hergestellt. 32 Außerhalb Ägyptens tritt die Nut-Feder-Technik erstmals zur mittleren Bronzezeit an Grabinventar (Tischplatten) in Palästina und Syrien auf (17./16.Jahrhundert v.Chr.). 33 Die ältesten, auf Seefahrzeuge zurückgehenden Relikte jenes Baumusters wurden vor der kilikischen Küste gefunden, wohingegen ein vor der Argolis gesunkenes Schiff nur einen vagen Hinweis darauf liefert. Erstere datieren ins spätere 14.Jahrhundert v.Chr. (Ulu Burun) und um bzw. bald nach 1200 v.Chr. (Kap Gelidonya). 34 Wie zuvor erwähnt, trifft man mit den frühesten Nachweisen aus dem 7. Jahrhundert v.Chr. auch im westlichen Mittelmeergebiet auf die Nut-Feder-Bauart. In den römischen Nordprovinzen taucht sie erst seit augusteisch-tiberischer Zeit und eher als Ausnahmeerscheinung auf. Sie steht dort neben anderen schiffbaulichen Traditionen, so dass kaiserzeitliche Belege für die schiffbauliche Nutzung von Nut-Feder-Verbänden im gallorömisch-britannischen Milieu mit mediterranem Techniktransfer und Anwendung im militärischen Kontext in Verbindung gebracht werden. 35 Beweisen kann man das zwar nicht, doch lässt sich der chronolo-

32

Dazu etwa Cheryl Anne Ward, Sacred and Secular: Ancient Egyptian Ships and Boats. (Archaeological

Institute of America, Monographs NS., Vol.5.) Philadelphia, PA 2000. 33

Jericho, Palestina, Grab H6: Kathleen Mary Kenyon, Excavations at Jericho, no. 1. The Tombs Excavated

in 1952–54. London 1960, 453–469, Abb.198; Michael Ricketts, Furniture from the Middle Bronze Age Tombs, ebd.Appendix B, 529–531, Abb.229,1. – Baghouz, bei Mari, Syrien, Grab Z67: Robert du Mesnil du Buisson, Baghouz: l’ancienne corsôtê. Le tell archaïque et la nécropole de l’âge du bronze. (Documenta et Monumenta Orientis Antiqui, Vol.3.) Leiden 1948, 35–39, 70, Taf. 44. 34

Ulu burun: Cemal Pulak, The Late Bronze Age Shipwreck at Uluburun. Aspects of Hull Construction,

in: William Phelps/Yannos Lolos/Yannis Vichos (Eds.), The Point Iria Wreck. Interconnections in the Mediterranean ca. 1200 BC. Proceedings of the International Conference. Island of Spetses, 19 September 1998. Athen 1999, 221f., 232–237, Abb.2.5–6, Tab. 1; ders., The Ulu Burun Hull Remains, in: Harry Tzalas (Ed.), TROPIS VII. 7th International Symposium on Ship Construction in Antiquity, Pylos 1999. Proceedings, Part

2. Athen 2002, 626–629, 635f., Abb.1–4. – Gelidonya: George Fletcher Bass, Cape Gelidonya. A Bronze Age Shipwreck. (Transactions of the American Philosophical Society, NS., Vol.57/8.) Philadelphia 1967, 45, 48, 50f., Abb.46, 51, Wd 2. 35

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Ronald Bockius, Die römerzeitlichen Schiffsfunde von Oberstimm in Bayern. (Monographien des Rö-

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Abb.9: Mehrteilige hölzerne Druckscheibe einer Olivenpresse gemäß Bauanleitung durch Cato maior; Umzeichnung nach: Sleeswyk, Phoenician Joints (wie Anm.31), 243 Abb.1.

gisch-chorologisch gefilterte Quellenbestand dahingehend interpretieren, dass sich die Kenntnis der Nut-Feder-Technik erst mit der Kolonisierung des westlichen Mittelmeerraumes durch Phönizier und Griechen verbreitet hatte. Wurden mediterrane Frachter noch in frühbyzantinischer Zeit (6./7.Jahrhundert) nach diesem Muster gebaut, lassen sich an den wenigen bekannten Wracks aus dieser Epoche handwerkliche Auflösungserscheinungen und die tendenzielle Bevorzugung alternativer Konstruktionsverfahren ablesen. Danach verlieren sich die Spuren der Nut-Feder-Technik ganz. 36 Ein Grund für das Aussterben des Verfahrens

misch-Germanischen Zentralmuseums, Bd. 50.) Mainz 2002; ders., Römische Schiffsfunde, in: Marcus Trier/ Friederike Naumann-Steckner (Hrsg.), Zeittunnel. 2000 Jahre Köln im Spiegel der U-Bahn-Archäologie. Begleitband zur Sonderausstellung im Römisch-Germanischen Museum der Stadt Köln, 9.November 2012 bis 5.Mai 2013. Köln 2012, 138, 140; ders., Caisson or Craft? Further Roman Ship Finds from Mainz, Germany, in: Jerzy Litwin (Ed.), Baltic and Beyond. Change and Continuity in Shipbuilding. Proceedings of the Fourteenth International Symposium on Boat and Ship Archaeology Gdańsk 2015. Danzig 2017, 124–130, Abb.8. 36 Casson, Ships (wie Anm.30), 208f. Anm.37; Antony J. Parker, Ancient Shipwrecks of the Mediterranean & the Roman Provinces. (British Archaeological Reports, International Series, Vol.580.) Oxford 1992, 25; John Richard Steffy, Wooden Ship Building and the Interpretation of Shipwrecks. College Station, TX 1994,

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wird der hohe handwerkliche Aufwand gewesen sein: Hier waren in den Nahtkanten zu verbindender Bauteile über die gesamte Rumpflänge hinweg im Abstand von ein bis zwei Handbreit passgerecht, mit größter Sorgfalt Nutschlitze zu bohren und auszustemmen. Darin eingelassene Hartholzfedern mussten stramm sitzen, ohne die Substanz einer Planke zu sprengen. Das Bohren und Setzen der paarweise jeder Federverbindung zugeordneten Holznagelsicherung erforderte ein gutes Augenmaß und lange Arbeit. Selbst Fahrzeuge geringer Größe brachten es, abhängig von der intendierten Festigkeit der Plankenhaut, auf 2000 bis 3000 Einzelverbindungen, doppelt beplankte Rümpfe bzw. große Schiffe auf ein Mehrfaches. Die nordvietnamesischen Zeugen jenes Verfahrens stehen in Süd- und Südostasien isoliert neben teils deutlich primitiverem, gleichwohl den funktionalen Bedürfnissen genügendem Knowhow vor- und frühgeschichtlicher Holzverarbeitung. 37 Dass die Anwendung eines hochanspruchsvollen Konstruktionsprinzips gewissermaßen auf Neuerfindung ohne äußeren Impetus zurückgegangen sein könnte, ist zwar nicht auszuschließen, und niemand bestreitet die bewundernswerten Handwerksleistungen fernöstlicher Kulturen; Nut-Feder-Technik gehört jedoch, bis auf die vietnamesischen Funde, hier nicht zum Repertoire. Deren ältester zeitlicher Ansatz, wohl um die Mitte des 1.Jahrhunderts v.Chr., und der Umstand, dass dieser Teil der antiken Welt bis dahin bereits seit rund einem Jahrtausend nautisch vernetzt war 38, lassen deshalb an die fernöstliche Übernahme einer Innovation in Folge des späthellenistischen Indienhandels denken. Zwar können Verbreitungskarten verlorener oder absichtsvoll dem Boden anvertrauter Gegenstände kein lückenloses Abbild historischer Verflechtungen sein, die schriftliche und stoffliche Überlieferung fügten sich jedoch zu einem Ganzen zusammen, das auf ein Ursprungsgebiet im östlichen Mittelmeerraum verweist und am wahrscheinlichsten dem ptolemäischen Nil-Land die Geberrolle zuerkennt. 78–85. – Zu frühbyzantinischen Schiffsfunden als jüngste Zeugnisse jener Bautradition vgl. Parker, Shipwrecks (wie Anm.36), 303 Nr.787; 372f. Nr.1001, 454f. Nr.1239; Ufuk Kokabaş, The Yenikapi Byzantine-Era Shipwrecks, Istanbul, Turkey. A Preliminary Report and Inventory of the 27 Wrecks Studied by Istanbul University, in: International Journal of Nautical Archaeology 44, 2015, 5–38, bes. 12 Tab. 1, YK 34. 37

Séan McGrail, Boats of the World. From the Stone Age to Medieval Times. Oxford 2005, 262–277, 293–

310, 349–384; Bellwood et al., Ancient Boats (wie Anm.28), 18f., Abb.23. 38

Dazu etwa Himanshu Prabha Ray, The Archaeology of Seafaring in Ancient South Asia. Cambridge

2003, 103–125; Dorian Q. Fuller/Nicole Boivin/Cristina Cobo Castillo/Tom Hoogervorst/Robin G. Allaby, The Archaeobiology of Indian Ocean Translocatians. Current Outlines of Cultural Exchanges by Proto-Historic Seafarers, in: Tripati (Ed.), Maritime Contacts (wie Anm.8), 1–22.

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Ozeanische Seewege nach Indien Der große Traum des Westens in der Antike von Raimund Schulz

Der Beitrag analysiert die Voraussetzungen und politisch-wirtschaftlichen Konjunkturen, die für die Ausbildung und Umsetzung der Idee maritimer Verbindungen vom Mittelmeerraum nach Indien wesentlich waren. Eine zentrale These lautet, dass das Zusammenspiel zwischen der nautischen Kompetenz ostmediterraner Küstenstädte und den machtpolitisch-fiskalischen Interessen der großen Territorialmächte immer wieder maritime Energien entwickelte, die sich seit den Ptolemäern und dann verstärkt in der frühen Römischen Kaiserzeit auch vom Roten Meer aus ins Arabische Meer und nach Indien entfalteten und mit den Aktivitäten indischer und arabischer Seefahrer verknüpften. Die Versorgung des Mittelmeerraums mit östlichen Waren verlief in den ersten Jahrhunderten n.Chr. so reibungslos und sie war für die Beteiligten so lukrativ, dass die schon lange zuvor entwickelten Pläne einer Afrikaumrundung oder einer Atlantiküberquerung vom Westen aus nicht umgesetzt wurden und in jedem Falle nicht zur Etablierung stabiler Seerouten führten, die auch nur ansatzweise mit dem etablierten Handelsverkehr aus dem Persischen Golf und dem Roten Meer konkurrieren konnten.

I. Einleitung Der Traum, Welten des Reichtums und der Glückseligkeit über das Meer zu erreichen, ist wahrscheinlich so alt wie die Seefahrt selbst. Um ihn zu verwirklichen, sind vier Voraussetzungen nötig: Zunächst muss das Ziel die Gefahren und Risiken lohnen, welche die Götter und die Natur zu überwinden vorgegeben haben. Als Belohnung locken meist unermessliche Reichtümer sowie die Hoffnung, in einer angenehmeren Umwelt ein Leben ohne Mühe und Krankheit verbringen zu können. Zweitens benötigt man eine globale Raumvorstellung von der Lage des anzusteuernden Objektes: Kein Kapitän oder Geld- bzw. Auftraggeber schickt seine Mannschaft in völlig unbekannte Gewässer auf der Suche nach Phantomen. Er muss vielmehr eine akzeptierte, in sich stimmige geographische Gesamtkonzeption von der relativen Lage des Zieles im Verhältnis zu den bekannten Räumen und dem Weg dorthin besitzen, auch wenn die konkreten Umstände und die genaue Länge des Weges noch unbekannt sein mögen. Drittens bedarf es einer für maritim ausgerichtete Gemeinwesen typischen Disposition, die regelmäßig dazu anspornt, den Schritt auf das für den antiken Menschen gefährlichste Element zu wagen und ihn mit hoher sozialer

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110670547-004

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Anerkennung honoriert. Viertens – das ergibt sich aus dem Bisherigen – müssen die technischen und politischen Voraussetzungen gegeben sein, um nautische Erfahrungen sowie materielle Ressourcen für eine Fahrt zu einem noch nicht erreichten Ziel bereitzustellen und sich von Fehlschlägen nicht entmutigen zu lassen. Je anspruchsvoller die Aufgabe ist, desto wichtiger ist es, dass die genannten Voraussetzungen gleichzeitig und über längere Zeit gegeben sind. Häufig ist das nicht der Fall. Meist entwickeln sich die Voraussetzungen kumulativ oder treffen nur kurz aufeinander. Das gilt auch für den Traum der westlichen Oikumene, das Wunderland Indien nicht nur über die vorderasiatischen Landverbindungen und Seewege, sondern von Spanien aus südlich entlang der afrikanischen Küste oder westlich über den Okeanos zu erreichen. Er wurde nicht erst im 15.Jahrhundert n.Chr. geträumt, sondern gehört mit der Kugelgestalt der Erde zu den großen Traditionskonstanten mediterraner Zivilisationen seit der Antike. Ich werde im Folgenden aufzeigen, wie sich dieses Projekt entwickelte, warum es in der Antike trotz günstiger Rahmenbedingungen offenbar nicht verwirklicht wurde und auf welchen Wegen stattdessen die Alten den Indischen Ozean erschlossen. 1

II. Die maritimen Zugangswege im 6.Jahrhundert v.Chr. Die Geburtsstunde der okeanischen Indienfahrt vom Westen fiel ins 6.Jahrhundert v.Chr., lange bevor Alexander aufbrach, um im Osten das Ende der Welt zu suchen. Voraussetzung des maritimen Interesses war – wie so häufig – eine grundlegende machtpolitische Veränderung zu Lande. Die Perser hatten unter Kyros II. (der Große) in der zweiten Hälfte des 6.Jahrhunderts einen Herrschaftsraum erobert, der vom Mittelmeer bis nach Afghanistan und vom Kaspischen Meer bis zum Persischen Golf reichte. Sein Nachfolger Kambyses gewann mit Ägypten den zweiten Zugang zu den südlichen Wassergrenzen der nahöstlichen Welt. 2 Hinter dem Streben zu den Meeren stand ein universaler Herrschaftsanspruch, 1 Der Beitrag geht auf längere Vorarbeiten und Forschungen zurück, die teils monographisch und teils in Form von Einzelbeiträgen an anderer Stelle publiziert wurden. Der vorliegende Text baut auf diese Arbeiten auf, er enthält darüber hinaus aber auch neue Erklärungen und Nuancierungen früherer Thesen, die angesichts der boomenden Literatur der letzten Jahre vorgenommen wurden. 2 Dass Kambyses plante, Karthago anzugreifen (Hdt. 3,19,2), dürfte auf griechische Erzählungen des fünften Jahrhunderts zurückgehen, die von den Plänen der Perser nichts wussten; Herman T. Wallinga, Ships

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der sich mit strategischen und materiellen Erwägungen verband: Im Westen war die Sicherung der reichen kleinasiatischen Küstenstädte sowie der thrakischen Goldund Silberminen nur mit der Kontrolle der Ägäis möglich. 3 Im Osten lockten das Industal und der für seinen Goldstaub berühmte Punjab, ferner wertvolle Hölzer aus Gandhara (dem nördlichen Pakistan), die man für den Palast- und Schiffbau benötigte. 4 Und so entsprach es durchaus der Logik persischer Außenpolitik, wenn der neue Großkönig Dareios, der seine Position durch neue imperiale Großtaten legitimieren musste und nach ressourcenstarken Objekten militärischer Expansion suchte, auch eine Ausdehnung des Reiches im Osten anvisierte. Irgendwann in den letzten Jahrzehnten des 6.Jahrhunderts sandte Dareios – so der griechische Historiker Herodot – neben anderen einen Mann namens Skylax aus der kleinasiatischen Hafenstadt Karyanda mit Schiffen aus, um den Verlauf des Indus zu erkunden und festzustellen, wo der östlichste Fluss der Oikumene in den Ozean mündete. 5 Der gesamte Kontext, in dem sich die Expedition bewegte, deutet darauf hin, dass sie eine Eroberung des Indusgebietes vorbereiten sollte. Tatsächlich nennen persische Inschriften wenige Jahre nach der Skylaxexpedition Hindus (Sindh) als neue Satrapie. 6 Dass sich die persischen Planer dabei für den Verlauf des

and Sea-Power before the Great Persian War. The Ancestry of the Ancient Trireme. Leiden/London/Köln 1993, 83. Andererseits endete die außenpolitische Perspektive der Perser nicht am griechischen Festland, vgl. hierzu die Hinweise auf Sardinien als mögliches Angriffsobjekt (Hdt. 5,106,6; 6,2,1) und als Emigrati3 Hdt.der 3,136. onsziel Ionier (Hdt. 5,124,2). 4 Gold in Westindien: Albert Ten Olmstead, Persia and the Greek Frontier Problem, in: Classical Philology 34, 1939, 305–322, hier 308 mit Anm.7. Die Quellen bespricht Klaus Karttunen, India in Early Greek Literature. (Studia Orientalia, 65.) Helsinki 1989, 53, 171–176; Matt Waters, Ancient Persia. A Concise History of the Achaemenid Empire, 550–330 BCE. Cambridge 2014, 80; Hdt. 3,94. Dicht bewaldete Gebirge erwähnt Skylax, bei Hekat. Frg. 3 (= Athen. 2,82 p. 70 a–c) und Frg. 4 (= Athen. 2,82 p. 70 c–d). In der Susa-Inschrift ist von „yaka-Holz“ die Rede, das aus Gandhara und Karmanien herangeschafft wurde, sowie von Gold aus Sardes und Baktrien! Jack Martin Balcer, The Persian Conquest of the Greeks, 545–450. Konstanz 1995, 95; Y. B. Singh, Marine Trade Context of Harappan and Kushana Settlements of the Jammu Region, in: Grenadin E. Afanas’ev/Serge Cleuziou/John R. Lukacs/Maurizio Tosi (Eds.), The Prehistory of Asia and Oceania. Forli 1996, 193–196, hier 194 vermutet, Skylax habe einen „place of timber collection“ angesteuert; vgl. ders. Anm.9. Zu den Gewinnen in Indien vgl. auch Bruno Gallotta, Dario e l’Occidente prima delle guerre persiane. Mailand 1980, 153. 5 Hdt. 4,44. Karyanda ist bisher nicht eindeutig zu identifizieren: Alexander Zäh, Zur Lokalisierung von Karyanda in Karien, in: Jahreshefte des Österreichischen Archäologischen Instituts in Wien 73, 2004, 327– 338. 6 Willem Vogelsang, The Achaemenids and India, in: Heleen Sancisi-Weerdenburg (Ed.), Centre and Peri-

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Indus interessierten, versteht sich von selbst: Jedes Expeditionsheer benötigt schiffbare Flüsse zum Transport und zur Wasserversorgung. Große Ströme waren zudem Ausgangs- und Knotenpunkte politischer Kontrolle. Herodot erkennt jedoch noch andere Interessen. 7 Sein Hinweis, der Indus habe „als zweiter von allen Flüssen Krokodile zu bieten“ 8, deutet auf ein geographisches Konzept, das auch im griechischen und phönikischen Raum diskutiert wurde. Der andere Fluss, der außer dem Indus Krokodile beherbergte, war augenscheinlich der Nil. Einige antike Gelehrte meinten, er erstrecke sich südlich der Aithiopen nach Osten und sei mit dem Indus verbunden, während andere eine nach Westen reichende Verbindung zum vierzig Jahre zuvor entdeckten Senegal erwogen. Dareios wollte demnach offensichtlich die Ostthese überprüfen und die Möglichkeit ventilieren, ob man über eine transkontinentale Flussverbindung direkt nach Indien kommen und die südwestlichen Grenzen des Reiches mit seinen südöstlichen verbinden könne. Sollte sich die Indus-Nil-These nicht bewahrheiten, so konnte eine Expedition immerhin alternative Routen von der Indusmündung nach Westen erkunden. Dabei richtete sich das persische Interesse keineswegs in unbekannte Räume. Bereits im 3. Jahrtausend v.Chr. transportierten Schiffe aus Häfen im heutigen Pakistan Holz, Edelsteine und Metalle nach Oman und Mesopotamien und kehrten vermutlich mit Textilien wieder zurück, doch mit dem Zusammenbruch der Induskulphery. Proceedings of the Groningen 1986 Achaemenid History Workshop. Leiden 1990, 90–110; Victor Martin, La politique des Achéménides. L’Exploration prélude de la conquête, in: Museum Helveticum 22, 1965, 38–48; Hans Schiwek, Der persische Golf als Schifffahrts- und Seehandelsroute in Achaimenidischer Zeit und in der Zeit Alexanders des Großen, in: Bonner Jahrbücher 162, 1962, 4–97, hier 8ff. meint, die Eroberung sei gleichzeitig mit der Fahrt des Skylax erfolgt. In dem Parallelfall bezeugt Herodot (3,136) eine schriftliche Aufzeichnung des Küstenverlaufs, wie es von Skylax im Falle der Indienfahrt belegt ist. An der Historizität der Skylax-Fahrt wird kaum noch gezweifelt; die Argumente bei Michael Louis Allain, The Periplous of Skylax of Katyanda. Diss. Columbus, OH 1977, 54ff., und Jean-François Salles, La circumnavigation de l’Arabie dans l’antiquité classique, in: ders., L’Arabie et ses mers bordières. I: Itinéraires et voisinages. Lyon/Paris 1988, 75–102, hier 83. Zu den persischen Interessen vgl. Josef Wiesehöfer, Ein König erschließt und imaginiert sein Imperium. Persische Reichsordnung und persische Reichsbilder zur Zeit Dareios’ I. (522– 486 v.Chr.), in: Michael Rathmann (Hrsg.), Wahrnehmung und Erfassung geographischer Räume in der Antike. Mainz 2007, 31–40, hier 32. Der neu eröffnete Kanal des Necho, der seinerzeit die Afrikaumsegelung der Phöniker initiiert haben soll, wurde erst zwanzig Jahre nach der Indienexpedition ausgehoben; er gab dem Überseehandel keine Impulse, sondern war vor allem ein Prestigeobjekt. 7 Zu dem gesamten Kontext der Expedition und ihren forschungsgeschichtlichen sowie exploratorischen Voraussetzungen vgl. Raimund Schulz, Abenteurer der Ferne. Die großen Entdeckungsfahrten und das Weltwissen der Antike. 2.Aufl. Stuttgart 2016, 175–185. 8 Hdt. 4,44,11 (Übers. H.-G. Nesselrath).

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tur war der Seehandelsverkehr abgeflaut und wurde schließlich ganz aufgegeben. Den Persern selbst fehlte die nautische Expertise, um neue Verbindungen zu knüpfen, doch sie hatten das historische Glück, dass sich ihre Expansion in einer Zeit vollzog, als der mediterrane Fernhandel nicht nur mit Luxus-, sondern auch mit Massenwaren einen nie gekannten Boom erlebte und ein unerschöpfliches Reservoir an maritimen Experten produzierte, die auf neue Aufgaben warteten, so wie die Phöniker, die bereits für die Pharaonen und Hebräer die arabischen und ostafrikanischen Küsten erkundet hatten, oder eben die kleinasiatischen Karer, die als Marinespezialisten für die Perser unter anderem am Shatt al-Arab tätig waren. 9 Karyanda, die Heimat des Skylax, gehörte zum karischen Siedlungsraum innerhalb des persischen Reiches. Sie repräsentiert eine für die östliche Ägäis nicht untypische Polis, die den Nachteil eines kargen agrarischen Umlandes durch ihre günstige Lage an den großen maritimen und territorialen Verbindungswegen in den Nahen Osten ausglich und seit jeher ihre Bürger in die Ferne schickte, um als Piraten, Söldner oder Kapitäne im Dienst östlicher Königreiche reich zu werden. Solche Männer mussten wie der homerische Odysseus lernfähig und stets bereits sein, sich in ungewohnte Konstellationen und fremde Kulturen zu integrieren, um ihre nautische Expertise zur Geltung zu bringen, und sie verschafften ihrer Heimat einen Erfahrungsschatz, auf den auch die Perser gerne zurückgriffen. So lag es auch diesmal nahe, einen Mann aus Karyanda für das Indus-Abenteuer zu engagieren, wobei sicherlich auch phönikische Kapitäne teilnahmen; denn nichts befeuerte das Engagement für den Erfolg so sehr wie eine gesunde Konkurrenz um die Gunst und Gelder des Großkönigs. Skylax rechtfertigte das Vertrauen. Kombiniert man die Notizen Herodots mit den Hinweisen des etwas älteren Hekataios, so bewegte sich der Tross zunächst auf einer der bekannten Karawanenrouten nach Baktrien und fuhr dann mit einer vor Ort gebauten Flotte über den Kabulfluss den Indus hinab. 10 Am Delta bemerkte

9 Karlheinz Kessler, Neue Informationen zu den Ioniern und Karern in Babylonien, in: Amagan ErkanalÖktü/Engin Özgen/Sevinç Günel et al. (Eds.), Cultural Reflections. Studies in Honor of Hayat Erkanal. Istanbul 2006, 487–490; Karttunen, India (wie Anm.4), 41, mit Ernst Herzfeld, The Persian Empire. Wiesbaden 1968, 8f., 42ff. und 275–287; Peter Högemann, Die Bedeutung des Indischen Ozeans für die Weltmächte von Altertum und Neuzeit. Geophysikalische und geopolitische Konstanten in der Geschichte, in: Saeculum 37, 1986, 34–44, hier 36f. vermutet mit Herzfeld, dass Skylax selbst im karischen Hafen Bannesu am Persischen Golf lebte. 10 Eine knappe und gute Zusammenfassung der Lokalisierungsversuche inklusive der Fragmente bietet: Peter Lindegger, Griechische und römische Quellen zum peripheren Tibet. Teil 2: Überlieferungen von He-

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man, dass der Fluss in ein Gezeitenmeer strömte, und so war klar, dass man sich im Okeanos befand. Von dort segelte die Flotte, geleitet von indischen Lotsen, entlang der alten Wasserstraße zum Golf von Hormuz. 11 Wahrscheinlich ist sie dann aber nicht in den Persischen Golf eingebogen – diese Route war den Persern bekannt –, sondern umfuhr die Arabische Halbinsel in das Rote Meer, bis sie schließlich in den Golf von Suez gelangte, wo laut Herodot „einst König Necho die Phöniker zur Umschiffung Libyens ausgesandt hatte“. 12 Stimmen die Kombinationen, dann war Skylax der erste Seefahrer des Mittelmeers, der die Arabische Halbinsel umrundete. 13 Warum die königliche Flotte diesen gefährlichen Rückweg nahm, ist umstritten. In Südarabien vermutete man Gold und Halbedelsteine (sie werden im Alten Testament und in assyrischen Tributlisten erwähnt). 14 Sicherlich lief die königliche Flotte auch die Myrrhe- und Weihrauchregionen an, deren Schätze bislang über innerarabische Karawanenrouten in den Nahen Osten und an die ostmediterrane Küste (Gaza) gelangten. 15 Doch in erster Linie war die Fahrt (wie die Wiederherstellung des „Necho-Kanals“ in Ägypten) eine Machtdemonstration. Sie untermauerte den persischen Anspruch auf Weltherrschaft und zeigte, wie weit der Arm des Königs reichte. 16 Selbst die reichen Grenzländer der Oikumene sollten fortan mit persischer

rodot bis zu den Alexanderhistorikern. (Die nördlichen Grenzregionen Indiens). Zürich 1982, 23–28; vgl. ferner Schulz, Abenteurer (wie Anm.7), 178–182. 11

Hier siedelte der Stamm der Mukoi. Das entspricht dem in achaimenidischen Inschriften genannten

Land Maka an der Küste Karmaniens und der arabischen Küste des Golfes von Oman, Hekat. F 298; Schiwek, Persischer Golf (wie Anm.6), 14; Friedrich Gisinger, Geographie, in: RE Suppl. 4, 1924, 630f. 12

Hdt. 4,44. Vgl. Dimitri Panchenko, Scylax’s Circumnavigation of India and Its Interpretation in Early

Greek Geography, Ethnography and Cosmography, Part 2, in: Hyperboreus 9, 2003, 274–295, hier 284. 13

Jean-François Breton, Arabia Felix. From the Time of the Queen of Sheba. Eighth Century B. C. to First

Century A. D. Notre Dame 1999, 71; Schiwek, Persischer Golf (wie Anm.6), 12ff. Angezweifelt wird die Arabienumrundung von Jean-François Salles, La circumnavigation de l’Arabie dans l’antiquité classique, in: ders., L’Arabie et ses mers bordières. II: Itinéraires et voisinages. Lyon/Paris 1988, 81–86. 14

Ezechiel 27:22; Isaiah 60:6 mit Michael C. A. Macdonald, Trade Routes and Trade Goods at the Northern

End of the „Incense Road“ in the First Millenium B. C., in: Alessandra Avanzini (Ed.), Profumi d’Arabia. Atti del Convegno. (Saggi di Storia Antica, 11.) Rom 1997, 333–349, hier 344–347. 15

Nach dem Zusammenbruch des ägyptischen Punt-Handels kontrollierten die Araber auch den Handel

zwischen dem südlichen Roten Meer und dem Mittelmeer: Rodolfo Fattovich, The Contacts between Southern Arabia and the Horn of Africa in Late Prehistoric and Early Historic Times. A View from Africa, in: Avanzini (Ed.), Profumi d’Arabia (wie Anm.14), 273–286, hier 286; Mario Liverani, Early Caravan Trade between South Arabia and Mesopotamia, in: Yemen 1, 1992, 111–115. 16

Hierzu passt die (den Realitäten freilich widersprechende) Aussage der Inschriften des Dareios, er

habe durch den wiederhergestellten Necho-Kanal Schiffe bis nach Persien geschickt; vgl. Salles, Circum-

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Präsenz rechnen. Tatsächlich lieferten nach Aussage Herodots Araber und Inder in den nächsten Generationen die höchsten Tribute.

III. Der Periplus des Skylax und das ethnographische Interesse an Indien Die Skylaxexpedition enthält somit in nuce das Gemisch, das, einmal zum Zünden gebracht, die entscheidenden Energiestöße explorativer Weitungen freisetzte: Das Zusammenspiel von mediterraner Mobilität und den Ressourcen territorialer Großreiche, von maritimer Expertise und machtpolitischem Kalkül, verklammert durch die Hoffnung auf materielle Gewinne, begünstigte dabei auch die Vermittlung neuen Wissens: Karyanda lag in naher Nachbarschaft zu den großen Zentren griechischer Naturwissenschaften, die seit Beginn des 6.Jahrhunderts Anregungen östlicher Weisheitsliteratur mit der Sammlung empirischer Daten zur Erklärung der sich stetig erweiternden Welt einsetzten und Werke in Prosa verfassten, offensichtlich auch, um sich von den Erklärungen der Dichter abzusetzen und besser miteinander kommunizieren und streiten zu können. Auch der Perserkönig erwartete ebenso wie die staatlichen Auftraggeber anderer Expeditionen von seinen Kapitänen keine episch verklausulierten Schilderungen ferner Küsten und Meere, sondern nüchterne Rechenschaftsberichte über die ökologischen Bedingungen sowie die politischen und sozialen Verhältnisse der erschlossenen Küstenzonen und ihres Hinterlandes, weil nur so Eroberungszüge geplant sowie Risiken und Gewinne abgeschätzt werden konnten. Männer wie Skylax, die dem intellektuellen und seefahrenden Milieu der kleinasiatischen Küste entstammten, in der die Prosa seit der Mitte des 6.Jahrhunderts unter den Naturwissenschaftlern üblich war, konnten dieses bieten. Er bediente sich der üblichen Form der linearen Küstenbeschreibung vom Meer aus (periplus), verzichtete aber – soweit die Fragmente erkennen lassen – abgesehen davon, dass er navigation (wie Anm.13), 75f., 82f.; Högemann, Bedeutung (wie Anm.9), 36, hält zumindest die Indusfahrt für eine „Forschungsexpedition“, er spielt damit offenbar auf die Überprüfung der Nil-Indus-These an. Reine Forschungsexpeditionen gab es in der Antike freilich gar nicht. Skylaxfahrt und persischer Anspruch auf Weltherrschaft: Robert Rollinger, Dareios und Xerxes an den Rändern der Welt und die Inszenierung von Weltherrschaft. Altorientalisches bei Herodot, in: Boris Dunsch/Kai Ruffing (Hrsg.), Herodots Quellen. Die Quellen Herodots. Wiesbaden 2014, 95–116, hier 96, 109.

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wahrscheinlich die Fahrtdistanzen in Tageseinheiten wiedergab 17, auf nautisch-meteorologische Angaben über Winde, Landbrisen oder Strömungen, die für einen Seefahrer zumal in unbekannten Gewässern von so eminenter Bedeutung sind. Diese wurden offensichtlich weiterhin mündlich tradiert. 18 Stattdessen machte er recht präzise Angaben über die Natur des Landes sowie über die politischen Organisationsformen und sozialen Phänomene. 19 Sein Hinweis, das Land um den Indus sei feucht wegen der zahllosen Quellen und Kanäle, trifft zumindest für die Regenzeit zu und war insofern für den Perserkönig von besonderem Interesse, als man hieran die Wasser- und Nahrungsmittelversorgung der Armee sowie die möglichen Tribute des Landes ermessen konnte. An den Ufern – so ein weiteres Fragment – wächst Holz, an den Berghängen eine Pflanze namens kunára, was wohl mit dem griechischen Wort kinára für Artischocke identisch ist. Holz aus Indien war im Zweistromland schon immer begehrt; der Perserkönig benötigte es nicht nur zum Bau der Indusschiffe, sondern auch zur Ausstattung seiner Residenzen. Die Artischocke war als Heilpflanze bekannt; nicht von ungefähr erfuhr die Medizin am persischen Königshof eine besondere Förderung. 20 Und dass schließlich Skylax berichtet, die „Könige“ des Landes würden sich von den Regierten deutlich abheben, entspricht dem politischen Informationsbedürfnis des Königs, der vor der Eroberung des Landes wissen musste, mit wem er es zu tun hatte und wie das Land in das persische Reich zu integrieren sei. Der Periplus enthielt somit Elemente einer neuen Art von Länderbeschreibung, die wohl auch für andere Fahrtberichte maßgeblich wurde, die zum Beispiel der Karthager Hanno über seine Fahrt entlang der afrikanischen Küste an die karthagische

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Aurelio Peretti, I peripli arcaici e Scilace di Carianda, in: Francesco Prontera (Ed.), Geografia e geografi

nel mondo antico. Guida storica e critica. Rom 1990, 74–85, zu Hanno und dessen Periplus ebd.85–88. Die beste Zusammenstellung der wenigen Texte mit kluger Interpretation (und Karte) bei: Francisco J. González Ponce, Periplógrafos griegos I: Épocas Arcaica y Clásica. I: Periplo de Hanón y autores de los siglos VI y V a. C. Zaragoza 2008, 155–177. 18

Stefano Medas, De rebus nauticis. L’arte della navigazione nel mondo antico. Rom 2004, 114–117.

19

Vgl. Allain, Periplous (wie Anm.6), 62; Klaus E. Müller, Geschichte der antiken Ethnologie. Hamburg

1997, 71f. 20

J. W. De Jong, The Discovery of India by the Greeks, in: Asiatische Studien 27, 1973, 115–142, hier 136;

Karttunen, India (wie Anm.4), 25; Jean Filliozat, The Classical Doctrine of Indian Medicine. Its Origins and Its Greek Parallels. New Delhi 1964, 244, 257. Demokedes: Hdt. 3,129–138; indisches Holz in Babylonien: Himanshu P. Ray, The Winds of Change. Buddhism and the Maritime Links of Early South Asia. New Delhi/ Oxford 1994, 56.

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Regierung oder die Kapitäne Massalias ihrer Heimatstadt übergaben. 21 Skylax begnügte sich jedoch nicht mit dem nüchternen Text an seine Auftraggeber, sondern verfasste offenbar wenige Jahre nach der Rückkehr auf der Grundlage des Rechenschaftsberichtes ein Buch über Indien (Indiká) für ein breiteres griechisches Publikum (ähnlich wie der Übersetzer des Hanno-Periplus den zweiten Teil des Berichtes freier gestaltet und mit griechischen Motiven angereichert hat). 22 Erst in diesem Werk hat er die Hinweise auf die Erzeugnisse sowie die ökologischen und politischen Verhältnisse mit einheimischen Erzählungen und griechischen Erwartungen zu den später so beliebten Geschichten von den goldgrabenden Ameisen und den indischen Wundervölkern, den „Schattenfüßlern“, „Einäugigen“, „Riesenköpfigen“ und „Hundsköpfigen“ verschmolzen. 23 Skylax schuf so das Urbild eines von Reichtümern und Mirakeln strotzenden Wunderlandes, das sich seitdem unausrottbar in die kollektive Wahrnehmung der Mittelmeerwelt und des Westens eingegraben hat. Dieses Bild wurde in den folgenden Jahrhunderten durch weitere Details der am Perserhof und in den fernöstlichen Satrapien arbeitenden Griechen, vor allem aber der an indischen Heilpflanzen so interessierten Ärzte ergänzt. Viele glaubten deshalb lange vor dem Aufbruch Alexanders recht genaue Vorstellungen von dem Land zu haben, in das der Makedonenkönig seine Truppen nach dem Sieg über die Perser führte. Einiges konnten Alexander und sein Stab korrigieren – so wurde ihnen am Kaukasus und am Indus bewusst, dass es mit dem Ganges einen zweiten großen, ostwärts fließenden Strom gab und sich die Oikumene viel weiter nach Osten hin aus-

21 Zu den massaliotischen Periploi, ihrer Struktur und Überlieferung vgl. Peretti, Peripli arcaici (wie Anm.17), 74–85, zu Hanno ebd.85–88. 22 So dezidiert Doris Meyer, Hellenistische Geographie zwischen Wissenschaft und Literatur. Timosthenes von Rhodos und der griechische Periplus, in: Wolfgang Kullmann/Jochen Althoff/Markus Asper (Hrsg.), Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike. (ScripOralia, 95.) Tübingen 1998, 193–215, hier 202f.; Karttunen, India (wie Anm.4), 65 zum Prosabericht. 23 Andrea Zambrini, Gli „Indika“ di Megastene, in: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa, Classe di Lettere e Filosofia, Ser. III, Vol.12, 1982, 71–149, hier 106–108. Dass Skylax „the monstrous creatures of India“ ausschließlich nach „Greek [...] imaginations“ gestaltete (so Gordon Lindsay Campbell, Strange Creatures. Anthropology in Antiquity. London 2006, 118), ist längst durch intensive Forschungen widerlegt: vgl. etwa Wilhelm Reese, Die griechischen Nachrichten über Indien bis zum Feldzuge Alexanders des Großen. Leipzig 1914, 49–52; Karttunen, India (wie Anm.4), 132; Campbell macht zudem keinen Unterschied zwischen dem Rechenschaftsbericht an Dareios und der späteren Überarbeitung und wundert sich dementsprechend grundlos, welches Interesse der Perserkönig an den Wundervölkern gehabt haben könnte.

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dehnte. Davon abgesehen bewegten sich jedoch die Makedonen auf bekannten Pfaden, wie überhaupt die Vorstellung, erst Alexander habe dem Westen das indische Wunderland erschlossen, wenig mehr ist als eine idealisierende Propaganda seiner Hofhistoriker. Kein Feldherr führt sein Heer in völlig unbekanntes Gelände. Und so erschloss denn auch Alexander wie Skylax und nicht wenige Griechen vor ihm das Kabultal über Baktrien, fuhr den Indus hinab und ließ eine Flotte unter dem Kreter Nearchos westwärts segeln. Dieser bog dann aber in den Persischen Golf ein, weil er sich mit der durch die Gedrosische Wüste marschierenden Landarmee treffen musste. Die Idee, die Oikumene weiter im Süden zu umfahren, blieb jedoch lebendig. Kaum in Babylon, traf Alexander umfangreiche Vorbereitungen, um anknüpfend an persische Bemühungen die arabische Küste nicht nur vom Persischen Golf, sondern auch vom Roten Meer aus zu umschiffen. Diese Versuche blieben jedoch erfolglos oder wurden durch den Tod Alexanders zunichtegemacht.

IV. Geographische Vorstellungen der Oikumene und das Erdkugelmodell In vielerlei Hinsicht hat demnach Alexander nur das wiederholt oder zu wiederholen versucht, was bereits die Perser unter Dareios durchgeführt hatten. Der „wissenschaftliche“ Ehrgeiz, vage Bekanntes oder Umstrittenes zu überprüfen und sich mit den Leistungen früherer Herrscher zu messen, spielte dabei gewiss eine genauso wichtige Rolle wie das Bemühen, größere Feldzüge durch eine Klärung der geostrategischen und logistischen Rahmenbedingungen vorzubereiten. Hinzu kamen – wie eigentlich immer – materielle und fiskalische Erwartungen. Die Initiative zur Erkundung der östlichen und südlichen Ozeane ging von Herrschern aus, die ihre maritimen Expeditionen nur mit Hilfe griechischer und phönikischer Seefahrer durchführen konnten, ihre Reiche von territorialen Zentren aus regierten sowie von den Handelsströmen durch Zölle und Abgaben zu profitieren suchten. Die von den Persern und Alexander betriebene Anlage von Hafenplätzen am Persischen Golf (Aginis = Alexandria; das spätere Spasinou Charax) diente der Kontrolle, Sicherung sowie fiskalischen Abschöpfung des bestehenden, von Indern und Arabern betriebenen Seehandels. Eine Regulierung zum Vorteil eigener Handelsunternehmungen oder gar eigener Handelsschiffe verfolgte sie jedoch nicht. Nicht von ungefähr konn-

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te sich auch die von Nearchos auf der Rückfahrt vom Indus erkundete Route entlang der Küste Gedrosiens (Belutschistan) nie als eine vielbenutzte, reguläre Handelsroute etablieren. 24 Dennoch haben die von ihnen in Auftrag gegebenen Erkundungen nicht nur das Bild der östlichen und südöstlichen Weltränder erweitert und verfestigt – erst mit dem Vorstoß der Kapitäne Alexanders wurde die bis dahin nur schemenhaft wahrgenommene Arabische Halbinsel endgültig zum festen Bestandteil der mediterranen Weltsicht; sie haben auch dem Nachdenken über die Beschaffenheit der bekannten Welt (Oikumene) und ihrem Verhältnis zu den Meeren entscheidende Impulse gegeben. Denn die periploi sowie die aus ihnen entwickelten Bücher über einzelne Großräume und ihre Völker besaßen neben ihrem länderkundlich-ethnographischen Gehalt immer auch eine wichtige geographische Dimension. Sie begründeten den für die spätere Geographie zentralen Grundsatz, die Welt vom Meer aus zu beschreiben und die Küste und ihr Hinterland zum Angelpunkt geographischer Ordnungsbemühungen zu erheben. 25 Gleichermaßen boten die von den Seefahrern gelieferten Berichte das Material, um die Einzelbausteine in eine umfassende Gesamtdarstellung der Welt einzufügen und den abstrakt-geometrischen Karten der ionischen Naturphilosophen eine der Realität näherkommende Darstellung entgegenzusetzen. So fügte Hekataios aus der alten Hafenstadt Milet Angaben von Expeditionsberichten wie die des Skylax, das koloniale Wissen seiner Heimatstadt sowie eigene Reisefrüchte und Erkundigungen in eine Gesamtdarstellung der Erde ein in Form einer „Reise um die Welt“ (periodos, periegesis ges). 26 Sie wurde den ionischen „Erdkarten“ als Erläuterung hinzugefügt; wahrscheinlich hat er zusätzlich eine eigene Karte angefertigt. Diese teilte die Erde in eine halbkreisförmige Nordund Südhälfte, die mit Europa und Asien gleichgesetzt wurden; vielleicht hat er sich Libyen als dritte Landmasse gedacht. 27 Europa und Asien sind durch eine von West

24 André Tchernia, The Romans and Trade. Oxford 2016, 229. 25 Pascal Arnaud, Les routes de la navigation antique. Itineraires en Mediterranée. Paris 2005, 65. 26 Felix Jacoby, Hekataios (3), in: RE 7, 1912, 2687f., 2700; Francesco Prontera, Hekataios und die Weltkarte des Herodot, in: Dietrich Papenfuß/Volker Michael Strocka (Hrsg.), Gab es das griechische Wunder? Griechenland zwischen dem Ende des 6. und der Mitte des 5.Jahrhunderts v.Chr. Mainz 2001, 127–135, hier 130; Skylax und Hekataios: Zambrini, Indika (wie Anm.23), 107f.; Karttunen, India (wie Anm.4), 69. 27 Friedrich Gisinger, Geographie, in: RE Suppl. 4, 1924, 553; Stephan Heilen, Die Anfänge der wissenschaftlichen Geographie. Anaximander und Hekataios, in: Wolfgang Hübner (Hrsg.), Geographie und verwandte Wissenschaften. Stuttgart 2000, 33–54, hier 48; Hans-Joachim Gehrke, Raumbilder in der griechischen Geo-

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(Gibraltar) nach Ost (Phasis = Rion) verlaufende Wasserlinie voneinander getrennt; daneben nahm Hekataios eine durchgehende Nord-Süd-Linie von der Donau zum Nil an. Sie teilte die Erde in vier Quadranten. Innerhalb der Quadranten waren Länder und Landschaften in Form geometrischer Figuren (Vierecke, Kreise, Trapeze) konzipiert. 28 Herodot löste sich zwei Generationen später endgültig von der Kreisform der ionischen Oikumenekarten und suchte das inzwischen erneut vermehrte empirische Material in das Bild der Weltränder einzufügen. Sein Wissen über die südöstlichen Meere und Küstenverläufe blieb jedoch trotz der Kenntnis des Skylaxberichtes und anderer Expeditionen recht rudimentär. Immerhin weiß er von mehreren Versuchen der Karthager und Phöniker (sowie möglicherweise der Perser), Afrika im Süden zu umfahren. 29 Mehr oder weniger parallel zu den Bemühungen, die Oberfläche der bekannten Welt sowie das Verhältnis von Land- und Meeresräumen zu erfassen, verbreitete sich unter den Gelehrten die wohl erstmals in den Kreisen der Pythagoreer Unteritaliens entwickelte These von der Kugelgestalt der Erde. 30 Dieses Weltbild eröffnete theoretisch weitere Zugangswege nach Indien, die durch das ältere, vom Okeanos umringte Scheibenmodell noch weitgehend ausgeschlossen waren: Aristoteles formulierte im 4.Jahrhundert v.Chr. Beweise für die Kugelgestalt und hielt es für wahrscheinlich, dass „die Gegend um die Säulen des Herakles“ (also Spanien und Westafrika) mit Indien durch ein einziges Meer verbunden war und demnach durchfahren werden konnte. 31 Da sich die Erdumfangsmessungen von einem anfangs noch recht hohen Wert (400000 Stadien = ca. 65000 km wohl bei Eudoxos von Knidos) in den folgenden Jahrhunderten stetig (auf bis 180000 Stadien = 33 400 km bei Poseidonios) verringerten, gleichzeitig die Ost-West-Ausdehnung der bekannten Welt nach dem Alexanderzug in der Wahrnehmung der Zeitgenossen zunahm, musste der Ab-

graphie, in: Theodora Hantos/Gustav Adolf Lehmann (Hrsg.), Althistorisches Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstages von Jochen Bleicken. Stuttgart 1996, 29–42, hier 37f. 28

Heilen, Anfänge (wie Anm.27), 37f.

29

Hdt. 2,19–28; 4,36–44, die Kapitel zur Umschiffung Afrikas: 4,42–43. Zu wenig wird beachtet, dass er

ganz explizit zu dem Perser Sataspes sagt (4,43,1): „Denn Sataspes jedenfalls, der Sohn des Teaspis und ein Achaimenide, hat Libyen nicht umfahren – obwohl er genau dazu ausgesandt worden war.“ 30

Vgl. Schulz, Abenteurer der Ferne (wie Anm.7), 146f.; M. R. Wright, Cosmology in Antiquity. London/

New York 1995, 40. 31

Aristot. Cael. 2,14 298a; meteor. 2,5.362 b 27ff.; Hugo Berger, Geschichte der Wissenschaftlichen Erd-

kunde der Griechen. Leipzig 1903, 317–319.

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Abb.1: Globusmodell des Krates von Mallos; Quelle: Edward L. Stevenson, Terrestrial and Celestial Globes. New Haven 1921, Vol.1, Abb 15.

stand zwischen deren Enden, also Indien im Osten und Spanien im Westen, immer geringer ausfallen. Doch wie gestaltete sich dieser Raum? Platon hatte behauptet, es gebe neben der bekannten Oikumene noch weitere Erdinseln im Okeanos. Nimmt man seine These von den vier Erdströmen hinzu, so ergibt sich eine Erdkugel, die von zwei sich rechtwinklig kreuzenden „Gürtelozeanen“ in vier Oikumenen geteilt wird; dieses Konstrukt bildete die Grundlage für das berühmte Globusmodell des Krates von Mallos (Abb.1). 32 Das durch die Ozeane gebildete rechte obere Dreieckssegment wäre die bekannte Oikumene, das darunter die Gegenoikumene (Antioiken), die ihnen jeweils gegenüberliegenden Felder die Oikumene der Periöken und der Antipoden. Eine andere Variante bot die Atlantiserzählung. Hier umschließt ein riesiges Festland vom Westen aus den Atlantik, eine Vorstellung, die bis in die römische Kaiser-

32 Plat. Phaid. 109 b, 112e; Berger, Geschichte (wie Anm.31), 314; William Graham Lister Randles, Classical Models of World Geography and Their Transformation Following the Discovery of America, in: Wolfgang Haase/Meyer Reinhold (Eds.), The Classical Tradition and the Americas. Vol.1: European Images of the Americas and the Classical Tradition. Berlin 1994, 5–76, hier 10f.

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zeit von verschieden Autoren (u.a. Plutarch) bewahrt wurde. 33 Gleichzeitig bevölkerten zahlreiche größere und kleinere Inseln die westlichen und östlichen Ozeane. All diese Konstruktionen verbanden alte Mythen mit dem Bedürfnis, die Grenzen der Oikumene im Verhältnis zum Weltmeer genauer zu bestimmen. Gleiches gilt für das dritte, für den Seeweg nach Indien wichtige Diskussionsfeld, nämlich die Frage, ob man Afrika von Westen aus südlich umfahren konnte. Obwohl die berühmte Hanno-Expedition wahrscheinlich bis zum Golf von Benin gekommen war 34, wusste man im 5. und 4.Jahrhundert nichts Genaues von der Südausdehnung Afrikas, sondern vermutete nur eine leicht gewölbte Begrenzung mit einem kleinen Knick bis zum Roten Meer. Diese fiel in etwa zusammen mit der sogenannten verbrannten Zone, die nach Auffassung der meisten Gelehrten die gemäßigte Zone der Nordhalbkugel von der Südhalbkugel trennte. Allerdings legten phönikische Expeditionsberichte nahe, dass man auch sie überwinden könne und jenseits von ihr Leben möglich sei, vielleicht auf einem großen Südkontinent, den man später terra australis nannte. 35 Bereits im 4.Jahrhundert v.Chr. waren damit nicht nur einprägsame ethnographische Bilder des Zielgebietes Indien, sondern auch verschiedene Thesen globaler Raumkonstruktion entwickelt, die in der Antike immer wieder aufgegriffen wurden und von nun an über 2000 Jahre die Diskussion über die Frage einer ozeanischen Indienfahrt bestimmen sollten: 1. dass der Seeweg über den Atlantik durch Inseln oder einen Kontinent versperrt sein könnte; 2. alternativ, dass es eine freie Durchfahrt durch einen schmalen Atlantik gebe, bei der Inseln als Sprungbett dienen könnten; das gleiche 3. im Süden: dass man Indien um Afrika herum erreichen könne, aber 4. auch damit rechnen musste, auf Landmassen südlich der verbrannten Zone zu stoßen. Derlei Überlegungen erreichten zwar nicht den Denkhorizont des einfachen Küstenkapitäns, sie gehörten aber zum Wissensinventar der literarisch tätigen Expeditionsleiter monarchischer Auftraggeber in der Zeit nach Alexander. Hochseenavigation war ihnen vertraut, und auch der Stand der nautischen Technik und Logis-

33

Plat. Tim. 24e–25a; Klaus Geus, Utopie und Geographie. Zum Weltbild der Griechen in frühhellenisti-

scher Zeit, in: Orbis Terrarum 6, 2000, 55–90, hier 58 Anm.14. 34

Vgl. den Beitrag von Duane W. Roller in diesem Band.

35

Plat. Tim. 63a; Stephan Heilen, Eudoxos von Knidos und Pytheas von Massilia, in: Georg Wöhrle (Hrsg.),

Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften in der Antike. Bd. 2: Geographie und verwandte Wissenschaften. Stuttgart 2000, 55–73, hier 59; Karl Abel, Zone, in: RE 14, 1974, 989–1188, hier 1002f.

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tik sprach nicht gegen längere Erkundungsfahrten. 36 Einer Überprüfung der Konzepte stand somit grundsätzlich nichts im Wege.

V. Die Entdeckung des Monsunsystems und der Seeweg nach Indien über das Rote Meer Dass man dies dennoch nicht oder jedenfalls nicht konsequent tat, lag abgesehen davon, dass die These von der Kugelgestalt im 4.Jahrhundert noch nicht Allgemeingut war und im griechischen Denken traditionell theoretische Konzepte nur selten auf praktische Verwirklichung zielten, schlichtweg daran, dass es hierfür keine Notwendigkeit gab. Seefahrt war in der Antike wie überall und zu allen Zeiten ein sehr pragmatisches, Kosten und Risiken abwägendes Geschäft, das die politischen Konstellationen, wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und bestehenden Handelssysteme in die Entscheidungen miteinbezog. All diese Faktoren verbanden sich mit den zu erwartenden nautischen Problemen unbekannter oder noch wenig erschlossener Gewässer, die es natürlich auch in Rechnung zu stellen galt. Dies gilt insbesondere für das Rote Meer, das – neben dem Persischen Golf – zweite große maritime Einfallstor des nahöstlichen Mittelmeerraums in den Indischen Ozean. Das Rote Meer barg spezifische Probleme, es war gefürchtet wegen seiner Windstillen im Norden, der gefährlichen Riffe und wasserlosen Küsten sowie der Gluthitze, die dem Seefahrer wie in keinem anderen Meer zu schaffen macht. 37 Seine Längsausdehnung von rund 2200 Kilometer entspricht in etwa der Entfernung von der Levante bis nach Sardinien. Im Gegensatz zum Mittelmeer besaß das Rote Meer jedoch keine größeren und fruchtbaren Inseln, die ein bequemes „island hopping“ ermöglichten, und die ungünstigen Windverhältnisse erschwerten die Etablierung großräumiger maritimer Carreras. 38 Auch deshalb konnte eine Erschließung des Indischen Ozeans vom Bab el-Mandeb aus zumindest für

36 Schulz, Abenteurer der Ferne (wie Anm.7), 431. 37 Dom Joam de Castro schrieb nach der Rückkehr von der portugiesischen Rotmeerexpedition 1541: „Dieses Meer […] birgt mehr Schwierigkeiten als der Große Ozean selbst, alles trägt zu diesen Schwierigkeiten bei, die Windrichtungen, der Mangel an Trinkwasser“; zit. nach der englischen Übersetzung bei David Fabre, Seafaring in Ancient Egypt. London 2004/05, 36; Arthur Kammerer, Le routier de Dom Juan des Castro. L’exploration de la mer Rouge par les Portugais en 1541. Lissabon 1936. 38 Vgl. William Facey, The Red Sea. The Wind Regime and Location of Ports, in: Paul Lunde/Alexandra

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vorderasiatische Regenten keine primäre Option sein, während die Pharaonen seit frühester Zeit immerhin einige Seeexpeditionen entlang der Küsten bis ins legendäre Punt, also mindestens bis zum Golf von Aden geführt hatten. 39 Doch auch hieraus entstand – solange es nicht genügend künstliche Anlaufstellen und Häfen entlang der Küsten gab – kein regelmäßiger Handelsverkehr. Die möglichen Gewinne einer Weiterfahrt entlang der südarabischen Küste und von dort nach Indien lohnten den Aufwand und die unvorhersehbaren Risiken nicht. Angesichts der reibungslosen Versorgung mit arabischen und fernöstlichen Produkten über Karawanen und einheimische Schiffer sowie wegen der gut funktionierenden Abschöpfung des Handels durch penibel arbeitende Zollstationen fehlte ein ausreichender Handlungsdruck. Eine Direktfahrt nach Indien scheiterte zudem an der westlichen Unkenntnis des Monsunsystems sowie der Tatsache, dass man keine klare Vorstellung von der Südausdehnung des Subkontinents besaß und deshalb fürchtete, an Indien vorbei in die endlosen Weiten des Okeanos getrieben zu werden. 40 Wie häufig in der Geschichte der Entdeckungen bedurfte es eines Zusammenspiels mehrerer Faktoren in einer sich wandelnden politischen Gesamtkonstellation, die Veränderungen bewirkten. Mit den Ptolemäern und den Seleukiden (im asiatischen Raum) des ehemaligen Perserreiches etablierten sich nach Alexander zwei prosperierende Territorialstaaten, die intensive Handelskontakte zum indischen Maurya-Reich unterhielten. Während man an den Höfen der Mauryas Wein, Sklaven, Glas und rötliche Koralle zu schätzen lernte, wuchs in den hellenistischen Metropolen der Bedarf an fernöstlichen Heilpflanzen, Kosmetika und Aromatika, die über arabische und indische Händler in den Westen gelangten. Gleichzeitig erweiterte die jahrelange Anwesenheit griechischer Gesandter an der Residenz der Mauryas das Wissen über die südliche Ausdehnung des Subkontinentes. Damit schwand

Portzer (Eds.), Trade and Travel in the Red Sea Region. Proceedings of Red Sea Project I Held in the British Museum October 2002. (Society for Arabian Studies, Monographs, 2.) Oxford 2004, 7–17. 39

Die Literatur zu diesem Thema ist Legion. Einen guten Überblick bietet: Kenneth Anderson Kitchen, The

Elusive Land of Punt Revisited, in: Lunde/Portzer (Eds.),Trade and Travel (wie Anm.38), 25–31. Wichtig sind die jüngeren archäologischen Erkenntnisse, welche die Reichweite pharaonischer Schifffahrt und ihre infrastrukturellen Grundlagen bestätigen: Pierre Tallet, The Egyptians on the Red Sea Shore during the Pharaonic Era, in: Marie-Françoise Boussac/Jean-François Salles/Jean-Baptiste Yon (Eds.), Ports of the Indian Ocean. New Delhi 2016, 3–19; ebd.21–40: Cheryl Ward/Chiara Zazzaro, Ship Related Activities at the Pharaonic Harbour of Mersa Gawasis. 40

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Schulz, Abenteurer der Ferne (wie Anm.7), 302f.

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die für westliche Seefahrer so drängende Furcht, bei einer Ozeanfahrt vom Roten Meer aus an Indien vorbeizusegeln. 41 Derartige Überlegungen verknüpften sich im 2.Jahrhundert v.Chr. mit handfesten politisch-materiellen Motiven. Beide hellenistische Reiche hatten inzwischen durch kostspielige Kriege den finanziellen Startvorteil verspielt, den ihnen Alexander und die Schätze der Perser hinterlassen hatten. Die römische Expansion engte die Handlungsspielräume im Mittelmeer weiter ein, und so suchten die Könige dort nach Geldquellen und Einflusssphären, wo geringer Widerstand zu erwarten war. Während sich die Seleukiden dem Persischen Golf zuwandten, richtete sich das ptolemäische Interesse auf die Rotmeerküsten. Eine Reihe von Kolonien – unter ihnen Myos Hormos und das 300 Kilometer südlicher gelegene Berenike 42 – waren zunächst noch im 3.Jahrhundert v.Chr. als Ausgangs- und Verschiffungshäfen für die Elefantenjagd sowie zur Versorgung der Armee mit nubischem Gold konzipiert, konnten aber, spätestens nachdem die Elefantenversorgung im 2.Jahrhundert einschlief, auch als Zwischen- und Ausgangsstationen weiterer maritimer Erkundung dienen. 43 Um in die Geheimnisse des Monsunsystems einzudringen, bedurfte es offenbar der Mithilfe indischer Lotsen und Seeleute. 44 Sie kamen mindestens bis zur Insel Sokotra, dem wichtigen Treffpunkt indischer, persisch-iranischer und wohl auch ägyptischer Kaufleute am Ausgang des Roten Meeres, der auch den Ptolemäern bekannt war 45, und konnten von ptolemäischen Patrouillen nach Alexandria geleitet

41 Albrecht Dihle, Die entdeckungsgeschichtlichen Voraussetzungen des Indienhandels der römischen Kaiserzeit, in: ANRW 2,9,2, 1978, 551ff. Dass diese Furcht auch in den folgenden Jahrhunderten nie gänzlich ausgeräumt wurde, bestätigt noch Kosmas Indikopleustes, Topographia 2,133, der erzählt, wie ängstlich Seefahrer auf Ihrer Reise nach Sri Lanka waren, in den „Großen Ozean“ getrieben zu werden. 42 Zu beiden vgl. die Zusammenfassung von Roberta Tomber, Living in the Egyptian Ports. Daily Life at Berenike and Myos Hormos, in: Boussac/Salles/Yon (Eds.), Ports (wie Anm.39), 41–57. 43 Strab. 16,4,5; Plin. nat. 6, 167–168; Stanley M. Burstein, Ivory and Ptolemaic Exploration of the Red Sea. The Missing Factor, in: Topoi 6/2, 1996, 799–807. Kolonisationspolitik: Jehan Desanges, Recherches sur l’activité des Méditerranéens aux confins de l’Afrique. Rom 1978, 267ff.; Elefantenjagd und Hafenanlagen: Matthew Adam Cobb, Rome and the Indian Ocean Trade from Augustus to the Early Third Century CE. Leiden/Boston 2018, 58f. 44 Zur Rolle arabischer Kaufleute und ihrer Kenntnis des Monsuns vgl. Cobb, Rome (wie Anm.43), 43 und 116. Diese benutzten offenbar den Monsun gar nicht für Direktfahrten und hatten deshalb auch keinen Grund, ihre Kenntnisse zu verheimlichen. 45 Vgl. Cobb, Rome (wie Anm.43), 35; Ingo Strauch, Indian Inscriptions from Cave Hoq at Socotra, in: Boussac/Salles/Yon (Eds.), Ports (wie Anm.39), 79–97.

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werden. Wie seinerseits der Perserkönig sich die Mithilfe eines karischen Kapitäns zunutze machte, so griff der Ptolemäerkönig zusätzlich auf das Knowhow griechischer Seefahrer zurück. Einer von ihnen war Eudoxos, ein angesehener Bürger aus Kyzikos, dessen Heimatstadt offenbar bereits über Land Handelsverbindungen nach Indien pflegte. 46 Wiederum entfalteten sich also die explorativen Energien ähnlich wie in der Frühen Neuzeit aus dem Zusammenspiel zwischen den politischen und fiskalischen Zielen eines monarchischen Herrschers und der maritimen Expertise mediterraner Küstenstädte, die ihren Bürgern alle Freiheiten ließ, um in der Ferne und im Auftrag mächtiger Könige reich und berühmt zu werden. Die Kooperation funktionierte auch diesmal. Nach einer zweimaligen Überquerung des Indischen Ozeans konnte der Ptolemäerkönig nicht nur eine wertvolle Ladung indischer Waren in Empfang nehmen, sondern mit regelmäßigeren und um ein Dreivierteljahr verkürzten Direktfahrten nach Indien rechnen. 47 Die Suche nach alternativen Routen stand nicht zur Debatte, weil das bisher Erreichte genügend Vorteile versprach: Zölle und Gebühren sicherten den Ptolemäern fortan wichtige Einnahmen und waren offenbar Grund genug, sich ähnlich wie die Seleukiden im Persischen Golf noch stärker der fiskalischen Kontrolle und militärischen Sicherung der Routen zumal gegen arabische Piraten (Nabatäer) zu widmen. 48 Erst jetzt und mit dieser Rückendeckung wagten sich griechische Seefahrer durch den Bab elMandeb noch weiter südlich entlang der ostafrikanischen Küsten und stießen in den folgenden Generationen bis in die Straße von Sansibar und zum Kap Delgado vor. 49 Vielleicht trafen sie hier bereits auf austronesische Seefahrer, die spätestens im 1.Jahrhundert n.Chr. fernöstliche Gewürze über das offene Meer bis nach Madagaskar brachten. 50

46

Vgl. Schulz, Abenteurer der Ferne (wie Anm.7), 301–304 mit Belegen. Zur Stellung des Eudoxos und

seinen Zielen vgl. auch Marie Laffranque, Poseidonios, Eudoxe de Cyzique et la circumnavigation de l’Afrique, in: Revue Philosophique 153, 1963, 199–222, hier 206–208, sowie Cobb, Rome (wie Anm.43), 41f. 47

Vgl. Schulz, Abenteurer der Ferne (wie Anm.7), 301–304 mit Quellen und Literatur.

48

Vgl. Cobb, Rome (wie Anm.43), 31, mit Strab. 2,3,4–5; Diod. 3,381,1–5 (Agatharchides 5,81).

49

Griechen in Adulis und auf Sokotra unter den Ptolemäern: Jean-François Salles, Archaemenid and Hel-

lenistic Trade in the Indian Ocean, in: Jean Reade (Ed.), The Indian Ocean in Antiquity. London/New York 1996, 251–267, hier 259. 50

Felix Chami, Ancient Seafaring in Eastern African Indian Ocean Waters, in: Pascal Arnaud/Philip de

Souza (Eds.), The Sea in History. The Ancient World / La mer dans l’histoire. L’Antiquité. Woodbridge 2017, 526, mit dem älteren Werk von James Innes Miller, The Spice Trade of the Roman Empire 29 B. C. to A. D. 641. Oxford 1969.

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VI. Rom und der Indische Ozean Wie sah es aber mit den weiter im Westen gelegenen Mächten aus? Die Nachricht, dass das Südmeer für mediterrane Seefahrer auch von seiner westlichen Flanke aus und unter Umgehung arabischer Zwischenhändler befahrbar war, traf auch im westlichen Mittelmeer auf offene Ohren. Karthago hatte schon immer großes Interesse an der Erkundung des Atlantiks und einer Südroute um Afrika gezeigt, die Hanno-Expedition ist wohl das berühmteste Beispiel für derartige Bemühungen. 51 Die Kämpfe mit Rom ließen jedoch offenbar weitere Initiativen erlahmen, und auch der Versuch des Eudoxos, der nach seiner Expedition vom Roten Meer aus an die Westküste Indiens von Gades aus südlich um Afrika in den Indischen Ozean vorzustoßen suchte, wurde von den staatlichen Autoritäten des Westens wenig unterstützt und blieb deshalb wohl auch erfolglos; der Kapitän und seine Mannschaft galten als verschollen. 52 Der entscheidende Grund war auch hier: Die Anstrengungen schienen sich nicht zu lohnen, weil die Routen über das Mittelmeer sowie vom Persischen Golf und Roten Meer aus praktikabler und etablierter waren und diejenigen Poleis wie Massalia, Karthago oder Gades, die Erfahrung mit solchen maritimen Großexpeditionen hatten, Fahrten an die Küsten und großen Ströme Westafrikas (Senegal) 53 und zu den nordatlantischen Zinninseln und Bernsteinvorkommen als viel lukrativer einschätzten als eine Südumrundung Afrikas. Die Römer selbst hatten in etwa zeitlich parallel mit der Entdeckung des Monsun51 Vgl. den Beitrag von Duane W. Roller in diesem Band. 52 Zu der langen und mühsamen Vorlaufphase der Eudoxosexpedition von Spanien: Schulz, Abenteurer der Ferne (wie Anm.7), 308–311; ferner Gabriella Amiotti, La via del India: Eudosso di Cizico, precursore di Cristoforo Colombo, in: Geographia Antiqua 13, 2004, 112–116. An der Essenz der Geschichte ist nicht zu zweifeln: vgl. Duane W. Roller, The Strange Tale of Eudoxos of Kyzikos. Adventurer and Explorer of the Hellenistic World, in: Francisco Marco Simón/Francisco Pina Polo/José Remesal Rodríguez (Eds.), Viajeros, peregrinos y aventureros en el mundo antiguo. Barcelona 2010, 95–99, hier 98. Kritischer auch grundsätzlich zu den Möglichkeiten einer Ost-Westumfahrung Afrikas in der Antike: Manuel Albaladejo Vivero, Algunas consideraciones críticas sobre los viajes de Eudoxo de Cícico, in: Gerión 25, 2007, 235–248. 53 Zu den offenbar recht beschränkten Aktionsbereichen der gaditanischen Fischer und Seefahrer südlich bis auf die Höhe von Lixos vgl. Rahmoune El Houcine, Les périples de Poseidonius et d’Eudoxe de Cyzique et les contraintes de la navigation en Occident, in: L’Africa romana XIV, Sassari 2000. Rom 2002, 105–121, hier 120. Die Massalier kamen mindestens bis zum Senegal: Raimund Schulz, Over the Water and across the Desert – Trans-Saharan Contacts of the Mediterranean World in the 6th and 5th Century BC, in: Journal of Ancient Civilizations 32, 2017, 147–174, hier 153.

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systems durch die Ptolemäer ihre Herrschaft bis in das östliche Mittelmeer ausgedehnt. Die Siege im Osten schwemmten Unmengen an Beute und Geld an den Tiber und erzeugten zusammen mit den Einflüssen hellenistischer Weltkultur zumal in Kreisen der Eliten einen wachsenden Bedarf nach östlichen Luxusprodukten. Dieser Bedarf ließ westliche Händler auf große Verdienstspannen hoffen und förderte bereits im 2.Jahrhundert v.Chr. multiethnische Konsortien. Plautus erwähnt einen aus Indien heimkehrenden trapezites (Bankier) und naukleros (Kapitän oder Schiffseigner); ein Darlehensvertrag aus der Zeit des Eudoxos bezieht sich auf ein „gewürzerzeugendes Land“, wahrscheinlich Somalia; Teilhaber des Geschäftes waren unter anderem ein Massiliote, ein Karthager und ein Italiker. 54 Die Bürgerkriege absorbierten dann noch einmal alle Energien und verhinderten zunächst, dass sich aus der Gier nach östlichen Exotika eine neue Dynamik der Fernerkundung entfalten konnte. Erst die augusteische Pax Romana änderte das. Augustus schuf einen politisch integrierten Herrschaftsraum, der das gesamte Mittelmeer und seine Anrainer umfasste, und er verfügte nach der Einverleibung Ägyptens über gewaltige finanzielle Mittel, die über die Ausgaben für die Armee, Baumaßnahmen und Schenkungen die Wirtschaft stimulierten sowie neue Bedarfspotentiale erzeugten. Der stete Zufluss und die Bereitstellung liquider Mittel, eine allgemeine Produktionssteigerung, technische Erfindungen im Schiffs- und Hafenbau, ein hoher Grad an elementarer Bildung und Schriftlichkeit, rechtliche und politische Stabilität sowie eine äußerst günstige außenpolitische Gesamtlage bewirkten, dass sich das Imperium zum wirtschaftlich fortgeschrittensten Reich der Antike entwickelte mit einer Konzentration von Ressourcen und Handelsenergien in einem globalen Raum, wie sie erst wieder die Zeit der transatlantischen Großreiche Europas im 17. und 18. Jahrhundert erleben sollte. 55 Nach der Inkorporierung Ägyptens als augusteisches Kronland konnten sich diese Energien nun auch in den Indischen Ozean hinein entfalten. Die entscheidenden Antriebskräfte bildeten dabei nicht mehr nur die finanzielle Potenz der superreichen Eliten und ihr luxuriöser Lebensstil; angespornt durch die politische und be54

Plaut. Cn. 426; P. Berl. 5883 und 5835; SB III 7169; Robert Whittaker, Indian Trade within the Roman Im-

perial Network, in: ders. (Ed.), Rome and Its Frontiers. The Dynamics of Empire. London/New York 2004, 163–180, hier 163; Cobb, Rome (wie Anm.43), 48. 55

Robert Bruce Hitchner, „The Advantages of Wealth and Luxury“. The Case for Economic Growth in the

Roman Empire, in: Joseph G. Manning/Ian Morris (Eds.), The Ancient Economy. Evidence and Models. Stanford 2005, 207–222, hier 207, 209, 211: „[…] a truly global economy“.

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rufliche Sicherheit, die der Prinzipat bot, fanden nun auch die Armee sowie große Teile der urbanen Mittelschicht Gefallen am Konsum von Pfeffer und östlichen Kosmetika. Manche Forscher sprechen von einer regelrechten „consumer revolution“. 56 Mitunter hat man vermutet, dass sich auch die kaiserliche Zentrale von diesem Fieber anstecken ließ und ihre Außen- und Kriegspolitik gezielt darauf ausrichtete, den Nachschub sowie den Erwerb fernöstlicher Waren durch römische Händler zu erleichtern. 57 So verlockend diese Annahme auch ist, sie hält einer kritischen Überprüfung der Quellen nicht stand. Dass sich im 1.Jahrhundert immer mehr Reichsbewohner am florierenden Seehandel beteiligten, hat mit wachsenden Bedürfnissen westlicher Abnehmer und dem Niedergang innerarabischer Karawanenwege zu tun; die kaiserliche Politik brauchte hier gar nicht fördernd einzugreifen. 58 Sie orientierte sich durchweg an den politisch und fiskalisch motivierten Maßnahmen ihrer Vorgänger und führte diese nach einer Phase des Experimentierens und der Erkundung nur mit größerem Einsatz fort. 59 Nachdem die Feldzüge des Aelius Gallus sowie des Augustus-Enkels Gaius geklärt hatten, dass eine Ausdehnung direkter Herrschaft in die Weihrauchgebiete Südarabiens unrealistisch war, sollte (wie später in Germanien) ein Netzwerk von Freundschaftsverträgen mit arabischen, indischen und später sogar ceylonesischen Fürsten das ägyptische Kronland vor dem Zugriff feindlicher Konkurrenten schützen und die Parther in ihrem Handlungsspielraum einschränken. Diese hatten ihrerseits ihren Einfluss vom Persischen Golf bis zu den östlichen Grenzen der Weih-

56 Vgl. Schulz, Abenteurer der Ferne (wie Anm.7), 355–360. 57 Vgl. so noch einmal Matthew P. Fitzpatrick, Provincializing Rome: The Indus Ocean Trade Network and Roman Imperialism, in: Journal of World History 22, 2011, 27–54. Dagegen eindringlich Gary K. Young, Rome’s Eastern Trade. International Commerce and Imperial Policy 31 BC – AD 305. London/New York 2001, 219: „There is not one major policy initiative of the Roman government in the period under consideration that can be attributed to the needs of this commerce.“ Die von Fitzpatrick, Rome, 37–41 angeführten außenpolitisch-militärischen Aktivitäten zielten sämtlich auf materielle Gewinne (Beute) und die Erweiterung des machtpolitischen Einflusses. 58 Christian Marek, Die Expedition des Aelius Gallus nach Arabien im Jahre 25 v.Chr., in: Chiron 23, 1993, 121–156, hier 138. 59 So nachdrücklich Marek (ebd.126ff.) im Rahmen des Gallus-Feldzuges. Die immer wieder auch neuerdings vertretene Ansicht, Augustus und seine Nachfolger hätten spezifische Verträge mit fremden Herrschern im Indik geschlossen, die Handelsklauseln enthielten und in Indien „treaty ports“ etablierten (emporion enthesmon) ist zu Recht von Cobb, Rome (wie Anm.43), 121f., 126 mit dem Hinweis erschüttert worden, dass die Quellen nicht die geringsten Hinweise auf solche Bestimmungen geben und auch im Rahmen von Gesandtschaften keine handelspolitischen Themen und Ziele erwähnen.

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rauchländer (Yemen) über arabische „Vasallen“ ausgedehnt. 60 Gleichzeitig verstärkten Augustus und seine Nachfolger die Militärpräsenz im Roten Meer durch den Einsatz von Kriegsschiffen 61; die Seerouten und Karawanenwege, die den Nil mit dem Roten Meer verbanden, wurden durch Forts und Militärpatrouillen geschützt (auch der Kanal vom Nil zum Roten Meer scheint militärische, aber nicht in erster Linie ökonomische Funktionen gehabt zu haben). 62 Ein wesentliches Ziel dieser Maßnahmen bestand darin, Schmuggel zu verhindern sowie die Einnahmen über Zölle und Abgaben zu schützen und wenn möglich zu steigern, was wiederum die militärische Sicherung der Fernrouten (gegen Piraten und Räuber) zu finanzieren half. 63 Die jüngst entdeckte Präfektur der kleinen Einheit einer Legion auf den Farasân-Inseln am Ausgang des Roten Meeres diente offenbar beiden Zwecken. 64 Insgesamt knüpften somit die römischen Kaiser an die Politik der Ptolemäer an, die – wie neuere Forschungen zeigen 65 – privat finanzierten Handelsaktivitäten im Roten Meer doch einen größeren Raum beließen und diese keinen staatlichen Regu-

60

Daniel T. Potts, The Parthian Presence in the Arabian Gulf, in: Julian Reade (Ed.), The Indian Ocean in

Antiquity. London/New York 1996, 269–285. Zu den Seleukiden am Persischen Golf: Daniel T. Potts, Old Arabia in Historic Sources, in: Ute Franke (Ed.), The Roads of Arabia. The Archaeological Treasures of Saudi Arabia. Tübingen/Berlin 2011, 94–99. Arabische Vasallen: Marek, Expedition (wie Anm.58), 146f. 61

Vgl. Cobb, Rome (wie Anm.43), 117–120. Der Einsatz der Flotte beschränkte sich auf das Rote Meer.

62

Michael A. Speidel, ’Almaqah in Rom? Zu den Beziehungen zwischen dem kaiserzeitlichen Imperium

Romanum und Südarabien im Spiegel der dokumentarischen Quellen, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 194, 2015, 241–258, hier 249. 63

Andrew Wilson, Red Sea Trade and the State, in: Federico De Romanis/Mario Maiuro (Eds.), Across the

Ocean. Nine Essays on Indo-Mediterranean Trade. Leiden/Boston 2011, 22–27 und besonders 22: „Why did the Roman State go to such lengths to invest in the physical infrastructure for the Red Sea routes, and protection along them? The answer seems to lie principally in the customs revenue that the State derived from Indo-Mediterranean trade.“ 64

Cobb, Rome (wie Anm.43), 119; Speidel, ’Almaqah in Rom? (wie Anm.62), 250. Zum Fundkontext, der

Anbindung an die arabische Küste sowie den Zielen der römischen Abteilung (Kontrolle des Seeverkehrs und „protection against pirates“) vgl. Solène Marion de Procé, The Farasān Archipelago in the Red Sea Context during Antiquity, in: Dionysius A. Agius/Emad Khalil/Eleanor M. L. Scerri/Alun Williams (Eds.), Human Interaction with the Environment in the Red Sea. Selected Papers of Red Sea Project VI. Leiden/Boston 2017, 130–147, hier 141. Die Inschriften bei: François Villeneuve, Une inscription latine sur l’archipel Farasân, Arabie Séoudite, sud de la mer Rouge, in: Comptes rendus des séances de l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 148, 2004, 419–429, sowie François Villeneuve/Carl Phillips/William Facey, Une inscription latine de l’archipel Farasan (sud de la Mer Rouge) et son contexte archéologique et historique, in: Arabia 2, 2004, 143–190. 65

Vgl. die Diskussion bei Cobb, Rome (wie Anm.43), 47f., 59 f: „[…] evolutionary rather than revolutiona-

ry developments between the Ptolemaic and Roman periods“.

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lierungsmaßnahmen (oder königlichen Monopolen) unterwarfen. Der Übergang von der ptolemäischen zur römischen Herrschaft scheint demnach auch in Bezug auf den Indienhandel fließender und weniger abrupt gewesen zu sein 66, wie sich ja auch das Indienbild der Römer in den folgenden Jahrhunderten weitgehend an den Vorbildern hellenistischer Schriftsteller orientierte. Die stupende Menge und ungewöhnliche Vielfalt der Waren, die man über das Rote Meer aus dem Indischen Ozean und seinen Küsten beziehen konnte – von den bekannten Aromatika, Dufthölzern und verschiedenen Pfeffersorten über Elfenbein und Schildpatt sowie kostbare Perlen und Edelsteine bis hin zu exotischen und wilden Tieren 67 –, all das schien ja das alte Bild eines von Fruchtbarkeit gesegneten und vor Reichtum strotzenden Wunderlandes nur zu bestätigen 68, zumal viele der Waren wohl bereits in spätptolemäischer Zeit in Alexandria zu haben und zu bestaunen waren. Sehr wahrscheinlich war die berühmte, in römischer Zeit so viel benutzte und stark gesicherte Verbindungsroute vom Roten Meer zum Nil über Koptos bereits in mittel- und spätptolemäischer Zeit aktiv. 69 Augustus ließ die Hafenanlagen in Myos Hormus erweitern (wenn auch bei weitem nicht so monumental ausbauen wie die Mittelmeerhäfen), wohl auch um Raum und Schutz für die größeren Schiffe zu bieten, die nach Indien aufbrachen und von dort zurückkehrten. 70 Römische Beamte und Militärs erhöhten

66 Vgl. Cobb, Rome (wie Anm.43), 46f. zur immer wieder zitierten Strabonstelle: 2,5,12; 17,1,13; sowie zusammenfassend 60: „The salient point is that the legacy left by Ptolemies was built upon during the Roman period, not radically changed.“ 67 Vgl. Cobb, Rome (wie Anm.43), 180–215; Raul McLaughlin, The Roman Empire and the Indian Ocean. The Ancient Economy and the Kingdoms of Africa, Arabia and India. Barnsley 2014, 28–49 speziell zu den Weihrauchprodukten. 68 Allein die von indischen und griechisch-römischen Quellen betonte Tatsache, dass aus dem Römischen Reich sehr viel Gold und Silber nach Indien abfloss, widersprach scheinbar dem alten Bild des goldreichen Landes. Die griechisch-römischen Schriftsteller behalfen sich mehr schlecht als recht damit, dass sie die Inder als ein „einfaches“ Volk zeichneten, dass zwar viel Gold habe, hiervon aber wenig Aufhebens mache; vgl. Schulz, Abenteurer (wie Anm.7), 421. Abgesehen davon ist jüngst die These eines massiven Goldabflusses nach Indien sowie ein hieraus angeblich entstandenes Handelsdefizit zu Lasten des Römischen Reiches mit guten Gründen von Cobb, Rome (wie Anm.43), 272–286 relativiert worden. 69 Vgl. ebd.58. 70 Vgl. ebd.53ff. Unter anderem wurde das Mangrovendickicht an der nördlichen Seite des Hafens beseitigt; ebd.55 zu den größeren Schiffen. Dennoch waren die Investitionen in die Infrastruktur offenbar insgesamt nicht bedeutend, es fehlten „monumental structures that exist at many Mediterranean ports“; Roberta Tomber, Egypt and Eastern Commerce during the Second Century AD and Later, in: Andrew Wilson/Alan Bowman (Eds.), Trade, Commerce, and the State in the Roman World. Oxford 2018, 531–555, hier 537f., Zitat 538.

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im Roten Meer die Sicherheit der Verbindungswege und verdichteten die Kontrollinstanzen, um die Staatsäckel über Zölle und Hafengebühren zu füllen sowie das (mit der Höhe der Zölle fast zwangsläufig) verbreitete Schmuggelwesen zu unterbinden. 71 Nur selten verschlug es dabei einen Zoll- oder Steuerbeamten selbst in die Ferne, und wenn, dann tat er das wohl auf eigene Kosten oder im Auftrag privater Mittelsmänner. 72 Nach wie vor – auch dies ist ein bemerkenswertes Element der Kontinuität – spielten griechisch-ägyptische Eliten aus Ägypten bzw. Alexandria bei der Finanzierung der Indienfahrten sowie dem Transport und Weiterverkauf der Produkte eine prominente Rolle, während italische Kaufleute und Finanziers sich wohl eher und stärker auf den vertrauten Handel zwischen Alexandria und Italien bzw. Rom konzentrierten. Es gab demnach offenbar mit der Route Alexandria–Rom und Alexandria–Indien „two distinct networks of exchange“, die unterschiedlichen saisonalen Rhythmen folgten und mehrheitlich auch von unterschiedlichen Akteuren bedient und aufrechterhalten wurden. 73 Der Erfolg einer Indienfahrt hing eben im hohen Maße von den langen Erfahrungen und Verbindungen ab, die man nicht in Rom, sondern in Alexandria und in den ptolemäischen Rotmeerhäfen seit Generationen gesammelt hatte. Hierzu passt zum einen, dass viele der für den Export nach Indien bestimmten Waren und Produkte (wie zum Beispiel Glas, hochwertige Textilien oder aus arabischen Aromatika hergestellte Salben) nicht in Italien, sondern in Alexandria, den Rotmeerhäfen oder in Syrien gefertigt wurden 74, ferner, dass die jüngere Forschung die von indischen Quellen bezeugten und an indischen Häfen und Residenzstädten tätigen „Yavanas“ eben nicht mehr als „Römer“, sondern sehr allgemein aus indischer Sicht als „West-

71

Cobb, Rome (wie Anm.43), 108f., 113.

72

Dies gilt sicherlich für die Fahrt des Annius Plocamus nach Ceylon: Plin. nat. 6,84; Andrew Wilson, Red

Sea Trade, in: De Romanis/Maiuro (Eds.), Across the Ocean (wie Anm.63), 26; Cobb, Rome (wie Anm.43), 76, 114 zur Rolle und den Verbindungen des Annius, der vermutlich privat die Einziehung einer Steuer gepachtet hatte. 73

Cobb, Rome (wie Anm.43), 127 (Zitat), 148: „different trading cycles operating in the Mediterranean

and the Western Indian Ocean“, sowie 61–77 mit Diskussion früherer Positionen; vgl. Katia Schörle, Pearls, Power, and Profit. Mercantile Networks and Economic Considerations of the Pearl Trade in the Roman Empire, in: De Romanis/Maiuro (Eds.), Across the Ocean (wie Anm.63), 43–54, hier 50f. zu den Handelsinteressen italischer Familien mit östlichen Luxuswaren. Zur Anwesenheit indischer und arabischer Kaufleute und Seefahrer in Ägypten vgl. Cobb, Rome (wie Anm.43), 150f. 74

Vgl. Cobb, Rome (wie Anm.43), 228–237. Aus Italien kamen Wein und Olivenöl, für deren Herstellung

und Transport es aber auch keiner besonderen Expertise bedurfte.

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ler“ versteht. 75 Und auch die griechisch-lateinischen Quellen bestätigen, dass es in der Regel, wie schon in den Jahrhunderten zuvor, Händler und Kapitäne aus Alexandria und den östlichen, das heißt „griechisch-syrischen“ Reichsteilen waren, die ausgestattet mit robusteren und größeren Schiffen (meist mediterraner Bauart), westlichen Waren sowie den denarii ihrer Kunden und verschiedener Geldgeber aufbrachen 76, um von den enormen Gewinnspannen zu profitieren, die der Erwerb fernöstlicher Produkte versprach. Ein gewisser Alexandros soll dabei (auf den Spuren indischer Seefahrer) über Ceylon bis ins chinesische Meer zur berühmten Hafenstadt Kattigara vorgestoßen sein. 77 Um die Bedeutung des Indienhandels zu ermessen, gilt es bei alldem stets zu berücksichtigen, dass neben dem Roten Meer zusätzlich der Persische Golf und der Überlandweg durch Palmyra bis an die Levante eine pulsierende und mit dem Warenstrom aus Ägypten zeitlich-saisonal koordinierte Verkehrsader bildeten, die den Indischen Ozean mit dem ostmediterranen Raum verband. Die Weltstadt Antiochia spielte dabei in vielerlei Hinsicht (auch in Bezug auf die Zollerhebung) eine ähnlich wichtige Rolle wie Alexandria. 78 Die Versorgung des Mittelmeerraums mit fernöstlichen Produkten (aber auch mit Gold und Silber aus Nubien, Spanien und Dakien 79) verlief in diesem Rahmen über die bekannten Routen offenbar so reibungslos und er war für die Beteiligten – das ist ganz wichtig – auch so lukrativ, dass erneut weder staatliche noch private Instanzen bereit waren, das Risiko unerforschter Alternativrouten im Atlantik oder um Afrika herum zu tragen. Spätestens nach der Inkorporierung Ägyptens und seiner Reichtümer in das Imperium fehlten nicht das Geld und das nautische Knowhow 80, wohl aber der ökonomische bzw. materielle Druck, ganz zu schweigen von einem irgendwie gearteten religiösen Eifer, welche die Römer zu einem solchen Unternehmen gedrängt hätten, auch wenn manche ihrer Schriftsteller (wie Seneca) in der Nachfolge des Aristoteles eine Atlantiküber-

75 Vgl. ebd.163–179. 76 Vgl. ebd.80–83; Cobb hebt hervor, dass nicht nur superreiche Familien, sondern auch weniger finanzstarke „kleinere“ Geldgeber sich am Indienhandel beteiligten und sich zu Konsortien zusammenschlossen; vgl. ebd.84–91 zur Bauart der Indienschiffe. 77 Schulz, Abenteurer der Ferne (wie Anm.7), 387f. 78 Tomber, Egypt and Eastern Commerce (wie Anm.70), 548. 79 Christopher Howgego, The Supply and Use of Money in the Roman World, 200 BC – AD 200, in: Journal of Roman Studies 82, 1992, 1–31, hier 4ff. 80 Vgl. dazu die Überlegungen bei Schulz, Abenteurer der Ferne (wie Anm.7), 14–17.

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querung für realisierbar hielten und gleichzeitig die Diskussionen um die Existenz unentdeckter Kontinente im Atlantik wieder aufflammten.

VII. Das Erbe der antiken Erkundungen und ihre Grenzen Atlantiküberquerungen wurden aber auch durch die geopolitische Gesamtkonstellation erschwert. Im Indischen Ozean konnten sich Perser, Griechen und Römer in ein über Jahrhunderte geknüpftes Erfahrungsnetz indischer, arabischer und austronesischer Seeleute einklinken, die das Meer von der Gegenseite erschlossen. So etwas gab es im Atlantik nicht. Die Distanzen zwischen der europäischen und der amerikanischen Küste und deren Inselketten waren enorm. Das riesige Meer war anders als der Indische Ozean nicht durch eine urbanisierte Küstenzone umschlossen, weite Räume der westafrikanischen Küste und ihres Hinterlandes bildeten für Seefahrer keine günstigen Anlaufpunkte. 81 Dementsprechend konnte sich die für die Hochseefahrt so eminent wichtige Kooperation zwischen imperialen Ressourcen und den über Generationen entwickelten und erprobten maritimen Kompetenzen der Küstenstädte an der europäisch-afrikanischen Seite des Atlantiks auch nicht so fruchtbar entfalten. Es fehlte ein integrierendes Seehandelsnetz, das mehrere Teilmeere über große Distanzen verband und an das westliche Akteure anknüpfen konnten 82 (bezeichnenderweise blieb der Seehandelsverkehr von Gades entlang der spanischen Atlantikküste nach Britannien gegenüber der kontinentalen Flussroute von Massilia aus sekundär und marginal). 83 Die maritimen Verbindungen reichten in der Antike und aus Sicht der Römer allenfalls bis zu den Kanaren und den Shetlands, während in der Frühen Neuzeit die portugiesischen und spanischen Könige den Atlantik bis Madeira als Zone ureigenster Interessen bereits soweit erschlossen hatten, dass man von einem zweiten Mittelmeer sprach.

81

Bérénice Bellina, The Inception of the Transnational Processes between the Indian Ocean and the South

China Sea from an Early City-State on the Thai-Malay Peninsula (Fourth-Second Centuries BCE), in: Boussac/Salles/Yon (Eds.), Ports (wie Anm.39), 481–510; Alain Bresson, Ecology and beyond: The Mediterranean Paradigm, in: William V. Harris (Ed.), Rethinking the Mediterranean. Oxford 2005, 94–114, hier 108f. 82

Vgl. Högemann, Bedeutung (wie Anm.9), 40 dagegen zu den geostrategischen Konstanten, die „die ge-

nannten Staaten dazu (zwangen), den Ozean als den wichtigsten Verkehrsträger ihrer Herrschaft einzubeziehen […]“. 83

106

Vgl. Bresson, Ecology (wie Anm.81), 110.

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Roms Herrschaftszentrum lag dagegen eindeutig im Mittelmeer, und es unterdrückte in den Westprovinzen die Entwicklung konkurrierender politischer Dynamiken, die in der Frühen Neuzeit so ausschlaggebend waren für den Aufbruch der Europäer über die Weltmeere. Anders als im Falle der Perser fehlte im Westen ein kräftiger imperialer Impetus, der Erkundungsfahrten in die Weiten des Okeanos zu materiell lohnenden Machtdemonstrationen erhoben hätte. Vorstöße zu den Ostseeküsten und nach Marokko reichten völlig aus, um an die Reichtümer des Ozeans und Innerafrikas heranzukommen und dem Anspruch auf ein imperium sine fine gerecht zu werden. So gesehen ist die entscheidende Frage nicht, warum antike Seefahrer den Indischen Ozean nicht auch über den Atlantik erreichten bzw. zu erreichen suchten – weshalb hätten sie das tun sollen? –, sondern warum dieser Schritt überhaupt von den Seefahrern der Neuzeit getan wurde. Das ist das eigentlich erklärenswerte Phänomen, wobei die Antike keineswegs ihre Bedeutung verliert. Nicht von ungefähr weisen die Planer der frühneuzeitlichen Ozeanfahrten immer wieder darauf hin, wie sehr sie durch die Überlegungen antiker Geographen sowie das Vorbild antiker Seefahrer angespornt wurden: Auch wenn diese den Atlantik nicht überquerten (oder zumindest nicht zurückkehrten), so blieben die im 4.Jahrhundert v.Chr. entwickelten geographischen Makromodelle erhalten, die eine solche Fahrt konzeptionell vorbereiteten. 84 Denn auch die christlichen Denker des Mittelalters gingen mehrheitlich von der Kugelgestalt der Erde aus. 85 Desgleichen bewahrten sie über die Schriften des Plinius, des Martianus Capella, die Übersetzung des platonischen Timaios und seit dem 13.Jahrhundert über Aristoteles’ de Caelo die geographischen Globalthesen der Antike und mit ihr die Vorstellungen von den okeanischen Zugangswegen nach Indien. Was das Ziel angeht, gab es nur zwei theologische Vorbehalte. Erstens bildete die Lokalisierung des irdischen Paradieses insofern ein Hindernis, weil es nach allgemeiner Auffassung nicht zu erreichen war und damit den Zugang über das Meer nach Indien blockierte. Zweitens wurde zwar selten die Existenz

84 Vgl. hierzu Schulz, Abenteurer der Ferne (wie Anm.7), 435–465. 85 Reinhard Krüger, Das lateinische Mittelalter und die Tradition des antiken Erdkugelmodells (ca. 550 – ca. 1080). (Eine Welt ohne Amerika, 3.) Berlin 2000, 152; ders., Moles globosa, globus terrae und arenosus globus in Spätantike und Mittelalter. Eine Kritik des Mythos von der Erdscheibe. Berlin 2012, 23–51; Nathalia Lozowsky, „The Earth is Our Book“: Geographical Knowledge in the Latin West ca. 400–1000. Ann Arbor 2000, 120; Rudolf Simek, Erde und Kosmos im Mittelalter. Das Weltbild vor Kolumbus. München 1992, 16–38.

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ferner Kontinente angezweifelt, wohl aber die in der Antike geäußerte Vermutung, dass sie von anderen Menschen bewohnt wären. Beide Probleme schwächten sich jedoch im Zuge der Aristoteles-Rezeption, der Atlantikfahrten der Wikinger sowie der Öffnung des Ostens nach China soweit ab, dass sie nicht mehr als schwerwiegend empfunden wurden. Arabische Geographen und Marco Polo bewiesen, dass – wie schon die Antike wusste – die Äquatorialzone überquerbar und bewohnbar war. Da man mit der Öffnung des Fernen Ostens durch italienische Kaufleute, Diplomaten und Missionare auf reale Goldinseln wie Cipango (Japan), nicht aber auf das Paradies stieß, verflüchtigte sich auch diese Barriere. Als die Portugiesen – angeblich nach dem Vorbild antiker Seefahrer – darangingen, die Südroute um Afrika herum zu erkunden, und als wenige Jahrzehnte später Kolumbus seinen Plan einer Atlantikfahrt präsentierte, waren wieder alle großen geographischen Konzepte der Antike versammelt: Kolumbus rechnete – wie Felipe Fernández-Armesto plausibel gemacht hat 86 – von Beginn an mit mehreren Möglichkeiten: mit einem freien Atlantik bis Cathai bzw. Asia, so wie es Aristoteles, Seneca und danach Pierre d’Ailly voraussetzten, mit den Antipoden bzw. einem neuen Kontinent, wie es Platon, Krates und Strabon und mit ihnen ein Großteil der christlichen Gelehrtenwelt vermuteten, und natürlich den zahlreichen Inseln, welche man seit der Antike in wachsender Zahl im Atlantik vermutete. Dass die spanische Kommission „Inseln und Kontinente“ als das Objekt der Fahrt ausgab, entspricht dieser Bandbreite der Möglichkeiten. Dass Indien tatsächlich über die Südroute um Afrika erreicht wurde, nimmt den atlantischen Expeditionen nichts von ihrer Bedeutung. Der 2000 Jahre alte Traum war verwirklicht, weil erstmals nicht nur das Raumbewusstsein, sondern auch die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen gegeben waren: Westeuropa gierte nach Gold wie nie zuvor, östliche Luxusprodukte mussten kostspielig über muslimische Mittelsmänner beschafft werden. Und mit den portugiesischen und spanischen Königreichen sowie der Unterstützung genuesischer Kaufleute und Seefahrer standen nun auch geeignete Akteure bereit, die miteinander konkurrierten. Sie segelten endlich durch die ozeanische Tür, welche die Alten 2000 Jahre zuvor aufgestoßen hatten.

86

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Felipe Fernández-Armesto, Columbus. New York 1991, 23–44.

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Als Indien das Römische Reich entdeckte Exploration und Handel im Indischen Ozean vom Osten aus gesehen von Eivind Heldaas Seland

Wer die Integration des Indischen Ozeans in die Netzwerke der antiken Welt beschreiben will, tut dies üblicherweise aus einer mediterranen Perspektive. Diese Herangehensweise wird durch die Quellenlage und die historiographische Tradition gestützt. Sie führt jedoch implizit ein Narrativ der Frühen Neuzeit fort, die in den antiken Seefahrern aus dem Mittelmeerraum lediglich Vorläufer der modernen Expansion der Europäer in den Indischen Ozean sah. Damit wird jedoch die Rolle maritimer Gemeinschaften in der Welt des Indischen Ozeans marginalisiert, die bereits lange vor dem Aufbau griechisch-hellenistischer und römischer Netzwerke in diesem Raum aktiv waren. Dieser Beitrag vertritt die entgegengesetzte Perspektive, um die „indische Entdeckung des Römischen Reiches“ darzustellen. Er zeigt, wie das Quellenmaterial, das bisher durchweg dazu diente, die Entdeckung des Indischen Ozeans durch mediterrane Zivilisationen zu beschreiben, auch eine andere Geschichte erzählen kann: nämlich wie sich Wissen und Netzwerke aus dem Bereich des Indischen Ozeans in die Mittelmeerwelt ausbreiteten. Ohne die Bedeutung mediterraner Akteure zu unterschätzen, erlaubt dies ein ausgewogeneres Verständnis der Dynamiken, die zu einer beispiellosen Dichte an integrativen Kontakten und Verbindungen über die gesamte antike Welt in der Zeit um Christi Geburt führten.

I. Ein veränderter Blickwinkel Die Zeit von circa 300 v.Chr. bis 300 n.Chr. war eine Phase der Entdeckungen, Erforschungen und Integration. Menschen in den verschiedenen Teilen der Alten Welt wurden einander in einem bis dahin nicht dagewesenen Ausmaß bewusst. Sie knüpften direkte und indirekte Beziehungen, die von Westafrika und Spanien bis zum ostchinesischen Meer und vom Polarkreis bis nach Ostafrika reichten. Im Laufe der Zeit bereisten Millionen Menschen die Ozeane und Karawanenwege, um an Orten Handel zu treiben, zu lernen, zu beten, sich niederzulassen, zu heiraten und zu sterben, die weit von ihrer angestammten Heimat entfernt lagen. Mobilität über große Distanzen war an sich nichts Neues 1, aber verglichen mit früheren Zeiten scheinen sich die Kontakte intensiviert und das Wissen erheblich 1 Vgl. z.B. Øystein Sakala LaBianca/Sandra Arnold Scham, Connectivity in Antiquity. Globalization as a Long-Term Historical Process. London 2005; Dorian Q. Fuller/Nicole Boivin/Tom Hoogervorst/Robin Allaby, Across the Indian Ocean. The Prehistoric Movement of Plants and Animals, in: Antiquity 85, 2011, 544–558.

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110670547-005

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erweitert zu haben. 2 Die Erforschung dieser Entwicklung ist von großem Interesse, und der einzige Weg, eine wissenschaftliche Debatte anzuregen, führt über etablierte Forschungstraditionen. Diese nehmen allerdings in der Regel eine „westliche“ Perspektive ein und betonen entsprechend die Bedeutung der Entdeckungen und der Wissensgenerierung für die Menschen des Mittelmeerraumes und Europas; andere Akteure erwecken dagegen den Eindruck, als hätten sie untätig darauf gewartet, entdeckt zu werden. Dieses Narrativ antiker Fernkontakte, das auf den schriftlichen Quellen der griechischen und römischen Antike gründet, wurde bereits während der europäischen „Wiederentdeckung“ des Indischen Ozeans in der Frühen Neuzeit geschaffen 3, es verstärkte sich während der Kolonialzeit 4 und ist bis heute lebendig geblieben. 5 Im Gegensatz dazu möchte der vorliegende Aufsatz herausfinden, wie das Narrativ von der anderen Seite aus ausgesehen haben könnte: Wie hat sich die Entdeckung des Mittelmeerraumes durch die Inder abgespielt, und welche Auswirkungen hatte diese? Dabei soll weder eine der westlichen Perspektive überlegene oder korrektere Version noch eine sonderlich umfassende Darstellung geboten werden; denn der wichtigste Grund für die traditionelle Schwerpunktsetzung auf die griechisch- und lateinischsprachige Welt ist nun einmal, dass sie den Großteil der schriftlichen und archäologischen Quellen produzierte. Der Vorteil eines veränderten Blickwinkels besteht jedoch darin, dass er neue Aspekte in die Diskussion einbringen könnte. Eine derartige Neuausrichtung wird zudem angeregt durch den welt- und globalgeschichtlichen Diskurs, der die Historiographie des Indischen Ozeans der späteren Epochen prägt 6, ohne dass man dabei die neomarxistischen 2 Raimund Schulz, Abenteurer in der Ferne. Die großen Entdeckungsfahrten und das Weltwissen der Antike. 2. Aufl. Stuttgart 2016. 3 Vgl. Emmanuelle Vagnon/Éric Vallet (Eds.), Cartes d’Orient et d’Occident (Antiquité–XVIe siècle). Paris 2017. 4 Z.B. William Vincent, The Commerce and Navigation of the Ancients in the Indian Ocean. London 1807; Eric Herbert Warmington, The Commerce between the Roman Empire and India. London 1929; Max Cary/ Eric Herbert Warmington, The Ancient Explorers. London 1929; Mortimer Wheeler, Rome beyond the Imperial Frontiers. Middlesex 1955. Vgl. ebenfalls Himanshu Prabha Ray, Colonial Archaeology in South Asia. The Legacy of Sir Mortimer Wheeler. New Delhi 2008. 5 Z.B. Raoul McLaughlin, Rome and the Distant East. Trade Routes to the Ancient Lands of Arabia, India and China. London 2010; Matthew P. Fitzpatrick, Provincializing Rome. The Indian Ocean Trade Network and Roman Imperialism, in: Journal of World History 22, 2011, 27–54; Rajan Gurukkal, Classical Indo-Roman Trade. A Historiographical Reconsideration, in: Indian Historical Review 40, 2013, 181–206; Schulz, Abenteurer (wie Anm.2). 6 Janet Abu Lughod, Before European Hegemony. The World System A. D. 1250–1350. Oxford 1989; Kirti

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Abb. 1: Kreise im Welthandel vom 1. Jahrhundert n. Chr., nach dem Vorbild von Abu Lughod, Before European Hegemony (wie Anm. 6).

Analysen kritiklos übernehmen sollte, die dieser Literatur vielfach zugrunde liegen, und ohne die Beiträge des Mittelmeerraumes und Europas zum frühen Handel im Indischen Ozean herunterzuspielen. Dennoch wird die folgende Darstellung recht einseitig und vielleicht auch provokativ erscheinen, aber sie ist in dieser Beziehung sicherlich nicht einseitiger als diejenigen Analysen, welche die griechischen und römischen Aktivitäten im Indischen Ozean als ihren wesentlichen oder einzigen Ausgangspunkt nehmen. In ihrem bekannten Buch „Before European Hegemony“ beschreibt Janet Abu Lughod das Weltsystem des 13.Jahrhunderts n.Chr. als eine Serie sich überlappender Kreise („circuits“), welche die Alte Welt am Vorabend der ersten Großen Pest

Narayan Chaudhuri, Asia before Europe. Economy and Civilisation of the Indian Ocean from the Rise of Islam to 1750. Cambridge 1990; Andre Gunder Frank, ReOrient. Global Economy in the Asian Age. Berkeley 1998; Philippe Beaujard, Les mondes de l’Océan Indien. 1: De la formation de l’État au premier systèmemonde afro-eurasien (4e millénaire av. J.-C. – 6e siècle apr. J.-C.). Paris 2012.

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umspannten. 7 Nur wenige Menschen haben die gesamte Distanz dieser „Weltkreise“ bereist; viele waren in die regionalen Kreise eingebunden, die das System konstituierten, und überall dort, wo sich die Kreise überschnitten, gab es Kontaktzonen, wo sich Menschen aus unterschiedlichen Teilen dieser Welt begegneten. Hier lagen auch die Städte, die zu Knotenpunkten der wirtschaftlichen, sozialen und ideologischen Netzwerke wurden: Sie waren die Orte, die den Übergang von einem Kreis zum nächsten ermöglichten. Denn der Umfang der einzelnen Kreise war wesentlich durch imperiale Grenzen, aber auch durch wechselnde ökologische Gegebenheiten vorgegeben, so dass zum Beispiel ein Wechsel vom Überland- zum Überseetransport notwendig wurde. Angeregt von Abu Lughods Model könnte man den Versuch wagen, auch die Weltwirtschaft der ersten Jahrhunderte n.Chr. zu beschreiben. Damit kommt es mir weniger darauf an, exakt zu bestimmen, wo genau die Ränder der jeweiligen Kreise verlaufen und welche äußere Region zu den Kreisen gehört. Es geht mir vielmehr darum, die Logik des Systems insgesamt zu visualisieren. Entscheidend ist, dass der Indische Ozean, und zwar insbesondere der westliche Teil, eine wichtige Rolle dabei spielte, die anderen Kreise zu integrieren.

II. Von Indien aus nach Westen schauend Das Wissen der Inder über die Völker des Mittelmeerraumes kann bis auf das späte 6.Jahrhundert v.Chr. zurückverfolgt werden. Wie die Reliefs aus Persepolis zeigen, konnten sich Gesandte der städtischen Gemeinwesen des Industales mit Repräsentanten aus Lydien, Kappadokien, Ägypten, Nubien, Griechenland, Thrakien, Syrien und anderer Satrapien bei den alljährlichen Zeremonien des achämenidischen Hofes treffen und gegenseitig beobachten. Ferner dürften indische Soldaten während der persischen Feldzüge neben ihren Kollegen aus dem Mittelmeerraum gedient haben; die Bezeichnung Hinduš (Sind) taucht in persischen Listen auf, die in ägyptischen Inschriften überliefert worden sind. 8 Nach der Eroberung Persiens durch die Makedonen unter Alexander wurden die Kontakte häufiger und unmittel-

7 Lughod, Before European Hegemony (wie Anm.6), 14. 8 Alexandra von Lieven, Trade Contacts and Cultural Exchange between Egypt and India in the Ptolemaic and Roman Period, in: Nikolas Jaspert/Sebastian Kolditz (Eds.), Entre mers – Outre-mer. Spaces, Modes and Agents of Indo-Mediterranean Connectivity. Heidelberg 2018, 61–73, hier 63.

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barer. Die Feldzüge des Chandragupta Maurya gegen die Makedonen in die ehemaligen persischen Gebiete im Industal sowie das heutige Pakistan und Afghanistan beendeten dann aber mit dem berühmten Friedensvertrag von 305 v.Chr. die griechisch-makedonische Expansion in den Osten und begründeten ein relatives militärisches Übergewicht der indischen Seite gegenüber den Seleukiden. In der Folgezeit führte der große Bedarf der hellenistischen Reiche nach indischer Kriegstechnik und Expertise zum Export großer Mengen indischer Kriegselefanten in den östlichen Mittelmeerraum; indische Elefantenhändler waren in Ägypten und vielleicht sogar darüber hinaus aktiv. 9 Der Mauryakönig Ashoka (reg. circa 268–232 v.Chr.) schickte schließlich um 260 v.Chr. Gesandte nach Syrien, Ägypten, Kyrene, Epirus und Mazedonien. 10 Das dokumentieren nicht nur die weit in den Westen reichenden diplomatischen Aktivitäten indischer Herrscher im 3.Jahrhundert v.Chr., sondern auch deren Kenntnisse über den (östlichen) Mittelmeerraum, auch wenn beides offenbar kaum nachhaltige Effekte hatte. Wann die Inder im Arabischen Meer und im westlichen Indischen Ozean aktiv wurden, ist dagegen weniger und in jedem Fall nicht hinreichend bekannt. Maritime Kontakte mit Südarabien und dem Persischen Golf sind für die Periode der Harappa- oder Induskultur 11 belegt und sie werden durch die Ausbreitung indischen Getreides und indischer Nutztiere bis nach Arabien und Afrika gestützt, was sich auch nach dem Zusammenbruch der Städte der Induskultur fortsetzte. 12 Keramikfunde und epigraphische Quellen deuten dann für die späten vorchristlichen Jahrhunderte auf eine Intensivierung der maritimen Verbindungen entlang der Küste des indischen Subkontinents und Sri Lankas hin. Vermutlich standen diese in Verbindung mit der ebenfalls epigraphisch belegten Entstehung maritim ausgerichte-

9 Howard Hayes Scullard, The Elephant in the Greek and Roman World. London 1974; Lionel Casson, Ptolemy II and the Hunting of African Elephants, in: Transactions of the American Philological Association 123, 1993, 247–260. 10 Elisabeth Rosen Stone, Greece and India. The Ashokan Pillars Revisited, in: Vassos Karageorghis (Eds.), The Greeks beyond the Aegean. From Marseilles to Bactria. Leiden 2002, 167–188; von Lieven, Trade Contacts (wie Anm.8), 65f. 11 Gregory Louis Possehl, Seafaring Merchants of Meluhha, in: South Asian Archaeology 1, 1997, 87–100; Jonathan Mark Kenoyer, Indus and Mesopotamian Trade Networks. New Insights from Shell and Carnelian Artifacts, in: Eric Olijdam/Richard H. Spoor/Elisabeth C. L. During-Caspers (Eds.), Intercultural Relations between South and Southwest Asia. Studies in Commemoration of E. C. L. During-Caspers (1934–1996). Oxford 2007, 19–28. 12 Fuller et al., Across the Indian Ocean (wie Anm.1).

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ter Gemeinden in Sri Lanka, entlang der Konkanküste Westindiens sowie der Maharashtra/Gujaratregion. 13 Spätestens im 3.Jahrhundert, vielleicht sogar früher, müssen indische Kaufleute mit Hilfe des Monsunsystems Arabien und Ostafrika angesteuert haben. Auf Sokotra sowie an den ostafrikanischen und südarabischen Küsten in Somalia und Südarabien scheint ein nicht unbedeutender Gewürzhandel konzentriert gewesen zu sein: Weihrauch und Myrrhe wurden im Tausch gegen teures Geschirr, Wein und Münzgeld sowie andere Waren über See in den Persischen Golf transportiert. Die Saisonabhängigkeit des Monsunsystems veranlasste dabei indische Händler, längere Zeit fern ihrer Heimat zu verbringen, mitunter mussten sie in arabischen Häfen wie Khor Rori oder auf der Insel Sokotra überwintern. 14 In der zweiten Hälfte des 2.Jahrhunderts v.Chr. scheinen indische Kapitäne im Roten Meer aktiv gewesen zu sein. Wie der Geograph Strabon (nach einer Erzählung des Poseidonios) berichtet, wurde ein indischer Überlebender eines Schiffbruchs im Roten Meer von den „Wachtposten des Arabischen Meerbusens“ („phylakoi tou Arabiou mychou“) vor den ptolemäischen König Ptolemaios VIII. (145–116) gebracht. 15 Nachdem er sich erholt und die einheimische Sprache gelernt hatte, durfte er nach Indien zurückkehren; in seiner Begleitung war ein Gesandter aus Ägypten, Eudoxos aus Kyzikos, der mit kostbaren Aromatika und Edelsteinen beschenkt wieder zurückkehrte. 16 Edelsteine gab es im Altertum aber nur in Indien oder Sri Lanka, und so ist es sehr wahrscheinlich, dass Eudoxus tatsächlich deren Küsten über Südarabien erreichte. 13

Himanshu Prabha Ray, Inscribed Pots, Emerging Identities. The Social Milieu of Trade, in: Patrick Oli-

velle (Ed.), Between the Empires. Society in India 300 BCE to 400 CE. Oxford 2006, 113–143; Heidrun Schenk, The Dating and Historical Value of Rouletted Ware, in: Zeitschrift für Archäologie außereuropäischer Kulturen 1, 2006, 123–152; Sila Tripati, Ancient Maritime Trade of the Eastern Indian, in: Littoral. Current Science 100, 2011, 1076–1086. 14

Eivind Heldaas Seland, The Indian Ships at Moscha and the Indo-Arabian Trading Circuit. Proceedings

of the Seminar for Arabian Studies 38, 2008, 283–288; Alexia Pavan/Heidrun Schenk, Crossing the Indian Ocean before the Periplus. A Comparison of Pottery Assemblages at the Sites of Sumhuram (Oman) and Tissamaharama (Sri Lanka), in: Arabian Archaeology and Epigraphy 23, 2012, 191–202; Ingo Strauch, Foreign Sailors on Socotra. The Inscriptions and Drawings from the Cave Hoq. Bremen 2012. 15

Vgl. die Kritik von Duane W. Roller, A Historical and Topographical Guide to the Geography of Strabo.

Cambridge 2018, 89–91. Demnach wurden offenbar am Ausgang des Roten Meeres indische Frachten gegen ptolemäische getauscht. Wahrscheinlich gab Ptolemaios dem Eudoxos einige in Alexandria tätige Inder als Lotsen für die Fahrt über den Ozean mit. 16

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Strabo, Geogr. 2,3,4.

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Seine erfolgreiche Fahrt, die wenig später wiederholt wurde, hätte zweifellos intensivere und regelmäßigere Kontakte begründen können. Doch fehlte hierfür – so Strabon – die Unterstützung der Ptolemäer, die, durch Thronwechsel geschwächt und in Anspruch genommen, unter Ptolemaios’ Nachfolgerin Kleopatra III. keine neuen Initiativen entwickelten, sondern sich darauf beschränkten, die Waren des Eudoxos (und vermutlich auch anderer Kapitäne) zu konfiszieren. 17 Die Lage änderte sich ein Jahrhundert später, nachdem die Römer Ägypten übernommen hatten. Seit Augustus schickten indische Staaten regelmäßig „Botschafter“ in das Römische Reich. 18 Diese Gesandtschaften spiegeln sich wahrscheinlich in der Existenz des griechischen Wortes „emporion nomimon“ wider, ein „rechtlich gesicherter Markt“ für bestimmte afrikanische, arabische und indische Häfen, eine Bezeichnung, die der Autor des Periplus Maris Erythraei verwendet. 19 Die Einrichtung solcher regulierter Handelshäfen, in denen fremde Kaufleute unbehelligt Handel treiben durften, wäre von enormer Bedeutung für den Aufschwung und das Funktionieren des maritimen Fernhandels gewesen. Keramiken, epigraphische Belege und Münzfunde aus den gut dokumentierten römischen Warenlagern von Berenike und Myos Hormos belegen die aktive Teilnahme der Händler des Subkontinents an diesem Handel. 20 Eine Handvoll inschriftlich in Ägypten bezeugter Eigennamen deutet auf Personen südasiatischen Ursprungs hin. 21 Literarische Quellen belegen ebenfalls die Teilnahme indischer Schiffe und Kaufleute am Handel mit dem Persischen Golf. 22 Zusätzlich zum Austausch von Waren ist die Mobilität von spezialisierten „Facharbeitern“ in diesem Prozess

17 Strabo, Geogr. 2,3,4; Roller, Guide (wie Anm.15), 189–191. 18 Eine Zusammenfassung der Belege und der Diskussion befindet sich in: McLaughlin, Rome (wie Anm. 5), 111–131. 19 Julian Arthur Beaufort Palmer, Periplus Maris Erythraei – emporion nomimon and other Expressions, in: Classical Quarterly 1, 1951, 156–158; Jean Rougé, Emporion Nomimon. Recherches sur la terminologie du Périple de la mer Erythrée, in: Index 15, 1987, 405–411. 20 Steven E. Sidebotham, Berenike and the Ancient Maritime Spice Route. Berkeley 2011, 75; Roberta Tomber, Pots with Writing, in: Lucy Blue/David Peacock (Eds.), Myos Hormos – Quseir al-Qadim. Roman and Islamic Ports on the Red Sea. Vol.2: Finds from the Excavations 1999–2003. Oxford 2011, 5–10. 21 Manfred Raschke, Papyrological Evidence for Ptolemaic and Roman Trade with India. Proceedings of the XIV International Congress of Papyrologists Oxford 24–31 July 1974. London 1975, 241–246; von Lieven, Trade Contacts (wie Anm.8), 66f. 22 Periplus Maris Erythraei 36; Thomasakten, 2, siehe die Ausgabe von Albertus F. J. Klijn, The Acts of Thomas. Introduction – Text – Commentary. Leiden 1962.

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von Interesse. Indische Rajas warben unter anderem Zimmerleute und Söldner aus dem Mittelmeerraum an. 23 Einen Hinweis hierauf geben auch die legendenhaften, aber dennoch in dieser Hinsicht glaubwürdigen, aus dem syrischen Raum stammenden „Thomasakten“. 24 Der Text aus dem 3.Jahrhundert beschreibt die Missionsarbeit des Apostels Thomas im 1.Jahrhundert n.Chr. Thomas war von Beruf Tischler und wurde von einem indischen Händler namens Habban als Sklave gekauft. Habban war aus dem indoparthischen Königreich des Gondophares nach Jerusalem gereist mit dem Auftrag, einen Architekten für den Bau eines königlichen Palastes anzuwerben. 25 Obwohl nur vereinzelt Belege vorliegen, scheint der Kontakt Indiens zum Römischen Reich über rund 250 Jahre angedauert zu haben, bevor Unruhen im Römischen Reich und das Erstarken regionaler Staaten wie die der Aksumiten und Himyar im südlichen Roten Meer direkte Verbindungen erschwerten. 26 Sowohl schriftliche als auch archäologische Belege deuten auf eine Erneuerung der Kontakte erst im 4.Jahrhundert hin: So stieg beispielsweise der christliche Würdenträger Theophilos, genannt der Inder, zu einem der zuverlässigsten und wichtigsten Berater Kaiser Constantius’ II. auf. 27 Der bereits von den Ptolemäern angelegte und für den direkten Seeweg nach Indien so wichtige und günstig gelegene Rotmeerhafen Berenike erlebte eine bemerkenswerte Renaissance. 28 Große Mengen römischer Kupfermünzen wurden nach Südindien und Sri Lanka importiert. 29 Einige dieser Aspekte sind durchaus bekannt, nicht zuletzt deshalb, weil sie von den meisten Arbeiten zum antiken Handel im Indischen Ozean genannt werden, 23

Kamil V. Zvelebil, The Yavanas in Old Tamil Literature, in: Felix Tauer/Vera Kubickova/Ivan Hrbek

(Eds.), Charisteria Orientalia praecipue ad Persiam. Prag 1957, 401–409. 24

Klijn, The Acts of Thomas (wie Anm.22); Nathanael J. Andrade, The Journey of Christianity to India in

Late Antiquity. Networks and the Movement of Culture. Cambridge 2018, 27–42. 25

Thomasakten, 2 (wie Anm.22).

26

Eivind Heldaas Seland, The Archaeological Record of Indian Ocean Engagements in the Red Sea,

in: Oxford Handbooks Online; https://doi.org/10.1093/oxfordhb/9780199935413.013.51. 27

Philostorg. hist. eccl. 3,6.

28

Sidebotham, Berenike (wie Anm.20), 260–262; Steven E. Sidebotham, Northern Red Sea Ports and Their

Networks in the Late Roman/Byzantine Period, in: Marlia Mundell Mango (Ed.), Byzantine Trade, 4th–12th Centuries. Farnham 2009, 305–324. 29

Ramasubbaiyer Krishnamurthy, Late Roman Copper Coins from South India. Karur and Madurai. Mad-

ras 1994; Osmund Bopearachchi, Archaeological Evidence on Changing Patterns of International Trade Relations of Ancient Sri Lanka, in: Osmund Bopearachchi/D. P. M. Weerakkody (Eds.), Origin, Evolution and Circulation of Foreign Coins in the Indian Ocean. New Delhi 1998, 59–78.

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aber sie werden aus einer römischen Perspektive präsentiert. Die Römer erscheinen meist als die aktiven Akteure, die in das Rote Meer vordringen, einen gewissermaßen noch „schlafenden“ ptolemäisch-ägyptischen Handel mit Südarabien erst richtig zum Leben erwecken, die Regelhaftigkeit des Monsun zu verstehen beginnen und auf diese Weise unversehens ihre Aktivitäten über den gesamten Indischen Ozean ausbreiten. Für eine Weile werden sie durch die Krise des 3.Jahrhunderts n. Chr. gestört, aber dann kommen sie wieder zurück. Dieses Narrativ ist nicht falsch, aber sehr einseitig, was allerdings erst deutlich wird, wenn wir die indische Perspektive hinzufügen. Auch die Erzählungen über Schiffbrüchige, ob nun wahr oder nicht, spiegeln diese westliche, daher hellenistisch-römische Perspektive: Während der indische Seemann, den es im 2.Jahrhundert v.Chr. nach Ägypten verschlug, lediglich als Auslöser der Entdeckung des Seeweges nach Indien durch die Ptolemäer erscheint, wird der von Plinius erwähnte römische Freigelassene, der vom Kurs abgekommen war und in Sri Lanka landete 30, als Entdecker der Insel betrachtet. Der Apostel Thomas, so die Annahme, ist nach Indien gegangen, um den christlichen Glauben zu verbreiten, dabei vergessen wir leicht, dass es gemäß der Überlieferung der Inder Habban gewesen ist, der im Auftrag seines Königs von Indien nach Jerusalem gereist ist, um ihn zu holen.

III. Abschließende Betrachtungen Um das Verhältnis zwischen einem traditionell romzentrierten Narrativ mit einer bewusst „indozentristischen“ Lesart auszubalancieren, ist zunächst davon auszugehen, dass Entdeckungen natürlich immer unterschiedliche Perspektiven erlauben (und vielleicht auch erfordern): Den Vorgang der „Entdeckung“ des Indischen Ozeans durch mediterrane Akteure können wir teilweise aus den von ihnen hinterlassenen Texten und archäologischen Spuren rekonstruieren, genauso haben aber auch andere Menschen und Bevölkerungsgruppen den Indischen Ozean entdeckt, obwohl sie schon immer an dessen Küsten lebten und als Seefahrer aktiv waren und obwohl ihnen erst ab einem bestimmten Zeitpunkt bewusst wurde, dass es für sie an weit entfernten Küsten entsprechende Möglichkeiten und Chancen gab.

30 Plin. Nat. Hist. 6,84.

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Archäologische Funde in Form von Keramik und insbesondere von sogenannter „roulettierter Ware“ („rouletted ware“) offenbaren Kontakte entlang beider Küsten des indischen Subkontinents einschließlich Sri Lankas mindestens vom Beginn des 3.Jahrhunderts v.Chr. an. Die ältesten indischen Kochgeschirre aus Khor Rori im Oman können ebenfalls in diese Periode datiert werden. 31 Schriftliche Quellen der römischen Zeit, an erster Stelle der Periplus Maris Erythraei aus dem 1. nachchristlichen Jahrhundert, aber ebenso Partien aus Strabons Geographiká, Plinius’ Naturalis historia sowie andere Texte zeigen, dass indische Kaufleute bereits im westlichen Indischen Ozean aktiv waren, als die Römer in dieses Gebiet vordrangen. Inder trieben Handel im Persischen Golf bis nach Mesopotamien hinauf, von Indien direkt über das Meer bis nach Südarabien und Ostafrika. 32 Aus diesen Texten geht ebenfalls hervor, dass derartige maritime Aktivitäten wahrscheinlich bereits im 1.Jahrhundert v. Chr. möglich und üblich waren. Neben indischen Gewürzen und südarabischen Aromatika scheinen indische Textilien für diesen Überseehandel besonders wichtig gewesen zu sein, da sie als bedeutende Importprodukte in den Häfen des südlichen Roten Meeres und des Golfs von Aden auftauchen. 33 Es gibt ferner aus Berenike und, in einem geringeren Ausmaß, aus Myos Hormos Hinweise in Form von Kochgeschirr und Transportkrügen auf indische Seefahrercrews, die dort mit ihren Schiffen aktiv waren, als die Häfen im 1. und 2.Jahrhundert in voller Blüte standen. 34 In der folgenden Zeit, die in der westlichen Chronologie als Spätantike oder Byzantinische Periode bezeichnet wird, haben wir wenige Belege für Schiffe, die von Ägypten aus in den Indischen Ozean aufbrachen, aber es gibt immerhin eine Fülle von Belegen für indische Seeleute und Händler. Interessanterweise sind diese Belege meistens mit den religiösen Aktivitäten der Handelsgemeinschaften verbunden. In Texten dieser Zeit bekommt nämlich der Indische Ozean ein christliches Ge31

Ray, Inscribed Pots (wie Anm.13); Schenk, Rouletted Ware (wie Anm.13); Tripati, Ancient Maritime

Trade (wie Anm.13); Pavan/Schenk, Crossing (wie Anm.14). 32

Eivind Heldaas Seland, Ports and Power in the Periplus. Complex Societies and Maritime Trade on the

Indian Ocean in the First Century AD. Oxford 2010, 67–69. 33

Eivind Heldaas Seland, Here, There and Everywhere. A Network Approach to Textile Trade in the Peri-

plus Maris Erythraei, in: Kerstin Dross-Krüpe/Marie-Louise Nosch (Eds.), Textiles, Trade and Theories. From the Ancient Near East to the Mediterranean. Münster 2016, 211–220. 34

Vimala Begley/Roberta Tomber, Indian Pottery Sherds, in: Steven E. Sidebotham/Willemina Z. Wen-

drich (Eds.), Berenike 1997. Report of the 1997 Excavations at Berenike and the Survey of the Egyptian Eastern Desert. Leiden 1999, 161–182.

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sicht. Christen sind an jeder Küste präsent, einschließlich Indiens, Sri Lankas, des Persischen Golfs, Arabiens, der Küsten des heutigen Eritrea und, laut neuen Belegen, ebenfalls in Somalia. 35 Der spätrömische Bischof Theophilos, genannt der Inder, kam von einer Insel im Indischen Ozean und bereiste die christlichen Gemeinden der Gegend. 36 Aus Indien und Sri Lanka stammen ikonographische, epigraphische und schriftliche Belege von buddhistischen Händlern, einschließlich Beschreibungen von Schiffen sowie von Fremden aus unterschiedlichen Orten, die mit den wohlhabenden buddhistischen Kaufleuten verkehrten. 37 Die meisten der 100 Inschriften in indischer Schrift aus der Hoq-Höhle auf Sokotra stammen aus dem nordwestlichen Indien, einige weisen brahmanische Anspielungen und Konnotationen auf. 38 Sie widerlegen die nach wie vor häufig geäußerte Ansicht, dass religiöse Verbote und Überlegungen die Anhänger des brahmanischen Glaubens von Fernreisen insbesondere über das Meer abhielten. Alles in allem wird man somit von einer signifikanten und bedeutenden Präsenz indischer Kaufleute, Seefahrer, Gesandter und Anhänger indischer Religionen (Buddhisten, Brahmanen) im Indischen Ozean ausgehen müssen, die sich mindestens vom 1.Jahrhundert v.Chr. bis in die erste Hälfte des 1. Jahrtausends n.Chr. erstreckte. Vieles dabei bleibt unklar und unbekannt, wie zum Beispiel die Knotenpunkte und Zentren der in Südasien gebildeten Netzwerke, die Identitäten der Seeleute und Händler sowie die Bauart und Funktion ihrer Schiffe. Warum war die Expansion der südasiatischen Netzwerke im Roten Meer offensichtlich so zögerlich? Was passierte mit den südasiatischen Netzwerken während der Handelskrise im Roten Meer im späten 6.Jahrhundert und der anschließenden islamischen Dominanz im Roten Meer und im Persischen Golf? Viele dieser Fragen werden wegen mangelnder oder

35 Roberta Tomber, Bishops and Traders. The Role of Christianity in the Indian Ocean during the Roman Period, in: Janet Starkey/Paul Starkey/Tony Wilkinson (Eds.), Natural Resources and Cultural Connections of the Red Sea. Oxford 2007, 219–226; Eivind Heldaas Seland, Trade and Christianity in the Indian Ocean during Late Antiquity, in: Journal of Late Antiquity 5, 2012, 72–86; Sada Mire, Mapping the Archaeology of Somaliland. Religion, Art, Script, Time, Urbanism, Trade and Empire, in: African Archaeological Review 32, 2015, 111–136. 36 Nina Pigulewskaja, Byzanz auf den Wegen nach Indien. Aus der Geschichte des byzantinischen Handels mit dem Orient vom 4. bis 6.Jahrhundert. Berlin 1969, 73. 37 Himanshu Praba Ray, The Winds of Change. Buddhism and the Maritime Links of Early South Asia. New Delhi 1998, passim; Kasper Grønlund Evers, Worlds Apart, Trading Together. The Organisation of Long-Distance Trade between Rome and India in Antiquity. Oxford 2017, 13–47. 38 Strauch, Foreign Sailors (wie Anm.14), 354–360.

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unzureichender Quellen unbeantwortet bleiben. Manche Aspekte lassen sich aber besser verstehen, da sich die archäologischen Befunde von den Randgebieten des Indischen Ozeans stetig vermehren und WissenschaftlerInnen zunehmend versuchen, bei der Erforschung früher Kontakte im Indischen Ozean nicht nur von den ostmediterranen Ländern aus zu denken. Während das Modell der griechischen und römischen Expansion in den Indischen Ozean für die Protagonisten der parallelen Bewegung der Frühen Neuzeit in der Tat – zumindest auf der Ebene der Wahrnehmung – inspirierend und wichtig war, bleiben somit Zweifel, ob das Beispiel der Frühen Neuzeit umgekehrt eine gute Analogie für die Vorgänge der Antike darstellt. Es gibt sicherlich Parallelen zwischen beiden Epochen, aber ebenfalls signifikante Unterschiede, nicht zuletzt in der frühneuzeitlichen Verknüpfung von Handelsinteressen, expansionistischen Herrschern und missionarischem Eifer, die im Altertum anscheinend nicht oder zumindest nicht in der Intensität der späteren Epochen vorhanden und dementsprechend für die Erkundung der Meere auch nicht von so wesentlicher Bedeutung waren. Vielleicht ist es deshalb an der Zeit, anstelle bestimmter Makroereignisse und Aspekte von Entdeckungen und Handelsverbindungen eher das Augenmerk auf die Strukturen zu richten, in die diese Ereignisse eingebettet waren und die die Kontakte im Indischen Ozean überhaupt erst ermöglichten. Das heißt nicht, dass es keine Entdeckungen gab oder dass diese nicht wichtig gewesen wären; doch es waren letztlich erst die sich aus diesen Entdeckungen ergebenden und ihnen folgenden Innovationen, vor allem die Verbreitung von Wissen und Kenntnissen, die den Verlauf der Geschichte nachhaltig beeinflussten, weil es Menschen gab, die das Entdeckte für sich nutzbar machten.

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Der Atlantische Ozean und die griechischrömische Welt von Duane W. Roller

Der Beitrag gibt einen Überblick über die wesentlichen Phasen der Erkundung des Atlantiks vornehmlich durch griechische und römische Akteure. Alles begann im späten 7.Jahrhundert v.Chr., als die Griechen der kleinasiatischen Küste von der phönikischen Präsenz in Tartessos (Südspanien) erfuhren und das materiell so verlockende Ziel selbst zu erreichen suchten. Gegen Ende des 6.Jahrhunderts stießen Kapitäne aus Massilia südlich bis in die tropischen Zonen Afrikas vor und im Norden bis zu den britischen Inseln. Als Gerüchte aufkamen, Alexander (der Große) plane Karthago zu erobern sowie Europa über eine maritime Nordroute zu umfahren, um in den Atlantik vorzudringen, führte dies zu einer neuerlichen Intensivierung der Explorationsbemühungen. Bedeutsam wurde vor allem die Fahrt des Pytheas aus Massilia bis in die arktischen Zonen des Nordatlantik. Seine Entdeckungen forcierten die Bemühungen, den Umfang und die Form der Erde zu bestimmen, und sie entzündeten Diskussionen darüber, ob man Indien von den Säulen des Herakles aus in westlicher Richtung über den Atlantik erreichen könne. Mit dem Aufstieg der Römer stockte dann jedoch die Exploration des Atlantiks, nicht zuletzt wegen der großen Gefahren und Risiken, die eine Fahrt auf das offene Meer des Nordens bereithielt. Dennoch legten die griechisch-römischen Entdeckungen die Grundlage für die Erkundung der Welt in der Renaissance.

I. Einleitung – Das Abenteuer des Kolaios Um das Jahr 630 v.Chr. kam ein Schiffskapitän von Samos, der auf einer üblichen Route nach Ägypten unterwegs war, vom Kurs ab und landete in der Nähe von Platea an der libyschen Küste (östlich von Kyrene). Als er versuchte, nach Ägypten zu segeln, wurde er von einem Sturm homerischen Ausmaßes erfasst und in den Westen getrieben: Ein steter Ostwind verschlug ihn über das ganze Mittelmeer und über die Säulen des Herakles hinaus in den Atlantischen Ozean. Schließlich landete er im Gebiet von Tartessos an der südwestlichen Küste Iberiens, die zuvor angeblich nur den Phönikern bekannt war. Kolaios profitierte aber von seinem ungewollten Abenteuer und kam schließlich mit so großen Gewinnen wieder nach Hause, dass er dem Heiligtum der Hera auf Samos enorme Summen spenden konnte. Nicht zuletzt dadurch machte er Tartessos bei den Griechen des östlichen Mittelmeerraums bekannt. Der geradezu sprichwörtliche Reichtum der Stadt spielte eine wichtige Rolle für den sich entwickelnden Wohlstand des archaischen Griechenland.

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Das ist die Geschichte, die Herodot erzählt. 1 Da sie mit der Gründung von Kyrene in Libyen verknüpft ist, kann man sie recht präzise um das Jahr 630 v.Chr. datieren. Kolaios wäre damit der erste Grieche, der den Atlantik befuhr. Vieles an dieser Fahrt, wie sie von Herodot erzählt wird, ist allerdings historisch fragwürdig – insbesondere, dass der Wind das Schiff ohne Unterlass durch das gesamte Mittelmeer von Platea nach Tartessos getrieben hätte. 2 Tatsächlich hätte jede Route zwischen den beiden Orten mehrere Kurswechsel erfordert, und Kolaios muss schon ziemlich viel Glück gehabt haben, dass er trotz des Windes die Meerenge von Sizilien und die noch schmalere Straße von Gibraltar passieren konnte. Außerdem ist es merkwürdig, dass Kolaios nicht versuchte, an Land zu gehen und auf günstigere Winde zu warten. Vermutlich wusste er also mehr als er zugab: Als erfahrener Kapitän war er sicherlich über die Handels- und Gewinnchancen im gesamten Mittelmeer gut informiert. Insbesondere dürfte er auch von den Expeditionen der Phöniker gewusst haben, die seit Jahrhunderten das westliche Mittelmeer und den Atlantik erkundeten. 3

II. Griechen folgen den Phönikern Gelegenheiten, Phöniker zu treffen und Erfahrungen auszutauschen, gab es viele: in Ägypten, einem Land, mit dem gerade Samos enge Handelsbeziehungen unterhielt, in den phönikischen Städten selbst und in der Ägäis, wo es schon seit der späten Bronzezeit phönikische Außenposten gab, wie die homerische Erzählung des Eumaios, des Schweinehirten des Laertes, andeutet: Danach waren die Phöniker bereits vor dem Troianischen Krieg in den Gewässern und auf den Inseln der Kykladen aktiv. 4 Auch Tartessos war den Phönikern seit der Bronzezeit vertraut. König Salomon hatte eine phönikische Flotte nach Tarshish gesandt, das mittlerweile mit Tar1 Hdt. 4,52. 2 Duane W. Roller, Through the Pillars of Herakles. Greco-Roman Exploration of the Atlantic. New York 2006, 3–7; Raimund Schulz, Abenteurer der Ferne. Die großen Entdeckungsfahrten und das Weltwissen der Antike. 2.Aufl. Stuttgart 2016, 130–132. Ältere Diskussion der Fahrt bei Richard Hennig, Terrae Incognitae. Eine Zusammenstellung und kritische Bewertung der wichtigsten vorcolumbischen Entdeckungsreisen an Hand der darüber vorliegenden Originalberichte. 2.Aufl. Leiden 1944, 51–59. 3 Maria Eugenia Aubet, The Phoenicians and the West. Politics, Colonies, and Trade. Cambridge 2001; Duane W. Roller, Phoenician Exploration, in: Brian Doak/Carolina López-Ruiz (Eds.), The Oxford Handbook of the Phoenician and Punic Mediterranean. Oxford 2019 (im Erscheinen). 4 Hom. Od. 15,403–84.

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tessos identifiziert wird. Dies deutet auf eine lange phönikische Präsenz in Südwestspanien hin, was inzwischen auch durch archäologische Funde bestätigt wird. 5 Höchstwahrscheinlich wussten die kleinasiatischen Griechen von diesen Verbindungen der Phöniker – und den Gewinnen, die sie versprachen: Tartessos war für seine Silbervorkommen am Guadalquivir berühmt und galt als ein Dorado der Antike. Kolaios sowie andere Seefahrer und Händler suchten offenbar einen Teil der tartessischen Reichtümer für sich abzuzweigen. Phokaia, die große maritime Polis der archaischen Zeit und ihr Außenposten Massalia an der ligurischen Küste profitierten – neben Samos und Rhodos – am meisten von dem Wissen über das, was jenseits der Säulen des Herakles lag. Obwohl die Phöniker und ihre westlichen Nachfolger, die Karthager, weiterhin die Seefahrt jenseits der Straße von Gibraltar dominierten und wahrscheinlich sogar Afrika am Ende des 7.Jahrhunderts v.Chr. vom Osten aus umrundet hatten, gelang es den Phokaiern und Massalioten wahrscheinlich ebenfalls schon im 7.Jahrhundert, sich an der Erkundung des Atlantiks zu beteiligen. Nachdem die Perser in der Mitte des 6.Jahrhunderts v.Chr. Phokaia erobert hatten, übernahm Massalia die Führungsrolle. 6 Die Berichte über diese frühen griechischen Vorstöße in den Atlantischen Ozean sind begrenzt und verstreut, zudem tauchen sie erst in erstaunlich späten Quellen (Herodot) auf. Dennoch reichen ihre Hinweise aus, um sich ein Bild vom allmählichen Fortschritt der Erkundungen südlich und nördlich der Säulen des Herakles zu machen. Im Norden erreichten die Phokaier und Massalioten die Bretagne und möglicherweise die Küsten von Cornwall und Irland, einschließlich der berühmten Zinninseln, deren Lage immer noch nicht genau bestimmt werden kann. 7 Südlich und entlang der westafrikanischen Küste kam Euthymenes von Massalia sehr wahrscheinlich bis zum Senegal. 8 Mit größerem naturwissenschaftlichen Interesse als andere griechische Kapitäne und Abenteurer beschrieb er die tropische Flora und

5 Genesis 10,4,1; Könige 10,27; Carolina López-Ruiz, Tarshish and Tartessos Revisited. Textual Problems and Historical Implications, in: Michael Dietler/Carolina López-Ruiz (Eds.), Colonial Encounters in Ancient Iberia. Chicago 2009, 255–280. 6 Hdt. 4,42; Max Cary/Eric W. Warmington, Die Entdeckungen der Antike. Zürich 46–50; ausführlich und mit neuer Interpretation der Aktivitäten der Phokaier und Massalioten: Schulz, Abenteurer (wie Anm.2), 117–132. 7 Plin. Nat. Hist. 7,197; Roller, Through the Pillars (wie Anm.2), 12–14. 8 Sen. Nat. Quaest. 4a,2,22; Aristeides 36,85–95; Jehan Desanges, Recherches sur l’activité des Méditerranéens aux confins de l’Afrique. (Collection de l’École française de Rome, 38.) Rom 1978, 24–27.

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Fauna; er mag der erste Grieche gewesen sein, dem ein Flusspferd begegnete, und er war der erste, der die Gezeiten des Ozeans kommentierte, ein für die Griechen neues und erstaunliches Phänomen, weil die Gezeitenbewegungen im Mittelmeer nur schwach ausgebildet waren. In etwa zeitgleich mit Euthymenes und anderen Kapitänen aus Massilia waren auch die Karthager im Atlantik aktiv. Details ihrer Unternehmungen dürften allerdings den meisten Griechen bis zum Untergang Karthagos im Jahr 146 v.Chr. nicht bekannt gewesen sein. Zu Beginn des 5.Jahrhunderts hatten die karthagischen Entdecker Hanno und Himilko zum größten Teil dieselben Küsten erkundet wie die Massalioten: Da die massaliotischen und karthagischen Expeditionen zeitlich so nah beieinander liegen, ist es heute schwierig zu entscheiden, welche früher erfolgten. Hanno fuhr jedenfalls (wie Euthymenes) südlich entlang der Küste Libyens in die westafrikanischen Tropen; dort konnte er vulkanische Aktivitäten an der Küste beobachten, die von einem Berg ausgingen, den er „Wagen der Götter“ nannte. 9 Ferner traf er auf einen Stamm, den man die „Gorillai“ nannte; im 19.Jahrhundert übertrug man dann diesen Namen auf eine Spezies humanoider Affen. Bereits vorher hatte Hanno an der westafrikanischen Küste mehrere karthagische Siedlungen als Handelshäfen gegründet; vermutlich gab es mehrere Dutzend dieser Ansiedlungen. 10 Hannos Zeitgenosse Himilko segelte dagegen nach Norden. Während seiner viermonatigen Fahrt erreichte er vermutlich Irland und vielleicht sogar die Azoren. Weitere karthagische Kapitäne, unter ihnen vielleicht ebenfalls Himilko, entdeckten Madeira, die Kanarischen Inseln und womöglich die Kapverden, die anderen drei Inselgruppen im Atlantischen Ozean. 11 Alle Reisen – seien es phönikische, karthagische oder griechische – dienten vorwiegend Handelsinteressen. Welterkundung im Sinne des wissenschaftlichen Fortschritts, wie sie in der frühneuzeitlichen Welt praktiziert wurde, spielte als Motiv in der Antike eine geringe Rolle, obwohl natürlich neues empirisches Wissen über fremde Flora und Fauna, Menschen, Landschaftsformen sowie Kuriositäten (thau-

9 Zu Hannos Text (einer griechischen Zusammenfassung einer phönizischen Zusammenfassung) siehe Roller, Through the Pillars (wie Anm.2), 129–132; deutsche Übersetzung bei Hennig, Terrae Incognitae (wie Anm.2), 86–95. 10

Vgl. die Einzelheiten der ersten und zweiten Phase der Hanno-Expedition bei Schulz, Abenteurer (wie

Anm.2), 157–164. 11

Plin. Nat. Hist. 2,169; Avienus, Ora maritima 383, 412–417. Vgl. Hennig, Terrae Incognitae (wie

Anm. 2), 96–107; Schulz, Abenteurer (wie Anm.2), 153f.

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masia) ein Nebenprodukt dieser frühen Reisen sein konnte. Zumal die griechischen Seefahrer entwickelten zudem ein wachsendes Interesse an der Größe und Form der Erde insgesamt und an den sich verändernden Sternenkonstellationen und Lichtverhältnissen, wenn sie weit nach Süden oder Norden segelten. Letztlich ergaben sich daraus Überlegungen, die bereits in der späten Archaik zunächst in den kleinasiatischen Poleis (Milet) entwickelt wurden und in hellenistischer Zeit zur Entstehung der Geographie als wissenschaftlicher Disziplin führen sollten. 12 Mit der Zeit gelang es den Karthagern jedoch, die Griechen vom Atlantik weitgehend abzuschirmen und ihnen die Durchfahrt durch die Straße von Gibraltar zu erschweren. Auch wenn – oder gerade weil – die Griechen im frühen 5.Jahrhundert recht gut über die atlantische Küste vom Ärmelkanal bis zum Golf von Guinea Bescheid wussten, machten ihnen die Karthager klar, dass sie griechische Fahrten nicht mehr dulden würden. Glaubt man Polybios, so haben sie offenbar jedes griechische (und römische) Schiff, das vertraglich festgelegte Demarkationslinien durchbrach, versenkt bzw. aufgebracht und zur Landung gezwungen. 13 Diese Maßnahmen waren – neben anderen außenpolitischen Faktoren – offenbar erfolgreich: Nach den Reisen der Kapitäne aus Massalia im frühen 5.Jahrhundert v.Chr. gab es keinen nennenswerten griechischen Wissenszuwachs über die Regionen am Atlantik. Die meisten der an der atlantischen Küste Iberiens errichteten massaliotischen Außenposten wurden offenbar aufgegeben. In den 340er Jahren gelang es lediglich einem namentlich nicht bekannten Griechen, durch die Straße von Gibraltar an der afrikanischen Küste bis nach Kerne zu segeln, den größten karthagischen Handelsposten an der westafrikanischen Küste (die genaue Lage ist nicht bekannt). Hier berichtete er von einem florierenden Handel unter anderem mit Tierhäuten, Elfenbein, Gold und Gewürzen. 14 Interessanterweise hatten sogar attische Tonwaren ihren langen Weg nach Kerne gefunden. Dennoch gibt es außer diesem anonymen Reisenden für den Zeitraum zwischen circa 500 v.Chr. und der Zeit Alexanders des Großen keine weiteren Hinweise auf irgendwelche griechischen Seefahrer oder Händler jenseits der Säulen des Herakles.

12 Duane W. Roller, Ancient Geography. The Discovery of the World in Classical Greece and Rome. London 2015, 2–5. 13 So zu schließen aus den Bestimmungen des ersten römisch-karthagischen Vertrages bei Polyb. 3,22. 14 Pseudo-Skylax 112.

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III. Alexanders Pläne im Westen und die Expedition des Pytheas Erst mit Alexander setzte eine Phase der Ozeanerkundung ein. Als der Makedonenkönig in den 330er Jahren v.Chr. in den syrischen und levantinischen Raum vorstieß und im Jahre 334 v.Chr. die phönikische Stadt Tyros erreichte, forderte die belagerte Stadt angeblich Hilfe von ihrem ehemaligen Außenposten Karthago. 15 Auch wenn diese aus uns unbekannten Gründen ausblieb – die sich abzeichnende Umwälzung der Machtverhältnisse im Osten konnte auch im Westen nicht gänzlich ignoriert werden. Immerhin gab es Gerüchte, wonach Alexander einen Angriff auf Karthago plante. Als der Eroberer der östlichen Oikumene eine Dekade später in Babylon überraschend starb, schienen sich die Gerüchte zu bestätigen. In seinen Unterlagen fanden sich Aufzeichnungen (die sogenannten „letzten Pläne“) für weitausgreifende Feldzüge, die nun auch den westlichen Mittelmeerraum einschließlich der phönikischen Metropole in Nordafrika anvisierten. 16 Bereits einige Jahre nach der Belagerung von Tyros waren zudem Berichte im Umlauf, wonach Alexander vom Kaspischen Meer aus nördlich um Europa herum über das Meer einen Vorstoß Richtung Westen vorbereitete. Eine solche Fahrt schien möglich, da die vorherrschende Meinung der Zeit besagte, dass das Kaspische Meer kein Binnenmeer, sondern mit dem äußeren Ozean verbunden war. 17 Der Westen war alarmiert, und die Nervosität erreichte ihren Höhepunkt, als zahlreiche westliche Gesandte kurz vor dem Tod Alexanders in Babylon eintrafen, unter ihnen Kelten, Iberer, Karthager und Gallier. Vielleicht mag die Liste der Gesandtschaften im Nachhinein erweitert worden sein, um das Prestige des makedonischen Weltherrschers zu steigern und die Reichweite seiner expansiven Ambitionen zu unterstreichen. Doch unzweifelhaft belegen sie die wachsende Sorge und Unsicherheit westlicher Mächte über die Absichten Alexanders. Auch die Massalioten waren hiervon betroffen und werden deshalb wohl ebenfalls Gesandte nach Babylon geschickt haben. Auch wenn Alexanders vorrangiges Angriffsziel ihr alter Feind Karthago war, so hätte doch niemand voraussagen können, ob sich seine Vorstöße im weiteren Verlauf nicht auch auf griechische Poleis wie Massalia richten würden.

15

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Diod. 17,40–3; Curt. 4,6,19.

16

Diod. 18,4,4; Curt. 10,1,17–18; Arr. An. 7,1; Plut. Alex. 68,1.

17

Diod. 17,75, 113; Arr. An. 7,16; Plut. Alex. 44.

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Auch wenn präzise Angaben fehlen und zusätzliche gravierende Veränderungen und Machtverschiebungen unter den keltischen Nachbarn und Handelspartnern im europäischen Binnenland in Rechnung zu stellen sind 18, so scheint es doch dieses allgemeine Gefühl der Unsicherheit gewesen zu sein, das die Massalioten in dieser Zeit veranlasste, zu überprüfen, ob Alexander tatsächlich das westliche Mittelmeer auf dem Seeweg nördlich um Europa herum erreichen könnte. In diese Zeit fiel denn auch die bedeutendste und berühmteste (gleichwohl umstrittenste) Atlantikexpedition der Antike, die mit dem Namen des Pytheas verbunden ist. Seine Unternehmungen waren nicht nur wegen ihrer räumlichen Ausdehnung in bis dahin weithin unbekannte Gewässer, sondern auch wegen der auf diesen Reisen erzielten wissenschaftlichen Erkenntnisse von außergewöhnlicher Bedeutung. 19 Ephoros oder Aristoteles erwähnen Pytheas nicht, aber er wurde vom Aristotelesschüler Diakaiarchos von Messana zitiert, so dass man seine Expedition in die 330er oder 320er Jahre datieren könnte. 20 Ob die Reise tatsächlich als Antwort auf massaliotische Sorgen in Bezug auf Alexander oder unabhängig davon erfolgte, kann nicht mit Sicherheit entschieden werden, auch wenn der Tod Alexanders im Jahre 323 v. Chr. jegliche Sorgen beendete. Doch zu dieser Zeit dürfte die Expedition des Pytheas noch voll im Gang gewesen sein. Bis zu seiner Rückkehr nach Massalia veröffentlichte Pytheas seine Berichte in einer Abhandlung „Über den Ozean“ (peri Okeanou), von der allerdings nur circa zwanzig Paraphrasen oder Zitate erhalten sind. Diese finden sich vor allem bei Strabon und Plinius, aber sie erstrecken sich auch auf die Schriften anderer Autoren von Polybios über Hipparchos bis Kosmas Indikopleustes. Eine Interpretation der Entdeckungen und Erkenntnisse, die Pytheas auf seinen Reisen erzielte, wird dadurch erschwert, dass die antike Tradition ihm gegenüber fast gänzlich feindlich eingestellt war. Polybios scheint den Anfang gemacht zu haben: Er sah in dem Massalioten einen Rivalen seiner eigenen Reputation als Entdecker und behauptete nicht sehr überzeugend, Pytheas habe nicht genügend Unterstützung der Herrschenden gehabt, um eine solche Expedition in Angriff zu nehmen. Er spielte damit an auf die Tatsache, dass er selbst im Auftrag und mit

18 Auf diese Zusammenhänge erlaubt sich der Herausgeber mit ausdrücklicher Zustimmung des Autors hinzuweisen; Genaueres bei Schulz, Abenteurer der Ferne (wie Anm.2), 217–219. 19 Christina Horst Roseman, Pytheas of Massalia. On the Ocean. Chicago 1994; Roller, Through the Pillars (wie Anm.2), 60–91. 20 Strab. 2,4,2.

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Rückendeckung des römischen Feldherrn Scipio Aemilianus eine Expedition über die Straße von Gibraltar unternahm. 21 Der kaiserzeitliche Geograph Strabon hat dafür gesorgt, dass die Kritik an den Erfolgen des Pytheas weitere Verbreitung fand, obwohl er paradoxerweise die meisten Informationen über den Entdecker überlieferte. Im Großen und Ganzen war Pytheas gewissermaßen nicht nur ein Opfer der üblichen und mithin reflexartigen Kritik späterer Autoren an ihren Vorläufern sowie dem schlechten Ruf, den Kaufleute wie die Massalier zumal unter den Literaten und Gelehrten genossen; verantwortlich dafür war auch die Explosion des Wissens, die seit der Zeit des frühen Hellenismus einsetzte. Insbesondere etablierte sich die (mathematische) Geographie als wissenschaftliche Disziplin, und dies förderte offenbar ein recht allgemeines Misstrauen gegenüber allen Berichten über ausgedehnte Fernerkundungen und Berichte von fremdartig anmutenden Phänomenen, wie sie ja Pytheas im hohen Norden mit der Sprache seiner Zeit schilderte – ein Problem, das so alt ist wie Homer und so jung wie die Entdecker des 19.Jahrhunderts. Die moderne Althistorie hat demgegenüber eine gleichermaßen nüchterne und im Allgemeinen wohlwollendere Haltung gegenüber Pytheas und seinen Entdeckungen eingenommen, zumal seitdem die arktischen Zonen viel besser bekannt wurden als in der Antike: Fridtjof Nansen hielt Pytheas für einen der größten Entdecker aller Zeiten. 22 Die wahrscheinliche Route seiner Fahrten wird diesem Urteil durchaus gerecht. Da die Karthager es offenbar weiterhin griechischen Schiffen erschwerten, durch die Säulen des Herakles zu fahren, musste Pytheas entweder über Land zur Mündung der Garonne oder der Loire reisen. Seine eigentliche Expedition begann, indem er die Küste Britanniens erkundete, diese dürfte bis dahin die äußerste Grenze früherer massaliotischer Vorstöße gewesen sein. Bis zu diesem Punkt war er lange bestehenden Handelsrouten gefolgt. Danach stieß er vor in eine Gegend namens Kantion (Kent) auf der Insel Prettanike (Britannien). Dort scheint er längere Zeit damit verbracht zu haben, die Insel zu erkunden und ethnographische Details, Toponyme und Ethnonyme aufzuzeichnen sowie die Höhe der Tide und den Sonnenstand festzuhalten. Er war dabei der erste, der Theorien über die Gezeiten entwickelte – um die Britischen Insel finden sich mit die stärksten weltweit – und kam zu dem Schluss,

21

Polyb. 3,59,7; 34,5; siehe unten S. 133ff.

22

Fridtjof Nansen, In Northern Mists. Arctic Exploration in Early Times. Transl. by Arthur G. Chater.

Vol. 1. New York 1911, 43–73.

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dass sie irgendwie mit dem Zyklus des Mondes zusammenhängen, zweifellos eine seiner bedeutendsten Leistungen. Eine andere bestand in den regelmäßigen Berechnungen der (geographischen) Breite, indem er die Höhe der Sonne bei dem Äquinoktium seit der Abreise von Massalia maß. Er führte diese Methode an verschiedenen Orten auf den Britischen Inseln durch, wie zum Beispiel an der nördlichen Spitze Schottlands bei Dunnet Head und vielleicht auf der nördlichen Höhe der Färöerinseln. Nördlich von Schottland wird es schwerer, Pytheas’ Fahrtroute nachzuvollziehen. Sechs Tagesreisen von Prettanike entfernt erreichte er den berühmtesten Punkt seiner Reise: Thule, eines der größten topographischen Mysterien der antiken Entdeckungsgeschichte. Mit der Zeit wurde es zum ultimativen Symbol für die letzte Ferne, versinnbildlicht etwa durch Vergils ultima Thule. 23 Pytheas war der erste, der den Namen verzeichnete: Alle anderen, die später behaupteten, Thule erreicht zu haben, hatten keine eindeutige Verbindung zu der Gegend, die Pytheas erreichte. Entsprechend lokalisierten spätere Reisende Thule überall im nördlichen Atlantik, zuerst an Orten von den Shetlands bis nach Island und Norwegen, und dann, nachdem es mit anderen Toponymen verwechselt worden war, praktisch überall auch außerhalb des Atlantiks, wie mit der Stadt Tyros oder sogar bei Tylos (das heutige Bahrain) am Persischen Golf. Kolumbus scheint geglaubt zu haben, dass es sich um Jan Mayen handelte, und in jüngerer Zeit wurde Thule auf Grönland verortet. 24 Darüber hinaus ist die Interpretation der Fragmente von Pytheas’ „Über den Ozean“ durch die negative Haltung des Polybios und Strabos geprägt. Alles, was mit Sicherheit über Thule gesagt werden kann, ist, dass die Insel sechs Tagesreisen von Prettanike entfernt und nicht weit weg vom „Gefrorenen Meer“ lag. Aber selbst die Validität dieser Information wird dadurch beeinträchtigt, dass man nichts Genaues über Pytheas’ Transport- und Reisemodalitäten weiß. Island ist in jedem Falle der wahrscheinlichste Ort, der manchmal von den Färöerinseln aus sichtbar ist. Dagegen ist die Angabe, Thule liege in der Nähe des „Gefrorenen Meeres“ weniger hilfreich, als es den Anschein hat. Denn selbst isolierte Formationen gefrorenen Eises wären eigentlich für einen Bewohner des Mittelmeeres eines Kommentars wert gewesen. Zudem variiert die Breite der polaren Eisdecke von Jahr zu Jahr. Dagegen war Thule für Pytheas ein derartig fremder und entlegener Ort, dass die 23 Verg. Georg. 1,30. 24 Roller, Through the Pillars (wie Anm.2), 78–81.

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Erde noch nicht vollständig ausgeformt war, sondern sich gewissermaßen noch in einem urzeitlichen Zustand befand – vielleicht ein Verweis auf das Hin- und Herschwappen der lockeren Eisdecken im Meer und der vulkanischen Bewegungen zu Lande. Außerdem war es die ganze Nacht lang hell und die Sonne schien sich am Himmel rückwärts von Westen nach Osten zu bewegen. Ein Ort, den Pytheas mit Thule in Verbindung brachte, hieß das „Bett der Sonne“. Das könnte darauf hindeuten, dass Thule dort liegt, wo die Sonne während ihrer östlichen Route nicht sichtbar ist, und das wiederum setzt – jedenfalls nach der Vorstellung des Pytheas – voraus, dass es Berge im hohen Norden gibt. 25 Die Mitternachtssonne und das Eismeer sowie andere Phänomene der höheren Breitengrade sind der heutigen Welt vertraut, aber sie dürften für einen Mittelmeerbewohner unverständlich gewesen sein. Auch deshalb behaupteten spätere Autoren wie Polybios und Strabo, Pytheas habe sich das alles ausgedacht und sei ein Lügner. „Was Pytheas über Thule berichtete [so Strabo], ist erfunden. […] und er behauptet falsches von entlegenen Orten.“ 26 Das ist allerdings eine seltsame Aussage, die nicht bewiesen werden kann, da in Strabos Zeit niemand nach Thule zurückkehrte oder überhaupt wusste, wo es lag. Für den gesamten Zeitraum der Antike gibt es keine Belege für weitere Vorstöße in die Arktis; dementsprechend war es einfach und wohlfeil, alles zu verwerfen, was Pytheas beschrieb. Der weitere Verlauf der Route nach dem Aufenthalt in oder der Erkundung von Thule lässt sich noch schwerer rekonstruieren. Vielleicht landete Pytheas an der norwegischen Küste und bog dann in die Ostsee ein. Strabo schlug sogar vor, er sei auf einen Weg von der Ostsee ins Schwarze Meer gelangt. Das wäre in der Tat eine herausragende Leistung gewesen. Möglicherweise fuhr er bis zum Mündungsgebiet der Weichsel (Vistula) und folgte von dort flussaufwärts etablierten Handelsrouten bis zum Tanais, dem modernen Don an der nordöstlichen Küste des Schwarzen Meeres, wo er dann auf ein von Griechen besiedeltes Gebiet getroffen wäre. 27 Doch all dies ist ziemlich spekulativ. In jedem Falle überlebte Pytheas seine Reise und veröffentlichte Erkenntnisse, die für andere Forscher wie Dikaiarchos von Messene innerhalb einer Generation verfügbar waren. Auch wenn Strabon und Polybios die Details der Reise verwarfen, fanden Pytheas’ Erkenntnisse somit Eingang in das wissen-

130

25

Geminos 6,9.

26

Strab. 4,5,5.

27

Strab. 2,4,1; Pomp. Mela 3,33.

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schaftliche Denken der Zeit. Seine Breitengradberechnungen waren zunächst reine Datensammlungen über die Höhe der Sonne zur Sonnenwende, aber sie wurden binnen eines Jahrhunderts zu eigentlichen Breitengraden weiterverarbeitet. Seine Theorien über Ebbe und Flut bildeten die Grundlage für alle zukünftigen Gezeitentheorien. Zudem überlieferte er wichtige Daten über Himmelserscheinungen des hohen Nordens, und er war der erste, der den nördlichen Himmelspol in Relation zu anderen Fixsternen bestimmte. Nicht ohne Grund galt Pytheas für viele als gelehrtester Mensch seiner Zeit, der in der Nachfolge der sagenumwobenen Argonauten den hohen Norden der mediterranen Welt erschlossen hatte. 28

IV. Roms Interesse am Atlantik – Die Fahrt des Polybios Nach Pytheas’ großer Expedition erlahmte zunächst die explorative Dynamik der Griechen im Atlantik. Pytheas war es zwar gelungen, die „Blockade“ der Karthager an der Straße von Gibraltar zu umgehen, doch war diese nach wie vor vorhanden und erschwerte entsprechende Folgefahrten. Hinzu kam, dass sich nach den Erfolgen Alexanders Forschungs- und Handelsinteressen stärker dem Osten zuwandten und sich auf die Seerouten vom Roten Meer nach Indien und zur ostafrikanischen Küste richteten. Die Gelehrten an den großen Wissenszentren der östlichen Monarchien (Alexandria) waren weithin damit beschäftigt (und wohl auch nicht selten damit überfordert), die gewaltige Menge an geographischen Daten, die im vergangenen Jahrhundert gesammelt worden waren, zu verarbeiten. Hierzu gehörte auch das Material, das Pytheas über den Norden geliefert hatte. Es wurde besonders wichtig für die sogenannte mathematische Geographie: Im späten 3.Jahrhundert v.Chr. hatte Eratosthenes von Kyrene die Größe der Erde sowie die Position des bevölkerten Teils bestimmt, und er hatte viele Orte lokalisiert, indem er auch die Breitengradberechnungen des Pytheas nutzte. 29 Sie bildeten eine wichtige Basis, um das Gradnetz der Erde auszuarbeiten. Die Größe der Erde zu begreifen, führte soweit zu einer, wenn nicht der sich aufdrängenden Frage, die offenbar bereits Alexander (und Aristoteles) beschäftigt hatte: Wäre es möglich, westlich von den Säulen des Herakles über den Atlantik zu segeln 28 Timaios F85; Schol. Apoll. Rhod. 4,761–5a; Mart. Cap. 6,609. 29 Duane W. Roller, Eratosthenes’ Geography. Princeton 2010.

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und Indien zu erreichen? Derartige Überlegungen forcierten die Bemühungen, die Größe beziehungsweise die Ausdehnung des Atlantischen Ozeans genauer zu bestimmen. Er war nicht mehr nur ein Küstenstreifen mit einem Ozean, der sich gen Westen in unendliche Weiten erstreckte, sondern ein maritimer Raum, den man überqueren konnte. Aristoteles scheint der erste gewesen zu sein, der glaubte, dass dies möglich sei, ohne dass er eine klare Vorstellung von der Länge der zu befahrenden Strecke hatte. 30 Aber mit den Berechnungen des Erdumfanges und der bewohnten Erdoberfläche verdichteten sich die Vermutungen von einer begrenzten Distanz, vielleicht 70000 bis 100000 Stadien. Folglich nahm der Atlantik die Form einer von Land recht eng abgeschlossenen maritimen Größe an. Allerdings erschien die Distanz von der Straße von Gibraltar bis nach Indien immerhin noch so groß, dass man mit der Existenz dazwischenliegender Landmassen rechnen musste (oder konnte) und dass dementsprechend das westliche Ende des Atlantiks nicht Indien war, sondern dass dort ein neuer Kontinent sein könnte, eine „neue Welt“, wie Seneca sie später nannte, eine Gegend ganz und gar anders als die bekannte. 31 Derlei wissenschaftliche Bemühungen und Spekulationen um die Erfassung der maritimen und territorialen Großräume wurden allerdings – wie nicht selten in der Geschichte der Entdeckungen 32 – begleitet von einer einschneidenden politischen Machtverlagerung, die im westlichen Mittelmeerraum ihren Ausgang nahm. Es gibt Hinweise darauf, dass schon im 4.Jahrhundert v.Chr. viele Handelszentren der Karthager an der afrikanischen Küste des Atlantiks verlassen waren. Zu Beginn des Jahres 146 v.Chr. eroberten die Römer Karthago selbst. Die Sieger hatten bis dahin keinerlei Interesse an einer Erkundung des Atlantiks gezeigt, aber mit dem Untergang der punischen Großmacht entdeckten sie das kulturelle Erbe der Karthager, und dieses war wesentlich von ihren maritimen Entdeckungen geprägt. Vage Einzelheiten über Hannos Reise waren seit einiger Zeit bekannt – ein Teil seines Berichts war nicht genau datierbar ins Griechische übersetzt worden –, doch die Ausmaße des karthagischen Wissens über den Atlantik wie beispielsweise die genauen Routen und Ziele der Fahrten des Himilko und anderer Entdecker blieben der griechisch-römischen Welt noch verschlossen.

132

30

Arist. Meteor. 2,5.

31

Sen. Medea 363–379. Vgl. den Beitrag von Raimund Schulz in diesem Band.

32

Bemerkung des Herausgebers mit freundlicher Erlaubnis des Autors.

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Nach der Einnahme Karthagos scheint sich das zumindest partiell geändert zu haben. Im Stab des römischen Oberkommandierenden Scipio Aemilianus befand sich der ehemalige achäische Offizier Polybios als Berater, und ihm fiel die Aufgabe zu, das karthagische Staatsarchiv und die Bibliothek zu inspizieren. Polybios wird heute meist nach seinen Leistungen als Schriftsteller und Verfasser der „Historien“ beurteilt, weniger nach seiner Karriere und seinen Aktivitäten zumal unter römischen Fahnen. Er selbst sah sich als Entdecker, als neuer Odysseus, so wie es auch das Denkmal in seiner Heimatstadt Megalopolis auf der Peloponnes beschrieb. Die Inschrift betont seine Entdeckungen und geht auf seine historiographischen Schriften gar nicht ein. 33 Vor dem Untergang Karthagos hatte Polybios Hannibals Route über die Alpen untersucht. 34 Nach der Einnahme und der Zerstörung der Stadt übergab ihm Scipio eine Flotte mit dem Auftrag, die Reise Hannos zu wiederholen und nun im römischen Interesse die Welt außerhalb der Säulen des Herakles zu erkunden. 35 Polybios besuchte dabei Kerne – er war vermutlich einer der Letzten, der das Emporion vor seinem Untergang sah – und stieß dann weiter südlich bis zum Äquator vor, vermutlich soweit wie kein Grieche zuvor. Als Wissenschaftler trieb ihn offenbar weniger der Ehrgeiz, die Natur des Atlantiks zu erklären als vielmehr die Absicht, die relative Lage eines Ortes zum Äquator zu bestimmen: Dazu musste er die Position (des Äquators) von der Himmelssphäre aus projizieren. Was er herausfand und in einer Abhandlung über die Natur der äquatorialen Regionen veröffentliche, erstaunte ihn: dass nämlich die klimatischen Bedingungen der Äquatorialzone bereits in viel höheren Breiten (als gedacht) zu beobachten sind. In entgegengesetzter Richtung wiederholte Polybios zumindest in Teilen die Reise Himilkos, und er erfuhr etwas über Pytheas von den Massalioten in Scipios Umgebung. 36 Seine Fahrt gen Norden erbrachte allerdings – zumindest bis zur Mündung der Loire – keine Informationen, die Pytheas’ Erkenntnisse bestätigten, weil die massaliotischen Händler ihr Wissen über die Handelsrouten geheimhielten. Da Polybios die Person des Pytheas eher als ein Phantom begriff und dessen Fahrten ohnehin als Bedrohung für seinen eigenen Ruf als Entdecker betrachtete, brandmarkte

33 Polyb. 12,28,1; Pausanias 8,30,8. 34 Polyb. 3,48,12. 35 Plin. Nat. Hist. 5,9–10 (= Polyb. 34,15,7). Vgl. Hennig, Terrae Incognitae (wie Anm.2), 248–251. 36 Strab. 4,2,1 (= Polyb. 34,10,6).

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er den Massalioten als einen Schöpfer von Unwahrheiten. Dies hat Pytheas’ Ruf lange Zeit zumindest in bestimmten Kreisen nachhaltig beschädigt. Für die Zeit nach den Expeditionen des Polybios berichten die Quellen nur noch von einer größeren, aber offenbar gescheiterten Entdeckungsfahrt eines griechischen Kapitäns in den Atlantik. Gegen Ende des 2.Jahrhunderts v.Chr. versuchte Eudoxos von Kyzikos, der bereits im Auftrag der Ptolemäer vom Roten Meer aus das Monsunsystem entschlüsselt hatte und an die indische Westküste gesegelt war 37, das Gleiche vom Westen aus um Afrika herum, um auf diese Weise vermutlich die hohen Zölle der Ptolemäer zu umgehen. 38 Allerdings hören wir nichts vom weiteren Verlauf und dem Ergebnis dieser Fahrt, vermutlich ist der wagemutige Kapitän verschollen und sein Schiff gesunken. 39 Sein Plan konnte so offenbar erst in der Renaissance durch Vasco da Gama umgesetzt werden. Im 1.Jahrhundert v.Chr. kannten somit griechische Händler und Abenteurer die atlantische Küste von den Tropen bis zur Arktis, auch wenn die Informationen über alles, was nördlich des Ärmelkanals lag, eher vage und spärlich blieben. Die Britischen Inseln und andere atlantische Eilande waren jedenfalls bekannt; einiges konnte aus dem Material der Karthager hinzugewonnen werden. So kam der Gedanke auf, dass der Atlantik endlich ist, sich bis nach Indien erstreckt und dass es dazwischen einen noch unbekannten Kontinent geben könnte. Alles das war jedoch eher ein Ergebnis rational-spekulativer Überlegungen, abgeleitet vom zeitgenössischen Weltbild, und basierte nicht auf empirischen Daten. Die Gegenden südlich des Äquators blieben unentdeckt, obwohl man seit langem vermutete, dass die südliche Hälfte der Erde die nördliche spiegele: Diese südliche Hälfte wurde als „Antipoden“ bezeichnet – ein pythagoreischer Begriff –, und sie umfasste eine große südliche arktische Zone. Der Begriff „antarktisch“ tauchte im 1.Jahrhundert v.Chr. auf. 40 Das römische Interesse am Atlantik blieb gering, insbesondere was die maritimen Räume südlich der Straße von Gibraltar betraf. Die Fahrten des Polybios rechtfertigten aus römischer Perspektive keine weiteren Untersuchungen. Nur die Regionen nördlich und östlich des Ärmelkanals waren für die Römer von Belang: Für sie war der Atlantik eher ein Ende und kein Anfang; die Küsten des Ozeans mussten ge-

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37

Siehe die Beiträge von Raimund Schulz und Ronald Bockius in diesem Band.

38

Strab. 2,3,4–5; Roller, Through the Pillars (wie Anm.2), 106–112.

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Vgl. Schulz, Abenteurer (wie Anm.2), 310f.

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Diog. Laert. 8,26; Geminos 5,16.

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sichert werden, aber es gab nichts, was den Blick auf die Räume jenseits dieser Küsten auf sich zog, mit wenigen Ausnahmen wie etwa die Britischen Inseln. Die Expeditionen des Drusus und seines Sohnes Germanicus in spätaugusteischer Zeit und der frühen Regierungszeit des Tiberius dienten dazu, die Küstenstreifen um die Rheinmündung abzusichern; sie sollten aber nicht über diese Küsten hinausfahren; dennoch fügten sie dem bekannten Wissen einiges Wenige hinzu, unter anderen den Namen Septentrionalis Oceanus. 41 Allerdings mussten die Schiffe des Germanicus in der Nähe von Borkum große Verluste durch die Tide des Wattenmeeres hinnehmen. Dies war nur eine von mehreren Katastrophen, welche die römischen Flotten in dieser Region innerhalb einer einzigen Generation erlitten. 42 Auch deshalb hat man offenbar weitere Versuche, den Ozean zu erkunden, aufgegeben. Immerhin dürften die römischen Unternehmungen auch die Abfassung eines weiteren wissenschaftliches Werkes über den nördlichen Atlantik mitbeeinflusst haben. Der wenig bekannte Philemon legte in der Mitte des 1.Jahrhunderts n.Chr. eine geographische Abhandlung vor, die den Raum von Irland bis zur Ostsee umfasste, vielleicht mit einem besonderen Schwerpunkt auf den sogenannten Bernsteinrouten. 43 Auch wenn die Römer somit insgesamt eher geringes Interesse am Atlantik zeigten, so segelten die wenigen, die in das Nordmeer fuhren, stets im Schatten des Pytheas. Als Julius Agricola im späten 1.Jahrhundert n.Chr. eine Entdeckungsfahrt an der britischen Küste entlang in Auftrag gab, wollte er unter anderem die Erkenntnisse des Pytheas überprüfen: Dazu gehörten die mächtigen Gezeiten der Nordsee sowie die Lage Thules, das er bei den Shetlands verortete. 44 Doch all das verhinderte nicht, dass die antike Erforschung des Atlantiks im 1.Jahrhundert ihrem Ende entgegenging. Man braucht nicht zu betonen, dass vieles für uns verschlossen und ungeklärt bleiben wird. Hierzu zählen auch die römischen Amphoren, die man in der Guabanara-Bucht in Rio de Janeiro gefunden hat und die manche zu der Vermutung veranlassen, dass doch ein römisches Schiff die Neue Welt erreicht habe, indem es – wie Cabral 1500 Jahre später – von Westafrika nach Brasilien fuhr. 45 Doch nachdem Drusus und Germanicus an der Nordseeküste mit so großen Verlusten zu kämpfen

41 Roller, Through the Pillars (wie Anm.2), 117–121. 42 Schulz, Abenteurer (wie Anm.2), 348. 43 Plin. Nat. Hist. 4,95; 37,33,36; Ptolem. Geogr. 1,11,8. 44 Tac. Agr. 38; Roller, Through the Pillars (wie Anm.2), 123f. 45 Frank J. Frost, Voyages of the Imagination, in: Archaeology 46, 1993, 47.

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hatten und Agricola Britannien umfahren ließ, ging man im Allgemeinen davon aus, dass damit die Römische Welt ihre natürliche Grenze an der Atlantikküste gefunden hatte – die immerhin vom Äquator bis nach Norwegen verlief. Fortan verlagerten sich die römischen Interessen auf andere Gebiete. Dennoch gab es immer wieder Spekulationen über das, was jenseits des Atlantiks lag. Die „Neue Welt“ Senecas des Jüngeren, Plutarchs Insel des Kronos, der große jenseitige Kontinent und Lukians Paradiesinsel, auf der es Unmengen von Wein und willigen Frauen geben sollte, spiegeln dieses Interesse. 46 Dabei handelte es sich jedoch insgesamt eher um spielerische Fantasterei als um wissenschaftliche Gelehrsamkeit, obgleich diese Berichte großen Einfluss auf die Entdecker der Renaissance ausübten. Kolumbus besaß eine Kopie von Senecas Text mit ausgiebigen Anmerkungen am Rand; sie findet sich heute noch in Sevilla.

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Sen. Medea 363–79; Plut. De specie lunae 26; Lukian, ver. hist. 1.

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Die Integration Chinas in die Welt des Indischen Ozeans von der Antike bis zum Beginn der Song-Dynastie Seewege, Verbindungen und Handel von Angela Schottenhammer

Dieser Beitrag behandelt die zunehmende Integration Chinas in die maritime Welt Ost- und Südostasiens bis in den Indischen Ozean vom Altertum bis ins 13.Jahrhundert. Während die Beziehungen Chinas zu seinen unmittelbaren Nachbarn wie Korea, Japan und Vietnam stark politisch-militärischer Natur waren, dominierte bei den Verbindungen nach Südostasien das wirtschaftliche Interesse. Auffällig hierbei ist jedoch, dass chinesische Händler erst im späten 11.Jahrhundert n.Chr. aktiv mit eigenen Schiffen nach Übersee segelten. Zuvor waren die maritimen Handelsnetzwerke stark von ausländischen Kaufleuten geprägt, insbesondere aus Südost- und Südasien sowie der Region des Persischen Golfes und des Mittleren Ostens. Der Beitrag analysiert anhand schriftlicher und archäologischer Quellen die Besonderheiten dieser Verbindungen und ihre Auswirkungen auf das chinesische Festland.

I. Frühe Kontakte Das Chinesische Meer war zweifellos bereits im frühen Altertum mit dem Indischen Ozean verbunden. Seit dem 1.Jahrhundert v.Chr. fungierten zum Beispiel südasiatische Häfen als wichtige Umschlagplätze für den Handel zwischen China und den Märkten sowohl im Persischen Golf als auch im Roten Meer beziehungsweise dem Mittelmeer. 1 Die Handelsschifffahrt des Römischen Reiches verband das süd-

1 Vgl. Angela Schottenhammer, The Maritime Relations between the Indian Ocean and the China Sea in the Middle Ages, in: Christian Buchet (Ed.), The Sea in History. Vol.2: The Medieval World. Woodbridge 2017, 794–806. Für die Han-Zeit vgl. Angela Schottenhammer, Schiffahrt und Überseebeziehungen bis ins 3.Jahrhundert: Ein Überblick, in: Michael Friedrich (Hrsg.), Han-Zeit. Festschrift für Hans Stumpfeldt aus Anlass seines 65. Geburtstages. Wiesbaden 2006, 599–621. Für einen allgemeinen Überblick über das kaiserliche maritime China vom Altertum bis ungefähr zum 16.Jahrhundert vgl. ebenfalls meinen Artikel in der „Oxford Research Encyclopedia of Asian History“, ein online-Forschungstool hrsg. v. Oxford University Press; dies., China’s Rise and Retreat as a Maritime Power, in: Robert J. Antony/Angela Schottenhammer (Eds.), Beyond the Silk Roads. New Discourses on China’s Role in East Asian Maritime History. (East Asian Maritime History, 16.) Wiesbaden 2017, 189–212; dies., The ,China Seas‘ in World History: A General Outline of the

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110670547-007

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östliche Europa und den Orient mit Indiens Westküste über Seerouten, die vom Roten Meer und über das Arabische Meer zu südasiatischen Häfen liefen. 2 Von dort aus führten Verbindungen in das Chinesische Meer, auch wenn diese noch nicht regelmäßig genutzt wurden. Die wahrscheinlich wichtigste Quelle, die Auskunft über Chinas maritime Beziehungen und Seewege in der Region der „Südlichen Meere“ (chin. „Nanhai“ 南海, das heißt im Regelfall das Südchinesische Meer und die angrenzenden Regionen in Südostasien) während der Han 漢-Dynastie (206 v. Chr – 220 n.Chr.) geben kann, ist ein vielzitierter und diskutierter Eintrag in der offiziellen Geschichte der Han-Dynastie, dem Hanshu 漢書. 3 Vergleicht man die Angaben mit dem archäologischen Befund von den Küsten Südostasiens und des Indischen Archipels, kann dem Eintrag entnommen werden, dass Schiffe zur Zeit der Han-Dynastie von Hepu 合浦 oder Xuwen 徐聞 zunächst nach Funan 扶南 (Phnam; heutiges Südvietnam und Teil Kambodschas), dem ersten bedeutenden Königreich in Südostasien, segelten. 4 Dort erreichten sie Oc Eo, den am Mekongdelta gelegenen Hafen Funans. 5 Von dort fuhren sie durch den Golf von Thailand zur Ostküste des Isthmus von Kra auf der malaiischen Halbinsel. Hier wurden Waren umgeladen und über Land weitertransportiert; wahrscheinlich überquerte man die engste Stelle des Isthmus bei Kra Buri, um die

Role of Chinese and East Asian Maritime Space from Its Origins to c. 1800, in: Journal of Marine and Island Cultures 1, 2012, 63–86. 2 Liu Xinru, The Silk Road in World History. (The New Oxford World History.) Oxford 2010, 33, 40. 3 Ban Gu 班固 [32–92] Hanshu 漢書. Beijing 1964, 28.1671. Für eine englische Übersetzung dieser Quelle vgl. Yü Ying-shih, Trade and Expansion in Han China. A Study in the Structure of Sino-Barbarian Economic Relations. Berkeley/Los Angeles 1964, 172f.; ebenfalls Yü Ying-shih, Han Foreign Relations, in: Denis Twitchett/Michael Loewe (Eds.), The Cambridge History of China. Vol.1: The Ch’in and Han Empires, 221 B. C. – 220 A. D. Cambridge 1986, 376–462. 4 Vgl. z.B. Yoshiaki Ishizawa, Chinese Chronicles of the 1st – 5th Century A. D. Funan, Southern Cambodia, in: Rosemary Scott/John Guy (Eds.), South East Asia & China. Art, Interaction & Commerce. (Colloquies on Art & Archaeology in Asia, No.17.) London 1995, 11–31; Paul Pelliot, Le Founan, in: Bulletin de l’École Française d’Extrême Orient 3, 1903, 248–303. 5 Über die Rolle von Oc Eo, einer wichtigen Stadt Funans, vgl. Pierre-Yves Manguin, The Archaeology of Funan in the Mekong River Delta. The Oc Eo Culture of Vietnam, in: Nancy Tingley (Ed.), Arts of Ancient Vietnam. From River Plain to Open Sea. New York/Houston 2009, 100–118; Eric Bourdonneau, Réhabiliter le Funan. Oc Eo ou la première Angkor, in: Bulletin de l’École Française d’Extrême-Orient 94, 2007, 111–157; oder über die Rolle des großen Kanalgeflechts der Stadt, die eigentlich ein funktionierendes und zentralisiertes Gemeinwesen erforderte, vgl. ebenfalls Eric Bourdonneau, The Ancient Canal System of the Mekong Delta – Preliminary Report, in: Anna Karlström/Anna Källén (Eds.), Fishbones and Glittering Emblems. (Southeast Asia Archaeology 2002.) Stockholm 2003, 257–270.

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Westküste zu erreichen. Von dort ging es wieder per Schiff weiter und man segelte zum Golf von Bengalen und dann weiter zur Ostküste Sri Lankas; alternativ fuhren die Schiffe nach Arikamedu, einem südindischen oder einem anderen Hafen an der Koromandelküste. 6 Die Rückfahrt erfolgte über dieselbe Route oder über die Straße von Malakka. Funan mit seinem Hafen Oc Eo im Mekongdelta war zu dieser Zeit ein wichtiger Zwischenstopp im indo-iranischen und parthischen Seehandel. Die Authentizität dieser Textstelle ist jedoch wiederholt in Frage gestellt worden. Zudem besteht die Möglichkeit, dass sie nicht von Ban Gu 班固 (32–92), dem Autor des Hanshu, persönlich verfasst wurde. Es kann allerdings kaum bezweifelt werden, dass der Eintrag einen relativ authentischen Einblick zumindest in einen zentralen Seeweg von China nach Südostasien (und umgekehrt) zu dieser Zeit geben kann. Kontakte zu Orten in Indochina, Nordsumatra, Myanmar und Südindien werden erwähnt. Die Suche nach den Reichtümern des Südens, wie beispielsweise Perlen, Korallen, Schildpatt, medizinische Heilpflanzen u. ä., war für die Chinesen eine wesentliche Motivation, die südlichen Meere zu erkunden. Bereits 111 v.Chr. unterwarf der Han-Kaiser Wudi 漢武帝 (reg. ca. 140–87 v.Chr.) die im südlichen China gelegene Region NanYue 南粵, um Zugang zu den Schätzen der Nanhai-Region zu erlangen. Außerdem entsandte er seine Armeen, um die Gebiete des heutigen nördlichen Vietnam zu annektieren, womit er die Möglichkeit erhielt, das Gebiet des Golfes von Tonkin und den nördlichen Rand des Festlandes Südostasiens zu kontrollieren. 7 Ferner errichtete Han Wudi Verwaltungszentren in Korea. Im Jahr 109 v.Chr. entsandte er eine Flotte mit 5000 Soldaten von Shandong über den Golf von Bohai 渤海 nach Korea, um das Land anzugreifen. 8 Vermutlich wurden die chinesischen Soldaten auf mehrgeschossigen Schiffen, sogenannten louchuan 樓船, transportiert. Durch solche Maßnahmen gelang es China unter der Han-Dynastie, benachbarte Regionen und Staatswesen südlich und nördlich des eigenen Territoriums zu kontrollieren. Im Jahr 260 n.Chr. erhielt ein gewisser Kang Tai 康泰 vom Herrscher des Staates

6 Bernhard Dahm, Handel und Herrschaft im Grenzbereich des Indischen Ozeans, in: Dietmar Rothermund/Susanne Weigelin-Schwiedrzik (Hrsg.), Der Indische Ozean. Das afro-asiatische Mittelmeer als Kultur- und Wirtschaftsraum. Wien 2004, 105–122, hier 109. 7 Wir wissen, dass Jiaozhou 交阯 (heutiges Vietnam) im Jahr 29 n.Chr. noch freiwillig eine Gesandtschaft zum Han-Hof schickte, um „Tribut zu zollen“ (交阯牧鄧讓率七郡太守遣使奉貢). Vgl. Fan Ye 范曄 [398–446], Hou Hanshu 後漢書. Beijing 1985, 1 shang, 41. 8 Sima Qian 司馬遷 [145–86 v. Chr.], Shiji 史記. Beijing 1994, 115.2987–2989.

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Wu (222–280) in Südchina, Sun Quan 孫權 (reg. 222–252), den Auftrag, nach Südostasien zu reisen. Er hinterließ einen Bericht seiner Reisen mit dem Titel Wushi waiguo zhuan 吳時外國傳 („Beschreibung fremder Länder zur Zeit [des Staates] Wu“). Teile des Berichtes wurden in späteren Enzyklopädien überliefert. 9 Wegen des florierenden Seehandels in Chinas Küstenregionen, so die Auffassung von Liu Shufen, hätten die Südlichen Dynastien (420–589) einen „beeindruckenden“ wirtschaftlichen und urbanen Aufschwung erfahren. 10 Von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung der maritimen Beziehungen war die Verbreitung des Buddhismus in der gesamten Makroregion. Seit dem späten 4. und frühen 5.Jahrhundert dominierten buddhistische Netzwerke den gesamten östlichen Teil des Indischen Ozeans. 11 Ohne Frage bedarf die zunehmende Einbindung Chinas in die Welt des Indischen Ozeans besonders in der Zeit zwischen 400 und 750 weiterer Untersuchungen. Zukünftige Forschungsvorhaben werden sich dabei auf spezielle, sich teils überschneidende innerasiatische Netzwerke konzentrieren müssen. Doch zweifellos verstehen wir durch neuere Studien bereits besser, welche Personengruppen am Ausbau solcher Netzwerke beteiligt waren, wie sich zum Beispiel der Buddhismus über die Region des Indischen Ozeans verbreitete und wie sich die buddhistischen Interaktionen zwischen der älteren und mittleren Periode Indiens und Chinas gestalteten. In diesem Zusammenhang hat Tansen Sen kürzlich argumentiert, „that the diffusion of Buddhism in China was an outcome of multi-ethnic collaborations, and the ingenuity of Chinese and foreign monks in making the doctrine adaptable to Chinese society“. 12 Ein entscheidender Aspekt bei der Frage, wie die aktuelle Forschung ‚traditionelle‘ Konzepte von Chinas Interaktionen mit der übrigen Welt verändert hat, ist die

9 Ein Eintrag im Taiping yulan 太平御覽 des Li Fang 李昉 enthält einen kurzen Abschnitt des Wushi waiguo zhuan. Demzufolge existierten Dschunken für den Überseehandel, die mit sieben Segeln ausgestattet waren (舶張七帆). Li Fang 李昉 [925–996], Taiping yulan 太平御覽, 771.5b, in Sibu congkan, Fasz. 35–55. 10

Liu Shufen, Jiankang and the Commercial Empire of the Southern Dynasties. Change and Continuity

in Medieval Chinese Economic History, in: Scott Pearce/Audrey Spiro/Patricia Ebrey (Eds.), Culture and Power in the Reconstitution of the Chinese Realm, 200–600. Cambridge/London 2001, 35–52. 11

Vgl. Tansen Sen, Buddhism and the Maritime Crossings, in: Dorothy C. Wong/Gustav Heldt (Eds.), Chi-

na and Beyond in the Mediaeval Period. Cultural Crossings and Inter-Regional Connections. Delhi 2014, 39–62. 12

Tansen Sen, The Spread of Buddhism to China. A Re-Examination of the Buddhist Interactions between

Ancient India and China, http://chr.sagepub.com/content/48/1–2/11.abstract (aufgerufen am 22.März 2016).

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Beurteilung der relativen Passivität, die China im frühen Überseehandel (bis ungefähr ins 11.Jahrhundert n.Chr.) und der weitreichenden Diplomatie zeigte. Bekannt ist, dass chinesische Händler von der Antike bis ins 11.Jahrhundert nicht gerade rege Akteure auf den maritimen Verbindungen waren, zumindest nicht auf eigenen Schiffen, die bis in den Indischen Ozean reichten. Unternehmungen wie die des Kang Tai oder die Unterwerfung von NanYue durch Han Wudi weisen allerdings darauf hin, dass chinesische Eliten ein bemerkenswertes Interesse an maritimen Verbindungen mit Südostasien hatten. Dieser Schluss wird ebenfalls durch archäologische Befunde gestützt. 1974 entdeckten Archäologen in der Umgebung des modernen Guangzhou Reste einer alten Werft, die auf die Wende vom 3. zum 2. vorchristlichen Jahrhundert datiert werden konnte. 13 Dort hätten Schiffe von 30 Meter Länge und 8,4 Meter Breite gebaut werden können. 14 Ebenso wurden einige Qinund Han-Münzen an der Fundstelle ausgegraben. Nach einer vergleichenden Analyse kam man zum Ergebnis, dass es sich höchstwahrscheinlich um eine staatlich geleitete Werft handelte, die für militärische Zwecke genutzt wurde. 15 Berichten zufolge besaß der bereits erwähnte Sun Quan gewaltige Schiffe, die bis zu 3000 Soldaten und Beamte transportieren und die großen Flüsse und Ströme befahren konnten. 16 Zur Zeit der Han-Dynastie machte die Technologie des Schiffbaus erhebliche Fortschritte. Schriftliche Quellen erwähnen unterschiedliche Schiffsund Bootstypen, die für diverse Zwecke genutzt werden konnten – für die Marine oder den Handel, für Waren- oder Personentransport. Diese waren allerdings grundsätzlich für Fahrten auf Flüssen und an Küsten gedacht, jedoch nicht für die Überseenavigation. 17 Einige chinesische Historiker behaupten, dass die Handelsdschunken (guchuan 賈船) dieser Zeit, die ebenfalls von Han-Gesandten um 100 v.Chr. genutzt wurden, in China gebaut und von chinesischen Soldaten gesteuert wurden. Allerdings wird aus dem Hanshu deutlich, dass die Gesandten auf ihren Reisen auf die Schiffe fremd-

13 Guangzhou wenwu guanlichu 廣州文物管理處, Guangzhou Qin Han zaochuan gongchang yizhi shijue 廣州秦漢造船工場遗址试掘, in: Wenwu 4, 1977, 1–16. 14 Gang Deng, Chinese Maritime Activities and Socioeconomic Development, c. 2100 B. C. – 1900 A. D. Westport 1997, 77. 15 Guangzhou wenwu guanlichu, Guangzhou Qin Han zaochuan gongchang yizhi shijue (wie Anm.13). 16 Hang Shijun 杭世駿, Sanguozhi buzhu 三國志補注. Shanghai 1937, 6.6b. 17 Lin Fengjiang 林鳳江/Chen Xiujuan 陳秀娟, Handai de zaochuanye yu haiwai maoyi 漢代造船業與海 外貿易, in: Longjiang shehui kexue 龍江社會科學 6, 1994, 65–67.

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ländischer ‚Barbaren‘ (manyi guchuan 蠻夷賈船; möglicherweise ein Hinweis auf Seefahrer aus Südostasien) angewiesen waren. Ferner berichtet das von Wang Dang 王讜 verfasste Tang yulin 唐語林 („Wald der Geschichten von den Tang“) der Tang 唐-Periode (618–906) von „fremden Schiffen, genannt haibo“ 海舶, die Jahr für Jahr zu Handelszwecken nach Guangzhou kommen. Die größten stammen aus Sri Lanka, dem „Land der Löwen“ (shizi guo 獅子國). 18 Während chinesische Historiker wiederholt die Beteiligung chinesischer Schiffe und Seefahrer auf den Langstreckenverbindungen betonen, haben westliche Sinologen Chinas Passivität in diesem Bereich hervorgehoben. Aktuelle Forschungen zur Beteiligung Tang-Chinas am Übersee- und Auslandshandel haben allerdings gezeigt, dass einige Herrscher der Tang-Dynastie sowie die tangzeitliche Zentralregierung maritime Beziehungen wahrscheinlich wesentlich aktiver gefördert haben als bisher angenommen. 19 Was militärische Flottenaktivitäten betrifft, ging es den chinesischen Herrschern vor allem darum, benachbarte Grenzgebiete und Meeresregionen, zum Beispiel in Nordvietnam und Korea, zu sichern. Einige schickten sogar Gesandtschaften in überseeische Länder. Sie wollten sich Zugang zu Reichtümern oder besonderen Produkten, zum Beispiel buddhistischen Schriften, Weihrauch, medizinischen Heilpflanzen, Gewürzen o. ä. aus Ländern der Südlichen Meere verschaffen. Das konnte mehrere Maßnahmen miteinschließen und auf verschiedene Weise erreicht werden: die Förderung maritimer Kontakte, Beziehungen zu herrschenden oder sozialen Eliten in Übersee oder die Monopolisierung gewisser maritimer Räume oder Seerouten, zumindest in benachbarten Regionen. Chinesische Händler segelten allerdings in der Regel, wie angedeutet, bis ins 11.Jahrhundert noch nicht auf eigenen Schiffen nach Übersee. Chinas Überseehandel und Verbindungen mit dem Indischen Ozean waren generell immer noch abhängig von Fremden.

18

Für weitere Details vgl. James K. Chin, Ports, Merchants, Chieftains, and Eunuchs. Reading Maritime

Commerce of Early Guangdong, in: Shing Müller/Thomas O. Höllmann/Putao Gui (Eds.), Guangdong. Archaeology and Early Texts. Wiesbaden 2004, 217–239, hier 222f. 19

Vgl. Angela Schottenhammer, China’s Gate to the Indian Ocean. Iranian and Arab Long-Distance

Traders, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 76, 2016, 135–179; Victor H. Mair, Lecture Seven. China in the Age of Commerce, http://www.kaifengfoundation.org/kfgyjjh-en/tabid/359/InfoID/813/frtid/375/Default.aspx (aufgerufen am 28.Februar 2016).

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II. Maritime Verbindungen während der Sui-Tang-Periode (ca. 7. – frühes 10.Jahrhundert n.Chr.) China war bis zur Tang-Periode gut integriert in maritime Netzwerke, die bis in den Indischen Ozean reichten, wenngleich die Fernbeziehungen und damit verbundene Netzwerke, wie wir gesehen haben, weitgehend von fremdländischen Seefahrern und Kaufleuten dominiert wurden. Allein zwischen 623 und 684 wurden zahlreiche Gesandtschaften nach China geschickt, und zwar nicht nur aus Indo-China, sondern auch aus weiter entfernten Ländern. Zur gleichen Zeit entwickelten sich Schritt für Schritt direkte Kontakte mit dem Persischen Golf. Während Handelsbeziehungen mit Südostasien und Teilen Indiens, das heißt mit dem östlichen Teil des Indischen Ozeans, bereits seit Jahrhunderten existierten, haben persisch-iranische Kaufleute aus der Makroregion des Persischen Golfes, die ich daher an anderer Stelle als „Persian Gulf traders“ bezeichnet habe 20, das Zeitalter des chinesischen maritimen Fernhandels über lange Distanzen (das heißt bis in die westlichen Regionen des Indischen Ozeans und den Persischen Golf) eigentlich erst eingeläutet und initiiert. Iranisch-persische (chin. Bosi 波斯) und später arabische (chin. Dashi 大食) Händler – ethnische Bezeichnungen, die wahrscheinlich eher als allgemeine Bezugnahmen für Anwohner des Nahen und Mittleren Ostens verschiedener Provenienz verstanden werden sollten und deren Handelsschiffe Besatzungen unterschiedlicher Ethnizität und Religion umfassten 21 – verbanden China erstmals mit Städten und Regionen im westlichen Indischen Ozean. Iranische Händler begannen bereits zur Sassaniden-Zeit (224–651) die langen Distanzen vom Persischen Golf bis nach Indien und China zu befahren, auch wenn solche Reisen zunächst nicht regelmäßig erfolgten. Während der frühen Tang-Periode, insbesondere seit der Errichtung des Abbasidenkalifats (750–1258), wurden diese Verbindungen dann schließlich beständiger. 22

20 Schottenhammer, China’s Gate (wie Anm.19). 21 Claudine Salmon folgend verstehen wir Bosi 波斯 als eine Diaspora mit Gemeinschaften, die über den gesamten Raum des Indischen Ozeans verteilt waren, eine Diaspora, in der iranische Kaufleute bis zu TangZeiten eine entscheidende Rolle spielten. Persönliche Kommunikation am 4.11.2008; vgl. ebenfalls Claudine Salmon, Srivijaya, la Chine et les marchands chinois (Xe–XIIe s.). Quelques réflexions sur la société de l’empire suma-tranais, in: Archipel 63, 2002, 57–78. 22 Erst kürzlich ist das Grab eines Iraners (Bosiguo ren 波斯國人) namens „Mohulu“ 摩呼祿 in der Umgebung von Yangzhou in Wuzhacun 五乍村 gefunden worden. Die Grabstele berichtet, dass er in der westlichen Region (xiyu 西域) geboren wurde und einen Seeweg nehmend (舟航赴此) auf einem Schiff nach

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Diese Entwicklung hängt unmittelbar mit den Ereignissen in Inner- beziehungsweise Zentralasien und der offiziellen Förderung der wirtschaftlichen Beziehungen mit China durch die Araber zusammen. Die Einrichtung regelmäßigerer maritimer Verbindungen zwischen dem Persischen Golf und China war unzweifelhaft etwas Neues und eine bedeutsame Entwicklung in der globalen Geschichte solcher Interaktionen. 23 An anderer Stelle habe ich deshalb argumentiert, dass es iranische und arabische Händler waren, die erstmals die Epoche des aktiven maritimen Fernhandels in China einleiteten. 24 Entwicklungen im Bereich der Nautik und Navigation während der frühen islamischen Periode erleichterten ebenfalls intensivere Kontakte. Verschiedene türkisfarbene, blau glasierte Keramikscherben wurden in chinesischen Hafenstädten ausgegraben. Archäologen kamen zu dem Schluss, dass diese offensichtlich als eine Art „Behältnis“ für die Besatzung, nicht aber als Handelsware dienten. 25 Gleichzeitig haben wir viele Hinweise auf Chinas wachsendes Interesse an maritimen Beziehungen mit der Makroregion des Indischen Ozeans. Für den hier untersuchten Zeitraum können ebenfalls einige bedeutende Veränderungen und Entwicklungen beobachtet werden: Erstens benutzten Händler zunehmend das Meer, da die Überlandwege vorübergehend wegen politischer und militärischer Konflikte blockiert waren. Außerdem müssen wir die offizielle Förderung der wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen mit China durch die Araber berücksichtigen. Nach der Errichtung des Abbasidenkalifats erreichten die Beziehungen einen Höhepunkt. Von einigen Yangzhou gekommen ist. Er hatte eine Frau namens Mu 穆, eine Tochter und hat dort friedlich auf seinem eigenen Anwesen gewohnt. Er starb im Jahr 835 im Alter von 75 Jahren. Folglich muss er im Jahr 761 geboren sein. Er wird ebenfalls als religiöse Person beschrieben, wahrscheinlich ein Muslim. Die Inschrift weist darauf hin, dass er mit der chinesischen Kultur und den Gewohnheiten sehr vertraut gewesen ist. Die Stele ist von einem gewissen Chen Juzhou 陳巨舟 (juzhou bedeutet interessanterweise „riesiges Boot/ Schiff“, was möglicherweise auf eine Anspielung hindeutet) aus Henan ausschließlich auf Chinesisch gestaltet worden. Vgl. http://news.yznews.com.cn/2015–11/17/content_5630070.htm; Zheng Yang 鄭陽/ Chen Deyong 陳德勇, Yangzhou xin faxian Tangdai Bosiren mubei yiyi tantao 揚州 新發現唐代博斯人墓 碑意義探討, in: Zhongguo shehui kexuewang 中國社會科學網, http://arch.cssn.cn/kgx/sjkg/201509/ P020150906534018387328.pdf (DOI: https://doi. org/10.16293/j.cnki.cn11–1345/b.2015.03.027). 23 Vgl. Schottenhammer, China’s Gate (wie Anm.19). 24

Angela Schottenhammer, Das songzeitliche Quanzhou im Spannungsfeld zwischen Zentralregierung

und maritimem Handel. Unerwartete Konsequenzen des zentralstaatlichen Zugriffs auf den Reichtum einer Küstenregion. Wiesbaden 2000, 57; vgl. oben. 25

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Vgl. Schottenhammer, China’s Gate (wie Anm.19).

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Tang-Herrschern wissen wir, dass auch sie sich aktiv um gute Verbindungen bemühten. Zweitens haben „Persian Gulf traders“ (Iraner und Araber) definitiv die Epoche eines aktiven maritimen Fernhandels eingeleitet; nach 750 ersetzten Iraner und Araber zunehmend viele sogenannte Kunlun 崑崙 – Händler, die offenbar südostasiatischen Ursprungs waren, während chinesische Händler weiterhin auf fremdländischen, beispielsweise iranischen, arabischen oder indischen Schiffen die NanhaiGewässer befuhren. 26 Drittens veränderte sich die Struktur des Handels: Luxusgüter und wertvolle Produkte, die man unter anderem bei buddhistischen Ritualen verwendete, wurden zunehmend durch Massenware, durch Gewürze, Aromatika, medizinische Heilpflanzen, Hölzer und Dufthölzer ersetzt; dagegen spielte Seide als chinesisches Exportgut eine zunehmend geringere Rolle, stattdessen war Keramik beziehungsweise Porzellan der neue Exportschlager. Wie wir mittlerweile wissen, müssen die Ursprünge der großangelegten Exportindustrie für Keramik bereits in der Tang-Dynastie gesucht werden. Viertens war Chinas maritime Politik sowohl der Tang- als auch der Song-Dynastie (960–1279) durch ein zunehmendes Interesse am maritimen Handel und, damit einhergehend, durch seine offizielle Förderung geprägt. Händler wurden allmählich wichtiger als Diplomaten. Fünftens können wir einen graduellen Wechsel von buddhistisch zu islamisch beherrschten maritimen Netzwerken im Indischen Ozean beobachten, auch wenn der Buddhismus weiterhin eine wichtige Rolle spielte. Funan war der zentrale Zwischenstopp im Altertum; der Handel verschob sich aber zunehmend in die malaiische Region und Palembang als Mittler zwischen China und dem Indischen Ozean. 27 Die Schlüsselrolle dieses Gebietes wurde durch die Gründung eines mächtigen politisch-kommerziellen Staatswesens (Thalassokratie) namens Śrīvijaya (7.–13.Jahrhundert), auf Chinesisch Sanfoqi 三佛齊, mit Palembang als Hauptstadt, verstärkt. 28 In chinesischen Aufzeichnungen des späten 9. und

26 Wang Gungwu, The Nanhai Trade. A Study of the Early History of Chinese Trade in the South China Sea, in: Journal of the Malayan Branch of the Royal Asiatic Society 31 (182), 1958, 1–135, hier 103f. 27 Derek Heng, Sino-Malay Trade and Diplomacy from the Tenth through the Fourteenth Century. (Ohio University Research in International Studies, Southeast Asia Series, No.121.) Athen 2009, 48. 28 Als Überblicksdarstellung zu Śrīvijaya eignet sich beispielsweise Pierre-Yves Manguin, The Kingdom

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frühen 10.Jahrhunderts können wir einen Machtwechsel in der Straße von Malakka von Zhanbei 占卑 [Jambi]-Malayu zu Sanfoqi [Śrīvijaya]-Palembang beobachten. In den chinesischen Quellen des frühen 10.Jahrhunderts ist die erneuerte Vormachtstellung von Śrīvijaya durch das Eintreffen einer Gesandtschaft aus Foqi 佛齊 im Jahr 904 gekennzeichnet, während Zhanbei im 11.Jahrhundert nur noch als Sanfoqi Zhanbeiguo 三佛齊占卑國 auftritt. Dies lässt vermuten, „that for the Chinese chroniclers of the time Malayu/Jambi was a part of the power controlling the Straits of Malacca“. 29 Śrīvijaya spielte auch in der Song-Dynastie eine entscheidende Rolle: Es war ein blühendes Handelsimperium, in dem Händler arabischen oder iranischen Ursprungs eine bedeutende Rolle im internationalen Handelsverkehr zwischen Westen und Osten einnahmen. 30 Śrīvijaya und die Straße von Malakka besaßen als die zentrale Verbindung zwischen dem östlichen und dem westlichen Indischen Ozean eine außerordentliche strategische Bedeutung. Der Stellenwert von Standorten in Übersee und Seewege dorthin wurden zunehmend auch auf Karten reflektiert, die zumindest symbolisch die Handelsbeziehungen Chinas mit anderen Ländern illustrierten. Hermann Kulke hat die Thalassokratie daher auch einmal mit der europäischen Hanse verglichen und von der „Hanse des Ostens“ gesprochen. 31

of Srivijaya, in: The Encyclopedia of Empire 2016 (https://www.researchgate.net/publication/ 314597015_Srivijaya_Kingdom_of) oder ders., Palembang and Sriwijaya. An Early Malay Harbour-City Rediscovered, in: Journal of the Malaysian Branch of the Royal Asiatic Society 66 (264), 1993, 23–46. 29

Horst Hubertus Liebner, The Siren of Cirebon. A Tenth Century Trading Vessel Lost in the Java Sea (zu-

gleich Dissertation der University of Leeds 2014), https://www.academia.edu/6900344/Nanhan_Cirebon_Wreck_thesis_text_corrected_final (aufgerufen am 14.Februar 2015), 42f. In dieser Dissertation, die ein Schiffswrack analysiert, das in der Javasee gesunken ist, fasst Liebner alle Argumente für die Lokalisation des Gemeinwesens Śrīvijaya und den aktuellen Forschungsstand zusammen. 30

Vgl. z.B. die Artikel von Claudine Salmon, Les Persans à l’extrémité orientale de la route maritime (IIe

A.E.–XVIIe siècle), in: Archipel 68, 2004, 23–58, hier 23. Vgl. ebenso Claude Guillot, La Perse et le Monde malais, in: Archipel 68, 2004, 159–192 und 355– 356; Gerald R. Tibbetts, Early Muslim Traders in South-East Asia, in: Journal of the Malayan Branch of the Royal Asiatic Society 30, 2004, 1–45; Angela Schottenhammer, The Transfer of Xiangyao 香藥 from Iran and Arabia to China. A Reinvestigation of Entries in the Youyang zazu 酉陽雜俎 (863), in: Ralph Kauz (Ed.), Interaction on the Maritime Silk Road. From the Persian Gulf to the East China Sea. (East Asian Maritime History, 10.) Wiesbaden 2010, 117–149. 31

Hermann Kulke, Srivijaja – Ein Großreich oder die Hanse des Ostens?, in: Stephan Conermann (Hrsg.),

Der Indische Ozean in historischer Perspektive. (Asien und Afrika, 1.) Hamburg 1998, 57–89.

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III. Geographische Kenntnisse und sich verändernde Vorstellungen über den maritimen Raum Nach dem 8.Jahrhundert begannen die Chinesen, systematisch Informationen über andere Länder zu sammeln, auch über die in Übersee. Als Kaiser Xuanzong 玄 宗 (reg. 712–755) „sich nach den Entfernungen zu verschiedenen fremden Ländern erkundigte (玄宗問諸蕃國遠近), reagierte Wang Zhongsi 王忠嗣 (704?–748?), der Direktor des Hofes für Staatszeremoniell“ (honglu siqing 鴻臚寺卿), darauf mit Karten und Informationen über mehr als ein Dutzend Länder in den Westgebieten. 32 Später, während der Regierungsdevise Zhenyuan (785–804), nahm der Erste Minister, Jia Dan 賈耽 (729–805), eine sorgfältige und detaillierte Studie der Grenzregionen, Routen und Entfernungen vor. Er begann mit der Grenzregion zu den Ländern der Westbarbaren und schrieb die wichtigsten Routen in fremde Länder auf, insgesamt sieben. Die zweite Route führte von Deng[zhou] über See nach Korea und Bohai; die sechste nach Annam und Tianzhu 天竺 (Indien) und die siebte von Kanton aus durch viele verschiedene Länder in Übersee. 33 Eine songzeitliche Karte mit dem Titel Gujin Huayi quyu zongyao 古今華夷區域 總要圖 („Karte mit den wichtigsten Informationen über China und die Regionen der Barbaren in Vergangenheit und Gegenwart“, Original von 1099, gedruckt um 1130) zeigt Sanfoqi in relativer Nähe zur chinesischen Küste gegenüber Xinghua 興化 und Quanzhou 泉州 in Fujian. 34 Diese spezielle Positionierung gegenüber von Quanzhou, dem wichtigsten Überseehafen des songzeitlichen China, soll höchstwahrscheinlich den Stellenwert des Landes und der Region für den chinesischen Handel hervorheben sowie die zentrale Rolle andeuten, die der Hafen Quanzhou hier einnahm. Zhu Yu 朱彧 (1075? – nach 1119) erwähnt in seinem Werk Pingzhou ketan 萍 洲可談 („Gespräche in Pingzhou“, 1119) die Wichtigkeit von Weihrauch und Sandelholz in Śrīvijaya (di duo tanxiang ruxiang 地多檀香乳香) und erklärt, dass lokale Überseeschiffe Weihrauch nach China transportieren. 35 Auch Cōḷa (Zhunian 注輦, wohl eine Transliteration der arabischen Bezeichnung Ṣūliyān, Südindien und Sri 32 Mindestens zehn Kapitel (juan) mit solchen Karten müssen existiert haben. Vgl. Wang Yinglin 王應麟 [1223–1296], Yuhai 玉海, 15.29a, in Siku quanshu, Fasz. 943–948. 33 Yuhai (wie Anm.32), 15.26b–27a, 29b. 34 Der erste Ort im Süden auf der Karte ist Java (Shepo). 35 Zhu Yu 朱彧 (1075?–nach 1119), Pingzhou ketan 萍洲可談 (1119), 2.19, in: Congshu jicheng, Fasz. 2754 (3259). Es scheint, als ob Zhu Yu nicht gewusst hat, dass der Weihrauch zunächst von Häfen in Soma-

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Lanka) ist als rundes Gebilde oder Insel etwas südöstlich von Quanzhou dargestellt. Eine weitere „Insel“, die erwähnt wird, ist Nanfan 南番. Sie ist inmitten des Meeres südlich der Provinz Guangzhou platziert und wird laut dem Text von Arabern dominiert. 36 An anderer Stelle habe ich die geographische Positionierung und Form dieser „Inseln“ und ihre mögliche symbolische Bedeutung diskutiert. Ich bin zu dem Schluss gelangt, dass eine „Insel im Meer“ (an „island in the sea“), so wie Nanfan, vielleicht am ehesten als Metapher für den Stellenwert der Araber im zeitgenössischen Seehandel mit Südostasien und dem Indischen Ozean interpretiert werden kann. 37 Eine „Insel im Meer“ zu sein, war möglicherweise zur Song-Zeit eine symbolische Metapher für die Bedeutsamkeit eines Ortes (Land, Hafen, Insel) in Chinas zeitgenössischem Seehandelssystem. Die tatsächliche geographische Position solcher Orte oder Länder war demgegenüber zweitrangig. Eine weitere wichtige songzeitliche Quelle, das Lingwai daida 嶺外代答 („Antworten [zu Fragen] von jenseits der Gebirgspässe“) von Zhou Qufei 周去非 (?–nach 1178), in der auch Chinas Beziehungen zur Außenwelt beschrieben werden, vermerkt Folgendes über fremde Länder: „Die fremden Länder sind weitgehend vom Meer umgeben. In jedem Teil [dieser Welt] gibt es Königtümer, wobei jedes seine besonderen Produkte und Handelszentren hat, von denen ihr Wohlstand herrührt […] Noch hinter [dem Meer von Sri Lanka] ist ein weiteres Meer, das ‚Östliches Meer der Araber‘ genannt wird, und weiter westlich gelegen sind die Länder der Araber. Das Land der Araber ist gewaltigen Ausmaßes [Dashi zhi di shen guang 大食之地甚廣] und ihre Gemeinwesen sind sehr zahlreich, zu zahlreich, um sie aufzuzählen. Noch weiter im Westen befindet sich ein Meer, das ‚Westliches Meer der Araber‘ genannt wird, und noch hinter diesem ist Mulanpi 木蘭皮 38, insgesamt

liland und der südarabischen Küste nach Śrīvijaya verschifft worden ist, mit anderen Worten: Was nach China transportiert worden ist, war eigentlich ein Reexport. 36

Vgl. Aoyama Sadao 青山定雄, Tō Sō Jidai no kōtsū to chishi chizu no kenkyū 唐宋時代の交通と地誌

地圖の研究. Tokio 1963, 609. 37

Angela Schottenhammer, The Song 宋 Dynasty (960–1279). A Revolutionary Era Turn?, in: Kósa Gábor

(Ed.), China Across the Centuries. (Budapest Monographs in East Asian Studies.) Budapest 2016, 133–173. 38

Al-Murabit; wahrscheinlich beziehen sich die Ausführungen auf die nordwestafrikanische Küste und

Südspanien, das bedeutet, Länder, die an den Küsten des Mittelmeeres liegen; vgl. http://www.world10k.com/blog/?p=686 (aufgerufen am 12.Dezember 2015).

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mehr als tausend Gemeinwesen. Und noch weiter westlich, dort, wo die Sonne untergeht, sind Orte, von denen wir nichts wissen.“ 39

Zhou Qufei (Erlangung des jinshi 進士-Grades [das heißt Graduierter der Hauptstadt, einem damaligen Doktortitel vergleichbar] im Jahr 1163) arbeitete in der Provinz Guangxi als „Kontrollgeneral“ (chin. tongpan 通判, eine administrative lokale Beamtenposition), wo er wahrscheinlich seine Informationen über fremde Länder und Produkte gesammelt hat. In seinem Vorwort schreibt er, er habe über 400 Aufzeichnungen über fremde „Barbaren“, ihre seltsamen Gebräuche und die Vielfalt ihrer Produkte zusammengestellt. Das schloss Informationen von lokalen Gelehrten und Beamten mit ein. Wir können somit noch eine weitere Neuentwicklung beobachten, was die Art und Weise angeht, die Welt zu kartographieren: Kartographen begannen auch Karten ausschließlich über fremde Länder zu zeichnen. Offensichtlich zeugen alle diese Entwicklungen von Chinas wachsendem Interesse an der maritimen Welt jenseits seiner Grenzen, ein Interesse, das sich sowohl in offizieller als auch in privater Historiographie, in privat hergestellten wie offiziell in Auftrag gegebenen Karten und schließlich in der Archäologie spiegelt.

IV. Maritime Diplomatie und Politik Während der Tang-Periode war es immer noch ein grundsätzliches Ziel der Politik, wertvolle und kostbare Waren für den Hof zu bekommen. Herrscher früherer Perioden waren sich aber auch der Tatsache bewusst, dass Reichtümer, wenn nötig, für übergeordnete staatliche Zwecke, das heißt nicht für den Privatkonsum von Angehörigen des Kaiserhofes genutzt werden sollten. 40 Während der sogenannten „TangSong-Übergangsphase“ („Tang-Song transition“) können wir eine allmähliche Verlagerung von einem maritimen Handel, der in erster Linie die privaten Interessen

39 Zhou Qufei 周去非 [?–nach 1178] (1178), Lingwai daida 嶺外代答, 2.11a, in: Congshu jicheng chubian 叢書集成初編, Fasz. 3118f. 40 Kaiser Xuanzong hat einmal „Perlen, Jade und Brokatstoffe vor dem Palast“ verbrennen lassen, um seine ökonomisch-sparsame Einstellung deutlich zu demonstrieren. Vgl. Sima Guang 司馬光 [1019–1086] (1956), Zizhi tongjian 資治通鑑, mit Anmerkungen von Hu Sanxing 胡三省 [1230–1302]. Shanghai 1956, 211.1427–8. Aber als er im Jahr 716 von einem Fremden über die Mengen an Perlen und Juwelen in den südlichen Meeren hörte, beauftragte er einen gewissen Yang Fanchen 楊范臣 damit, diese Luxusgüter für den Hof zu beziehen; Zizhi tongjian, ebd.211.1431.

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der chinesischen sozialen und herrschenden Eliten zufriedenstellen sollte, hin zu einer maritimen Handelspolitik beobachten, die darauf ausgerichtet war, die Interessen des Staates als Ganzes zu bedienen. Die höfischen und lokalen Regierungen suchten die Gewinne des Überseehandels nicht nur für ihre eigenen „privaten“ Zwecke zu nutzen, sondern Reichtümer zunehmend auch für den politischen und ökonomischen Erhalt des Staates zu verwenden. 41 Das war eine einschneidende und weitreichende Veränderung in der Haltung chinesischer Herrscher zum maritimen Handel; sie machte sich insbesondere im 10.Jahrhundert bemerkbar, als China in mehrere kleinere Dynastien und Königreiche zerfiel, die nach neuen materiellen und finanziellen Mitteln suchten, um ihre Herrschaft zu konsolidieren. 42 Es können aber, wie weiter oben erwähnt, aktuelle Forschungsergebnisse hinzugezogen werden, um zu zeigen, dass wir erste Anzeichen eines Wandels in der Bewertung des maritimen Handels bereits in der Tang-Zeit erkennen können. Ein bekanntes Beispiel bietet die Herrschaft der Kaiserin Wu Zetian 武則天 (reg. 690–705), die offensichtlich den auswärtigen Handel unterstützte. 43 So hat sie einen gewissen Wang Fangqing 王方慶 zum Kommandanten von Guangzhou ernannt, um gegen Korruption im Zusammenhang mit Einnahmen aus dem Seehandel vorzugehen. 44 Auch in anderen Fällen hat sie die Entwicklung des (ausländischen) Handels gefördert. Während der Regierungsperiode Chang’an 長安 (701–704) wurde Su Gui 蘇瑰 (639–710) zum „Chief Commandant of the Superior Government-General“ (大都督府長史) von Yangzhou ernannt. Er war dort offenbar einer der wenigen Beamten, die sich nicht korrumpieren ließen. Yangzhou war ein bedeutendes Wirt-

41

Vgl. z.B. Angela Schottenhammer, Quanzhou’s Early Overseas Trade. Local Politico-Economic Particu-

lars During Its Period of Independence, in: Journal of Sung Yuan Studies 29, 1999, 1–41; dies. Das songzeitliche Quanzhou (wie Anm.24); dies., China’s Emergence as a Maritime Power, in: John W. Chaffee/Denis C. Twitchett (Eds.), The Cambridge History of China. Vol.5/2: Sung China, 960–1279. Cambridge 2014, 437– 525. Diese spätere Entwicklung ist ebenfalls beschrieben worden von Lo Jung-pang, Maritime Commerce and Its Relation to the Sung Navy, in: Journal of the Economic and Social History of the Orient 12, 2014, 57– 101. 42

Vgl. z.B. Hugh Clark, The Southern Kingdoms Between the T’ang and Sung, in: Denis C. Twitchett/Paul

Jakov Smith (Eds.), The Cambridge History of China. Vol.5/1: The Sung Dynasty and Its Precursors, 907– 1279. New York 2009, 133–205; Angela Schottenhammer, Quanzhou’s Early Overseas Trade (wie Anm.41), 1– 41. 43

Angela Schottenhammer, China’s Gate (wie Anm.19).

44

Wang Zhenping [王貞平], T’ang Maritime Trade Administration, in: Asia Major, 3rd Series 4, 1991, 7–

38, hier 18, u.a. mit Bezug zu Jiu Tangshu, 89.2897 und Xin Tangshu, 116.4223.

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schaftszentrum dieser Zeit mit vielen wohlhabenden und einflussreichen Kaufleuten, ein Ort, an dem Perlen, Jadestein und zahllose wertvolle Kuriositäten gehandelt wurden (揚州地當要衝,多富商大賈, 珠翠珍怪之產). 45 Wu Zetians Politik scheint dem maritimen Fernhandel mit Fremden folglich förderlich gewesen zu sein, und sie selbst wurde offenbar auch von „fremden“ Traditionen beeinflusst, zum Beispiel in ihrer Weltsicht und ihrer Offenheit gegenüber dem Handel und Kaufleuten. Sie war gegen eine kostspielige expansive Außenpolitik und gegen Korruption eingestellt. Antonio Forte spricht sogar von einer „internationalist and pacifist policy“ Wu Zetians. 46 Der Fernhandel mit der Region des westlichen Indischen Ozeans war zu dieser Zeit immer noch grundlegend von iranischen Kaufleuten dominiert. Vor diesem Hintergrund ist es kaum überraschend, dass iranische Ansässige in China Wu Zetian als herrschende Kaiserin unterstützt haben. 47 Ihre „internationalistische“ und ausländischen Handel offensichtlich fördernde Politik könnte von den „Migranten“und Händlerkulturen der Iraner und Sogder beeinflusst worden sein. Hatte die positive Einstellung zu Handel und Wirtschaft unter Migranten aus Westasien und dem Persischen Golf, also deren „Wirtschaftskultur“, einen entscheidenden Einfluss auf Wu Zetians Außenhandelspolitik? Oder beeinflusste sie sogar längerfristig Chinas allgemeine Haltung zu Außenhandel und Wirtschaft? Diese Fragen verdienen zukünftig eine genauere Untersuchung. Einige weitere Tang-Herrscher hatten ebenfalls eine sehr positive Einstellung gegenüber Fremden und dem Seehandel. 48 So erließ zum Beispiel 834 der Tang-Kaiser Wenzong 文宗 (reg. 827–840) ein Edikt, das fremden „Gästen“ in den Provinzen Lingnan, Fujian und Yangzhou Schutz gewährte. Wenzong betonte, dass fremde Schiffe und Händler über Jahre hinweg zu hoch besteuert worden seien und verfügte, dass „außer für bojiao 舶腳 (Liegegebühren), shoushi 收市 (Abgaben für Staatsmonopole) und jinfeng 進奉 (Tributzahlungen) ihnen keine zusätzlichen Abgaben auferlegt werden sollen“. 49 Wie wir gesehen haben, gab es ein offizielles Interesse an

45 Jiu Tangshu, 88.22a. 46 Antonio Forte, The Hostage An Shigao and His Offsprings. Kyōtō 1995, 97. 47 Rong Xinjiang 荣新江, Sichou zhi lu yu Dongxi wenhua jiaoliu 丝绸之路与 东西文化交流. Beijing 2015, 70; Rong Xinjiang, Zhonggu Zhongguo yu wailai wenming 中古中国与外来文明. Beijing 2011, 204– 221. 48 Vgl. Schottenhammer, China’s Gate (wie Anm.19). 49 Dong Gao 董誥 [1740–1818], Quan Tangwen 全唐文. Taibei 1979, 75.976 [3a].

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Seewegen sogar bis zum Persischen Golf. Ferner sollte auch die Tatsache, dass (sehr wahrscheinlich zu Beginn des frühen 8.Jahrhunderts, spätestens aber 714) die Stelle eines Überseehandelsbeauftragten (shibo shi 市舶使) geschaffen wurde 50, als eine stärkere Beteiligung des Hofes an der maritimen Politik gedeutet werden als zunächst angenommen. Obwohl die Ausführung dieser Tätigkeit zur Tang-Zeit von der Regierung nicht streng kontrolliert wurde, zeugt allein die Entscheidung zur Schaffung einer solchen Position von einer positiven Einstellung des Kaiserhofes zum Seehandel. Solche Maßnahmen und Ereignisse zeigen, dass fremde Einflüsse in China zu dieser Zeit stärker waren als üblicherweise angenommen. Wie ich an anderen Beispielen aufzeigen möchte, ist es ferner von entscheidender Bedeutung, stets die Entwicklungen in Zentral- und Innerasien, also entlang der Überlandrouten, und die maritimen vergleichend zu analysieren und nicht getrennt voneinander zu betrachten. Die Expansion Tibets zwischen 760 und den 840er Jahren führte beispielsweise wegen der wachsenden Probleme entlang der Landrouten zu einer stärkeren Nutzung der Seewege. Entwicklungen in Innerasien und Chinas Beziehungen zu seinen Nachbarn entlang kontinentaler Grenzen hatten demnach einen bedeutenden Einfluss auf Chinas Einbindung in die maritime Welt des Indischen Ozeans. Sie regten Herrscher und Regierungen offensichtlich auch dazu an, den Seehandel aus unterschiedlichen Perspektiven zu bewerten und nicht nur die Reichtümer aus dem Süden in den Blick zu nehmen. Nichtsdestotrotz war die Sichtweise, den maritimen Handel als Einkommensquelle zur Finanzierung staatlicher Belange zu betrachten und sich auch entsprechend administrativ darauf zu beziehen, zunächst wohl eher die Ausnahme als die Regel, und sie beschränkte sich auf einzelne Herrscher der Tang-Zeit: Es war (noch) keine Staatsräson (raison d’état). Die primäre Motivation für den Überseehandel lag (aus Sicht des Kaiserhofes) nach wie vor in dessen Versorgung mit exotischen Waren und Luxusgütern. Die Relevanz einer komparativen Analyse der Entwicklungen entlang der Überland- und Seewege sollte, wie erwähnt, nicht unterschätzt werden. Sogar Händler, die zuvor Landwege bevorzugt hatten, verlagerten ihren Handel auf die Seerouten

50

Im Jahr 714 wurde Zhou Qingli 周慶立, ein hochrangiger Offizier der kaiserlichen Garde, nach Ling-

nan gesandt, und ihm wurde der Titel shibo shi verliehen. Vgl. Wang Zhenping, T’ang Maritime Trade Administration (wie Anm. 44), mit Bezug zu Cefu yuangui, Tang huiyao und Hou Tangshu.

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entlang des Indischen Ozeans, wie wir zum Beispiel von al-Mas‘ūdī (ca. 895–957) wissen: „Nach dem, was ich hörte [on raconte, A. S.], verließ ein Kaufmann aus Samarkand, einer Stadt in Transoxanien, seine Heimat mit einer Menge an Waren und zog zum Irak. Von da ging er mit seinen Gütern nach Basra, von wo er über Omān nach Kalāh segelte, einer Zwischenstation auf halbem Wege nach China; heute ist diese Stadt [Kalāh, A. S.] auch der allgemeine Treffpunkt für muslimische Schiffe aus Sīrāf und Omān. Aber in der Vergangenheit war das anders. Die Schiffe aus China erreichten üblicherweise [se rendaient, A. S.] Omān, Sīrāf, an den Küsten von Fārs und Bahrain, Ubulla und Basrah. Gleichzeitig pflegten Leute aus diesen Gegenden direkt nach China zu segeln. Seit man sich jedoch nicht länger auf die Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit der Herrscher und Statthalter und ihre Absichten verlassen kann und sich China selbst in der oben beschriebenen Situation befindet, haben [Kaufleute] diesen Treffpunkt hier ausgewählt. Auf diese Weise segelte der Kaufmann aus Samarkand auf einem chinesischen Schiff von Kalāh nach Khānfū [Kanton].“ 51

Ein anderes Beispiel: Über die meiste Zeit der Tang hinweg war China mit tibetischen Überfällen konfrontiert. In diesem Zusammenhang plante Li Mi 李泌 (722– 789), ein enger Berater von Kaiser Dezong 德宗 (reg. 780–805), eine Allianz zu schließen mit den Uiguren, dem Königreich von Nanzhao 南詔 (im Südwesten des SongReiches, im heutigen Gebiet von Yunnan gelegen), mit Indien und den Arabern „als dem mächtigsten Land der westlichen Gegenden mit einem Gebiet, das vom Pamir bis zu den westlichen Meeren reicht und somit die Hälfte der bekannten Welt umfasst“ 52, um die Tibeter im Zaum zu halten. Die Intensität der arabisch-chinesischen Beziehungen ist auch durch politische Kontakte belegt. Die Abbasiden (Heiyi dashi 黑衣大食) haben beispielsweise in der Zeit von 752–798 insgesamt zwölf diplomatische Gesandtschaften zum Tang-Hof geschickt. 53 Kriegerische Auseinanderset51 Übersetzt aus dem Französischen nach Barbier de Meynard und Pavet de Courteille. Paris 1861, Vol.1, 307f. Es geht aus dem Text nicht klar hervor, was unter „chinesischem Schiff“ genau zu verstehen ist. Diese Aussage kann schlicht bedeuten, dass der Kapitän oder der Großteil der Besatzung chinesisch waren und ermöglicht nicht zwangsläufig Rückschlüsse auf den Ort der Konstruktion des Schiffes. Denn für die Aussage, dass bis in die Mitte des 9.Jahrhunderts auch „chinesische“ Schiffe nach Westen bis in den Persischen Golf segelten, fehlt bisher leider jeglicher archäologische Befund. Vgl. meine Diskussion in: Angela Schottenhammer, Yang Liangyaos Reise von 785 n.Chr. zum Kalifen von Bagdad. Eine Mission im Zeichen einer frühen sino-arabischen Mächte-Allianz? (Reihe Gelbe Erde.) Gossenberg 2014, 54f. 52 Zizhi tongjian, 1956, 233.1599 and 1600. 53 Wang Qinruo 王欽若 [962–1025], Cefu yuangui 册府元龜. Beijing 1989, 971 und 975 passim; es wird

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zungen und politische Instabilität entlang der Landrouten drängten nicht nur zunehmend Kaufleute, den Seeweg zu nehmen, sondern auch Diplomaten (Boten). Wegen militärischer und politischer Probleme mit dem Staat der tangutischen Xixia 西夏 (1038–1227) sollten zukünftige arabische Gesandte laut einem kaiserlichen Erlass ebenfalls den Seeweg nutzen und über den Hafen von Guangzhou nach China einreisen. Eine Gesandtschaft der Araber (Dashi), die in China angekommen war (am Tag 1 des siebten Monats 1024), hatte zuvor den Landweg durch das Territorium der Tanguten genommen. 54 Wie aktuelle Forschungen gezeigt haben, erfolgte eine erste chinesische diplomatische Gesandtschaft, die den Indischen Ozean überquerte, bereits während der Tang-Dynastie im Jahr 785. Die Inschrift einer Grabstele (shendao zhi bei 神道之碑) eines chinesischen Eunuchen, eines gewissen Yang Liangyao 楊良瑤 (736–806), verzeichnet die Biographie des Verstorbenen und berichtet, dieser sei im Jahre 785 von Kaiser Dezong als Gesandter zu den Abbasiden geschickt worden. Es heißt, er sei von Kanton aus abgereist, habe den Seeweg bis zum Persischen Golf genommen und sei von dort schließlich erneut auf dem Seeweg nach China zurückgekehrt, nachdem er seinen Auftrag erfolgreich ausgeführt hatte. Obwohl dieser Auftrag weder in der Historiographie Chinas noch der des Mittleren Ostens erwähnt wird, besteht kein Grund, diese Ausführungen prinzipiell anzuzweifeln. Eine Analyse des historischen Hintergrundes der Gesandtschaft legt vielmehr nahe, dass er zum Hofe der Abbasiden geschickt worden war, um die für ihre militärische Stärke bekannten Araber um Unterstützung gegen die Tibeter zu bitten, deren aggressive Politik eine Bedrohung für die Tang-Herrscher darstellte. 55 Dies wäre unserem aktuellen Kenntnisstand zufolge die erste offizielle Gesandtschaft, die von China beauftragt worden ist und, den Indischen Ozean überquerend, den Seeweg bis in den Persischen Golf und weiter bis nach Bagdad genommen hat. Außerdem zeigt sie, dass einige chinesische Tang-Herrscher offensichtlich nicht nur

ebenfalls erwähnt, dass die Araber (Dashi) zu Beginn der Regierungszeit von Zhide (756–758) eine Gesandtschaft geschickt haben. 54

Xu Song 徐松 [1781–1848] u.a., komp., Song huiyao jigao 宋會要輯稿. Taibei 1964, Fanyi 4.91b–92a,

7.22b (7745). 55

Vgl. meine Diskussion des historischen Hintergrundes der Mission und der Frage, warum diese Mis-

sion weder in offiziellen arabischen noch chinesischen Quellen erwähnt wurde, in: Angela Schottenhammer, Yang Liangyao’s Mission of 785 to the Caliph of Baghdād. Evidence of an Early Sino-Arabic Power Alliance?, in: Bulletin de l’École française d’Extrême-Orient 101, 2016, 177–241.

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den Seehandel sehr aktiv förderten, sondern auch diplomatische und politische Beziehungen mit Ländern „jenseits der Meere“, also wie in diesem Fall den Arabern, pflegten. Das Interesse an Ländern und Regionen jenseits von China lässt sich auch am Bereich der Geographie ablesen, wie oben bereits angedeutet wurde. Gemäß dem Xin Tangshu 新唐書 begann der hohe Tang-Beamte Jia Dan während der Zhenyuan-Ära ab 785 – dem Jahr, in dem Yang Liangyao zu den Abbasiden gesandt worden war – Informationen über Seewege in den Westen zu sammeln. Er befragte Gesandte und Händler, die fremde Länder bereist hatten. Es gibt außerdem Belege für die Schlussfolgerung, dass Jia Dan und Yang Liangyao einander kannten und Yangs Beobachtungen Jia Dans Nachforschungen ergänzt haben könnten. Wir wissen eindeutig, dass die Chinesen zu dieser Zeit relativ detailliertes Wissen über den Seeweg von Guangzhou in den Persischen Golf besaßen. 56

V. Die „Bürokratisierung“ des Seehandels zur Zeit der frühen Song Die Gründer der Song-Dynastie, die sich mit einer zuvor unbekannten geopolitischen Situation in Ostasien konfrontiert sahen, suchten nach neuen Wegen, um das Land zu stärken und ihm langfristige Stabilität zu garantieren. Ziel war die Wiedervereinigung Chinas, nachdem es im frühen 10.Jahrhundert in mehrere, zum Teil konkurrierende und nebeneinander bestehende Staatswesen zerfallen war. Unter den Feinden der Song befanden sich hochentwickelte Staaten im Norden, wie zum Beispiel die Khitan Liao 契丹, die tangutischen Xixia oder das Königreich Nanzhao im Südwesten. Vor dem Hintergrund der politischen Unruhen und der Spaltung Chinas, die dem Untergang der Tang folgten, hat der erste Song-Kaiser Taizu 太祖 (reg. 960–976) gemeinsam mit seinen Beratern die Ursachen erörtert, die für den Untergang der Dynastie vermeintlich verantwortlich waren. Die Verwaltung TangChinas, so die Bewertung, sei zu stark von militärischen und aristokratischen Beam-

56 Vgl. Rong Xinjiang, New Evidence on the History of Sino-Arabic Relations. A Study of Yang Liangyao’s Embassy to the ‛Abbāsid Caliphate, in: Victor H. Mair/Liam Kelley (Eds.), Imperial China and Its Southern Neighbours. Singapur 2015, Kap. 10, 293–267, hier 259–261; ebenso Schottenhammer, Yang Liangyao’s Mission (wie Anm.55).

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ten dominiert gewesen. Sie führten stattdessen eine neue Staatsräson ein, die nicht nur die Ernennung moralisch gebildeter Gelehrten-Beamten vorsah, sondern auch eine Neubewertung von Handel und Wirtschaft beinhaltete, um neue Einnahmequellen zur Finanzierung staatlicher Ausgaben zu generieren. Das war eine politische Entscheidung, die Chinas steilen Aufstieg als wirtschaftlicher „Motor“ der ganzen maritimen Welt Asiens beförderte. Damit einher ging der Aufbau einer durchstrukturierten, ausgeklügelten staatlichen Verwaltung des maritimen Handels. Kaiser Taizu ernannte die Beamten Pan Mei 潘美 (921–987) und Yin Chongke 尹 崇珂 aus Kanton im Jahr 971 zu Überseehandelsbeauftragten (shibo shi 市舶使), um den Seehandel der Song zu verwalten. Diese Berufungen werden allgemein als Zeitpunkt der songzeitlichen Etablierung des Überseehandelsamtes in Kanton angesehen. 57 Anschließend begannen die frühen Song-Kaiser die Reorganisation der administrativen Strukturen. Entsprechend wurden während der Song-Dynastie insgesamt zehn Überseehandelsämter (shibo si 市舶司) beziehungsweise sogenannte „Superintendenturen für Überseehandel“ (shibo tiju si 市舶提舉司) sowie Überseehandelsbüros (shibo wu 市舶務) eröffnet. Auf diese Weise fand der Seehandel offiziell Eingang in die Verwaltungsstrukturen der Regierung, und die Überseehandelsämter wurden Schritt für Schritt in Chinas zentrale Finanzverwaltung eingebunden. 58 Kaiser Shenzong 神宗 (reg. 1068–1085) fasste den Beschluss, Kaufleuten Handel und Handelsverkehr zu erleichtern, damit sie durch ihre Gewinne und deren Besteuerung dazu beitragen konnten, die defizitären Staatskassen zu füllen. Sowohl in- als auch ausländischer Handel wurde gefördert, um die Einnahmen des Staates angesichts steigender Kosten zu erhöhen. 59 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die Zentralregierung im Jahre 1090 die Liberalisierung des Seehandels beschloss – eine administrativ-politische Maßnahme, die von großer Bedeutung für die weitere aktive Einbindung der chinesischen Kaufleute in den Handel Südostasiens und des Indischen Ozeans war. 60 Chinesische Kaufleute waren nun nicht länger verpflichtet, sich an Häfen mit of-

57

Song huiyao jigao (wie Anm.54), Zhiguan 44/1b.

58

Zu dieser Entwicklung vgl. Schottenhammer, China’s Emergence (wie Anm.41).

59

Vgl. z.B. Song huiyao jigao (wie Anm.54), Zhiguan 44/27a–b.

60

Derek Heng, Sino-Malay Trade and Diplomacy from the Tenth through the Fourteenth Century. (Ohio

University Research in International Studies, Southeast Asia Series, 121.) Athens 2009, 48.

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fiziellen Überseehandelsämtern (shibo si), wie Kanton, Quanzhou oder Mingzhou (Ningbo), registrieren zu lassen. Sie konnten von da an von jeder chinesischen Provinz oder Präfektur aus in See stechen, solange ihre Reise nur an einem Hafen registriert worden war. Wie Derek Heng betont, führte diese Liberalisierung nicht nur dazu, dass China nicht länger auf den Import von Waren durch Ausländer angewiesen war, sondern auch außerhalb Chinas einkaufen konnte („shop abroad“). 61 Folglich markiert das 11.Jahrhundert den Beginn der aktiven Phase in Chinas Seehandel. Gleichzeitig zwang diese Liberalisierung die chinesischen Kaufleute, sich auf Südostasien zu konzentrieren, weil die Regierung chinesischen Schiffen bereits in der ersten Hälfte des 11.Jahrhunderts verboten hatte, länger als neun Monate in Übersee zu bleiben. 62 Mit diesen Entwicklungen einhergehend haben Dschunken chinesischer Bauart zunehmend die arabischen Dhauen verdrängt, die den transozeanischen Handel in Südostasien bis dahin und für lange Zeit beherrscht hatten. 63 Nichtsdestotrotz war der maritime Fernhandel im westlichen Teil des Indischen Ozeans weiterhin von den indischen und vor allem muslimischen Netzwerken dominiert. Ihre Diaspora erstreckte sich über den gesamten maritimen Teil Asiens. 64

VI. Handelsnetzwerke Viele Fremde trieben während der mittleren Periode (etwa 5. bis 14.Jahrhundert) Handel in China. Handelsbeziehungen mit Südostasien, das heißt mit dem östlichen Teil des größeren Raumes des Indischen Ozeans, existierten bereits Jahrhunderte vor den Tang. Auch Koreaner und Japaner waren in chinesischen Hafenstädten im nordöstlichen und östlichen China aktiv. In verschiedenen Küstenstädten Nordostchinas entstanden koreanische Gemeinden (sogenannte „Silla-Viertel“, nach der koreanischen Dynastie Silla [669–935] benannt). 65 Besonders während der Tang-Zeit

61 Ebd.48. 62 Ebd.50. 63 Tansen Sen, Buddhism, Diplomacy, and Trade. The Realignment of Sino-Indian Relations, 600–1400. Honolulu 2003, 177f. 64 Vgl. insbesondere die Kapitel von Geoff Wade, Islam Across the Indian Ocean to 1500 CE, in: Angela Schottenhammer (Ed.), Early Global Interconnectivity in the Indian Ocean World. Vol.2. London/Cham 2019, 85–138. 65 Schottenhammer, China’s Emergence (wie Anm.41), 441.

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waren Koreanerinnen im großen Stil als persönliche Dienstmädchen, Konkubinen oder Unterhalterinnen in chinesischen Haushalten gefragt; sie waren ein „luxury commerce [that] supported a horde of pirates on the waters of the Yellow Sea, and occasioned the protests of the governments of the Korean peninsula“. 66 Doch ausländische Sklaven wurden ebenso aus dem malaiischen Archipel, dem entfernten Indien 67 oder sogar Ostafrika oder dem Nahen Osten importiert. 68 Für diese Zeit sind ebenfalls die Reisen koreanischer und japanischer Mönche von Bedeutung, die den Ozean nach Tang-China überquerten, um buddhistische Schriften zu beschaffen oder vor Ort ihre Kenntnisse über den Buddhismus zu erweitern. Auch Kaufleute aus Indien handelten in Guangzhou. Chinesische Quellen weisen bereits für das 5.Jahrhundert auf die Anwesenheit indischer Handelsgesellschaften in den Küstenregionen Chinas einschließlich Guangzhous hin. 69 Indische Handelsgilden im China des 7. und 8.Jahrhunderts „imply vigorous and profitable trading relations between the two countries“. 70 Iranische und später arabische Händler beherrschten weite Bereiche der maritimen Handelsnetzwerke zwischen dem Chinesischen Meer, dem Persischen Golf und den Gebieten darüber hinaus. Deren Stellenwert für Chinas maritime Fernkontakte wird durch große, hauptsächlich arabische und iranische Gemeinschaften in chinesischen Hafenstädten dieser Zeit bestätigt. Im Jahre 758 haben „Araber and Perser“ (Menschen der arabischen Welt) vermeintlich Guangzhou geplündert. Ein gewisser Suleimān, der Guangzhou im Jahr 851 besuchte, berichtete über die muslimische Gemeinschaft in der Stadt, die sich selbst nach dem Gesetz der sharī‘a unter einem kādī regierte, dessen Ernennung von chinesischen Behörden bestätigt werden musste. Der arabische Geograph und Schriftsteller Abū Zayd aus Sīraf (er schrieb im Jahr 916) berichtet von 120000 Muslimen, Juden, Christen und Zoroastriern (altpersisch: Maguš), die während der Huang Chao 黃巢 (?–884)-Rebellion im Jahr 878/79 zusätzlich zu den Chinesen getötet wurden. 71

66

Edward Schafer, The Golden Peaches of Samarkand. Oakland 1963, 44.

67

Ebd.45–47.

68

Pingzhou ketan (wie Anm.35), 2.18.

69

In der Mitte des 8.Jahrhunderts gab es drei brahmanische Tempel mit einigen Priestern in Guang-

zhou; vgl. Sen, Buddhism, Diplomacy, and Trade (wie Anm.63), 163. Die Erwähnung hinduistischer Tempel könnte ebenfalls auf die Existenz von Händlergilden hinweisen.

158

70

Ebd.220.

71

Howard S. Levy, Biography of Huang Ch’ao. Berkeley/Los Angeles 1961, 113f., die Übersetzung von

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Es liegt auf der Hand, dass arabische und iranische Händler nicht nur Handelsbeziehungen mit Südchina unterhalten haben, sondern dass sich einige auch in Hafenstädten wie Quanzhou, Guangzhou (einschließlich nahegelegener Dörfer im heutigen Guangdong), in Guangxi sowie in Hangzhou und Yangzhou niederließen. Unter ihnen spielten mindestens bis ins 10.Jahrhundert insbesondere Händler aus Sīraf und dem Oman eine entscheidende Rolle. Gleichwohl erlitt der florierende Handel im 9.Jahrhundert einige Einbußen. 72 Vor allem die Huang Chao-Rebellion zwang viele ausländische Kaufleute, in andere Gebiete Südostasiens auszuwandern. Hier sind zum Beispiel Zhancheng 占城, Champa (im heutigen Zentralvietnam), Thailand, die malaiische Halbinsel oder Regionen wie Kalāh (Kedah) zu nennen. Die Rebellion initiierte so einen qualitativen Wandel der Handelsbeziehungen. 73 Anscheinend wurden Kedah und Śrīvijaya in dieser Zeit zu neuen Umschlagsorten zwischen dem westlichen und östlichen Indischen Ozean. Auch wenn die exakte Lage Kalāhs weiterhin diskutiert wird 74, ist die Migration nach Südostasien und zur malaiischen Halbinsel unstrittig. Im 10.Jahrhundert hatte sich Kalāh zu einer wohlhabenden Stadt, „inhabited by Muslims, Hindus and Persians“ 75, entwickelt. Der Berichterstatter al-Mas‘ūdī bezeichnet Kalāh als einen Ort, wo „heutzutage“ (das heißt in der Mitte des 10.Jahrhunderts) die Schiffe der islamischen Welt aus Sīrāf und dem Oman auf chinesische Schiffe treffen. Die Handelsnetzwerke der iranischen und arabischen Händler verschoben sich folglich Richtung Südostasien. Der islamische

Gabriel Ferrand zitierend: Voyage du marchand arabe Sulaymân en Inde et en Chine, rédigé en 851, suivi de remarques par Abû Zayd Ḥasan (Vers 916). Paris 1922. 72 Vgl. die Diskussion bei Schottenhammer, China’s Gate (wie Anm.19). 73 Angela Schottenhammer (Ed.), Seafaring, Trade, and Knowledge Transfer. Maritime Politics and Commerce in Early Middle Period to Early Modern China, in: Crossroads – Studies on the History of Exchange Relations in the East Asian World 12, 2015 (Special Issue), 17. 74 Vgl. die Diskussion in Roderich Ptak, Die maritime Seidenstraße. Küstenräume, Seefahrt und Handel in vorkolonialer Zeit. München 2007, 130. Archäologische Relikte betonen zweifelsohne die Relevanz dieser Region. 75 Vgl. André Wink, Al-Hind, the Making of the Indo-Islamic World 1: Early Medieval India and the Expansion of Islam 7th – 11th Centuries. Leiden/New York 1990, 83f. Vgl. ebenfalls Geoff Wade, Beyond the Southern Borders. Southeast Asia in Chinese Texts to the Ninth Century, in: John Guy (Ed.), Lost Kingdoms. Hindu-Buddhist Sculpture of Early Southeast Asia. New York 2014, 25–31, 274–276. Geoff Wade bemerkt, dass ein anderer Name, Geluo 哥羅, „that seems to represent Kedah appeared by about 800. […] This major polity, recorded as having twenty-four provinces, would appear to have been the Kalāh of Arabic texts, where it is noted as a major trading centre and focus of shipping routes from the ninth century or earlier“ (ebd.30).

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Handel in Guangzhou hat sich allerdings im Verlauf des 10.Jahrhunderts zunehmend erholt, und wir wissen, dass auch Mitglieder der arabischen Gemeinschaft schrittweise wieder eingewandert sind und ihren Schwerpunkt von Guangzhou nach Quanzhou verlegten. Dafür sprechen archäologische Belege in Form von muslimischen Grabsteinen aus dem 12., 13. und 14.Jahrhundert. Ausländische und chinesische Handelsnetzwerke erreichten ihren Höhepunkt zur Song-Zeit. Insbesondere Quanzhou entwickelte sich zu einem Zentrum einerseits des Nanhai-Handels, also des Handels mit Ländern und Regionen rund um das Südchinesische Meer und die südostasiatischen Gewässer, mit einer blühenden Handelskultur, in der sich chinesische Kaufleute mit Arabern, Bewohnern Śrīvijayas und des Cōḷa-Reiches, mit Tamilen, Koreanern, Ryūkyūnesen und Japanern vermischten. Gleichzeit fungierten die Wirtschafts- und Kulturzentren wie Guangzhou, Quanzhou, Hangzhou oder Yangzhou als „gateways“ zum chinesischen Inland. Diese Entwicklungen beeinflussten sowohl die östlichen als auch die südchinesischen Gewässer. Momoki Shiro 桃木至朗 und Hasuda Takashi 莲田隆志 betonen, dass „North-east Asia was deeply incorporated into international trade networks for the first time“, und zwar vom 11. bis zum 14.Jahrhundert. 76 Yamauchi Shinji 山內晋次 verweist ebenfalls auf die „active exchanges of people, commodities and information through frequent maritime trade with the Asian continent“. 77 Charlotte von Verschuer hat diese Periode in ähnlicher Weise in Bezug auf Japans Beziehungen zu China und Korea als Epoche des freien Handels beschrieben. 78 Wir wissen ebenfalls von chinesischen Siedlungen in Japan (Tōbō 唐坊, zum Beispiel in Hakata 博多) und Korea (etwa in Mokpo), beides Küstenstädte. Solche Siedlungen belegen die Anfänge einer aktiveren Beteiligung Chinas an Überseenetzwerken. Es wird angenommen, dass Tausende Chinesen während der südlichen Song-Periode nach Korea gereist sind. 79 Das zeigt, dass auch Nordostasien vom Beginn des 11.Jahr-

76

Momoki Shiro 桃木至朗, Dai Viet and the South China Sea Trade. From the Tenth to the Fifteenth Cen-

tury, in: Crossroads. An Interdisciplinary Journal of Southeast Asian Studies 12, 1999, 1–34, hier 5. 77

Yamauchi Shinji 山内晋次, The Japanese Archipelago and Maritime Asia from the Ninth to the Thir-

teenth Centuries, in: Fujiko Kayoko/Makino Naoko/Matsumoto Mayumi (Eds.), Dynamic Rimlands and Open Heartlands. Maritime Asia as a Site of Interactions. Proceedings of the Second COE-ARI Joint Workshop. Osaka 2007, 82–99, hier 83, 93. 78

Charlotte von Verschuer, Across the Perilous Sea. Japanese Trade with China and Korea from the Se-

venth to the Sixteenth Century. Ithaca 2006, Kap 4. 79

160

Ptak, Die maritime Seidenstraße (wie Anm.74), 155.

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hunderts immer stärker wirtschaftlich in die Makroregion des Indischen Ozeans integriert worden ist. Insbesondere die Beziehungen mit Südostasien erreichten einen bislang ungekannten Höhepunkt. Geoff Wade hat argumentiert, dass die Zeit zwischen 900 und 1300 für Südostasien ein „age of commerce“ war 80, während Kenneth Hall die Periode zwischen 1000 und 1400 als Zeit fundamentaler Veränderungen in den wirtschaftlichen und staatlichen Entwicklungen dieser Region beschreibt. 81 Diese Entwicklung ging einher mit dem Aufkommen neuer Häfen in Südostasien, mit der Verschiebung administrativer Zentren vom Hinterland zu den Küstenregionen, mit einem Bevölkerungswachstum und der Entwicklung lokaler Industrien (zum Beispiel Keramik- und Textilproduktion), neuen Konsumbereichen und Handelsorganisationen. 82 Ferner besitzen wir schriftliche Quellenbelege, dass auch jüdische Händler den weiten Weg vom Mittelmeer bis nach China auf sich nahmen. Wie wir weiter oben gesehen haben, bestätigt Abū Zayd, dass Juden während der Tang-Dynastie in Guangzhou lebten. Die jüdischen Händler, die den Seeweg genommen haben und in südlichen chinesischen Hafenstädten wie Kanton Handel trieben oder sich dort sogar niederließen, entstammten zumeist der muslimischen Welt. 83 Bedauerlicherweise haben wir wegen des Mangels an Quellen keine weiteren Informationen über weiterreichende wirtschaftliche Aktivitäten von Juden in China. 84 Die chinesische

80 Geoff Wade, An Earlier Age of Commerce in South-East Asia: 900–1300 C. E.?, in: Kayoko/Naoko/ Mayumi (Eds.), Dynamic Rimlands (wie Anm. 77), 27–81. 81 Kenneth R. Hall, Maritime Trade and State Development in Early Southeast Asia. Honolulu 1985, Kap. 8. 82 Geoff Wade, An Earlier Age of Commerce in South-East Asia. Cambridge 2007, 71–75. 83 Vgl. insbesondere die von Michael Toch bereitgestellten Informationen: Netzwerke im jüdischen Handel des Früh- und Hochmittelalters, in: Gerhard Fouquet/Hans-Jörg Gilomen (Hrsg.), Netzwerke im europäischen Handel des Mittelalters. (Vorträge und Forschungen, 72.) Ostfildern 2010, 229–244, 238. Vgl. für die Aktivitäten jüdischer Kaufleute im indischen Archipel das Kapitel von Ranabir Chakravarti, Indic Mercantile Networks and the Indian, in: Angela Schottenhammer (Ed.), Early Global Interconnectivity in the Indian Ocean World. Vol.1. (Palgrave Series in Indian Ocean World Studies.) London/Cham 2019, 191– 224. 84 Es ist interessant anzumerken, dass die Geniza-Dokumente, die in einer jüdischen Synagoge in der Altstadt Kairos gefunden und von Shelomo Dov Goitoin untersucht wurden, „glossy zaytūnī“ Seide (zaytūnī muyallā) für den Preis von einem Dinar pro Pfund im Jahr 1048 erwähnen. Da die Hafenstadt Quanzhou den Arabern ebenfalls als Zaytun bekannt war, könnte es sich hierbei um einen Hinweis auf Seide handeln, die von Quanzhou exportiert worden ist. Selbst wenn dies der Fall gewesen ist, sind die gesamten Umstände,

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Geschichtsschreibung hat zu diesem Thema wenig zu berichten. Der persische Geograph Ibn Khuradādhbih (ca. 820–912) übermittelt einige Informationen über Reisewege jüdischer Händler, und zwar über die Radhaniten. In einem Kapitel, „Itinéraires des marchands juifs, dit Radanites“, erklärt er, dass sie am Fluss Tigris an Bord gingen und zunächst nach al-Ubullah segelten, bevor sie den Seeweg durch den Persischen Golf nach Indien und China nahmen. 85 Demzufolge sprachen sie Persisch, Griechisch oder Latein, Arabisch, „Fränkisch“ (wahrscheinlich Portugiesisch), Spanisch oder slawische Sprachen und nahmen männliche sowie weibliche Sklaven, Seide, Schwerter und Felle als Tauschobjekte gegen Moschus, Aloe, Kampfer, Zimt und andere „orientalische Produkte“. 86 Die Radhaniten waren jüdische Händler aus dem Westen, die intensiv zwischen Europa und Asien reisten. Die Hafenstadt Basra im Persischen Golf war nach al-Yaʿqūbī „die Hauptstadt der Welt, das Zentrum von Handel und Reichtum“, ein finanzieller Umschlagplatz, an dem sich Christen, Juden, Iraner, Araber und Inder trafen. 87 Jüdische Kaufleute kamen in Basra sicherlich mit Kaufleuten in Kontakt, die am chinesischen Handel beteiligt waren. Für die Chinesen war Sīraf ebenfalls einer der bedeutendsten Umschlagshäfen der Region. Eine arabische Darstellung aus der Mitte des 10.Jahrhunderts, die eine Verbindung der ostafrikanischen Küsten mit Ostasien bezeugt, ist in diesem Kontext ebenfalls interessant. Der Darstellung zufolge kam ein Mann namens Wāqwāq im Jahr 945 aus dem Osten „mit 1000 kleinen Booten und griff die Stadt Quanbalu [i. e. Pemba auf Zanzibar] mit Gewalt an. Als [ein Mann aus] Wāqwāq ankam, fragte ihn das Volk,

wie diese Seide Kairo erreicht haben könnte und in welchem Ausmaß jüdische Händler in den Handel mit zaytūnī involviert gewesen sind, absolut unklar; Shelomo Dov Goitein, A Mediterranean Society of the Arab World as Portrayed in the Documents of the Cairo Geniza. Vol.1: Economic Foundations. Berkeley 1967, 455 Anm.53. 85

Die geographischen Vorstellungen eines Autors wie Ibn Khurradādhbih bleiben natürlich Gegen-

stand von Diskussionen: Was genau verstand er unter dem Begriff „China“? Aber vor dem Hintergrund dessen, dass Guangzhou zumindest definitiv ein Ankunftshafen unter zeitgenössischen Kaufleuten der orientalischen Welt gewesen ist, würde ich argumentieren, dass es definitiv auch Teil dessen war, was die Iraner und Araber als China dieser Zeit verstanden haben. 86

„[…] des eunuques, des esclaves femelles, des garçons, de la soie, des pelleteries et des épées“, vgl. Ibn

Khurradādhbih [ca. 820–912] (ca. 870; Reprint 1865), Le livre des routes et des provinces (ca. 870) par Ibn Khurdadbeh. Übers., ed. und publiziert v. C. Barbier de Meynard, in: Journal Asiatique (Janvier–Février 2015), http://remacle.org/bloodwolf/ arabe/khordadheh/routes.htm#_ftnref291 (aufgerufen am 12.Januar 2015). 87

André Clot, Harun al-Raschid. Kalif von Bagdad. Aus dem Französ. übers. v. Sylvia Höfer. München

1988, 270.

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warum er hierher und anderswohin gekommen sei. Sie sagten, weil das Land Handelsgüter besäße, die in ihrem Land und für China nützlich seien, wie Elfenbein, Schildpatt, Pantherfelle und Ambra, und weil sie Zanj [Sklaven] haben wollten; denn diese seien stark, würden die Sklaverei leicht ertragen. Wenn diese Männer die Wahrheit gesagt haben und ihre Angaben korrekt sind, wonach sie von einer Jahresreise entfernt gekommen seien, würde das bestätigen, was Ibn Lakis über die Wāqwāq-Inseln gesagt hat – dass diese gegenüber China liegen.“ 88

Die Insel Wāqwāq ist ebenfalls in anderen arabischen und iranischen Quellen erwähnt, einschließlich denen des Ḥudūd al-ʿĀlam (datiert auf das Jahr 982), des al-Bīrūnī (973–1048) und des al-Masʿūdī. Mehrere Vorschläge sind gemacht worden, um die genaue Lage der Insel Wāqwāq oder des Archipels zu bestimmen – Sumatra, Madagaskar oder sogar Japan; später wurde sie mit einem sagenhaften Baum identifiziert. Analysiert man al-Idrīsīs (1100–1165) berühmte Karte, so war Wāqwāq ursprünglich eine Stadt an einer Flussmündung in Mozambique, jedenfalls handelte es sich eindeutig um einen Ort in Afrika. 89 Unsere Quellen können Handel mit Produkten wie Elfenbein, Schildkrötenpanzern, Ambra (Amber) und Sklaven über den gesamten Indischen Ozean hinweg belegen. Die Diaspora der Händler, die in diesen Netzwerken und Beziehungen über den Indischen Ozean hinweg involviert waren, war zur Song-Zeit eindeutig multiethnisch.

VII. Archäologische Belege (Tang-Zeit bis Song-Zeit) In den letzten Jahrzehnten wurde eine Reihe an Schiffswracks oder anderen archäologischen Befunden zutage gefördert, welche, die schriftlichen Quellen ergänzend, die zunehmende Bedeutung der Seewege bestätigen, die China und den Indischen Ozean miteinander verbanden. Ein einschlägiges Beispiel ist eine indo-arabi-

88 G. S. P. Freeman-Grenville, Buzurg ibn Shahriyar of Ramhormuz. The Book of the Wonders of India. London 1981, 103. 89 Jean-Paul G. Potet, Arabic and Persian Loanwords in Tagalog. Raleigh 2013, 31–32. Der Autor erläutert ferner, dass aufgrund der Verzerrung Afrikas, die al-Idrīsī vorgenommen hat, indem er den Kontinent nach Osten streckte, Wāqwāq jenseits des Meeres gegenüber von China zu liegen kam; dies war der Grund dafür, weshalb arabische Kommentatoren den Ort mit einer Insel vor China oder Japan identifizierten.

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sche Dhau, die um 826 bei der indonesischen Insel Belitung gesunken ist. 90 Dieses „Belitung-Wrack“ hatte eine Ladung chinesischer Keramiken geladen und war vermutlich in Richtung Śrīvijaya oder Westasien unterwegs. Offenbar segelte die Dhau von Kanton aus, nachdem sie Ware in Yangzhou, viel weiter nördlich am YangziFluss gelegen, aufgenommen hatte. Es handelt sich um die bisher älteste arabische Dhau, die jemals in südostasiatischen Gewässern gefunden wurde. Eindeutig gehört sie der arabischen Dhau-Tradition des 8. und 9.Jahrhunderts an. 91 Das Schiff war mit 60000 Keramikstücken beladen; unter ihnen befanden sich Porzellan, Seladone und Steinzeug, verziert mit buddhistischen und islamischen Motiven, aus einem Brennofen-Komplex in Changsha 長沙 (Hunan), sowie Gold- und Silberornamente. 92 In Verbindung mit den an der vietnamesischen Küste gefundenen tangzeitlichen Changsha-Keramiken lässt sich nun definitiv bestätigen, dass die Brennöfen von Changsha ein spätes tangzeitliches Massenproduktionszentrum darstellten, das sich dezidiert auf ausländische, insbesondere mittelöstliche und islamische Märkte konzentrierte. 93 Besonders interessant ist die finanzielle Förderung des Seehandels durch unabhängige chinesische Reiche im 10.Jahrhundert. Dies trifft vor allem auf das Königreich Nan Han 南漢 (917–971) zu, dessen Gebiet etwa das Territorium der heutigen Provinz Guangdong umfasst, sowie auf das in der heutigen Provinz Fujian gelegene Königreich Min 閩 (909–945). Die sozialen und herrschenden Eliten von Nan Han waren wegen des zurückgehenden Seehandels nach der Huang Chao-Rebellion sehr besorgt und versuchten, ihn wiederzubeleben. Als Nan Han 971 in das Song-Territorium eingegliedert wurde – so wird berichtet – konnte sein Herrscher „mehr als 10 seegängige Dschunken mit seinen Wertgegenständen“ füllen. 94 Ein anderes Wrack – das sogenannte Intan-Wrack – liefert weitere Hinweise auf das Ausmaß der Betei-

90

Michael Flecker, A Ninth-Century Arab Shipwreck in Indonesia. The First Archaeological Evidence of

Direct Trade with China, in: Regina Krahl/John Guy/J. Keith Wilson/Julian Raby (Eds.), Shipwrecked. Tang Treasures and Monsoon Winds. Washington/Singapur 2010, 101–119. 91

Ebd.20.

92

Ebd.20.

93

Kimura Jun, Maritime Archaeological Perspectives on Seaborne Trade in the South China Sea and East

China Sea between the Seventh and Thirteenth Centuries, in: Crossroads. Studies on the History of Exchange Relations in the East Asian World 11, 2015, 47–61. 94

Wang Gungwu, The Nanhai Trade (wie Anm.26), 88, mit Bezug zu Ouyang Xiu 歐陽修 [1007–1072], Xin

Wudai shi 新五代史. Beijing 1974, 65.6b.

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ligung Nan Hans am Seehandel. 95 Das Wrack enthielt eine gemischte Ladung aus chinesischen Keramiken und anderen Artefakten, viele aus Metall und einige westasiatischer Herkunft. Silberbarren, Münzen und Keramiken weisen stark auf Śrīvijaya als Herkunftsort des Schiffes hin. Vielleicht handelt es sich sogar um ein Schiff aus Śrīvijaya, das nach einer Handelsreise nach Guangzhou, der Hauptstadt der Südlichen Han, auf dem Rückweg in seinen Heimathafen war und schließlich in der nordöstlichen Javasee sank. 96 Das Schiff war ungefähr dreißig Meter lang und hatte eine Verdrängung von ungefähr dreihundert Tonnen. 97 An Bord befand sich sowohl chinesische als auch südostasiatische Keramik. 98 Besonders hervorzuheben sind 97 Silberbarren, die meisten mit einem Gewicht von 37 liang 兩, das sind ungefähr 1,85 Kilogramm, eine Anzahl dünner Silberfolien und ungefähr 145 chinesische Bleimünzen. Auf einem anderen Schiffswrack aus dem 10.Jahrhundert (das ebenfalls in der Javasee verloren gegangen ist und seine Ware wahrscheinlich ebenfalls in Guangzhou an Bord genommen hatte), dem sogenannten Cirebon-Wrack, fand man ähnliche Münzen sowie 14 Silberbarren. 99 Von den schätzungsweise 150000 Keramikstücken, die das Cirebon-Schiff geladen hatte, bestanden fast 90 Prozent aus unterschiedlichen Arten von grün glasierten Yue-Schüsseln und Geschirr. Die gesamte Ladung an Keramiken lässt sich grundsätzlich in verschiedene Typen unglasierten Steinzeugs beziehungsweise Seladon-Keramik und Porzellan aufteilen: hocherhitzte Changsha-Ware (Steinzeug) aus den Brennöfen in Changsha (im heutigen Hunan), weißes Porzellan (Ding-Ware, aus Brennöfen im heutigen Hebei) und grünlich glasierte Yue-Ware (Seladon) aus den Yue-Brennöfen im östlichen Zhejiang, das zu dieser Zeit unter der Herrschaft der WuYue 吳越 (907–978) stand. 100 Ferner barg das Schiff die bisher frühesten Funde des später so berühmten Blau-Weiß-Porzellans. Die auf diesen Wracks gefundene Ware ist ein eindeutiger Beleg für die Handels95 Für technische Aspekte dieses Wracks wie auch anderer Schiffe vgl. Nick Burningham, Shipping of the Indian Ocean World, in: Schottenhammer (Ed.), Early Global Interconnectivity, Vol.2 (wie Anm.64), 141– 201. 96 Denis Twitchett/Janice Stargardt, Chinese Silver Bullion in a Tenth-Century Indonesian Shipwreck, in: Asia Major, 3rd Series, 15, 2004, 23–72, hier 60, 67. 97 Michael Flecker, The Archaeological Excavation of a 10th Century Intan Shipwreck. (BAR International Series, 1047.) Oxford 2002. 98 Twitchett/Stargardt, Chinese Silver Bullion (wie Anm.96), 35f. 99 Liebner, The Siren of Cirebon (wie Anm.29), 197, 299. 100 Ebd.75, 302.

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beziehungen zwischen den unabhängigen Staaten und Königreichen auf Chinas Territorium. So wurden beispielsweise in WuYue produzierte Keramiken über den Hafen von Guangzhou, der zum Nan Han-Königreich gehörte, exportiert. Keramiken und andere archäologische Relikte, die in den Küstengebieten Südostasiens entdeckt wurden, können wertvolle Hinweise auf Handelsbeziehungen nach Übersee geben. Auch in Laem Po (Suratthani, Thailand) und Tungtuk (Phang Nga, Thailand) haben Archäologen „significant quantities of Middle Eastern glass and glazed pottery“ freigelegt. Diese Ausgrabungsstätten sind „as the richest sites with Chinese and Islamic finds in South East Asia“ anerkannt worden. In Laem Po ist sogar ein historisches muslimisches Fischerdorf gefunden worden. 101 Viele Keramiken konnten den Tang-Brennöfen in Changsha zugeordnet werden. Ein weiteres Beispiel ist das Châu Tần 周城-Schiffswrack, das in der Provinz Quảng Ngãi 廣義 gerade an der Stelle geborgen worden ist, wo die Schiffe üblicherweise die Küstenlinie verließen, um weiter östlich über die offene See, südöstlich an der Insel Hainan vorbei, weiter Richtung Nordosten zu segeln und dann auf China zuzusteuern. 102 Die Forschung von Kimura Jun und seinen Kollegen beleuchtet ebenfalls die Veränderungen in den von Händlern genutzten Seewegen und den Identitäten der Reisenden, die an maritimen Handelsaktivitäten zwischen dem 7. und 13.Jahrhundert beteiligt waren. 103 Ein Schiffswrack aus dem 7./8.Jahrhundert, das in Zentralvietnam gefunden wurde, bestätigt die dominierende Rolle, die südostasiatische Seefahrer und diejenigen des Indischen Ozeans (was iranische und arabische Kaufleute, die dort siedelten, mit einschließt) beim Transport chinesischer Waren zu dieser Zeit spielten, während Fundstätten von Wracks aus dem 12./13.Jahrhundert in der „South and East China Sea“ das Aufkommen der aktiven Seefahrt chinesischer Schiffe belegen. 104 Zwei weitere Wracks aus der Song-Dynastie sollen den Überblick abrunden. Das im Jahre 1973 entdeckte und auf das Jahr 1277 datierte Quanzhou-Wrack ist hinreichend bekannt und braucht an dieser Stelle nicht weiter besprochen zu werden. 105

101 Chen Dasheng, Chinese Islamic Influence on Archaeological Finds in South Asia, in: Scott/Guy (Eds.), South East Asia and China (wie Anm.4), 55–63, hier 59f. 102 Kimura Jun 木村淳/Randall Sasaki/V. Thu Long, Historical Development of Asian Anchors, as Evidenced by Two Wooden Anchors Found in Northern Vietnam, in: International Journal of Nautical Archaeology 40, 2010, 361–373. 103 Kimura, Maritime Archaeological Perspectives (wie Anm.93), 47–61. 104 Ebd.47, 55. 105 Zum Song-Schiff vgl. Fu Zongwen 傅宗文, Houzhu guchuan: Song ji nanwai zongshi haiwai jing shang

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Erwähnt sei lediglich, dass das Schiff eine Vielzahl von Gütern mit der Bezeichnung „Südliche Familie“ (nanjia 南家) trug, was offensichtlich einen Bezug zur kaiserlichen Familie darstellt und auf deren ausgiebige unternehmerische Einbindung in den Überseehandel oder sogar auf den Besitz des Schiffes hindeutet. 106 Das spiegelt ebenfalls die zunehmende private Beteiligung von Mitgliedern des Hofes am maritimen Handel wider. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf ein anderes Song-Schiff, das Wrack „Nanhai 南海 Nr.I“, das ursprünglich 1987 in Taishan 台山 vor der Küste Guangdongs entdeckt und im Jahr 2007 geborgen wurde. Mit einer Länge von 21,8 Metern beinhaltet es dreizehn „compartments“ oder Kabinen zur Lagerung der Ware: zwischen 60000 und 80000 Relikte, unter ihnen Goldartefakte, Kupfergeld und Eisenwaren sowie große Mengen an Porzellan, wie Archäologen bestätigen konnten, nachdem der die Oberflächen bedeckende Schlamm entfernt worden war. 107 Die Keramiken stammten sowohl aus den bekannten Jingdezhen 景德鎮-Brennöfen in Jiangxi (einschließlich Waren aus Hutian 湖田, die sich in der Art und der Gestaltung sehr von denen der gewöhnlichen Jingdezhen-Produktion unterscheiden), als auch aus den Longquan 龍泉-Brennöfen in Zhejiang und den Dehua 德化Brennöfen in Fujian. Die Stücke umfassten Schüsseln, Schalen, Teller, Flaschen, Vasen, Becher und Gefäße des täglichen Bedarfs und konnten auf die mittlere und späte Nördliche Song-Zeit datiert werden. Der Großteil der Stücke entstammte den Brennöfen aus Fujian. Einige der dort produzierten Keramiken waren an der Unterseite mit chinesischen Schriftzeichen, wie Cai 蔡, Chen 陳 oder Lin 林 gekennzeichnet. Diese waren mit Tinte aufgetragen worden und bezeichneten höchstwahrscheinlich die Besitzer,

de wuzheng 后渚古船:宋季南外宗室海外經商的物證, in: Haiwai jiaotong yanjiu 海外交通史研究 2, 1989, 77–83. 106 John Chaffee, Branches of Heaven. A History of the Imperial Clan of Sung China. Cambridge 1999, 234–239; ders., The Impact of the Song Imperial Clan on the Overseas Trade of Quanzhou, in: Angela Schottenhammer (Ed.), The Emporium of the World. Maritime Quanzhou, 1000–1400. (Sinica Leidensia, 49.) Leiden 2001, 13–46. 107 Ebd.; vgl. ebenfalls http://usa.chinadaily.com.cn/culture/2015–01/01/con- tent_19212068_1–4.htm (aufgerufen am 30.Dezember 2014); insbesondere die Illustration auf der Seite http://usa.chinadaily. com.cn/culture/2015–01/01/content_19212068_4.htm bietet einen exzellenten Einblick in die Art und Weise, wie die Keramiken im Schiffsinneren aufbewahrt wurden und welche Mengen transportiert worden sind.

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die Verkäufer, Keramikproduzenten oder die Händler der Waren. 108 Ähnliche Markierungen und Beschriftungen sind ebenfalls auf Keramiken aus dem bekannten Quanzhou-Schiffswrack gefunden worden. Interessanterweise wiesen einige Scherben kunstvolle Reime auf (so zum Beispiel qianfeng cuise 千峰翠色, das heißt „höchster Glanz von Smaragdgrün gleich wie Jade“), ein Vers, der ursprünglich von dem Tang-Poeten Lu Guimeng 陸龜蒙 (?–881) stammt, der mit diesen Worten die Farbe der Yueyao 越窑-Keramik pries. Bedeutet das vielleicht, dass der potenzielle Kunde dieser Keramik ein Kenner oder Liebhaber chinesischer Tang-Lyrik war? Oder war Tang-Lyrik in bestimmten fremden Ländern oder unter bestimmten Abnehmerkreisen en vogue? Wir wissen, dass insbesondere Tang-Antiquitäten unter den arabischen und iranischen Eliten durchaus beliebt gewesen sind, was Hinweise auf mögliche Kunden geben könnte. Zusätzlich wurden mindestens 36 verschiedene Typen an Bronzemünzen (insgesamt 6000 Stück, 4000 Münzen mit lesbaren Inschriften aus unterschiedlichen Dynastien) gefunden. Die ältesten, die berühmten Wuzhu 五株-Münzen, stammen aus der Östlichen Han-Dynastie (das heißt 25–220). Ferner fand man tangzeitliche Münzen der Regierungsperiode Kaiyuan, Kaiyuan tongbao 開元通寶, einige Münzen aus der Zeit der Fünf Dynastien und Zehn Königreiche sowie eine große Menge songzeitlicher Münzen, die jüngsten aus der Shaoxing 紹興-Regierungszeit (das heißt 1131– 1162). Vorhanden waren ebenfalls Silberbarren, immerhin war Silber in Barrenform ein typischer Bestandteil der Ladung eines damaligen Überseeschiffes, obwohl Silber auch im Tausch gegen Kupfer importiert wurde. 109 Die „Nanhai Nr.I“ hat ebenfalls zahlreiche Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs mit sich geführt; einige lassen möglicherweise auf den Reichtum und den sozialen Status von Passagieren oder der Schiffseigentümer schließen: Hierzu gehört ein größerer Behälter aus Zinn (165 cm hoch mit einem ringförmigen Griff und einem Deckel, der durch Zinnelemente am Griff befestigt war); ein 179 cm langer sil-

108 Weitere gefundene und mit Tinte gezeichnete Buchstaben beinhalten zum Beispiel „Zheng zhi ke“ 鄭知客, „ran“ 然, oder „zhi“ 直, „ji“ 几, „you“ 由 oder „yangshi“ 楊十. Li Qingxin, Cong Nanhai yi hao chenchuan kaogu kan Songdai haiwai maoyi ruogan wenti 從南海一號沉船考古看宋代海外貿易若干 問題, auf der „International Conference on Empires and Networks: Maritime Asian Experiences Ninth to Nineteenth Centuries“ präsentierter Artikel, 21./22.Februar 2011, ISEAS, National University of Singapore. Singapur 2011, 1–30, hier 16. 109 Bao Hui 包恢 [1182–1268], Bizhou gaolüe, 1.20b, in: Siku quanshu zhenben sanji 四庫全書珍本三 集. Taibei 1972, Fasz. 246.

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berner Leibgürtel, ineinandergewoben aus vier Strängen mit jeweils acht goldenen Fäden, verziert mit jadeähnlichen Mustern, und Vierkantlöcher, die den Gürtel verbanden. Da die Form und das Design des Gürtels für ein chinesisches Produkt recht untypisch sind, ist vorgeschlagen worden, dass dieser einem nicht-chinesischen Händler, Schiffsbesitzer oder Seemann gehört haben könnte. Dies hat weitere Spekulationen darüber angeregt, ob die „Nanhai Nr.I“ tatsächlich ein chinesisches Schiff oder nicht vielmehr ein ausländisches Schiff mit einem ausländischen Schiffsbesitzer war. Archäologen fanden ebenfalls einen goldenen Griff, dessen Seiten mit Drachenmustern und Drachenköpfen verziert waren. Dieser scheint sehr wertvoll gewesen zu sein und könnte auf den hohen sozialen Status des Besitzers hindeuten – vielleicht ein Händler oder der Schiffsbesitzer? Zusätzlich sind zahlreiche weitere Alltagsgegenstände einschließlich der Knochen zweier Kobras gefunden worden 110; auch die Entdeckung der Kobraknochen hat zu zahlreichen Spekulationen über die Passagiere und Kaufleute an Bord des Schiffes geführt: Waren diese vielleicht Inder oder Araber, weil diese Schlangen als Haustiere gehalten haben? Weitere archäologische Beweise könnten ergänzt werden 111; doch möchte ich es hier dabei belassen und nochmals hervorheben, dass all diese Wrackfunde die Integration songzeitlicher (vor allem der Südlichen Song-Zeit, 12.–13.Jahrhundert) Produktionsstätten in den Seehandel widerspiegeln, und zwar besonders der für den Export bestimmten Massenproduktion von Keramiken.

VIII. Schlussfolgerungen Während der Südlichen Song-Dynastie (1127–1279) erreichten der Seehandel Chinas und seine Integration in die Welt des Indischen Ozeans einen bis dahin un-

110 Exemplarisch zu erwähnen sind ein goldener, mit Kupfer und acht Perlen verzierter Ring, eine geschwungene goldene Kette, ein Paar kleiner Armbänder, mehrere kleine Stücke Zinnober, ein Bronzespiegel, eine kleine Dose, ein Kissen aus Stein und eine steinerne Sitzstatue der Guanyin 觀音 mit zwei runden Löchern an der Unterseite. Guanyin wurde als beschützende Meeresgöttin mit übernatürlichen Kräften gesehen, die die Besatzung an Bord während ihrer Überseereisen beschützen sollte. Vgl. Li Qingxin, Cong Nanhai (wie Anm.108). 111 Das Huaguangjiao 华光礁 I-Wrack (Huaguang-Riff Nr.I), das im Inneren des Huaguang-Riff-Komplexes nahe der Xisha-Inseln 西沙群島 im Südchinesischen Meer gefunden wurde, wäre ein weiteres Beispiel.

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gekannten Höhepunkt. Diese Entwicklung wird, wie wir gesehen haben, zunehmend durch maritime Archäologie und verschiedene Wracks belegt. Ergebnisse der Unterwasserarchäologie bestätigen, dass Keramiken eine bedeutende Handelsware für den Export dieser Zeit darstellten. Sie wurden stark nachgefragt, und Funde sind über ganz Asien und den Indischen Ozean verteilt. Nicht nur die berühmten Werkstätten und Brennöfen von Jingdezhen oder Longquan produzierten eine große Vielfalt und Menge an Waren für den Inlandsmarkt und für Kunden in Übersee. Auch zahlreiche Brennöfen und privat geführte Werkstätten an den Küstenregionen Südostchinas (insbesondere in Fujian und Guangdong) stellten Keramiken für den Export her. Im Gegensatz zum Handel mit Edelmetallen, Kupfer und Eisen wurden die Herstellung und der Export von Keramiken von offizieller Seite gefördert, weil Keramiken als wertvolle und raffinierte Handelsware angesehen wurden, deren Export – ganz im Gegensatz zu den im Ausland stark nachgefragten chinesischen Kupfermünzen – nicht in einen Abfluss wertvoller finanzieller Ressourcen münden würde. China exportierte viele verschiedene Produkte, hauptsächlich jedoch hochwertige Manufakturwaren, unter denen Keramiken und Metalle (als Rohstoff oder in Form von Münzen und Barren) eine besondere Rolle einnahmen. Doch wurden auch Seide und Textilien, Nahrungsmittel, Bücher und andere Gegenstände exportiert. Zur Song-Zeit war insbesondere der Bedarf an Kupfermünzen so groß, dass die Regierung wiederholt versuchte (wenn auch vergeblich), deren Export zu verbieten. Im 10. und frühen 11.Jahrhundert wurden beispielsweise große Mengen an Kupfer im Königreich Cōla (Südindien) zur Herstellung von Kupfertafelinschriften verwendet (meistens Schenkungsurkunden über Ländereien). Kupfer wurde damals ferner insbesondere für religiöse Zwecke verwendet, zum Beispiel für Buddhastatuen und vergleichbare buddhistische Ornamente. Man gebrauchte es ferner für Schmuck, Haushaltsutensilien, Spiegel und dergleichen mehr. Darüber hinaus dienten Kupfer und Edelmetalle als Haushaltsware für die gesellschaftlichen Eliten Asiens und des Mittleren Ostens. Chinesische Bronzefiguren, meistens Imitate von Tang- oder früheren Bronzefiguren, wurden von den muslimischen Eliten hochgeschätzt und zu weit entlegenen Orten wie al-Fustat (dem alten Kairo) exportiert. 112 Und natürlich fungierte Kupfer auch als Geldware und Wertäquivalent. 112 Michel Rogers, China and Islam. The Archaeological Evidence in the Mashriq, in: Donald S. Richards (Ed.), Islam and the Trade of Asia. A Colloqium. Oxford 1970, 67–80, bes. 77–79.

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Schottenhammer.

Abb. 1: Die maritimen Handelsverbindungen Chinas vom 11.–13. Jahrhundert n. Chr.; Karte gezeichnet vom Inspiration Design House, Hong Kong. Copyright: Angela

Im Tausch gegen all diese Waren importierte China (das heißt sowohl private Händler als auch die Regierungsbehörden und Ämter) große Mengen an Weihrauch, Aromastoffen, Gewürzen und Dufthölzern (xiangyao 香藥). Der Austausch von hochwertiger, werthaltiger Manufakturware gegen zunehmend größere Mengen an Naturerzeugnissen (wie Weihrauch, Dufthölzer oder medizinische Arzneimittel und Heilpflanzen), die nach ihrer Konsumption aus dem Zirkulationsprozess herausfielen und damit den Staat nicht bereicherten, hatte schließlich sehr negative Auswirkungen auf den nationalen Haushalt der Regierung. Der fortwährende Abfluss von Kupfermünzen, aber auch Silber aus China während der Song-Dynastie beschleunigte die finanzielle Notlage der Regierung. In Bezug auf den nationalen Reichtum hatte Chinas Einbindung in die Welt des Indischen Ozeans daher also auch negative Konsequenzen. Chinas nationale Staatskasse litt zunehmend unter dem Mangel an Geldmetallen. 113 Insofern ist der ursprüngliche Plan, den Seehandel zur Finanzierung staatlicher Ausgaben zu nutzen, zumindest nicht im gewünschten Ausmaß aufgegangen. Der private Handel hingegen blühte auf. 114 Unter der mongolischen Herrschaft erreichten die maritimen Verbindungen Chinas schließlich einen zweiten Höhepunkt. Gleichzeitig wurde der maritime Raum Asiens im 13. und 14.Jahrhundert zunehmend von Chinas militärischen Ambitionen geprägt.

Dies ist weitgehend eine Übersetzung des Beitrags „China’s Increasing Integration into the Indian Ocean World Until Song 宋 Times: Sea Routes, Connections, Trades“, in: Angela Schottenhammer (Ed.), Early Global Interconnectivity across the Indian Ocean World. Vol.1: Commercial Structures and Exchanges. Cham 2019, 21–52. Das Erstlektorat hat Guje Kroh (M.A.) übernommen. Die Forschung für diesen Beitrag wurde gefördert vom „Social Sciences and Humantities Research Council of Canada“ (SSHRC) als Teil des MCRI Forschungsprojekts „The Indian Ocean World – The Making of the First Global Economy in the Context of Human-Environment Interaction“.

113 Zu dieser Entwicklung vgl. z. B. Li Kangying, A Study on the Song, Yuan and Ming Monetary Policies within the Context of Worldwide Hard Currency Flows during the 11th – 16th Centuries and Their Impact on Ming Institutions, in: Angela Schottenhammer (Ed.), The East Asian Maritime World, 1400–1800. Its Fabrics of Power and Dynamics of Exchanges. (East Asian Maritime History, 4.) Wiesbaden 2006, 99–136. 114 Dies ist ausführlicher erklärt in: Schottenhammer, The Song 宋 Dynasty (wie Anm.37), 133–173. Ich möchte in diesem Kontext insbesondere auf die Notwendigkeit verweisen, zwischen privatem Handel und nationaler Ökonomie zu unterscheiden.

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Imaginationen des Ozeans und atlantische Erkundungen im frühen Mittelalter von Sebastian Kolditz

Im frühmittelalterlichen geographischen Denken Europas bildete der Atlantik noch keine distinkte, wohldefinierte geographische Kategorie. Gleichwohl erkundeten die Normannen Zonen des Ozeans, die traditionell als undurchdringlich galten. Vor diesem Hintergrund untersucht der vorliegende Beitrag die Integration neuer Wissensbestände über den nördlichen Ozean und seine Inseln in etablierte Muster geographischer Beschreibung. Die als Basis dafür dienenden Texte reichen von karolingischen Traktaten über die Gestalt der Erde bis zu geographischen Abschnitten in der Historiographie, wie etwa bei Adam von Bremen. Einige Entdeckungen fanden auf diese Weise methodisch reflektiert Eingang in verschriftlichtes Wissen, doch führte das weder zu nachhaltigen Transformationen des Weltbildes noch zu neuen Entdeckungsdynamiken. Dazu dürfte sowohl die geringe, meist regionale Verbreitung der relevanten Texte beigetragen haben als auch die faktische Beschaffenheit des mittelalterlichen Atlantik als lockeres, veränderliches Gefüge beschränkter konnektiver Zonen.

I. Einleitung Im 13. Buch seiner enzyklopädischen Etymologiae charakterisiert Isidor von Sevilla die gewaltige Wassermasse des Ozeans auf kompakte und doch differenzierte Art und Weise: Ozean heiße er bei Lateinern und Griechen entweder, „weil er kreisförmig den Erdkreis umgibt, oder wegen seiner Geschwindigkeit, weil er sehr schnell dahinfließt“, oder auch wegen seiner purpurartig-dunkelbläulichen Farbe. Er umfasse die Küsten der Länder („oras terrarum“) und wirke mit Ebbe und Flut auf sie ein, ebenso wie auf die Meere („maria“), die er bald ausspeie, bald einschlürfe. „Von den verschiedenen ihm nahen Regionen trägt er verschiedene Namen, wie Gallischer Ozean, Germanischer, Skythischer, Kaspischer, Hyrkanischer, Atlantischer oder Gaditanischer.“ Im Bereich des Letzteren, bei Gades/Cádiz aber befinde sich die Meerenge, die ihn mit dem Mittelmeer, dem „Großen Meer“ verbinde – dort habe Herakles die Säulen errichtet „in der Hoffnung, dass dort das Ende der Welt sei“. 1

1 Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive Originum libri XX. Ed. Wallace M. Lindsay. 2 Vols. Oxford 1911, XIII, 15: „De Oceano. Oceanum Graeci et Latini ideo nominant eo quod in circuli modum ambiat orbem.

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110670547-008

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Diese „Hoffnung“ dürfte Isidor freilich nicht geteilt haben, lag Gades doch nicht sehr weit von seiner Bischofsstadt Sevilla entfernt, und auch mit dem ozeanischen Meer vor den südwestlichen Küsten der Iberischen Halbinsel mag er vertraut gewesen sein. Zudem waren die ozeanischen Meeresräume bereits in der Antike weit darüber hinaus erschlossen worden. 2 Gleichwohl bewahrte sich der Ozean den Ruf, für die menschliche Seefahrt letztlich unzugänglich, jedenfalls undurchdringlich zu sein. 3 Darüber hinaus transportiert Isidors für das ganze Mittelalter autoritatives Bild vor allem zwei Grundaussagen: einerseits die weit verbreitete, auf Homer zurückgehende, antike Imagination des Ozeans als eines die ganze Oikumene umschließenden Ringstroms 4, wie ihn insbesondere die frühmittelalterlichen BeatusKarten einprägsam visualisieren 5; andererseits die Gliederung dieses unfassbaren, dunklen Gewässers in Abschnitte, denen sich von den benachbarten Küstenabschnitten her Namen geben ließen. Allerdings scheint es Isidor zu vermeiden, die Sive a celeritate, eo quod ocius currat. Item quia ut caelum purpureo colore nitet: oceanus quasi κυάνεος. Iste est qui oras terrarum amplectitur, alternisque aestibus accedit atque recedit; respirantibus enim in profundum ventis aut revomit maria, aut resorbet. Quique a proximis regionibus diversa vocabula sumpsit: ut Gallicus, Germanicus, Scythicus, Caspius, Hyrcanus, Athlanticus, Gaditanus. Nam Gaditanum fretum a Gadibus dictum, ubi primum ab Oceano maris Magni limen aperitur; unde et Hercules cum Gadibus pervenisset, columnas ibi posuit, sperans illic esse orbis terrarum finem.“ 2 Raimund Schulz, Abenteurer der Ferne. Die großen Entdeckungsfahrten und das Weltwissen der Antike. 2.Aufl. Stuttgart 2016, bes. 151–164, 217–229, 307–352; Duane W. Roller, Through the Pillars of Herakles. Greco-Roman Exploration of the Atlantic. New York/Abingdon 2006. 3 Das aus der Antike beibehaltene Motiv des Ozeans als „immensus“ und seine Konnotationen betont Patrick Gautier Dalché, Comment penser l’océan? Modes de connaissance des fines orbis terrarum du nord-ouest (de l’Antiquité au XIIIIe siècle), in: ders., L’espace géographique au Moyen Âge. Florenz 2013, 203–226, hier 204–206. 4 So beispielsweise auch prägnant Stephanos von Byzanz in seinem Lemma zum Okeanos: Stephanos von Byzanz, Ethnica. Hrsg. v. Margarethe Billerbeck/Arlette Neumann-Hartmann. Bd. 5. (Corpus Fontium Historiae Byzantinae, Bd. 43/5.) Berlin/Boston 2017, 138: Ὠκεανός· ὁ ποταμὸς ὁ περιέχων τὴν γῆν. Zur Tradition und christlichen Rezeption dieses Bildes und den Abweichungen davon bei einigen antiken Geographen vgl. Michael Durst/Rita Amedick/Elisabet Enß, Meer, in: Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. 24. Stuttgart 2012, 505–609, hier bes. 515–517, 560–562. 5 Vgl. Ingrid Baumgärtner, Graphische Gestalt und Signfikanz. Europa in den Weltkarten des Beatus von Liébana und des Ranulf Higden, in: dies./Hartmut Kugler (Hrsg.), Europa im Weltbild des Mittelalters. Kartographische Konzepte. (Orbis mediaevalis, Bd. 10.) Berlin 2008, 81–132, hier bes. 83–101; Gautier Dalché, Comment penser l’océan? (wie Anm.3), 207f.; zur Visualisierung von Gewässern auf mittelalterlichen Karten auch Anna-Dorothee von den Brincken, Die Ausbildung konventioneller Zeichen und Farbgebungen in der Universalkartographie des Mittelalters, in: dies., Studien zur Universalkartographie des Mittelalters. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 229.) Göttingen 2008, 112–136, hier 125– 129.

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von ihm benannten Teilmeere geographisch sauber voneinander abzugrenzen. Unter diesen Meeresbereichen firmiert auch ein „Atlantischer Ozean“, dessen Name wohl in erster Linie auf das Atlasgebirge und damit eine Situierung vor der nordwestafrikanischen Küste bezogen worden sein dürfte. Auf jeden Fall erweist sich dieser „Atlantik“ als eine sowohl vom „Gaditanischen“ wie auch vom „Gallischen“ Meer getrennte Raumkategorie. Mit dem mare Britannicum ist kürzlich eine bei Isidor an dieser Stelle nicht aufscheinende Bezeichnung eines Ozeanabschnitts im Hinblick auf ihr quantitatives Auftreten in antiken und früh-/hochmittelalterlichen Texten sowie auf ihre jeweilige geographische Reichweite gründlich untersucht worden. 6 Patrice Marquand demonstrierte, wie dieser seit Pomponius Mela bezeugte Name durch die Entstehung des transmaritimen Plantagenet-Reiches im 12.Jahrhundert einen signifikanten „Popularitätsschub“ erhielt. Bereits zuvor aber konnte seine räumliche Erstreckung bis zu den Küsten Galiziens bzw. der Iberischen Halbinsel hin vorgestellt werden. 7 Wenn die Bezeichnung mare Britannicum zugleich aber auch für die Nordsee gebraucht wurde 8, dann verweist das nicht etwa auf die Vorstellung von einem umfassenden maritimen Zusammenhang zwischen Hispania und Scandinavia, sondern vielmehr auf die Fluidität der Terminologie und ihre Abhängigkeit von den Perspektiven der lokalen Autoren. Für das mare Atlanticum (wie auch andere Termini) wäre eine ähnliche Analyse erst noch zu leisten; erste Stichproben legen nahe, dass der Begriff seltener verwendet 9 und in seiner geographischen Erstreckung vor allem mit der nordafrikanischen Küste in Verbindung gebracht wurde: So gebraucht Orosius im geographischen Vorspann seines Geschichtswerks die Bezeichnung nur, um die westliche Begrenzung der Mauretania Tingitana zu charakterisieren. 10 Rabanus

6 Patrice Marquand, Mare Britannicum, une dénomination de l’espace maritime atlantique, in: Études Celtiques 39, 2013, 279–310. 7 Ebd.281. 8 Ebd.282f. 9 Das suggeriert jedenfalls eine bisher sehr provisorische Suche nach dem Begriff sowohl in den Volltexten der digitalen MGH als auch der Textdatenbank der Patrologia Latina. Die Mehrzahl der gefundenen Belege stammt dabei aus spätantiken und frühmittelalterlichen Texten. Zu antiken Traditionen des Begriffs auch Benjamin Hudson, Prologue. The Medieval Atlantic Ocean, in: ders. (Ed.), Studies in the Medieval Atlantic. (The New Middle Ages.) New York 2012, 1–32, hier 5. 10 Paulus Orosius, Historiarum adversus Paganos libri VII. Hrsg. v. Carolus Zangemeister. Leipzig 1889, 14 (I.2, 94): „Tingitana Mauretania ultima est Africae. haec habet […] ab occidente Athlantem montem et oceanum Athlanticum“ – die südlich davon angesiedelten Galaules lässt Orosius freilich „ad oceanum Hespe-

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Maurus zufolge erstreckte sich eine gewaltige Wüste von Indien bis Mauretanien und zum Atlantischen Ozean 11, und Honorius Augustodunensis leitet die Bezeichnung explizit von einem vermeintlich im Ozean befindlichen gewaltigen Berg Atlas ab. 12 Doch konnte sich der Meeresname auch auf einen sehr viel weiter gefassten Bereich des Westlichen Ozeans beziehen, in dem insbesondere England lokalisiert wurde, wie etwa bei Wilhelm von Conches. 13 Dass die geographisch mithin noch unscharfe Kategorie des „Atlantischen Meeres“ zum wohldefinierten Namen eines distinkt gedachten Weltmeeres avancieren würde, war im mittelalterlichen Gebrauch offenbar kaum angelegt. Vielleicht verhalf nicht zuletzt die Faszination des gelehrten Mythos vom Untergang des in diesem Bereich des Oceanus verorteten Atlantis dem Terminus zum Siegeszug. Eine Voraussetzung für eine distinkte Begrifflichkeit aber bildete die sukzessive Erschließung der Teilbereiche dieses maritimen Großraums, zu der das frühere Mittelalter vor allem im Hinblick auf den traditionell als besonders gefährlich und unzugänglich geltenden Norden 14 beigetragen hat. Hier soll nun nicht erneut die Geschichte dieser Erkundungen synthetisierend umrissen werden, sondern vielmehr ihrem rium“ stoßen, so dass seine Terminologie entweder unscharf bleibt oder aber ein sehr enges Verständnis des atlantischen Küstenstrichs suggeriert. Diese Beschreibung der Mauretania Tingitana wird von Isidor, Etymologiae (wie Anm.1), XIV, 5 sowie von Rabanus Maurus, De universo, in: Jacques-Paul Migne (Ed.), Patrologiae cursus completus. Series Latina. Vol.111, 352 (lib. XII, cap. 4) weitgehend unverändert übernommen. 11

Rabanus Maurus, Expositio super Jeremiam XV 49, in: Migne (Ed.), Patrologia Latina, Vol.111 (wie

Anm.10), 1135: „eo quod latissima eremus ab India ad Mauritaniam usque tendatur et Atlanticum oceanum“. 12

Honorius Augustodunensis, De imagine mundi, in: Migne (Ed.), Patrologia Latina (wie Anm.10), Vol.172,

131 (cap. I 33): „In extremis finibus Africae versus occidentem est urbs Gades, a Phaenicibus constructa, de qua Gaditanum mare dicitur. In ipso vero Oceano est mons Atlas altissimus, unde Atlanticum mare appellatur.“ 13

Gregor Maurach (Ed.), Guilelmi a Conchis Philosophiae Liber Tertius, in: Acta Classica 17, 1974, 121–

137, hier 128: „Praedicta occidentalis refluxio ad septentrionem se vergens ex Atlante monte adiacente Atlanteum vocatur, infra quae est Anglia et aliae vicinae insulae. Ex orientali refluxione ad septentrionem se vergente nascitur Indicum mare.“ Hier ist also eine Parallelisierung der Kategorien des Atlantischen und Indischen Meeres als westlicher bzw. östlicher Teilraum des Ozeans erkennbar. 14

Zur Charakteristik des Nordens und der dort verorteten Völker grundlegend Piotr Kochanek, Die Vor-

stellung vom Norden und der Eurozentrismus. Eine Auswertung der patristischen und mittelalterlichen Literatur. (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 205.) Mainz 2004; Thomas Foerster, Vergleich und Identität. Selbst- und Fremddeutung im Norden des hochmittelalterlichen Europa. (Europa im Mittelalter, Bd. 14.) Berlin 2009, bes. 22–24; Francisco Molina Moreno, Bilder des heiligen Nordens in Antike, Patristik und Mittelalter, in: Annelore Engel-Braunschmidt/Gerhard Fouquet/Wiebke von Hinden u.a. (Hrsg.), Ultima Thule. Bilder des Nordens von der Antike bis zur Gegenwart. (Imaginatio

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Niederschlag in Gestalt schriftlich fixierten geographischen Wissens nachgegangen werden. Dabei stellt sich auch die Frage, in welcher Weise tradierte antike Wissensbestände und neue Meereserfahrungen miteinander verbunden wurden. Ein solcher Ansatz ist freilich nicht neu, sondern weiß sich vielfältigen und fundamentalen Forschungserträgen zur mittelalterlichen Raum- und Weltperzeption sowie insbesondere zur Repräsentation des Oceanus verpflichtet. 15

II. Irische Legenden Am Beginn der erzählten Geschichte des westlichen Ozeans 16 stehen noch heute gern Mythen und Legenden: Atlas und Atlantis, die Hesperiden und Herakles oder die insulae fortunatae und die mit ihnen verknüpften Hoffnungen und Erwartungen 17; daneben aber auch jene Legenden, die im früheren Mittelalter das ozeanische Imaginaire weiter ausgestalteten und darin jene vielseitige Insellandschaft entstehen ließen, die der Heilige Brendan und seine Gefährten von Irland aus in einfachen

Borealis, Bd. 1.) Frankfurt am Main 2001, 47–65; Thorsten Fischer, Europa und der ferne Norden. Wahrnehmungen und Vorstellungen im frühen und hohen Mittelalter, in: Periplus 23, 2013, 166–182; Irmeli Valtonen, The North in the Old English Orosius. A Geographical Narrative in Context. (Mémoires de la Société Néophilologique de Helsinki, Vol.73.) Helsinki 2008, 42–150. 15 Gautier-Dalché, Comment penser l’océan? (wie Anm.3); Richard Vaughan, The Arctic in the Middle Ages, in: Journal of Medieval History 8, 1982, 313–342; Hudson, Prologue (wie Anm.9), bes. 6–13; zuletzt Christoph Mauntel/Jenny Rahel Oesterle, Wasserwelten. Ozeane und Meere in der mittelalterlichen christlichen und arabischen Kosmographie, in: Gerlinde Huber-Rebenich/Christian Rohr/Michael Stolz (Hrsg.), Wasser in der mittelalterlichen Kultur. Gebrauch – Wahrnehmung – Symbolik / Water in Medieval Culture. Uses, Perceptions, and Symbolism. (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung, Beiheft 4.) Berlin/Boston 2017, 59–77; Laury Sarti, Totius terrae circulum oceani limbo circumseptum. Das Meer aus der Perspektive gotischer und langobardischer Historiographen, in: ebd.78–89. 16 Vgl. Paul Butel, Histoire de l’Atlantique. De l’Antiquité à nos jours. 2ième ed. Paris 2012, 17–21; Barry Cunliffe, Facing the Ocean. The Atlantic and Its Peoples 8000 BC – AD 1500. Oxford 2001, 1–17. Zum AtlantisMythos und seiner Rezeption in Mittelalter und Neuzeit siehe auch William H. Babcock, Legendary Islands of the Atlantic. A Study in Medieval Geography. New York 1922, 11–33; Christa Agnes Tuczay, Atlantis, in: Ulrich Müller/Werner Wunderlich/Margarete Springeth (Hrsg.), Mittelalter-Mythen. Bd. 5: Burgen, Länder, Orte. Konstanz 2008, 57–74. 17 Zu den insulae fortunatae jetzt auch Marco Frenschkowski, Fortunatae Insulae: Die Identifikation mythischer Inseln mit realen geographischen Gegebenheiten in der griechischen und römischen Antike, in: Reinhard von Bendemann/Annette Gerstenberg/Nikolas Jaspert/Sebastian Kolditz (Hrsg.), Konstruktionen mediterraner Insularitäten. (Mittelmeerstudien, Bd. 11.) Paderborn 2016, 43–73.

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Booten erkundet haben sollen. So will es die Legende, die im 10.Jahrhundert ein unverkennbar im irischen Mönchtum verwurzelter Autor über dessen Seefahrten verfasste; sie wurde – aufgrund der handschriftlichen Überlieferungslage – möglicherweise auf dem Kontinent schriftlich fixiert und später ausgesprochen populär. 18 Aus Irland stammte auch Colum Cille, der 563 die Mönchsgemeinschaft von Iona vor der schottischen Küste gründete. 19 Seine um 700 durch seinen Nachfolger Adomnán verfasste Lebensbeschreibung verarbeitet ein weiteres charakteristisches Ozeanmotiv in der Erzählung von der dritten Entdeckungsfahrt des miles Christi Cormac an die nördlichen Grenzen des ozeanischen Meers (in ociano mari). 20 Nach vierzehn Tagen Seefahrt unter konstantem Südwind sei dessen Schiff bereits über die Schwelle des dem Menschen zugänglichen Seeraumes hinausgetrieben 21 und plötzlich von lauter kleinen, gefährlichen, auf der Oberfläche des Meeres schwimmenden Ungeheuern (bestiolae), so groß wie Frösche, aber mit langen Stacheln ver-

18

Giovanni Orlandi/Rossana E. Guglielmetti (Eds.), Navigatio Sancti Brendani. Alla scoperta dei segreti me-

ravigliosi del mondo. Florenz 2014, hier CII–CXIX zur Datierung und Textgenese. Zum Werk und seinem Entstehungskontext vgl. Josef Semmler, Navigatio Brendani, in: Peter Wunderli (Hrsg.), Reisen in reale und mythische Ferne. Reiseliteratur in Mittelalter und Renaissance. (Studia humaniora, Bd. 22.) Düsseldorf 1993, 103–123. Anspielungen auf den arktischen Raum erörtert Vaughan, The Arctic (wie Anm.15), 315f.; zur Rezeption in der mittelalterlichen Kartographie vgl. Babcock, Legendary Islands (wie Anm.16), 34–49; Jörg-Geerd Arentzen, Imago mundi cartographica. Studien zur Bildlichkeit mittelalterlicher Welt- und Ökumenekarten unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenwirkens von Text und Bild. (Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. 53.) München 1984, 169–173; Hudson, Prologue (wie Anm.9), 8. 19

Zu Columba und der Frühgeschichte Ionas siehe Máire Herbert, Iona, Kells, and Derry. The History and

Hagiography of the Monastic Familia of Columba. Oxford 1988, 9–35; den Bezug der Kommunität von Iona zum Meer erörtert Thomas O’Loughlin, Living in the Ocean, in: Cormac Bourke (Ed.), Studies in the Cult of Saint Columba. Dublin 1997, 11–23. 20

Alan Orr Anderson/Marjorie Ogilvie Anderson (Eds.), Adomnán’s Life of Columba. London 1961, 442–

446 (cap. II 42); zur Vita und ihren Quellen Herbert, Iona, Kells, and Derry (wie Anm.19), 134–150. 21

Adomnán’s Life of Columba (wie Anm.20), 442f.: „Nam cum ejus navis a terris per xiiii aestei temporis

dies totidemque noctes plenis velis austro flante vento ad septemtrionalis plagam caeli directo excurreret cursu, ejusmodi navigatio ultra humani excursus modum et inremeabilis videbatur“. Als durchaus realitätsnahen Bericht über eine offenbar die Zeitgenossen beeindruckende Entdeckungsfahrt hat Geoffrey J. Marcus, The Conquest of the North Atlantic. Woodbridge 1980, 19f. dieses Kapitel der Columba-Vita gewertet. Hingegen betonen Dan Tipp/Jonathan M. Wooding, Adomnán’s Voyaging Saint. The Cult of Cormac ua Liatháin, in: Jonathan M. Wooding/Rodney Aist/Thomas Owen Clancy/Thomas O’Loughlin (Eds.), Adomnán of Iona. Theologian, Lawmaker, Peacemaker. Dublin 2010, 237–252, mit guten Gründen die literarische Konstruktion der Figur des Reisenden Cormac durch Adomnán unter Berücksichtigung der über die Vita Columbae hinausgehenden Überlieferung zu Cormac als einem historisch sicher bezeugten, mit dem Kloster Durrow in enger Verbindung stehenden Heiligen.

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sehen, angegriffen und in arge Bedrängnis gebracht worden. Nur durch das inständige Gebet der von Columba in der Ferne versammelten Mönche wird Cormac aus der Gefahr errettet, indem günstiger Wind das Schiff in weniger gefährliche Gewässer zurücktreibt. 22 Hier scheint sich das alte Wissen zu bestätigen, dass der Seefahrt in den weiten, am Rande der Welt sich erstreckenden Gefilden des Ozeans natürliche Grenzen gesetzt seien, die Menschen nicht zu überwinden vermögen 23: sei es aufgrund der dortigen Meeresungeheuer, infolge unbändiger Winde oder gar durch einen Zustandswechsel des Meeres selbst, wenn dieses zu einer geronnenen Masse werde oder – realistischer – in den nördlichen Gefilden zufriere und sich in das berüchtigte mare concretum transformiere. Derartige Erwartungen beschränkten sich freilich nicht auf den atlantischen Raum, sondern wurden auch mit anderen Zugängen aus der Oikumene in das ozeanische Ringgewässer verbunden: So bezeugt es jedenfalls der unter dem Namen Kosmas Indikopleustes bekannte frühbyzantinische Theologe und Kosmograph 24 unter Verweis auf eigene Reiseerfahrungen im Roten bzw. Arabischen Meer: Als er einst an Bord eines Schiffes auf dem Seeweg ins „innere Indien“ nahe an die Mündung des Meeres in den Ozean herangekommen sei, habe sich bei trübem Wetter eine große Zahl Albatrosse von Steuerbord dem Schiff genähert. Dieser Zeichen gewärtig, hätten alle seeerfahrenen Leute an Bord den Steuermann aufgefordert, die Richtung zu ändern, um nicht von der Strömung in die gewaltigen Ozeanwellen hineingetrieben zu werden. 25 Doch zurück in den Atlantik: Eine von Irland ausgehende Tradition atlantischer 22 Adomnán’s Life of Columba (wie Anm.20), 446: „Et continuo cum ejus [sc. Columbas] voce auster cessavit ventus, et inspiravit aquiloneus per multos post dies, et navis Cormaci ad terras redacta est, et pervenit Cormac ad sanctum Columbam, et se donante deo facie ad faciem cum ingenti omnium ammiratione viderant et non mediocri laetatione.“ 23 Zur Cormac-Episode im Vergleich mit antiken Ozean-Vorstellungen siehe Diarmuid Scully, The Third Voyage of Cormac in Adomnán’s Vita Columbae. Analogues and Context, in: Alastair Minnis/Jane Roberts (Eds.), Text, Image, Interpretation. Studies in Anglo-Saxon Literature and Its Insular Context in Honour of Éamonn Ó Carragáin. Turnhout 2007, 209–230. 24 Zum Autor der „Topographia christiana“ und seiner religiösen Verortung sowie zu Programm und Überlieferung seines Werkes siehe Maja Kominko, The World of Kosmas. Illustrated Byzantine Codices of the Christian Topography. Cambridge 2013, 10–23; Horst Schneider, Kosmas Indikopleustes. Christliche Topographie – Textkritische Analysen, Übersetzung, Kommentar. Turnhout 2010, 9–29. 25 Wanda Wolska-Conus (Ed.), Cosmas Indicopleustès, Topographie chrétienne. Vol.1: Livres I–IV. (Sources chrétiennes, Vol.141.) Paris 1968, 335 (II 30). Die von ihm behauptete Unmöglichkeit, den Ozean zu befahren, führte Kosmas auf dessen Strömungen, seine Weite und die den Himmel verdunkelnden

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Schifffahrt, die sich auch mit dem Mönchsideal der (maritimen) peregrinatio um Christi willen 26 verbunden haben dürfte, reichte sicher über das engere Umfeld der Insel hinaus; so scheint es jedenfalls die Cormac-Geschichte zu implizieren. Daraus ist mitunter – etwa von Geoffrey Marcus und Paul Butel – auf eine erste, vornormannische Entdeckungswelle im nördlichen Ozean geschlossen worden, in deren Verlauf noch im 6.Jahrhundert die Orkney-Inseln, dann die Färöer und nach der Mitte des 8.Jahrhunderts schließlich Island erreicht wurden. 27 Die schriftlichen Quellen für ein solches systematisches Vordringen in den Meeresraum fließen freilich spärlich: So stützt sich die Datierung einer auch archäologisch belegten irischen Mönchspräsenz auf den Orkney-Inseln bereits vor 600 vor allem auf die erwähnte Cormac-Episode der Vita Columbae. 28

III. Karolingische und angelsächsische Wissensbestände Wichtigster Kronzeuge für die irische Präsenz auf nordatlantischen Inseln aber ist das im Frankenreich um 825 entstandene geographische Werk Liber de Mensura Orbis Terrae des gelehrten Iren Dicuil. 29 Dem Titel gemäß setzte sich Dicuil im ers-

Dunstwolken zurück, vgl. ebd.333 (II 29): Οὗτοι γὰρ μόνοι οἱ κόλποι πλέονται, ἀδυνάτου ὑπάρχοντος τοῦ Ὠκεανοῦ πλέεσθαι διὰ τὸ πλῆθος τῶν ῥευμάτων καὶ τῶν ἀναδιδομένων ἀτμῶν καὶ ἀμβλυνόντων τὰς ἀκτῖνας τοῦ ἡλίου, καὶ τὸ πολλὰ διαστήματα ἔχειν. 26 Vgl. Thomas Mowbray Charles-Edwards, The Social Background to Irish Peregrinatio, in: Celtica 11, 1976, 43–59; Arnold Angenendt, Die irische Peregrinatio und ihre Auswirkungen auf dem Kontinent vor dem Jahre 800, in: Heinz Löwe (Hrsg.), Die Iren und Europa im früheren Mittelalter. 2 Bde. Stuttgart 1982, hier Bd. 1, 52–79; Elva B. Johnston, Exiles from the Edge? The Irish Contexts of Peregrinatio, in: Roy Flechner/Sven Meeder (Eds.), The Irish in Early Medieval Europe. Identity, Culture and Religion. London 2016, 38–52. 27

Marcus, Conquest (wie Anm.21), bes. 21–23; Butel, Histoire de l’Atlantique (wie Anm.16), 42–47; siehe

auch Cunliffe, Facing the Ocean (wie Anm.16), 475–477. Zu einem Seefeldzug Áedáns von Dál Riata gegen die Orkneys im späten 6.Jahrhundert vgl. James E. Fraser, From Caledonia to Pictland. Scotland to 795. (The New Edinburgh History of Scotland, Vol.1.) Edinburgh 2009, 123f. 28

Vgl. Marcus, Conquest (wie Anm.21), 22; J. N. Sinclair, A Brief History of the Orkneys. London 2000,

23 f. Von den „Pape“, die auf den Orkneys vor Ankunft der normannischen Piraten gelebt hätten, berichtet auch die Historia Norwegie: Inger Ekrem/Lars Boje Mortensen (Eds.), Historia Norwegie. Kopenhagen 2003, 64–66 (cap. 6). Diese hätten weiße Kleidung wie Priester getragen, seien aber nach den Buchstaben der von ihnen zurückgelassenen Bücher von den normannischen Neuankömmlingen als „Affricani […] iudaismo adherentes“ identifiziert worden. 29

Dicuil, Liber de Mensura Orbis Terrae. Ed. James J. Tierney. (Scriptores Latini Hiberniae, Vol.6.) Dublin

1967. Zum Autor, seinen Werken und seiner Wirksamkeit siehe Mario Esposito, An Irish Teacher at the Car-

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ten Teil seiner Schrift mit den Maßangaben einer auf die Zeit eines Kaisers Theodosius datierten Vermessung der Provinzen des Römischen Reichs auseinander. 30 Dem fügte er im zweiten Teil umfangreiche geographische Exzerpte, vornehmlich aus Plinius und Solinus, hinzu, die von Flüssen und Inseln 31 handeln. Diese sind freilich nicht nur in eigenständiger Weise zusammengestellt, sondern werden mitunter auch kommentiert oder durch eigenes Wissen ergänzt. Gänzlich aus schriftlichen Vorlagen stammen zum Beispiel die detaillierten Nachrichten über die Insel Taprobane (Sri Lanka) 32, ebenso Aussagen zu Inseln vor den Küsten „Äthiopiens“ und Mauretaniens. 33 Mit einer gewissen Zurückhaltung verortet Dicuil die berühmten fortunatae insulae, die Gorgoden und Hesperiden, im westlichen Meer vor Afrika. 34 Je weiter er den atlantischen Raum nördlich von ihm mental durchschreitet, desto mehr dringt sein eigenes Urteil durch: Von Inseln westlich von Spanien habe er nichts gelesen, vielmehr gebe es viele Inseln um „unsere Insel Irland“ und mehr noch im Umfeld Britanniens, besonders nach Norden hin. Auf einigen habe Dicuil

olingian Court: Dicuil, in: Studies. An Irish Quarterly Review 3, 1914, 651–676, wieder in: ders., Irish Books and Learning in Mediaeval Europe. Ed. by Michael Lapidge. Aldershot 1990, Nr. VI; Werner Bergmann, Dicuils De mensura orbis terrae, in: Paul L. Butzer/Dietrich Lohrmann (Eds.), Science in Western and Eastern Civilization in Carolingian Times. Basel/Boston/Berlin 1993, 525–537. Einen grundlegenden Vergleich zwischen Dicuils Werk und dem des Anonymus Leidensis leistet Patrick Gautier Dalché, Tradition et renouvellement dans la représentation de l’espace géographique au IXe siècle, in: Studi Medievali, Ser. 3, 24, 1983, 121–165. 30 Zur Identifizierung dieses Werkes mit dem Text Divisio Orbis Terrarum, einer Begleitschrift zur Agrippa-Weltkarte, vgl. Esposito, An Irish Teacher (wie Anm.29), 663. 31 Zur systematischen Abfolge der behandelten Inseln siehe Gautier Dalché, Tradition (wie Anm.29), 158 f. 32 Dicuil, Liber (wie Anm.29), 78–82 (cap. VII 24, 26, 31–32); vgl. Stefan Faller, Taprobane im Wandel der Zeit. Das Śrî-Lankâ-Bild in griechischen und lateinischen Quellen zwischen Alexanderzug und Spätantike. (Geographica Historica, Bd. 14.) Stuttgart 2000, 171f. Dicuils gleichwohl vorhandene Eingriffe hebt Gautier Dalché, Tradition (wie Anm.29), 150, hervor. 33 Dicuil, Liber (wie Anm.29), 72 (cap. VII 1–4). Sich auf Plinius beziehend, nennt Dicuil hier die Aroteras insulas, ferner Bachias et Antibachias sowie die [insulae] Stratioton. Eine Insel Erithrea wird von ihm nach Priscian auf der Seite des atlantischen Äthiopiens („iuxta Athlanticam Aethiopiam“) verortet, die Insel Gaulea nach Isidor „in australi oceano occidentalis Aethiopiae“. 34 Dicuil, Liber (wie Anm.29), 72 (cap. VII 5): „Fortunatae atque Gorgodes Hesperidesque insulae quod sunt in occidentali pelago Africae multi nuntiant.“ Vgl. dazu José Antonio González Marrero, Las islas atlánticas en el Liber de mensura orbis terrae del monje geógrafo irlandés Dicuil del siglo IX, in: Anuario de Estudios Atlánticos 56, 2010, 71–90, hier 80–82. Zur kartographischen Präsenz dieser Inselgruppen siehe auch Anna-Dorothee von den Brincken, Fines Terrae. Die Enden der Erde und der vierte Kontinent auf mittelalterlichen Weltkarten. (MGH Schriften, Bd. 36.) Hannover 1992, 164–166.

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gelebt, einige besucht, von anderen gehört oder gelesen. 35 Diese Angaben bleiben erstaunlich unscharf, denn Dicuil verzichtet auf die Nennung von Namen. Gleichwohl verfügt er über weitgehend zeitgenössische Kenntnisse zu diesem Raum, wenn er zum Beispiel mitteilt, dass auf einer Inselgruppe über hundert Jahre hinweg iroschottische Mönche gelebt hätten. Nachdem normannische Räuber die Inseln überfallen hätten, seien die Eilande nun wieder unbewohnt, nur bevölkert von einer großen Zahl Schafe und diversen Seevögeln. 36 Klassische Wissensbestände kommen zum Vorschein, wenn Dicuil aus Plinius referiert, dass der Seefahrer Pytheas von Massilia nach einer Seefahrt von sechs Tagen nördlich von Britannien die Insel Thule bzw. Thile gefunden habe. 37 Diese Insel bildet für Dicuil eine gesicherte geographische Größe, denn dort hätten sich, so berichtet er, vor dreißig Jahren (also 795 oder kurz zuvor) vom Februar bis August eines Jahres mehrere (irische) Kleriker aufgehalten. 38 Von ihnen habe Dicuil erfahren, dass es auf Thule zur Sommersonnenwende nicht nur einen Tag lang, sondern über einen gewissen Zeitraum hinweg keine Dunkelheit gäbe. Neben einer kritischen Diskussion des Phänomens Polartag/-nacht korrigiert der gelehrte Ire noch eine weitere verbreitete Behauptung, dass sich nämlich das „gefrorene Meer“ (concretum mare) rings um Thule herum erstrecke: Vielmehr erreiche man ein Meer im vereisten Zustand erst nach einem Tag Schifffahrt von dort aus Richtung Norden. 39 Dicuils im fränkischen Bereich kopiertes, aber offenbar nicht

35

Dicuil, Liber (wie Anm.29), 72 (cap. VII 6): „In occidentali uel septentrionali mari Hispaniae insulas fie-

ri non legimus. Circum nostram insulam Hiberniam sunt insulae, sed aliae paruae atque aliae minimae. Iuxta insulam Brittaniam multae, aliae magnae, aliae paruae, aliaeque mediae. Sunt aliae in australi mari et aliae in occidentali, sed magis in parte circii et septentrionis illius abundant. In aliquibus ipsarum habitaui, alias intraui, alias tantum uidi, alias legi.“ 36

Ebd.76 (cap. VII 15). Für Dicuils methodische Schärfe ist es bezeichnend, wenn er mit der Aussage

schließt: „Numquam eas insulas in libris auctorum memoratas inuenimus.“ 37

Ebd.74 (cap. VII 7). Zu Pytheas sei auf Schulz, Abenteurer der Ferne (wie Anm.2), 222–229, mit umfang-

reichen Literaturangaben und Interpretationen verwiesen. 38

Dicuil, Liber (wie Anm.29), 74 (cap. VII 11): „Trigesimus nunc annus est a quo nuntiauerunt mihi cle-

rici qui a kalendis Februarii usque kalendas Augusti in illa insula manserunt […].“ Siehe auch González Marrero, Las islas atlánticas (wie Anm.34), 83–85. Eine eindeutige Identifizierung mit Island nimmt Esposito, An Irish Teacher (wie Anm.29), 670f. vor und korreliert die Aussage mit der Nachricht des Landnámabók über die irischen papar, die bereits bei Ankunft der Normannen auf Island gesiedelt hatten. 39

Dicuil, Liber (wie Anm.29), 74 (cap. VII 11–13); zum Motiv siehe Gautier Dalché, Comment penser l’océ-

an? (wie Anm.3), 209–211. Zur Einschätzung von Dicuils kritischer Methode im Hinblick auf die Inselabschnitte vgl. Bergmann, Dicuils „De mensura orbis terrae“ (wie Anm.29), 531–533.

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besonders verbreitetes 40 Werk zeigt somit gleichsam in Zeitlupe, wie sich vage Wissensbestände über den nördlichen Ozean auf dem europäischen Festland infolge persönlicher Kontakte allmählich verdichteten und präzisierten. Für den Iren beschränkt sich dieser Befund allerdings auf die ozeanische Nordsee, während ihm die Gestalt der Ostsee offenbar noch unbekannt ist. Zu den insulae Germaniae kann er keine Aktualisierung antiker Wissensbestände bieten; Skandinavien (Candauia) bleibt eine Insel. 41 Die verlassenen Schafsinseln verweisen auf einen politischen Kontext, in dem Kenntnisse über den nördlichen Atlantik mutmaßlich auch für die karolingischen Herrscher eine erhöhte Bedeutung gewannen: nämlich die um 793 einsetzenden Beutezüge der Normannen 42, die schon Alcuin mit spürbarer Bestürzung registriert hatte 43, ohne sich jedoch eingehender nach den geographischen Rahmenbedingun-

40 Zur älteren handschriftlichen Tradition, zu der ein verlorener Speyrer Codex sowie zwei Handschriften westfränkischer Provenienz in Paris und ehemals Dresden gehören, vgl. Esposito, An Irish Teacher (wie Anm.29), 655–659; Dicuil, Liber (wie Anm.29), 37–40; Ludwig Bieler, The Text Tradition of Dicuil’s Liber de mensura orbis terrae, in: Proceedings of the Royal Irish Academy C 64, 1965/66, 1–31 (vor allem zu den Abschriften aus dem verlorenen Codex Spirensis). Zu möglichen Hintergründen der geringen Rezeption von Dicuils Schriften vgl. Bergmann, Dicuils „De mensura orbis terrae“ (wie Anm.29), 526f. 41 Dicuil, Liber (wie Anm.29), 76–78 (cap. VII 16–22). 42 Die traditionell mit der Plünderung des Klosters Lindisfarne verbundene Zäsur 793 relativiert sich unter Berücksichtigung der angelsächsischen Chroniknachrichten über bereits seit 787 erfolgte Normannenangriffe; vgl. Horst Zettel, Das Bild der Normannen und der Normanneneinfälle in westfränkischen, ostfränkischen und angelsächsischen Quellen des 8. bis 11.Jahrhunderts. München 1977, 39, 182–184. Grundsätzlicher ist die Fixierung der Forschung auf diese Zäsur aus archäologischer Perspektive mit Blick auf längerfristige Kontinuitäten des materiellen Austauschs im Nordseeraum kritisiert worden: Sebastian Brather, Lindisfarne 793 als Beginn der Wikingerzeit? Kulturentwicklung und Ereignisgeschichte im Vergleich, in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 31, 2003, 39–60. 43 Alcuin, Epistolae. Ed. Ernst Dümmler, in: Epistolae Karolini Aevi II. (MGH Epistolae, Bd. 4.) Berlin 1895, 1–481, hier 42–60, Nr.16–22. Diese in Reaktion auf die Nachricht von der Plünderung Lindisfarnes durch Heiden (pagani) verfassten Briefe richteten sich an König Aethelred von Northumbria, Erzbischof Aethelhard von Canterbury, den Bischof von Lindisfarne sowie Priester und Mönche. Alcuin widmete sich vor allem der moralischen Ursachenforschung und erörterte nicht eingehender die sich auch ihm stellende Frage, wie es zu dem unerwarteten Überfall über die Weiten des offenen Meeres hinweg hatte kommen können, vgl. ebd.42, Z. 36f. (Nr.16): „nec eiusmodi navigium fieri posse putabatur“. Vielmehr erscheint die Nähe zum Meer und zum Norden prädestiniert für die Gefahr, denn die Pest breche vom Meer herein, und das Prophetenwort (Jer 1,14) habe sich erfüllt, wonach das Übel von Norden her losbrechen werde, vgl. ebd.55, Z. 7–10 (Nr.19). So ließ sich das Geschehen in den göttlichen Heilsplan einordnen, rief aber keine geographische curiositas hervor. Zu Alcuins Synthese siehe auch Zettel, Bild der Normannen (wie Anm.42), 195f.

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gen dieser neuartigen Überfälle aus den Weiten des offenen Meeres zu fragen. 44 Auch der einige Jahrzehnte später schreibende, heute gemeinhin als Anonymus Leidensis bekannte Autor „G.“, der dem westfränkischen König Karl dem Kahlen seinen Traktat De situ orbis widmete, beließ es bei einem vagen Verweis auf die Gewalt der Normannen, die seit längerem die Küsten dieser Meere (also auch des Mediterraneums) heimsuche. 45 Damit gab er seinem kleinen, wohl für den Schulgebrauch bestimmten Exzerptenwerk einen aktuellen Anlass, ohne jedoch Aspekte der zeitgenössischen Situation in den Inhalt seines ersten Buches einfließen zu lassen. Dieses konzentriert sich einerseits auf den Ozean, andererseits auf das Mittelmeer und deren Inselwelten. Generell bietet der Anonymus kein neu erschlossenes, eigenständiges Wissen 46, und er scheint auch Dicuils Text nicht zu kennen, sondern fügt vielmehr Aussagen aus den einschlägigen Autoritäten Isidor, Orosius, Solinus, Pomponius Mela sowie dem Kosmographen Aethicus und Martianus Capella systematisch aneinander 47; nur selten werden eigene Bemerkungen ergänzt – etwa, wenn er den

44

Auf die entscheidende Bedeutung dieses Überraschungsmoments, das auf der in Skandinavien entwi-

ckelten innovativen Windnavigation beruhte, hat mit Nachdruck Detlef Ellmers, Die Wikinger und ihre Schiffe, in: Volker Grieb/Sabine Todt (Hrsg.), Piraterie von der Antike bis zur Gegenwart. Stuttgart 2012, 93–113, hier 100f., verwiesen. 45

Max Manitius (Ed.), Anonymi De Situ orbis libri duo e codice Leidensi. Stuttgart 1884, 1: „Cum olim

quidem ut nunc Galliarum litora mari oceano mediterraneoque inminentia necnon earundem aliquatenus media, videlicet quo variis fluviorum permeantur alveis, dira Normannorum vastarentur saevitia, studio quorundam fratrum nostrorum admonitus, immo ob utriusque maris aliquantulum ignotos navigationis excursus discipulorum mitissima depraecatione accensus hunc de situ orbis libellum ex multorum praecedentium […] componere studui […].“ Diesen Aktualitätsbezug betont Gautier Dalché, Tradition (wie Anm. 29), 164. 46

Mit Recht ist freilich betont worden, dass die „geographischen“ Werke karolingischer Gelehrsamkeit

nicht nach einer exakten Beschreibung der zeitgenössischen Welt, insbesondere in politischer Hinsicht, strebten, sondern als Beiträge zum Verständnis der universalen Schöpfung anzusehen sind, vgl. Gautier Dalché, Tradition (wie Anm.29), 121f.; Natalia Lozovsky, Carolingian Geographical Tradition: Was It Geography?, in: Early Medieval Europe 5, 1996, 25–43, bes. 28–30. Dies schloss freilich eine individuelle Bereitschaft zur Kritik von Autoritäten wie bei Dicuil nicht aus, vgl. ebd.37–41; zur kosmographischen Einbindung auch Uta Lindgren, Geographie in der Zeit der Karolinger, in: Paul Butzer/Max Kerner/Walter Oberschelp (Hrsg.), Karl der Große und sein Nachwirken – 1200 Jahre Kultur und Wissenschaft in Europa. Bd. 1. Turnhout 1997, 507–519. 47

Vgl. Manitius (Ed.), Anonymi De situ (wie Anm.45), 1: „aggregatis insignissimis huiusmodi lectionis

artificibus, quid in opusculis suis de orbis situ senserint, quidque egregio affatu dixerint […] Melam Pomponium dico atque Aethicum cosmografum, Martianum Felicem Capellam, Solinum Polistoriarum, Orosium necnon Isidorum.“

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Ozean prägnant als mare exterius definiert. 48 In der Behandlung der Gezeiten folgt er Isidor und Solinus 49, bei der Gliederung des Ozeans in Teilmeere nach den jeweiligen Küstenregionen Solinus und Isidor. 50 Bemerkenswert ist immerhin, dass der Anonymus den Ozean dezidiert für in allen seinen Teilen befahrbar hält und sich dafür auf die Argumente des Martianus Capella beruft. 51 Dieser Autorität folgt er selbst dann noch wörtlich, wenn er behauptet, die ganze spanisch-gallische Westküste werde „auch heute“ von Schiffen befahren; naturgemäß kann dieser Aussage keine Relevanz für den tatsächlichen atlantischen Schiffsverkehr in der späteren Karolingerzeit zukommen. 52 Bei den übrigen, auf diese Weise rezipierten Argumenten des Martianus Capella handelt es sich um historische Exempla: Den nördlichen Ozean habe die Flotte des Augustus erschlossen, den indischen die der Makedonen/Seleukiden. Als Kronzeugen für die Umfahrbarkeit Afrikas fungieren – sämtlich aus Plinius entlehnt – die von C. Caesar, dem Enkel des Augustus, im Arabischen Meer gesichteten Überreste schiffbrüchiger Schiffe aus Spanien, die Fahrten Hannos und der nach Gades gelangte arabische (!) Flüchtling Eudoxus. 53 Auch wenn der Anonymus Leidensis nicht zu

48 Ebd.3 (I 1): „Quid sit Oceanus. Oceanus est mare exterius; qui in circuli modo ambit orbem.“ Als Elemente der Definition treten aus Orosius die Sieben-Tages-Rhythmen des Anwachsens und Abschwellens und aus Isidor die Begriffsetymologie hinzu. 49 Ebd.3f. (I 3). 50 Ebd.4f. (I 4) mit der Aufzählung: „Dicitur Libicus, Aegyptius, Indicus, Persicus, Arabicus, Eous, Sericus, Hircanus, Caspius, Scithicus, Germanicus, Gallicus, Adlanticus, Gaditanus.“ Diese entspricht nahezu der Aufzählung von Meeresbereichen bei Solinus XXIII 17, verändert aber die Reihenfolge und ergänzt aus dem deutlich kürzeren Kanon Isidors (Etym XIII 15, 2) das bei Solinus fehlende Gaditanus. Zu dieser Transformation vgl. auch Gautier Dalché, Tradition (wie Anm.29), 156–158. 51 Manitius (Ed.), Anonymi De situ (wie Anm.45), 8f. (I 5): „Quod mare oceanum undique secus navigatur. Hunc igitur oceanum multis nominibus pro regionum diversitate taxatum circumquaque navigabilem cum plurimorum didicerimus experimentis, tum Marciani Felicis Capellae probabilibus documentis, quibus id ipsum adprobando cum de rotunditate telluris loqueretur ait.“ Zu Rezeption und Glossierung von Buch VI des Martianus Capella in der Karolingerzeit siehe Natalia Lozovsky, „The Earth Is Our Book“. Geographical Knowledge in the Latin West, ca. 400–1000. Ann Arbor 2000, 113–138. 52 Manitius (Ed.), Anonymi De situ (wie Anm.45), 9 (I 5): „Nam a Gadibus per spine Galliarumque flexum occidentalis plaga omnis hodieque navigatur“, wobei sich spine durch den Vergleich mit Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Marcurii. Hrsg. v. Adolf Dick/Jean Préaux. Stuttgart 1969, 304 (VI 617), als verderbt aus Hispaniae erweist. 53 Vgl. Martianus Capella, De nuptiis (wie Anm.52), 304f. (VI 618–622), und (mit Textverderbnissen) Manitius (Ed.), Anonymi De situ (wie Anm.45), 9 Z. 6–10, Z. 4 (I 5). Vgl. die Beiträge von Raimund Schulz und Eivind Seland in diesem Band.

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einer Synthese antiken und zeitgenössischen Wissens über den Ozean gelangte, ging seine, systematischen Ordnungsvorstellungen folgende Rezeption der antiken Nachrichten doch über die im Frühmittelalter kanonischen geographischen Wissensbestände hinaus. So verdichtet sich bei ihm stärker als bei Vorläufern und Zeitgenossen das Bild des Ozeans im Rückgriff auf die antike Tradition zu einem weltumspannenden und den Menschen rundum zugänglichen Meer. Vom antiquarischen Zugang der karolingischen Geographie hebt sich deutlich die Vorgehensweise ab, die der angelsächsische König Alfred am Ende des 9.Jahrhunderts bei der von ihm veranlassten altenglischen Übertragung der Historia adversum paganos des Orosius 54 anwandte. In deren geographischem Vorspann wurden nämlich Kernaussagen zweier persönlicher Berichte eingefügt 55, welche die nordischen Seefahrer Ohthere und Wulfstan 56 über ihre Reisen im nördlichen Atlantik bzw. in der Ostsee möglicherweise dem König direkt vorgetragen hatten. Ähnlich wie bei Dicuil wird kanonisches kosmographisches Wissen um aktuelle Nachrichten, die man für hinreichend glaubwürdig hielt, erweitert und vertieft, aber auch generell kritisch überarbeitet. 57 Der Reisende Ohthere war im extremen Norden unterwegs. Das lag für ihn nahe, weiß er doch zu berichten, dass an Norwegens Küste niemand mehr dauerhaft nörd-

54

Zu diesem Werk und zur schwierigen Frage der Autorschaft siehe Janet M. Bately, The Old English Oro-

sius, in: Nicole Guenther Discenza/Paul E. Szarmach (Eds.), A Companion to Alfred the Great. (Brill’s Companions to the Christian Tradition, Vol.58.) Leiden/Boston 2015, 313–343; dies., Alfred as Author and Translator, in: ebd.113–142; Valtonen, The North (wie Anm.14), 259–279, auch zur unsicheren Datierung des Werkes. 55

The Old English Orosius. Ed. Janet Bately. London/New York/Toronto 1980, 13–18 (zu cap. I.i). Vgl.

auch die Wiedergabe des Textes mit moderner Übertragung in: Niels Lund (Ed.), Two Voyagers at the Court of King Alfred. The Ventures of Ohthere and Wulfstan together with the Description of Northern Europe from the Old English Orosius. York 1984, 18–25. 56

Während sich für Ohthere aus dem Bericht selbst ein klares persönliches Umfeld an der norwegischen

Küste abzeichnet, vgl. Valtonen, The North (wie Anm.14), 281–320, bleibt die Person Wulfstans im Text deutlich blasser. Daher ist vorgeschlagen worden, auch die Ostseereise Ohthere zuzuschreiben mit Wulfstan als Übersetzer bzw. Informationsübermittler, siehe Bengt Odenstedt, Who Was Wulfstan? A New Theory of „Ohthere’s and Wulfstan’s Voyages“, in: Studia Neophilologica 66, 1994, 147–157. Dagegen argumentieren Julia Fernández Cuesta/Inmaculada Senra Silva, Ohthere and Wulfstan. One or Two Voyagers at the Court of King Alfred?, in: Studia Neophilologica 72, 2000, 18–23; für einen von Ohthere deutlich abweichenden geographischen Hintergrund Wulfstans plädiert zudem Valtonen, The North (wie Anm.14), 403, mit weiterer Literatur. Jenseits der Reiseberichte sind Ohthere und Wulfstan nicht in Quellen belegt. 57

Zu Umstrukturierungen in der Anlage der geographischen Kapitel gegenüber der lateinischen Vorla-

ge vgl. Bately, Old English Orosius (wie Anm.54), 328f.

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lich von ihm selbst lebe. Man begegne dort nur temporär den Finnen; mit ihnen stand der vermögende Händler Ohthere in regem Austausch. 58 Auf einer Reise habe sich Ohthere noch weiter nach Norden vorgewagt als selbst die Waljäger; er sei bei Westwind der nach Osten abbiegenden skandinavischen Küste vier Tage lang gefolgt, sodann der sich ändernden Fahrtrichtung nach Süden, und so schließlich in einen großen Fluss („an micel ea“) gelangt. 59 An dessen beiden Ufern erstreckten sich – nach der langen Seefahrt entlang einer unbewohnten Küste („weste land on þæt steorbord“) – nunmehr Siedlungsgebiete, die im Text mit den Beormas/Biarmones in Verbindung gebracht werden. 60 Mit ihnen habe sich Ohthere weitgehend in der Sprache der Finnen verständigen können. Die oft auch ökonomisch relevanten Angaben sind knapp und präzise. Wundersames fehlt ebenso wie im Kontext der durchaus präzisen Schilderung seines Seewegs von Norwegen zu den Britischen Inseln und Irland. 61 König Alfred erkannte offenbar die Bedeutung von Ohtheres Abenteuern als Zuwachs geographisch-ethnographischen Wissens und sicherte ihnen so ein schriftliches Überleben. Doch es könnte auch sein, dass die Niederschrift der ökonomisch potentiell nutzbringenden Nachrichten 62 in der insularen Volkssprache statt der universellen Gelehrtensprache Latein möglicherweise ihrer weiteren Verbreitung bewusst Grenzen setzen soll-

58 Old English Orosius (wie Anm.55), 13, Z. 29–14, Z. 4; Lund (Ed.), Two Voyagers (wie Anm.55), 18. Zu den bei Ohthere mehrfach erwähnten Gruppen von Finnen siehe Valtonen, The North (wie Anm.14), 373– 386. 59 Old English Orosius (wie Anm.55), 14, Z. 5–20; Lund (Ed.), Two Voyagers (wie Anm.55), 18f.; zur Identifizierung des Flusses vgl. den Kommentar Batelys in Old English Orosius, 185–187. 60 Old English Orosius (wie Anm.55), 14, Z. 19–25: „for þæm ðæt land was eall gebun on oþre healfe þære eas. Ne mette he ær nan gebun land siþþan he from his agnum ham for, ac him wæs ealne weg weste land on þæt steorbord, butan fiscerum 7 fugelerum 7 huntum, 7 þæt wæron eall Finnas, 7 him wæs a widsæ on ðæt bæcbord. Þa Beormas hæfdon swiþe wel gebud hira land, ac hie ne dorston þæron cuman.“ Zu den Nachrichten über die Biarmones detailliert Valtonen, The North (wie Anm.14), 356–372. 61 Old English Orosius (wie Anm.55), 16, Z. 1–9; Lund (Ed.), Two Voyagers (wie Anm.55), 21. Zur Deutung der nur scheinbar verworrenen Angaben aus nautischer Sicht siehe William C. Stokoe, On Ohthere’s Steorbord, in: Speculum 32, 1957, 299–306; siehe auch Ole Crumlin-Pedersen, Ships, Navigation and Routes in the Reports of Ohthere and Wulfstan, in: Lund (Ed.), Two Voyagers (wie Anm.55), 30–42; Valtonen, The North (wie Anm.14), 334–336; Vaughan, The Arctic (wie Anm.15), 317f. Zum norwegischen Seeweg über die Irische See zu den westfränkischen Küsten siehe Élisabeth Ridel, From Scotland to Normandy. The Celtic Sea Route of the Vikings, in: Beverley Ballin Smith/Simon Taylor/Gareth Williams (Eds.), West over Sea. Studies in Scandinavian Sea-Borne Expansion and Settlement before 1300. A Festschrift in Honour of Dr Barbara Crawford. Leiden/Boston 2007, 81–94. 62 In Norwegen geriet das Land der Biarmones nicht aus dem Blickfeld: Sagas berichten von mehreren

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te. Jedenfalls überrascht es vor diesem Hintergrund nicht, dass die Nachrichten keine weitere Rezeption im Mittelalter fanden. 63

IV. Adams nördliche Meere Unbekannt blieben die Erkenntnisse Ohtheres jedenfalls dem Bremer Domscholaster Adam, als er sich nach 1072 daran machte, eine umfassende Geschichte der Kirche von Hamburg-Bremen und ihrer Oberhirten zu verfassen. 64 Zwangsläufig gerieten dabei auch die Länder und Meeresräume des Nordens in den Blick des Autors. Denn die Bremer Kirche erhob den Anspruch, in diesem Raum seit den Missionsreisen des Schwedenapostels Ansgar 65 kontinuierlich die christliche Mission vorangebracht zu haben und mithin für die Völker des Nordens geistlich zuständig zu sein. 66 Expeditionen, die norwegische Könige in diesen Raum unternahmen, sowie vom Ausbau der Handelskontakte: vgl. Vaughan, The Arctic (wie Anm.15), 318. 63

Die handschriftliche Überlieferung des altenglischen Orosius umfasst heute lediglich zwei in Eng-

land verbliebene Codices und zwei nicht das erste Buch betreffende Fragmente, von denen eines bis nach Trier gelangte, vgl. Old English Orosius (wie Anm.55), XXIII–XXVI. Daneben finden sich allerdings geringe Spuren der Kenntnis dieses Textes auch auf dem Kontinent, so dass möglicherweise auf die Existenz einer Rückübersetzung ins Lateinische geschlossen werden kann, ebd. XXVI–XXXI. Gleichwohl dürfte diese auf keinen Fall eine weite Verbreitung gefunden haben. 64

Zu Adam und seinem Werk vgl. zusammenfassend Franz-Josef Schmale, Adam von Bremen, in: Die

deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2.Aufl. Bd. 1. Berlin/New York 1978, 49–54; Volker Scior, Das Eigene und das Fremde. Identität und Fremdheit in den Chroniken Adams von Bremen, Helmolds von Bosau und Arnolds von Lübeck. (Orbis mediaevalis, Bd. 4.) Berlin 2002, 30–37; David Fraesdorff, Der barbarische Norden. Vorstellungen und Fremdheitskategorien bei Rimbert, Thietmar von Merseburg, Adam von Bremen und Helmold von Bosau. (Orbis mediaevalis, Bd. 5.) Berlin 2005, 144–146. 65

Die Literatur zu Ansgars Missionstätigkeit in Dänemark und Schweden ist breit, siehe etwa Brigitte

Wavra, Salzburg und Hamburg. Erzbistumsgründung und Missionspolitik in karolingischer Zeit. Berlin 1991, 259–282; Thomas Klapheck, Der heilige Ansgar und die karolingische Nordmission. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, Bd. 242.) Hannover 2008, bes. 49–72 und 157–181. Im Gegensatz zu dem in der Vita Anskarii gezeichneten Bild erachtet Eric Knibbs, Ansgar, Rimbert and the Forged Foundations of Hamburg-Bremen. Farnham 2011, bes. 101–135, 220–222, die Nordmission Ansgars, besonders aber seinen Versuch der Errichtung eines Bistums für komplett gescheitert. 66

Auf die langen und komplexen Debatten um die frühen Papsturkunden für Hamburg, die den Ansprü-

chen dieser Kirche auf Zuständigkeit für den gesamten Norden ihr Fundament gaben, jedoch offensichtliche Fälschungen ebenso wie interpolierte Privilegien umfassen, kann hier nicht eingegangen werden, siehe dazu Wolfgang Seegrün, Das Erzbistum Hamburg in seinen älteren Papsturkunden. Köln/Wien 1976; für die frühen Urkunden vgl. zuletzt Wavra, Salzburg und Hamburg (wie Anm.65), 283–302; Klapheck, Der heilige Ansgar (wie Anm.65), 72–88; Knibbs, Ansgar (wie Anm.65), bes. 78–99, 139–163.

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Diesen Anspruch hatte insbesondere der ambitionierte Erzbischof Adalbert (1043– 1072) erneut aktualisiert 67; dessen Persönlichkeit steht denn auch im Mittelpunkt von Adams Werk. So fügte Adam seinen drei chronologischen Büchern ein viertes, geographisches über die Inseln des Nordens (Descriptio insularum aquilonis) hinzu, wobei er freilich sehr vorsichtig in der Zuschreibung insularer Qualitäten 68 ist: Während das Land der Dänen fast gänzlich aus Inseln bestehe 69, wird dergleichen für das Land der Schweden (Sueones) und für Norwegen (Nortmannia) nicht behauptet. 70 Die gleichsam klassische und bis weit ins Hochmittelalter hinein auch auf Weltkarten manifeste Vorstellung vom Norden als einem rein insularen Raum 71 – einschließlich der großen Insel Scandia/Scandinavia, deren Name sich nur in einem Scholion

67 Vgl. Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum. Ed. Bernhard Schmeidler. (MGH Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum.) 3.Aufl. Hannover/Leipzig 1917, 219f. (III 72): „ipse tamen magnificentius quam ceteri potentiam archiepiscopalem longe lateque in exteras protendebat nationes“. Von der in diesem Zusammenhang erwähnten Intention Adalberts, den Spuren seiner Vorgänger Ansgar, Rimbert und Unni als „vierter Evangelist“ im Norden zu folgen, habe den Erzbischof jedoch der dänische König abgebracht, sei es doch besser, die gentes „per homines suae linguae morumque similium“ zu bekehren. Zu beachten ist, dass dieses und die folgenden Kapitel von Adams Werk entgegen ihrer Position in Schmeidlers Ausgabe eigentlich zum geographischen vierten Buch gehören, siehe Anne K. G. Kristensen, Studien zur Adam von Bremen Überlieferung. (Skrifter udgivet af det Historiske Institut ved Københavns Universitet, Vol.5.) Kopenhagen 1975, 40–48; vgl. Scior, Das Eigene (wie Anm.64), 32–34. 68 Auf begriffliche Unschärfen im Gebrauch des Insel-Konzeptes haben in diesem Zusammenhang Gautier Dalché, Comment penser l’océan? (wie Anm.3), 212f., und Fraesdorff, Der barbarische Norden (wie Anm. 64), 91f., verwiesen. 69 Adam von Bremen, Gesta (wie Anm.67), 226 (IV 1): „Provintia Danorum tota fere in insulas dispertita est.“ Für Jütland wird keine Insellage behauptet, allerdings mit dem Fluss Eider gleichfalls auf ein Grenzgewässer nach Süden hin verwiesen, während sich kein Hinweis auf die Befestigungen des Danewerks als etwaige Grenzmarkierung findet; auch die Bezeichnung „limes Danorum“ in Adam von Bremen, Gesta, 240 (IV 11) bezieht sich auf das Land der Dänen, nicht eine Grenzmarkierung. Zum Danewerk: Andres Siegfried Dobat, Danevirke Revisited. An Investigation into Military and Socio-Political Organisation in South Scandinavia (c AD 700 to 1100), in: Medieval Archaeology 52, 2008, 27–67. Die auf dem skandinavischen Festland liegende Provinz Schonen gilt Adam als „pars ultima Daniae“ und fast eine Insel, vgl. Adam von Bremen, Gesta (wie Anm.67), 235 (IV 7). 70 Zur Charakterisierung Schwedens und Norwegens siehe Adam von Bremen, Gesta (wie Anm.67), 250– 257 (IV 21–25) und 263–267 (IV 31–32); vgl. auch Allan A. Lund, Die Erfindung Germaniens und die Entdeckung Skandinaviens in Antike und Mittelalter, in: Engel-Braunschmidt u.a. (Hrsg.), Ultima Thule (wie Anm.14), 29–45, hier 38. 71 Zur kartographischen Repräsentation des insular geprägten Nordens siehe Anna-Dorothee von den Brincken, Die kartographische Darstellung Nordeuropas durch italienische und mallorquinische Portolanzeichner im 14. und in der ersten Hälfte des 15.Jahrhunderts, in: dies., Studien zur Universalkartographie (wie Anm.5), 165–178, hier 166–168; siehe auch Fraesdorff, Der barbarische Norden (wie Anm.64), 100.

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zu Adams Text findet 72 – wird also nur dort aufgegriffen, wo Adam sich über die Inselqualität der charakterisierten Regionen Gewissheit verschaffen konnte. Adams Methode zeigt sich besonders deutlich an seiner Darstellung der Ostsee. Ausgangspunkt ist Einhards prägnante Charakterisierung dieses Meeres als eines langen Golfes (sinus) des Ozeans, der sich bei geringer Breite weit hinein in den Osten erstrecke und verschiedene Völker als Anrainer aufweise. 73 Diese Definition teilt Adam in drei Abschnitte, die er jeweils kommentiert und ergänzt, zunächst um ein zentrales Element, nämlich die von den Bewohnern der Region selbst gebrauchte Bezeichnung Mare Balticum. Adam leitet diese etymologisch von balteus (Gürtel) ab und identifiziert sie mit dem gleichfalls gebräuchlichen Namen pelagus Sciticum. 74 Doch ist es letztlich weder die Etymologie noch die schon von Dicuil geübte kritische Diskussion älterer Autoritäten, die Adams Bemühen dominiert, Wissen zu gewinnen, sondern vielmehr die eigenständige Sammlung zeitgenössischer Wissensbestände bei sorgfältiger Dokumentation ihrer Quellen. So stimmt Adam hinsichtlich des östlichen Abschlusses der Ostsee Einhards Aussage über dessen Unbestimmtheit bewusst zu. Als zusätzlicher Beleg dient ihm eine nur kurze Zeit zurückliegende Entdeckungsfahrt des Dänenfürsten Ganuzwolf und König Haralds von Norwegen; Piraten und widrige Windverhältnisse hätten es ihnen verwehrt, den Umfang (quantitas) dieses Meeres zu erkunden. 75 Adam weiß aber auch, dass die Dä72

Adam von Bremen, Gesta (wie Anm.67), 234, Scholion 111: „Ab hac insula [Schonen] primum egressi

sunt Longobardi vel Gothi, et vocatur ab historicis Romanorum Scantia vel Gangavia sive Scandinavia. Cuius metropolis civitas Lundona, quam victor Angliae Chnud Britannicae Lundonae aemulam esse precepit.“ Zur Bezeichnungsweise und geographischen Vorstellung von Scandi(navi)a vgl. Eva Nyman, Skandinavien, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Bd. 28. Berlin/New York 2005, 582–587; Kochanek, Vorstellung (wie Anm.14), 68–72, 368–373 und 379 zur Vermeidung des Begriffs bei Adam. 73

Einhard, Vita Karoli Magni. Ed. Georg Waitz. (MGH Scriptores rerum Germanicarum in usum schola-

rum.) 6.Aufl. Hannover/Leipzig 1911, 15 (cap. 12): „Sinus quidam ab occidentali oceano orientem versus porrigitur, longitudinis quidem inconpertae, latitudinis vero quae nusquam centum milia passuum excedat, cum in multis locis contractior inveniatur. Hunc multae circumsedent nationes: Dani siquidem ac Sueones, quos Nordmannos vocamus, et septentrionale litus et omnes in eo insulas tenent. At litus australe Sclavi et Aisti et aliae diversae incolunt nationes.“ 74

Adam von Bremen, Gesta (wie Anm.67), 238 (IV 10): „Sinus ille ab incolis appellatur Balticus, eo quod

in modum baltei longo tractu per Scithicas regiones tendatur usque in Greciam, idemque mare Barbarum seu pelagus Sciticum vocatur a gentibus, quas alluit, barbaris.“ Vgl. dazu Thomas Foerster, Imagining the Baltic. Mental Mapping in the Works of Adam of Bremen and Saxo Grammaticus, Eleventh – Thirteenth Centuries, in: Wojtek Jezierski/Lars Hermanson (Eds.), Imagined Communities on the Baltic Rim, from the Eleventh to Fifteenth Centuries. Amsterdam 2016, 37–58, hier 38f., 41f. 75

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Adam von Bremen, Gesta (wie Anm.67), 240 (IV 11).

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nen bei günstigem Wind mit ihren Schiffen innerhalb eines Monats ins russische Ostrogard gelangten und dass dies für sie ein Maß für die fragliche Längenausdehnung sei. 76 Indem Adam die leicht widersprüchlichen Aussagen nebeneinander stehen lässt, ordnet er die ihm zur Verfügung stehenden Wissensbestände lediglich, versucht aber weder sie zu harmonisieren noch zwischen ihnen zu entscheiden. Dabei ist er sich durchaus des Umstandes bewusst, dass seine Nachrichten mit wachsender Entfernung eines beschriebenen Raumes von seinem eigenem Erfahrungsraum im Norden des Reiches und Teilen Dänemarks tendenziell unzuverlässiger wurden. So versieht er seine präzisen Nachrichten über die maritimen Anbindungen der einzelnen Hafenstädte Jütlands, Aarhus, Ribe und Schleswig 77 nicht mit Quellenangaben; sie waren ihm unmittelbar evident. Wenn er hingegen für das ferne Baltikum von Amazonen und ihren hundsköpfigen männlichen Abkömmlingen, von grün-bleichen Husi, Anthropophagen und anderen monstra berichtet, ist sein Zweifel unüberhörbar: Das werde von manchen berichtet, Seefahrer hätten dies bezeugt, den Unsrigen aber erscheine es kaum glaubhaft. 78 Wenn Adam diesen Mythen innerhalb seiner Geographie gleichwohl begrenzten Raum zugesteht, so tut er das sicherlich in dem Bewusstsein, selbst nicht über hinreichende Evidenzkriterien zur Falsifizierung suspekter Aussagen über diese fernen Zonen zu verfügen. 79 Es handelte sich somit auch bei diesen Nachrichten um einen potentiellen Wissensbe-

76 Ebd.: „Affirmant autem Dani longitudinem huius ponti sepe a pluribus expertam, secundo flatu per mensem aliquos a Dania pervenisse in Ostrogard Ruzziae.“ 77 Ebd.228–230 (IV 1): Von Aarhus führten die Schiffsverbindungen nach Fünen, Seeland, Schonen und Norwegen; von Schleswig aus in die Länder der Slaven, nach Schweden, aber auch nach Griechenland; von Ribe am Ozean nach Friesland, England und „in nostram Saxoniam“. Diese Angaben haben einen späteren Kommentator in der Handschriftengruppe C zu einem langen Scholion inspiriert, welches das Grundgerüst eines regelrechten Portulans für die Seeroute von Ribe über Flandern, Lissabon und die nördliche Mittelmeerküste bis nach Akkon skizziert: ebd.228f., Scholion 99. 78 Ebd.246–248 (IV 19), bes. 247 „dicunt aliqui“; „sunt etiam, qui referunt“; 248: „Ibi sunt alia monstra plurima, quae recitantur a navigantibus sepe inspecta, quamvis hoc nostris vix credibile putetur.“ 79 Insofern ist Scior, Das Eigene (wie Anm.64), 120–124, zwar durchaus zuzustimmen, dass Adams Nachrichten über die monstra nicht an modernen Maßstäben über Realistisches und Unrealistisches gemessen werden können, doch dürfte es sich m.E. bei Adams Aussagen nicht um den Versuch handeln, eine aufgrund antiker Autoritäten unhinterfragt geglaubte Wirklichkeit an ein „neues“ Weltende, etwa im Baltikum, zu relokalisieren, vgl. auch Fraesdorff, Der barbarische Norden (wie Anm.64), 302–308. Gerade indem Adam für eine konkrete qualitative, nicht lokalisierende Aussage über die Fremden auf Solinus verweist, bleibt er auch in diesen Passagen seiner methodischen Skrupulosität im Umgang mit seinen Wissensquellen treu. Wenn er andererseits auf Hörensagen oder „Seefahrer“ verweist, müssen auch eine solche, be-

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stand, dessen epistemischer Status erst durch weitere Erkundungen geklärt werden könnte. Da Adams Anliegen darin bestand, alle ihm verfügbaren Nachrichten über die Länder und Meere des Nordens im vitalen Interesse der Hamburger Kirche 80 zusammenzutragen, erscheint es nur konseqeunt, dass er auch diese Behauptungen in sein Werk integrierte. Den Raum des Ozeans tangiert Adam sodann in der Beschreibung Norwegens, als er auf die metropolis Trondheim zu sprechen kommt, die aufgrund des Olaf-Grabes große Pilgerströme anziehe: Der Seeweg dorthin vom dänischen Aalborg aus führe über das offene Meer zunächst in die norwegische civitas Wig (wohl Larvik am Skagerrak) und dann fünf Tage entlang der norwegischen Küste; aber auch ein Landweg vom dänischen Schonen her ist Adam bekannt, nur sei er durch die Gebirge hindurch beschwerlich und gefährlich und werde daher gemieden. 81 Norwegen erscheint mithin als durchaus vertrauter, vom Meer her erschlossener Raum. 82 Zugleich markiert er aber die nördliche Grenze menschlicher Besiedelung, hinter der sich nichts als der unbegrenzte und furchtbar anzusehende Ozean befinde. 83 Diese der Tradition entlehnten Attribute des Ozeans leiten über in die differenzierte, wenn auch knappe Schilderung einer Welt vieler nicht zu verachtender (non ignobiles) Inseln; sie seien fast alle der Herrschaft (ditio) Norwegens unterstellt, gehör-

wusst unscharf angelegte Quellenangabe und der ihr inhärente Zweifel ernst genommen werden. Auch kann aus der Ähnlichkeit von Adams Angaben über die amazonische „terra ferminarum“ und einzelnen Elementen von Wulfstans Bericht keineswegs abgeleitet werden, dass Adam den altenglischen Orosius gekannt habe (so Scior, Das Eigene, 122; Fraesdorff, Der barbarische Norden, 304f.). Vielmehr führt Fraesdorff selbst weitere voneinander unabhängige Traditionen an, die sämtlich ein Frauenland im europäischen Nordosten lokalisieren. 80

Als Hintergrund könnte hier durchaus der von Erzbischof Adalbert verfolgte Plan zu sehen sein, Ham-

burg die Ehrenstellung (honor) eines nördlichen Patriarchats zu verschaffen, um auf diese Weise die potentiellen Konsequenzen der Bestrebungen zur Errichtung eigenständiger Erzbistümer in den nordischen Königreichen zu begrenzen. Zum Plan vgl. Adam von Bremen, Gesta (wie Anm.67), 175 (III 33); Horst Fuhrmann, Studien zur Geschichte mittelalterlicher Patriarchate III, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 41, 1955, 95–183, hier 120–170. 81

Adam von Bremen, Gesta (wie Anm.67), 267f. (IV 33).

82

Zum durch den Seeweg gestifteten Zusammenhang des norwegischen Königreichs vgl. aus archäolo-

gischer Perspektive Dagfinn Skre, Norðvegr – Norway: From Sailing Route to Kingdom, in: European Review 22, 2014, 34–44. 83

Adam von Bremen, Gesta (wie Anm.67), 269 (IV 35): „Post Nortmanniam, quae est ultima aquilonis pro-

vintia, nihil invenies habitacionis humanae nisi terribilem visu et infinitum occeanum, qui totum mundum amplectitur.“

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ten damit aber zur Hamburger Kirchenprovinz. Zuerst verweist Adam auf die kykladenartig verstreuten Orkneys zwischen Norwegen, Britannien und Irland. Ihre Entfernung zur See nach Trondheim wie auch zur englischen oder schottischen Küste betrage je einen Tag. 84 Im Hinblick auf das mit Thule identifizierte Island vergisst Adam nicht auf Pytheas zu verweisen, den er freilich nur sekundär aus einem Werk Bedas kennt. 85 Doch weit mehr interessiert ihn das zeitgenössische Island als Ort kargen, idealisierten Höhlenlebens, wo der Bischof soviel wie ein König gelte. Diesen von der Insel selbst stammenden Bischof aber kannte man in Bremen, hatte ihn doch Erzbischof Adalbert geweiht und unterwiesen. Und so kann Adam resümierend feststellen: „Dies habe ich über Island und ultima Thyle glaubhaft erfahren, wobei ich Fabuliertes übergehe.“ 86 Ultima Thule bildet nicht den Abschluss von Adams Inselwelt, obgleich er für alle weiteren Inseln auf antike Autoritäten verzichten muss. Grönland liege noch tiefer im Ozean, von der norwegischen Küste angeblich ähnlich weit entfernt wie Island, besiedelt von Menschen, die nach Art der Isländer lebten, jedoch auch der Piraterie nachgingen. 87 Nach der nur knapp erwähnten vermeintlichen Insel Helgeland bei Norwegen kommt schließlich noch Vinland zur Sprache: Nach dem Bericht des dänischen Königs Sven Estridsen sei diese Insel „von vielen“ entdeckt und nach dort vorgefundenen Weinstöcken benannt worden, doch nach den verlässlichen Berichten der Dänen bringe sie auch Getreide reichlich hervor. 88 Hinter Vinland aber er-

84 Ebd.270f. (IV 35). Neben diesen eigenständigen Angaben wird von Adam auch ein Zitat aus Orosius zu den Orkney-Inseln eingeflochten. Zu deren Bekanntheit in der Antike und wahrscheinlichen Verwechslung mit den Färöer-Inseln im Hinblick auf den Weg nach Thule vgl. Elmar Seebold, Die Entdeckung der Orkneys in der Antike, in: Glotta 85, 2009, 195–216. 85 Adam von Bremen, Gesta (wie Anm.67), 272 (IV 36): „Quod fieri in insula Thyle Pytheas Massiliensis scribit VI dierum navigatione in septentrionem a Britannia distante.“ Diese Stelle ist wörtlich übernommen aus Beda Venerabilis, De Temporum ratione, in: Charles W. Jones (Ed.), Bedae Opera de temporibus. Cambridge, MA 1943, 239 (cap. 31). Pytheas wird hier jedoch nicht als Entdecker von Thule erwähnt, sondern als Gewährsmann für das dortige Phänomen von Polartag und -nacht. 86 Adam von Bremen, Gesta (wie Anm.67), 274 (IV 36): „[…] veraciter comperi, fabulosa preteriens“. 87 Ebd.274 (IV 37): „Sunt autem plures aliae in oceano insulae, quarum non minima [est] Gronland, profundius in oceano sita contra montes Suediae vel Riphea iuga.“ Dass kürzlich das Christentum auf dieser Insel Fuß gefasst habe, erwähnt Adam mit gebotener Vorsicht. Zu den Inseln bei Adam vgl. auch Kochanek, Vorstellung (wie Anm.14), 385–387. 88 Adam von Bremen, Gesta (wie Anm.67), 275 (IV 39): „Preterea unam adhuc insulam recitavit a multis in eo repertam oceano, quae dicitur Winland, eo quod ibi vites sponte nascantur, vinum optimum ferentes. Nam et fruges ibi non seminatas habundare non fabulosa opinione, sed certa comperimus relatione Dano-

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strecke sich das unermessliche Dunkel des erstarrten Meeres (mare concretum). Gleichsam als Beleg führt Adam zwei kürzlich nach Norden aufgebrochene Schiffsexpeditionen an – die eine unter König Harald von Norwegen, die andere ausgeführt von nobiles aus Friesland. Beide konnten sich Adam zufolge nur knapp vor extremen, strudelartig in Abgründe reißenden Strömungen retten. 89 Hier schienen sich die alten Mutmaßungen über die zur Unterwelt führenden Abgründe (voragines) 90 zu bestätigen, während von einer Begegnung mit dem Eismeer nicht berichtet wird. Bemerkenswert ist vor allem die mosaikartige Genese eines Ozeanbildes, das sich oft nur im Hintergrund aus Wissensbeständen der geographischen klassischen Tradition speist, primär aber auf mündlichen Nachrichten diverser Provenienz beruht, die durchaus kritisch auf ihre Zuverlässigkeit geprüft und entsprechend kommentiert werden. Das klassische Grundmotiv von der Beschaffenheit des Ozeans bedurfte durch die neuen Erkenntnisse über neue Inseln freilich keiner Revision, denn Inseln waren es ja, die man im Ozean erwartete! 91 Doch bei all dem gilt es stets zu beachten, welche Wirkmächtigkeit das von Adam entworfene Bild des Nordens im Mittelalter tatsächlich zu entfalten vermochte: Die Zahl der bekannten mittelalterlichen Handschriften des gesamten Werks ist nicht groß und ihre Überlieferung scheint sich auf den Norden zu konzentrieren. 92 Darü-

rum.“ Damit erschöpfen sich die knappen, schemenhaften Aussagen Adams über dieses neu entdeckte Territorium, das er auch nicht genauer zu verorten vermag. Zu den weitaus detaillierteren Nachrichten isländischer Sagas und ihrer Korrelation mit archäologischen Befunden vgl. Birgitta Linderoth-Wallace, L’Anse aux Meadows and Vinland: An Abandoned Experiment, in: James H. Barrett (Ed.), Contact, Continuity, and Collapse. The Norse Colonization of the North Atlantic. Turnhout 2003, 207–238; Rudolf Simek, Vinland! Wie die Wikinger Amerika entdeckten. München 2016, 35–71; darin auch (99–108) zur lebendigen Tradition des Wissens um die Entdeckungen im mittelalterlichen Island und seine späte europäische Verbreitung seit dem frühen 15.Jahrhundert. 89

Adam von Bremen, Gesta (wie Anm.67), 275f. (IV 39–40). Zur Expedition Haralds hat Vaughan, The Arc-

tic (wie Anm.15), 319 erwogen, dass diese auf das Land der Biarmones abgezielt haben könnte; die Nachrichten über die friesische Expedition hingegen bewertet er wohl zu skeptisch (ebd.325). 90

Zu diesen Vorstellungen vgl. Gautier Dalché, Comment penser l’océan? (wie Anm.3), 211f.; Scully, The

Third Voyage (wie Anm.23), 215f.; aus homerischer Perspektive: Kochanek, Vorstellung (wie Anm.14), 50f. 91

Vgl. Lund, Die Erfindung (wie Anm.70), 43f., der damit zu begründen versucht, weshalb Adam Grön-

land und Vinland mit Selbstverständlichkeit insularen Charakter zugeschrieben habe. 92

Zu den drei Handschriftenklassen siehe Schmeidlers Einleitung zu Adam von Bremen, Gesta (wie

Anm.67), VII–XL; zu ergänzen um Sture Bolin, Zum Codex Havniensis G. Kgl. S. 2296 (Hs. C1 der Chronik des Adam von Bremen), in: Classica et Mediaevalia 10, 1948, 131–158, und die Ergebnisse von Kristensen, Studien (wie Anm.67). Befanden sich die Repräsentanten der Textklassen B und C, soweit ersichtlich, stets im Norden (C1 [um 1200] in Hamburg und Kopenhagen; B1a [15.Jh.] in Dänemark entstanden, Wolfenbüttel;

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ber hinaus aber stieß das IV. Buch als geographische Schrift auf besonderes Interesse; es ist in einer Reihe handschriftlicher Zeugen separat – teils zusammen mit anderen Auszügen – überliefert, so schon in der ältesten überlieferten Adam-Handschrift (A2), einem Cod. Vossianus in Leiden (um 1100), der sich klar als die Geographie betreffendes Excerptum ausweist 93, oder in den verschiedenen Derivaten einer verlorenen Handschrift aus dem dänischen Kloster Sorø (um 1200). 94 Auch diese Separatüberlieferung sowie die Benutzung von Adams Werk bei anderen Autoren scheinen sich klar auf einen norddeutsch-skandinavischen Rezeptionsraum zu konzentrieren. 95 Auch wenn dort somit bereits vor den ersten Druckausgaben durch Vedel 1579 in Kopenhagen (ohne die Descriptio) und durch Lindenbrog 1595 in Leiden die Voraussetzung für eine gewisse Vertrautheit mit Adams Geographie gegeben war, kann Adam dennoch nicht als Repräsentant eines mittelalterlichen Allgemeinwissens von den nördlichen Meeren betrachtet werden. 96

V. Perspektiven der frühen skandinavischen Geschichtsschreibung Es bietet sich somit an, einen Seitenblick auf die skandinavische Historiographie selbst zu richten, und zwar vor allem auf deren ältesten lateinsprachigen Repräsentanten, die Historia Norwegie aus der zweiten Hälfte des 12.Jahrhunderts. 97 Hier geht

B1b [16.Jh.] in Kopenhagen; ebenso die Derivate der Sorø-Handschrift), so gelangte der Hauptrepräsentant von Klasse A, der von Kristensen als eine Bearbeitung von Adams Ausgangstext nachgewiesene Codex A1 (um 1200), aus Salzburg schließlich nach Wien und eine 1451 davon erstellte Abschrift (A1a) in die Vatikanische Bibliothek. 93 Vgl. Adam von Bremen, Gesta (wie Anm.67), XII f. 94 Ebd. XX–XXIII, behandelt als wichtigste Vorlage für den Erstdruck Vedels von 1579; zu einer frühen Kollation dieser verlorenen Handschrift vgl. Kristensen, Studien (wie Anm.67), 75–85. 95 Zur Adam-Rezeption und den handschriftlichen Grundlagen der Frühdrucke vgl. Schmeidlers Einleitung zu Adam von Bremen, Gesta (wie Anm.67), XLIV–XLVI; Bolin, Zum Codex Havniensis (wie Anm.92), 134f.; Kristensen, Studien (wie Anm.67), bes. 85–95, 139–143; Scior, Das Eigene und das Fremde (wie Anm. 64), 31. 96 Vgl. auch Lars Boje Mortensen, The Language of Geographical Description in Twelfth-Century Scandinavian Latin, in: Filologia mediolatina 12, 2005, 103–121, hier 111. Ebenso blieben von Novgorod ausgehende Erkundungen der Rus’ in Gebieten des Nordens außerhalb der rus’ischen Schriftquellen vollkommen unbeachtet, siehe Vaughan, The Arctic (wie Anm.15), 319–321. 97 Zur Datierung und Anlage dieses Werkes vgl. die Einleitung zur Edition: Ekrem/Mortensen (Eds.), His-

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die auf Norwegen, sein Umland und die vom Seekönigtum abhängigen Inseln konzentrierte geographische Beschreibung (cap. 1–8) der nur fragmentarischen Geschichtserzählung voraus. 98 Wie bei Adam wird der Occeanus vom Balticum mare aus der Perspektive Norwegens geschieden. 99 Zur arktischen Zone weiß der Autor der Historia jedoch zu berichten, dass Seefahrer, die von Island aus nach Norwegen unterwegs gewesen und durch ungünstige Winde abgetrieben worden seien, schließlich an einer Küste zwischen den Viridenses (Grönländer) und Biarmones (im äußersten Norden Skandinaviens) gelandet seien; hier hätten sie dann sowohl Menschen von riesenhafter Gestalt als auch das „Jungfrauenland“ gefunden. 100 Das von diesem Gebiet durch eisbedeckte Berge getrennte Grönland wird geographisch als westliche Grenze Europas imaginiert, die sich fast bis an die „afrikanischen Inseln“ erstrecke. 101 Damit scheint sich für den nördlichen Atlantik nahezu das Bild eines geschlossenen Meeresraumes zu ergeben. Von Norwegens nördlichster patria Hålogaland aus richtet der Autor seinen Blick wiederum auf das Meer. Dort befinde sich ein besonders tiefer Golf, der Skylla, Charybdis und unentrinnbare Meeresstrudel (voragines) enthalte. Aber auch von Eis überzogene Vorgebirge und ins Meer ragende Gletscher werden erwähnt sowie Seetiere von ungeheurer Größe (cete grandia), darunter einäugige Walrösser und der auf- und abspringende Hafstramb – ein Gefahr verheißendes Seeungeheuer ohne

toria Norwegie (wie Anm.28), 8–28; siehe auch Lars Boje Mortensen, Historia Norwegie and Sven Aggesen: Two Pioneers in Comparison, in: Ildar Garipzanov (Ed.), Historical Narratives and Christian Identity on a European Periphery. Early Historical Writing in Northern, East-Central, and Eastern Europe. (Medieval Texts and Cultures of Northern Europe, Vol.26.) Turnhout 2011, 57–70, hier 58f., 67; Foerster, Vergleich und Identität (wie Anm.14), 97f. 98

Mortensen, Language (wie Anm.96), 114f., sieht in diesem Prolog zwei Zugänge zur Darstellung des

Nordens kombiniert: einerseits „a universalist Roman approach“, andererseits einen auf die Notwendigkeit der christlichen Mission für den Norden abzielenden Ansatz. 99

Ekrem/Mortensen (Eds.), Historia Norwegie (wie Anm.28), 52 (I 5): „Circumsepta quidem ex occasu et

aquilone refluentis Occeani, a meridie uero Daciam et Balticum Mare habet, sed de sole Swethiam, Gautoniam, Angariam, Iamtoniam.“ 100 Ebd.54 (I 9): „Quidam tamen naute cum de Glaciali Insula ad Norwegiam remeare studuissent et a contrariis uentorum turbinibus in brumalem plagam propulsi, inter Viridenses et Biarmones tandem applicuerunt, ubi homines mire magnitudinis et Virginum Terram (quę gustu aque concipere dicuntur) se reperisse protestati sunt.“ 101 Ebd.54 (I 11): „Que patria a Telensibus reperta et inhabitata ac fide catholica roborata terminus est ad occasum Europe, fere contingens Affricanas insulas, ubi inundant occeani refluenta.“

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Schwanz und Kopf. 102 Die Aussage, Kaufleute würden auf dem Weg nach Grönland an diese Küsten abgetrieben und gerieten durch Schiffbruch in größte Gefahr 103, scheint auf eine Herkunft der Nachrichten aus mündlichen Berichten hinzudeuten. Obwohl manches wiederum an Ohtheres Erkundungsbericht erinnert, besteht doch offenbar keine Abhängigkeit zwischen den Texten; der geographische Prolog der Historia spricht vielmehr für eine gewachsene Vertrautheit einiger Norweger mit den extremen Küsten des nördlichen Ozeans, aber auch für die feste Integration mythischer Elemente in deren eigene Erfahrungswelt. Demgegenüber spielt das Meer zwar eine weniger prominente, aber ebenso bemerkenswerte Rolle in der knappen geographischen Hinführung, die der Däne Saxo Grammaticus im ausgehenden 12.Jahrhundert seinem gewaltigen Geschichtswerk voranstellte. Noch bevor er auf die Beschaffenheit der einzelnen Teile Dänemarks zu sprechen kommt, erwähnt er den Ozean, der das Innere allseits umgebe, sich in Krümmungen in immer engere Fjorde hineinwinde, aber auch Inseln schaffe. 104 Damit wird der spezifische Küstencharakter des Nordens, dem die bisher behandelten Texte wenig Aufmerksamkeit widmen, prägnant und poetisch eingefangen. Für die Küste Frieslands skizziert Saxo den Ozean hingegen als Verursacher von Überschwemmungen. 105 Die Naturphänomene Islands interessieren ihn, doch scheint die Insel so vertraut, dass der Seeweg zu ihr nicht geschildert zu werden braucht. 106 Norwegen hingegen werde nach Norden durch die Weite der See von einem seiner Lage nach unbekannten, unbenannten, aber von monströsen Bewohnern geradezu

102 Ebd.56 (II 8–16). Zu weiteren Beschreibungen des Hafstramb, insbesondere seiner Darstellung mit menschlich-kriegerischen Attributen im norwegischen Königsspiegel, und zu einer optischen Erklärung der dahinter stehenden Beobachtungen von Seefahrern siehe Waldemar H. Lehn/Irmgard I. Schroeder, The hafstramb and margygr of the King’s Mirror. An Analysis, in: Polar Record 40, 2004, 121–134; vgl. auch Rudolf Simek, Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen. Köln/Weimar/ Wien 2015, 117–121, zu verwandten Vorstellungen männlicher Meeresmonster. Zur Rezeption antiker Motive in der Historia Norwegie siehe Foerster, Vergleich und Identität (wie Anm.14), 107f. 103 Ekrem/Mortensen (Eds.), Historia Norwegie (wie Anm.28), 56 (II 12): „Quibus crebro institores Viridam Terram petentes inuiti applicant sicque naufragium passi periclitantur.“ 104 Saxo Grammaticus, Gesta Danorum. The History of the Danes. Ed. Karsten Friis-Jensen, transl. Peter Fisher. (Oxford Medieval Texts.) Oxford 2015, Vol.1, 8 (Prolog 2.1): „Interna uero circumfusus ambit Oceanus, qui sinuosis interstitiorum anfractibus nunc in angustias freti contractioris euadens, nunc in latitudinem sinu diffusiore procurrens complures insulas creat.“ 105 Ebd.10 (Prolog 2.2). 106 Ebd.12–16 (Prolog 2.7).

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wimmelnden Gebiet getrennt – und da die Seefahrt in dieser Region sehr gefährlich sei, seien nur wenige Seefahrer je dahin gelangt. 107 Dieses Bild eines noch nördlich von Skandinavien gelegenen Territoriums bleibt unscharf, fast etwas widersprüchlich gegenüber Saxos Versicherung an anderer Stelle, im arktischen Norden sei wegen des unerträglich kalten Klimas kein menschliches Leben möglich. 108 Wiederum in einem anderen Zusammenhang wird das Meer nördlich der norwegischen Küste mit dem traditionellen Namen Gandvik bezeichnet; dieses werde nur durch eine schmale Landmasse von den nördlichen Ausläufern der Ostsee getrennt, so dass Skandinavien beinahe zu einer Insel geworden wäre. 109 Konsolidiert sich hier einerseits ein am Meer orientiertes geographisches Bild Skandinaviens 110, so wird mit dem geheimnisvollen Nordterritorium zugleich eine neue unerschlossene Welt entworfen, während die übrigen Inseln des nordischen Ozeans, abgesehen von Island, aus dem dänischen Blickfeld rücken. Die Dynamik maritimer Erkundungen in den nördlichen Bereichen des Atlantiks erscheint verblasst.

107 Ebd.16 (Prolog 2.8): „Eadem [= Noruagia] a septentrione regionem ignoti situs ac nominis intuetur, humani cultus expertem, sed monstruose nouitatis populis abundantem, quam ab aduersis Noruagie partibus interflua pelagi separauit immensitas. Quod cum incerte nauigationis existat, perpaucis eam ingredientibus salutarem reditum tribuit.“ Bemerkenswerterweise ergeht sich Saxo hier nicht in genaueren Vorstellungen von „populis monstruose novitatis“. 108 Ebd.12 (Prolog 2.6), wo es mit Bezug auf die zum Arcton hin sich erstreckenden Gebiete Schweden und Norwegen heißt: „Post quas humanis sedibus locum inusitata algoris seuitia non relinquit.“ 109 Ebd.16 (Prolog 2.9): „Inferior uero meatus eius [= Oceani] Noruagieque latus septentrionale preteriens ad ortum uersus magno cum latitudinis incremento solido limitatur anfractu. Quem maris terminum gentis nostre ueteres Ganduicum dixere. Igitur inter Ganduicum et meridianum pelagus breue continentis spacium patet, maria utrinque secus allapsa prospectans.“ Das Bild der Insel ergibt sich besonders deutlich, da Saxo hier die Ostsee als oberen Strom (superior flexus Oceani), das Nordmeer als unteren Strom (inferior meatus) denkt. Zur Bezeichnung Gandvik siehe auch Rudolf Simek, Altnordische Kosmographie. Studien und Quellen zu Weltbild und Weltbeschreibung in Norwegen und Island vom 12. bis zum 14.Jahrhundert. (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 4.) Berlin/New York 1990, 204. 110 Siehe auch Mortensen, Language (wie Anm.96), 115f., dessen angedeuteter Bezug der geographischen Passagen auf ein römisches Modell sich aus dem Text jedoch m.E. kaum aufdrängt.

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VI. Atlantische Interaktionsräume und Erkundungswege Für das norwegische Königreich hingegen behielt ein weit nach Westen ausgreifender Inselraum im Hochmittelalter durchaus prägenden Charakter: Nicht nur die Orkney- und Shetland-Inseln unterstanden norwegischer Herrschaft 111; Könige wie Magnus Olavsson (1093–1103) und Håkon IV. Håkonsson (1217–1263) brachten auch ihren Anspruch auf Oberhoheit über das die Hebriden und die Isle of Man umfassende „Königtum der Inseln“ vehement zur Geltung. 112 Schließlich musste sich auch der isländische Freistaat in der Folge bürgerkriegsartiger Konflikte 1262 der norwegischen Krone unterstellen, nachdem sich bereits in den vorangehenden Jahrzehnten die Bindungen isländischer Großer nach Norwegen, dem Ausgangspunkt des Schiffsverkehrs in Richtung Island, deutlich verstärkt hatten. 113 Die Relevanz dieser Inselwelt aus norwegischer Perspektive, aber auch der exotisierende Blick, der auf sie gerichtet wurde, kommen in der Historia Norwegie deutlich zum Ausdruck. Diese widmet mehr als die Hälfte ihres geographischen Vorspanns den tributpflichtigen Inseln. Beginnend mit den Solund-Inseln unmittelbar vor der südnorwegischen Küste, über die Orkneys einschließlich der von Kleinkönigen beherrschten Merediane Insule (Hebriden), über die Schafsinseln (Färöer) bis Island, das selbstverständlich mit ultima Tile identifiziert wird, folgt die Abhandlung dabei gleichsam der maritimen Verbindungslinie. 114 Mit guten Gründen kann daher von einem, wenn auch weithin informell ausgeprägten norwegischen Seeimperium im nördli-

111 Vgl. Sinclair, Brief History (wie Anm.28), 25–76; Barbara Crawford, Papa Stour: Survival, Continuity and Change in One Shetland Island, in: Alexander Fenton/Hermann Pálsson (Eds.), The Northern and Western Isles in the Viking World. Survival, Continuity and Change. Edinburgh 1984, 40–58; die Zeugnisse der Sagas zu den Inseln untersucht Jean Renaud, Archipels norrois. Orcades, Shetland et Hébrides dans le monde Viking. Göppingen 1988. Zur norwegischen Präsenz im Norden des schottischen Festlands siehe auch Barbara Crawford, The Earldom of Caithness and the Kingdom of Scotland, 1150–1266, in: Keith J. Stringer (Ed.), Essays on the Nobility of Medieval Scotland. Edinburgh 1985, 25–43. 112 Zur Geschichte dieses Königtums grundlegend R. Andrew McDonald, The Kingdom of the Isles. Scotland’s Western Seaboard, c. 1100 – c. 1336. East Linton 1997, hier bes. 34–38 und 88–130; Archibald A. M. Duncan/A. L. Brown, Argyll and The Isles in the Earlier Middle Ages, in: Proceedings of the Society of Antiquaries of Scotland 90, 1956/57, 192–220, bes. 192–194, 212–216. 113 Vgl. M. Stefánsson, Island, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 5. München/Zürich 1991, 689–695, hier 693f.; Jesse L. Byock, Viking Age Iceland. London 2001, 263–266, 341–353. 114 Vgl. Ekrem/Mortensen (Eds.), Historia Norwegie (wie Anm.28), 64–74 (V–VIII) mit der Gesamtüberschrift „De tributariis insulis“. Zum Raum um die Orkneys heißt es ebd.64 (V 3): „Que quidem diuersis incolis acculte nunc in duo regna sunt diuise: Sunt enim Merediane Insule regulis sublimate, Brumales uero

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chen Atlantik des 12. bis 14.Jahrhunderts gesprochen werden, obgleich das Ausmaß der zugrunde liegenden Seeverbindungen nicht überschätzt werden sollte. 115 Auch die großen Gefahren und Unwägbarkeiten der Schifffahrt über diese weiten Strecken offenen Meeres haben ihre Spuren in der Überlieferung hinterlassen. 116 Somit dürfte dieser noch in einem großen Abstand von den arktischen Breiten gelegene maritime Großraum nicht nur den Akteuren maritimer Konnektivität selbst, sondern auch vielen „Beobachtern“ an seinen verschiedenen Küsten wohlvertraut gewesen sein: Das impliziert jedoch keineswegs, dass es sich um einen generell im lateinischen Abendland (gut) bekannten, gar vertrauten Raum gehandelt hätte; vielmehr verblieb diese Zone für weite Teile Europas ein kaum erschlossener Bereich des Ozeans am äußersten Rande der kanonischen Weltwahrnehmung. 117 Der „norwegische Atlantik“ erweist sich somit als ein zeitgebundener, Konjunkturen und räumlichen Verlagerungen unterliegender, anthropogen konstituierter Teilraum innerhalb des Atlantiks. In ähnlicher Weise ließen sich auch andere „atlantische Meere“ voneinander abgrenzen, etwa der im Spätmittelalter von „der Han-

comitum presidio decorate, qui utrique regibus Norwegie non modica persoluunt tributa.“ Auf Grönlands Rückbindung an Island hatte der Autor bereits zuvor Bezug genommen, vgl. ebd.54 (I 10–14). 115 Vgl. die Beiträge in: Steinar Imsen (Ed.), The Norwegian Domination and the Norse World c. 1100 – c. 1400. Trondheim 2010. Eine eher skeptische Einschätzung der Maritimität Norwegens (wie auch Dänemarks) gibt Carsten Jahnke, Die „Nordsee“, ein verbindendes oder trennendes Element?, in: Michael Borgolte/Nikolas Jaspert (Hrsg.), Maritimes Mittelalter. Meere als Kommunikationsräume. (Vorträge und Forschungen, Bd. 83.) Ostfildern 2016, 195–211, hier bes. 201–205. 116 Beispielsweise in der Episode vom tödlichen Schiffbruch des Königs Harald Olafsson von Man und seiner norwegischen Gattin Caecilia auf ihrer Rückkehr aus Norwegen 1248 vor den Shetlandinseln, vgl. R. Andrew McDonald, The Manx Sea Kings and the Western Oceans. The Late Norse Isle of Man in Its North Atlantic Context, 1079–1265, in: Hudson (Ed.), Studies in the Medieval Atlantic (wie Anm.9), 143–183, hier 143f. 117 Das zeigt sich noch im Bericht des venezianischen Kaufmanns Pietro Querini über seine Odyssee, nachdem sein Schiff im November 1431 auf dem vertrauten Seeweg nach Brügge durch einen Sturm vom Kurs abkam, womit für Querini und einige Begleiter eine lange atlantische Irrfahrt fast ohne Orientierung einsetzte, die schließlich vor den norwegischen Lofoten endete und in einen längeren Aufenthalt bei lokalen Fischern „nel cerchio del paradiso“ mündete: Viaggio e naufragio di Pietro Quirino, gentiluomo viniziano, in: Giovanni Battista Ramusio, Navigazioni e viaggi. Ed. Marica Milanesi. Vol.4. Turin 1983, 47–98, hier 94. Auch Enea Silvio Piccolomini geriet wenige Jahre später auf einer Gesandtschaftsreise nach Schottland in einen Sturm, der das Schiff in Richtung Norwegen abtrieb. Für ihn schienen gleichfalls im Norden die geübten Techniken der Navigation zu versagen, siehe Adrian Van Heck (Ed.), Pii II Commentarii rerum memorabilium que temporibus suis contigerunt. Vol.1. (Studi e Testi, Vol.312.) Città del Vaticano 1984, 45 (I.5): „adeoque intra oceanum et septentrionem nauis excurrit, ut nulla iam celi signa naute cognoscentes spem omnem salutis amitterent.“

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se“ geprägte Interaktionsraum in der Nordsee, die anglo-französische Verbindungsund Konfliktzone vom Ärmelkanal bis zu den Küsten der Gascogne 118, aber auch der „arabische Atlantik“ mit seinen vielseitigen Akteuren, die auch an die antiken Seeverbindungen an der nordwestlichen Küste Afrikas anknüpften. 119 So besteht die Erschließungsdynamik des atlantischen Raums im Mittelalter nicht nur in Erkundungen, die sich auf bislang noch gänzlich unbekanntes Land im Meer richteten, sondern auch in der Erkundung von grundsätzlich bereits seit der Antike bekannten Küsten durch Akteure aus atlantischen Teilbereichen, für die diese Küsten gleichwohl „Neuland“ darstellten. Dass derartige Erkundungen keinesfalls nur mit friedvollen Absichten erfolgten – man denke nur an die Züge der Nordmänner entlang der Küsten des Frankenreichs 120, teils weiter nach al-Andalus und darüber hinaus 121 – braucht nicht eigens betont zu werden. Das gilt auch für das atlantische Kreuzzugsunternehmen von 1147, in dessen Verlauf eine aus England und den niederen Rheinlanden aufgebrochene Flotte das arabische Lissabon eroberte und so eine wesentliche Voraussetzung für die Konsolidierung des jungen Königreichs Portugal schuf. 122 Doch der in einer 118 Eine umfassende Charakterisierung der maritimen Anbindungen der an einer Schnittstelle der europäischen Atlantikküsten gelegenen Normandie ist kürzlich unternommen worden: Éric Barré, La Normandie médiévale et la mer, essai d’état des connaissances, in: Gilles Désiré dit Gosset/Bernard Garnier/Alain Hugon et al. (Eds.), Des galères méditerranéennes aux rivages normands. Recueil d’études en hommage à André Zysberg. Caen 2011, 317–342. 119 Dazu grundlegend Christophe Picard, L’océan Atlantique musulman. De la conquête arabe à l’époque almohade. Navigation et mise en valeur des côtes d’al-Andalus et du Maghreb occidental (Portugal-Espagne-Maroc). Paris 1997; siehe auch ders., La mer et les musulmans d’Occident au Moyen Age, VIIIe–XIIIe siècle. Paris 1997; Butel, Histoire de l’Atlantique (wie Anm.16), 38–41; Hudson, Prologue (wie Anm.9), 16. 120 Zettel, Bild der Normannen (wie Anm.42), 177–181, 223f.; zu militärischen Details siehe Carroll M. Gillmor, War on the Rivers. Viking Numbers and Mobility on the Seine and Loire, 841–886, in: Viator 19, 1988, 79–109. 121 Siehe Picard, La mer et les musulmans (wie Anm.119), 20–25; ders., L’océan Atlantique (wie Anm. 119), 71–90; Ann Christys, Vikings in the South. Voyages to Iberia and the Mediterranean. London/New York 2015. 122 Zu den Hintergründen der Expedition und darin erkennbaren maritimen Interessen vgl. Charles West, All in the Same Boat? East Anglia, the North Sea World and the 1147 Expedition to Lisbon, in: David Bates/Robert Liddiard (Eds.), East Anglia and Its North Sea World in the Middle Ages. Woodbridge 2013, 287–300; siehe auch Matthew Bennett, Military Aspects of the Conquest of Lisbon, 1147, in: Jonathan Phillips/Martin Hoch (Eds.), The Second Crusade. Scope and Consequences. Manchester/New York 2001, 71–89, bes. 72–75; Susan B. Edgington, The Capture of Lisbon: Premeditated or Opportunistic?, in: Jason T. Roché/Janus Møller Jensen (Eds.), The Second Crusade. Holy War on the Periphery of Latin Christendom. (Outremer, Vol.2.) Turnhout 2015, 257–272.

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englischen Handschrift überlieferte Bericht eines anonymen Beteiligten 123 lässt in einigen Abschnitten auch deutlich den Blick eines Erkundenden erkennen. Während die auf offener See zurückgelegte 124 Strecke zwischen Dartmouth und der iberischen Küste nahezu vollständig übergangen wird, schärft sich der Blick des Beobachters, sobald die schon aus der Ferne wahrgenommenen Gipfel der Pyrenäen erkennbar werden, auch wenn sich der Autor kurioserweise in der Nähe von Mallorca (Balearicam maiorem) wähnt. 125 Nachdem ein Seesturm mit ungewohnter Finsternis (tenebrositas), heftigen Strömungen und Sirenengeräuschen für vollkommene Orientierungslosigkeit gesorgt hatte, erreichten die Schiffe schließlich bei einem San Salvador bzw. Mala Rupis genannten Hafen nahe der asturischen Hauptstadt Oviedo die Küste. 126 Die weitere Route entlang der Küsten Asturiens und Galiziens führte über Ortigia (wohl Kap Ortegal) bis zu einem eindrucksvollen Leuchtturm (ad turrem Faris), den Julius Caesar habe anlegen lassen, damit dorthin die gesamten Einkünfte und causae interminabiles sowohl Britanniens und Irlands als auch der Hispania gebracht würden. 127 Es besteht kein Zweifel, dass damit der römische Herculesturm von La Coruña gemeint ist. 128 Vom Fluss Tambre aus wird Santiago de 123 Die frühere Identifizierung des Autorennamens als Osbern aufgrund der stark gekürzten Grußformel zu Beginn des Berichts ist problematisch und eher abzulehnen, vgl. die Diskussion der Autorenfrage durch Charles Wendell David (Ed.), De expugnatione Lyxbonensi. The Conquest of Lisbon. New York 1936 (Reprint 2001), 40–46. 124 Dies geht aus der deutlich knapperen niederdeutschen Parallelquelle hervor, einem in mehreren Versionen existierenden Briefbericht, der als Brief des Priesters Duodechin von Lahnstein an Abt Kuno von Disibodenberg in die Annalen dieses Klosters inseriert worden ist, siehe Annales sancti Disibodi. Ed. Georg Waitz. (MGH Scriptores, Bd. 17.) Hannover 1861, 4–30, hier 27: „Ibi [= in Dartmouth] per triduum commorati, 6. feria ante rogationes navigavimus continuos octo dies et noctes in alto mari laborantes.“ 125 Wendell David (Ed.), De expugnatione (wie Anm.123), 58: „Quarta feria vento incumbente prospero Balearicam maiorem, scilicet montium Pyreneorum capita, undarum magnitudine et fervore maris, comperimus.“ 126 Ebd.60 mit Anm.3 zur Begründung der Identifizierung mit dem Hafen von Gozón und nicht Gijón; vgl. die Aussage des Duodechin-Briefes, Annales sancti Disbodi (wie Anm.124), 27 „in portum Hispaniae qui Gozzim dicitur“. 127 Wendell David (Ed.), De expugnatione (wie Anm.123), 62: „Exin ad turrem Faris, que olim a Iulio Cęsare constructa, admirandi operis, ut ibidem reditus et cause interminabiles totius Britannię et Hybernie et Hyspanie quasi in meditullio commearent. Est enim adeo sita inter meridionalem et occidentalem plagam ut prima sit littoris appulsio recto tramite a Britannia venientium.“ 128 Zu diesem Ort weiß der Autor auch von einer ins Meer hineinragenden Brücke zu berichten, deren 24 Bögen angeblich erst kürzlich wieder aufgetaucht seien, was er als Vorzeichen für die Zerstörung der Idolatrie (das heißt des Islam) in der Hispania ansieht; vgl. Wendell David (Ed.), De expugnatione (wie Anm. 123), 64.

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Compostela kurz in den Blick genommen 129, dann die schlangenreiche Insel „Flamba“ (wohl eine der kleinen Inseln vor der Pontevedra-Bucht), die wiederum als Teil der Balearen identifiziert wird. 130 Die Namen weiterer Häfen markieren den Weg bis Porto (Portugala), wo die Kreuzfahrer schließlich im Namen des abwesenden Königs Alfons durch den Ortsbischof empfangen werden. Bemerkenswert an dieser Erkundungstour entlang einer atlantischen Küste ist vor allem die mit dem Caesar-Leuchtturm verbundene römische Reminiszenz; sie überstrahlt im englischen Bericht – ganz im Gegensatz zum niederdeutschen Blickwinkel 131 – selbst Santiago und weist die Küste nicht nur als eine alte Kulturlandschaft aus, sondern stiftet auch einen mentalen „transatlantischen“ Bezug zum Herkunftsraum des Autors, den Britischen Inseln.

VII. Conclusio Das führt zum Ausgangspunkt zurück: Der „mittelalterliche Atlantik“ bleibt in mancher Hinsicht amorph: Im Gegensatz zum zwar namenlosen 132, aber in seiner Gesamtheit geographisch vertrauten Mittelmeer bildete er für das mittelalterliche Lateineuropa keine klar umrissene Kategorie, weder im Hinblick auf geographische Vorstellungswelten, in denen der allumfassende, unermessliche Oceanus mit seinen kaum definierten „Teilmeeren“ die aus dem antiken Wissen tradierte entscheidende Kategorie blieb, noch im Hinblick auf maritime Interaktionen. Letztere kon-

129 Ebd.: „Exhinc ad portum Tambre devenimus vigilia Pentecostes. Distat autem ab ecclesia beati Iacobi miliaria VII.“ Bemerkenswerterweise ist dies die einzige Aussage zu Santiago, während Duodechin einen Besuch des Jakobusheiligtums am Pfingstfest erwähnt. 130 Wendell David (Ed.), De expugnatione (wie Anm.123), 66: „Insula hec una ex Balearibus est.“ 131 Bei Duodechin findet sich keine Erwähnung des Turmes oder der Brücke, zwischen Gozzim und Tambre/Santiago wird nur ein Hafen Viver eigens angeführt, vgl. Annales sancti Disbodi (wie Anm.124), 27. 132 Zu den in der Antike gebräuchlichen Bezeichnungen des Mittelmeeres, die kaum den Charakter von Eigennamen hatten, vgl. Viktor Burr, Nostrum mare. Ursprung und Geschichte der Namen des Mittelmeeres und seiner Teilmeere im Altertum. (Würzburger Studien zur Altertumswissenschaft, Bd. 4.) Stuttgart 1932. Zu frühmittelalterlichen Bezeichnungsweisen vgl. auch Sebastian Kolditz, Some Thoughts on the Carolingians and the Mediterranean – Theories, Terminology and Realities, in: Achim Lichtenberger/Constance von Rüden (Eds.), Multiple Mediterranean Realities. Current Approaches to Spaces, Resources and Connectivities. (Mittelmeerstudien, Bd. 6.) Paderborn 2015, 223–258, hier 228–231.

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stituierten vielmehr eine Diversität dynamisch veränderlicher Raumzusammenhänge. Einige situierten sich in seit römischer Zeit wohlvertrauten Teilbereichen des Atlantiks, andere griffen weit darüber hinaus, sei es entlang der Küstenlinien des Nordens oder über den offenen Ozean. Legt man den spätantiken kanonischen geographischen Kenntnisstand zugrunde, so kann zweifellos von einer frühmittelalterlichen Phase primär nordatlantischer Entdeckungen gesprochen werden. Diese Erkundungen fanden, wie sich gezeigt hat, einen gelehrten schriftlichen Niederschlag bei Autoren, von denen einige zweifellos hohen epistemologisch-methodischen Standards genügen. Dass daraus dennoch im Verlaufe des Mittelalters kein systematisch erweitertes und vertieftes Bild des atlantischen Meeres erwuchs, dürfte vor allem einem Charakteristikum geschuldet sein, das die meisten der hier diskutierten Texte verbindet: ihre teils ausgesprochen schmale Überlieferung und geringe, räumlich eingeschränkte Rezeption. Dies gilt letztlich auch für das Werk Adams von Bremen. Doch dabei darf nicht übersehen werden, dass dieses für die Bedürfnisse der Bremer Kirche geschriebene Werk ebenso wenig wie die Historia Norwegie oder Saxos Dänengeschichte auf eine breite Rezeption in der lateinischen Welt hin angelegt war. Die gerade hier so charakteristisch hervortretende „Regionalisierung“ innovativer geographischer Wissensbestände kann als ein wesentlicher Unterschied der mittelalterlichen Epoche sowohl gegenüber den antiken Vorläufern als auch gegenüber dem alles umgreifenden Wissenshunger und Synthesewillen des humanistischen Zeitalters angesehen werden. So blieb es Letzterem vorbehalten, begleitend zur neuen atlantischen Entdeckungsdynamik an der Schwelle zum 16.Jahrhundert den Atlantik als solchen erst wirklich zu konstituieren.

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Die Formierung der neuzeitlichen atlantischen Welt von Jürgen Elvert

Ausgangspunkt für die Erschließung des neuzeitlichen Atlantikraums war der Mittelatlantik, also der Raum zwischen den Kapverden, Kanaren, Madeira und den Azoren. Dabei ging es um die Etablierung maritimer Handelsrouten nach Südostasien. Da Portugal im Vertrag von Tordesillas das Privileg zur Nutzung der Route um das Kap der Guten Hoffnung bis nach Indien und dem Malaiischen Archipel zugesprochen worden war, blieb für die spanischen Monarchen nur die Westroute über den Atlantik. Mit der Einsicht, dass auf der Westroute Richtung China, Japan und Indien ein bis dahin in Europa unbekannter Kontinent lag, begann die Erschließung des Atlantischen Raumes. Der Handlungsrahmen der Europäer in Amerika unterschied sich grundlegend von dem in Südostasien: In Amerika stellte die Eroberung des Raumes die Voraussetzung für dessen Beherrschung dar, während in Südostasien die Etablierung von Handelsstützpunkten genügte, um die begehrten Handelsgüter Südostasiens nach Europa zu transportieren. Die Eroberung und Kolonisierung Amerikas schufen zudem die Rahmenbedingungen, unter denen sich der transatlantische Sklavenhandel für mehrere Jahrhunderte zu einem äußerst lukrativen Geschäft entwickelte. Die transatlantischen Geschäftsbeziehungen, die in diesem Zeitraum entstanden, bildeten wiederum die Voraussetzung für die Entstehung eines weltweiten Seehandelsnetzes, in dem zumindest im 19.Jahrhundert europäische Reeder und Überseekaufleute führend tätig waren.

I. Voraussetzungen Die vergleichsweise günstigen Umwelt- und Lebensbedingungen zwischen dem 11. und dem 14.Jahrhundert beeinflussten die Entwicklung der europäischen Gesellschaft spürbar. 1 Die zumindest punktuelle Bevölkerungsverdichtung in den neu gegründeten Städten ging einher mit der Bündelung und Erweiterung des zeitgenössischen Wissens – man denke an die Entstehung der ersten Universitäten –, das durch Migrationsbewegungen in viele Teile des Kontinents transferiert wurde und vor Ort Anwendung fand. Bevölkerungswachstum und Verstädterung wiederum stärkten die Nachfrage nach Handelsgütern und ließen zahlreiche Fernhandelsverbindungen entstehen. Dabei erfuhr der Seehandel zwischen dem 12. und dem

1 Vgl. dazu: Jürgen Elvert, Europa, das Meer und die Welt. Eine maritime Geschichte der Neuzeit. München 2018, 18f.

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110670547-009

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14. Jahrhundert eine besonders signifikante Zunahme. In diesen Zusammenhang gehört die vornehmlich in Mittel- und Nordosteuropa tätige Hanse, die zugleich intensive Wirtschaftsbeziehungen zum Mittelmeerraum pflegte, einem seit der Antike ebenfalls stetig gewachsenen weiteren Seehandelsraum. Während der langen Wachstumsperiode in Europa bestand daher zunächst keine Notwendigkeit zur Erschließung neuer Gebiete außerhalb Europas. Das änderte sich im 15.Jahrhundert unter dem Eindruck einer spürbaren Verschlechterung der Lebensbedingungen. 2 Nun sollten sich die maritimen Kompetenzen, die in den Jahrhunderten zuvor erworben worden waren, als hilfreich erweisen. Sie bildeten die Voraussetzung für das Erschließen neuer überseeischer Räume. Am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit waren die europäischen Küstengewässer von der Ostsee bis zum Mittelmeer bestens bekannt. Die Kenntnisse in Nautik und Schiffbau hatten sich deutlich verbessert, auch lagen bereits vereinzelte Informationen von Seereisenden vor, die von Fahrten ins Unbekannte und Ungewisse zurückgekehrt waren und von unermesslichen Reichtümern jenseits der Grenzen der damals bekannten Welt berichteten. Ihre Reiseberichte dürften von den Zeitgenossen auch deshalb als glaubwürdig eingeschätzt worden sein, weil seit längerem über Fernhandelsrouten wie die Seidenstraße oder das Rote Meer Luxusgüter auf dem See- und Landweg nach Europa gelangt waren. Doch infolge des Dauerkonflikts zwischen Christentum und Islam wurde der Transport dieser wertvollen Waren über Land nach Europa immer schwieriger, was die Suche nach schiffbaren alternativen Seehandelsrouten zusätzlich stimulierte. Und ökonomische Erwägungen gewannen zusätzlich an Attraktivität, wenn sie sich mit dem Kampf gegen den Islam verbinden ließen, schließlich versprach dieser neben dem Wohlwollen des Heiligen Stuhls in Rom die Aussicht für die beteiligten Akteure, Aufnahme im Paradies zu finden. Prinz Heinrich von Portugal war unter den ersten Europäern, welche die Möglichkeiten, die mit der Etablierung einer neuen Seehandelsroute nach Südostasien verbunden waren, erkannt hatten. 3 Um diesen neuen Raum besser kennenlernen und verstehen zu können, ließ der Prinz neue Routen erkunden, die neben einer Erweiterung des Horizonts wirtschaftliches Wachstum und attraktive Gewinne versprachen. Das so neu erschlossene Seegebiet umfasste die atlantische Inselwelt zwischen 2 Ebd.18f. 3 Vgl. Peter E. Russell, Prince Henry „the Navigator“. New Haven/London 2000, 109–113.

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den Azoren, Madeira und den Kapverdischen Inseln, zudem segelten portugiesische Schiffe entlang der afrikanischen Westküste gen Süden. Die Erkundung dieses Raumes lässt sich drei Phasen zuordnen. Die erste umfasst den Zeitraum von etwa 1415 bis 1443, mithin die ersten beiden Jahrzehnte belegbarer politischer und militärischer Aktivitäten des Prinzen. Die zweite Phase der von Heinrich geförderten Überseefahrten begann im Jahr 1443 mit der Rückkehr eines seiner Expeditionsschiffe von Arguin, einer Insel vor der Küste des heutigen Mauretanien, das Gold an Bord hatte. 4 Die Entdeckung des Inselhafens schien zu bestätigen, was sich Heinrich und die anderen Förderer der frühen portugiesischen Expeditionen immer erhofft hatten: Jenseits der Grenzen des bekannten Europa lockten interessante Handelsplätze, wo in Europa begehrte Waren zu günstigen Konditionen eingekauft und später in der europäischen Heimat mit satten Gewinnen wieder verkauft werden konnten. Von da an wurden die damit verbundenen Kosten für die Schiffe, deren Bewaffnung, Ausrüstung und Besatzung zwischen Heinrich, dem Hof und privaten Geldgebern geteilt. Daher kann diese Phase der portugiesischen Erkundungsfahrten entlang der afrikanischen Küste als die einer Public-Private Partnership bezeichnet werden. Die Beteiligung privaten Kapitals sorgte für eine spürbare Dynamisierung der Afrikafahrten. Allerdings fanden reine Entdeckungsfahrten in unbekannte Seegebiete mehrere Jahre lang kaum noch statt, da die ökonomischen Potentiale des bis dahin erkundeten Seegebiets groß genug waren, um die wirtschaftlichen Interessen der Europäer zufriedenzustellen. Erst ein königlicher Erlass aus dem Jahre 1454 konnte dies ändern, in dem Prinz Heinrich mit der Durchführung neuer maritimer Expeditionen betraut wurde mit dem Ziel, endlich auch den Seeweg nach Indien zu finden. Damit begann die dritte Phase der frühen portugiesischen Erkundungsfahrten, die allerdings erst nach dem Tod Heinrichs (1460) um 1469 ihre volle Dynamik entfalten konnte. Sie ist gekennzeichnet durch eine Veränderung des rechtlichen Status der Expeditionen. Nunmehr konnte ein Kaufmann oder Schiffseigner gegen eine hohe jährliche Konzessionsgebühr das Monopol im Afrikahandel erwerben, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Konzessionär pro Jahr etwa 100 Leguas – also etwa 600 Kilometer – neue Küstenlinie entlang der afrikanischen Westküste gen Süden erkundete. 5

4 Silvio Sandrone/Alain Wagner, Henry the Navigator and the Moon, in: Acta Astronautica 64, 2009, 484– 493, hier 489. 5 Vgl. Russell, Prince Henry (wie Anm.3).

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In Bezug auf die Schiffbautechnik lässt sich feststellen, dass die Erfahrungen, welche die Schiffsführer auf ihren Afrikareisen machten, sich nach der Rückkehr in entsprechenden Umbauten oder Veränderungen an der Takelage oder – bei Neubauten – in der Bauweise des Rumpfes niederschlugen. Bereits vorhandene schiffbautechnische Fähigkeiten wurden im Verlauf des 15.Jahrhunderts infolge der immer weiteren Seefahrten ins Ungewisse und vor allem der langwierigen Rückkehr von solchen Fahrten weiterentwickelt, so dass am Ende des Jahrhunderts lange Überseefahrten entlang der westafrikanischen Küste, in den Indischen Ozean oder über den Atlantik technisch möglich waren. Die zeitgenössischen Überlieferungen zu den portugiesischen Übersee-Expeditionen lassen darauf schließen, dass auf den Fahrten fünf verschiedene Schiffstypen eingesetzt wurden: die Barke, der Barinel, die Fusta, die Nau und die Karavelle. 6 Zu Letzterer ist die Überlieferung vergleichsweise gut, während Kenntnisse über die Besonderheiten der vier anderen Typen im 14. und 15.Jahrhundert eher spärlich sind. Bei der Karavelle dominierten eindeutig die mediterranen Einflüsse, bei der Nau, einem Schiffstyp, der bei den Übersee-Expeditionen des ausgehenden 15. und frühen 16.Jahrhunderts zum Einsatz kam, klangen deutlich Einflüsse der nordeuropäischen Schiffbautradition an. Die Nau war ein erstes echtes Vollschiff, geriggt mit einer Kombination aus Rah- und Lateinersegeln (Abb.1). Es erinnerte in seiner Rumpfform an die Koggen der Hansezeit, besaß mit der Volltakelung allerdings deutlich bessere Segeleigenschaften. Seine Entwicklungsgeschichte beginnt ebenfalls schon vor den eigentlichen Entdeckungsfahrten und hängt zusammen mit dem Ende des 14., Anfang des 15.Jahrhunderts spürbar steigenden europäischen Fernhandelsvolumen über See, mit dem auch der Bedarf an Massengutfrachtschiffen wuchs. Karavellen waren zwar aufgrund ihrer Wendigkeit und hohen Geschwindigkeit für lange Seefahrten in unbekannten Gewässern besonders gut geeignet, wegen ihrer vergleichsweise geringen Größe wurde aber fast der gesamte Stauraum für den Proviant der Besatzung benötigt. Daher kamen in der dritten Phase der portugiesischen Expansion nach 1460 immer öfter Naus zum Einsatz. 7

6 Vgl. den Beitrag von Raimund Schulz in diesem Band; ferner dazu: Richard W. Unger, Portuguese Shipbuilding and the Early Voyages to the Guinea Coast, in: ders., Ships and Shipping in the North Sea and Atlantic, 1400–1800. Aldershot 1997, 229–249. 7 Ebd.236.

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Abb.1: Gerhard von Kempen: Stadtplan von Lissabon, 1598, in: Georg Braun/Franz Hogenberg, Civitates orbis terrarum, Bildarchiv Historisches Museum Frankfurt.

Mit der Kombination hochseegängiger Schiffe, guter geographischer Kenntnisse, nautischer Hilfsmittel wie Jakobstab und Kompass sowie einem gewissen Maß an Vertrautheit mit astronomischen Konstanten waren die Voraussetzungen erfüllt, um den Schritt von der Küstennavigation zur Hochseenavigation zu wagen. Karte, Kompass und Log waren die Werkzeuge, die erfahrene Navigatoren des 15.Jahrhunderts für die Standortbestimmung auf hoher See zur Hand hatten. Sie erfolgte mittels Koppelnavigation, also der Positionsbestimmung durch Messen des Kurses und der Geschwindigkeit unter Bezugnahme auf den Abfahrtsort. Ferner müssen in die Berechnung Faktoren wie Abdrift, Strömungsverhältnisse oder Missweisung des Kompass einbezogen werden. Im Idealfall liegt die Abweichung von der gekoppelten und der tatsächlich zurückgelegten Strecke dann bei unter fünf Prozent. Je länger die zurückgelegte Strecke, desto größer fällt allerdings die Fehlerquote aus, erst recht wenn sich keine Gelegenheit zur Korrektur der Positionsbestimmung mittels eines weiteren festen Ortes bietet. Die frühe transatlantische Seefahrt stellte also

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hohe Anforderungen an das navigatorische Können der Schiffsführer. Neue Untersuchungen zur ersten Ozeanüberquerung des Christoph Kolumbus haben allerdings gezeigt, dass um 1500 mittels Koppelnavigation bereits vergleichsweise zuverlässige Positionsbestimmungen auf hoher See möglich waren. 8

II. Räume Ausgangspunkt für die Erschließung des neuzeitlichen Atlantikraums war der Mittelatlantik, genauer: der Raum zwischen den Kapverden, Kanaren, Madeira und den Azoren. Zu diesem Gebiet lagen im zweiten Jahrzehnt des 15.Jahrhunderts bereits gewisse geographische Kenntnisse vor. Mit der Umrundung des Kaps der Guten Hoffnung durch Bartolomeu Diaz im Jahre 1488 war die afrikanische Westküste und damit der östliche Teil des Südatlantiks umrundet, Vasco da Gamas Indienfahrt leitete 1498 den regelmäßigen Schiffsverkehr von Europa nach Südostasien ein. Am 9.März 1500 brach Pedro Álvares Cabral mit dreizehn Schiffen zur zweiten Indienfahrt auf. Wie üblich hatte Cabral von den Kapverdischen Inseln aus den Volta do Mar, einen weiten Bogen nach Westen geschlagen, um unter Ausnutzung der Windund Strömungsverhältnisse möglichst problemlos das Kap der Guten Hoffnung zu erreichen. Dass bei dieser Gelegenheit am 21.April 1500 im Westen Land gesichtet wurde, dass die Flotte Cabrals am 23.April nahe dem heutigen Porto Seguro die brasilianische Küste erreichte und das Land für Portugal in Besitz nahm, wird in den Chroniken der Fahrt nur am Rande erwähnt. 9 Dafür gibt es unterschiedliche Erklärungen. Entweder hielt Cabral die Küste für eine weitere Insel, ähnlich wie Madeira, die Kanarischen Inseln, die Azoren oder die Kapverden; oder ihm war die Existenz von Land an der Westküste des Südatlantiks bereits aus Berichten anderer Seefahrer bekannt, die auf dem Rückweg von der südostafrikanischen Küste gen Norden ebenfalls einen weiten Bogen in den Atlantik geschlagen hatten, um von dort aus in einem Schlag die portugiesische Küste zu erreichen. 10 Das würde bedeuten, dass in 8 Vgl. Douglas T. Peck, The Empirical Reconstruction of Columbus’ Navigational Log and Track of his 1492–1493 Discovery Voyage, in: The Journal of Navigation 64, 2011, 193–205. 9 Magda von der Heydt-Coca, Andean Silver and the Rise of the Western World, in: Critical Sociology 31, 2005, 481–513, hier 492. 10

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Elvert, Europa (wie Anm.1), 63f.

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den einschlägigen Berichten der portugiesischen Seefahrer die brasilianische Küste um 1500 bereits als eine Art Wegmarke auf der Route zum Kap der Guten Hoffnung beziehungsweise auf der Heimreise nach Portugal galt. Denn der südamerikanische Teil des portugiesischen Weltreichs sollte erst einige Jahre später, nach der Entdeckung größerer Diamantenvorkommen, an Bedeutung gewinnen. Die portugiesischen und spanischen Schiffsführer verfassten Berichte, in denen sie unter anderem Angaben über die meteorologischen und Strömungsverhältnisse auf hoher See machten. Diese wurden ab 1502 in der Casa da Índia in Lissabon bzw. der Casa de Contratación in Sevilla gesammelt und ausgewertet; man kann so davon ausgehen, dass das europäische Wissen über das Seegebiet zwischen der Iberischen Halbinsel, dem Golf von Mexiko und dem Kap der Guten Hoffnung im dritten Jahrzehnt des 16.Jahrhunderts bereits recht solide war. 11 Die Idee, dass man auf dem westlichen Seeweg nach Indien schneller vorankommen könnte als auf der langwierigen und mühsamen Tour nach Süden entlang der afrikanischen Westküste und um das Kap der Guten Hoffnung herum, war keineswegs neu, als Kolumbus dieses Projekt aufgriff. Wann und unter welchen Umständen er erstmals mit dem Gedanken der Westpassage in Berührung kam, ist nicht überliefert. Allerdings dürften entsprechende Überlegungen in der zweiten Hälfte des 15.Jahrhunderts des Öfteren unter Seefahrern diskutiert worden sein. 12 Dass man auf West- oder Südwestkursen von Europa aus im Atlantik auf Land stoßen würde, hatten bereits die Entdeckungen der Azoren, Madeiras, der Kanaren und der Kapverden gezeigt. Kolumbus’ Berechnungen zufolge lag China lediglich etwa 3500 Meilen westlich der Kanarischen Inseln. Diese Distanz war zwar groß, aber angesichts des portugiesischen maritimen Knowhows und der ausgezeichneten Schiffe, die ihre Hochseetauglichkeit immer wieder auf den Rückfahrten von Afrika unter Beweis stellten, durchaus überwindbar. Allerdings fußten seine Berechnungen auf der ptolemäischen Berechnung des Erdumfangs, eine Berechnung, die unter den Wissenschaftlern des ausgehenden 15.Jahrhunderts durchaus kontrovers diskutiert wurde – zu Recht, wie wir heute wissen. 13 11 Ebd.108–110. 12 Annerose Menninger, Historienfilme als Geschichtsvermittler. Kolumbus und Amerika im populären Spielfilm. Stuttgart 2010, 38. 13 Vgl. Lincoln Paine, The Sea and the Civilization. A Maritime History of the World. New York 2013, 390 u.ö.; Raimund Schulz, Abenteurer der Ferne. Die großen Entdeckungsfahrten und das Weltwissen der Antike. 2.Aufl. Stuttgart 2016, 460f.

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Um 1500, als die Menschheit ausschließlich auf natürliche Energieträger angewiesen war und Schiffsführer auf ihren Reisen von günstigen Wind- und Strömungsverhältnissen abhingen, war der Einfluss von Umweltfaktoren wesentlich größer als heute. Vergleichsweise gering entwickelte navigatorische Techniken und zumindest anfangs unzureichende geographische Kenntnisse machten das Leben auf See zusätzlich schwer. Kolumbus mochte geplant haben, die Ostküste Asiens auf Westkurs über den Atlantik zu erreichen, aber dass er auf der Insel Guanahani erstmals amerikanischen Boden betrat, ist primär auf die Corioliskraft des großen Nordatlantischen Wirbels und die vorherrschenden Windverhältnisse auf der Nordhalbkugel der Erde zurückzuführen. 14 Die Meeresströmungen in der Karibik und im Golf von Mexiko beeinflussten die Erkundung dieses Raums auch nach Kolumbus noch ganz erheblich, weil der Nordatlantische Wirbel das Wasser an den Kleinen Antillen vorbei in das Karibische Meer, dann zwischen Mexiko und Kuba hindurch in den Golf von Mexiko presst. Dort bewegt sich das hineinströmende Wasser im Uhrzeigersinn, wobei es zugleich erwärmt wird. Als Golfstrom fließt es durch die Floridastraße zurück in den Atlantik, wo es im Nordatlantischen Wirbel zunächst gen Norden entlang der nordamerikanischen Küste getrieben wird und dann Richtung Nordosten bis nach Europa strömt, wo es unser Klima nachhaltig beeinflusst (Abb.2). Schon um 1500 zählte die von diesem Strömungsverlauf gekennzeichnete Route zu den Hauptverkehrswegen über den Atlantik. Für die Reise nach Amerika gab es zwei bevorzugte Strecken. Die nördliche führte von den Kanarischen Inseln in Richtung Bahamas und entsprach somit weitgehend der Route, die Kolumbus auf seiner ersten Reise gewählt hatte. Schiffe mit Zielhäfen auf dem mittel- und südamerikanischen Festland steuerten üblicherweise zunächst die Kapverdischen Inseln an, bevor sie Kurs auf die Kleinen Antillen nahmen und von dort weiter in Richtung terra firma, also in Richtung amerikanisches Festland gelangten. Nach Europa zurückkehrende Schiffe nutzten hingegen gerne die Schubkraft des Golfstroms und nahmen nach der Passage durch die Floridastraße Kurs auf die Azoren. 15 Anhand von Karten lässt sich das in Europa vorhandene geographische Wissen von der Welt Mitte der

14

René Alexander Marboe, Zur Einführung. Schiffbau und Nautik im vorneuzeitlichen Europa, in: ders./

Andreas Obenaus (Hrsg.), Seefahrt und die frühe europäische Expansion. Wien 2009, 11–36, hier 24. 15

René Alexander Marboe, Das Schiff als Träger der spanischen Expansion, in: ders./Obenaus (Hrsg.), See-

fahrt (wie Anm.14), 123–152, hier 138.

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Abb.2: „Der warme Meeresstrom des Atlantischen und der kalte Strom des Großen Ozeans“ – HumboldtStrom und Golfstrom; Quelle: Heinrich Berghaus, Allgemeiner Hydrographischer Atlas. Eine Sammlung von sechszehn Karten, welche die, auf die flüssige Umhüllung der Erde bezüglichen Erscheinungen nach ihrer geographischen Verbreitung und Vertheilung abbilden und versinnlichen. Gotha 1850.

1520er Jahre recht gut rekonstruieren. 16 Im Hinblick auf die amerikanische Ostküste ist festzuhalten, dass deren Verlauf von Neufundland im Norden bis zur Magellanstraße im Süden offensichtlich bereits recht gut bekannt war, am präzisesten freilich war die topographische Darstellung der Karibik und des Golfs von Mexiko. Das Wissen um die Verhältnisse im Hinterland nahm mit der Entfernung von der Küste aber ab und endete nach etwa 50 bis 100 Kilometern. Der Atlantik gab den Raum für die Beziehungen zwischen der Alten und der Neuen Welt, die sich bei den seit 1500 ständig zunehmenden Kontakten zwischen

16 Antonio Sánchez, An Official Image of the World for the Hispanic Monarchy. The Padrón Real of the Casa de Contratación in Seville, 1508–1606, in: Nuncius 29, 2014, 389–438, hier 47.

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Europa und Amerika in den folgenden Jahrhunderten rasch entwickelten, mittels der hier vorherrschenden Wind- und Strömungsverhältnisse gewissermaßen vor. Sicher hätten die Schiffe auf anderen Kursen segeln können – und taten dies gelegentlich –, aber die Hauptverkehrsadern für den Schiffsverkehr zwischen Europa und der Neuen Welt blieben zumindest in der Ära der Segelschifffahrt weitgehend unverändert. Im Verlauf des 16.Jahrhunderts wurden sie zum Schauplatz der sogenannten Carrera de las Indias, jenes Systems von Flottenverbänden also, die etwa seit Mitte des Jahrhunderts zweimal jährlich den Atlantik in beiden Richtungen überquerten. 17 Sie versorgten die spanischen Kolonien mit Nachschub an Menschen und Material und transportierten auf der Rückreise Edelmetalle und andere kostbare Güter aus den überseeischen Besitzungen ins Mutterland. Wie Nabelschnüre verbanden die Routen die in der Neuen Welt gegründeten Kolonien mit den Mutterländern, so dass man schließlich von der „atlantischen Welt“ sprach. 18 Daran hat sich bis in die Gegenwart nur wenig geändert, man denke beispielsweise an den transatlantischen Dreieckshandel vom 16. bis zum 18.Jahrhundert oder an die Western Approaches, die transatlantischen Hauptversorgungslinien nach Großbritannien, über welche die Versorgung der Anti-Hitler-Koalition in Europa erfolgte und die deshalb das Haupteinsatzgebiet deutscher U-Boote auf der Jagd nach feindlichen Schiffskonvois waren. Auch heute noch müssen alle Handelsschiffe auf ihrem Weg von und nach Europa diese Routen nutzen, die damit zu den meistbefahrenen Seehandelsstraßen weltweit zählen. Das könnte sich allerdings ändern, wenn die Nordwestpassage infolge des Klimawandels eisfrei und damit ganzjährig schiffbar wird. Die Suche nach der Nordwestpassage wurde, nachdem feststand, dass auf der anderen Seite des Atlantik keinesfalls Asien, sondern mit Amerika eine völlig neue Welt und ein ganzer Kontinent lag, von spanischen, niederländischen, französischen und englisch-britischen Seefahrern mit großem Aufwand betrieben. 19 Zwar gelangte keine dieser Expeditionen bis an ihr eigentliches Ziel, doch kartierten diese Männer gleichsam en passant eine neue Geographie des atlantischen Kanada. Ihre Erfahrungen und Berichte wurden in der Heimat gesammelt und ausgewertet, um so künftige Expeditionen besser vorbereiten zu können. Trotz der wissenschaftli-

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17

Charles Verlinden, The Prolonged Discovery of America, in: Diogenes 40, 1992, 1–24, hier 2.

18

Marboe, Schiff (wie Anm.15), 138.

19

Elvert, Europa (wie Anm.1), 148.

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chen Auswertung erfolgreicher Expeditionen bestand im ausgehenden 16.Jahrhundert weiterhin aufgrund nach wie vor schlechter geographischer Kenntnisse, unpräziser navigatorischer Instrumente und nur bedingt hochseetauglicher Schiffe bei jedem neuen maritimen Unternehmen ein erhebliches Restrisiko.

III. Zusammenhänge Das Ausgreifen Europas nach Übersee und somit auch in den atlantischen Raum war möglich geworden, weil es in Europa genügend Expertise im Hinblick auf Seefahrt und Schiffbau gab. Dieses maritime Fachwissen ist wiederum das Ergebnis eines weit in die europäische Antike zurückreichenden Entwicklungsprozesses. In dessen Verlauf entdeckten und vermaßen Seefahrer und Kaufleute die meisten europäischen Küstenlinien und -regionen. Durch gezielte Beobachtung natürlicher Verhältnisse oder durch Nutzung von eigens zu diesem Zweck entwickelten Instrumenten lernten sie, sich in unbekannten Gewässern zurechtzufinden und zu bewegen. Überdies entwickelten sie neue Techniken zum Bau von Schiffen, die so groß und stabil waren, dass sie den Herausforderungen von langen Überseereisen standhalten konnten. Konvergenzen gibt es meines Erachtens bei dem Leitmotiv, das eigentlich allen atlantischen Entdeckungsfahrten zugrunde lag: Es ging um die Suche nach neuen Handelswegen. Im Verlauf der Neuzeit entwickelte sich der Atlantik gewissermaßen zu einem europäisch-amerikanischen Binnenmeer. Das wurde während des Kalten Krieges besonders deutlich. Unter dem Eindruck des sowjetischen Machtstrebens wurde bereits Ende der 1940er Jahre eine westliche Verteidigungsallianz geschmiedet, die der Bedeutung des Atlantiks schon im Namen Rechnung trug: die Nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft. Zwischen 1949 und dem Ende des Kalten Krieges im Jahr 1989 gelang es ihr, die eigenen militärischen Kompetenzen zu Lande, in der Luft und auf dem Wasser so zu bündeln und miteinander zu verflechten, dass eine weitere Expansion des sowjetischen Machtbereichs in Europa verhindert wurde. Eine wesentliche Voraussetzung dafür war die Kontrolle des Atlantiks durch westliche See- und Luftstreitkräfte. Dadurch wurde die Versorgung des westlichen Teils von Europa sichergestellt, und man war jederzeit in der Lage, im nötigen Umfang Truppen und Material nach Europa zu entsenden. Der Atlantik wurde so zu einer Art „Mare Nostrum“ des Westens, ein westliches ,Binnenmeer‘, das die Alte und die Neue Welt miteinander verband.

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Die Unterschiede liegen natürlich im Räumlichen und damit in den wesentlich größeren Dimensionen des neuzeitlichen Ausgriffs nach Übersee. Im Hinblick auf die antiken Erfahrungen, Vorstellungen und Denkmuster und deren Bedeutung für die neuzeitlichen maritimen Aktivitäten wäre zudem und insbesondere auf die Bedeutung des ptolemäischen Weltbildes für die Raumvorstellungen des 15.Jahrhunderts zu verweisen. Einerseits war dieses Wissen die Voraussetzung für das Ausgreifen nach Übersee, andererseits wurde es durch das Ausgreifen aber grundlegend revidiert. 20

IV. Rückwirkungen Mit dem Überseehandel entwickelte sich zunächst in Lissabon, später auch in portugiesischen Handelsniederlassungen anderswo in Europa ein ebenso schwunghafter wie lukrativer Tier- und Mirabilienhandel, an dem sich Kaufleute aus allen Teilen Europas beteiligten. Wurden die Tiere und sonstigen Güter anfangs hauptsächlich über Portugal und Mittelmeerhäfen wie Marseille eingeführt, wuchs im Verlauf des 16.Jahrhunderts die Bedeutung der Atlantik- und Nordseehäfen für diese Form des Warenumschlags. Neben Amsterdam avancierten besonders London und Lorient zu bedeutsamen Handelsplätzen für Exotika. Von hier aus wurden die Importe aus Übersee an Empfänger in ganz Europa geliefert. Dabei dienten kleinere Tiere wie Papageien oder Affen vorwiegend dem wohlhabenden Bürgertum als prestigeträchtiger Nachweis ihres Wohlstands und ihrer Weltläufigkeit, während größere Tiere wie Elefanten und Nashörner als Statussymbole des Hochadels begehrt waren. 21 Nicht selten wurde das Sammeln von Exotika zum Anlass genommen, um Kunst- oder Wunderkammern beziehungsweise Menagerien einzurichten. Die Kunst- oder Wunderkammern der Spätrenaissance waren zumeist als Kabinette eingerichtet, in denen Raritäten, Kuriosa und teilweise auch materiell wertvolle Exponate – eben „Kabinettstücke“ – aufbewahrt wurden. Eine aus heutiger Sicht wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit den Exponaten hätte eine genaue Kontextualisierung der jeweiligen Gegenstände erfordert, woran im 16. und 17.Jahrhundert noch gar nicht zu denken war. Allerdings ist

216

20

Vgl. den Beitrag von Klaus Geus und Irina Tupikova in diesem Band.

21

Eric Baratay/Elisabeth Hardouin-Fugier, Zoo. Von der Menagerie zum Tierpark. Berlin 2000, 12–18.

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zu vermuten, dass die immer größere Fülle des Materials die an weiteren Informationen interessierten Zeitgenossen im Laufe der Zeit anregte, nach Ordnungskriterien zu suchen, mit denen die Aussagekraft der Exponate verstärkt werden konnte. Zunächst wurden die Schätze in den Wunderkammern jedoch zumeist eher als eine Bestätigung, vielleicht sogar als Illustration des bestehenden Bücherwissens angesehen. Die Kabinette waren also anfangs keine Orte der Wissensproduktion, sondern Stätten, wo bereits bestehendes, allerdings nicht überprüftes Wissen anschaulich oder im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar wurde; die Exponate waren also noch keine Informationsquellen, sondern bloße Projektionsflächen europäischer Sammler und Betrachter. Das sollte sich in den ersten Jahrzehnten des 17.Jahrhunderts ändern. In dem Maße, wie der Informationsfluss von Übersee nach Europa stärker koordiniert und systematisiert wurde und die Erwartung der Rezipienten an die Aussagekraft der Quellen stieg, wuchs auch der Anspruch der Hüter von Kunst- und Wunderkammern an die Aussagekraft der dort gesammelten und präsentierten Exponate. Im Verlauf des 17.Jahrhunderts wandelten sich die nach Europa importierten Exotika also von bloßen Prestigesymbolen zu wissenschaftlichen Untersuchungsgegenständen und bildeten damit den Ursprung der heutigen Museen und zoologischen Gärten. 22 Das Wissen über Außereuropa gelangte aber nicht nur über Exotika oder Reiseberichte, sondern darüber hinaus auf vielen anderen Wegen nach Europa: Neben offiziellen Chroniken und Landesbeschreibungen von Missionaren gab es Analysen von Kaufleuten und Handelsagenten über Geschäftsmöglichkeiten, und auf Grundlage der von der spanischen Krone verschickten Fragebögen entstanden landeskundliche Studien sowie botanische beziehungsweise zoologische Beschreibungen. 23 Die Verfasser waren Seeleute, Soldaten, Beamte, Kaufleute, Abenteurer, Geistliche und Wissenschaftler. 24 Sie alle trugen dazu bei, dass in Europa das Wissen um außereuropäische Spezifika zunahm. Damit stieg der Bedarf an immer differenzierteren Informationen. Nicht zuletzt deshalb wurden die Expeditionen im 18.Jahrhundert mit einem entschieden größeren wissenschaftlichen Anspruch unternom22 Dominik Collet, Die Welt in der Stube. Begegnungen mit Außereuropa in Kunstkammern der Frühen Neuzeit. Göttingen 2007, 349f. 23 Vgl. Bernhard Siegert, Inquisition und Feldforschung. Zur These Michel Foucaults über die Genese der empirischen Wissenschaften im 16.Jahrhundert, in: Modern Language Notes 118/3, German Issue (April 2003), hier 538–556, hier 544f. 24 Vgl. den Beitrag von Benjamin Scheller in diesem Band.

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men. Ausgewiesene Wissenschaftler führten an Bord und an Land Experimente durch und sammelten, was immer sie fanden. Hierin spiegelt sich unter anderem die stark gewachsene Bedeutung, die die Zeitgenossen seit dem 17.Jahrhundert den Wissenschaften, insbesondere den Naturwissenschaften, beimaßen. Meines Erachtens liegt hier der Ausgangspunkt für die Gründung einer Reihe von interdisziplinär ausgerichteten wissenschaftlichen Akademien wie der Académie française, der Royal Society oder der Kurfürstlich-Brandenburgischen Societät der Wissenschaften. Zum einen erforderte die schiere Menge an Informationen, die seit den ersten europäischen überseeischen Erkundungsfahrten nach Europa gelangt waren, eine Neuordnung und eine größere Systematik im Umgang mit diesen, zum anderen konnte in Zeiten des Merkantilismus nur auf verlässlichen Wissensgrundlagen erfolgreich Handel betrieben werden. Offensichtlich hielten die Gründer der Forschungseinrichtungen die traditionellen Universitäten nicht oder nur bedingt für geeignet, diesen Neuordnungs- und Auswertungsauftrag zu erfüllen. Da deren Wissenschaftler sich mit führenden Vertretern ihrer Fächer aus allen Teilen Europas auszutauschen pflegten, stellten diese Akademien so etwas wie Knotenpunkte eines europaweiten Wissensnetzwerkes dar, in dem die neuesten Thesen diskutiert, validiert oder falsifiziert wurden. Zugleich herrschte ein reger Wettbewerb, wurden die Aktivitäten der einzelnen Akademien von den Mitgliedern der anderen Institutionen aufmerksam verfolgt und – wenn es sich zu lohnen schien – auch kopiert. 25 Der Wettbewerb hatte somit auch den Wissenschaftssektor erreicht und sorgte auf diesem Gebiet im Verlauf des 18.Jahrhunderts für eine grundsätzliche Neubewertung des Verhältnisses zwischen Europa und dem Rest der Welt, jedenfalls was die Wahrnehmung der außereuropäischen Welt durch die Europäer betraf.

V. Folgen Seit etwa zwei Jahrzehnten beschäftigt die Frage nach den Gründen für den wachsenden globalen Einfluss des neuzeitlichen Europa eine Vielzahl von Wissenschaften. Dennoch liegt bis heute keine überzeugende Erklärung für die Great Divergence, also für die so frappierend unterschiedlichen Entwicklungsprozesse vor, die Europa 25

Vgl. z.B. John Gascoigne, The Royal Society, Natural History and the Peoples of the New World, 1660–

1800, in: The British Journal for the History of Science 42, 2009, 539–562, hier 550 u.ö.

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einerseits und die anderen Erdteile andererseits seit dem 15.Jahrhundert durchliefen und aus denen Europa, später dann der „Westen“ insgesamt, seit dem 19.Jahrhundert als Weltmacht hervorging. Ein Vergleich der verschiedenen Erklärungsmodelle, so unterschiedlich und überzeugend sie auch sein mögen, fördert einen verblüffenden Befund zutage: Offensichtlich spielt in allen Überlegungen, ob sie sich nun an Max Weber oder Karl Marx anlehnen oder aus der „kalifornischen Schule“ stammen, der Raum, in diesem Fall das Meer – oder besser: die globale europäische Seeherrschaft –, kaum eine Rolle. Ebenso neigt die Forschung dazu – und muss es aufgrund der Quellenlage vielleicht auch –, das frühneuzeitliche Europa nicht als einen zusammenhängenden Interaktionsraum zu betrachten, sondern als einen Raum, in dem durchgehend Mächte miteinander konkurrierten und so verschiedene Regionen Europas zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Entwicklungsgrade erreichten. Zwar wird von einem Teil der Divergenzforschung durchaus anerkannt, dass im Wettbewerb der europäischen Mächte und der daraus abgeleiteten Energien ein Erklärungsansatz für die besondere Entwicklung Europas im Vergleich mit anderen Weltregionen liegen könnte. Allerdings fällt es schwer, den Wettbewerb allein als Erklärung für Europas Führungsrolle zu akzeptieren. Zu Recht wird die innereuropäische Rivalität deshalb üblicherweise nur als einer von vielen Faktoren genannt, welche die europäische Führungsrolle begründeten. Zu diesen gehören „typisch“ europäische Spezifika wie die Trennung von Staat und Kirche, die Entwicklung des europäischen Rechtsdenkens, die Renaissance, die Entdeckung Amerikas, die Reformation, die kopernikanische Wende, die wissenschaftliche Revolution und eine Vielzahl anderer Entdeckungen. Das eine oder andere hier genannte Spezifikum hat sicher auch mit dem Meer zu tun, gleichwohl stößt man nirgendwo in der Divergenzdebatte auf den Hinweis, dass Europas Herrschaft über das Meer als ein wichtiger, wenn nicht als der zentrale Grund für die neuzeitliche europäische Führungsrolle herangezogen werden sollte. Hieran wird zunächst eines deutlich: Die Reduktion der weltweit unterschiedlichen neuzeitlichen Entwicklungsprozesse auf bloße strukturelle oder soziale beziehungsweise ökonomische Besonderheiten kann ebenso wenig eine überzeugende Erklärung für die Great Divergence liefern wie die gelegentlich vorgebrachte Annahme, die globale europäische Führungsrolle sei eigentlich nur das Resultat einer Aneinanderreihung von Zufällen gewesen. Sicherlich spielte der Zufall beim Aufstieg Europas eine nicht zu unterschätzende Rolle, aber das trifft auf viele historische Phänomene zu. Und der Vergleich von gesellschaftlichen Strukturen oder Prozessen mit

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ökonomischen Eckdaten liefert eher Hinweise darauf, dass bestimmte Phänomene ähnlich oder eben verschieden, also eher Indikatoren sind, zu deren Erklärung wiederum Rückschlüsse oder auch nur Vermutungen angestellt werden müssen. Das zu erklärende Phänomen muss dann aus möglichst vielen unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Da es sich bei der Suche nach einer Erklärung für die Divergenz zwischen Europa und dem Rest der Welt um ein globales Phänomen handelt, sollten auch dessen geopolitische Dimension und die damit verbundenen Konsequenzen für Europa und die Welt nicht außer Acht gelassen werden. Aus dieser Perspektive ist es höchst erstaunlich, dass derartige Denkansätze in den entsprechenden Untersuchungen noch immer kaum rezipiert werden. Dabei hat bekanntlich Walter Raleigh, einer der Vordenker englischen globalen Handelns, schon um 1615 festgestellt, dass Weltherrschaft Seeherrschaft voraussetzt: „For whosoever commands the sea commands the trade, whosoever commands the trade of the world commands the riches of the world, and consequently the world itself.“ 26

26

Sir Walter Raleigh, A Discourse of the Invention of Ships, Anchors, Compass, &c., in: The Works of Sir

Walter Ralegh. Vol.8. Oxford 1829 (Reprint 1865), 325.

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II. Die räumliche Verortung des Neuen: Maritime Exploration und Geographie

Entdeckungsfahrten und Kartographie Anmerkungen zu einer problembefrachteten Beziehung im Altertum von Klaus Geus und Irina Tupikova

Die „Anmerkungen“ des Beitrages greifen aus dem komplexen Beziehungsgeflecht von Entdeckungsfahrten und Kartographie in der Antike drei zentrale Bereiche heraus: 1. die Quantität der in den antiken Quellen gesammelten und überlieferten geographischen Daten; 2. die Qualität dieser Daten und 3. die Probleme bei der Umsetzung geographischer Daten in eine Karte (sowie die von Griechen und Römern entwickelten Lösungen). Den „roten Faden“ für die Anmerkungen liefert die Geographie des Ptolemaios (ca. 150 n.Chr.). Dieses „Handbuch der Kartographie“ bietet für die drei genannten Themenbereiche wertvolle, teilweise bisher nicht vollständig ausgewertete Informationen, die unser Bild von der antiken Entdeckungsgeschichte nuancieren.

I. Einleitung Entdeckungsfahrten 1 und Kartographie scheinen auf den ersten Blick eine recht klare und einfache Beziehung miteinander zu führen. Die bei militärischen Expeditionen, diplomatischen Reisen oder Handelsfahrten gewonnenen geographischen 1 Wir gebrauchen den im Deutschen geläufigen Begriff „Entdeckungsfahrten“ mit einem gewissen Zögern. Besser wäre es unseres Erachtens von „Such- und Entdeckungsfahrten“ zu sprechen, weil der (oft zufälligen) Entdeckung neuer Regionen und Orte in aller Regel eine Suche – und damit eine bestimmte Absicht – vorausging. Das Ziel der Suche und das Ergebnis der Entdeckung müssen nicht zwangsläufig dasselbe sein. Die Literatur zur antiken Entdeckungsgeschichte ist heterogen. Die älteren Werke (weitere Literatur ist an den jeweiligen Stellen angegeben) von Richard Hennig (Terrae Incognitae. Eine Zusammenstellung und kritische Bewertung der wichtigsten vorcolumbischen Entdeckungsreisen an Hand der darüber vorliegenden Originalberichte. T. 1: Altertum bis Ptolemäus. 2., verb.Aufl. Leiden 1944) sowie von Max Cary/Eric H. Warmington (Die Entdeckungen der Antike. Zürich 1966) sind als Materialgrundlage und zur ersten Orientierung hilfreich, aber konzeptionell und in ihrem analytischem Zugriff vielfach überholt und revisionsbedürftig; daneben gibt es Untersuchungen zu bestimmten Räumen und Aspekten der antiken Exploration, z.B.: Dieter Timpe, Entdeckungsgeschichte: I. Entdeckungsgeschichte des Nordens in der Antike, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Bd. 7, 3/4, 1989, 307–389; James Romm, The Edges of the Earth in Ancient Thought. Geography, Exploration, and Fiction. Princeton 1992; Raimund Schulz, Roms Eroberung des Mittelmeeres und der Vorstoß in den Atlantik. Reaktionen, Rechtfertigungen und Rückwirkungen auf die Ideologie, Geographie, Ethnographie und Anthropologie der späten Republik und frühen Kaiserzeit, in: ders. (Hrsg.), Aufbruch in neue Welten und neue Zeiten. Die großen maritimen Expansionsbewegungen der Antike und Frühen Neuzeit im Vergleich der europäischen Geschichte. Mün-

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110670547-010

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Daten 2 werden in eine Karte über die neu entdeckten Gebiete überführt. Ein zweiter Blick zeigt, dass diese Beziehung – zumindest für die Antike – sich keineswegs so klar und einfach darstellt. Weder wissen wir, wie damals solche Karten ausgesehen haben – manche Forscher bezweifeln sogar die Existenz von topographischen Karten in außerwissenschaftlichen Kontexten wie Entdeckungsfahrten und militärischen Expeditionen 3 –, noch wissen wir, welche Arten von kartographisch nutzbaren Daten von den Entdeckern gesammelt und überliefert wurden, noch wissen wir schließlich, wer diese Daten, die sicherlich während der Reisen zuerst in schriftlicher Form aufgezeichnet wurden, in ein bildliches Medium umsetzte und wie, also nach welchen Prinzipien, Regeln und Traditionen, er das tat. Weil wir in diesem Beitrag unmöglich sämtliche Probleme diskutieren können, die mit der komplexen Beziehung zwischen Entdeckungsfahrten und Kartographie zusammenhängen, wollen wir uns auf einen Fall beschränken, in dessen Zusammenhang sich – gleichsam paradigmatisch – einige der angedeuteten Probleme einhängen und diskutieren lassen. Wir wählen dazu die Geographie des Klaudios Ptolemaios, lat. Ptolemäus, entstanden um 150 n.Chr. Weil die Wahl des Ptolemaios vielleicht überraschen mag – handelt es sich hierbei doch um ein Werk, das zum

chen 2003, 29–50; Duane W. Roller, Through the Pillars of Herakles. Greco-Roman Exploration of the Atlantic. New York/London 2006; Reinhold Bichler, Die Fahrt zu den Grenzen der Erde. Von Herodot bis zur Alexander-Historiographie, in: Gymnasium 118, 2011, 315–344. Die einzige umfassende moderne Arbeit, die sämtliche antiken Explorationsbewegungen in den Gesamtkontext der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen integriert, bietet: Raimund Schulz, Abenteurer der Ferne. Die großen Entdeckungsfahrten und das Weltwissen der Antike. 2.Aufl. Stuttgart 2017. – Wir danken dem Herausgeber, außerdem Søren Lund Sørensen, Fabian Gesell, Annette Mühlenfeld und Celina Schneider für Korrekturen und Hinweise. 2 Der modisch gewordene Begriff „Raumdaten“ scheint uns für die Antike unpassend zu sein. Die dritte Dimension, die „Höhe“, spielte in der antiken Geographie nur eine Nebenrolle. Zu Höhenmessungen vgl. etwa Wilhelm Capelle, Berges- und Wolkenhöhen bei griechischen Physikern. Leipzig/Berlin 1916; zuletzt Klaus Geus, Le misurazioni delle Alpi nell’antichità: l’esempio di Plinio, in: Geographia antiqua 27, 2018, 71–79, hier 71 (dort weitere Hinweise und Belege). 3 Vgl. besonders die anregende, aber nicht unproblematische Studie von Kai Brodersen, Terra Cognita. Studien zur römischen Raumerfassung. 2.Aufl. Hildesheim/Zürich/New York 2003. Die in aktuellen Diskussionen ausgetauschten Argumente zur Existenz und Verbreitung von Karten laufen nach unserem Eindruck oft aneinander vorbei, weil unterschiedliche Ansichten existieren, was man überhaupt unter einer Karte versteht. Selbst eine recht allgemeine Definition (wie z.B.: „Eine Karte ist eine graphische Repräsentation räumlichen Wissens mittels eines maßstäblichen Abbildungsverfahrens und einer standardisierten Ausdrucksweise“) können die meisten antiken Beispiele nicht erfüllen. Maßstäblichkeit und standardisierte Ausdrucksweise können allenfalls für die Ptolemaios-Karten gelten.

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größten Teil aus Toponymen und Koordinaten besteht –, wollen wir sie kurz begründen und gleichzeitig damit die Leitfragen für unsere Untersuchung präzisieren. Bereits Polybios hat ja die ‚Chorographie‘ (ein Begriff, der sich großenteils mit der Kartographie deckt) 4 als die „Lehre von Orten und von Distanzen“ bezeichnet und damit die beiden zentralen Elemente genannt, die man benötigt, um eine Karte zu zeichnen: einerseits ein möglichst vollständiges bzw. möglichst konsistentes 5 Verzeichnis der Toponyme für die Region, die man kartographisch behandeln möchte, andererseits die jeweiligen Entfernungen zwischen diesen Toponymen, mithin also die (relative) geographische Lage dieser Orte. Mehr benötigt man für das Zeichnen einer einfachen Karte nicht. Natürlich sind noch weitere Informationen wie beispielsweise die Größe oder die politische bzw. administrative Bedeutung der Orte, der Verlauf von Flüssen, Bergen und Straßen oder auch die Himmelsrichtungen 6, geographische Längen und Breiten (bzw. einfache Koordinatensysteme) für den Kartographen von Interesse, um die Präzision und den Aussagewert der Karte zu steigern; prinzipiell nötig ist jedoch ausschließlich eine kritische Masse 7 an Toponymen und Entfernungsangaben.

4 Polybios’ Definition der Chorographie: Polyb. 34,1,4–5 = Strab. 10,3,5, C 465 (wahrscheinlich in Auseinandersetzung mit den vorher genannten Eudoxos bzw. Ephoros): „[…] wir aber werden die heutigen Verhältnisse angeben, sowohl was die Lage der Orte als was die Entfernungen angeht; denn das ist die zentrale Aufgabe der Länderbeschreibung/Chorographie“. 5 Mit „vollständig bzw. konsistent“ ist hier gemeint, dass vom Kartographen vorab zwei Dinge geprüft und entschieden werden müssen: zum einen, welche und wie viele Elemente er in seine Karte aufnehmen möchte, zum anderen, ob ihm genügend Einzelinformationen für eine Region oder ein ausgewähltes Element vorliegen, um eine Karte zeichnen zu können. Vgl. auch Anm.7. 6 Bei der Durchmusterung antiker Reiseberichte, Routenverzeichnisse, geographischer Berichte und Ähnlichem fällt einem modernen Leser auf, dass Himmelsrichtungen eher selten angegeben werden. Dafür sind besonders zwei Gründe namhaft zu machen: das Fehlen des Kompasses im Altertum und die bei den Griechen und Römern übliche Orientierung an Straßen und Küstenverläufen („hodologisches Modell“; vgl. dazu vor allem Pietro Janni, La mappa e il periplo. Cartografia antica e spazio odologico. Rom 1984). 7 Mit „kritischer Masse“ ist hier gemeint, dass der Kartograph je nach Intention einer Karte eine unterschiedliche Menge an Toponymen wählt. Im Einzelfall kann es beispielsweise genügen, dass eine Karte zwei Toponyme (Anfangspunkt und Endpunkt einer Reise etwa entlang einer Küste oder Straße) enthält. Im Regelfall wird der Kartograph die Menge der Orte nach bestimmten Vorgaben (Platz auf der Karte, Wichtigkeit etc.) aus einer größeren Liste von Toponymen auswählen.

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II. Die Quantität der Daten Unter dem Aspekt der Quantität von Toponymen und Entfernungsangaben ist Ptolemaios’ Geographie mit ca. 8100 Toponymen und über 6300 Koordinatenpaaren (das heißt umgerechneten Distanzangaben) die mit Abstand umfangreichste Sammlung von geographischen Daten. Um die Einzigartigkeit der Geographie des Ptolemaios zu verdeutlichen: Von seinen über 8100 Toponymen sind nicht einmal 3300 Toponyme – also weniger als die Hälfte – mit modernen Orten identifiziert, die im Einzelfall hoch umstrittenen Fälle nicht einmal abgezogen. Über 3000 Toponyme im Katalog des Ptolemaios sind überhaupt singulär, finden also im gesamten Corpus der griechischen und lateinischen Literatur keine Parallelen. Ähnlich sieht es bei den Entfernungsangaben aus. Dazu einige Beispiele: Das Itinerarium Antonini überliefert mit knapp 2900 Entfernungsangaben die meisten Distanzen in der antiken Literatur, der Geograph Strabon ca. 1200 8, der Topograph Pausanias ca. 150, der Historiker Diodor ca. 130 und der Periplus Maris Erythraei 57 Entfernungsangaben. Selbst wenn man sämtliche Entfernungsangaben aus der gesamten erhaltenen Literatur der Antike extrahierte, käme man in ihrer Summe nicht an das Datenmaterial heran, das Ptolemaios bzw. seiner Hauptquelle Marinos von Tyros – sicherlich mehrere Zehntausende 9 – zur Verfügung stand. 10 Das gilt im 8 Vgl. zuletzt Klaus Geus/Kurt Guckelsberger, Measurement Data in Strabo’s Geography, in: Daniela Dueck (Ed.), The Routledge Companion to Strabo. Abington/New York 2017, 165–177. 9 Die hier genannte (minimale) Zahl von „mehreren Zehntausend“ ist bis zu einem gewissen Grad Spekulation. Sie beruht zum einen auf der bei Ptolemaios überlieferten Zahl der Toponyme (über 8100) und Koordinatenpaare (über 6300), zum anderen auf einer Auswertung unserer Datenbank antiker Entfernungsangaben, die im Vergleich mit Ptolemaios eine erhebliche Dunkelziffer nahelegt (seit 2009 existiert am Arbeitsbereich „Historische Geographie des antiken Mittelmeerraumes“ eine Datenbank antiker Entfernungsangaben mit mittlerweile über 10000 Belegen aus der Antike). Nicht komplett ausgeschlossen ist übrigens, dass die Zahl noch viel größer war. Ein mathematisches Gedankenspiel: Wenn man annähme, dass in der Antike die Distanz eines Ortes zu jedem anderen Ort bekannt gewesen wäre (ohne mögliche Varianten und Doppelungen in unterschiedlichen Quellen!), käme man nach einer klassischen Formel der Kombinatorik bei 6336 Orten auf nicht weniger als 20 069 280 Entfernungsangaben. Natürlich war nicht jede ‚denkbare‘ Entfernungsangabe in der Antike auch ‚konkret‘ bekannt –, muss man doch für manche Räume wie Italien oder Kleinasien von einer relativ großen Dichte an Informationen ausgehen. Wer, wie und wo eine solch ungeheure Datenmenge im Altertum zu sammeln, archivieren und auszuwerten in der Lage war, ist bisher – soweit wir wissen – noch nicht untersucht worden. 10

Betrachtete man außerdem die ptolemäischen Varianten der Ortsnamen, die sich vielfach von denen

in den geographischen ‚Standardwerken‘ der Antike (z.B. Strabon, Plinius, Mela usw.) unterscheiden, wäre die Divergenz noch deutlicher.

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besonderen Maße für die entdeckungsgeschichtlich relevanten „Randgebiete“ der Oikumene, also Afrika, das freie Germanien oder den Fernen Osten. Ptolemaios’ Geographie ist unter einem weiteren Aspekt von großer Bedeutung für die antike Entdeckungsgeschichte. Nicht nur nennt er in seiner Einleitung zehn – ansonsten praktisch unbekannte – Entdeckungsreisende für den Nordwesten, den Süden und den Osten der Oikumene, sondern gibt auch Anweisungen, wie der Kartograph die vorhandenen geographischen Daten adäquat in eine „Weltkarte“ bzw. in 26 Regionalkarten umsetzen soll. Auch in dieser Hinsicht ist das Werk des Ptolemaios singulär. Ptolemaios’ Geographie ist aber noch wegen eines dritten Aspekts von Interesse. Die von Ptolemaios oder genauer von seiner Hauptquelle Marinos erwähnten und ausgewerteten Entdeckungsfahrten scheinen großenteils unpublizierte Reiseberichte – also im Wesentlichen Protokolle und Sammlungen von Notizen – gewesen zu sein. Von Interesse ist dies insofern, als wir für die Antike vor dem grundsätzlichen Problem stehen, dass die wenigen überlieferten Periploi und Itineraria allesamt literarisch bearbeitet sind. Weder der anonyme Periplus Maris Erythraei noch der Fahrtbericht des Karthagers Hanno noch Arrians Periplus – um nur die wichtigsten der etwa 50 Beispiele 11 aus der Antike zu nennen – sind die ursprünglichen Niederschriften der Reisenden, sondern spätere Bearbeitungen. 12 Daher wissen wir beispielsweise nicht, ob die in den Periploi genannten Toponyme nur eine Auswahl aus einem größeren Inventar darstellen oder ob die überlieferten Distanzen in den ursprünglichen Längeneinheiten vorliegen, sie also vielleicht von einem späteren Bearbeiter aus Tagesreisen nach einem bestimmten Konversionsschema in griechische Stadien umgewandelt worden sind.

11 Vgl. die Listen bei Eckart Olshausen, Der Periplus zwischen Seehandbuch und Literatur, in: Periplus 23, 2013, 35–57, Serena Bianchetti, Reisebericht, in: Holger Sonnabend (Hrsg.), Mensch und Landschaft in der Antike. Lexikon der Historischen Geographie. Sonderausgabe. Stuttgart/Weimar 2006 (= 1999), 420–423, und Francisco J. González Ponce, Periplógrafos griegos I. Épocas Arcaica y Clásica 1: Periplo de Hanón y autores de los siglos VI y V a. C. Zaragoza 2008, 45–48. Von den meisten der dort genannten Beispiele sind nur wenige Fragmente, oft nur die Namen, überliefert. 12 Zum Stadiasmus Maris Magni, aus dem man vielleicht noch am ehesten einen Eindruck von frühen bzw. einfachen Periploi gewinnen kann, bereitet Pascal Arnaud eine neue kommentierte Ausgabe vor. Vgl. einstweilen Pascal Arnaud, Playing Dominoes with the Stadiasmus maris magni. The Description of Syria: Sources, Compilation, Historical Topography, in: Andreas Külzer/Mihailo Popović (Eds.), Space, Landscapes and Settlements in Byzantium. Studies in Historical Geography of the Eastern Mediterranean. Presented to Johannes Koder. Novi Sad/Vienna 2017, 15–49.

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Marinos bzw. Ptolemaios benutzte also Primärquellen, die sich merklich von denjenigen unterscheiden, wie wir sie aus den uns sonst erhaltenen Periploi und Itineraria kennen und wie wir sie auch in der geographischen Fachliteratur der Griechen und Römer (etwa bei Strabon, Plinius, Mela etc.) vorfinden. 13 Hierzu können noch die folgenden Beobachtungen gestellt werden: – Ptolemaios zitiert mit Ausnahme seiner Hauptquelle Marinos fast keinen der früheren Geographen wie Hekataios, Eratosthenes, Strabon oder Plinius, ja scheint sogar deren geographische Konzepte (Klimata, Stundenlinien, „gegenüberliegende Orte“ 14, Ländergrenzen, mundus alter 15) weitgehend zu ignorieren; – das Material des Marinos/Ptolemaios ist recht uniform, wobei die vielen lateinischen Toponyme auffallen (z.B. für Syrien: Rhegis, Spelounka, Skabiosa Laodikeia, Putea) 16;

13

Die Berichte des makedonischen Kaufmanns Maës Titianos (geogr. 1,11,7, über den Landweg zur

Hauptstadt der Serer; vgl. dazu Matthäus Heil/Raimund Schulz, Who Was Maes Titianus?, in: Journal of Ancient Civilizations 30, 2015, 72–84; Anca Dan, Maes Titianos, in: FGrHist 2213 [Brill online 2015]), der römischen Offiziere Iulius Maternus und Septimius Flaccus (1,8,4; 1,10,2, zu Expeditionen ins Innere Afrikas), des Diodoros von Samos (1,7,6, zum Seeweg nach Indien), des Alexandros (1,14,1, Fortsetzung des Diodoros bis nach Kattigara), der drei Indienfahrer Diogenes, Theophilos und Dioskoros (1,9,1–3; 1,14,2–3) sind allesamt aus der übrigen antiken Literatur nicht bekannt. Der Astronom Hipparch wird nur zweimal für Details erwähnt (1,4,2; 1,7,4). Einzig von Philemon (1,11,8), der von Marinos für Irland benutzt wurde, hören wir kurz an vier Stellen der naturalis historia des Plinius (1,10; 4,95; 37,33; 37,45; davon abhängig ist Solinus). Zu Philemon (FGrHist 2039) vgl. Eduard Norden, Philemon der Geograph. Mit einem Beitrag zur Entdeckungsgeschichte des Namens mare Balticum von Hans Philipp, in: Ianus 1, 1921, 183–187; zuletzt Matthias Haake, Philemon, in: FGrHist 2039 (Brill online 2015; dort weitere Literatur), der ihn wohl richtig in die iulisch-claudische Zeit datiert. Sollte es wirklich nur ein Zufall sein, dass von den zehn namentlich genannten Quellen des Marinos acht überhaupt nicht, eine für Nebensächlichkeiten und nur eine aus der sonstigen antiken geographischen bzw. Reiseliteratur bekannt ist? Wohl nicht! Es scheint, dass Marinos auch – vielleicht sogar primär – Zugang zu „unpubliziertem“ Material hatte. Umgekehrt sind die von Ptolemaios zusätzlich verwendeten Quellen – vielleicht Timosthenes, vielleicht der Periplus Maris Erythraei (dass in der Geographie des Ptolemaios auch der Periplus Maris Erythraei Verwendung fand, hat Didier Marcotte in einem Vortrag am 23.4.2014 in Berlin wahrscheinlich gemacht), möglicherweise Arrians Periplus des Schwarzen Meeres – sicherlich (auch?) „regulär“ publiziert worden, das heißt einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich und bekannt gewesen. 14

Vgl. aber Ptol. geogr. 1,4,2; 1,15,1.

15

Das ideologisch stark aufgeladene Konzept einer „anderen Welt“, das gerade bei den Römern der spä-

ten Republik und frühen Kaiserzeit populär war (vgl. dazu z.B. Schulz, Eroberung [wie Anm.1], 44–46), fand auf Ptolemaios’ Weltkarte keinen Platz. Stattdessen zeichnete er an den südlichen und nördlichen Rändern der Oikumene eine „unbekannte Erde“ (agnostos gē) ein. 16

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Vgl. [Ernst] Honigmann, Marinos, in: RE 28, 1930, 1767–1796, hier 1792.

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– Marinos/Ptolemaios nennt in den Büchern 2–5 (als einziger Geograph systematisch) 20 römische Legionslager; – Ptolemaios verwendet nach seiner eigenen Maxime soweit wie möglich neuestes Material, wobei die Toponyme aus Trajans Dakerkriegen (101–102 und 105–106 n.Chr.) die jüngsten ‚Einträge‘ sind. Toponyme aus dem Partherkrieg des Trajan (113–117 n.Chr.) fehlen jedoch. Aus diesen Beobachtungen ist unserer Meinung nach folgender Schluss zu ziehen 17: Das Material, welches Marinos bzw. Ptolemaios vorlag, stammte nicht – oder jedenfalls nicht primär – aus publizierten Entdeckungsberichten, sondern aus Archivmaterial (wie etwa den commentarii von Statthaltern), das wegen seines angedeuteten gigantischen Umfangs, seiner teilweise sensiblen oder ephemeren Informationen (z.B. über die Legionslager), seiner Uniformität und seiner Präzision wohl nur in der römischen Reichsverwaltung, also in der ‚Zentrale‘ in Rom 18, gesammelt worden sein konnte. 19 Daran anschließend möchten wir die Vermutung äußern,

17 Vgl. Klaus Geus, Wer ist Marinos von Tyros? Zur Hauptquelle des Ptolemaios in seiner Geographie, in: Geographia Antiqua 26, 2017, 13–22. 18 Nach Robert K. Sherk, Roman Geographical Exploration and Military Maps, in: Hildegard Temporini (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Bd. II/1. Berlin/New York 1974, 534–562, hier 543, wurden Militärberichte (wie Commentarii) im Archiv des ab epistulis in Rom gesammelt und autorisierten Personen zugänglich gemacht. Es kommt aber auch das Tabularium in Frage. Vgl. z.B. die folgende Stelle im Corpus Agrimensorum Romanorum [165,10–166,2 Thulin]: „Omnes aeris significationes et formis et tabulis aeris inscribemus, data adsignata, concessa, excepta, reddita commutata pro suo, reddita ueteri possessori, et quaecumque alia inscriptio singularum litterarum in usu fuerit, et in aere permaneat. libros aeris et typum perticae totius lineis descriptum secundum suas determinationes adscriptis adfinibus tabulario Caesaris inferemus. et siqua beneficio concessa aut adsignata | coloniae fuerint, siue | in proximo siue inter alias ciuitates, in libro beneficiorum adscribemus. et quidquid aliud ad instrumentum mensorum pertinebit, non solum colonia sed et tabularium Caesaris manu conditoris subscriptum habere debebit.“ („Alle Bezeichnungen des Erzes werden wir sowohl auf den Flurkarten als auch in den erzenen Tafeln einschreiben: gegebene zugewiesene, zugestandene, ausgenommene, zurückgegebene für das Eigene eingetauschte, einem alten Besitzer zurückgegebene [Landlose] und welche andere Beschriftung der einzelnen Buchstaben auch immer in Gebrauch gewesen ist, soll auch im Erz bleiben. Die erzenen Bücher und die Figur des gesamten vermessenen Feldes, beschriftet mit Linien gemäß ihren eigenen Bestimmungen, mit den hinzugeschriebenen Nachbarn, werden wir in das Tabularium des Kaisers bringen. Und wenn irgendwelche aus Wohltat zugestanden oder der Kolonie zugewiesen worden sind, sei es in nächster Nähe, sei es zwischen anderen Gemeinden, werden wir es im Buch der Wohltaten hinzuschreiben. Und was auch immer anderes zur Urkunde der Vermesser gehören wird, wird nicht allein die Kolonie, sondern auch das Tabularium des Kaisers, unterzeichnet von der Hand des Gründers haben müssen.“). 19 Vielleicht übernahmen die Römer eine im hellenistischen Ägypten geübte Praxis. Im Aristeas-Brief 283 Pelletier ist nämlich davon die Rede, dass in den königlichen Archiven der Ptolemäerkönige (basilikaì

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dass es sich bei Marinos nicht um einen griechischen Geographen aus Tyros, sondern um den römischen Consul des Jahres 101 n.Chr., L. Iulius Marinus Caecilius Simplex (PIR2 I 408), handelt, dessen Origo in der Provinz Syria lag (zu der damals Tyros gehörte). Ausgehend von dieser Hypothese lässt sich erklären, warum sich Ptolemaios’ Geographie in der Form, in der Quantität und in der Qualität des verwendeten Materials so sehr von den anderen geographischen Werken der Antike unterscheidet – Material, auf das nur ein hoher Reichsbeamter, aber nicht ein unbekannter Geograph aus einer „Provinzstadt“ zugreifen konnte.

III. Die Qualität der Daten Es versteht sich von selbst, dass Zuverlässigkeit und Genauigkeit einer Karte unmittelbar von der Zuverlässigkeit und Genauigkeit der zugrundeliegenden Daten abhängig sind. Ptolemaios empfahl in seiner Einleitung, soweit wie möglich Daten von Reisenden zu verwenden, die mit „wissenschaftlichem Interesse und Kenntnis“ (met’ epistaseōs theōretikēs) die Länder bereist haben. 20 Er wird dabei vor allem an Personen gedacht haben, die über astronomische Kenntnisse verfügten, also beispielsweise an ‚Intellektuelle‘ wie Nearchos oder Polybios, an Diplomaten wie Megasthenes oder Philon oder an speziell geschultes Militärpersonal wie Alexanders Bematisten oder die mensores, die zahlenmäßig recht stattliche Abteilung der ‚Feldmesser‘ im römischen Heer. 21 Den Angaben der Händler scheinen Geographen weithin mit Misstrauen begegnet zu sein, auch wenn man dabei immer mit Übernahmen toposartiger Klischees rechnen muss, die das eigene Tun in ein besseres Licht

anagraphaí, vgl. Diod. 2,22,4; App. Praef. 10,41) Abschriften von Reiseberichten (en tais ton poreion apographais) aufbewahrt wurden. Vgl. dazu Didier Marcotte, Démocédès de Crotone, l’apographe et la genese du periple, in: Francisco J. González Ponce/F[rancisco] Javier Gómez Espelosín/Antonio L. Chávez Reino (Eds.), La letra y la carta. Descripción verbal y representación gráfica en los diseños terrestres grecolatinos. Estudios en honor de Pietro Janni. Sevilla/Alcalá de Henares 2016, 35–49, hier 46f. 20 Ptol. geogr. 1,2,2: „Von besonderer Bedeutung für ein solches Vorgehen ist die Auswertung der Reiseberichterstattung (historia periodikē), welche die reichhaltigste Erkenntnis liefert aus der Datenvermittlung von Leuten, die mit wissenschaftlichem Interesse (met’ epistaseōs theōrētikēs) einzelne Länder bereist haben.“ Zur historia peridokē vgl. jetzt die verschiedenen Beiträge in Geographia Antiqua 26, 2017. 21

Nach den Untersuchungen von Sherk, Exploration (wie Anm.18), 549, hatte jede Legion elf mensores,

wahrscheinlich auch die Praetorianergarden und die auxilia.

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stellen sollen. 22 Neben dem gut bekannten Fall des Pytheas von Massalia, der von Polybios und anderen als „Bergaios“ („Aufschneider“) bezeichnet wurde 23, ist vielleicht ein weniger bekanntes Beispiel aus Ptolemaios instruktiv (geogr. 1, 11, 8) 24: „[In anderen Fällen] scheint aber Marinos den Berichten der Handelsreisenden keinen Glauben zu schenken. Wenigstens stimmt er der Berechnung Philemons, auf Grund welcher dieser die ostwestliche Länge der Insel Hibernia mit 20 Tagereisen überliefert hat, nicht zu, weil Philemon sage, er habe seine Nachricht von Händlern. Denn diese, sagt Marinos, denken nicht daran, die Wahrheit zu erforschen, weil ihnen der Handel keine Muße dazu lässt und sie die Entfernungen oft auch aus Prahlerei übertreiben.“

Es bedarf keiner weiteren Begründung, dass die Forderung nach „wissenschaftlicher Kenntnis“ im Kontext von Entdeckungsfahrten – gerade wenn sie militärisch motiviert waren bzw. wenn die Sache eilig war – nicht immer und überall zu erfüllen war. Man tat in diesen Fällen, was möglich war: Dazu gehörte in erster Linie die Befragung von ortskundigen Leuten, besonders Händlern oder lokalen Eliten, die durch ihre lokalen und regionalen Netzwerke auch über geographische und topographische Informationen verfügten. Beispielsweise erwähnt Caesar, dass sein Militärtribun C. Volusenus Quadratus in nur vier Tagen Informationen über Britannien beschaffen konnte. 25 Angesichts der schon (mehrfach) betonten zentralen Wichtigkeit von Entfernungsangaben versteht es sich von selbst, dass nicht erst die Kartographen, sondern auch schon die Entdeckungsreisenden selbst besonderes Augenmerk darauf richte-

22 Das erinnert an die Klage des Polybios über die Händler (Polyb. 3,38; 3,58–9); dazu Francesco Prontera, La geografia di Polibio. Tradizione e innovazione, in: Juan Santo Yanguas/Elena Torregray Pagola (Eds.), Polibio y la península ibérica. Gasteiz 2003, 103–111, hier 106. Leichte Skepsis auch bei Caes. bell. Gall. 4,20,3: „Denn abgesehen von Handelsleuten geht nicht leicht jemand nach Britannien, und selbst diese kennen eben nur die Küste und die Gegenden Gallien gegenüber.“ 23 Serena Bianchetti, Pitea di Massalia: L’Oceano. Introduzione, testo, traduzione e commento. Pisa/Rom 1998, 72f. 24 Interessanterweise weicht Ptolemaios selbst an einer Stelle von der Maxime seiner Vorgänger Polybios und Marinos ab. Vgl. geogr. 1,17,6; dazu Klaus Geus, Claudius Ptolemy on Egypt and East Africa, in: Kostas Buraselis/Mary Stefanou/Dorothy J. Thompson (Eds.), The Ptolemies, the Sea and the Nile. Studies in Waterborne Power. Cambridge/New York 2013, 218–231, hier 229f. 25 Caes. bell. Gall. 4,20–21; vgl. A. C. Bertrand, Stumbling through Gaul. Maps, Intelligence, and Caesar’s Bellum Gallicum, in: The Ancient History Bulletin 11, 1997, 107–122. Zu Aufklärung und Kartographie vgl. die knappen Bemerkungen von Rose Mary Sheldon, Renseignement et espionnage dans la Rome antique. Paris 2009, 212f.

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ten; hingen doch von der Kenntnis der Entfernungen unmittelbar auch die benötigte Zeit und mittelbar auch der für die Reise (und Rückreise) benötigte Proviant – und damit die essentielle Frage des Überlebens – ab. Die mit den Entfernungsangaben verbundenen metrologischen Probleme werden seit vielen Jahren in der Forschung diskutiert, ohne dass sich ein Konsens abzeichnet. Zu diesen Problemen gehören beispielsweise die Fragen nach den antiken Messmethoden, nach der Länge des griechischen Stadions oder nach den Konversionsregeln zwischen verschiedenen Längenmaßeinheiten wie stadion, mille passuum, parasanges, leuga oder schoinos. Doch einige dieser Probleme entpuppen sich bei näherem Hinsehen als Chimäre. 26 Entfernungsangaben wurden (außerhalb der Stadt) in der Antike nur im Einzelfall ‚gemessen‘, selten auch ‚geschätzt‘, sondern auf dem Land im Regelfall nach Schritten abgezählt, auf dem Seeweg oft auch aus Zeitangaben ‚umgerechnet‘. Das bedeutet vor allem zweierlei: Erstens, weil nicht geschätzt, sondern gezählt wurde, ist bei diesem Verfahren die Gefahr, Fehler zu begehen, gering, zumal wenn zwei oder mehr Personen unabhängig voneinander ihre Schritte zählen und jederzeit miteinander vergleichen können; das dürfte bei antiken Armeen der Regelfall gewesen sein, wie das bekannte Beispiel der Bematisten 27 im Heer Alexanders des Großen lehrt; zweitens sind abgeschrittene Distanzen direkt abhängig von der Länge des Schrittes, diese wiederum von weiteren Faktoren wie der Schwierigkeit des Terrains und dem Wetter (auf Letztere verweist Ptolemaios mehrfach) 28. Erfahrene Fußgänger sind, zumal wenn sie im Team unterwegs sind, wo sich die Schrittlänge quasi automatisch einem gemeinsamen „Normmaß“ anpasst, in der Lage, diese sekundären Faktoren recht gut einzukalkulieren. Aus all dem ist zu schließen, dass die in der Antike kursierenden Entfernungsangaben zu Lande recht präzise bestimmt worden sind.

26

Vgl. Irina Tupikova/Klaus Geus, Ptolemy’s Geography and the Pitfalls of Statistical Analysis. A Study in

,Common Sense Geography‘, in: Klaus Geus/Martin Thiering (Eds.), Studies in Common Sense Geography. New Perspectives on Ancient Texts (im Druck). 27

Die Quellen zu den Bematisten sind gesammelt in FGrHist 119–123 (geographisch ausgewertet bei

Plin. nat. 6,44–5; 61–3 u. ö.). Von der Sekundärliteratur sind wichtig: Janick Auberger, Historiens d’Alexandre. Textes traduits et annotés. Paris 2005, 43–61; Franz Altheim/Ruth Stiehl, Geschichte Mittelasiens im Altertum. Berlin 1970, 317ff.; Cameron McPhail/Robert Hannah, The Cartographers of the Taurus Line. The Bematists, Dicaearchus and Eratosthenes, in: Geographia Antiqua 20/21, 2011/12, 163–177. 28

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Vgl. z.B. Ptol. geogr. 1,10,2; 1,13,2–3; 1,13,7; 1,17,7.

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IV. Maritime Entfernungen Komplizierter als die Bestimmung von Entfernungsangaben zu Lande war die zu Wasser, vor allem bei Fahrten über das offene Meer, weil dort die Distanzen nicht unmittelbar ‚gezählt‘ oder ‚gemessen‘ wurden. Daher sind in den Quellen häufig, aber nicht immer, die Distanzen in „Tagereisen“ bzw. „Tag-und-Nachtreise“ angegeben. Die Angaben in Stadien bzw. römischen Meilen scheinen nach dem von Ptolemaios 29 angegebenen Verhältnis von 1 Tagereise = 500 Stadien bzw. von 1 Tag-undNachtreise = 1000 Stadien aus Zeitangaben umgerechnet worden zu sein 30. Wir wissen nicht, wann und wie diese Relation zwischen „Zeit“ und „Entfernung“ entstanden ist. 31 Da aber in der Antike häufig Küstenschifffahrt betrieben wurde, dürften Seerouten oft mit Landrouten entlang der Küsten verglichen und daraus ein empirischer Wert gewonnen worden sein. Dies würde auch erklären, warum die überlieferten Distanzen zur See meist auf ein „kurzes“ Stadion von ca. 150–160 Metern hindeuten: Denn dieses entsprach dem durch Abzählen der Schritte gebräuchlichen „Reise-Stadion“ („itinerary stade“). „Loggen“ bzw. „koppeln“ (englisch: „dead reckoning“) als Methoden der Bestimmung der Geschwindigkeit eines Schiffes, und damit mittelbar auch der zurückgelegten Entfernung, sind für die Antike nicht bezeugt. Sie waren wohl auch nie in Gebrauch. 32 Trotzdem zeigen viele Beispiele 33, dass Griechen und Römer auch die lan-

29 Vgl. Ptol. geogr. 1,71,1; 1,9,4. 30 Fundamental für das Verständnis des Zusammenhangs von Zeit, Distanz und Konversionsregeln sind die Studien von Pascal Arnaud, vor allem: De la durée à la distance. L’évaluation des distances maritimes dans le monde gréco-romain, in: Histoire & Mesure 8, 1993, 225–247; Ancient Mariners between Experience and Common Sense Geography, in: Klaus Geus/Martin Thiering (Eds.), Features of Common Sense Geography. Implicit Knowledge Structures in Ancient Geographical Texts. Münster/Berlin 2014, 42–47; Stadiasmus (wie Anm.12), 42–45. 31 Wahrscheinlich etablierte sich diese Relation bereits in archaischer Zeit. Dafür spricht zum einen, dass wir seit Homer den „Tag“ als Entfernungseinheit bezeugt finden, zum anderen, dass wir in den frühesten Fahrtberichten (z.B. Skylax) und Historikern (z.B. Herodot) ein Nebeneinander der verschiedenen Einheiten finden. 32 Ein Seemann, der die Distanz, die sein Schiff zurücklegt, wissen will, wirft ein an einer Leine befestigtes „Log“ („Holzscheit“) am Bug über Bord und misst die Zeit, die das Schiff braucht, um das Log am Heck zu überholen: Die Geschwindigkeit entspricht der Länge des Schiffes, geteilt durch die Zeit. Ein solches Verfahren ist für die Antike allerdings nicht anzunehmen. Eine Route von 1000 Stadien in 24 Stunden entspräche 41,7 Stadien pro Stunde, also einer Geschwindigkeit von 6,6 km/h (bei einer Stadionlänge von 157 m) bzw. 7,7 km/h (bei einer Stadionlänge von 185 m). Nähme man eine Schiffslänge von 30 Metern an, wür-

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gen Distanzen über das Meer oder die offene See erstaunlich präzise bestimmen konnten. 34 Der Historiker Diodor (3,34,7) schreibt: „Diese beiden ganz unterschiedlichen Länder [Skythien und Aithiopien] sind durch keine große Entfernung voneinander getrennt. Denn von der Maiotischen See [Asowsches Meer], wo manche Skythen unter starrendem Eis und Frost wohnen, sind schon viele Seefahrer mit Lastschiffen bei günstigem Wind in zehn Tagen nach Rhodos gesegelt; von dort in vier Tagen nach Alexandria, und von da den Nil hinauf sind sie am zehnten Tage in Aithiopien angekommen.“

Mit der „Maiotischen See“ ist, wie der Kontext nahelegt, ihr nördlichster Punkt, die griechische Polis Tanais an der Mündung des Don, gemeint. Von dort sei bei günstigen Verhältnissen – also offenbar bei Tag-und-Nachtfahrten über das Schwarze Meer und das Mittelmeer – Rhodos mit dem Schiff in zehn Tagen zu erreichen. Nach der oben erwähnten Formel entsprechen 10 Tage 10000 Stadien. Obwohl die Position von Tanais auf der Ptolemäischen Weltkarte seltsam deplatziert wirkt 35,

de das „Loggen“ nur 16 (bzw. 14) Sekunden dauern – eine Zeitdauer, die mit antiken Wasser- oder Sonnenuhren nicht gemessen werden konnte. Gelegentlich wird in diesem Zusammenhang auf die Leistungen moderner Südsee-Piloten hingewiesen (z.B. Edwin Hutchins, Unterstanding Micronesian Navigation, in: Dedre Gentner/Albert L. Stevens [Eds.], Mental Models. Hillsdale/London 1983, 191–225), die tatsächlich aufgrund von „Erfahrung“, „Gefühl“ und dem Abzählen von Pulsschlägen das dead reckoning in solcher Perfektion beherrschen, dass sie tatsächlich die Geschwindigkeit ihres Bootes bestimmen können. Allerdings ist hier anzumerken, dass ein solches „Bauchgefühl“ über lange Zeit entwickelt und geschult werden muss, und zwar im steten Vergleich mit genau gemessenen Zeiteinheiten (z.B. eine Minute). Unser Privileg, Uhren überall und jederzeit nutzen zu können, existierte aber in der Antike nicht. Zu diesem Aspekt der „common sense geography“ vgl. jetzt Martin Thiering, Embodied Common Sense Geography, in: Geus/Thiering (Eds.), Studies in Common Sense Geography (wie Anm.26). 33

Vgl. oben Anm.9.

34

Wie es zu einer großenteils enormen Präzision kommen konnte, lässt sich aufgrund des Schweigens

der antiken Quellen nicht mehr nachvollziehen. Wahrscheinlich spielte eine Kombination von verschiedenen Faktoren eine Rolle. Dazu gehören: lange Praxis und Erfahrung der Piloten, stabile mündliche Überlieferung über Generationen, Vergleich und Korrektur zwischen Land- und Seestrecken, Vergleich und Korrektur von terrestrischen Strecken und (vereinzelten) astronomischen Breitenmessungen und nicht zuletzt die Minimierung von Fehlern durch die Einbindung einzelner Entfernungsangaben in ein ‚Netz‘ oder ‚Gitter‘. Mit anderen Worten, je mehr Entfernungsangaben vorlagen, desto stärker ‚mittelten‘ sich einzelne Fehler aus. Damit dürfte klar sein, dass spätestens in der römischen Kaiserzeit die Entfernungen zwischen den Orten im Mittelmeerraum präzise bekannt waren. 35

Wie wir an anderer Stelle gezeigt haben (Irina Tupikova/Klaus Geus, The Circumference of the Earth

and Ptolemy’s World Map. Berlin 2013 [MPIWG Preprints, 439]; Klaus Geus/Irina Tupikova, Von der Rheinmündung in den Finnischen Golf. Neue Ergebnisse zur Weltkarte des Ptolemaios, zur Kenntnis der Ostsee

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führt eine Nachprüfung der Distanz zwischen den beiden Punkten (Tanais [geogr. 3, 5, 31]: 53° 30′ n. B., 66° 30′ ö. L.; Rhodos [geogr. 5, 2, 34]: 36° n. B., 58° 40′ ö. L.) entlang eines Großkreisbogens zu einer Entfernung von 19,53°. Nach der von Ptolemaios (geogr. 1, 7, 1) angenommenen Relation von 1° = 500 Stadien ergibt sich insgesamt eine Distanz von 9765 Stadien, was nahe am Wert des Diodor liegt. Noch beeindruckender ist die Distanzmessung, wenn wir die Entfernung mit der Stadionlänge von 157,5 Metern („itinerary stade“) umrechnen. Von den tatsächlichen 1550 km Luftlinie weicht der umgerechnete Wert von 1538 km nur minimal ab. Unsere Nachprüfung der genannten (sowie weiterer) 36 Distanzen bestätigt das oben skizzierte Bild: Auch die maritimen Distanzen konnten und wurden von den Griechen und Römern mit einer hohen Genauigkeit bestimmt.

V. Die Herstellung der Karten Sobald der antike Kartograph die benötigten Daten in kritischer Masse, das heißt in einem für eine bildliche Darstellung ausreichenden Umfang, gesammelt hatte, konnte er sich an die Anfertigung seiner Karte machen. Auch über diesen Schritt –

im Altertum und zur Flottenexpedition des Tiberius im Jahre 5 n.Chr., in: Geographia Antiqua 22, 2013, 125–143; Irina Tupikova, Ptolemy’s Circumference of the Earth. Berlin 2014 [MPIWG Preprints, 464]; Irina Tupikova/Matthias Schemmel/Klaus Geus, Travelling along the Silk Road. A New Interpretation of Ptolemy’s Coordinates. Berlin 2014 [MPIWG Preprints, 465]; Irina Tupikova/Klaus Geus, The Location of Novaesium. A New Interpretation of Ptolemy’s Coordinates, in: Orbis Terrarum 12, 2014, ersch. 2016, 293–309), ist die auffällige Überdehnung der Oikumene in Ost-West-Richtung bei Ptolemaios eine unmittelbare Konsequenz seiner falschen Bestimmung des Erdumfangs: Da die astronomisch bestimmten Breitenkreise auf einem Globus fixiert sind, „gleiten“ die zu den jeweiligen Messpunkten bestimmten terrestrischen Strecken „zu weit“ nach Osten und Westen. Mutatis mutandis kann man sich dieses „Einquetschen“ von korrekt bestimmten Entfernungen auf eine zu kleine Erdoberfläche am Beispiel eines „double burger“ veranschaulichen: Während die einzelnen Lagen des Burgers zueinander relativ stabil bleiben (sie entsprechen in diesem Vergleich den astronomisch bestimmten Breitengraden), quillt die „Sauce“ (sie entspricht in dem Vergleich der aus einzelnen Entfernungsangaben bestehenden Datenmenge) beim Zusammenpressen rechts und links heraus. 36 Als weiteres Beispiel für eine Fahrt über das offene Meer haben wir die Distanz von Tanais nach Byzanz an Hand der Ptolemäischen Koordinaten (geogr. 3,5,31 [Tanais]; 3,11,5 [Byzanz]) nachgerechnet: Die gefundene Winkeldistanz von 13,62° entspricht 6810 Stadien. Bei einer Stadionlänge von 157,5 Metern erhält man eine Distanz von 1073 km gegenüber der tatsächlichen Entfernung von 1081 km entlang eines Großkreisbogens.

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„von der Schrift zum Bild“ oder „from words to acts“ 37 – sind wir für die Antike fast gar nicht informiert. Wie hat man das konkret gemacht? Gab es Regeln und Vorschriften oder wenigstens Traditionen und Usancen? Wer waren diese Kartenzeichner überhaupt? Handelte es sich um dieselben Leute, die an den Entdeckungsreisen teilnahmen? Waren es ‚armchair geographers‘, Stubengelehrte, wie Ptolemaios nahelegt, also vielleicht Astronomen und Mathematiker? Oder arbeiteten Praktiker, die nach vorhandenen geographischen Daten, nach den Wünschen ihrer Auftraggeber oder nach den Gegebenheiten und der Größe und Art des benutzten Materials ihre Karten zeichneten? Einige wenige Aussagen über diesen Produktionsprozess finden sich wieder in der ptolemäischen Geographie (bes. geogr. 1, 21–2, 1) 38, außerdem in der Geographie Strabons, der vor allem im 2. Buch die Karte seines Vorgängers Eratosthenes diskutiert. Hier handelt es sich aber eindeutig um die Herstellung einer Weltkarte bzw. einer Karte der damals bekannten Welt (Oikumene), die eigenen Regeln folgt und vielleicht nicht typisch für die Regionalkarten war. Wie mögen solche Karten ausgesehen haben? Inwiefern die wenigen erhaltenen und teilweise umstrittenen Beispiele 39 aus dem Altertum typisch für die antike Kartographie insgesamt sind und sich nicht gerade wegen ihrer „Besonderheit“ erhalten haben, ist eine schwer zu beantwortende Frage. 37

Zu diesem Themenkomplex vgl. die Beiträge in Marco Formisano/Philip van der Eijk (Eds.), Knowledge,

Text and Practice in Ancient Technical Writing. Cambridge/New York 2017. 38

Vgl. dazu vor allem J. Lennart Berggren/Alexander Jones, Ptolemy’s Geography. An Annotated Transla-

tion of the Theoretical Chapters. Princeton/Oxford 2000, und die verschiedenen Beiträge (bes. von Alfred Stückelberger und Florian Mittenhuber) in: Alfred Stückelberger/Florian Mittenhuber (Hrsg.), Klaudios Ptolemaios: Handbuch der Geographie. Ergänzungsband mit einer Edition des Kanons bedeutender Städte. Basel 2009. 39

Im Einzelnen sind zu nennen: die Soleto-Karte, einzelne „Münzkarten“, der Artemidor-Papyrus, der

„Stadiasmos von Patara“, der „Schild von Dura-Europos“, die Ptolemaios-Karten, die Forma Urbis, die Vicarello-Becher, die römischen Kataster-Karten, das Nilmosaik von Palestrina, die Karten der Agrimensoren, die spätantiken Mosaik-Karten und Fresken, die Erdkarte des Kosmas Indikopleustes, die Karten und Diagramme in mittelalterlichen Handschriften und die Tabula Peutingeriana. Zu Itinerarien, die auf Objekten eingraviert waren, vgl. Wilhelm Kubitschek, Itinerarien, in: RE 18, 1916, 2314–2318; nachzutragen ist die tabula in Amiens-Patera (Journal of Roman Studies 41, 1951, 222); vgl. außerdem CIL XII 5732 (Antibes). Die Literatur zu den einzelnen Objekten ist Legion. Für einen Überblick vgl. besonders Oswald Ashton Wentworth Dilke, Greek and Roman Maps. London 1985, Francesco Prontera, Karte (Kartographie), in: Rivista di archeologia cristiana 20, 2001, 187–229, sowie die Beiträge in J. B. Harley/David Woodward (Eds.), The History of Cartography. Vol.1: Cartography in Prehistoric, Ancient and Medieval Europe and the Mediterranean. Chicago/London 1987.

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Für die aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit gut bekannten Seekarten bzw. Portolanen findet sich für die Antike kein Beleg. Ob die für Thales, Timosthenes und Varro bezeugten „nautischen Handbücher“ 40 auch Karten enthielten, ist unsicher. Die in ihrer Aussagekraft beschränkten direkten literarischen Zeugnisse für Karten und Kartennutzung helfen ebenfalls nicht weiter. 41 Möglicherweise lassen sich aber einige indirekte Belege heranzuziehen. Kaum Beachtung schenkte man nämlich bisher in der Forschung den „geographischen Bildern“ in antiken Texten. 42 Denn die vielen „geometrischen“ oder „geographischen“ Vergleiche, die sich dort

40 Belege in Boris Dunsch, Arte rates reguntur. Nautical Handbooks in Antiquity?, in: Studies in History and Philosophy of Science 43, 2012, 270–283. 41 Liebeskranke beschäftigten sich mit Karten, um den Verbleib ihrer Liebsten nachzuverfolgen: Prop. 4,3,35–40 (von Brodersen, Terra Cognita [wie Anm.3], 101–102, als Schemakarte/Faustskizze zu den Klimazonen gedeutet, doch geht v. 36 zu den milia auch auf Entfernungsangaben ein, was zumindest eine elaborierte Form beweist). Kaum eine Kartenzeichnung meint dagegen Tib. 1,6,19–20: „neu de decipiat nutu, digitoque liquorem / ne trahat et mensae ducat in orbe notas“, auch Prop. 3,21,19 ist nicht auf Karten, sondern auf Gemälde zu beziehen. Vgl. auch Tib. 1,10,32 (improvisierte Lagezeichnung eines Militärlagers mit Finger und Wein auf eine Tischplatte gemalt); ähnlich Ovid. Heroid. 1,31–6 (improvisierte Lagezeichnung von Troja und Umgebung mit Wein auf Tischplatte gemalt). Diese Stellen beweisen allenfalls einen Ansatz eines kartographisches Bewusstseins, wie es Plutarch schon für das Athen vor der Sizilien-Expedition 416 v.Chr. unterstellt, wenn er junge Männer in den Palaistren „die Gestalt Siziliens, die ‚Natur‘ des dortigen Meeres, die Häfen und die Orte, an denen sich die Insel nach Afrika wendet“ zeichnen lässt (Nik. 12; vgl. Alk. 17). Thukydides erwähnt allerdings in diesem Zusammenhang keine Karte, sondern nur Entfernungsangaben. Dass welterfahrene Personen dazu neigen, ihre Reisen mit Skizzen zu illustrieren, betont Plutarch (quaest. conviv. 2,1,2 [mor. 630 b–c]). Soldaten dekorierten ihre Schilder mit Abbildungen, die man – je nach Definition – als Karte oder Diagramme oder Visualisierung einer Landschaft interpretieren kann, wie nicht nur das erhaltene Beispiel aus Dura-Europos, sondern schon Ovids Metamorphosen (5,188–9: „clipeo quoque flumina septem / argento partim, partim caelaverat auro“ [wohl Nildelta-Darstellung]; 13,110: „nec clipeus vasti caelatus imagine mundi“ (Remineszenz an Schild des Achills bei Homer) beweist. Am Ende der Republik waren also „Karten“ der gebildeten Öffentlichkeit vertraut. In der Spätantike mögen Karten häufiger gewesen sein (vgl. z.B. Paneg. Lat. IV 20 [„Karte von Autun“]; Veget. 3,6 [Itinerarium pictum]); aber der etwa bei Sherk, Exploration (wie Anm.18) stehende Hinweis auf die Expositio Psalmi des Ambrosius (In Psalm. 118, sermo 5, 3 [Migne PL 15, 125, 1]) ist nicht für Kartenverwendung heranzuziehen; der Text bezieht sich auf routes und landmarks. Richard J. A. Talbert (Claudius’ Use of a Map in the Roman Senate, in: González Ponce/Gómez/Chávez Reino [Eds.], La letra y la carta [wie Anm.19], 313–317) geht jetzt davon aus, dass Kaiser Claudius während seiner Lugdunum-Rede im Jahre 48 im Senat eine Karte zeigte. 42 Vgl. Brodersen, Terra Cognita (wie Anm.3), 39–43; Daniela Dueck, The Parallelogram and the Pinecone. Definition of Geographical Shapes in Greek and Roman Geography on the Evidence of Strabo, in: Ancient Society 35, 2005, 19–57; Nicola Biffi, „È simile a …“. L’uso delle immagini nella Geografia di Strabone, in: Vanna Maraglino (Ed.), Scienza antica in età moderna: Teoria e immagini. Bari 2012, 181–214; weiteres Material bei Klaus Geus, Die Vermessung der Oikumene(n), in: Ortwin Dally/Friederike Fless/Rudolf Haensch/Felix Pirson/Susanne Sievers (Hrsg.), Politische Räume in vormodernen Gesellschaften. Gestaltung – Wahr-

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finden, verraten noch ihren ursprünglich geometrisch-kartographischen Ursprung. Bei „Kreis“, „Dreieck“, „Viereck“, „Parallelogramm“, etc., die mit konkreten Räumen wie dem Kaspischen Meer, Sizilien, Skythien oder Ariane verglichen werden, ist das unmittelbar einleuchtend 43, die Herkunft der antiken Geographie „aus dem Geist der Geometrie“ 44 gut ersichtlich 45. Mit dem Begriff geometria (eigentlich: „Erd-Messung“) konnte übrigens auch die Geographie bezeichnet werden. Aber auch die unregelmäßigen Schemabilder wie „Fußsohle“ (Sardinien), „Rindshaut“ (Iberien), „Platanenblatt“ (Peloponnes), „Ruderschiff“ (Mesopotamien), „Skythischer Bogen“ (Schwarzes Meer), „Artischocke“, „Chlamys“, „Schleuder“ (alle drei für die Oikumene) und andere mehr 46, gehen wohl auf antike Karten zurück. Denn während jeder Mensch unterschiedliche Vorstellungen über diese Objekte hat – ist zum Beispiel die „Chlamys“ (der makedonische Soldatenmantel) an einem Nagel aufgehängt oder auf dem Boden ausgebreitet; ist die „Fußsohle“ in Nord-Süd-Rich-

nehmung – Funktion. Internationale Tagung des DAI und des DFG-Exzellenzclusters TOPOI vom 18.–22. November 2009 in Berlin. Rahden 2012, 143–150. 43

Die folgenden Quellen bilden nur eine kleine Auswahl. Kreis: Dion. Perieg. 718; Dreieck: Diod. 1,34,1;

Polyb. 2,14,4–12; Dion. Perig. 242–244 (auf Ägypten bezogen); Eust. comm. Dion. perieg. 157 (GGM II 245) (auf Ägypten bezogen); schol. Arat. 236,191–192 Martin (auf Ägypten bezogen); Viereck: Strab. 2,5,14, C 118; Dionys. Perieg. 887–893 (auf Asien bezogen); Mela 2,123 (auf Sardinien bezogen); Parallelogramm: Strab. 2,1,22–23, C 78. 44

Hans-Joachim Gehrke, Die Geburt der Erdkunde aus dem Geist der Geometrie. Überlegungen zur Ent-

stehung und zur Frühgeschichte der wissenschaftlichen Geographie bei den Griechen, in: Wolfgang Kullmann/Jochen Althoff/Markus Asper (Hrsg.), Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike. Tübingen 1998, 163–192. 45

Pars pro toto verweisen wir auf Quint., inst. or. 1,10,34–49, wo Teile der Geographie und Astronomie

als für den Redner erforderlichen Kenntnissen unter dem Begriff geometria subsumiert sind. Das greift z.B. auch der römische Agrimensor Agennius Urbicus auf (24,15–26,2 Thulin); dazu Jean-Yves Guillaumin, L’éloge de la Geometria chez Agennius Urbicus, in: Revue des études anciennes 104, 2002, 433–443. 46

Fußsohle: Aristot. mirab. 100; Dion. Perieg. 287; Eust. comm. Dion. Perieg. 157 (GGM II 245); Platanen-

blatt: Eust. comm. Dion. Perieg. 157 (GGM II 245), Strab. 8,2,1, C 335, vgl. Dion. Perieg. 403–408; Const. Porphyrog. de them. 52, p. 90 Pertusi; Ruderschiff: Strab. 2,1,23, C 79; 2,1,26, C 80 u. ö.; vgl. Eust comm Dion. Perieg. 976 (GGM II 386); Skythischer Bogen: Anm.32,8,9–14 (weitere Belege bei Anca Dan, The Black Sea as a Scythian Bow, in: Manolis Manoledakis [Ed.], Exploring the Hospitable Sea. Proceedings of the International Workshop on the Black Sea in Antiquity Held in Thessaloniki, 21.–23.September 2012. Oxford 2013, 39–58); Artischocke: Strab. 2,5,6, C 113; Chlamys: Belege bei Klaus Zimmermann, Eratosthenes’ ChlamysShaped World. A Misunderstood Metaphor, in: Daniel Ogden/Sylvie Le Bohec-Bouhet (Eds.), The Hellenistic World. New Perspectives. London 2002, 23–40; Schleuder: Dion. Perieg. 5ff. 270ff.; Agathem. 1,2 (GGM II 471). Klaus Geus bereitet einen Aufsatz zu der Verwendung von Schemafiguren in der antiken Literatur

vor.

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tung oder Ost-West-Richtung orientiert? usw. –, wird umgekehrt jedem beim Betrachten einer Karte sofort ersichtlich, welche Region jeweils gemeint sein muss. Es ist daher wohl kein Zufall, dass die meisten Schemabilder in Zusammenhang mit kartographischen Werken, insbesondere der Geographie des Eratosthenes, genannt sind. Der ‚Geograph‘ ist nach antiker Vorstellung und Terminologie (graphein heißt auch „zeichnen“) vor allem der „Karten-Zeichner“. Die relativ häufige Verwendung von solchen Bildern – übrigens nicht nur in der geographischen und historiographischen Literatur – beweist natürlich nichts für den tatsächlichen Gebrauch von Karten. Wie heute beim „Stiefel“ für Italien haben sich diese Metaphern und Symbole vom ursprünglichen Kontext gelöst und ihr Eigenleben entwickelt. Wenn unsere Vermutung richtig ist, dass die geographischen Bilder beziehungsweise Schemabilder auf Karten zurückgehen, wird man sich die antiken Karten – anders als die meisten erhaltenen Beispiele – wohl als relativ schlichte, mit geraden Linien und Figuren gezeichnete, am ehesten den Diagrammen verwandte Objekte vorstellen müssen. Ihr fast spurloses Verschwinden würde dann nicht mehr weiter verwundern. Da sich, wie erwähnt, nur wenige und dazu noch umstrittene Beispiele wie der Artemidor-Papyrus, der „Schild von Dura-Europos“ oder die Tabula Peutingeriana aus der Antike erhalten haben, müssen wir nach Zeit, nach Raum, nach Anlass und nach Objekt sehr isolierte Informationen zusammenbringen. Dass das dabei entstandene Bild zwangsläufig sehr heterogen ausfallen muss, verwundert nicht. Es lassen sich unseres Erachtens nur wenige und auch fast nur negative bzw. recht allgemeine Aussagen treffen: – Das Material, auf das man in der Antike Karten zeichnete, war sehr verschiedenartig; bezeugt sind unter anderem Holz, Stein, Papyrus, Pergament, Leder, Metall; – die Größe und das Format der Karten konnte sehr unterschiedlich sein (zum Beispiel die sogenannte „Agrippa-Karte“ auf der Porticus Vipsania, die Forma Urbis, die Tabula Peutingeriana, die „Kataster-Karten“ der Agrimensoren, die Diagramme in Papyri und Pergament-Codices); – der Anlass und die Zielsetzung der Karten variierten sehr („Agrippa-Karte“, Oikumene-Karten des Eratosthenes und Ptolemaios, Minen-Karte aus Ägypten, Karten in Tempeln usw.); – die Umsetzung von „Wort“ zu „Bild“ konnte sehr unterschiedlich sein und unseren heutigen Vorstellungen und Gewohnheiten von Karten widersprechen

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(Nord-Orientierung, Maßstäblichkeit, Zeichensprache und Legende, materielle Vorgaben u.a.). Als – vielleicht recht ernüchterndes – Fazit lässt sich festhalten: Viel stärker als heute – wo wir Karten, jedenfalls bis zu den digitalen Karten der jüngsten Zeit, in stark normierter Form (Papier/Karton, Maßstäblichkeit, Nordorientierung, Zeichensprache und Legende) kennen – scheinen die antiken Karten auch im Kontext von Seereisen ad hoc-Umsetzungen der vorliegenden geographischen Daten gewesen zu sein. Die Größe, das Medium, die Form der Karte waren, soweit wir dies feststellen oder vermuten dürfen, nicht durch bestimmte abstrakte Regeln und Traditionen von vornherein festgelegt, sondern wurden je nach Anlass, nach Auftraggeber, nach Aufstellungs- und Aufbewahrungsort, nach Funktion sowie nach Quantität und Qualität der geographischen Daten individuell gestaltet und ad hoc hergestellt. Die Lösungen, die in der Antike gefunden wurden, sind jeweils sehr unterschiedlich und geben keinen Hinweis auf „Kartographen-Schulen“. 47 Die Kartenzeichner scheinen – wenn die bekannten Beispiele des Eratosthenes und Ptolemaios verallgemeinert werden dürfen – meist nicht identisch mit den Leuten gewesen zu sein, die die geographischen Daten vor Ort sammelten und niederschrieben. 48 Diese hier angestellten Überlegungen gelten auch mutatis mutandis für die Karten, die aller Wahrscheinlichkeit nach im Zusammenhang mit Entdeckungsfahrten produziert worden sind, auch wenn die Hinweise darauf sehr spärlich sind. Hier ist außerdem zu beachten, dass wir einen fließenden Übergang von Karte zu (oft improvisierten) kartenähnlichen Objekten haben – wie Lageplan, Grundriss, Aufriss, Draufsicht, Maßzeichnung, Diagramm, Schemazeichnung, Faustskizze, Landschaftsbild, Panoramazeichnung, Stadtsilhouette – und geographischen Listen. 49

47

Eine Ausnahme stellten vielleicht die römischen Feldmesser, die Agrimensoren, dar, die sowohl die

Centuriatio der neu gewonnenen (und alten) Gebiete durchführten als auch die entsprechenden „Flurkarten“ herstellten. Es gibt aber auch im Corpus Agrimensorum Romanorum Klagen darüber, wie unterschiedlich in früheren Zeiten und in verschiedenen Regionen Flurkarten hergestellt wurden. Wir dürfen also unsere Aussagen auch hier nicht zu sehr pressen. Vgl. zu diesem Aspekt Carl Joachim Classen, On the Training of the Agrimensores in Republican Rome and Related Problems. Some Preliminary Observations, in: Illinois Classical Studies 19, 1994, 161–170; vgl. außerdem die folgende Anmerkung. 48

Eine Ausnahme mag der in Plin. ep. 10,17 B genannte mensor gewesen sein, der von Kaiser Trajan an-

gefordert wurde. Vgl. dazu Sherk, Exploration (wie Anm.18), 545f. 49

Der griechische Standardbegriff für „Karte“ ist pinax (πίναξ, wörtl. „Brett“, „Schreibtafel“), der lateini-

sche forma. Beide Bezeichnungen haben aber in beiden Sprachen einen weiten Bedeutungsumfang, sodass nur der Kontext entscheiden kann, ob die wenigen antiken Quellen von „Karten“ oder von verwandten For-

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Ptolemaios resümiert in seiner Einleitung (geogr. 1,19,1–2): „Wir haben also eine doppelte Aufgabe übernommen. Einerseits wollen wir die durch das ganze Werk hindurch vertretene Lehrmeinung des Marinos wahren – abgesehen von Einzelheiten, die der Korrektur bedürfen, andererseits [wollen wir], dass die Dinge, die bei ihm nicht klar geworden sind, entweder auf Grund der Erkundung [historia] von Leuten, die damit in Berührung gekommen sind, oder auf Grund der [Orts-]Bestimmung in genaueren Karten, korrekt eingetragen werden, so gut es denn möglich ist.“

Die hier ausgesprochene Erwartung des Ptolemaios, dass künftige Forschung – entweder in Form neuer Reiseberichte oder in Form von genaueren Karten – zum Fortschritt und Aufschwung der Geographie beitragen wird, ist zumindest für die Antike nicht eingetroffen. Seine Geographie wurde in der Spätantike nicht erweitert oder verbessert, sondern epitomisiert und schließlich – im lateinischen Westen wie im griechischen Osten – fast komplett vergessen. Allerdings haben die Wiederentdeckung des griechischen Textes und seine Übersetzung ins Lateinische ab dem Beginn des 15.Jahrhunderts nicht nur zu einem Aufblühen der Geographie und Kartographie geführt, sondern auch die Geschichte der frühneuzeitlichen Entdeckungsgeschichte maßgeblich beeinflusst. Nicht von ungefähr hatte Christoph Kolumbus

maten wie „Zeichnung“, „Diagramm“, „Bild“, (geographische) „Liste“ etc. sprechen. Im Einzelfall ist wie bei der so genannten „Agrippa-Karte“ die Bedeutung kaum auszumachen und in der Forschung entsprechend umstritten. Der Begriff tabula (wie er z. B. aus der Tabula Peutingeriana bekannt ist) ist für die Antike selten (Cic. Att. 6,2,3; Propert. 4,3,37). Ges periodos (γῆς περίοδος; wörtlich: „Rundfahrt um die Erde“), gebraucht vor allem als Begriff für die frühe geographische Literatur, kann ebenfalls „Karte“ bedeuten (vgl. Aristoph. nub. 207; Hdt. 4,36; Arist. Met. 2,5). Mappa, nach Quintilian (1,5,57) ein punisches Word, ist zwar aus dem mittelalterlichen und modernen „mappae mundi“ („Weltkarten“) bekannt, hat aber in der Antike diese Bedeutung noch nicht, sondern meint „Serviette“, „Flagge“. Das griechische Wort διάγραμμα, aus dem die deutsche Bezeichnung „Diagramm“ abgeleitet ist, bedeutet nach LSJ 391 „figure“, „geometrical proposition“, „horoscope“, „list, register“, „inventory“, „ordinance“, „regulation“. Die spezifische Bedeutung „Karte“ ist erst in den Briefen des Kaisers Julian (10) belegt. Relativ selten – und keinesfalls ausschließlich – ist schließlich für antike Karten der lateinische Begriff orbis terrarum (wörtlich: „Rund[schau]“ bzw. „Scheibe der Welt“) gebraucht. Vgl. z. B. Vitr. 8,2,6. Zusammenfassend gesagt, fehlt in den antiken Sprachen ein unzweideutiger Begriff für „Karte“. Hinzu kommt, dass sich die Griechen und Römer mit Umschreibungen behalfen: vgl. z. B. das in seiner Bedeutung umstrittene itinerarium pictum (wörtlich: „gemalter Reiseplan“) des Vegetius (3,6,4). Zur Abgrenzung von Karten zu Diagramm und anderen Formaten geographischen Wissens, einschließlich einer nützlichen Bibliographie, vgl. die einzelnen Beiträge in Stefan Günzel/Lars Nowak (Hrsg.), KartenWissen. Territoriale Räume zwischen Bild und Diagramm. Wiesbaden 2012.

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ein Exemplar der Geographie des Ptolemaios auf seiner Reise in die Neue Welt bei sich. 50

50

Vgl. dazu Alfred Stückelberger, Kolumbus und die antiken Wissenschaften, in: Archiv für Kulturge-

schichte 69, 1987, 331–340.

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Neue Karten für die Neue Welt? Kartographische Praktiken der Exploration von Ingrid Baumgärtner

Der Artikel geht der Frage nach, welche Erfahrungen, Vorstellungen und Denkmuster aus der Antike im Zeitraum zwischen etwa 1450 und 1550 die Exploration neuer Meere und Länder antrieben. Dabei richtet sich die Analyse vor allem auf Diskurse, Techniken und Praktiken, die eingesetzt wurden, um die Dynamiken der frühneuzeitlichen Expansion in kartographische Bilder zu übersetzen und die Welt kartographisch zu konfigurieren. Die Untersuchung erfolgt in drei Schritten, die erstens die Rezeption divergierender antiker Weltkenntnisse im 15.Jahrhundert, zweitens die Relevanz empirischer Praktiken und antiker Modelle bei der Erschließung der Welt um 1500 und drittens die Neubewertung der Welt und ihrer antiken Wurzeln in Atlanten und Kosmographien bis zur Mitte des 16.Jahrhunderts in den Blick nehmen.

I. Einleitung „Es gibt drei Arten des Meeres“, schreibt der Ulmer Dominikaner Felix Fabri (1437/38–1502) in seinem Evagatorium, dem ausführlichen Bericht über seine Jerusalemfahrten, „nämlich das große, das größere und das größte Meer. Das große ist das Mittelmeer, das ‚unser Meer‘ genannt wird. Das größere Meer ist das Pontische und das größte Meer ist der Ozean, der die Erde umgibt. […] Der Ozean heißt auch gewaltiges ozeanisches Meer, weil er von außen die Erde kreisförmig umgibt. […] Der Ozean entspringt der Erde, in ihr ist sein Ursprung und sein Anfang.“ 1 Diese Zeilen, um

1 Jean Meyers/Michel Tarayre (Eds.), Félix Fabri, Les Errances de frère Félix Fabri, pèlerin en Terre sainte, en Arabie et en Égypte. Édition critique. Vols. 1–6. (Textes litteraires du Moyen Age 25, 26, 31, 32, 40, 41.) Paris 2013–2017, hier Vol.1, 354–356: „Mare in genere est triplex, scilicet mare magnum, mare maius et mare maximum. Mare magnum est mare Mediterraneum, quod dicitur mare nostrum; mare maius est mare Ponticum; mare maximum est oceanus, quod ambit mundum. […] Oceanus uel oceanum mare maximum, quod exterius per modum circuli ambit orbem terrarum eumque amplectitur. […] Oceanus ille manat ex orbe, et in ipso est radix eius et principium; finis quoque eius est apud finem illius.“ Übersetzung ins Deutsche frei nach Margit Stolberg-Vowinckel, in: Quellen zur Geschichte des Reisens im Spätmittelalter. Ausgewählt und übers. v. Folker Reichert unter Mitarbeit v. Margit Stolberg-Vowinckel. Darmstadt 2009, 155. Vgl. Konrad Dietrich Haßler (Hrsg.), Fratris Felicis Fabri Evagatorium in Terrae Sanctae, Arabiae et Egypti peregrinationem. 3 Bde. (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart, Bd.2–4.) Stuttgart 1843–1849, hier Bd.1, 107; Stefan Schröder, Zwischen Christentum und Islam. Kulturelle Grenzen in den spätmittelal-

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110670547-011

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1484 in gelehrtem Latein verfasst, spiegeln die Bedeutung, die der geographiekundige Reisende den Wassermassen zukommen ließ. Die maritimen Strukturen halfen dem Autor, den Aufbau der Erde zu erklären, und seinen Lesern, diesen zu verstehen. Entsprechend dem abstrakten TO-Schema mittelalterlicher Provenienz formen Mittelmeer und Schwarzes Meer – einschließlich des Asowschen Nebenmeeres als Mündungsgewässer des Don – das T im alles umgebenden O des Weltenozeans. Den Ausgangspunkt solcher Beschreibungen bildeten die Schriften der Kirchenväter, die antike Vorgaben – wie die griechische Erfindung des Okeanos und den Diskurs um die Erdteilgrenzen – mit christlicher Symbolik bereichert hatten 2: Der Weltenstrom umfließe, so hieß es, die dreigegliederte Welt, in der das Mediterraneum die bekannten Erdteile miteinander verband. Das zugehörige kartographische Schema hatte im Mittelalter räumlich und temporär größte Reichweiten erlangt und wurde in Hunderten von Abschriften in ganz Europa rezipiert. 3 Eine komplexe kartographische Umsetzung solcher Vorstellungen konnte Felix Fabri bei seinem zweiten Venedig-Aufenthalt überdies in der auf einer Insel vor Murano gelegenen Kirche San Cristoforo (della Pace) bewundern. Denn dort hing eine nach Süden ausgerichtete, spätestens im August 1460 vollendete Wandkarte, deren Afrika der venezianische Kamaldulenser Fra Mauro im Vertrauen auf die erfolgreich voranschreitenden Reisen der Portugiesen mit einer meerumflossenen Südspitze gestaltet hatte. Das vielschichtige Werk beeindruckte den Ulmer Reisenden zutiefst, so dass er den Daheimgebliebenen vom Anblick der herrlich gemalten mappa mundi

terlichen Pilgerberichten des Felix Fabri. (Orbis medievalis. Vorstellungswelten des Mittelalters, Bd.11.) Berlin 2009, 53–76. 2 Vgl. Ingrid Baumgärtner, Europa in der Kartographie des Mittelalters. Repräsentationen – Grenzen – Paradigmen, in: dies./Hartmut Kugler (Hrsg.), Europa im Weltbild des Mittelalters. Kartographische Konzepte. (Orbis mediaevalis, Bd.10.) Berlin 2008, 9–28, hier 11–17; Klaus Oschema, Bilder von Europa im Mittelalter. (Mittelalter-Forschungen, Bd.43.) Ostfildern 2013, 88–96. 3 Patrick Gautier Dalché, der an einem Inventar der schematischen TO-Karten bis 1200 arbeitet, bemerkte schon 1994, eine Liste von ungefähr 400 solcher Schemata zu haben; vgl. Patrick Gautier Dalché, De la glose à la contemplation. Place et fonction de la carte dans les manuscrits du Haut Moyen Âge, in: Testo e Immagine nell’Alto Medioevo. (Settimane di Studio del Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo, Vol.41.) Spoleto 1994, 693–771, hier 702 (auch in: ders., Géographie et culture. La représentation de l’espace du VIe au XIIe siècle. [Variorum Collected Studies Series, Vol.592.] Aldershot 1997, Nr. VIII). Bis zum 31.Dezember 1997 hatten weitere Funde die Anzahl bereits auf 625 Karten in 465 Handschriften erhöht; vgl. Patrick Gautier Dalché, ‚Mappae mundi‘ antérieurs au XIIIe siècle dans les manuscrits latins de la Bibliothèque Nationale de France, in: Scriptorium 52, 1998, 102–162, hier 102. Es bleibt abzuwarten, wie viele TO-Darstellungen letztendlich in der angekündigten Katalogisierung verzeichnet sein werden.

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berichtete. 4 Nicht zuletzt gingen beide, Felix Fabri und Fra Mauro, davon aus, dass erstens der unendliche Weltenozean die Fläche des Irdischen räumlich konstituiere und dass zweitens Mittelmeer und Schwarzes Meer die drei recht unterschiedlich großen Erdteile wenigstens andeutungsweise voneinander trennten. 5 Zehn Jahre später, 1494, wurde im Vertrag von Tordesillas die Teilung der Welt zwischen Spaniern und Portugiesen beschlossen. Auch wenn die Verhandlungspartner die räumlichen Dimensionen der Welt nicht viel besser als Felix Fabri und Fra Mauro einschätzen konnten, legten sie eine Demarkationslinie fest, die mitten durch den Atlantik von Nord nach Süd verlaufen sollte, und zwar 370 spanische Meilen, also etwa 1800 Kilometer, westlich der Kapverdischen Inseln. Östlich davon sollte alles den Portugiesen, westlich alles den spanischen Königen gehören. Die Vertragspartner grenzten die beanspruchten Herrschaftsgebiete voneinander ab, aber sie verfügten nicht über die Voraussetzungen, um die Vereinbarung überhaupt in die Praxis umzusetzen. Eine gemeinsame Expertenkommission begann die antiken Quellen sorgfältig zu studieren und deren Aussagen miteinander zu vergleichen. Trotzdem gelang es ihr nicht, die Demarkationslinie kartographisch so zu fixieren, dass sich beide Parteien damit zufriedengaben. Die Vertreter beider Länder beriefen sich auf unterschiedliche Traditionen und vor allem auf voneinander abweichende Berechnungen zum Erdumfang. Dieser Dissens behinderte alle Versuche, zu einer kongruenten Antwort zu kommen. Bis zum Vertrag von Saragossa im Jahr 1529, also 35 Jahre lang, blieb es, was die gemeinsame Veranschaulichung der Teilung betraf, bei einer textuellen Beschreibung. 6 Beide Beispiele zeigen die Rezeption ‚antiken‘ Wissens mit differenten Formen und divergierenden Resultaten: Im ersten Fall wurden die antiken Wissensbestände christlich interpretiert und gemäß portugiesischen Hoffnungen modifiziert, im

4 Meyers/Tarayre (Eds.), Félix Fabri, Les Errances (wie Anm.1), Vol.1, 350: „Est enim inter Venecias et Murianam insula, in qua est ecclesia noua et pulchra sancti Christophori cum monasterio ordinis albi. In illo monasterio est depicta una mappa mundi ualde pulchra.“ Vgl. Haßler (Hrsg.), Fabri Evagatorium (wie Anm.1), Bd.1, 106. 5 Zu den Ordnungsvorstellungen, ob das Land die Meere oder die Meere das Land konturierten, vgl. Christoph Mauntel, Vom Ozean umfasst. Gewässer als konstitutives Element mittelalterlicher Weltordnungen, in: Friedrich Edelmayer/Gerhard Pfeisinger (Hrsg.), Ozeane, Mythen, Interaktionen und Konflikte. Münster 2017, 57–74. 6 Ute Schneider, Tordesillas 1494 – Der Beginn der globalen Weltsicht, in: Saeculum 54, 2003, 39–62; Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015. München 2016, 107 und 139 zum Vertrag von Saragossa.

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zweiten griffen Experten auf antike Schriften zurück, die letztlich nicht halfen, das komplexe Problem zu lösen. Beide Diskurse rankten sich um den Erdumfang und um das Verhältnis von Wasser und Land. Das zunehmende Streben nach der Vermessung des Raums verband sich mit dem Drang, neue intersubjektive Methoden zu etablieren. Dabei prallten konträre Vorstellungen vom ‚richtigen‘ Wissen aufeinander: empirische Praxis gegen gelehrte Wissenschaft, Seeleute gegen Kosmographen, Mündlichkeit gegen Schriftlichkeit, partikulares Wissen gegen den Wunsch nach Generalisierbarkeit. In diesem Kampf ging es darum zu ermitteln, welche Relevanz der maritimen Praxis in Relation zur topographischen Weltrepräsentation antiker Tradition zuzusprechen wäre, ohne dass Klarheit darüber bestand, was die ‚Antike‘ denn eigentlich sei. Welche Diskurse, Techniken und Praktiken wurden also eingesetzt, um die verschiedenen Perspektiven zu reflektieren und Kartenproduktion wie Kartengebrauch an zeitgenössische Erfordernisse anzupassen? Oder anders gefragt, in Abwandlung der Worte von Raimund Schulz 7: Welche Rolle spielten antike Erfahrungen, Vorstellungen und Denkmuster, wenn es darum ging, die Dynamiken der frühneuzeitlichen Expansion zu kartieren? Zu analysieren ist also das Wechselverhältnis zwischen der Exploration neuer Meere und der kartographischen Konfiguration der Welt zwischen 1450 und 1550. Die folgenden Bemerkungen werden dieses Ringen in drei Querschnitten abrisshaft skizzieren und dabei erstens die Rezeption divergierender antiker Weltkenntnisse im 15.Jahrhundert, zweitens die Relevanz empirischer Praktiken und antiker Modelle bei der Erschließung der Welt um 1500 und drittens die Neubewertung der Welt und ihrer antiken Wurzeln in Atlanten und Kosmographien bis zur Mitte des 16.Jahrhunderts in den Blick nehmen.

7 Raimund Schulz, Einleitung zum vorliegenden Band; ders., Der weite Weg nach Westen. Maritime Expansion und geographische Horizonterweiterung in der Antike und die Möglichkeiten des Vergleichs mit der frühen Neuzeit, in: Thomas Beck/Marília dos Santos Lopes/Christian Rädel (Hrsg.), Barrieren und Zugänge. Die Geschichte der Europäischen Expansion. Festschrift für Eberhard Schmitt. Wiesbaden 2004, 51– 62; ders., Oceanic Sea Routes to India – the Western World’s Great Dream from Antiquity to Columbus, in: Nikolas Jaspert/Sebastian Kolditz (Eds.), Entre mers – Outre-mer. Spaces, Modes and Agents of Indo-Mediterranean Connectivity. Heidelberg 2018, 95–105.

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II. Zur Rezeption antiker Weltkenntnis im 15.Jahrhundert Der Wettkampf zwischen den vielfältigen geographischen Modellen der Antike und den neuen kartographischen Inventionen des Mittelalters kreierte im Europa des 15.Jahrhunderts ein reiches Reservoir an Möglichkeiten, aus dem sich Reisende wie Kartenmacher bedienen konnten. Zur Verfügung stand ein breites Spektrum an Welt- und Reisebeschreibungen sowie Kartierungen, die von TO-Schemata und christlichen Weltkarten bis zu Regional- und Portulankarten reichten und deren Inhalte und Formen vielfach an antike Einsichten anknüpften. 8 Die gewaltigsten Auswirkungen hatte wahrscheinlich die Ankunft der ptolemäischen Geographia um 1397 in Florenz. 9 Bruchstücke des in ihr gesammelten geographischen Wissens waren zwar seit dem 4.Jahrhundert in Byzanz und seit dem 7.Jahrhundert im Westen bekannt und vereinzelt in historiographische, astrologische und geographische Werke eingeflossen, aber die – wenn nicht schon 1406 dann spätestens 1409 vollendete – Übertragung des Werks ins Lateinische löste einen Rezeptionsschub aus, dessen Wirkungskraft sich allein an den erhaltenen 86 Renaissance-Handschriften und etwa 19 Inkunabeln und Frühdrucken seit 1475 ablesen lässt. Die allseitige Beschäftigung mit der ptolemäischen Geographia trug in der Folge dazu bei, die Typen- und Formenvielfalt kartographischer Weltbilder zu vermehren, den Transfer ptolemäischer Ansätze in alle Teile Europas voranzutreiben und überdies die in den Portulankarten praktizierten Methoden der Projektion und Vermessung vom Mittelmeer auf die ganze Welt zu übertragen. Nicht zuletzt führte die Verbreitung des Werks in humanistischen Kreisen während der zweiten Hälfte des

8 Einen Überblick bieten Ingrid Baumgärtner/Stefan Schröder, Weltbild, Kartographie und geographische Kenntnisse, in: Johannes Fried/Ernst-Dieter Hehl (Hrsg.), WBG-Weltgeschichte. Eine globale Geschichte von den Anfängen bis ins 21.Jahrhundert. Bd.3: Weltdeutungen und Weltreligionen 600 bis 1500. Darmstadt 2010, 57–83. 9 Patrick Gautier Dalché, La géographie de Ptolémée en Occident (IVe–XVIe siècle). (Terrarum Orbis, Vol. 9.) Turnhout 2009, 145–160; ders., Pour une histoire du regard géographique. Conception et usage de la carte au XVe siècle, in: Micrologus. Natura, scienze e società medievali. Nature, Sciences and Medieval Societies 4, 1996, 77–103; Laura Federzoni, Testo e immagine: i codici manoscritti e le edizioni a stampa italiane della Geographia di Tolomeo, in: Ingrid Baumgärtner/Piero Falchetta (Eds.), Venezia e la nuova Oikoumene. Cartografia del Quattrocento / Venedig und die neue Oikoumene. Kartographie im 15.Jahrhundert. (Venetiana, Bd.17.) Rom/Venedig 2016, 37–71; Ingrid Baumgärtner/Piero Falchetta, Kartographischer Raum, Venedig und die Welt im 15.Jahrhundert. Eine Einführung, in: Baumgärtner/Falchetta (Eds.), Venezia e la nuova Oikoumene, 23–34.

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15. Jahrhunderts zu einem pragmatischen Umgang mit dem ptolemäischen Modell, dessen Aussagen und Berechnungen insbesondere zum Erdumfang zur Konfrontation mit den neuen Erkenntnissen der Entdeckungsreisen anregten und zu einer mathematischen Ausrichtung der Kartographie beitrugen. Die Ptolemäus-Rezeption dynamisierte also ein Feld, in dem die Berichterstattung über die portugiesischen Fahrten entlang der Küsten Afrikas und Kolumbus’ spätere Erfahrungsberichte über die Neue Welt weiteren Anlass gaben, die antiken und mittelalterlichen Vorstellungen zu überdenken und immer wieder kartographisch zu transformieren. 10 Um die Jahrhundertmitte finden wir die ptolemäischen Gedanken recht unterschiedlich veranschaulicht. Aus der Antike selbst waren keine brauchbaren Kartierungen zur Geographia überliefert. An den ersten Fassungen einer griechischen wie einer lateinischen pictura arbeitete der Florentiner Francesco di Lapacino, der sich um 1412 den Schwierigkeiten einer bildlichen Neuordnung stellte und die griechischen Angaben mit zeitgenössischen topographischen Referenzen in Latein verknüpfte. 11 Eine der frühen Kompilationen, bestehend aus Text und Karten, verfertigte anschließend Domenico Buoninsegni, ebenfalls aus dem Umfeld des Humanisten Niccolò Niccoli in Florenz. Damit war ein Modell geschaffen, das weite Verbreitung fand und gleichzeitig zur Auseinandersetzung mit den mittlerweile textuell und graphisch dargebotenen Vorstellungen herausforderte. Es verwundert nicht, dass dieser Prozess des Suchens nicht linear verlief. Deutlich modifiziert finden wir die Gedanken etwa in Fra Mauros einzigartiger mappa mundi, deren enorme Größe von knapp zwei mal zwei Metern es erlaubte, in fast unbeschränktem Maße auf antike Autoren zu rekurrieren, ohne die notwendige Diskussion geographischer Neuerungen zu übergehen 12: So sind bekanntlich die Konturen Afrikas vom seemännischen Erfahrungshorizont der Portugiesen bestimmt, während Bilder und kurze Aufschriften die angeblich ptolemäischen Vorgaben etwa 10

Reinhard Krüger, ‚Atiro ao Oriente‘: Die portugiesischen Seeunternehmungen des Spätmittelalters

und die europäische Tradition des Erdraumbewusstseins, in: Lusorama 41, 2000, 9–44. 11

Gautier Dalché, La géographie de Ptolémée (wie Anm.9), 154–158.

12

Piero Falchetta, Fra Mauro’s World Map. With a Commentary and Translations of the Inscriptions.

(Terrarum Orbis, Vol.5.) Turnhout 2006, 19–32; Angelo Cattaneo, Fra Mauro’s Mappa Mundi and FifteenthCentury Venice. (Terrarum Orbis, Vol.8.) Turnhout 2011, 38–46; Piero Falchetta, Il mappamondo di Fra’ Mauro: una storia. Rimini 2013, 11–49; Ingrid Baumgärtner, Kartographie, Reisebericht und Humanismus. Die Erfahrung in der Weltkarte des venezianischen Kamaldulensermönchs Fra Mauro (gest. 1459), in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 3/2, 1998 = Folker Reichert (Hrsg.), Fernreisen im Mittelalter. Berlin 1998, 161–197.

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zum geographischen Koordinatensystem, zur Dreiteilung der Welt und zu anderen Grenzziehungen kommentieren. 13 Fra Mauro gab sich alle Mühe, ptolemäische Irrtümer etwa zur Darstellung des legendären Taprobane sowie des Indischen Ozeans als Binnenmeer zu korrigieren 14, eigene Abweichungen in Weltenform und -abmessung, Namensgebung und Provinzgrößen zu verteidigen 15 und eigenständige Ergänzungen wie die Ostsee zu vermerken 16. Dass es sich dabei nicht immer um ptolemäisches Wissen handelt, auch wenn er dies behauptete, und vieles übernommen wurde, dessen Herkunft unkommentiert blieb, kennzeichnet seinen gesamten Umgang mit Vorgängerautoren, zu denen seitens der Antike unter anderem Aristoteles, Euklid, Plinius, Poseidonios, Pomponius Mela, Solinus und Strabon zählen. In zahlreichen Texteinträgen verarbeitete der Kartograph obendrein die Augenzeugenberichte von Reisenden, um, so die Absicht, die vorhandenen Widersprüche wenigstens zu dokumentieren, wenn schon nicht unbedingt zu lösen. Dies galt nicht zuletzt für die Frage, ob Afrika – ganz im Gegensatz zu der von Ptolemäus vorgeschlagenen Landbrücke nach Asien – umschiffbar sei. Den Beweis trat Bartolomeu Diaz 1488 an, als er in geheimer Mission das Kap der Guten Hoffnung umrundete und, zumindest kurz, in die Gewässer des Indischen Ozeans gelangte. 17 Fra Mauro entschied sich für eine solche Lösung bereits dreißig Jahre früher, nicht ohne sein antikenresistentes Handeln zu kommentieren und gleichzeitig zu verheimlichen, dass er die Überzeugung seiner portugiesischen Auftraggeber übernahm. Die Entscheidung war mutig, denn sie bestimmte das gesamte Layout seines Werks. Persönlich hatte er jedoch keine Zweifel daran, Ptolemäus widersprechen und die drei Teile der Erde gänzlich mit dem allumfassenden Ozean umgeben zu müssen. 18 13 Falchetta, Fra Mauro’s World Map (wie Anm.12), Nr.2892 zu den Koordinaten, Nr.2489 und 1077 zur Dreiteilung der Welt, Nr.1117 zu Grenzziehungen; Falchetta, Il mappamondo (wie Anm.12), 60–77 zur Ptolemäus-Rezeption bei Fra Mauro. 14 Falchetta, Fra Mauro’s World Map (wie Anm.12), Nr.53 zum Indischen Ozean, Nr.215 zu Tabrobane; Falchetta, Il mappamondo (wie Anm.12), 60–77. 15 Falchetta, Fra Mauro’s World Map (wie Anm.12), Nr.2834 zu Weltenform und -maßen, Nr.1490 und 2828 zu Namensgebungen, Nr.1490 und 2243 zur Größe von Provinzen; Falchetta, Il mappamondo (wie Anm.12), 60–77. 16 Falchetta, Fra Mauro’s World Map (wie Anm.12), Nr.2862 zum colfo germanico; Falchetta, Il mappamondo (wie Anm.12), 60–77. 17 Luis Agustín García Moreno, Precedentes grecoromanos de la navegación atlántica de Bartolomeu Dias: en torno al Periplo de Hannón, in: Navegações na secunda metade do século XV. Congresso Internacional Bartolomeu Dias e a su época. Actas 15, Vol.2. Oporto 1989, 237–257. 18 Falchetta, Fra Mauro’s World Map (wie Anm.12), Nr.53.

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Seit der griechischen Antike war über die Aufteilung der Oikumene diskutiert worden. Die Übergänge von Europa nach Asien und (noch mehr) von Asien nach Afrika waren topographisch uneindeutig und die Grenzen konnten recht unterschiedlich gesetzt werden. Die Kirchenväter hatten sich auf die von Herodot favorisierte Dreiteilung festgelegt, der die christlichen Autoren des Mittelalters folgten. 19 In dieser Tradition bewegte sich übrigens auch Felix Fabri, der überdies seine persönliche Vertrautheit mit den örtlichen Verhältnissen nutzte, wenn er die Route eines Jerusalempilgers zwischen den drei damals bekannten Erdteilen beschrieb: „Er beginnt nämlich die Seefahrt in Europa und gelangt sowohl über Kreta als auch Rhodos und Zypern nach Asien, dann durchquert er Ägypten, um nach Alexandria zu gelangen, und kommt in Afrika an. Der Nil nämlich trennt Asien von Afrika.“ 20 Fabri nutzte also eingefahrene Wege, wenn er sein persönliches Erleben nach dem Allgemeinwissen strukturierte. Ganz anders Fra Mauro, der sich darauf konzentrierte, die wissenschaftlichen Kontroversen von Autoritäten wie Pomponius Mela und Ptolemäus bis zu den moderni zu rekapitulieren. Lapidar stellte er letztlich fest, dass solche imaginären Linien zwar beliebt, aber seiner Meinung nach non molto necessaria, also nicht hilfreich, und die Diskussionen dazu materia tediosa, also langweiliges Zeug, seien. 21 Der wissenschaftliche Diskurs richtete sich längst auf attraktivere Themen. Trotzdem ist nicht zu verkennen, dass die antiken Autoritäten im 15.Jahrhundert höchst präsent waren, sich im Zuge der verstärkten Ptolemäus-Rezeption sogar noch vermehrt hatten und reiches Diskussionspotential boten. Man musste sich, ob man

19

Ingrid Baumgärtner, Winds and Continents. Concepts for Structuring the World and Its Parts, in: dies./

Nirit Ben-Aryeh Debby/Katrin Kogman-Appel (Eds.), Maps and Travel in the Middle Ages and the Early Modern Period. Knowledge, Imagination, and Visual Culture. (Das Mittelalter, Beih. 9.) Berlin 2019, 91– 135, hier 104–116; Oschema, Bilder von Europa im Mittelalter (wie Anm.2), 88–99 und 452–481; Christoph Mauntel/Klaus Oschema/Jean-Charles Ducène/Martin Hofmann, Mapping Continents, Inhabited Quarters and The Four Seas. Divisions of the World and the Ordering of Spaces in Latin-Christian, Arabic-Islamic and Chinese Cartography in the Twelfth to Sixteenth Centuries. A Critical Survey and Analysis, in: Journal of Transcultural Medieval Studies 5, 2018, 295–367. 20

Meyers/Tarayre (Eds.), Félix Fabri, Les Errances (wie Anm.1), Vol.1, 362: „In Europa enim nauigare in-

cipit, et in Creta et Rodo et Cypro Asiam tangit, dum uero in Alexandriam Aegypti peruenit, in Affrica erit. Nilus enim diuidit Asiam ab Affrica, in cuius Affricana parte est Alexandria.“ Vgl. Haßler (Hrsg.), Fabri Evagatorium (wie Anm.1), Bd.1, 110; Übersetzung ins Deutsche von Stolberg-Vowinckel (wie Anm.1), 159. 21

Falchetta, Fra Mauro’s World Map (wie Anm.12), 637; Christoph Mauntel, Fra Mauro’s View on the Bo-

ring Question of Continents, in: Peregrinations. Journal of Medieval Art and Architecture 6/3, 2018, 54–77.

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wollte oder nicht, mit ihren tatsächlichen oder vermeintlichen Ansichten auseinandersetzen, selbst wenn man ihnen nicht folgen wollte. In diesem Sinne gaben die ‚Alten‘ entscheidende Anstöße für die atlantische Expansion nach Westen. Denn von der Berufung der Zeitgenossen auf antike Autoritäten profitierte bekanntlich auch Christoph Kolumbus, der, wie viele andere, alle verfügbaren Aussagen zur Größe des Atlantiks zusammentrug und aufmerksam studierte. So gelangte etwa der Brief in seine Hände, den der Florentiner Geograph Paolo dal Pozzo Toscanelli am 25.Juni 1474 über Ferdinand Martins an König Alfons V. von Portugal gerichtet hatte, um die Übersendung einer eigenhändig gezeichneten, mittlerweile verlorenen Karte zu begleiten. Die Nachricht, die in Wort und Bild übermittelt wurde, war revolutionär, denn Toscanelli skizzierte dort, ausgehend von den Küsten und Inseln in portugiesischem Besitz, die westliche Route zu den Gewürzinseln und den Schätzen Asiens. 22 Dafür hatte er die Distanzen, die zurückzulegen waren, in Meilen berechnet, die Entfernung der Route zum Pol und zum Äquator kalkuliert sowie vor allem angenommen, dass der kürzeste Weg nach Westen über das Meer anstatt über den Süden Afrikas gen Osten führen müsse. Im Hintergrund solcher Schätzungen standen die Berechnungen, die Ptolemäus ehemals vorgelegt hatte. Daraus folgerte Toscanelli, dass die atlantische Distanz von Lissabon bis nach Quinsai, dem Endpunkt der Seidenstraße, ungefähr ein Drittel des Erdumfangs (hoc spacium est fere tercia pars tocius spere), also etwa 6500 Meilen oder (gemäß der Florentiner Meile à 1653 km) circa 10745 Kilometer betragen würde. 23 Mit solchen Anga-

22 Der Brief an Ferdinand Martins hat sich in der Abschrift des Kolumbus unter dem Titel Copia misa Christophoro Colombo per Paulum fixicum cum una carta navigacio erhalten, vgl. Raccolta di documenti e studi pubblicati dalla R. Commissione Columbiana pel quarto centenario dalla scoperta dell’America. 9 Vols. Rom 1892–1896, hier Vol.1/2, 364f. in Latein; italienische Version von der Hand des Christoph Kolumbus: Vol.4/1, 110f.; Cristoforo Colombo, Autografi, con prefazione e trascrizione diplomatica di C. De Lollis. Rom 1892 = Raccolta, Vol.1/3 tav. 63 mit Abbildung der Abschrift und mit Transkription des Textes; vgl. auch Raccolta, Vol.5/1, 571–575 und tav. 4. Moderne deutsche Übersetzung bei Alfred Stückelberger, Kolumbus und die antiken Wissenschaften, in: Archiv für Kulturgeschichte 69, 1987, 331–340, hier 335; vgl. Reinhard, Die Unterwerfung (wie Anm.6), 97; Johannes Koder unter Mitarbeit v. H.-V. Beyer, Die geographischen Traditionen der Byzantiner und das Weltbild des Christoph Columbus, in: Gedenkschrift für B. Ferjanćić / Zbornik radova bizantinoloskog instituta 38, 2000, 407–418. 23 Raccolta (wie Anm.22), Vol.1/2, 365: „A civitate Ulixiponis, per occidentem, in directo sunt. 26. spacia in carta signata, quorum quolibet habet militaria. 250. usque ad nobilissim[am] & maximam civitatem Quinsay; circuit enim centum miliaria, & habet pontes decem […] hoc spacium est fere tercia pars tocius spere“; vgl. Stückelberger, Kolumbus (wie Anm.22), 335; Sebastiano Gentile (Ed.), Firenze e la scoperta dell’America. Umanesimo e geographia nel’ 400 Fiorentino. Florenz 1992, 135f.; Raimund Schulz, Abenteu-

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ben und Umrechnungen lag der Florentiner natürlich falsch, aber die dahintersteckende Idee aus antiken Ursprüngen war allemal zukunftsweisend. Christoph Kolumbus, vom Potential der Kugelgestalt der Erde fasziniert, scheint dieses Schreiben höchstpersönlich kopiert und in sein eigenes, intensiv gelesenes und mit Randglossen versehenes Exemplar von Enea Silvio Piccolominis kosmographisch-geographischer Beschreibung Asiens integriert zu haben, also derjenigen Ausgabe der Historia rerum ubique gestarum, die 1477 bei Johannes de Colonia und Johannes Manthen de Gerretzheim in Venedig gedruckt worden war. 24 Dieses Werk präsentierte übrigens nicht nur eine Beschreibung der Oikumene, die sich auf Ptolemäus, Strabo und andere antike Geographen berief, sondern taxierte auch den Erdumfang – ähnlich wie Toscanelli – auf 180000 Stadien, also ungefähr 32233 km. 25 Dass Kolumbus diese Passage wachsam gelesen und gründlich überdacht haben muss, zeigt seine Randglosse totum anbitum noti orbis, scilicet 180 milibus 26, mit der er die Aussage kommentierte. Bekanntlich hat sich Kolumbus überdies mit einem anderen auf antiken Kenntnissen beruhenden Werk, der Imago mundi von Petrus de Alliaco, gründlich auseinandergesetzt. Seine Randnotizen und Unterstreichungen betreffen auch hier den Weg von der Westküste Spaniens bis zur Ostküste Indiens, dessen kurze Distanz Petrus unter anderem mit dem Verweis auf Aristoteles, Seneca und Plinius zu begründen versuchte. 27 Denn Aristoteles behaupte, „dass das Meer zwischen der Westküste rer der Ferne. Die großen Entdeckungsfahrten und das Weltwissen der Antike. 2.Aufl. Stuttgart 2017, 458– 462. 24 Aeneas Silvius Piccolomini, Historia rerum ubique gestarum, cum locorum descriptione non finita Asia Minor. Venedig, Johannes de Colonia und Johannes Manthen, 1477. Das persönliche, mit eigenhändigen Notizen versehene Exemplar von Christoph Kolumbus ist überliefert in Sevilla, Biblioteca Capitular y Colombina. Vgl. Stückelberger, Kolumbus (wie Anm.22), 335f. 25

Enea Silvio Piccolomini, Papa Pio II, Asia, a cura di Nicola Casella. (Collana Studi Testi Strumenti.) Bel-

linzona 2004, 27, cap. 4: „Ptolemaeus, de latitudine consentiens, longitudinem variam prodit […] totumque ambitum noti orbis stadiis centum et octuaginta milibus constare censet“; Stückelberger, Kolumbus (wie Anm.22), 336; Raccolta (wie Anm.22), Vol.1/2, 291–369, hier 293. 26

Raccolta (wie Anm.22), Vol.1/2, 291–369, hier 293 Nr.16; vgl. Stückelberger, Kolumbus (wie Anm.22),

336. 27

Pierre d’Ailly, Ymago mundi. Texte latin et traduction française des quatre traités cosmographiques de

d’Ailly et des notes marginales de Christophe Colomb. Etude sur les sources de l’auteur. 3 Vols. Ed. par Edmont Buron. Paris 1930, hier Vol.1, 209–211, cap. 8: „Aristote cependant dit, vers la fin de son livre sur le Ciel et la Terre que la région habitée est plus grande et qu’elle couvre plus du quart de la Terre; ce qui, du reste, est confirmé par Averrhoès. Aristote déclare que la mer est petite qui sépare l’extrémité occidentale de l’Espagne de la partie orientale de l’Inde. […] De plus, Sénèque dans son livre cinq de la Nature, dit que cette

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Spaniens und der Ostküste Indiens klein“ sei, und Seneca ergänze, dass dieses „Meer in wenigen Tagen durchquert werden könne, wenn der Wind günstig sei“. 28 Kolumbus’ zugehörige Randglosse bringt diese Aussagen nochmals auf den Punkt; sie konkretisiert, dass das Meer zwischen Spaniens Festland und der Küste Indiens nicht übermäßig groß und in wenigen Tagen befahrbar sei. 29 Kolumbus glaubte fest an die antiken Autoritäten, auch wenn er den Inhalt ihrer Schriften vielfach nur über die Texte der Humanisten kannte. Trotzdem bezog er sich immer wieder auf sie, nicht zuletzt auch im Bericht über seine dritte Reise von 1498, in dem er nochmals bekräftigte, dass Aristoteles diese Welt für klein und die Gewässer des Ozeans für so unbeträchtlich halte, dass es ein Leichtes sei, das Meer von Spanien nach Indien zu passieren. 30 An solchen Beispielen lässt sich die Rolle der antiken Autoren für die Vorbereitung der Westfahrt bestens nachvollziehen. Sie besaßen große Autorität und waren doch gleichzeitig die Quelle anhaltender Unsicherheit. Es bedurfte der kritischen Auseinandersetzung mit ihren Schriften und den darin vertretenen Meinungen, um die vorgefundenen Bedingungen einzuordnen. Angesichts der Erschließung neuer Welten stellte sich deshalb die Frage, ob man noch uneingeschränkt an sie glauben konnte. Denn auch für die Teilung der Welt gemäß den Verträgen von Tordesillas und Saragossa hielten sie keine Lösung bereit.

mer peut être franchie en peu de jours par des vents favorables. Et Pline enseigne dans son deuxième livre de l’Histoire Naturelle qu’on a navigué du golfe Arabique jusqu’aux colonnes d’Hercule en un temps pas très long.“ Vgl. Aristoteles, De caelo 1 c. 298 a 7f. u. 9f.; Seneca, Naturales quaestiones 1, praef. 13: „quantum est enim, quod ab ultimis litoribus Hispaniae usque ad Indos iacet? Paucissimorum dierum spatium, si navem suus ferat ventus.“ 28 Übersetzungen nach Stückelberger, Kolumbus (wie Anm.22), 338, der aufzeigen kann, dass Pierre d’Ailly zumindest Seneca aus Roger Bacon, Opus maius VII (= Moralis philosophia), pars III, 2,7–11 zitiert hat. 29 Raccolta (wie Anm.22), Vol.1/2, 376: „Aristotelis inter finem ispanie et principium indie est mare parvum et navigabile in paucis diebus“. Vgl. Stückelberger, Kolumbus (wie Anm.22), 338. 30 Stückelberger, Kolumbus (wie Anm.22), 338 Anm.35: „El Aristótel dize que este mundo es pequeño, y es el agua muy poca, y que fácilmente se pede passar d’Espana á las Yndias“; vgl. Raccolta (wie Anm.22), Vol. 1/2, 38. Dass bei der Besitzergreifung der neuen Welt auch in anderen Bereichen gerne mit Aristoteles und Seneca argumentiert wurde, zeigt u.a. Bruno Rech, Bartolomé de las Casas und die Antike, in: Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Humanismus und Neue Welt. Weinheim 1987, 167–198.

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III. Praktiken bei der Erschließung der Welt und kartographische Neukonfiguration Sowohl Kolumbus’ Amerikafahrten als auch Portugals Vordringen in den Indischen Ozean und Magellans Weltumrundung in den Jahren von 1519 bis 1522 führten zu einer gänzlich neuen Definition des Erfahrungsraumes 31: Die seit griechischer Zeit bekannte Kugelgestalt der Erde war nun erstmals konkret erlebt worden und fortan nicht mehr nur ein abstraktes Modell. Die Reisen hatten die Verteilung der Meere über die Erdoberfläche begreifbar gemacht und den Kontinent Amerika weiter eingegrenzt. Diese symbolische Relevanz verband sich mit wegweisenden Vorgängen und Schlussfolgerungen: Spätestens 1498 war mit Vasco da Gama endgültig widerlegt, was bereits vorher in Zweifel gezogen war: der ptolemäische Subkontinent im Süden Asiens. Bald wurde auch klar, dass Amerika als eigener Kontinent zu gelten hatte. Des Weiteren hatte der mit 23 der neuesten Seekarten, einer Weltkarte, zahlreichen Quadranten, Astrolabien und Kompassen ausgestattete Magellan die später nach ihm bezeichnete Meerenge in Südamerika durchfahren, die Philippinen betreten und die Befahrbarkeit des Pazifischen Ozeans empirisch erprobt. 32 Die Tragweite dieser Informationen war enorm: Es ging nicht nur um den Anteil der Meere an der Erdoberfläche, sondern um die Aufteilung der ganzen Welt. Diese Erkenntnis veranlasste Spanier wie Portugiesen dazu, in ihren Machtambitionen nicht einfach klein beizugeben, sondern die Kontroversen mit steigender Vehemenz auf allen Ebenen, auch der kartographischen, auszutragen. Denn spätestens in dem Moment, als beide Seiten die in Tordesillas theoretisch vereinbarte Demarkationslinie zu konkretisieren versuchten, war die kartographische Fixierung zu einem politischen Instrument geworden: Spanien verdankte seine Version Juan de la Cosa (gest. 1510), einem Lotsen und Begleiter von Kolumbus,

31

Cristoforo Colombo e l’apertura degli spazi: Mostra storico-cartografica. 2 Vols. Rom 1992; Michael

Kraus/Hans Ottomeyer (Hrsg.), Novos Mundos – Neue Welten. Portugal und das Zeitalter der Entdeckungen. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin. Dresden 2007; Michael Bischoff/Vera Lüpkes/Wolfgang Crom (Hrsg.), Kartographie der Frühen Neuzeit. Weltbilder und Wirkungen. Ergebnisse des in Kooperation mit der Kartenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin durchgeführten internationalen Symposiums am Weserrenaissance-Museum Schloss Brake (4.–6.April 2014). Marburg 2015. Zu den einzelnen Seefahrern vgl. u.a. die Artikel bei Jennifer Speake (Ed.), Literature of Travel and Exploration. An Encyclopedia. 3 Vols. New York/London 2003. 32

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Reinhard, Die Unterwerfung (wie Anm.6), 76, 106f., 138.

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der sich um 1500 dazu hinreißen ließ, die Welt so abzubilden, dass der neue Kontinent im Westen unter der Schutzherrschaft des Heiligen Christophorus stand und nahezu ausschließlich seinen königlichen Hoheiten gehörte. Erhalten ist nur die vor 1510 erstellte Kopie, die die Form eines Portulans besitzt. 33 Die portugiesische Interpretation des Vertrags von Tordesillas ist erstmals auf der Cantino-Planisphäre von 1502 überliefert. 34 Ihr unbekannter Zeichner schlug Brasilien, in dessen Osten sein Landsmann Pedro Álvares Cabral zwei Jahre zuvor gelandet war, als eine Art Insel der portugiesischen Sphäre zu. Unabhängig von diesem folgenschweren Grenzstreit im weitgehend Unbekannten waren beide Lösungen so angelegt, dass sie das brennendste Problem der Zeit geschickt umgingen, nämlich die Frage, ob die neu entdeckten Inseln und Territorien zu Asien gehörten oder nicht. Die kartographische Festlegung der Demarkationslinie wurde deshalb zu einer noch größeren Herausforderung, als die Portugiesen 1511 die Molukken, die sogenannten ‚Gewürzinseln‘, erreichten und Magellans Entdeckung der Westpassage bewies, dass die beiden Hemisphären grundsätzlich miteinander verbunden waren. Jenseits aller navigatorischen Leistungen bedeutete dies, dass die Linie auf der anderen Seite des Globus entlang der Philippinen und Molukken weiter verlief und auch der Gegenmeridian zu bestimmen war. 35 Damit war die portugiesisch-spanische Diskussion um den Atlantik plötzlich auf den Pazifik ausgeweitet. Der Streit um die molukkischen Handelsrechte entfachte intensive Kontroversen um die Abgrenzung der zwei Hälften einer Erde, die immer schon als Globus gedacht und deren Gestalt nun empirisch bestätigt war. 33 Madrid, Museo naval, Nr.257; Abb.u.a. bei Ute Schneider, Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute. 3.Aufl. Darmstadt 2012, 94f.; Catherine Hofmann/Héléne Richard/ Emmanuelle Vagnon (Eds.), L’âge d’or des cartes marines. Quand l’Europe découvrait le monde. Paris 2012, 114f. 34 Modena, Biblioteca Estense Universitaria, C.G.A.2; vgl. Schneider, Macht der Karten (wie Anm.33), 94– 101; Schneider, Tordesillas 1494 (wie Anm.6), 56–59; Hofmann/Richard/Vagnon (Eds.), L’âge d’or des cartes marines (wie Anm.33), 132f.; Ernesto Milano, Le grandi scoperte geografiche e i loro riflessi cartografici, in: Alla scoperta del mondo. L’arte della cartografia da Tolomeo a Mercatore. Modena 2001, 65–168, hier 107– 111. Vgl. auch Folker Reichert, Die Erfindung Amerikas durch die Kartographie, in: Archiv für Kulturgeschichte 78, 1996, 115–143, hier 122 (auch in: Folker Reichert, Asien und Europa im Mittelalter. Studien zur Geschichte des Reisens. Göttingen 2014, 447–476, hier 454). 35 Zur Politisierung des Raumes vgl. Arndt Brendecke, Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft. Köln/Weimar/Wien 2009, 110–119; Jörg Dünne, Der verschwundene Tag. Weltreisen und die Datumsgrenze seit der Frühen Neuzeit, in: Achim Landwehr (Hrsg.), Grenzerfahrungen. (Studia Humaniora, Bd.48.) Düsseldorf 2015, 75–97.

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Es verwundert also nicht, dass alle Bemühungen um die Festlegung eines Grenzmeridians scheiterten, zunächst wegen unterschiedlicher Berechnungen des Erdumfangs, dann wegen differierender Projektionsformen und vor allem wegen abweichender Positionierungen unter anderem der Kapverdischen Inseln. Auch die antiken Autoren konnten hier nicht helfen. Es erwies sich als schwierig, die Grenze in einem nahezu unbekannten Raum zu bestimmen, der noch dazu mitten im Atlantik lag: Die paritätisch besetzte Expertenkommission, die für die Markierungen vor Ort vorgesehen war, trat ihre Reise nie an; wie hätte sie auch ihre Aufgabe erfüllen können? Aus technischen Gründen war damals noch jede Längengradbestimmung zum Scheitern bestimmt. So gewann die topographische Repräsentation auf Karten und Globen eine immer größere Relevanz. 36 Die Differenzen wurden bei der Zusammenkunft von Badajoz am 1.März 1524 unmittelbar an der Grenze zwischen beiden Territorien, anfangs sogar höchst unbequem auf der Grenzbrücke, diskutiert, um die vorhandenen Geheimkarten, die die Ansprüche demonstrierten, nicht außer Landes bringen zu müssen. Zudem wurden die als Beweise dienenden Karten, Globen, Itinerare und Berichte taktisch eingesetzt: Die Portugiesen legten frisch gezeichnete Karten zu den Routen um Afrika vor, um die geheimen Passagen nicht preisgeben zu müssen und die delikaten Stellen einfach weiß lassen zu können. Einige ihrer mitgebrachen Karten und ein Itinerar verschwanden, als sich die Spanier dadurch in ihren Ansprüchen bestätigt fühlten. Die Spanier schlugen vor, nur die Beweiskraft besonders alter, vor dem Streit entstandener Karten anzuerkennen, um jegliche Manipulation auszuschließen. Und die Portugiesen meinten voller Misstrauen, man solle statt der Seekarten einen weißen Globus nehmen und nur diejenigen Informationen eintragen, auf die man sich jeweils geeinigt hätte. 37 Aber das Ziel, gemeinschaftlich einen Längengrad zu bestimmen und ihn zusammen mit den Molukken in eine einzige Kartierung einzutragen, erreichte man vorerst freilich nicht. Zuletzt fand sich eine Lösung auf praktischem Weg, als der immer finanzbedürftige Kaiser Karl V. seine angeblichen Handelsrechte im Vertrag von Saragossa (1529)

36

Schneider, Tordesillas 1494 (wie Anm.6), 60f. Zum Kontext vgl. Reichert, Die Erfindung Amerikas (wie

Anm.34), 115–143, auch in: Reichert, Asien und Europa (wie Anm.34), 447–476. 37

Brendecke, Imperium und Empirie (wie Anm.35), 116–119. Zu einer Karte von Giovanni Vespucci aus

dem Jahr 1523/24 vgl. auch Christian Heitzmann, Wem gehören die Molukken? Eine unbekannte Weltkarte aus der Frühzeit der Entdeckungen, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 2, 2007, 101–110.

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zu einem Höchstpreis an Portugal, den eigentlich rechtmäßigen Besitzer, der diesen Anspruch nicht nachweisen konnte, abtrat. Der spanische Hegemonialanspruch drückte sich fortan dadurch aus, dass die vorgesehene Demarkationslinie auf einer spanisch autorisierten Seekarte eingezeichnet und in doppelter kartographischer Ausfertigung von beiden Herrschern anerkannt wurde. Geschaffen war damit eine Musterkarte für die Zukunft, wenn auch keine konsensuale Repräsentation geographischen Wissens. Aber es gab „eine topographische Karte“, eine kartographische Ergänzung zum Vertrag, und damit den Versuch, „ein einheitliches und verbindliches Referenzsystem“ 38 zu etablieren, in das die fernen Territorien zukünftig integriert werden konnten. An dem über dreißig Jahre währenden politischen Verfahren zur Umsetzung der Demarkationslinie waren, zumindest für einige Jahre, auch Hernando Colón, der uneheliche Sohn von Christoph Kolumbus, der damals die Casa de la Contratación leitete, beteiligt sowie sein bedeutendster Mitarbeiter, Diogo Ribeiro, der aus Portugal stammte und seit etwa 1518/19 in spanischen Diensten stand. 39 Hernando Colón, der die im Zuge der Verhandlungen immer schwächer werdende Position der Spanier erkannte, soll Karl V. bei seinem diplomatischen Schachzug beraten haben. Ribeiro war hingegen ein seekundiger Navigator, Instrumentenbauer und Verfasser kosmographisch orientierter Seekarten, der unter anderem mit der kartographischen Umsetzung von Magellans Erfahrungen aus der Weltumrundung betraut war. Seine vielseitigen Kenntnisse kamen übrigens der damaligen Tendenz der Casa entgegen, den kosmographischen Ansatz, der auf Himmelsbeobachtung, Astrolabund Quadrantengebrauch basierte, verstärkt in der praktischen Navigationsausbildung von Schiffskapitänen zu verankern, die sich bis dahin vor allem an Küstenlinien, Gezeiten, Strömungen und Winden orientierten. Das Kartenoriginal des Vertrags überlebte nicht, aber vier Ribeiro zugeschriebene Planisphären, auf denen die aufgezeichneten astronomischen Navigationsmittel Astrolab, Quadrant und Deklinationstabelle das methodische Vorgehen verdeutli-

38 Schneider, Tordesillas 1494 (wie Anm.6), 61. 39 Brendecke, Imperium und Empirie (wie Anm.35), 119–122 zur Casa de la Contratación, 130–132 zu Diogo Ribeiro; vgl. Armando Zuzarte Cortesão, Diogo Ribeiro, in: Cartografia e Cartografos portugueses dos seculos XV e XVI. Lissabon 1935, 130–167; L. A. Vigneras, The Cartographer Diogo Ribeiro, in: Imago Mundi 16, 1962, 76–83; Surekha Davies, The Navigational Iconography of Diogo Ribeiro’s 1529 Vatican Planisphere, in: Imago Mundi 55, 2003, 103–112; Jerry Brotton, A History of the World in Twelve Maps. London 2012, 186–217, bes. 212–214 zu Diogo Ribeiro.

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chen. 40 Die dritte und endgültige Version seiner Weltkarte wurde 1529 auf kostbarstem Pergament für Kaiser Karl V. gefertigt; sie erregte allergrößtes Aufsehen. In Weiterentwicklung eines ersten fragmentarischen Entwurfs des Jahres 1525 und dessen Überarbeitung von 1527 zeigt sie auf der Größe von 85 x 204 cm eine zweigeteilte Welt, in der die Molukken trotz Karls Verzicht vom 22.April 1529 weiterhin der kastilischen Oberhoheit unterstehen. Auf der beeindruckenden Karte, heute in der Vatikanischen Bibliothek, sind zudem nicht nur die kastilische und portugiesische Flagge, sondern auch das päpstliche Wappen aufgemalt. Möglicherweise war sie als Geschenk gedacht, um den päpstlichen Autoritäten die weltweite Dominanz Karls V. vor Augen zu führen, bevor er am 24.Februar 1530 in Bologna seine Kaiserkrone erhielt. 41 In der Folge übernahmen etliche Kartographen Ribeiros exzellente Entwürfe für die neue Welt, darunter auch der Venezianer Battista Agnese, der in den Jahren 1534/35 bis 1564 an den Höfen Europas eine große Breitenwirkung erlangte. 42 Seine

40

Vgl. Davies, The Navigational Iconography (wie Anm.39), 103–112. Vier Weltkarten Ribeiros aus den

Jahren 1525, 1527 und 1529 haben sich erhalten: erstens die Charta del navegare universalissima et diligentissima von 1525, bekannt als Carta Castiglione oder Castiglione Planisphäre, heute in Modena, Biblioteca Estense Universitaria, C.G.A.12 (2095 x 810 mm), zweitens eine Weltkarte von 1527, heute in Weimar, Klassik Stiftung Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Kt 020–57 S (Carta Vniversal En Qve Se Contiene Todo Lo Qve Del Mvndo Se A Descubi[erto] Fasta Aora Hizola Vn Cosmographo De Sv Magestad Anno M.D.XX.VII. En Sevilla, 86 x 213 cm); drittens eine Weltkarte von 1529, heute in Weimar, Klassik Stiftung Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Kt 020–58 S (Carta Uniuersal en que Se contiene todo lo que del mundo Se ha descubierto fasta Agora, 88 x 212 cm) sowie viertens die sogenannte Borgia-Seekarte von 1529, heute in der Biblioteca Apostolica Vaticana, MS Borgiano III. Zudem hat sich eine Ribeiro zugeschriebene Amerikakarte von 1532 erhalten: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 104 A Aug. 2o. Vgl. Milano, Le grandi scoperte (wie Anm.34), 136–143; Felipe Fernández-Armesto, Maps and Exploration in the Sixteenth and Early Seventeenth Centuries, in: David Woodward (Ed.), Cartography in the European Renaissance. (The History of Cartography, Vol.3.) Chicago/London 2007, 738–759, hier 759 und Abb.30.25, 30.28, 30.30. 41

Brotton, A History of the World (wie Anm.39), 207–213; zur Entwicklung der zeitgenössischen italie-

nischen Kartographie vgl. Marica Milanesi, La cartografia italiana nel Medio Evo e nel Rinascimento, in: La cartografia italiana. Circle de conferéncies sobre historia de la cartografia. Tercer curs. Barcelona 1993, 15– 80. 42

Ingrid Baumgärtner (Hrsg.), Der Portulan-Atlas des Battista Agnese. Das Kasseler Prachtexemplar von

1542. Darmstadt 2017, 131–135 mit einem Verzeichnis der bekannten Exemplare; Zsolt Török wies mich zudem auf eine dort noch nicht erfasste einzelne Karte in der Nationalbibliothek in Budapest hin; Ingrid Baumgärtner, Die Portolan-Atlanten des Battista Agnese, in: Bischoff/Lüpkes/Crom (Hrsg.), Kartographie der Frühen Neuzeit (wie Anm.31), 19–36; Ingrid Baumgärtner, Battista Agnese e l’atlante di Kassel. La cartografia del mondo nel Cinquecento, in: Baumgärtner/Falchetta (Eds.), Venezia e la nuova Oikoumene (wie Anm.9), 245–270; Angelo Cattaneo, L’Atlante nautico di Battista Agnese. Descrizione codicologica e analisi

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Abb.1: Battista Agnese, Pazifischer Ozean von den Molukken im Westen bis nach Amerika im Osten mit den Neuentdeckungen an der Ostküste Nordamerikas und mit der Halbinsel Kalifornien an dessen Westküste; Kassel, Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, 4° Ms. Hist. 6,f. 6v–7r.

Werkstatt schuf eine große Anzahl handgemalter Portulan-Atlanten, von denen heute noch 78 Exemplare mit insgesamt fast 1000 Blättern erhalten sind; weitere neun Karten sind, soweit bekannt, einzeln überliefert. Sie alle zeigen, wie die Umrisse einer neuen Welt ganz allmählich aus dem Ozean hervortreten. Dabei lassen sie erkennen, in welcher Weise sich empirisch-vermessungstechnische Praktiken und astronomisch-kosmographische Auffassungen gegenseitig ergänzten und wie sich Erkenntnisinteresse und Veranschaulichungsformen im Laufe der Zeit wandelten. Auch in Agneses Atlanten spiegeln die Kartierungen des Pazifischen Ozeans von Amerika bis zu den Molukken im äußersten Westen die großen Neuerungen und –

storico-cartografica del codice della Biblioteca Nazionale Centrale di Firenze, in: Battista Agnese. Atlante nautico. Codice conservato presso la Biblioteca Nazionale Centrale di Firenze con la segnatura Banco Rari 32. Saggi e commenti. Rom 2008, 139–161; Alberto Magnaghi, Agnese, Battista, in: Enciclopedia Italiana di scienze, lettere ed arti. Vol.1. Mailand 1929, Ndr. Rom 1949, 898f.; Francesco Cagnetti, Agnese, Battista, in: Dizionario Biografico degli Italiani. Vol.1. Rom 1960, 439.

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eigentlich viel grundlegender – den Prozess, in dessen Verlauf sich die Konturen entfernter Inseln und eines ganzen Kontinents aus den Fluten des Meeres erhoben (Abb.1). Die Voraussetzungen schufen die Seefahrer und Entdecker, die auf immer neuen Wegen nach Norden und Süden, nach Osten und Westen segelten, um den Weltenraum auszuloten. Zu ihnen gehörte unter anderem der damals in französischen Diensten stehende Seefahrer Giovanni da Verrazzano, der bei seiner ersten Amerikareise von Januar bis Juli 1524 nach einer nördlichen Durchfahrt Richtung Asien fahndete und dabei den östlichen Küstenverlauf Nordamerikas vom heutigen North Carolina bis Maine und Nova Scotia erkundete. Dieses Wissen konnte er insbesondere deshalb nach Frankreich zurückbringen, weil ihn sein jüngerer Bruder Girolamo, ein Kartenmacher, auf dieser Reise begleitete. Persönlich kannte Ribeiro vor allem den in spanischen Diensten tätigen Portugiesen Estevan Gómez, der einige Monate später, aber noch im Jahr 1524/25, bei seiner genauso vergeblichen Suche nach der Nordwestpassage gleichfalls die Ostküste Amerikas nach Norden verfolgte. Überliefert ist die kartographische Umsetzung Ribeiros, dessen Planisphären und Amerikakarten diese Küstenlinie mehrfach und mit leichten Modifikationen wiederholten, so dass eine weite Verbreitung gesichert war. Ähnliches geschah anderthalb Jahrzehnte später, als Francisco de Ulloa (gest. 1540) im Auftrag von Hernán Cortés 1539 denselben Versuch an der amerikanischen Westküste vom Pazifik aus startete und stattdessen die Halbinsel Niederkalifornien fand, eine Entdeckung, die unter Kartographen rasch zirkulierte. 43 Die genaue Küstenform ermittelte der Steuermann Ulloa pragmatisch, indem er in den Golf bis zur Mündung des Colorado River am Nordende eindrang, an der gegenüberliegenden Golfküste wieder zurücksegelte, die Südspitze umrundete und trotz widriger Bedingungen und Strömungen den pazifischen Küstenverlauf weiterverfolgte. Die Annahme, dass Niederkalifornien eine Insel sei, war damit zwar widerlegt, aber erst eine weitere Expedition unter Hernando de Alarcón führte im nächsten Jahr dazu, dass sich dieses Wissen allgemein verbreitete. Denn Alarcón verfasste nicht nur einen bemerkenswerten Bericht über seine Begegnungen mit der indigenen Bevölkerung, sondern schaffte es auch, die Küstenumrisse kartographisch festzuhalten. Damit war gesichert, dass das Erfasste überhaupt rezipiert werden konnte. Alle diese Informationen waren völlig neu und vorbildlos, während die Kartie-

43

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Baumgärtner, Der Portulan-Atlas des Battista Agnese (wie Anm.42), 26–28 und 62–66.

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Abb.2: Battista Agnese, Atlantik mit den angrenzenden Kontinenten Europa, Afrika und Amerika; Kassel, Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, 4° Ms. Hist. 6,f. 7v–8r.

rungen von Atlantik und Indischem Ozean die portugiesischen Erkundungen in Afrika und Indien mit den heterogenen Wissensbeständen der Antike abzugleichen hatten (Abb.2). Bei der Rezeption und Verarbeitung solcher Informationen hat Agnese seinen eigenen, individuellen Stil gefunden. Die Atlanten seiner ersten Schaffensphase veranschaulichen etwa die Westküste Amerikas ohne die niederkalifornische Halbinsel. 44 Spätestens 1542, also mit Beginn der zweiten Schaffensphase, flossen die Erkundungen jedoch in Agneses Arbeiten ein. 45 Die zügige, ungefähr

44 Ebd.26–28; vgl. u.a. die Atlanten in San Marino, Huntington Library, HM 25,f. 4r; Oxford, Bodleian Library, MS Can. Ital. 144,f. 16v; L’Atlante nautico di Battista Agnese conservato alla Biblioteca Trivulziana di Milano. Mailand 1968,f. 4r; zum Atlas in London, Admiralty Library VA 1g vgl. Dominic Fontana/John Lippiett/Jennifer Wraight, Map of the Known World from a Manuscript Portolan Atlas by Battista Agnese c 1535, in: dies., Mapping Portsmouth’s Tudor Past. Portsmouth 2010, 17. 45 Vgl. etwa Kassel, Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, 4o Ms. Hist. 6; Arthur Dürst (Hrsg.), Der Portolan-Atlas des Battista Agnese von 1546 aus der Russischen Nationalbibliothek Sankt Petersburg. Kommentar zur Faksimile-Ausgabe v. Tamara P. Woro-

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gleichzeitig mit Gerhard Mercator beginnende Umsetzung in das kartographische Bild zeigt, wie aufmerksam marktorientierte Kartenmacher den aktuellen Kenntnisstand verfolgten. Aber die Fragmentierung der Küstenverläufe zeigt auch die Grenzen des empirischen Wissens. Bei Battista Agnese setzt sich das Fragmentarische Nordamerikas auch an der Ostküste fort, wo der Portugiese Estevan Gómez samt seiner mit den neuesten Karten von Diogo Ribeiro ausgestatteten kastilischen Flotte im Zuge seiner fast elfmonatigen Bemühungen um die Nordwestpassage feststellen hatte müssen, dass das Land nicht enden wollte. 46 Letztlich dürfte er dem Anschein nach nur bis zur Höhe von Kap Race (44° Nord) an der Südspitze Avalons in Neufundland gekommen sein. Dieser Wendepunkt lag realiter noch sehr viel weiter im Süden, als dies Ribeiro und in dessen Folge Agnese mit dem Satz terra che descrobrio steuen comes („das Land, das Estevan Gómez entdeckt hat“) kartographisch vermerkten. Letzthin bezeichnen alle diese Brüche, wie auch an den Küstenlinien Südamerikas, wo zwischen Peru und der Magellanstraße damals noch eine Lücke klaffte, das Ende der bekannten Welt; sie trennen damit gewissermaßen das Gesicherte vom Ungesicherten, das Neuentdeckte vom noch zu Entdeckenden, den Erfahrungs- vom Möglichkeitsraum 47, also die in vergangenen Zeitstufen erfahrenen Räume von den Möglichkeiten, in der Zukunft weitere Erkundungen zu machen. Ihr kartographischer Ausdruck waren fragmentierte Küstenverläufe, die Erwartungen an die Zukunft weckten, ohne sie aus der Vergangenheit heraus festzuschreiben. Die navigatorische Praxis und deren kosmographische Verarbeitung hatten die antiken Vorgaben, die anfangs dazu beigetragen hatten, den Weg zu neuen Räumen aufzustoßen, längst überholt.

nowa. Graz/Disentis/Moskau 1993; Baumgärtner, Der Portulan-Atlas des Battista Agnese (wie Anm.42), 28– 33 und die Angaben im Verzeichnis 131–135. 46

Vgl. Baumgärtner, Der Portulan-Atlas des Battista Agnese (wie Anm.42), 62–66; Pierluigi Portinaro/

Franco Knirsch, The Cartography of North America, 1500–1800. New York 1987; Henry Harrisse, The Discovery of North America. A Critical Documentary and Historic Investigation. Paris 1892, 216, 366, 542f., 558, 603, 625, 626–630, 631 und 647 zu Battista Agnese; Henry Raup Wagner, The Cartography of the Northwest Coast of America to the Year 1800. Amsterdam 1968, 7, 10, 14, 16–18, 21–23, 26–29, 47, 50–52 und 59 zu Battista Agnese. 47

Benjamin Scheller, Erfahrungsraum und Möglichkeitsraum: Das sub-saharische Westafrika in den ‚Na-

vigazioni Atlantiche‘ Alvise Cadamostos, in: Baumgärtner/Falchetta (Eds.), Venezia e la nuova Oikoumene (wie Anm.9), 201–220; vgl. ders., Verkaufen, Kaufen und Verstehen. Die Atlantikexpansion der Europäer, die Fernhändler und die neue Erfahrung des Fremden im 14. und 15.Jahrhundert, in: Michael Borgolte/Nikolas Jaspert (Hrsg.), Maritimes Mittelalter. Ostfildern 2016, 233–260.

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IV. Aufwertung der Kosmographie in Atlanten und Beschreibungen Trotzdem blieb die Antike auch weiterhin ein entscheidender Referenzpunkt bei der Herausbildung einer eigenständigen geographisch-kartographischen Kultur. Diese neue antikenaffine Wissenschaft betraf Inhalte wie Formen, Weltbeschreibungen wie Kartierungen. Die venezianischen Kartenmacher und die Werkstattproduktion von Battista Agnese, die sich außer am Fortschritt auch am Absatzmarkt orientierten, können dafür wiederum als aussagekräftige Beispiele herangezogen werden. In vielen dieser Karten ist die Antike ganz unscheinbar präsent. Bei Agnese sind oft weit entfernt von Europa undefinierte goldene Inseln eingezeichnet, bei denen es naheliegt, an die antike Insel Chryse und ihre sagenhaften Goldschätze am äußersten östlichen Rand der Welt zu denken. Identifiziert wurde diese mythenumwobene Insel oft mit Taprobane, später Ceylon, dem heutigen Sri Lanka, und seit Marco Polo häufig mit Zipangu, der größten von dessen 7448 ost- bzw. südostasiatischen Inseln, deren unvorstellbare Schätze auch Kolumbus’ Suche nach dem Osten im Westen stimuliert hatten. Etliche Kartographen der 1530er und 1540er Jahre setzten, wie zeitweise auch Agnese, die Goldinsel mit Hispaniola oder Yucatán gleich. Selbst Abraham Ortelius zeichnete 1570 noch das antike Chryse ein, obwohl Giacomo Gastaldi, Agneses innervenezianischer Konkurrent, der den Senats- und den Audienzsaal im Dogenpalast mit neuen kartographischen Darstellungen ausstatten durfte, die Tradition bereits vorher durchbrochen hatte, als er Zipangu in seinen drei Weltkarten von 1546 bis 1561 immer weiter vom amerikanischen Festland entfernt positionierte und letztlich ganz darauf verzichtete. 48 Entscheidend für solche Modifikationen war gleichwohl nicht nur die Wissbegierde, sondern auch die für die einzelnen Regionen der Welt recht unterschiedlich ausgeprägte Verfügbarkeit kartographischer Vorlagen. Während der Zugang zur kolonialen Seekartographie massiven Einschränkungen unterlag, war es in der Lagu-

48 Folker Reichert, Mythische Inseln, in: Ulrich Müller/Werner Wunderlich (Hrsg.), Burgen, Länder, Orte. (Mittelalter-Mythen, Bd.5.) Konstanz 2008, 639–657; ders., Zipangu. Marco Polos Japan und das europäische Weltbild zwischen Mittelalter und Neuzeit, in: Reichert, Asien und Europa (wie Anm.34), 397–402. Zur Präsenz der Antike im Ornament späterer Agnese-Atlanten vgl. u.a. Hofmann/Richard/Vagnon (Eds.), L’âge d’or des cartes marines (wie Anm.33), 74 mit Abb.des Paris BNF Lat. 18249,f. 3v–4r.

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nenstadt leicht, antike Schriften einzubeziehen und sich diesbezüglich weiterzubilden. Dies hatte Auswirkungen auf die Atlanten, deren Umfang sich im Fall von Battista Agnese von etwa 1550 an deutlich vergrößerte: Zu Deklinationstabelle, Armillarsphäre und Planetensystem, den drei großen Ozeanen und einigen Europakarten kamen zahlreiche Spezialdarstellungen mediterraner Inseln und sogar ein abschließender Text nach Ptolemäus hinzu. Es änderte sich also das Profil: Man griff auf antike Traditionen zurück, um das neu Erfahrene einzuordnen. Dahinter stand allerdings das Bild von einer Antike, das sich, wie im Falle der handschriftlichen Ptolemäus-Karten, die Humanisten der Renaissance selbst geschaffen hatten. Zu einer derartigen Antikenrezeption mögen auch die Inkunabeln und frühen Drucke der ptolemäischen Geographia, vor allem aber die neuen Bearbeitungen und Übersetzungen mitsamt ihren Korrekturen und Aktualisierungen beigetragen haben. In der venezianischen Ptolemäus-Edition von 1548, deren kartographische Anlage Giacomo Gastaldi gestaltete, wurde beispielsweise jede ptolemäische Tafel von einer oder mehreren zeitgenössischen Karten begleitet, um die aktuellen Ergebnisse der damaligen See- und Landeskunde nicht zu übergehen. Solche Beispiele führen deutlich vor Augen, dass Ptolemäus längst nicht mehr die einzige Autorität war, mit der man sich in chorographischen Beschreibungen und regionalen Karten auseinandersetzen musste. Trotzdem war sein Weltbild zum mentalen Schema geworden, das den alltäglichen Blick auf die Welt bis hin zum Schulunterricht bestimmte. 49 Dies gilt auch für so manches Formale. So imitieren die Titel am Rand eines jeden Kartenblatts der Agnese-Atlanten in London-Greenwich und in New Haven, datiert auf 1554 und 1559, sogar die Formalia ptolemäischer Druckversionen. 50 Etlichen Atlanten dieser letzten Schaffensphase Agneses in den 1550er Jahren sind kosmographische und astronomische Synopsen in Textform beigefügt, die in lateinischer Sprache antikes Wissen aufgreifen und das Verhältnis von Weltkugel

49

Gautier Dalché, La géographie de Ptolémée (wie Anm.9), 302–333.

50

London (Greenwich), National Maritime Museum, P/24 vom 4.Mai 1554 und signiert, mit Deklinati-

onstabelle, kosmographisch-astronomischer Synopse, Armillarsphäre, Zodiak und 25 Kartenblättern, in denen deutsche Titel und Toponyme am Rand aufgetragen sind; New Haven, Yale University, Beinecke Rare Book & Manuscript Library, Beinecke MS 560 vom 8.August 1559 und signiert, mit 23 Kartenblättern und kosmographisch-astronomischer Synopse; vgl. Chet Van Duzer, Storia delle Azzorre quali Insulae Solis o Isole del Sole nella Cartografia del XVI secolo, in: Geostorie 18/1–2, 2010, 87–109, hier 99f.; Baumgärtner, Der Portulan-Atlas des Battista Agnese (wie Anm.42), 132f.

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und Weltall beschreiben. 51 Sie geben Passagen zur Erdvermessung, zu astronomischen Distanzen und den Bewegungen der Himmelskörper, zur Tageslänge und zur Einteilung in Klimata aus dem weit verbreiteten ptolemäischen Almagest wieder. Ihre volle Wirkung entfalten sie im Kontext der Armillarsphäre. Zu Beginn der Synopse rekurriert Agnese auf die Meinung der Alten, dass nämlich alle Himmelskörper um den Mittelpunkt der unbeweglich im Weltall verankerten kugelförmigen Erde kreisten und deshalb die Gradangaben der irdischen und himmlischen Sphären proportional übereinstimmen würden. Bei einer genauen Vermessung der Welt hätte sich, so Agnese, damals herausgestellt, dass ein Grad der Erde mit 56 ⅔ Meilen korrespondiere, vorausgesetzt eine Meile umfasse 4000 Ellen. Bei einer Äquatorausdehnung von 360 Grad ergebe sich also ein Erdumfang von 20 400 Meilen. Wenn man diese Zahl durch Drei und ein Siebtel teile, so fährt Agnese fort, ergebe sich ein Erddurchmesser von 6490 10/11 Meilen und folglich ein Erdradius vom Mittelpunkt zur Oberfläche von 3245 5/11 Meilen. Allerdings war es bereits damals schwierig, diese Zahlen umzurechnen. Denn je nachdem, ob man einen lombardischen, toskanischen, neapolitanischen oder venezianischen Miglio, einen Miglio di mare von etwa 1852 Metern oder eine arabische Meile von fast 2000 Metern ansetzte, ergaben sich völlig unterschiedliche Werte. Dabei unterschätzten die Entdecker und zeitgenössischen Kartenmacher in der Regel die heute bekannten Distanzen, aber die Auflistung der allerseits zirkulierenden Daten traf den Nerv der Zeit. Die Zeitgenossen waren willens und sogar begierig danach, sich mit den antiken Vorgaben auseinanderzusetzen. Die in der Ausgabe von 1554 hinzugefügten Atlasblätter 52 mit Entfernungs- und Koordinatentabellen belegen mustergültig die kontinuierlichen Anstrengungen Agneses, seinen Wissenshorizont über die Küstenlinien hinaus zu erweitern, die Geographie der Erdoberfläche weiter zu spezifizieren und außer den maritimen 51 Venedig, Biblioteca Nazionale Marciana, It IV 62 = 5067,f. 2v–3r; Venedig, Museo Correr, Port. 1 vom 1.September 1553: Atlante nautico di Battista Agnese, 1553. Riproduzione in facsimile dell’esemplare conservato nel Museo Correr di Venezia. Presentazione di Giandomenico Romanelli. Introduzione e commento di Marica Milanesi. Venezia/Marsilio 1990; München, Universitätsbibliothek, Cim. 18,f. 22v–23r: Uta Lindgren, Battista Agnese. Portulan Atlas München Universitätsbibliothek Cim 18, Farbmikrofiche-Edition. Untersuchungen zu Problemen der mittelalterlichen Seekartographie und Beschreibung der Portulankarten. Textband. (Monumenta cartographica et topographica, Bd. 2.) München 1993. Vgl. dazu die weiteren Angaben im Verzeichnis bei Baumgärtner, Der Portulan-Atlas des Battista Agnese (wie Anm.42), 131– 135. 52 Etwa im Kodex in Venedig, Biblioteca Nazionale Marciana, It IV 62 = 5067,f. 2v–3r.

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auch die terrestrischen Vermessungen zu berücksichtigen. Denn im Gegensatz zu seinen frühen Karten, die von den Küstenumrissen getragen werden, zielte er bei den späteren vor allem auf die chorographische Ausgestaltung. Damit verschob sich der Schwerpunkt vom Meer auf das Land, wenngleich Inseln und meeresnahe Territorien noch eine besondere Bevorzugung erfuhren. Dieser neuen Situation entsprach auch die Quellenauswahl: Für die Ägäis wurden die damals bekannten Inselbücher herangezogen, zu Afrika und Amerika die portugiesischen und spanischen Kartierungen konsultiert und für die meisten europäischen Reiche die ptolemäischen Grundlagen modifiziert. Ein ähnlich entspannter Umgang mit Ptolemäus lässt sich auch für andere Kartographen beobachten: Giacomo Gastaldi, der in Venedig zwischen 1539/40 bis 1564 aktiv war, verstand das Zusammenwirken von kartographischen Darstellungen, ikonographischer Ausgestaltung und informativen Begleittexten unterschiedlicher Form und Länge exzellent für seine Produkte zu nutzen. Der aus dem Piemont stammende Mathematiker und Kosmograph fertigte unter anderem die kartographischen Illustrationen 53 für Giovan Battista Ramusios dreibändige Sammlung von Reiseberichten, die Delle Navigazioni e Viaggi. Ramusios erster, in der Serie eigentlich als dritter Band vorgesehener Foliant zur Neuen Welt wurde wegen der internationalen Konkurrenz 1550 schnell auf den Markt gebracht, ehe die anderen beiden Bände zur asiatischen Welt folgten. 54 Etliche der hier zusammengetragenen Texte versuchen auf die Vorbildfunktion der Antike zu rekurrieren, wenn es etwa um einen nördlichen Seeweg nach Indien geht, der viel kürzer als der portugiesische sei, oder um die weltumspannende Bedeutung von Handel und Reisen, die die Limitierung des Mittelalters überwinden solle. 55 Die kartographischen Bilder versuchen diese globale Dimension im Konnex mit dem Text zu vertiefen. Auf einer zusammen mit Matteo Pagano entworfenen Weltkarte aus dem Jahre 1550 kommentierte Giacomo Gastaldi die Abbildung der Erde mit Textblöcken, in denen er unter anderem erklärt, in welcher Weise der vierte Kontinent die seit der Antike bekannte dreigeteilte Welt ergänze. Denn seiner Meinung nach umfasse die 53

Milanesi, La cartografia (wie Anm.41), 70 und 76.

54

Davide Scruzzi, Eine Stadt denkt sich die Welt. Wahrnehmung geographischer Räume und Globalisie-

rung in Venedig von 1490 bis um 1600. Berlin 2010, 136–142 und 154–157 zu den Atlanten von Battista Agnese in Venedig. 55

Scruzzi, Eine Stadt (wie Anm.54), 139f.; Basis ist Plinius hist. nat. II,67, der Inder erwähnt, die an der

deutschen Küste gestrandet seien.

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in der Antike bekannte Welt mit Europa, Asien und Afrika die eine Hälfte mit 180 Längengraden, während die neu entdeckten, als Westindien bezeichneten Gebiete, die den Alten noch unbekannt waren, die übrigen 180 Längengrade einnähmen. 56 Solche Sätze zeigen, dass Gastaldi die Grundstruktur der Welt als mathematisch berechenbar wahrnahm. Zudem versah er seine Darstellungen mit Himmelsgloben, Tierkreiszeichen und Portraits berühmter Geographen von Strabon bis Kolumbus, wodurch er die Geographie auch ikonographisch als Wissenschaft begründete und die antiken Bestände elegant in die neue globale Perspektive einordnete. Noch stärker an die Antike gebunden ist freilich Gastaldis 1548 in Venedig publizierte Überarbeitung der ptolemäischen Geographia, die mit immerhin 60 Karten bestückt war, von denen er 34, also mehr als die Hälfte, als tabulae novae neu entwarf. 57 Es war ihm offensichtlich ein Anliegen, sich mit dem Standardwerk auseinanderzusetzen und es korrigierend zu ergänzen. Auch für Ruscellis Ptolemäus-Ausgabe von 1561 erstellte er eine neue Seekarte und zwei Hemisphärenabbildungen, die das ptolemäische Modell beträchtlich erweiterten. Für Gastaldi wie für seine Zeitgenossen lieferte die Antike also die großen Autoritäten, deren Grundlagen weiter zu bearbeiten, deren Fehler zu korrigieren und deren Irrtümer aufzudecken waren. Diese Sicht auf die Geographie vertrat Gastaldi noch offensiver in seiner kurzen, kaum zwanzigseitigen kosmographischen Schrift La universale descrittione del mondo, die 1548 erschien und gleichsam sein umfangreiches Kartenwerk auf den Punkt brachte. 58 In allen diesen Werken, in Karten wie Beschreibungen, bot die Antike eine Referenz, die es weiterzuentwickeln und zu verbessern galt. Für die kartographischen Praktiken der Exploration war dies eine große Herausforderung.

V. Ein kleines Fazit Geographische Karten und Atlanten waren hybride Gattungen, in denen sich kulturell eingeübte Sehgewohnheiten vielfältig niederschlugen. Selbst wenn die

56 Scruzzi, Eine Stadt (wie Anm.54), 147f. Zur Konstruktion einer neuen Geographie im 16.Jahrhundert vgl. Axelle Chassagnette, Savoir géographique et cartographie dans l’espace germanique protestant (1520– 1620). (Travaux d’Humanisme et Renaissance, Vol.583.) Genf 2018. 57 Scruzzi, Eine Stadt (wie Anm.54), 135f. und 143. 58 Ebd.149f.

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Karten und Atlanten an die ptolemäische Tradition angepasst wurden, reichten die antiken Informationen um 1500 längst nicht mehr aus, um die empirischen Erlebnisse zu kartieren. Gerade die Abweichungen und Unstimmigkeiten stimulierten die Kartographen dazu, neue visuelle Wege zu suchen und neue Praktiken zu entwickeln. Dabei verlagerten sich die Legitimationsdiskurse beim Kartieren der navigatorischen Leistungen in der Neuen Welt von den antiken Autoritäten hin zur Relevanz der Empirie. Letztlich musste aber das Neue wieder im Bekannten verortet und im Kontext der Lehren antiker und mittelalterlicher Kosmographen reflektiert werden. Verschiedene Erfahrungen und Modelle der Antike haben im Zeitraum zwischen etwa 1450 und 1550 die Exploration neuer Meere und Länder angetrieben, wobei sich neue Diskurse, Techniken und Praktiken entwickelten, um die Dynamiken der frühneuzeitlichen Expansion in kartographische Bilder wie beschreibende Texte zu übersetzen und die Welt kartographisch zu konfigurieren. Der Weg von der Rezeption antiker Weltkenntnisse im 15.Jahrhundert bis zur Neubewertung der antiken Vorlagen in Karten, Atlanten und Weltbeschreibungen im 16.Jahrhundert verlief über die Relevanz empirischer Praktiken bei der Erschließung der Welt um 1500.

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Die ersten Weltkarten Matteo Riccis in China von Yingyan Gong

Die Weltkarten Matteo Riccis gehören zu den bedeutendsten Beispielen für Kulturtransfer im frühneuzeitlichen China. Die jüngere Forschung nimmt an, dass die erste 1584 in Zhaoqing erarbeitete, aber seit langem verschollene Karte den Titel Da-ying-quan-tu trug. Während seines Aufenthaltes in Nanchang 1595 bis 1598 erstellte Ricci weitere Weltkarten, zwei Kopien wurden in Zhang Huangs Tu-shu-bian übernommen, eine hieß Yu-di-shan-hai-quan-tu (YDSHQT), die andere Yu-di-tu (YDT), beide bestanden aus Karten der nördlichen und südlichen Hemisphäre. Bei ihnen handelt es sich um die ältesten erhaltenen Weltkarten Riccis. Yu-di-shan-hai-quan-tu beruht auf einer ellipsoiden Projektion mit ovaler Außenform und enthält siebzehn Ortsnamen. Sie geht wohl auf die Weltkarte des „Theatrum Orbis Terrarum“ des Abraham Ortelius aus dem Jahr 1570 zurück. Yu-di-tu basiert auf einer polständigen Projektion und zeigt die nördlichen und südlichen Hemisphären; sie enthält 425 eng geschriebene Ortsnamen: 300 auf der Karte der nördlichen, 125 auf der Karte der südlichen Hemisphäre. Von den 425 Ortsnamen stammen 68 aus chinesischen Karten und Dokumenten, 375 wurden von Namen übertragen beziehungsweise übersetzt, die aus europäischen Büchern oder Karten stammten. Bis heute kennen wir nicht die europäischen Quellen des Yu-di-tu. Fest steht jedoch, dass Ricci die Grundstruktur und Hauptinhalte der chinesischen Weltkarte während seines Aufenthaltes in Nanchang erarbeitete.

I. Einleitung Im Jahr 1582 kam der italienische Missionar Matteo Ricci (1552–1610) nach China. 1 Nach Angabe seiner auf Italienisch verfassten Briefe und Denkschriften schuf er im Jahre 1584 die erste moderne Weltkarte auf Chinesisch in Zhaoqing, Provinz Guangdong. Unglücklicherweise hielt Ricci nicht den chinesischen Titel seiner Weltkarte fest. 1935 schlug der chinesische Gelehrte Hongye (William) vor, dass der Titel Shan-hai-yu-di-tu lauten müsse. Das wurde von anderen Wissenschaftlern sowohl innerhalb als auch außerhalb Chinas weitgehend akzeptiert. 2015 konnten dagegen Tang Kaijian und Zhou Xiaolei basierend auf kürzlich gefundenen chinesi-

1 P. Louis Pfister, Notices biographiques et bibliographiques sur les jésuites de l’ancienne mission de Chine (1552–1773), Tome 1. Shanghai 1932, 22–42. Der Herausgeber dankt Herbert Popp, Christina Mätzing und Rolf Harbeck von der Frithjof Voss-Stiftung für Geographie für die Überprüfung der Übersetzung geographischer Fachtermini.

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110670547-012

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schen historischen Dokumenten zeigen, dass der chinesische Titel von Riccis erster Weltkarte Da-ying-quan-tu lautete. 2 Leider ist Da-ying-quan-tu vor langer Zeit verlorengegangen, ohne dass ein einziges Exemplar überliefert wurde. Dadurch gab es von den frühesten Weltkarten Riccis nur noch zwei Kopien, die von Zhang Huang (1527–1608), einem berühmten Gelehrten aus Nanchang, überliefert wurden. Ricci lernte ihn im Juni 1595 kennen und bezeichnete ihn in einem Brief vom 29.August 1595 als „homem muito estimado e tido por pessoa de boa vida“. 3 Das Hauptwerk Zhang Huangs ist das Thu-shubian, eine enzyklopädische Arbeit in 127 Bänden. Band 38 enthielt zwei Weltkarten. 4 Eine trug den Titel Yu-di-shan-hai-quan-tu, die andere Yu-di-tu, bestehend aus Karten der nördlichen und südlichen Hemisphäre. Ricci erarbeitete beide Karten während seines Aufenthalts in Nanchang von 1595 bis 1598. Obwohl diese beiden Weltkarten von vielen Gelehrten innerhalb und außerhalb Chinas erwähnt werden, sind sie bisher noch nicht intensiv untersucht worden, da die Schriftzeichen auf den Karten sehr klein, ungenau und schwer zu identifizieren sind. Der vorliegende Aufsatz basiert auf Kopien von zwei Editionen von Zhang Huangs Tu-shu-bian: eine aus dem Jahr 1913 (drei Kopien) und die andere von 1623 (zwei Kopien).

II. Die Weltkarten Yu-di-shan-hai-quan-tu und Yu-di-tu Yu-di-shan-hai-quan-tu ist eine Weltkarte, die auf einer Ovalprojektion erstellt wurde (Abb.1); Yu-di-tu ist nach der Polarposition ausgerichtet und zeigt die nördliche und südliche Hemisphäre (Abb.2 und 3). Nach Angabe von Zhang Huang sagte Matteo Ricci, dass beide, Yu-di-shan-hai-quan-tu und Yu-di-tu, dieselbe Erde mit verschiedenen Methoden der Kartographie darstellten. Zieht man andere Weltkarten des 16.Jahrhunderts zum Vergleich heran an, so erkennt man schnell, dass Yu-dishan-hai-quan-tu auf die ovale Weltkarte im „Theatrum Orbis Terrarum“ von Abraham Ortelius (1527–1598) zurückgeht. Es war bekannt, dass es zwei Ausgaben von 2 Tang Kaijan/Zhou Xiaolei, Four Issues in the Dissemination of Matteo Ricci’s World Map during the Ming Dynasty, in: Studies in the History of Natural Sciences 34 3, 2015, 294–315. 3 Pasquale M. d’Elia, Fonti Ricciane. Storia dell’ introduzione del Cristianesimo in Cina. Vol.1. Rom 1942– 1949, 156. 4 Zhang Huang, Thu-shu-bian: 127 juan. [China] 1613, Vol.38, die Karten auf seq. 67, 70 und 71, online auf: Harvard Yenching Library, https://iiif.lib.harvard.edu/manifests/view/drs:428499428i.

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Ortelius’ Weltkarte gab: Eine wurde 1570 publiziert, die andere 1592. In der Ausgabe von 1570 erstreckt sich die Westküste Südamerikas offensichtlich weit in den Pazifischen Ozean hinaus; Estotilant – ein Name, der im frühen 16.Jahrhundert für die legendären Eilande verwendet wurde – ist Teil Nordamerikas. In der Ausgabe von 1592 ist die Küste Südamerikas dagegen nicht mehr in den Pazifischen Ozean hinein ausgedehnt, und Estotilant hat sich zu einer Insel gewandelt. Im Yu-di-shan-hai-quantu ragt die Küste Südamerikas wiederum weit in den Pazifischen Ozean hinein, und Estotilant ist nicht als Insel dargestellt. Damit ist bewiesen, dass Yu-di-shan-hai-quantu auf Ortelius’ Weltkarte von 1570 beruht. Natürlich kopierte Matteo Ricci Ortelius’ Weltkarte nicht exakt. Er veränderte vielmehr einige Dinge, davon waren zwei am wichtigsten: 1. In Ortelius’ Weltkarte ist China am rechten Rand der Karte, in Riccis Yu-di-shan-hai-quan-tu dagegen in der Mitte platziert. 2. Ortelius’ Weltkarte zeigt vier große Inseln um den Nordpol, während in Riccis Karte diese vier Inseln durch viele kleine ersetzt werden. Außerdem ist in Riccis Yu-di-shan-hai-quan-tu die Gestalt Chinas deutlicher korrekter dargestellt als in Ortelius’ Weltkarte. Riccis Yu-di-shan-hai-quan-tu enthält insgesamt siebzehn Ortsnamen. Neun davon wurden direkt aus den Karten übernommen und übersetzt, die in Europa publiziert wurden: Asien (亚细亚), Nordamerika (北亚墨利加), Südamerika (南亚墨利加), Lybien (利未亚, bezieht sich hier auf Afrika), Magallanica (墨瓦蜡), Rio de la Plata (银河), Mare Septentrionale (北海), Nil (泥罗河) sowie das Land der Schwarzen (黑 人国). Vier sind chinesische Bezeichnungen: China (中国), Großer Ming (大明), die Hauptstadt (京师), die Dreizehn Provinzen (十三省). Außerdem stammen vier Bezeichnungen der Ozeane aus chinesischen Quellen, nämlich: östlicher größerer Ozean (大东洋), östlicher kleinerer Ozean (小东洋), Südsee (南海) und westlicher kleinerer Ozean (小西洋). Alle siebzehn Ostbezeichnungen erscheinen auf der Kunyu-wan-guo-quan-tu, einer berühmten Weltkarte, die Ricci 1602 in Beijing erstellte. Auf den Karten, die chinesische Gelehrte während der Ming Dynastie (1368– 1644) zeichneten, war ein langer Gürtel entlang der nördlichen Grenze Chinas dargestellt, so zum Beispiel im berühmten Atlas Guangyutu, den Luo Hongxian von 1553 bis 1557 erarbeitete (Abb.4). Ricci kopierte offensichtlich diesen Wüstengürtel in seine Karte (Abb.5). Moderne Wissenschaftler haben dagegen den Wüstengürtel des Yu-di-shan-hai-quan-tu mit den großen Flüssen verwechselt, die China teilen. So meinten zum Beispiel John B. Harley und David Woodward noch im Jahre 1994, dass auf Riccis Yu-di-shan-hai-quan-tu „the Ming empire is erroneously represented as

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comprising two large islands and part of the larger Asian continent“. 5 Tatsächlich präsentierte Ricci das Ming Reich keineswegs „erroneously“. Es gibt in der Yu-di-shan-hai-quan-tu nur siebzehn Ortsbezeichnungen, dagegen weist die Yu-di-tu mehr als 425 Ortsbezeichnungen auf, häufig eng und dicht aneinander; 300 befinden sich auf der Karte der nördlichen, 125 auf der Karte der südlichen Hemisphäre. Viele Ortsbezeichnungen sind recht willkürlich zusammengefügt und fast unmöglich zu identifizieren. Die Ortsbezeichnungen in Westeuropa (Abb.6) sind folgende: 巴耳得峡 (Gibraltar), 佛郎机 (Frangi = Portugal), 仸郎察 (Frankreich), 瓦私土 (Gascogne), 那勿蜡 (Navarra), 沙勿牙 (Savoyen), 欧罗巴 (Europa). Der chinesische Name für Italien (意 大礼亚) wurde fälschlicherweise an der Küste Afrikas verortet. Von den 425 Ortsbezeichnungen auf Yu-di-tu stammen 68 aus chinesischen Karten und Dokumenten, 375 wurden aus den Namen übersetzt, die sich in europäischen Karten oder Büchern fanden. Die 68 ursprünglichen chinesischen Namen erscheinen alle mit ein paar Änderungen auch in Riccis Kun-yu-wan-guo-quan-tu, außer den folgenden vier: 私定卫 (Si-ding-wei), 沙倭子 (Sha-wo-zi), 朔漠 (Shuo-mo), 西域 (Xi-yu). Von den 375 ursprünglich europäischen Namen tauchen 364 wieder in Kunyu-wan-guo-quan-tu auf. Das beweist, dass das System der Ortsbezeichnungen bereits ausgebildet war und vorlag, als sich Ricci von 1595 bis 1598 in Nanchang aufhielt. In Riccis Kun-yu-wan-guo-quan-tu aus dem Jahre 1602 gibt es eine Insel namens 如 里汉岛. Das wurde mit „Ilhe de S.Julien“ übersetzt. Diese Insel war von John Cabot am Johannistag (24.Juni) 1497 erkundet und benannt worden. Beim chinesischen Namen dieser Insel, 如里汉岛, fehlt das Schriftzeichen für „St.“ während eine große Fläche auf der nördlichen Hemisphäre der Insel frei ist. Auf Riccis Yu-di-tu ist dagegen der europäische Name „Ilhe de S.Julien“ exakt mit 仙如里汉岛 übersetzt. Damit scheint klar: Auf Riccis Kun-yu-wan-guo-quan-tu von 1602 lautete der Name ebenfalls 仙如里汉岛, doch der Schnitzer der Karte hat offensichtlich das erste Schriftzeichen 仙 („St.“) ausgelassen, wodurch ein Freiraum entstand. Es war bislang allgemein akzeptiert, dass Riccis Weltkarte auf Ortelius’ „Theatrum Orbis Terrarum“ basierte. Das ist tatsächlich auch der Fall für Riccis ovale Weltkarte Yu-di-shan-hai-quan-tu, aber nicht für die polare Projektionskarte Yu-di-tu. Denn es gibt keine Karte in den verschiedenen Ausgaben von Ortelius’ „Theatrum

5 John B. Harley/David Woodward, The History of Cartography. Vol.2, Book 2. Chicago 1994, 171.

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Orbis Terrarum“, die diese polare Projektion verwendet. Natürlich erstellten einige europäische Kartographen im 16.Jahrhundert Weltkarten mit polarer Projektion, und die mit den meisten geographischen Namen ist im „Speculum Orbis Terrarum“ von Cornelius de Jode (1568–1600) aus dem Jahre 1593 publiziert. 6 Wenn man sie mit den Karten Riccis vergleicht, sieht man, dass sich viele Ortsbezeichnungen auf Riccis Yu-di-tu nicht im „Speculum Orbis Terrarum“ wiederfinden lassen. Somit bleibt die eigentliche Quelle von Riccis Yu-di-tu unbekannt. Pasquale M. d’Elia behauptete in den 1960er Jahren, dass Yu-di-shan-hai-quan-tu und Yu-di-tu „grobe“ Kopien von Riccis erster Weltkarte seien, die 1584 in Zhaoqing 7 erstellt wurde und nun als Da-ying-quan-tu bekannt ist. Die Forschung hat diese Auffassung bislang generell akzeptiert. Wenn man sie aber genauer unter die Lupe nimmt, dann stellt sich heraus, dass das nicht korrekt sein kann. Im zweiten Teil der Yu-di-tu, genauer gesagt in der Karte der südlichen Hemisphäre, gibt es vier Inseln, die die Salomonen darstellen: 西马法, 勿耳, 仙泥苦老 und 水岛. Bei den ersten drei, nämlich Amacefa, Isabella und S. Nicolas, handelt es sich um chinesische Übersetzungen von Namen aus europäischen Karten. Die vierte Bezeichnung 水岛 bedeutete „Insel des Wassers“. D’Elia machte hieraus „Isola dell Acqua“, obwohl sich hierfür keine Entsprechung auf europäischen Karten findet. Es gibt auf den Salomonen keine Insel, die „Isola dell Acqua“ heißt. Allerdings zeigen manche der im Europa des 16.Jahrhunderts publizierte Karten, wie zum Beispiel die Weltkarte („Orbis Terrarum“) des Petrus Plancius (1552–1622) von 1594 eine Insel namens „Malarta de la Qguada“. Meiner Meinung nach ist Riccis 水岛 eine Übersetzung des Namens „Malarta de la Aguada“. Aber das heißt nicht, dass Ricci seine Yu-di-tu nach Petrus Plancius’ Weltkarte erstellt hat, denn diese kennt keine Insel S. Nicolas. Entscheidend ist, dass die Salomonen 1568 von Alvaro de Mendana entdeckt wurden und erstmals auf der Karte Amerikas erscheinen, die Ortelius im Jahre 1587 publizierte. 8 Folglich kann es keinen Zweifel daran geben, dass die Salomonen auf Riccis Karte von 1584 fehlen; demnach kann Riccis Yu-di-tu mit den Salomonen auch keine Kopie der Karte von 1584 sein.

6 Adolf Erik Nordenskiöld, Facsimile-Atlas. New York 1973, Tafel XLVIII. 7 Pasquale M. d’Elia, Recent Discoveries and New Studies (1938–1960) on the World Map in Chinese of Father Matteo Ricci, S. J., in: Monumenta Serica 20, 1961, 82–164. 8 Peter Whitfield, New Found Lands. London 1998, 98f.; Thomas Suarez, Early Mapping of the Pacific. Singapur 2004, 126f.

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III. Ergebnis und Ausblick Obwohl die Weltkarten Yu-di-shan-hai-quan-tu und Yu-di-tu in Zhang Huangs Tushu-bian nur sehr grob erhalten sind, sind sie doch die ersten uns heute noch überlieferten Weltkarten Riccis. Er hat sie während seines Aufenthalts in Nanchang von 1595 bis 1598 erstellt. Yu-di-shan-hai-quan-tu basierte sicherlich auf früheren Ausgaben der Weltkarte im „Theatrum Orbis Terrarum“ von Abraham Ortelius. Dabei nahm Ricci einige Veränderungen vor. Die europäischen Quellen oder Vorlagen von Yu-di-tu bleiben jedoch nach wie vor unbekannt. Es ist nun aber immerhin klar, dass Ricci das Grundgerüst und die Hauptbestandteile seiner chinesischen Weltkarte während seines Aufenthalts in Nanchang ausarbeitete und fixierte. Die beiden Weltkarten Yu-di-shan-hai-quan-tu und Yu-di-tu in Zhang Huangs Tu-shu-bian zeigen, dass Riccis Weltkarten schon kurz nach ihrer Entstehung vielen chinesischen Gelehrten bekannt waren, und sie brachten dem Verfasser große Ehren ein. Seine Karten wurden in einige Bücher übernommen, auch wenn man nicht immer die wissenschaftlichen Grundlagen verstand, nach denen sie erarbeitet waren. Dennoch bildete die Erarbeitung von Weltkarten eine wichtige Rolle bei der Vermittlung westlicher Wissenschaften in China. Leider kennen wir bis heute nicht sämtliche europäischen Publikationen, die Ricci benutzte. Nur internationale Kooperation kann hier weiterhelfen und ist deshalb dringend erforderlich.

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Abb.1: Matteo Ricci, Ovale Weltkarte, genannt Yu-di-shan-hai-quan-tu (YDSHQT); Quelle: Zhang Huang

章潢編, Thu-shu-bian: 127 juan 圖書編: 一二七卷 (1613), Vol. 38, seq. 67, Harvard Yenching Library, http://nrs.harvard.edu/urn-3:FHCL:28554995?n=67 (Zugriff 13.5.2019).

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Abb 2: Matteo Ricci, Erster Teil der Yu-di-tu-Karte (YDT), nördliche Hemisphäre mit Pol-Projektion; Quelle: Zhang Huang 章潢編, Thu-shu-bian: 127 juan 圖書編: 一二七卷 (1613), Vol.38, seq. 70, Harvard Yenching Library, http://nrs.harvard.edu/urn-3:FHCL:28554995?n=70 (Zugriff 13.5.2019).

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Abb.3: Matteo Ricci, Zweiter Teil der Yu-di-tu-Karte (YDT), südliche Hemisphäre mit Pol-Projektion; Quelle: Zhang Huang 章潢編, Thu-shu-bian: 127 juan 圖書編: 一二七卷 (1613), Vol.38, seq. 71, Harvard Yenching Library, http://nrs.harvard.edu/urn-3:FHCL:28554995?n=71 (Zugriff 13.5.2019).

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Abb.4: Karte Chinas aus dem Guang-yu-tu-Atlas, erstellt um 1541 von Luo Hong Xian; Chinese Rare Book Collection, Library of Congress, Washington, DC, https://www.loc.gov/item/2008623187.

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Abb.5: Matteo Ricci, Ausschnitt aus Yu-di-shan-hai-quan-tu (YDSHQT) mit China und Ostasien; Quelle: Zhang Huang 章潢編, Thu-shu-bian: 127 juan 圖書編: 一二七卷 (1613), Vol.38, seq. 67, Harvard Yenching Library, http://nrs.harvard.edu/urn-3:FHCL:28554995?n=67 (Zugriff 13.5.2019).

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Abb.6: Matteo Ricci, Ausschnitt aus Yu-di-tu (YDT) mit dem westlichen Teil des Mittelmeeres; Quelle: Zhang Huang 章潢編, Thu-shu-bian: 127 juan 圖書編: 一二七卷 (1613), Vol.38, seq. 70, Harvard Yenching Library, http://nrs.harvard.edu/urn-3:FHCL:28554995?n=70 (Zugriff 13.5.2019).

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III. Fremde Völker an fernen Küsten – Konjunkturen und Methoden ethnographischer Welterfassung

Neue Ethnien am Südmeer Die Sicht des Agatharchides von Knidos von Marie Lemser

Im Kontext der ptolemäischen Erkundungen der Gebiete am Roten Meer schrieb der alexandrinische Gelehrte Agatharchides von Knidos (2.Jahrhundert v.Chr.) seine Abhandlung „Über das Rote Meer“. Als Quellen dienten ihm Expeditionsberichte aus der Regierungszeit der ersten drei Ptolemäer, obwohl er selbst unter deren Nachfolgern lebte und wirkte. Ein Schwerpunkt seines Werkes bildet die Ethnographie einfach lebender Menschengruppen in den Küstengebieten. Der vorliegende Beitrag untersucht am Beispiel der sogenannten Ichthyophagen („Fischesser“), auf welche Vorbilder, Motive und Modelle sich der Verfasser bei der Darstellung und Interpretation der Daten beziehen konnte. Für die Entstehung seiner Schrift sind die Bedingungen in der hellenistischen Wissensmetropole Alexandria ebenso ausschlaggebend wie griechische Traditionen des ethnographischen Denkens seit Homer. Am Beispiel des Ichthyophagenpassus kann gezeigt werden, wie sich der Autor in wissenschaftlichen, philosophischen und politischen Debatten seiner Zeit platzierte.

I. Der historische Kontext: Die Ptolemäer und das Rote Meer Als sich nach dem Alexanderzug mit den Ptolemäern eine makedonisch-hellenistische Herrscherdynastie in Ägypten etablierte, boten sich für die Griechen neue Möglichkeiten, das bis dahin nur vage bekannte Rote Meer zu erforschen. 1 Seit dem ausgehenden 4.Jahrhundert v.Chr. bezogen die Seleukiden Kriegselefanten aus Indien und verwehrten anderen hellenistischen Mächten den Zugang. 2 Um im Kampf um das strategisch und wirtschaftlich wichtige Koilesyrien ab 275 v.Chr. nicht zu unterliegen, sahen sich die Ptolemäer gezwungen, eigene Fanggebiete zu etablieren.

1 Der erste Ptolemäer ließ seinen Admiral Philon die aithiopische Küste erkunden (Plin. nat. 37,108 = BNJ 670, T1), unter dem zweiten Ptolemäer dann u.a. Timosthenes von Rhodos (FGrH 2051) und Pythagoras (FGrH 2214). – Ich danke Stefan Pfeiffer (Halle), Raimund Schulz und Uwe Walter (beide Bielefeld) für die kritische Lektüre einer früheren Fassung des Textes und wertvolle Hinweise. 2 Im Vertrag zwischen Seleukos I. und Chandragupta, dem Herrscher des Maurya-Reiches, von 304/303 v.Chr. war festgeschrieben, dass Seleukos I. von den Makedonen eroberte Areale an der Grenze zum Maurya-Reich Chandragupta überlassen und im Austausch Kriegselefanten bekommen würde (Strab. 15,2,9; App. Syr. 55).

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110670547-013

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Das nubische Hinterland des Roten Meeres südlich des 5. Nilkataraktes stellte sich als geeignet heraus und bot zudem die Möglichkeit, andere exotische Tiere zu erbeuten, die in den königlichen Zoos von Alexandria ausgestellt wurden. 3 Befanden sich die wichtigsten Jagdgründe während der Herrschaft Ptolemaios’ II. noch auf Höhe der zentralen sudanesischen Küste (um Ptolemais Theron 4), zog man für die Jagd unter den beiden folgenden Ptolemäern weiter nach Süden. Als die organisierten Elefantenjagden unter Ptolemaios IV. eingestellt wurden (Kriegselefanten hatten inzwischen als schlachtentscheidende Waffe weithin ausgedient), hatte sich das Hauptfanggebiet bereits über die Grenzen des Roten Meeres hinaus in die Gebiete um die Nordküste Somalias verschoben. 5 Die ursprünglich für den Elefantentransport ausgebauten Seewege und Küstenstationen boten auch für den Handel neue Optionen. Gewürze und Räucherwaren aus Somalia und Südarabien waren längst unentbehrliche Bestandteile griechischen Lebens geworden und somit wichtige Importwaren. Um ihren eigenen Bedarf zu decken und sich am Weiterexport bereichern zu können, nutzten die Ptolemäer die neuen Transportachsen zwischen Rotem Meer und Nil. Indem sie den Warenstrom über Gerrha an der arabischen Ostküste nach Syrien und Ägypten leiteten, machten sie den arabischen Nabatäern die Überlandwege von Südarabien nach Petra streitig. Diese verlegten sich daraufhin zunehmend auf die Piraterie. 6 Um den Handel und die nabatäischen Störversuche kontrollieren zu können, richteten die Ptolemäer weitere Stützpunkte und Anlegeplätze auf beiden Seiten des Roten Mee-

3 Agatharchides betont in Fr. 1 und 80b die Leidenschaft Ptolemaios’ II. für Kriegselefanten und andere exotische Tiere, die er in Alexandria ausstellen wollte (siehe auch Harry M. Hubbell, Ptolemy’s Zoo, in: Classical Journal 31, 1935, 68–76). Zur Zählung der Fragmente siehe Anm.9. 4 Auf einer Expedition des Eumedes gegründeter Jagdstützpunkt (u.a. Ptol. 4,7,2). Verschiedene Lokalisierungsvorschläge bei Misha D. Bukharin, The Notion τὸ πέρας τῆς ἀνακομιδῆς and the Location of Ptolemais of the Hunts in the Periplus of the Erythraean Sea, in: Arabian Archaeology and Epigraphy 22, 2011, 219–231, hier 221. 5 Stanley M. Burstein, Ivory and Ptolemaic Exploration of the Red Sea. The Missing Factor, in: Topoi. Orient-Occident 6, 1996, 799–807, hier 801. 6 Ag. Fr. 90a; Ios. ant. Iud. 8,163–164. Dazu Werner Huß, Ägypten in hellenistischer Zeit. 332–30 v.Chr. München 2001, 289; Josef Wiesehöfer, Mare Erythraeum, Sinus Persicus und Fines Indiae. Der Indische Ozean in hellenistischer und römischer Zeit, in: Stephan Conermann (Hrsg.), Der Indische Ozean in historischer Perspektive. (Asien und Afrika, Bd. 1.) Hamburg 1998, 9–36; Jehan Desanges, Recherches sur l’activité des Méditerranéens aux confins de l’Afrique (VIe siècle avant J.-C. – IVe siècle après J.-C.), in: Publications de l’École Française de Rome 38, 1978, 298–300.

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res bis zum Bab el-Mandeb ein. 7 Damit eröffneten sich auch neue Möglichkeiten, über den Handel mit Elfenbein und die Ausbeutung der Goldminen in der zentralen östlichen Wüste Armee und Flotte zu finanzieren. 8 Auf diese Weise wurde im Zuge der königlichen Expeditionen der Wissenshorizont der Ptolemäer Schritt für Schritt nach Süden erweitert.

II. „Über das Rote Meer“ des Agatharchides von Knidos und die Quellen Zu den neuen Kenntnissen gehörten nicht nur geographische, nautische und ökologische Daten, sondern auch Hinweise auf die an den Küsten lebenden Völker, mit denen die Expeditionsleiter mittelbar oder unmittelbar in Kontakt kamen. All dies stimulierte eine Vielzahl literarischer Werke über die Region. Unter ihnen nimmt die in der Mitte des 2.Jahrhunderts v.Chr. von dem alexandrinischen Gelehrten Agatharchides von Knidos verfasste Schrift „Über das Rote Meer“ (Περὶ τῆς Ἐρυθρᾶς θαλάσσης) einen prominenten Platz ein. Aufgrund der umfang- und inhaltsreichen überlieferten Exzerpte kommt ihr eine Sonderrolle in der hellenistischen Ethnographie zu. Der Autor lebte im Umfeld des Hofes zur Zeit Ptolemaios’ VI. und Ptolemaios’ VIII. und überblickte das gesamte Gebiet des heutigen Roten Meeres sowie einige der außerhalb des Bab el-Mandeb gelegenen nahen Küstengebiete. 9 Die Exzerpte han7 Günther Hölbl, Geschichte des Ptolemäerreiches. Politik, Ideologie und religiöse Kultur von Alexander dem Großen bis zur römischen Eroberung. Darmstadt 2004, 55–58. 8 Matthew A. Cobb, Rome and the Indian Ocean Trade from Augustus to the Early Third Century CE. (Mnemosyne, Supplements, History and Archaeology of Classical Antiquity Series.) Boston 2018, 29–31; Raimund Schulz, Abenteurer der Ferne. Die großen Entdeckungsfahrten und das Weltwissen der Antike. 2. Aufl. Stuttgart 2016, 296. In den Wadis Allaqi und Gabgaba in Südägypten und im Sudan wurden 37 antike Bergbaustandorte entdeckt; Stanley M. Burstein (Ed.), Agatharchides of Cnidus: On the Erythraean Sea. (Works Issued by the Hakluyt Society, 2nd Series, No. 172.) London 1989, 59 Anm.4. 9 Die Schrift ist durch Exzerpte beim byzantinischen Patriarchen Photius und bei Diodor von Sizilien greifbar (Phot. bibl. 250.1, 441b–250.110, 460b; Diod. 3,12,1–3,48,5). Außerdem einige Fragmente zusätzlich bei Strab. 16,4,5–16,4,20 sowie einzelne bei Ael. NA 17,43 und Plut. qu. conv. 8,9,16 sowie evtl. Plin. nat. 8,2425. Konkordanz bei Burstein, Agatharchides (wie Anm.8), 176–182. Im Folgenden werden die Fragmente nach Burstein zitiert, welcher bei Photius überlieferte Fragmente in der Regel mit a und bei Diodor überlieferte mit b kennzeichnet. Liegen von Strabon tradierte Fragmente vor, werden diese mit c bezeichnet. Als Abkürzung für Agatharchides wird folgend „Ag.“ verwendet. Die zugrundeliegende Edition ist Karl Müller

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deln von ptolemäischen Aktivitäten wie der Elefantenjagd und der Ausbeutung der Goldvorkommen in den Wüstengegenden des heutigen Südägyptens und Sudans. Die Ausführungen zu Flora, Fauna, Geographie und Ethnographie werden mit methodologischen und geschichtstheoretischen Reflexionen angereichert. Ein besonderes Interesse zeigt Agatharchides an denjenigen Menschengruppen, die ein den natürlichen Gegebenheiten konsequent angepasstes Leben führen. So berichtet er zum Beispiel von Rhizophagen (Wurzelessern), Hylophagen (Holzessern), Spermatophagen (Samenessern) und den Troglodyten, die in Höhlen an den zerklüfteten Küsten des Meeres wohnen. 10 19 der 116 greifbaren Fragmente beschreiben die Lebensweise der Ichthyophagen, die sich hauptsächlich von Fisch bzw. Seetieren ernähren. Sie eignen sich in besonderer Weise dazu, die Arbeits- und Denkweise eines hellenistischen Ethnographen im Kontext einer vornehmlich zur See durchgeführten exploratorischen Horizonterweiterung zu erklären. Um 200 v.Chr. auf Knidos geboren, hatte Agatharchides bereits früh eine Laufbahn als Grammatikos in Alexandria eingeschlagen. Seit 170/169 bekleidete er Ämter (ἀναγνώστης; ὑπογραφεύς) im Dienste des Herakleides Lembos, der unter Ptolemaios VI. diplomatisch und schriftstellerisch tätig war. 11 Es ist zwar nicht auszuschließen, dass der Autor einige Reisen unternommen hat, doch seine eigenen Darlegungen deuten eher darauf hin, dass er dem Typus des Schreibtischgelehrten entsprach, der zugunsten der Archivarbeit auf Autopsie verzichtete. Durch die Nähe zum Herrscherhaus hatte er nicht nur Zugriff auf die Schriftrollen der Bibliothek von Alexandria, sondern auch auf nicht öffentlich zugängliche Dokumente der Ptolemäer. Zu diesen zählten die offiziellen Expeditionsberichte, welche die Könige

(Hrsg.), Geographi Graeci minores. Bd. 1. Paris 1855. Die deutschen Übersetzungen sind aus Dieter Woelk, Agatharchides von Knidos – Über das Rote Meer. Übersetzung und Kommentar. Bamberg 1966. Zur Textgeschichte Didier Marcotte, Les mines d’or des Ptolemees: d’Agatharchide aux archives de Photios, in: Journal des savants 1, 2017, 3–49; für die Fragmente bei Photius und zu Diodor Willy Peremans, Diodore de Sicile et Agatharchide de Cnide, in: Historia 16, 1967, 432–455. 10

Hdt. 4,183 stellt die Trogodytai Aithiopes als Volk im Süden Libyens vor mit einer Sprache, die wie das

„Zirpen von Fledermäusen“ klinge. Seit Aristoteles tritt gelegentlich die veränderte Form Troglodytai auf, entstanden aus τρώγλη („Höhle“) und δῡνει („eintauchen“). Die ursprüngliche Form ist etymologisch ungeklärt (George W. Murray/Eric H. Warmington, Trogodytica: The Red Sea Littoral in Ptolemaic Times, in: The Geographical Journal 133, 1967, 24–33). In den Handschriften von Photius, Strabon und der Mehrheit der Diodor-Handschriften findet sich die Form mit „l“. 11

FGrH 86, T1–5. Ausführlich zur Biografie des Agatharchides Burstein, Agatharchides (wie Anm.8), 12–

18.

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von jeder Forschungsreise einforderten. Der Konkurrenzkampf zwischen den Diadochenstaaten könnte ein Grund dafür gewesen sein, dass diese unter Verschluss gehalten wurden. In den Fragmenten 81 und 112 legt Agatharchides dar, dass er die „königlichen Hypomnemata“ für die Arbeit an seinem Werk „Über das Rote Meer“ nutzte. Zu seiner Zeit bestand das Archiv bereits über hundert Jahre und enthielt Daten zu zahlreichen Reisen nach Süden seit Ptolemaios I. Agatharchides nennt aber lediglich Expeditionsleiter, die ins 3.Jahrhundert v.Chr., das heißt in die Regierungszeit des zweiten und dritten Ptolemäers fallen: Unter Ptolemaios II. war Ariston zur Erkundung der arabischen Küste und Eumedes zur Elefantenjagd ausgesandt worden; unter Ptolemaios III. Satyros, ebenfalls Elefantenjäger, sowie Simmias aus dem Kreis der Philoi des Königs, der sich Kenntnis über die Küstenvölker verschafft hatte. 12 Möglicherweise wurde Agatharchides angehalten, sich bei seiner Recherche auf die bereits veralteten, unter den frühen Ptolemäern gesammelten Informationen zu beschränken. 13 Er studierte bestimmte Expeditionsberichte sehr genau, extrahierte die aus seiner Sicht relevanten Passagen und glich sie teilweise mit Berichten anderer Augenzeugen ab, die nicht zum Kreis der Expeditionsleiter gehörten. So schreibt er zum Beispiel, dass die Informationen des Simmias, die er für den Ichthyophagenabschnitt verwendete, mit den Berichten „vieler Kaufleute überein[stimmen], die von Ägypten aus durch das Rote Meer schiffen und bis zum heutigen Tag häufig an der Küste der Ichthyophagen anlegen“. 14 Neben den offiziellen Berichten und den mündlichen Zusatzinformationen gab es eine dritte Quellengruppe, die in der Geschichte der griechischen Ethnographie schon immer eine wichtige Rolle gespielt hatte. Häufig verfassten Expeditionsleiter auf Basis ihrer offiziellen Aufzeichnungen und anderer interner Dokumente literarische Werke, die nicht nur für das Archiv oder ein Expertenpublikum bestimmt waren. Ein frühes Beispiel ist der periplusartige Bericht des Skylax von Karyanda über seine offizielle Erkundungsfahrt von der Indusmündung um die Persische Halbinsel herum bis zum Golf von Suez aus dem 6.Jahrhundert v.Chr., der sein

12 Ariston: Fr. 87a; Eumedes Strab. 16,4,7, bei Burstein, Agatharchides (wie Anm.8), 175 aufgeführt unter „Unplaced Fragments“ II, 4; Simmias Fr. 41b; Satyros Strab. 16,4,5, bei Burstein, Agatharchides, 175 aufgeführt unter „Unplaced Fragments“ II, 3; Woelk, Agatharchides (wie Anm.9), 259. 13 Woelk, Agatharchides (wie Anm.9), 255f. 14 Ag. Fr. 41b.

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Abb. 1: Das Rote Meer und sein Hinterland aus der Sicht des Agatharchides nach Burstein (Ed.), Agatharchides (wie Anm. 8), xii.

Werk offenbar danach zusätzlich als Buch über Indien (Indiká) herausgegeben hat. 15 Ungefähr zwei Jahrhunderte später verfasste Nearchos, der im Namen Alexanders des Großen von der Indusmündung nach Mesopotamien fuhr, anhand seines offiziellen Rechenschaftsberichtes ebenfalls einen Periplus, der auch Informationen über

15

Hdt. 4,44. Zur Reise des Skylax: Raimund Schulz, Wunderwelten entzaubern – Die Erschließung des In-

dischen Ozeans vom Westen in der Antike, in: Jahrbuch für Europäische Überseegeschichte 17, 2017, 25– 42, hier 25–29.

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Indien für ein breiteres Publikum enthielt. 16 An diesen Werken konnte sich Agatharchides ebenso orientieren wie an den Länderbeschreibungen, die ptolemäische Gesandte in Nubien verfassten – den sogenannten Aithiopiká. 17 Neben konkreten, teilweise fast wörtlichen Bezügen finden sich vor allem die Form und die zugrundeliegenden weltanschaulichen Modelle der Vorgänger in „Über das Rote Meer“ wieder.

III. Vorbilder und Interpretationsmodelle Der Fundus, aus dem der Universalgelehrte schöpfte, enthielt jedoch weitaus mehr als Texte und mündliche Informationen über die Regionen des Südens. Jeder Schriftsteller, der Nachrichten über fremde Ethnien verarbeiten wollte, musste sich mit bekannten Topoi, Modellen und Wissensformaten früherer Autoren auseinandersetzen, um sich die Aufmerksamkeit der Leserschaft zu sichern und von den anderen schriftstellerisch tätigen Kollegen ernst genommen zu werden. Dass Kapitäne an unbekannten Küsten wundersame Überraschungen erleben konnten, war bereits für die homerische Odyssee ein darstellerisches Kernelement. Die sich seit dem 6.Jahrhundert v.Chr. ausbildende Prosa hielt hieran fest und integrierte es in sich neu entwickelnde Formen der Welterklärung. Seit dem 5.Jahrhundert waren die Historien des Herodot der Referenzrahmen jeder ethnographischen Betrachtung. Herodot suchte stets in der Darstellung der verschiedensten Gebräuche der Völker deren jeweiliges Spezifikum herauszuarbeiten. Die enorme Fülle des geographischen, historischen und ethnographischen Materials machte sein Werk gleichermaßen zu einer Fundgrube und idealem Objekt der Kritik und Konkurrenz, an dem sich alle späteren Autoren von ethnographischen Texten und Reiseliteratur abarbeiten konnten (und mussten). Auch die Nachrichten über Menschengruppen in den Küstengebieten des Roten Meeres, die bar jeder urbanen Struktur und erkennbarer politischer Organisation ein 16 Teile dieser Schrift sind durch Arrian, Strabon u.a. überliefert. FGrH 133; BJN 133; Schulz, Abenteurer (wie Anm.8), 260. 17 Plin. nat. 6,183 nennt fünf Männer, die in hellenistischer Zeit in Nubien gereist sind: Dalion, Aristokreon, Bion, Basilis, Simonides der Jüngere; Fragmente ihrer Werke FGrH 666–70. Ausführlich dazu Stanley M. Burstein, The Hellenistic Fringe: The Case of Meroë, in: Peter Green (Ed.), Hellenistic History and Culture. (Hellenistic Culture and Society, 9.) Berkeley 1993, 38–66.

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einfaches Dasein fristeten, riefen Assoziationen mit Motiven aus verschiedensten Zeiten und Gattungen hervor. Sie erinnern an die fischessenden Populationen, von denen Herodot im ersten Buch im Kontext der Schilderung babylonischer Bräuche berichtet. Die hier dargestellten Stammesangehörigen ernähren sich von gedörrten und zu Brei verarbeiteten Fischen. 18 Ein ähnliches Phänomen schildert Herodot für die Bewohner der Gegend an den Nebenarmen des Flusses Araxes, des heutigen Aras, zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer. Die Bevölkerung des sumpfigen Gebiets verzehre rohen Fisch und kleide sich in Seehundsfelle. Auch auf den zahlreichen Inseln im Araxes führten die Menschen ein naturverbundenes Leben und ernährten sich von Wurzeln und Früchten. 19 Sicherlich fand Agatharchides hier manche Parallelen und Bekräftigung für das, was seine Quellen aus den ptolemäischen Archiven über Wurzel-, Samen- und Holzesser am Roten Meer berichteten. In einen anderen Kontext ist die Menschengruppe einzuordnen, die Herodot im Zusammenhang mit dem Feldzug des Kambyses als „Ichthyophagen“ (οἱ Ἰχθυοφάγοι) bezeichnet. Es sind Bewohner der auf einer Nilinsel gelegenen Stadt Elephantine. Diese Insel befand sich an der Grenzzone zu Nubien (Aithiopien), und so wird verständlich, dass Kambyses auf sie zurückgriff, um die Aithiopen auszukundschaften, da sie deren Sprache verstünden. 20 Herodot benutzt jedoch den Begriff nicht als ethnische Kategorie (Ethnonym), sondern lediglich, weil diese Bewohner von Elephantine sich gewissermaßen „zufällig“ fischreich ernährten, während für die meisten Griechen und Ägypter Getreide das Hauptnahrungsmittel darstellte. 21 Immerhin bot Herodot für spätere Schriftsteller die Möglichkeit, aus der situativen Bezeichnung eines in einer Stadt lebenden Bevölkerungsteils eine allgemeinere Ka-

18

Εἰσὶ δὲ αὐτῶν πατριαὶ τρεῖς αἳ οὐδὲν ἄλλο σιτέονται εἰ μὴ ἰχθῦς μοῦνον, τοὺς ἐπεíτε ἂν

θηρεύσαντες αὐήνωσι πρὸς ἥλιον, ποιεῦσι τάδε· ἐσβάλλουσι ἐς ὅλμον καὶ λεήναντες ὑπέροισι σῶσι διὰ σινδόνος· καὶ ὃς μὲν ἂν βούληται αὐτῶν ἅτε μᾶζαν μαξάμενος ἔδει, ὁ δὲ ἄρτου τρόπον ὀπτήσας; Hdt. 1,200; Philippe-Ernest Legrand (Ed.), Hérodote: Histoires. Vol.1. Paris 1932. 19

Νήσους δὲ ἐν αὐτῷ Λέσβῳ μεγάθεα παραπλησíας συχνάς φασι εἶναι, ἐν δὲ αὐτῇσι ἀνθρώ-

πους οἳ σιτέονται μὲν ῥíζας τὸ θέρος ὀρύσσοντες παντοíας, καρποὺς δὲ ἀπὸ δενδρέων ἐξευρημένους σφι ἐς φορβὴν κατατíθεσθαι ὡραíους καὶ τούτους σιτέεσθαι τὴν χειμερινήν·; Hdt. 1,202, ed. Legrand, Histoires (wie Anm.18). 20

Hdt. 3,19–25.

21

Vgl. Oscar Nalesini, History and Use of an Ethnonym: Ichthyophágoi, in: Lucy Blue/John Cooper/Ross

Thomas/Julian Whitewright (Eds.), Connected Hinterlands. Proceedings of Red Sea Project IV. (Society for Arabian Studies Monographs, 8.) Oxford 2009, 9–18, der bereits für Herodot von einer Verwendung als Ethnonym ausgeht.

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tegorie zu entwickeln, die mit anderen Merkmalen Fisch verzehrender Völker angereichert werden konnte. Der erste, der diese Möglichkeit nutzte, war Nearchos, der im Auftrag Alexanders im späten 4.Jahrhundert mit einer Expeditionsflotte vom Indus zum Persischen Golf segelte. Seine Informationen über Entfernungen, Beschaffenheit des Seewegs, Versorgungsmöglichkeiten und Sitten der Einheimischen sollten ein möglichst genaues Bild der den Makedonen weithin unbekannten Region vermitteln. Formal bedingte dies die literarische Form des Periplus, praktisch erforderte ein solcher Bericht einen hohen Grad an Detailgenauigkeit. Sehr wahrscheinlich kannten Nearchos und Alexander die Historien Herodots. Ebenso dürften sie von der Expedition des Skylax von Karyanda gehört haben, und so mag ein Grund für die Fahrt des Nearchos darin bestanden haben, die Angaben des Kariers zu überprüfen. 22 Obwohl das äußere Erscheinungsbild und die Lebensweise der Menschen, auf die der Flottenkommandant und seine Männer stießen, äußerst präzise und variantenreich beschrieben werden, erinnern die Schilderungen vielfach an Herodot: Die fischessenden Populationen an der gedrosischen Küste dörren ihr Hauptnahrungsmittel in der Sonne und verarbeiten es dann zu Mehl, aus dem sie Fladen oder Brote machen, ebenso wie die in den Historien dargestellten babylonischen Stämme. 23 Da es Herodot hauptsächlich um die nomoi ging, benötigte er für diese Gruppen kein Ethnonym. Nearchos ordnet stattdessen die vom Meer aus beobachteten Menschen und bezeichnet die Küstenbewohner Gedrosiens nach ihrer vornehmlichen Subsistenzstrategie mit dem von Herodot eingeführten Begriff „Ichthyophagen“. Trotz Lebensmittelgeschenken, der Erpressung von Getreide und Fischmehl sowie des Diebstahls von Herden bleibt der Flotte die Küste der Fischesser als Region in Erinnerung, „wo sie viel Schlimmes durch den Mangel an lebensnotwendigen Gütern erlitten hatten“. 24 Doch in diesem scheinbaren Mangel offenbart sich eine

22 Schulz, Abenteurer (wie Anm.8), 243f. Möglicherweise verschwieg Nearchos dies in seiner Schrift, um seinen eigenen Nimbus als „Entdecker“ eines neuen Gebietes nicht zu schmälern. 23 σιτέονται δὲ ὠμοὺς μέν, ὅπως ἀνειρύουσιν ἐκ τοῦ ὕδατος, τοὺς ἁπαλωτάτους αὐτῶν· τοὺς δὲ μέζονάς τε καὶ σκληροτέρους ὑπὸ ἡλíωι αὐαíνοντες, εὖ̣τ᾽ ἂν ἀφαυανθῶσι, καταλοῦντες ἄλευρα ἀπ᾽ αὐτῶν ποιέονται καὶ ἄρτους· οἱ δὲ μάζας ἐκ τούτων τῶν ἀλεύρων πέσσουσι; BNJ 133 Fr. 1III = Arr. Ind. 21,2–29; davon 29,12. Übersetzungen aus Gerhard Wirth/Oskar von Hinüber (Hrsg.), Flavius Arrianus: Der Alexanderzug/Indische Geschichte. Gr./dt. (Sammlung Tusculum.) München 1985. 24 ἀλλὰ διελθόντες γὰρ σταδíους χιλíους τε καὶ ἑκατὸν ἐξέπλωσαν τὸ ἔθνος τῶν ᾽Ιχθυοφάγων, πολλὰ κακὰ ταύτηι παθόντες ἀπορíηι τῶν ἀναγκαíων; BNJ 133 Fr.1III = Arr. Ind. 21,2–29; davon 29,7.

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wichtige ethnographische Erkenntnis: Die Ichthyophagen sind ein herausragendes Beispiel dafür, wie sich Menschen auch auf einer vermeintlich „primitiven“ Kulturstufe zum Zwecke ihrer Umwelt vollends angepasst haben, um zu überleben. Damit etabliert Nearchos eine weitere Interpretationsmöglichkeit einfach lebender Gruppen in peripheren Gebieten neben Herodots Demonstration der teils bizarren, aber gleichberechtigt neben den eigenen stehenden Sitten: Anhand der empirischen Daten zeigt er, wie Menschen mit der Natur im Einklang leben und von ihr erhalten, was sie benötigen. Auch diese Art der frühhellenistischen Deutung ethnographischer Realien bildete für Agatharchides nicht nur ein wichtiges Angebot, seine gesichteten Daten ethnographisch zu interpretieren, sondern auch den pragmatischen Kontext, den für alle Völkerbeschreibungen wichtigen Erstkontakt zu illustrieren und auf eine höhere Deutungsebene zu heben – ein Ziel, das sich angesichts der großen Zahl der von ihm verwerteten Entdecker- und Expeditionsberichte geradezu aufdrängte. Ob den Reisenden an den Rändern der Oikumene Gefahr oder Glück erwartete, war stets ungewiss. Bei Homer versprach die Zyklopeninsel mit ihrem fetten Vieh und den reichen Vorräten auf den ersten Blick ausreichend Nahrung und Beute, doch es dauerte nicht lange, bis Odysseus und seine Gefährten merkten, dass sie auf ein menschenfressendes Ungeheuer gestoßen waren. In Erzählungen wie dieser verdichteten sich Wünsche, Hoffnungen und reale Erfahrungen der Seefahrer: Gerade Inseln waren Orientierungspunkte, Orte der letzten Rettung, aber auch falsche Hoffnungsträger. 25 Der potentielle Ablauf von Erstkontakten wird durch Figuren und Geschichten wie die von der Insel der Zyklopen versinnbildlicht. Ebenso beliebt war die Schilderung paradiesischer Zustände. Eigentlich zu schön, um wahr zu sein, erinnerten sie das belesene Publikum an Mythen längst vergangener Zeitalter. So beschreibt Hesiod (um 700 v.Chr.) in seinem Großgedicht „Werke und Tage“ (Ἔργα καὶ ἡμέραι) die erste Stufe der Entwicklung, in der das Menschengeschlecht dem der Götter nahegestanden und ein Leben frei von jeder Not geführt haben soll. Dieses „Goldene Zeitalter“ sei dadurch geprägt gewesen, dass die Menschen sich keine Sorgen um das Bestreiten ihres Lebensunterhaltes machen mussten; die Natur gab ihnen alles, was sie brauchten, in ausreichendem oder gar übertriebenem Maße. Nach einem solchen heiteren Leben übermannte sie der Tod im Schlaf. Dieser Ideal-

25

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Schulz, Abenteurer (wie Anm.8), 61.

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zustand ist der Ausgangspunkt eines temporalen Stufenmodells. Ihm folgen ein silbernes, ein ehernes, ein Heroen- und das eiserne Zeitalter. Letzterem rechnet sich der Autor selbst zu und beschreibt es als das mühseligste. 26 In der griechischen und römischen Literatur wurde dieses Motiv der ersten, goldenen Stufe (teilweise verbunden mit der etappenweisen Entfernung von diesem Urzustand) immer wieder aufgegriffen, wobei mit der weiteren Entwicklung durchaus nicht immer der Gedanke einer grundsätzlichen Abwärtsbewegung (Deszendenz) verbunden sein musste: Während die Nähe zu den Göttern schwindet, erzielt der Mensch immerhin auf anderen Gebieten (wie der Seefahrt!) Fortschritte. Bei Hesiod ist selbst in der schlimmen Jetztzeit die Hoffnung auf Besserung in der Zukunft angelegt. 27 Dikaiarchos, ein Schüler des Aristoteles, rationalisierte den Mythos der Zeitalter und entwickelte eine eigene Kulturentstehungslehre. 28 In seinem Werk „Leben Griechenlands“ (Βíος Ἑλλάδος) wird die Entwicklung der Menschheit ebenfalls in Etappen eingeteilt. Die Dreistadienlehre ist ein früher Versuch, die Geschichte zu periodisieren und wirkte bis in die Neuzeit. 29 Dabei bildet nicht mehr göttliche Willkür, sondern menschliches Streben den entscheidenden Entwicklungsmotor. Sein Hauptaugenmerk legt der Philosoph auf die Subsistenzform: Während die Menschen der ersten Stufe wie bei Hesiod gänzlich und spontan von der Natur versorgt wurden, führten sie auf der zweiten ein Hirtenleben und widmeten sich auf der dritten Ackerbau und Viehzucht. Nach seinem Entwicklungsmodell intensivieren sich mit jeder Etappe die sozialen Konflikte, hervorgerufen durch die wachsende Bedeutung des Eigentums; Menschen behandeln sich ungerecht, und ihre Gesundheit verschlechtert sich mit zunehmendem Luxus. Der ursprüngliche Mangel wird positiv gewertet. 30

26 Hes. Op. 110–200. 27 Hes. Op. 173f. Bei Arthur O. Lovejoy/George Boas, Primitivism and Related Ideas in Antiquity. 2nd Ed. New York 1980, 1–22, findet sich eine systematische Darstellung verschiedener Theorien zum Fortgang der Geschichte, außerdem die Unterteilung von Primitivismus in „harte“ und „weiche“ Formen mit der Einordnung des „Goldenen Zeitalters“ Hesiods als weiche Form. 28 Reimar Müller, Die Entdeckung der Kultur. Antike Theorien über Ursprung und Entwicklung der Kultur von Homer bis Seneca. Düsseldorf 2003, 273f. 29 Vermittelt durch Varro bezogen sich Adam Smith, Turgot, Diderot, Rousseau u.a. auf die Theorie und entwickelten sie der Neuzeit entsprechend weiter; Müller, Kultur (wie Anm.28), 277–279. 30 Fr. 56a Fortenbaugh = Porph. Abst. 4,2. Zu Dikaiarchos: William W. Fortenbaugh/Eckart Schütrumpf (Eds.), Dicaearchus of Messana. Text, Translation, and Discussion. New Brunswick/New Jersey 2001; Müller, Kultur (wie Anm.28), 271–280.

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Da nun griechische Ethnographen in der geographischen Ferne mitunter ähnliche Lebensbedingungen und Subsistenzstrategien vorfanden, wie sie Dikaiarchos für die zeitliche Ferne, also die Frühzeit der Menschen, schilderte, war es naheliegend, die Ordnung des Dikaiarchos für ihre Thematik zu verwenden. 31 Auch wenn das „Goldene Zeitalter“ nicht explizit genannt wird, sind die in ethnographischen Beschreibungen enthaltenen Komponenten wie die Nahrungsfülle diesem Topos zuzurechnen. Die von Nearchos geschilderten Fischesser beispielsweise leben zwar nicht pompös; das wenige, was sie haben, erlangen sie jedoch ohne viel Aufwand: „Den meisten Fisch bringt ihnen die Ebbe.“ 32 Die Fischesser führen demnach ein vergleichsweise müheloses Leben, die einseitige und knappe Kost stelle für sie keinen Nachteil dar. Dass sie „das Brot nur als Zukost zu den Fischen“ 33 genießen, konterkariert die griechische Sitte: Das griechische Zubrot essen die Fischesser täglich. Und so ergibt sich die Frage, wer hier eigentlich echten Mangel leidet, die griechischen Beobachter oder ihr ethnographisches Objekt. Als schließlich die philosophischen Strömungen des Kynismus und die übrigen, um das Problem eines „glücklichen Lebens“ kreisenden philosophischen Lehren der hellenistischen Zeit aufkamen, wurde das „einfache Leben“ stärker ethisch verklärt, da es zum gepredigten Ideal der Bedürfnislosigkeit passte. Waren Dinge nicht verfügbar, sollte man sich so gut wie möglich damit arrangieren. 34 Wo Menschen abgeschottet von der städtischen Zivilisation ein genügsames Leben fristeten, sah man diesen Anspruch verwirklicht. Da diese philosophischen Systeme in der hellenistischen Zeit eine große Breitenwirkung entfaltet hatten, musste sie auch Agatharchides umso mehr berücksichtigen, um dem Anspruch an einen gelehrten Schriftsteller sowie den Erwartungen seiner Kollegen und eines breiten Publikums gerecht zu werden, etwa indem er die empirischen Daten mit ethischen Kommentaren versah und sie kausal zusammenhängend darstellte. 35 Wir werden im Folgenden am Bei31

Andersherum prägten ethnographische Informationen sicherlich die Schilderungen früherer

menschlicher Entwicklungsstufen. 32

λíγοι μὲν αὐτῶν ἁλιεύοντες τοὺς ἰχθύας· ὀλíγοισι γὰρ καὶ πλοῖα ἐπὶ τῶιδε πεποíηται καὶ

τέχνη ἐξεύρηται ἐπὶ τῆι θήρηι τῶν ἰχθύων· τὸ πολὺ δὲ ἡ ἀνάπωτις αὐτοῖσι παρέχει; BNJ 133 Fr. 1III = Arr. Ind. 21,2–29; davon 29,9. 33

ὀλíγοι δὲ αὐτῶν σπεíρουσιν ὅσον τῆς χώρης, καὶ τούτωι κατάπερ ὄψωι χρῶνται πρὸς τοὺς

ἰχθύας· ὁ γὰρ σῖτος αὐτοῖσíν εἰσιν οἱ ἰχθύες; BNJ 133 Fr. 1III = Arr. Ind. 21,2–29; davon 29,15. 34

Malte Hossenfelder, Stoa, Epikureismus und Skepsis. (Die Philosophie der Antike, 3.) München 1985,

23–25. 35

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Albrecht Dihle, Zur hellenistischen Ethnographie, in: Fondation Hardt pour l’étude de l’àntiquité clas-

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spiel der Ichthyophagenpassage sehen, dass er diese schwierige Aufgabe gut bewältigte und im Einklang mit dem hohen Bildungsgrad seines Publikums die Klaviatur der etablierten literarisch-ethnographischen Motive und philosophischen Denkmodelle glänzend beherrschte und nutzte, um das ethnographisch Neue überzeugend in Szene zu setzen.

IV. Die Ichthyophagen bei Agatharchides Agatharchides fasst unter dem Begriff „Ichthyophagen“ vorrangig Küstenbewohner des westlichen Roten Meeres (aber auch weiter südlich gelegener Küsten Ostafrikas, Arabiens und Asiens bis nach Indien) zusammen, weil sie sich hauptsächlich von Fisch und Seetieren ernähren. Er spricht mehrfach von einem „Stamm“ (γένος) der Ichthyophagen und schildert Untergruppen, die teilweise verschiedene Gewohnheiten haben. Am Beginn der Darstellung steht die geradezu programmatische Aussage, dass die „Beschaffenheit der Meeresküste dem Bedürfnis der [Fischesser] entspricht“. 36 Varianten- und detailreich wird danach beschrieben, wie die Fischesser an die namensgebende Nahrung gelangen: In der Regel stellen sie Felsblöcke auf und machen sich die Gezeiten zunutze. Wie von selbst werden Fische und Meerestiere hinter die simplen Fangvorrichtungen gespült – bei Ebbe ist es ein Leichtes, sie einzusammeln. Die Fangweise verlangt demnach kein aktives Angeln oder Jagen. Wie beim Verarbeitungsprozess der Nahrung nutzen die Menschen, was die Natur an Hilfsmitteln zur Verfügung stellt. Felssplitter oder Tierhörner ersetzen künstlich hergestellte Waffen, um die teils großen Tiere zu bekämpfen 37, deren Fleisch sie dann von der Sonne bescheinen lassen, bis es von den Gräten geschüttelt werden kann. Mit Beerenfrüchten gemischt und zu Rauten geformt, wird der Fisch erneut in der Sonne getrocknet. 38 Die Erläuterung erinnert an Herodot und Nearchos – wie die der Babylonier und gedrosischen Fischesser ist die Kost, von der Natur zur Verfügung gestellt sique, Grecs et barbares: six exposés et discussions. Vandoeuvres-Genève 4–9 Septembre 1961. (Entretiens, VIII.) Genf 1962, 207–239, hier 208.

36 Ὧν πρὸς τὴν χρεíαν ὑποκειμένων οἰκεíως, ἀναθέμενοι πέτρους αὐτοπαγεῖς ἐπὶ τῆς κοιλíας οἱονεí τινας ἀραιοὺς; Ag. Fr. 32a. 37 Ag. Fr. 33b. 38 Ag. Fr. 34a und 34b.

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und zubereitet, weder roh noch gekocht. 39 Mit einem irrealen Vergleichssatz verleiht Agatharchides der Paradoxie der Situation Ausdruck: „als ob Poseidon hier die Aufgabe der Demeter übernommen hätte“. 40 Die griechische Zusatzkost Fisch fungiert als Getreide, als Grundnahrungsmittel, ebenso wie bei den Fischessern im Periplus des Nearchos. Trotz der großen Unterschiede zur griechischen Lebensweise und des offensichtlichen Mangels an zivilisatorischen Errungenschaften galt dem Gelehrten das Dasein der Fischesser als lobenswert, weil sie allein auf die Befriedigung der elementaren Notwendigkeiten ausgerichtet, κατὰ φύσιν, ihr Leben führen. Zwar erscheint ihre Welt eher grau als golden, trotzdem assoziiert Agatharchides ihre Situation mit frühen paradiesischen Weltaltern oder Subsistenzstufen. Wie wir es von Hesiod und Dikaiarchos kennen, können sich die Fischesser darauf verlassen, von der Natur versorgt zu werden. Doch im Gegensatz zu den frühen Menschen des Dikaiarchos ernähren sich die Fischesser des Agatharchides nicht rein pflanzlich; das wäre schließlich nicht mit ihrer ethnographischen Kategorisierung zu vereinbaren und zudem ziemlich unglaubwürdig gewesen angesichts der von ihm beschriebenen, wenig fruchtbaren Küstenregionen. Geschickt schafft er es jedoch, das Konzept der freigiebigen Natur beizubehalten, indem er es auf die „passiven“ Fischfangmethoden überträgt. Als nächstes widmet sich Agatharchides einem zweiten, von Herodot prominent in das Repertoire ethnographischer Darstellungen eingeführten Aspekt, nämlich dem Zusammenhang zwischen Ernährungs- und Lebensweise und der Gesundheit einer Ethnie. Die karge Fischkost scheint den Küstenbewohnern durchaus zu bekommen: „Durch die einfache Lebensweise werden sie selten von Krankheiten befallen“, berichtet der den städtischen Luxus gewohnte Ethnograph. 41 Mit seinen Überlegungen zu Lebensführung, -dauer und Gesundheitszustand schließt Aga-

39

In BNJ 133 Fr.1III = Arr. Ind. 21,2–29, hier 29 werden der Fischfang und die Zubereitung der Fladen aus

Fischmehl sowie Details des Hausbaus erläutert. Agatharchides’ Darstellung in Fr. 32–34 weist eine sehr große Ähnlichkeit zu der Passage auf. Woelks Annahme der vollständigen Unabhängigkeit beider Berichte ist m.E. mit Skepsis zu begegnen; Woelk, Agatharchides (wie Anm.9), 130. 40

ὡς ἂν τοῦ Ποσειδῶνος τὸ τῆς Δήμητρος ἔργον μετειληφότος; Ag. Fr. 34b.

41

Καὶ νοσήμασι μὲν διὰ τὴν ἁπλότητα τῆς διαíτης σπανíοις περιπíπτουσι, τοσούτῳ δ'

ἀφαιροῦσιν ἀπὸ τοῦ χρόνου τῶν ἐτῶν, ὅσῳπερ ἀπονωτέραν τῶν λοιπῶν ἔχουσι τὴν ἀναστροφήν (Ag. Fr. 39a) sowie νόσοις μὲν διὰ τὴν ἁπλότητα τῆς τροφῆς σπανíως περιπíπτοντες, ὀλιγοχρονιώτεροι δὲ πολὺ τῶν παρ' ἡμῖν ὄντες (Ag. Fr. 39b).

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tharchides an einen Dreiecksdiskurs an, der erstmals im 8./7.Jahrhundert v.Chr. angedeutet wird. Vor der Ankunft des Unglücks in Gestalt der Pandora, schreibt der Dichter Hesiod, „lebten die Stämme der Menschen auf Erden fern von Übeln, elender Mühsal und quälenden Leiden, die Menschen den Tod bringen [nur zu bald nämlich altern Menschen im Unglück]“. 42 Ein Leben in Sorge, schlimme Krankheiten und ein früher Tod gehen miteinander einher, so die allgemeine Grundannahme. Bereits Dikaiarchos griff diese Prämisse im „Leben Griechenlands“ auf: Die Menschen der ersten Stufe lebten „ohne Mühen und Sorgen und ebenso – wenn man der Lehre der hervorragendsten Ärzte folgen soll – ohne Krankheit. Denn keinen besseren Rat würde man für die Gesundheit finden können als den, keine überflüssigen Stoffe einzusetzen, von denen diese Ärzte den Körper gänzlich frei zu halten suchen.“ 43 Tatsächlich empfahlen jedoch die hier wohl gemeinten Hippokratiker unverarbeitete Nahrungsmittel gerade nicht, da sie, roh und stark, nicht der Konstitution der Menschen entsprachen, wie man der Schrift „Über die alte Heilkunst“ (4. Jahrhundert v.Chr.) entnehmen kann. 44 Sowohl Dikaiarchos als auch der hippokratische Autor von „Über die alte Heilkunst“ stellen einer ursprünglichen Ernährungsweise eine neue gegenüber: Der Aristoteles-Schüler betont die Form der Nahrungsgewinnung, während für den hippokratischen Schriftsteller die Verarbeitung im Vordergrund steht. 45 Der Hippokratiker plädiert für die „neue“ Ernährungsform, Dikaiarchos hingegen idealisiert die frühe. Obschon er de facto das Gegenteil behauptete, konnte Dikaiarchos durch den Bezug auf die „hervorragendsten Ärzte“ und einschlägiges Vokabular an die medizinischen Autoritäten anknüpfen. Das Leben der von Agatharchides geschilderten Ichthyophagen entspricht der ersten Stufe des von Dikaiarchos verwendeten Dreistadienmodells. 46 Wie die frü-

42 Πρὶν μὲν γὰρ ζώεσκον ἐπὶ χθονὶ φῦλ' ἀνθρώπων νόσφιν ἄτερ τε κακῶν καὶ ἄτερ χαλεποῖο πόνοιο νούσων τ' ἀργαλέων, αἵ τ' ἀνδράσι κῆρας ἔδωκαν. [αἶψα γὰρ ἐν κακότητι βροτοὶ καταγηράσκουσιν]; Hes. Op. 90; ed. Friedrich Solmsen (Ed.), Hesiodi Opera. Oxford 1970; Übersetzung aus Otto Schönberger (Hrsg.), Hesiod: Werke und Tage. Gr./dt. Stuttgart 1996. 43 τὸ δ' αὐτὸ καὶ τοῦ σχολὴν ἄγειν αἴτιον ἐγíγνετο αὐτοῖς καὶ τοῦ διάγειν ἄνευ πόνων καὶ μερíμνης, εἰ δὲ τῇ τῶν γλαφυρωτάτων ἰατρῶν ἐπακολουθῆσαι δεῖ διανοíᾳ, καὶ τοῦ μὴ νοσεῖν; Fr. 56 A Fortenbaugh = Porph. Abst. 4,2; Übersetzung aus Müller, Kultur (wie Anm.28). 44 Hippokr. vet. med. 3. 45 Clara Bosak-Schroeder, The Ecology of Health in Herodotus, Dicaearchus, and Agatharchides, in: Rebecca Futo Kennedy/Molly Jones-Lewis (Eds.), The Routledge Handbook to Identity and the Environment in the Classical and Medieval Worlds. London/New York 2016, 29–44, hier 31. 46 Burstein, Agatharchides (wie Anm.8), 27.

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hesten Menschen dieses Modells sind sie weitgehend frei von Krankheiten. Dann allerdings überrascht Agatharchides das Publikum, das von einem Zusammenhang zwischen Gesundheit und langer Lebensdauer ausging, mit einem geistreichen Analogieschluss: „was die Dauer der Lebenszeit betrifft, so ist sie um soviel geringer, wie (viel) sie das Leben der übrigen Menschen an Mühelosigkeit übertrifft“. 47 Offenbar stützt sich Agatharchides dabei auf eine bekannte Prämisse: Ob der Mensch gesund ist und, damit einhergehend, wie lange er lebt, ergibt sich aus dem Grad an Belastung, dem er ausgesetzt ist. Auch bei den Fischessern sind die Länge des Lebens und die Annehmlichkeit proportional verbunden – lediglich entgegengesetzt der Erwartung. Je müheloser das Leben, desto kürzer, sagt Agatharchides. Über die drei bekannten Variablen Mühelosigkeit des Lebens der übrigen Menschen, Dauer des Lebens der übrigen Menschen und Mühelosigkeit des Lebens der Fischesser und ihr Verhältnis gelangt seine Leserschaft in einem fast mathematischen Dreisatz zur vierten Größe: Die Lebensdauer der Fischesser muss gering sein. Agatharchides grenzt sich dabei von Vorgängerautoren ab und gewinnt zusätzlich Aufmerksamkeit: Herodot berichtete von „langlebigen Aithiopen“ (μακροβíους Αἰθíοπας), die am „südlichen Meer“ (νοτíῃ θαλάσσῃ) wohnten und gegen die Kambyses ziehen wollte 48 – auch die Fischesser werden von Agatharchides als Aithiopen bezeichnet. Dass sie im Gegensatz zu jenen Herodots kurzlebig sind, ist sicher kein Zufall, sondern ein wohlkalkuliertes Moment der Überraschung. Obschon Agatharchides den alten Autoritäten weiterhin Bedeutung beimisst, emanzipiert er sich gleichzeitig von ihnen durch eine überraschende und gleichsam paradox anmutende Schlussfolgerung. 49 Auch für eine weitere Gruppe, die Heuschreckenesser, schildert Agatharchides ein kurzes Leben, das durch eine im Körper nistende Läuseart beendet wird. 50 Im Motiv der kurzen Lebensdauer werden sicherlich medizinische Theorien des Aristoteles und der Peripatetiker reflektiert, denen zufolge die Sonne das Blut der Lebewesen verdünne, weshalb es zu den großen Unterschieden zwischen Nord- und Südvölkern komme und der Körper der südlicher lebenden Menschen in der Regel schwä47

Ag. Fr. 39a (siehe Anm.41).

48

Hdt. 3,17,1; vgl. auch Hdt. 3,20–23.

49

Zu Agatharchides’ Umgang mit Herodot Jessica Priestley, Herodotus and Hellenistic Culture. Literary

Studies in the Reception of The Histories. Oxford 2014, 155f. 50

Ag. Fr. 59a und 59b. Zur Gesundheit und Lebensdauer der Heuschreckenesser bei Agatharchides Bo-

sak-Schroeder, Ecology (wie Anm.45), ab 35.

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cher sei. 51 Der gebildete Leser wird sich jedoch auch an das Heldenethos seit Homer erinnert fühlen, das ein kurzes, heroisches stets dem langen Leben vorziehen würde. Agatharchides versetzt den Grundgedanken in ein neues, völlig unheroisches Ambiente, er spielt mit traditionellen Vorstellungen, setzt sich von ihnen ab und gibt so dem Leser genügend Stoff, die ausgelegten Fäden weiterzuspinnen. Die folgenden Fragmente über die „empfindungslosen Aithiopen“ knüpfen ebenfalls an das Vorwissen des Publikums an. Diese Gruppe der Ichthyophagen habe aufgrund der saftigen Fischnahrung nicht nur kein Gefühl des Durstes, sondern zeige auch sonst keinerlei Gemütsbewegung. Aus griechischer Sicht mutete es absurd an, dass sie nicht einmal reagieren, wenn ihre Stammesmitglieder direkt attackiert werden, und selbst angesichts großer Gefahren gelassen bleiben. 52 Mit dieser Schilderung treibt Agatharchides das Ideal der Seelenruhe (Apathie in der Stoa bzw. Ataraxie bei den Epikureern) auf die Spitze. 53 Der aufmerksame Leser assoziierte damit vielleicht die friedfertigen Aithiopen Herodots, die duldsamen und angepassten Fischesser des Nearchos oder die bedürfnislosen indischen Brahmanen, denen kämpferischer Angriff oder selbst Verteidigung fremd sind. 54 In jedem Fall übertraf Agatharchides all seine Vorgänger mit der Schilderung einer Gruppe, die „noch stoischer“ ist als jede stoische Vorzeigegemeinschaft. Daneben fließt das in hellenistischer Zeit beliebte Thema der Kommunikation in die Darstellung ein. Agatharchides vermutet, dass die Gefühllosen keine Sprache besitzen, „sondern durch Gewohnheit, Nicken, Laute und Zeichenerklärung alles zum Leben Erforderliche ausdrücken“. 55 Damit werden sie nicht nur erneut auf einer frühen menschlichen Entwicklungsstufe verortet, gleichzeitig suggeriert der Autor, dass er sich auskennt mit den Verständnisproblemen, die sich bei Erstkon-

51 Aristot. part. an. 650b; Aristot. probl. 14,8; 16. Dazu auch Burstein, Agatharchides (wie Anm.8), 77 Anm.1, und Albrecht Dihle, Der fruchtbare Osten, in: Rheinisches Museum 105, 1962, 97–110. Hippokr. aer. 3–4 handelt von den Bedingungen in Städten mit nördlichen bzw. südlichen Winden. Der Autor erläutert, dass die Menschen, die in Städten mit kalten Winden leben, härter, langlebiger und wilden Charakters seien – vielleicht hat Agatharchides auch Teile dieser Klimatheorie auf die in heißen Gebieten lebenden Trogodyten übertragen. 52 Ag. Fr. 41a und 41b. 53 ἀπάθεια: Affektfreiheit, die besonders in der Stoa positiv belegt ist – die epikureische Entsprechung ist die ἀταραξíα („Freiheit von Schrecken und Ängsten“). 54 Schulz, Abenteurer (wie Anm.8), 298. 55 διὸ καí φασιν αὐτοὺς διαλέκτῳ μὲν μὴ χρῆσθαι, μιμητικῇ δὲ δηλώσει διὰ τῶν χειρῶν διασημαíνειν ἕκαστα τῶν πρὸς τὴν χρεíαν ἀνηκόντων; Ag. Fr. 41b.

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takten einstellen konnten. Der Unwille zu kommunizieren konnte viele Gründe haben: die Unfähigkeit, Sprache, Mimik und Gestik zu verstehen, oder den Mangel an Dolmetschern, ebenso wie schlechte Erfahrungen und Befürchtungen der Beteiligten. 56 Auch bei der Schilderung des vertragsähnlichen Verhältnisses einer benachbarten Ichthyophagengruppe mit den die Küste bewohnenden Robben pointiert Agatharchides hellenistische Idealvorstellungen. „Beide bewachen dem jeweiligen Jäger die Beute ohne böse Absichten und verkehren so miteinander, dass man nur mit Mühe Menschen finden kann, die mit ihren Mitmenschen so einträchtig zusammenleben.“ 57 Der Vergleich zwischen dem Verhältnis der Fischesser zu den Robben mit dem Verhältnis der Menschen zu anderen Menschen fällt für die erste Gruppe positiv aus: Was bei den Fischessern im Verhältnis zu den Tieren üblich zu sein scheint, schaffen die Menschen nicht einmal untereinander. Möglicherweise weckt Agatharchides hiermit bei manchen Lesern Assoziationen zur aktuellen politischen Lage in Alexandria, wie es in den folgenden Fragmenten noch häufiger geschehen wird. Vordergründiger ist jedoch erneut die Anspielung auf die kynisch-stoische Weltsicht: In diesem Sinne galt ein Leben im Einklang mit der Natur und somit auch mit den Tieren, mit denen man den Lebensraum teilte, als erstrebenswert. Kyniker und Stoiker sahen die vernunftlosen Tiere als geeignetes Komparatum an, um die übersteigerte „Bedürfnisstruktur“ des Menschen aufzuzeigen und zu kritisieren. 58 Die Ichthyophagen gehen in der Schilderung des Agatharchides aber nicht nur ein Arrangement mit Tieren ein, sondern gleichen diesen auch in ihren Verhaltensweisen. „[W]ie die Tiere, die in den Höhlen leben“, helfen sie sich selbst, wenn ihre Fischnahrung knapp wird; ihr Zug zur Wasserstelle hat „große Ähnlichkeit mit dem

56

Schulz, Abenteurer (wie Anm.8), 298. Timosthenes von Rhodos, Flottenkommandant von Ptolemai-

os II., hatte bereits von 300 kaukasischen Stämmen berichtet, die keine gemeinsame Sprache ausgebildet hätten (FGrH 2051, F11). Dazu Doris Meyer, Hellenistische Geographie zwischen Wissenschaft und Literatur. Timosthenes von Rhodos und der griechische Periplus, in: Wolfgang Kullmann (Hrsg.), Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike. (Script Oralia 95, Rh.A: Altertumswissenschaftliche Rh., Bd. 22.) Tübingen 1998, 193–215, hier 209. 57

ἀλλὰ καὶ ἀλλήλων θήρας ἀνεπιβουλεύτους τῷ θηράσαντι ἑκάτερον γένος συντηρεῖ, καὶ

συναναστρέφονται οὕτως ἀλλήλοις, ὡς μόλις ἂν εὑρεθεῖεν πρὸς ἀνθρώπους συμβιοῦντες ἄνθρωποι; Ag. Fr. 42a. 58

Steven T. Newmyer, Being the One and Becoming the Other. Animals in Ancient Philosophical Schools,

in: Gordon Lindsay Campbell (Ed.), The Oxford Handbook of Animals in Classical Thought and Life. Oxford 2014, 507–534, hier 523.

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Auftrieb einer Rinderherde“. 59 Um ihre Familienstrukturen zu beschreiben, vergleicht er sie mit einer Viehherde, deren Nachkommen zu allen gehören – ein beliebter, schon von Herodot mehrfach verwendeter Topos zur Beschreibung der Sexualsitten mancher Randvölker. 60 Eine Gleichsetzung von Mensch und Tier war aus der Perspektive einer jeden (außer vielleicht der kynischen) Philosophierichtung allerdings zu viel – Vertreter beider Spezies als gleichberechtigt (beispielsweise in Hinblick auf ein Rechtsverhältnis) anzusehen, wäre für einen Stoiker oder einen Epikureer unvorstellbar gewesen. 61 Indem Agatharchides die Fischesser als den Tieren gleich darstellt, steigert er erneut den Unterhaltungswert seiner Schrift für ein Publikum, das nach Merkwürdigkeiten zumal an den Randgebieten verlangt und diese auch erwartet: Der Vertrag mit den Robben ist „das Merkwürdigste von allen Dingen“; merkwürdiger als das, was frühere Autoren über die Fischesser und ähnlich lebende Ethnien zu berichten wussten. 62 Am Ende fasst Agatharchides die Lebensumstände der Fischesser zu einer großen Charakteristik eines exotischen Volkes zusammen und fügt diese noch einmal ein in das reiche Wissensgebäude, das die Grundlage seines ethnographischen Schrifttums bildet und ihn als einen in jeder Hinsicht gelehrten Weisen ethnographischphilosophischer Welterfassung auszeichnen soll: „Während unsere Lebensweise sich auf überflüssige und notwendige Dinge gründet, haben die geschilderten Ichthyophagenstämme alles eingeschränkt, was zum Lebensunterhalt nicht unmittelbar notwendig ist, doch bedeutet dies nun nicht, daß sie des Erforderlichen ermangeln, denn sie werden alle auf dem göttlichen Wege zum rechten Leben geführt, nicht aber auf einem Pfad, der sich mit leeren Meinungen über die Natur hinwegsetzt. Sie haben nicht das Verlangen, die Herrschaft (über Nachbarstämme) zu gewinnen und werden daher nicht von streitsüchtiger und unglücklicher Furcht erfasst. Sie fügen nicht aus Begierde nach Gewinn ihren Mitmenschen großen Schaden zu und erleiden nicht viel unnötigen Schaden. Sie stiften keine größeren Feindschaften zum Schaden einer feindlichen Person und werden dafür nicht mit Unglück in der Sippe geschlagen. Sie fahren nicht zur See und überspannen das Leben nicht des Gewinnes wegen. Sie bemessen die Trauer nicht nach den 59 παραπλησíαν διάθεσιν ἔχοντες τοῖς φωλεύουσι τῶν θηρíων (Ag. Fr. 35b) und ἡ δὲ ὁδοιπορíα τούτων παραπλήσιος γíνεται ταῖς ἀγέλαις τῶν βοῶν; Ag. Fr. 38b. 60 Ag. Fr. 31b; Hdt. 1,102,2; 4,180,5. 61 Diog. Laert. 7,129=3,367; Newmyer, Animals (wie Anm.58), 521; Hossenfelder, Stoa (wie Anm.34), 122. 62 καὶ τὸ πάντων θαυμασιώτατον; Ag. Fr. 42b.

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Unglücksfällen des Lebens. Sie entbehren nur kleine Dinge und haben auch nur kleine Schmerzen, ihr dürftiger Besitz genügt ihnen, mehr begehren sie nicht. Einen jeden Menschen quält nämlich nicht das Fehlen dessen, was ihm unbekannt ist, sondern allein das des gewünschten Gegenstandes, wenn er nicht zum gleichen Zeitpunkt da ist, wie die drängende Begierde es verlangt. Deswegen wird jener, der alles hat, was sein Herz begehrt, nach der Beurteilung der Natur glücklich sein, nicht aber der Meinung. Sie geben sich kein Recht durch Erlass von Gesetzen. Wozu ist es nämlich für einen Menschen notwendig, einer Anordnung zu gehorchen, wenn er ohne Geschriebenes Recht erkennen kann?“ 63

Unübersehbar ist: Die Fischesser werden in dieser Zusammenschau zur Folie für eine ideale Lebensweise. Ein entscheidender Antrieb für die agatharchideische Ethnographie scheint die Suche nach einem bedürfnislosen Urzustand bei den naturverbundenen, einfach lebenden Ethnien zu sein. 64 Die genügsame Lebensweise der Ichthyophagen wird deutlich mit der eigenen kontrastiert – das Ergebnis des Vergleichens ist vorhersehbar. Die Perspektive des Autors ist dabei nicht die einer bestimmten Schule. Vielmehr finden sich Termini und Argumentationsstrukturen aus kynischen, stoischen, epikureischen und peripatetischen Denkgebäuden nebeneinander. 65 Bezüge auf andere, ältere Richtungen bezeugen seine Belesenheit, die er, dem Charakter des Werkes entsprechend, vom Begriff in die Anschauung zu

63

Ὅτι τῆς ζωῆς ἡμῶν ἡμῖν ἐφεστώσης ἔν τε τοῖς περιττοῖς καὶ τοῖς ἀναγκαíοις, τὰ εἰρημένα

γένη τῶν Ἰχθυοφάγων τὰ μὲν ἄχρηστα περιγεγράφασιν ἅπαντα, φησí, τῶν δὲ καθηκόντων οὐδὲν ἐλλεíπουσι, τῇ θεíᾳ πρὸς τὸ ζῆν ὁδῷ βραβευόμενοι πάντες, οὐ τῇ παρασοφιζομένῃ ταῖς δόξαις τὴν φύσιν· οὐ γὰρ ἀρχῆς ἱμειρόμενοι τυχεῖν ἀγωνíᾳ φιλονεíκῳ καὶ δυστυχεῖ συνέχονται· οὐδὲ πλεονεξíας ἐρῶντες πολλὰ μὲν ἄλλους δρῶσι, πολλὰ δὲ πάσχουσι τῶν οὐκ ἀναγκαíων· οὐδ' ἔχθρας ἐνιστάμενοι μεíζους ἐπὶ βλάβῃ σώματος πολεμíου σφάλλονται ἐν ἀτυχíαις οἰκεíων, οὐδὲ ναυτιλλόμενοι, κέρδους ἕνεκα τὸ ζῆν ὑπερτεíναντες, προσπταíσμασι τοῦ βíου μετροῦσι τὴν λύπην· ἀλλὰ μικρῶν δεόμενοι μικρὰ καὶ πενθοῦσι, τὸ μὲν ἀρκοῦν κτώμενοι, τὸ δὲ πλέον οὐ ζητοῦντες. Ἐνοχλεῖ δ' ἕκαστον οὐ τὸ ἀγνοούμενον, εἰ μὴ πάρεστιν, ἀλλὰ τὸ βουλητὸν, ὅταν ὑστερíζῃ τοῦ καιροῦ τῆς ἐπιθυμíας σπευδούσης. Οὐκοῦν ἐκεῖνος πάντ' ἔχων ἃ θέλει, εὐτυχήσει κατὰ τὸν τῆς φύσεως λογισμὸν, οὐ κατὰ τὸν τῆς δόξης. Νόμοις δὲ οὐ δικαιοῦνται· τí γὰρ δεῖ προστάγματι δουλεύειν τὸν χωρὶς γράμματος εὐγνωμονεῖν δυνάμενον; Ag. Fr. 49; die Stelle ist lediglich bei Photius überliefert. 64

Albrecht Dihle, Die Griechen und die Fremden. München 1994, 89.

65

Ebd.88. – Dass Agatharchides von Strabon (Strab. 14,656 = FGrH 86 T1) „Peripatetiker“ genannt wird,

hängt mit der späteren hellenistischen Bedeutung des Wortes zusammen: Als Peripatetiker werden Personen nicht mehr wegen ihrer Schulzugehörigkeit, sondern wegen ihrer literaturgeschichtlichen Arbeitsweise bezeichnet; Hossenfelder, Stoa (wie Anm.34), 187.

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übersetzen weiß. Ebenso wie die späteren neupythagoreischen Philosophen scheint er davon auszugehen, dass das Leben göttlich gelenkt wird und gleichzeitig mit der Natur in Einklang steht 66 – sich dieser nicht mit „leeren Meinungen“ (τῇ παρασοφιζομένῃ ταῖς δόξαις) widersetzt. Nicht nur durch die Wortwahl polemisiert er gegen sophistische Positionen: Die sophistische Kulturentstehungslehre, wie sie in Platons „Protagoras“ greifbar wird, basiert auf einem Rechtsgefühl aller Menschen, auf Gesetzgebung und politischen Organisationsformen. Obwohl die tierähnlichen Fischesser nichts von alledem aufzuweisen haben, sind sie in Agatharchides’ Sinne moralisch überlegen. 67 Vielleicht reagiert der Autor damit auch auf zeitgenössische politische Entwicklungen. Zumindest macht er seinem Publikum ein Angebot, über diese nachzudenken und die eigene städtische Umwelt mit der naturalen Welt der Fischesser zu vergleichen, wobei die Kritik an der eigenen gewissermaßen vorprogrammiert ist. Dass ein gebildeter und aufmerksamer Schriftsteller wie Agatharchides es sich nicht nehmen ließ, zumindest implizit das Zeitgeschehen zu kommentieren (und zu kritisieren), verwundert nicht. 68 So scheut er sich in den letzten greifbaren Fragmenten von „Über das Rote Meer“ nicht, darzulegen, dass er die Arbeit daran aus Altersgründen und wegen Unruhen (διὰ τὰς κατ' Αἴγυπτον ἀποστάσεις) abbrechen musste. 69 Er spielt damit wohl entweder auf die sogenannte Gelehrtenvertreibung Ptolemaios’ VIII. 145 v.Chr. 70 oder den Zusammenbruch des „Regierungsbündnisses“ mit Kleopatra II. 132/31 v.Chr. an, der zum Ausbruch des Bürgerkriegs in Alexandria führte. 71 Die Ichthyophagen, die sich zu keinerlei Gefühlswallungen hinreißen lassen, bilden einen starken Gegensatz zum ptolemäischen Brüderpaar und den intervenierenden Akteuren aus Rom. Aus den erhaltenen Fragmenten kann keine

66 Otto Immisch, Agatharchidea. Heidelberg 1919, 58, sieht in Agatharchides aufgrund dieser Stelle einen Vertreter einer neu-pythagoreischen Philosophie mit dem Ansatz zur späteren Mystik – wegen der frugalen Lebensweise und Ablehnung von Luxus. 67 Greifbar in Plat. Prot. 322 B–D. Dazu Müller, Kultur (wie Anm.28), 68–108. Zur Übereinstimmung des Autors von De vetere medicina mit sophistischen Kulturentstehungsmodellen Charlotte Triebel-Schubert, Evolution und politische Anthropologie im 5.Jh. v.Chr. Bemerkungen zu der hippokratischen Schrift De vetere medicina, in: Medizinhistorisches Journal 24, 1989, 202–213. 68 An anderer Stelle spielt er z.B. auf die römischen Expansionsbestrebungen an (Ag. Fr. 104). 69 Ag. Fr. 112. 70 Dazu Marietta Horster, Geistesleben in Alexandria im 2.Jahrhundert v.Chr. und die sogenannte Gelehrtenvertreibung, in: Andrea Jördens/Joachim Friedrich Quack (Hrsg.), Ägypten zwischen innerem Zwist und äußerem Druck. Die Zeit Ptolemaios’ VI. bis VIII. (Philippika, 45.) Wiesbaden 2011, 201–218.

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grundlegende Kritik an der gesamten Ptolemäerdynastie abgeleitet werden; sie galt vermutlich eher Ptolemaios VIII. als dem älteren Bruder. Doch jeder konnte, wenn er wollte, eine Mahnung zum einfachen Leben ohne Prunksucht und Kriegswut aus den Passagen herauslesen.

V. Zusammenfassung und abschließende Beurteilung Das Alterswerk des Agatharchides von Knidos widmete sich einem maritim-naturalen Großraum, der für die Ptolemäer seit dem späten 3.Jahrhundert von eminenter politischer und wirtschaftlicher Bedeutung war. Er bietet dabei aber nicht nur ein gelehrtes Schaustück des Neuen, das ausschließlich an der Faktenvermittlung interessiert ist, sondern er organisiert die Informationen über die Menschengruppen an den Küsten, die er aus frühen ptolemäischen Expeditionsberichten gewonnen hatte, auch in Hinblick auf die Bedürfnisse seiner Rezipienten originell und teilweise provokant. Denn nur so konnte er offenbar die Aufmerksamkeit einer breiteren Leserschaft gewinnen. Zur Charakterisierung der südlichen Randvölker griff er Topoi auf, die von den ionischen Periplusautoren und Herodot eingeführt und von den Mitstreitern Alexanders aufgenommen und empirisch unterfüttert worden waren. 72 Sein besonderes Verdienst sind seine ethischen Kommentare – so die zum Vergleichen animierende Zusammenschau am Ende des Ichthyophagenpassus. Die umfassende hellenistische Bildung hatte das Interesse an einer „rationalen Ethik“ beim 71

Überblick mit weiterführender Literatur zu den Regierungsperioden des Ptolemaios VI. Philometor

und des Ptolemaios VIII. Euergetes II. bei Huß, Ägypten (wie Anm.6), 537–596. Außerdem Peter Nadig, Zwischen König und Karikatur. Das Bild Ptolemaios’ VIII. im Spannungsfeld der Überlieferung. München 2007; Jördens/Quack, Ägypten (wie Anm.70); Erhard Grzybek, Thronanspruch und Thronbehauptung. Studien zur Regierungszeit Ptolemaios’ VIII. Wiesbaden 2018; Horster, Geistesleben (wie Anm.70), 217, sieht keinen Grund für die Annahme, dass Agatharchides Alexandria überhaupt verlassen hat und nimmt aufgrund der Angabe über sein fortgeschrittenes Alter das spätere Datum an; Burstein, Agatharchides (wie Anm.8), 16f., argumentiert dagegen, dass das Geburtsjahr nicht feststehe, die Verhandlung der Themen Weihrauchhandel zwischen Arabien und „Syrien der Ptolemäer“ (Fr. 104a) und ptolemäische Aktivität südlich von Ägypten außerdem kein Hinweis auf die Abfassung des Werkes bis 132 v.Chr. böten, da diese vor allem bis zum Tod Ptolemaios’ VI. 145 v.Chr. relevant waren, weniger danach. Sicher ist, dass Agatharchides ein Profiteur des Ptolemaios VI. war und durch die politische Situation Einschränkungen erfuhr. 72

Johannes Engels, Agatharchides von Knidos’ Schrift Über das Rote Meer, in: Herbert Heftner (Hrsg.), Ad

fontes! Festschrift für Gerhard Dobesch zum fünfundsechzigsten Geburtstag am 15.September 2004. Wien 2004, 179–192, hier 183.

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Publikum geweckt. Nicht eine „apodiktische […] Verurteilung des Fremdartigen“ interessierte, sondern versteckte Bezüge, implizite Vergleichsangebote und detailreiche Erörterungen. 73 Der schnelle Wechsel zwischen verschiedenen weltanschaulichen Modellen war dabei eher unterhaltsam als verwirrend. Um die Leser bei Laune zu halten, gestaltete Agatharchides die Berichte über die Fischesser dem rhetorischen Grundsatz der enargeia entsprechend aus. Die Nähe zur Paradoxographenund Thaumasialiteratur ist in den Referaten deutlich erkennbar. 74 Der Blick der Schrift richtet sich dabei stets aus einiger Entfernung vom Meer auf die Küste, eine vertraute Optik griechischer Ethnographie, die aber dennoch zu einem ziemlich originellen Ergebnis führt: Agatharchides präsentierte ein Museum des einfachen Lebens – zeitgenössische Vertreter einer frühen, lobenswerten Stufe der menschlichen Entwicklung. 75 Das Gegenstück zu der städtischen Welt, in der er lebte, lag nicht an den territorialen Randgebieten der Oikumene und nicht in der chronologischen Ferne, sondern an den durch die Seefahrt erschlossenen Küsten des ptolemäischen Herrschaftsgebietes. Agatharchides verschaffte seinen Rezipienten Orientierung im Dickicht der Berichte über die Gebiete und machte sich selbst zu einem Weltweisen, der neue Völker in einem intellektuell anregenden, provokanten und stets interessanten Ambiente zu deuten wusste.

73 Dihle, Ethnographie (wie Anm.35), 225. 74 Engels, Agatharchides (wie Anm.72), 181f. Zur alexandrinischen enargeia: Nina Otto, Enargeia. Untersuchung zur Charakteristik alexandrinischer Dichtung. (Hermes Einzelschriften, 102.) Stuttgart 2009; Felix K. Maier, Wahrheitlichkeit im Sinne der enargeia. Geographie und Geschichte bei Agatharchides, in: Thomas Blank/Felix Maier (Hrsg.), Die symphonischen Schwestern. Narrative Konstruktion von „Wahrheiten“ in der nachklassischen Geschichtsschreibung. Stuttgart 2018, 209–226. 75 Burstein (Ed.), Agatharchides (wie Anm.8), 27; Walter Ameling, Ethnography and Universal History in Agatharchides, in: T. Corey Brennan/Harriet I. Flower (Eds.), East & West. Papers in Ancient History Presented to Glen W. Bowersock. (Loeb Classical Monographs, 14.) Cambridge, MA 2008, 13–59, hier 37.

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Poseidonios von Apameia und die Ethnographie der Kelten im Westen der Oikumene von Julian Gieseke

Poseidonios von Apameia bereiste Anfang des 1.Jahrhunderts v.Chr. den Süden Galliens und verfasste als erster Grieche eine detaillierte Beschreibung der keltischen Lebenswelt. Der Aufsatz ordnet seine Reise in den historischen Kontext der römischen Expansion im westlichen Mittelmeerraum ein. Die Einrichtung der Provinz Gallia Narbonensis bildete eine wesentliche Voraussetzung für seine Erkundungen, sie formte ein Glacis zwischen Land und Meer, von dem aus das Landesinnere Galliens erschlossen werden konnte. Am Beispiel der Beschreibungen gallischer Bankette zeigt der Aufsatz auf, wie sehr ethnographische und philosophische Traditionen die Arbeit des Poseidonios prägten. Einerseits werden die Kelten durch Vergleiche mit den Heroen der homerischen Epen idealisiert, andererseits durch die Verwendung bekannter Barbarentopoi als rückständiges Naturvolk gezeichnet. Poseidonios’ Darstellung geht dabei jedoch auch im Hinblick auf ihren Detailreichtum über ältere Versuche hinaus und würdigt (Süd-)Gallien als Teil der griechisch-römischen Welt. Abschließend fragt der Artikel danach, welche Rolle römische Interessen in der Schrift des Poseidonios spielten.

I. Einleitung Jeder kennt die Szene: Bärtige Männer sitzen fröhlich schmausend an einer ovalen Tafel, in der Mitte mehrere offene Feuer, die von Fett triefende Wildweinbraten am Spieß rösten und die abendliche Dorfszene, umsäumt von hohen Bäumen, in ein heimelig-flackerndes Licht tauchen. Ein besonders Beleibter hat ein ganzes Wildschwein vertilgt, andere prosten sich mit gut gefüllten Trinkhörnern zu. Sie alle sind blond oder rothaarig und tragen gefärbte Hosen. Der Zeichner des Dorfschmauses, das für gewöhnlich ein Abenteuer der in der ganzen Welt berühmten gallischen Helden Asterix und Obelix abschließt, hat sich bemüht, uns in die Zeit der nordeuropäischen Kelten der vorchristlichen Zeit zu versetzen. 1 Und er nutzte dabei gute Vorlagen. Die beste stammt aus der Feder eines Griechen, der zu Beginn des 1.Jahrhunderts v.Chr. aus dem fernen Syrien über das

1 An dieser Stelle möchte ich mich zunächst bei Uwe Walter (Bielefeld) und Johannes Engels (Bonn/

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110670547-014

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große Meer an die Küsten der westlichen oikumene gekommen war: Poseidonios aus Apameia (ca. 135 – ca. 51 v.Chr.) trieb allerdings nicht, wie so viele andere, die Aussicht auf Handelsgewinne oder Söldnereinsätze, er gehörte auch nicht zu denjenigen Griechen, die im Westen eine neue Heimat in einer Kolonie suchten. Als einer der bedeutendsten Universalgelehrten seiner Zeit interessierte er sich für Land und Leute um ihrer selbst willen. Wahrscheinlich nahm er sogar an einem keltischen Gelage teil oder ließ sich zumindest davon erzählen. All das und vieles andere waren die Grundlagen für eine Schrift, die bis heute zu den besten und detailreichsten Texten über die Lebenswelt der Kelten gehört. Um deren Gehalt sowie die Motive zu verstehen, die den Verfasser bewogen, sich in die Welt des fernen Nordwestens zu begeben und deren Bewohner zu studieren, gilt es zunächst den historischen und geistesgeschichtlichen Kontext zu klären. Daran schließt sich eine genaue Interpretation der einschlägigen Passagen zu den keltischen Gelageszenen an, um am Ende genauer bestimmen zu können, wie innovativ Poseidonios’ ethnographisches Denken war und welche Rolle dabei möglicherweise auch die römische Expansion spielte, die dem syrisch-griechischen Gelehrten rund eine Generation vorher den Weg in das mitteleuropäische Binnenland geöffnet hatte.

II. Der historische, kulturelle und ethnographische Kontext Ausgangpunkt aller Begegnungen zwischen Griechen und Galliern war die um 600 v.Chr. gegründete Kolonie Massalia nahe der Rhône-Mündung. „Eine Jungmannschaft der Phokäer“ 2 hatte vom König der Segobriger ein Stück Land erhalten

Köln) für die hilfreichen Anregungen und Anmerkungen bedanken. Malte Speich (Bielefeld) danke ich für die Unterstützung bei der Endkorrektur. Zu den althistorischen Hintergründen der Asterix-Comics im Allgemeinen (leider wenig zu den ,Banketten‘) vgl. z.B. René van Royen/Sunnya Van der Vegt, Asterix. Die ganze Wahrheit. München 1997, insbesondere 138–140 zu den Essgewohnheiten. Darüber hinaus eignet sich Kai Brodersen (Hrsg.), Asterix und seine Zeit. Die große Welt des kleinen Galliers. München 2001. Die Begriffe „Kelten“ und „Gallier“ waren bereits in der Antike sehr unterschiedlich konnotiert und sind es teilweise noch heute in der Forschung, sollen hier aber der Einfachheit halber synonym verwendet werden. Eine weitere Auseinandersetzung folgt an geeigneter Stelle im Text (vgl. insbes. unten Anm.60 und 72). 2 Iust. XLIII, 3, 4; Übersetzung in: Pompeius Trogus. Weltgeschichte von den Anfängen bis Augustus. Im Auszug des Justin. Eingel., übers. und erläut. v. Otto Seel. Zürich 1972.

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und bot im Gegenzug offenbar ihre Dienste als Söldner an. 3 Erst in den folgenden Generationen entwickelte sich die Siedlung zu einem typisch griechischen emporion, das dem Fernhandel zwischen der griechischen Welt und dem Norden Europas als Drehscheibe diente und eigene Expeditionen in den Atlantik entsandte. 4 Enge Kontakte zu den keltischen Fürsten im Landesinneren waren von Anfang an ein Erfolgsgarant der späteren polis und begleiteten deren Aufstieg zu einer der führenden Hafenstädte des westlichen Mittelmeerraums. 5 Allerdings forcierte die unmittelbare Nähe zu den Galliern keine eigenständige ethnographische Forschung, die sich in entsprechenden Texten und Literaturgattungen niederschlug. Die wenigen erhaltenen Schriften massaliotischer Autoren, von denen der Bekannteste der vielgereiste Pytheas war, enthalten kaum ethnographische Details oder Angaben über das Landesinnere. 6 Die ethnographischen Beschreibungen anderer griechischer Autoren von Herodot 7 über Ephoros 8 bis zu Polybios behandelten die Kelten nur in aller Kür3 Vgl. Raimund Schulz, Abenteurer der Ferne. 2.Aufl. Stuttgart 2016, 122–127. Von einem vorherigen Einverständnis zwischen Phokäern und Segobrigern geht A. Trevor Hodge, Ancient Greek France. Philadelphia 1998, 65–67, aus. 4 Vgl. ebd.128f. 5 So verwendeten beispielsweise die Druiden der Gallier die griechische Sprache. Vgl. Caes. Bell. Gall. I,29 und VI,14. Strab. IV,1,5 erwähnt sogar das Studium junger Gallier in Massalia. Griechische wie römische Autoren sahen Massalia als eine Hochburg hellenischer Kultur, die sich von den „wilden Stämmen der Gallier“ (Iust. XLII,3,4; übers. in Otto Seel, Weltgeschichte [wie Anm.2]) weder unterjochen noch verderben ließ. Dennoch sind beiderseitige Einflüsse zwischen Kelten und Griechen belegt, so etwa im Lob des rhodischen Botschafters in Liv. XXXVIII,54,21 oder bei Silius Italicus, Pun. XV,169–172. 6 Das trifft etwa auf den der Ora Maritima des Rufus Avienus zugrunde liegenden periplous zu. Die Fragmente des Pytheas enthalten auch nur wenige Beschreibungen der nördlichen Völker und überhaupt keine Ethnographie des Inneren Galliens. Vgl. etwa Diod. V,21,1. 7 Die Kelten werden von ihm nur kurz gestreift, ohne eingehendere Beschreibung. Vgl. Hdt. II,33; III,115 und IV,49. Bei der in II,33,3 genannten polis Pyrene handelte es sich wahrscheinlich um einen Fürstensitz der späten Hallstattzeit. Vgl. Gerhard Dobesch, Das europäische „Barbaricum“ und die Zone der Mediterrankultur. Ihre historische Wechselwirkung und das Geschichtsbild des Poseidonios. (Tyche, Supplementbd. 2.) Wien 1995, 26. Dobesch nimmt darüber hinaus an, dass Hekataios die Kelten ausführlicher beschrieben hat als Herodot und Letzterer es (auch) deshalb nicht als notwendig erachtete, ihnen einen eigenen ethnographischen Exkurs zu widmen. Zudem war er kein systematischer Geograph und der Schwerpunkt seines Werkes lag auf dem Osten. 8 Ephoros stellte laut Dobesch, Barbaricum (wie Anm.7), 28f., einen Wendepunkt dar, da er die Kelten als die „Barbaren“ des Westens schlechthin einordnete. Auf seiner imaginierten Weltkarte waren die Hochkulturen im Zentrum der oikumene in allen Himmelsrichtungen von „Barbaren“ umgeben: Im Westen waren dies die Kelten, im Norden die Skythen, im Osten die Inder und im Süden die Aithiopen. Vgl. Strab. I,2,28 = FGrH 70 F 30a und Kosmas Indikopl. Topogr. Christ. II p. 148 = FGrH F 30b. Dennoch basierte auch das Wissen des Ephoros nur auf Hörensagen, so Jürgen Malitz, Die Historien des Poseidonios. (Zetemata,

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ze. 9 Durch die ständige, alltägliche Begegnung der beiden Kulturen müssen die Gallier den Massalioten so vertraut gewesen sein, dass sie es nicht für notwendig hielten, deren Sitten und Gebräuche schriftlich zu fixieren, abgesehen davon, dass griechische Händler und Kaufleute ihre Kenntnisse zumeist ohnehin nur mündlich weitergaben. 10 Der „Barbar als Nachbar“ erweckt eben keine spezifischen ethnographischen Interessen und auch nicht das Bedürfnis, „das Nachbarschaftsverhältnis grundsätzlich zu erörtern“. 11 Das, was man über die Sitten und Lebensweise eines Volkes wie die Kelten wusste, ging allenfalls selektiv-abstrahierend in weltumspannende Makrotheorien über die Rolle der Griechen und Nichtgriechen in der oikumene ein, wie etwa das Bemühen, den Charakter und die körperliche Konstitution einer Ethnie aus der geographisch-klimatischen Lage abzuleiten. 12 Poseidonios interessierte sich für solche Theorien, verband sie aber im Falle der Gallier mit dem Blick des von

79.) München 1983, 171. Dafür spricht die Angabe des Ephoros über die Größe der Keltiké, die von Strabon kritisiert wird, vgl. Strab. IV,4,6 = FGrH 70 F 131. Die nachfolgenden frühhellenistischen Autoren richteten ihren Blick in der Folge des Alexanderzuges dann nach Osten und Süden, so etwa Megasthenes und Agatharchides. 9 So behandelte Polybios die Kelten Norditaliens zwar detaillierter als die meisten seiner Vorgänger, doch blieb es bei einer oberflächlichen Auseinandersetzung, die hinter der späteren Gallierethnographie des Poseidonios weit zurückblieb. Eine eigentlich ethnographische Beschreibung findet sich nur in Polyb. II,17,9–12.

10

Pytheas bildet offensichtlich eine Ausnahme, aber er war eben doch kein typischer Händler. Zur ge-

ringen literarischen Auseinandersetzung der Massalioten mit den Kelten, deren weitergehende Gründe hier offen bleiben müssen, vgl. auch Arnaldo Momigliano, Alien Wisdom. The Limits of Hellenization. Cambridge 1975, 14 und 57f., oder Miska Ruggeri, Posidonio e i Celti. Florenz 2000, 59 (Auseinandersetzung mit den Kelten) und 65 (dennoch gering erforscht); Malitz, Historien (wie Anm.8), 171. 11

Dieter Timpe, Der Barbar als Nachbar, in: Christoph Ulf (Hrsg.), Ideologie, Sport, Außenseiter. Aktuelle

Aspekte einer Beschäftigung mit der antiken Gesellschaft. (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft.) Innsbruck 2000, 203–230, hier 216. 12

Ein Beispiel ist die Beschreibung der Iren bei Strabon, dem wenig mehr als die Existenz der Insel Hi-

bernia bekannt war. Dementsprechend wurden die Hiberner aufgrund ihrer extremen Randlage (die Strabon zudem nördlich von Britannien verortete) als besonders rückständige und grausame „Barbaren“ charakterisiert, vgl. etwa Strab. II,5,8 und IV,5,4. Weiterführend vgl. Beatrix Günnewig, Das Bild der Germanen und Britannier. Untersuchungen zur Sichtweise von fremden Völkern in antiker Literatur und moderner wissenschaftlicher Forschung. Diss. phil. Frankfurt am Main 1998, 267–275. Dahinter könnte jedoch auch eine politische Motivation gesteckt haben: Augustus nennt in den Res Gestae nur britannische Könige, die sich ihm (formell) unterworfen hatten, jedoch keine irischen. Es ist demnach möglich, dass Strabon als Anhänger der augusteischen Propaganda die Einwohner von Hibernia gar nicht positiv beschreiben konnte. Vgl. R. gest. div. Aug. 32.

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außen kommenden Forschers, der wie einst Herodot glaubte, das Fremde nur durch eigene Autopsie verstehen zu können. 13 Dass sich dieses Interesse erst so spät auf die Kelten in Oberitalien, Iberien und Gallien richtete, hing offenkundig mit der machtpolitischen Entwicklung im westlichen Mittelmeerraum zusammen, der seit dem Zweiten Punischen Krieg zur römischen Einflusssphäre geworden war. Am Golf von Lion (Sinus Gallicus) besaß die römische Republik mit ihrem traditionellen Bündnispartner Massalia einen Brückenkopf im Keltenland. Im Jahr 125 v.Chr. baten die Massalioten den Senat um Hilfe im Kampf gegen die plündernden Salluvier. Aus der ersten römischen Intervention resultierten weitere Konflikte, die in einer Reihe römischer Siege über die Kelten gipfelten. 14 Daraufhin begründete der Prokonsul Gnaeus Domitius Ahenobarbus 118/ 117 v.Chr. die Provinz Gallia Narbonensis mit der Hauptstadt Colonia Narbo Martius. 15 Zeitgleich begann der Bau der Via Domitia, die ältere gallische Wege verband und von Ligurien über Massalia und Narbo bis nach Spanien führen sollte. 16 Die Organisation der römischen Herrschaft bildete die Voraussetzung dafür, dass Poseidonios Südgallien sicher bereisen konnte. Den Händlern aus Massalia war es zwar bereits im 6.Jahrhundert gelungen, das Landesinnere zu erschließen, doch stand Poseidonios vor zwei Problemen, die die Massalioten der archaischen Zeit nicht gehabt hatten: Erstens kam er als Außenseiter aus dem fernen Syrien nach Gallien. Poseidonios verfügte über mächtige römische Freunde, doch war Polybios zufolge sogar Scipio Aemilianus an den Massalioten gescheitert: Als der Feldherr sie über den Norden befragt hatte, hatten die Einwohner ihm keine Auskunft geben wollen – sicherlich deshalb, weil sie den Römern nicht ihre Handelsgeheimnisse verraten wollten. 17 Es bleibt fraglich, inwieweit Poseidonios durch seinen massaliotischen Gastfreund Charmoleon Zugang zu den Netzwerken der Kaufleute erlangt

13 Eine Betonung der Autopsie findet sich z.B. an folgenden Stellen: Hdt. II,29,1; III,115,1–2; IV,16,1. 14 Vgl. etwa Strab. IV,1,5 (Sieg des Sextius über die Salluvier und ihre Verbündeten 122 v. Chr. dieser wird auch in den Fasti Triumphales Capitolini erwähnt); Caes. Bell. Gall. I,45,2 und Strab. IV,1,11 (Sieg über die Allobroger und Arverner, für das Jahr 120 v.Chr. in den Fasti Triumphales genannt). 15 Vgl. Cic. Font. 5,13 und Vell. Pat. I,15,5. 16 Vgl. CIL XVII 2,294 und Polyb. III,39,8. Zum älteren gallischen Straßennetz und dem Ausbau des römischen Straßennetzes bietet Lionel Casson, Travel in the Ancient World. London 1974, 165ff., weitere Informationen. 17 Vgl. Polyb. XXXIV,10,6–7 = Strab. IV,2,1. Die gleiche Interpretation findet sich bei Christina Horst Roseman (Ed.), Pytheas of Massalia. On the Ocean. Chicago 1994, 66. Zu den Motiven der Massalioten und der möglichen Anwesenheit des Polybios bei dieser Aktion vgl. Tullia Ritti, Le esplorazioni geografiche, in:

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hätte 18, doch erleichterte die neue römische Administration der Region seine Erkundigungen in jedem Fall. Es gab aber noch einen zweiten, deutlich wichtigeren Unterschied, der die Reise des Poseidonios von den frühen Vorstößen massaliotischer Händler abhob: Während die ersten Griechen in Gallien neben Ligurern 19 noch auf Kelten der HallstattKultur getroffen waren, musste Poseidonios sich mit den Vertretern der La-TèneKultur auseinandersetzen. Diese zeichnete sich durch deutlich aggressivere Fürsten aus, die regelmäßige Beutezüge unternehmen mussten, um ihre Machtstellung zu bewahren. 20 Die friedlichen Fürstentümer an der Peripherie waren damit durch expansive Kriegergemeinschaften ersetzt worden. 21 Darunter litten auch die Griechen an der Küste: Der Handel Massalias mit der Keltiké erholte sich vielleicht erst Ende des 2.Jahrhunderts v.Chr. von diesem Schock 22 und zwang die Stadtoberen, alternative Routen zu erkunden – in diesem Zusammenhang kann auch die Fahrt des Pytheas gesehen werden. 23 Es war erst die römische Eroberung und Annexion des Gebietes, die permanente Auseinandersetzungen zwischen den gallischen Stämmen und Überfälle auf die Handelsrouten unterband, um die Sicherheit für zivile Reisende wie Poseidonios wiederherzustellen. 24

Francesco Adorno et al. (Ed.), La cultura ellenistica. Filosofia, scienza, letteratura. Mailand 1977, 152–168, hier 157. 18

Vgl. Strab. III,4,17 = F 58a Jac. = F 269 EK = F 25 Theiler. Strabon erwähnt nur den gemeinsamen Besuch

Liguriens. Die Gastfreundschaft mit Charmoleon spricht eventuell für einen früheren Besuch in Massalia, doch ist dieser nicht nachweisbar; vgl. Malitz, Historien (wie Anm.8), 13. 19

Vgl. Iust. XLIII,3,4. Nach 4,9 war auch der Stamm der Segobrigii ligurisch. Dazu kommen nur archäo-

logisch nachweisbare (Kelt-)Iberer in der Region. Vgl. Jean-Jacques Hatt, Kelten und Gallo-Romanen. (Die Großen Kulturen der Welt. Archaeologia Mundi.) München 1970, 134–138. 20

Dafür sprechen auch die oppida, die vermehrt erst in der Zeit der römischen Kriege in der Narbonensis

aufkamen. Vgl. John Collis, „Celtic“ Oppida, in: Mogens Herman Hansen (Ed.), A Comparative Study of Thirty City-State Cultures. An Investigation Conducted by the Copenhagen Polis Centre. Kopenhagen 2000, 229–239. 21

Vgl. Barry Cunliffe, Greeks, Romans & Barbarians. Spheres of Interaction. London 1988, 33–35.

22

Vgl. Collis, Oppida (wie Anm.20), 237. Für den neuen Reichtum spricht die Beschreibung des Arver-

nerfürsten Luernios, der später von den Römern bezwungen wurde, durch Poseidonios selbst. Vgl. Athen. p. 152 D–F = F 18 Jac. = F 67 EK = F 170 Theiler. 23

Vgl. Schulz, Abenteurer (wie Anm.3), 218f.

24

Freilich stand der Aufstieg der La Tène-Kultur auch im Zusammenhang mit dem aggressiven Ausgrei-

fen keltischer Gruppen nach Italien und in den Balkan, wo Römer und Griechen ihre eigenen (gewaltsamen) Erfahrungen mit den „neuen“ Kelten machten. Vgl. etwa Schulz, Abenteurer (wie Anm.3), 217f. Selbst römische Truppen waren vor der Einrichtung der Provinz nicht sicher: Kelten und Ligurer überfielen im

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Bereits Polybios hatte sich über die praktischen Vorzüge der römischen Herrschaft für seine eigenen Unternehmungen geäußert, die ihm einen klaren Vorteil gegenüber seinen Vorgängern verschafften: „Da aber in unseren Tagen die Länder Asiens durch die Herrschaft Alexanders, die übrigen Gegenden der Welt durch die Macht Roms fast alle zu Schiff oder zu Lande zugänglich geworden sind, da ferner die Männer, die eine öffentliche Tätigkeit ausübten, durch kriegerische und staatliche Aufgaben nicht mehr in Anspruch genommen sind und dadurch reichlich Zeit und Gelegenheit zu wissenschaftlicher Forschungsarbeit erhalten haben, so wäre wohl zu fordern, dass wir von den früher unbekannten Ländern eine bessere und wahrere Kenntnis gewinnen.“ 25

In diesem Zusammenhang erwähnte Polybios seine eigene Erkundungsreise an den Küsten Galliens, Iberiens und Nordafrikas, die Poseidonios als Vorbild gedient haben dürfte. 26 Nicht umsonst nannte dieser seine Historien, die die Ethnographie der Kelten enthielten, „Geschichte nach Polybios“. 27 Dennoch war der Norden für Polybios noch weitestgehend unbekanntes Land gewesen, wie sich in seiner Ablehnung des Pytheas zeigt. 28 Erst die maritime Expansion Roms hatte die Kontrolle über die westlichen Küstengebiete und das offene Meer hergestellt 29 und selbst Gelehr2.Jahrhundert immer wieder römische Kolonnen und Konvois, zu Lande wie zu Wasser. Vgl. Cunliffe, Greeks (wie Anm.21), 55; Liv. XL,18,3–8. 25 Polyb. III,59,3–5; Übersetzung in Hans Drexler (Hrsg.), Polybios. Geschichte, Gesamtausgabe in zwei Bänden. Bd. 2. Zürich/Stuttgart 1961; Greg Woolf, Tales of the Barbarians. Ethnography and Empire in the Roman West. Chichester 2011, 60, weist darauf hin, dass es sich beim westlichen Mittelmeerraum dennoch um keine neue Welt für die Griechen handelte, da sie diese bereits in archaischer Zeit mit der Anlegung von apoikiai erschlossen hatten. Das Landesinnere Galliens oder Iberiens war allerdings für die seefahrenden Griechen durchaus Neuland, und erst die militärische Expansion Roms erschloss diese Räume. 26 Eine weitere Darstellung der Reise findet sich in Plin. Nat. Hist. V,9–10. 27 Vgl. etwa Ruggeri, Posidonio (wie Anm.10), 30. Die Beschreibung Galliens war Teil des 23. Buches der Historien, vgl. Athen. p. 151E–152D und dazu Malitz, Historien (wie Anm.8), 66. 28 Vgl. Polyb. XXXIV,5 = Strab. II,4,1–2. Pytheas kann demzufolge nur ein Lügner gewesen sein, denn seine Behauptung, er habe die Nordküsten Europas besucht – so Polybios – würde man nicht einmal Hermes selbst glauben. 29 Zur Lebenszeit des Polybios bestand bereits die Möglichkeit einer Erkundung Iberiens, wie seine Reise zeigt (vgl. Polyb. III,59,7). Auch hatte Polybios Massalia und eventuell sogar das am Atlantik gelegene Korbilon besucht (vgl. Polybios XXXIV,10,6–7 = Strab. IV,2,1), doch finden sich keine Angaben zu den Bewohnern dieser Länder oder zu einer Reise ins Landesinnere. Nur den Kelten der Poebene widmete er eine ausführlichere Beschreibung (II,17,8–12; besonders in Buch II und III finden sich zudem zahlreiche Beschreibungen von Kelten im Kampf, die auf tradierte Topoi zurückgreifen). Die Einrichtung der Provincia Narbonensis erfolgte erst nach seiner Zeit, vgl. Cic. Font. 5,13 und Vell. I,15,5.

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ten aus dem Fernen Osten das Tor nach Gallien geöffnet: So stammte Poseidonios aus der Oberschicht einer griechischen Stadt im Norden Syriens. Nach dem Besuch des städtischen Gymnasiums zog es ihn nach Athen, wo er unter dem Stoiker Panaitios studierte. Später gründete er auf Rhodos eine eigene Rhetorikschule und vertrat seine Wahlheimat als Botschafter in Rom. 30 Viele junge Römer aus den einflussreichsten Familien zählten zu seinen Schülern. 31 Die wichtigste Verbindung war die Freundschaft zu Pompeius, der ihm mindestens zwei Besuche auf Rhodos abstattete. 32 Für den Eroberer des Ostens erfüllte Poseidonios eine ähnliche Rolle, wie sie Alexander der Große einst Aristoteles zugedacht hatte. 33 Während der griechische Philosoph seine stoische Lehre an die römische Aristokratie vermittelte, erhielt er im Gegenzug nicht zuletzt finanzielle Unterstützung. Es war auch diese Förderung durch römische Freunde, die ihm seine große Forschungsreise in den Westen ermöglichte. Sie ist in den Zeitraum zwischen 101 und 95 v.Chr. zu datieren. 34 Poseidonios brach wahrscheinlich von Rom aus auf und reiste an der Küste entlang zunächst nach Ligurien, das er zusammen mit Charmoleon erkundete. 35 In Massalia sammelte er weitere Informationen, bevor er sich dem Landesinneren zuwandte. 36 Belegt sind seine Besuche des Steinfeldes an der Mündung der Rhone 37, des Schlachtfeldes von Aquae Sextiae (heute Aix-en-Provence), wo wenige Jahre zu-

30

Eine längere Darstellung seines Lebenslaufes auf Basis der Quellen bietet Malitz, Historien (wie Anm.

8), 6–21. 31

Am bekanntesten ist sicher die Bekanntschaft Ciceros mit Poseidonios, vgl. etwa Plut. Cic. 4,5. Doch

auch Caesar (vgl. Suet. DJ 4,1) und dessen späterer Mörder Cassius Longinus (vgl. App. BC 4,67,283) studierten auf Rhodos – Letzterer widmete sich allerdings einem Studium der epikureischen Lehre. 32

Zunächst 66 v.Chr., vgl. Strab. XI,1,6 = FGrH 87 T 8a. Pompeius hatte gerade die Machtverhältnisse im

Osten neu geordnet und befand sich auf einem der Höhepunkte seiner Macht. Vier Jahre später suchte er Poseidonios erneut auf, vgl. Plin. Nat. Hist. VII,112 und Cic. Tusc. Disp. II,61. Auch die Erzieher seiner Söhne stammten aus Rhodos, vgl. Strab. XIV,1,48. 33

Ausführlicher dazu: Antti Lampinen, Fragments from the ,Middle Ground‘: Posidonius’ Northern

Ethnography, in: Arctos. Acta Philologica Fennica 48, 2014, 251. 34

Zur Datierung vgl. Malitz, Historien (wie Anm.8), 13; Polyb. XII,27,6 äußert sich über die hohen Un-

kosten, die nötig waren, um die beschriebenen Gebiete selbst zu besuchen – für Poseidonios dürfte das Gleiche gegolten haben. 35

Vgl. Strab. III,4,17 = F 58a Jac. = F 269 EK = F 25 Theiler.

36

Vgl. Malitz, Historien (wie Anm.8), 170ff.

37

Vgl. Strab. IV,1,7 = F90 Jac. = F 229 EK = F 29 Theiler. Das von Poseidonios beschriebene Phänomen lässt

sich bis heute in der Schottersteppe von Le Crau beobachten – seine Beschreibung ist also völlig zutreffend. Vgl. Hodge, Greek France (wie Anm.3), 46.

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vor Gaius Marius über die Teutonen triumphiert hatte 38, und Besuche keltischer Ortschaften. 39 Hierauf beziehen sich offensichtlich nicht nur die Beschreibungen keltischer Bankette, sondern auch die Aussage des Poseidonios, er habe die gallische Sitte, mit den abgeschlagenen Köpfen ihrer Feinde zu prahlen, zunächst verabscheut, sich aber im Verlaufe der Zeit daran gewöhnt. 40 Da die Kopfjagd in der Gallia Narbonensis nach der Einrichtung der römischen Herrschaft verboten wurde 41, könnte dieses Zeugnis sogar für Reisen außerhalb der Provinz sprechen. 42 Zudem beschreibt eines der Fragmente (Athen. p. 151E–152D = F 15 Jac. = F 67 EK = F 170 Theiler) eine Gruppe von Galliern, die Wein aus der Gegend von Massalia importierten und denen Olivenöl fremd war. Seine Beschreibung einer Insel in der Mündung der Loire (Strab. IV,4,6 = F 56 Jac. = F 276 EK = F34 Theiler) passt gut zur Lage des griechischen emporion Korbilon in dieser Region, welches er besucht haben könnte. 43 Wie

38 Vgl. Plut. Marius 21,6–8 = F 113 Jac. = F 203 Theiler. 39 Die archäologische Forschung hat – ähnlich wie bei Herodot – einige dahingehende Angaben des Poseidonios bestätigen können, vgl. etwa Marco Martin, Posidonio d’Apamea e i Celti. Un viaggiatore greco in Gallia prima di Cesare. Rom 2011, 471. Daphne Nash, Reconstructing Poseidonios’ Celtic Ethnography, in: Britannia 7, 1976, 111–126, hier 123, betont, dass die Archäologie die Unterschiede der von Poseidonios und Caesar beschriebenen Kelten nachweisen konnte, die sich geographisch wie kulturell verschiedenen Gruppen zuordnen ließen – auf der geographischen Ebene hatten bereits beide Autoren zwischen verschiedenen Gruppen (Nord/Süd nach der Klimatheorie bei Poseidonios bzw. Nähe und Entfernung zur Provinz bei Caesar) getrennt. 40 Vgl. Strab. IV,4,5 = F 55 Jac. = F 274 EK = F 34 Theiler. Zu archäologischen Nachweisen der Kopfjagd siehe Anm.41. 41 Dies belegt Strab. IV,4,5 direkt nach dem gerade zitierten Fragment. Allerdings bleibt der genaue Zeitpunkt unklar. Eine Abbildung der Kopfjagd findet sich noch auf den Münzen des Dumnorix (auch als Dubnoreix) in den fünfziger Jahren des 1.Jahrhunderts v.Chr., vgl. Katherine Gruel/Laurent Popovitch, Les monnaies gauloises et romaines de l’oppidum de Bibracte. Glux-en-Glenne 2007, 166 Kat. Nr.19,2, und Jean-Baptiste Colbert de Beaulieu/Brigitte Fischer, Recueil des inscriptions gauloises (RIG). No. IV: Les légendes monétaires. Paris 1998, 238f., Kat. Nr.142. Es könnte sich dabei allerdings um ein archaisierendes Element handeln, da Caesar seinem Feind Dumnorix ein solches Verhalten nie vorwirft und da die archäologische Forschung für das 1.Jahrhundert keine Spuren von Kopfjagd mehr nachweisen kann. Vgl. dazu Kimberly Cassibry, Coins before Conquest in Celtic France. An Art Lost to Empire, in: Susan E. Alcock/Mariana Egri/ James F. D. Frakes (Eds.), Beyond Boundaries. Connecting Visual Cultures in the Provinces of Ancient Rome. Los Angeles 2016, 148–150. Des Weiteren empfiehlt sich Ian Armit, Headhunting and the Body in Iron Age Europe. Cambridge 2012; Dobesch, Barbaricum (wie Anm.7), 59, interpretiert die Beobachtungen der Kopfjagd durch Poseidonios ebenfalls als Beleg für Erkundungen außerhalb der Provinzreisen, zumal die Formulierung für Autopsie spricht. 42 Vgl. Malitz, Historien (wie Anm.8), 192, hier Anm.187. 43 Laut Strabon existierte Korbilon zur Zeit des Polybios, aber nicht mehr in seiner eigenen Zeit (vgl. Strab. IV,2,1 = Polyb. XXXIV,10,6). Duane W. Roller, Through the Pillars of Herakles. Greco-Roman Explora-

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weit Poseidonios genau vorgestoßen ist, bleibt zwar umstritten, doch deuten die erwähnten Anhaltspunkte hinreichend auf die Möglichkeit von Unternehmungen außerhalb der Provinzgrenzen. 44 Von Gallien aus setzte Poseidonios seine Exploration of the Atlantic. New York/London 2006, 100, nimmt auf der Basis von Polyb. XXXIV,10,1–4 = Athen. VIII,322 an, dass Polybios Korbilon selbst besucht haben könnte, da seine Angaben über Narbo in letzterer

Stelle sehr nach persönlichem Wissen klingen. Strabon spricht zudem in der erwähnten Stelle davon, dass die Einwohner des Ortes zusammen mit denen Narbos von Scipio Aemilianus über Pytheas befragt worden seien. Es lässt sich also nur feststellen, dass Korbilon irgendwann zwischen der aktiven Zeit des Polybios und der Strabons aufgegeben worden sein muss – ob es zu der Zeit von Poseidonios’ Reise noch existierte, bleibt damit offen. Für die Machbarkeit solcher Reisen in den Westen Galliens spricht auch das Handelsnetzwerk der aquitanischen Stämme, in welchem Münzen aus der griechischen Stadt Rhode (an der Küste bei Emporion) als universelles Zahlungsmittel dienten. Dieses reichte zwar nur bis zur Mündung der Garonne in die Gironde, legt aber die Möglichkeit der Durchquerung Galliens außerhalb der Provinzgrenzen nahe – zumindest für griechische Kaufleute. Aufgrund der dadurch erzeugten, relativen Vertrautheit der Aquitanier mit der griechischen Schrift und Kultur mag sogar jemand wie Poseidonios davon profitiert haben. Vgl. Cunliffe, Greeks (wie Anm.21), 51f. 44

Auf der einen Seite wird er als Vollender der antiken Anthropogeographie (vgl. Albert Dihle, Zur Hel-

lenistischen Ethnographie, in: Harold Caparne Baldry et al. (Eds.), Grecs et Barbares. [Entretiens de la Fondation Hardt, Vol.8.] Genf 1962, 229) gesehen. Von einigen Autoren wird Poseidonios gar als soziologischer Analytiker der gallischen Verhältnisse (vgl. Martin, Viaggiatore [wie Anm.39], 468) und wissenschaftlicher Vorreiter beschrieben, der weite Teile Galliens bereist hatte. Diese Meinung findet sich vor allem bei James Tierney, The Celtic Ethnography of Posidonius, in: Proceedings of the Royal Irish Academy 61, 1960, 189– 275. H. David Rankin, Celts and the Classical World. London/Sydney 1987, 75, zieht sogar in Erwägung, dass Poseidonios Britannien (!) besucht habe, wofür es keinerlei klare Indizien gibt. Auf der anderen Seite stehen kritische Stimmen, die vor der Überschätzung des Einflusses der poseidonischen Keltenethnographie warnen und darauf hinweisen, dass er seine Informationen vor allem aus mündlichen (griechischen) Quellen gewonnen haben könnte; vgl. Nash, Ethnography (wie Anm.39), passim. Demnach sollen die ethnographischen Beschreibungen bei Caesar nur sehr geringfügig auf Poseidonios basieren; ganz anders Tierney, Ethnography (wie Anm.44), 211f. Und auch Strabons und Diodors eigene Gestaltungskraft hält Nash für unterschätzt. Sie und Lampinen weisen darauf hin, dass nicht einmal der Aufenthalt des Poseidonios in Massalia sicher belegt ist, vgl. Lampinen, Middle Ground (wie Anm.33), 236f., und argumentieren, dass er die Sitte der Kopfjagd auch in einem Umkreis von nur 15 Kilometern um Massalia hätte beobachten können; vgl. Nash, Ethnography (wie Anm.39), 119. Aber auch Bernhard Maier, Geschichte und Kultur der Kelten. München 2012, 10, hält Reisen außerhalb der Provinzgrenzen für unwahrscheinlich. In jedem Fall lagen Poseidonios Informationen über Gallier aus dem Landesinneren vor. Gerade das Beispiel der Kopfjagd spricht dafür, dass Poseidonios sein Wissen nicht nur aus Gesprächen mit massaliotischen Händlern und Reisenden gewonnen haben kann (auch wenn Relikte in salluvischen oppida vorstellbar wären, erklären sie dennoch nicht die Gewöhnung des Poseidonios an dieses Phänomen). Wäre uns die vollständige Version des ursprünglichen Textes erhalten, gäbe es sicherlich noch viele weitere solcher Anhaltspunkte, da schon die vorhandenen Fragmente äußerst detailreich sind. Das Problem stellt sich aber bei allen antiken Berichten von Forschungsreisen oder Erkundungsfahrten. Zumindest die Frage nach der Vertrauenswürdigkeit der Angaben betrifft die Expedition des Polybios (nach Plin. Nat. Hist. V,9 und Polyb. III,59,6–8) genauso wie die des Poseidonios. Zu der Problematik siehe Schulz, Abenteurer (wie Anm.3), 308–317.

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Abb.1: Die „Forschungsreise“ des Poseidonios in den Westen (Anfang 1.Jahrhundert v.Chr.); Karte: Rudolf Hungreder.

tion in Iberien fort: Mindestens dreißig Tage hielt er sich in Gades (Cádiz) auf. 45 Die Stadt galt als Tor in die Weiten des Okeanos und eignete sich hervorragend für die maritimen Forschungen des Poseidonios. 46 In Gades schloss Poseidonios vor allem an die Erkundigungen des aus Massalia stammenden Pytheas an, der auf seiner Route nach Norden regelmäßig den Stand der Sonne beobachtet hatte, um geographische Breiten zu bestimmen. Die Messungen nutzten nicht nur der Navigation, sondern auch der Einordnung der beobachteten Naturphänomene, unter denen die Gezeitenfrage eine wichtige Rolle einnahm. 47 Das Vorkommen von Ebbe und Flut in allen bekannten Meeren sprach für 45 Vgl. Strab. III,5,7–8 = F 85 Jac. = F 217 EK = F 26 Theiler. 46 Nach dem Besuch weiterer Städte an der iberischen Küste (so erwähnt Strab. II,5,14= F 99 Jac. = F 204 EK = F 14 Theiler seinen Aufenthalt in einer Sternwarte in einem Ort, der an der Küste entlang 400 Stadien

von Gades entfernt lag) fuhr Poseidonios an den Gestaden Nordafrikas entlang (vgl. Strab. XVII,3,4) zurück nach Italien. Eine exzellente Übersicht aller Fragmente des Poseidonios, die im Zusammenhang mit Gades stehen, bietet Malitz, Historien (wie Anm.8), 96–116. Edelstein/Kidd nehmen wie gewöhnlich keines der Diodor-Fragmente (am wichtigsten davon ist Diod. V,33–38= F 117 Jac. = F 89 Theiler) und der entsprechenden Exzerpte (aus Exc. de sent., Exc. de insid. und Exc. de virt. et vit.) auf; vgl. Ludwig Edelstein/Ian G. Kidd (Eds.), Posidonius. Vol.1: The Fragments. Cambridge 1972. Malitz nimmt zudem Strab. III,5,1 = Test. 1 Malitz und Strab. II,5,2 = Test. 2 Malitz auf; vgl. Malitz, Historien (wie Anm.8), 132f. 47 Vgl. Schulz, Abenteurer (wie Anm.3), 219–229.

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einen einzigen okeanos, auf dem die oikumene als Insel ruhte. 48 Wie schon Eratosthenes und die Mehrheit der stoischen Gelehrten folgte Poseidonios dieser Sicht. 49 Durch seine Reise nach Gades war er in der Lage, seine Annahme durch Autopsie zu prüfen und die Theorie zu erweitern. 50 Pytheas war aber noch in einer anderen Hinsicht ein wichtiger Bezugspunkt für Poseidonios. Der Massaliote hatte die Ergebnisse seiner Fahrt in einem Werk festgehalten, dessen Name (angeblich) περὶ τοῦ Ὠκεανοῦ („Über den Ozean“) lautete. Der in erster Linie naturphilosophisch interessierte Poseidonios schrieb einige seiner eigenen Erkenntnisse zwar in seinen Historien nieder, doch entstand zuvor ein Ozeanbuch mit demselben Titel. 51 Ethnographische Exkurse waren spätestens seit Herodot fester Bestandteil historiographischer Werke. Da die Ergebnisse seines Unterfangens im Keltenland zudem in das Buch „Über den Ozean“ eingingen, diente diese auch Poseidonios’ Forschungen über das Weltmeer. Denn nach griechischer Vorstellung lebten die „Barbaren“ des Nordens an der Grenze des äußeren okeanos. 52 Damit schloss sich Poseidonios erneut der Sicht des Pytheas an, der das Nordmeer persönlich befahren hatte. 53 Zudem hatte Poseidonios sich an anderer Stelle über die Migration der Kimbern und Teutonen geäußert 54, die sein Interesse ebenfalls nach Südgallien zog. 55 Diese hatten um 120 v.Chr. ihre Wohnsitze in Jütland verlassen und waren von dort nach 48

Vgl. Hugo Berger, Geschichte der wissenschaftlichen Erdkunde der Griechen. Leipzig 1903, 309f.

49

Vgl. Ebd.nach Strab. II,3,4–5 = F 28 Jac. = F 49 EK = F 49 Theiler.

50

Vgl. Wilhelm Capelle, Die griechische Erdkunde und Poseidonios, in: Neue Jahrbücher für das klassi-

sche Altertum, Geschichte und deutsche Literatur 23, 1920, 305–324, hier 313ff. und 321. 51

Das Ozeanbuch entstand wahrscheinlich in den achtziger Jahren, während die Fertigstellung der His-

torien erst an sein Lebensende zu setzen ist. Vgl. Karl Reinhardt, s.v. Poseidonios (3), in: RE 22, 1954, 666, und Malitz, Historien (wie Anm.8), 31f., der Reinhardts Argumentation folgt, nach der das Ozeanbuch Teil eines großangelegten Plans war, der schließlich in der Verfassung der Historien als Lebenswerk gipfelte. 52

Vgl. Strab. II,3,5 = F 28 Jac. = T46/F49 EK = F 13 Theiler. Strabon zitiert hier Poseidonios, nach dem die

gesamte oikumene vom okeanos umflossen wird. 53

Poseidonios glaubte im Gegensatz zu Polybios an die Wahrhaftigkeit des Berichtes, wie etwas aus

Strab. II,3,5 = F 28 Jac. = T46/F49 EK = F 13 Theiler und Strab. II,3,5 = F 28 Jac. = T46/F49 EK = F 13 Theiler hervorgeht. Vgl. Polyb. XXXIV,5 zur Ablehnung des Pytheas. Strabon nannte Pytheas später gar einen Lügner, vgl. Strab. I,4,3. 54

Pytheas sprach bereits von den „Guiones“, bei denen es sich laut Plinius um einen Nachbarstamm der

Teutonen handelte, vgl. Plin. Nat. Hist. XXXVII,35 = Fr. 11a Mette = T 25 Roseman. Zur Erörterung des Stammes vgl. Roseman, Pytheas (wie Anm.17), 96. Zur Identifizierung der Guiones selbst mit den Teutonen vgl. Dieter Timpe, Entdeckungsgeschichte, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 7, 1989, 342. 55

318

Vgl. Schulz, Abenteurer (wie Anm.3), 320.

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Süden aufgebrochen. Nach einer Serie von Siegen über römische Armeen wurden die Eindringlinge schließlich in zwei Schlachten von Gaius Marius entscheidend besiegt. Poseidonios schlug als Grund für ihre Wanderung unter anderem eine sturmhafte Überflutung ihrer Heimat durch den okeanos vor und stellte damit einen direkten Zusammenhang zwischen dem Weltmeer und den „Barbaren“ des Nordens her, der in den intellektuellen Kreisen der griechischen Welt wohlbekannt gewesen sein wird. 56 Dass Poseidonios somit bei seinen naturphilosophischen Nachforschungen dem Vorbild des Entdeckers Pytheas folgte und bei der Beschäftigung mit den Kimbernkriegen genauso großen Wert auf Autopsie legte 57, macht es umso wahrscheinlicher, dass er sich bemühte, gallische Ortschaften außerhalb der Provinz zu besuchen. 58 Den ethnographisch interessierten Makrotheorien entnahm Poseidonios zwei verschiedene Perspektiven auf die Gallier: Auf der einen Seite hatte sich Ephoros noch recht unbefangen mit den Kelten (Κελτοí) auseinandergesetzt, ihre Sitten und Gebräuche gewürdigt und sie sogar als „griechenfreundlich“ 59 (φιλέλλην) bezeichnet. Doch war diese positive Sicht im 3.Jahrhundert angesichts des gewaltsamen Vordringens der Galater in den Osten einer deutlich feindseligeren Darstellung gewichen, die sich beispielhaft bei Polybios findet: Die Kelten, nun Γαλάται genannt, galten fortan als wilde und gesetzlose „Barbaren“, die die Ordnung der griechischrömischen Welt bedrohten. 60 Polybios hielt fest, dass sie „mehr von Leidenschaft als

56 Vgl. Strab. II,3,6 = F 28 Jac. = T46/F49 EK = F 13 Theiler. Dass Strabon eher von einer langsam fortschreitenden Flut spricht, erschließt sich aus dem zuvor angeführten Vergleich mit dem Untergang von Atlantis in der Version Platons, den Poseidonios offensichtlich verteidigen wollte. Die Stelle scheint Strabons Wiedergabe von Poseidonios in Strab. VII,2,1–2 = F31 Jac. = F272 EK = F 44a Theiler zu widersprechen, doch richtete sich seine dort zitierte Kritik in erster Linie gegen die Vorstellung, dass die normalen Gezeiten für die Auswanderung der Kimbern verantwortlich waren. Diese Argumentation konnte Poseidonios nach der Erforschung von Ebbe und Flut und der Feststellung ihrer Regelmäßigkeit nur ablehnen. Vgl. Malitz, Historien (wie Anm.8), 206–208. 57 Vgl. Plut. Marius 21,6–8 = F 113 Jac. = F 203 Theiler zum Besuch des Schlachtfeldes von Aquae Sextiae. 58 Den bleibenden Eindruck, den der Zug der Kimbern und Teutonen hinterlassen hatte, belegen auch zwei Stellen bei Caesar: In Bell. Gall. I,33,3 beschwört dieser zunächst die Kimberngefahr herauf, um die Gefährlichkeit der wandernden Sueben zu belegen. In VII,77,12 spricht Critognatus im Jahr 52 von der Gegenwehr der Gallier gegen die Kimbern, um an die großen Kämpfe der Vergangenheit zu erinnern. 59 Strab. IV,4,6 = FGrH 70 F131. Eigene Übersetzung. 60 Vgl. Dobesch, Barbaricum (wie Anm.7), 32–38. Zur weiteren Auseinandersetzung des Poseidonios mit den Begriffen Γαλάται und Κελτοí siehe unten Anm.72.

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von kluger Berechnung regiert“ 61 wurden. Er attestierte den Galatern einen Hang zur παρανομíα, zu Handlungen, die gegen göttliches und menschliches Recht verstießen. 62 Das Bild der „Barbaren“ blieb dabei freilich in sich ambivalent und wurde so auch in der Kunst dargestellt. 63 Ihre massive militärische Aggression hatte die Kelten für die griechische Welt zu einem widersprüchlichen wie interessanten Phänomen werden lassen. Poseidonios verfügte über die nötige hellenistische Gelehrsamkeit, um die ethnographischen Makrotheorien auf die Gallier zu übertragen und sie durch seine eigene Autopsie mit Details zu füllen. Die römische Erschließung der Narbonensis bot ihm die Gelegenheit, diesen Plan in die Tat umzusetzen und seine Vorgänger zu übertrumpfen.

III. Die Ethnographie der Kelten Das Ozeanbuch und die Historien richteten sich in erster Linie an ein gebildetes, griechisches Publikum und werden in Rom nur von einigen Mitgliedern der Elite gelesen worden sein. 64 Sicherlich enthalten die Werke einige unterhaltende Passagen 65, doch dienten diese der Popularisierung der Schriften und der Verbreitung der Lektüre. Den vielleicht eindrucksvollsten Teil der hier enthaltenen gallischen Eth61

Polyb. II,35,3, Übers. in: Drexler (Hrsg.), Polybios, Geschichte (wie Anm.25), Bd. 1.

62

Vgl. Arthur M. Eckstein, Moral Vision in The Histories of Polybius. Berkeley 1995, 122.

63

Vgl. Paul Zanker, Die Gegenwelt der Barbaren und die Überhöhung der häuslichen Lebenswelt. Über-

legungen zum System der kaiserzeitlichen Bilderwelt, in: Tonio Hölscher (Hrsg.), Gegenwelten zu den Kulturen Griechenlands und Roms in der Antike. Leipzig 2000, 409–434, hier 412f. 64

Das impliziert schon die Abfassung beider Werke (nur) auf Griechisch. Lampinen, Middle Ground (wie

Anm.33), 256, vergleicht die (römische) Leserschaft des Poseidonios mit der Caesars, aufgrund der Ähnlichkeiten in der Beschreibung der Gallier. Die Schlussfolgerung ergibt sich aus Lampinens Ablehnung des Poseidonios als entscheidender Quelle für die ethnographischen Informationen des Bellum Gallicum, wie sie Tierney, Ethnography (wie Anm.44), 211f., angenommen hatte. Die vielen Anspielungen auf klassische Autoren und Ideen sprechen gegen eine breitere Rezeption über die kleinen Oberschichten hinaus. 65

Zu ihnen zählen auch die unten folgenden Abschnitte über die Bankette der Kelten. Die Darstellung

der sizilischen Sklavenkriege in den Historien spricht den Leser gar in dramatischer Weise an und lässt ihn geradezu mitleiden (die Darstellung findet sich in dem komplexen F108 aus Diod. XXXIV,2; vgl. die Anordnung in Malitz, Historien [wie Anm.8], 146–158). Zur Einordnung dieser Form von Geschichtsschreibung in den hellenistischen Kontext siehe die Übersicht bei Hermann Strasburger, Die Wesensbestimmung der Geschichte durch die Antike Geschichtsschreibung. (Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Bd. 5, Nr.3.) Wiesbaden 1966; vgl. ebd.49 zur Darstellung der Sklavenkriege durch Poseidonios.

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nographie bilden die Schilderungen der Bankette. Der Text ist nur in gekürztem Zustand bei dem Universalhistoriker Diodor (1.Jahrhundert v.Chr.) und dem kaiserzeitlichen Gelehrten Athenaios (2./3.Jahrhundert n.Chr.) erhalten, doch bietet er selbst in dieser Form noch reiche Details. Poseidonios hat dabei eine griechische Sicht auf die Kelten abgebildet, in der sich seine philosophischen Überzeugungen, der Einfluss der ethnographischen Tradition und der Eindruck seines römischen Hintergrundes wiederfanden 66: „Die Gallier sind hochgewachsen, mit aufgeschwemmten Muskeln 67 und von weißer Hautfarbe. 68 Ihr Haar ist nicht nur von Natur aus blond, sondern sie verstärken die eigentümliche Farbe mit künstlicher Behandlung. Sie reiben die Haare ständig mit Kalkwasser ein und streichen sie von der Stirn nach oben gegen den Scheitel und die Nackensehnen, so dass sie im Aussehen Satyrn und Panen gleichen. Das Haar wird nämlich dick durch diese Behandlung und unterscheidet sich nicht mehr von einer Pferdemähne. Einige rasieren sich, andere lassen die Barthaare ein wenig wachsen. Die Vornehmen rasieren die Wangen, lassen aber die Haare auf der Oberlippe wachsen, so dass sie den Mund bedecken. Wenn sie essen, geraten die Haare deshalb in die Speisen, und wenn sie trinken, fließt das Getränk wie durch ein Sieb.“ 69

66 Selbst wenn Poseidonios persönlich an Banketten teilgenommen hatte, hätte er die Ergebnisse mindestens im Sinne eines „teilnehmenden Beobachters“ verfälscht. So ist etwa nicht davon auszugehen, dass die von ihm geschilderte strenge Sozialordnung (siehe unten) bei jedem Bankett eingehalten wurde – vor dem hohen griechischen Gast hätte sich der gallische Gastgeber sicherlich bemüht, ein Idealbild zu repräsentieren. Die Problematik der „teilnehmenden Beobachtung“ hat die moderne Anthropologie spätestens seit Bronislaw Malinowski geprägt und bleibt bis heute eine Herausforderung für ethnographisch bzw. anthropologisch orientierte Arbeiten. Vgl. etwa Lynne Hume (Ed.), Anthropologists in the Field. Cases in Participant Observation. New York 2004. 67 Dies ist ein klarer Verweis auf die Klimatheorie, nach der (auch Poseidonios selbst zufolge) die Körper der nördlichen Menschen „aufgeschwemmt“ (κάθυργοι) sind. Vgl. dazu Vitr. VI,1,3–4 = F 121 Jac. = F 71 Theiler und Malitz 1983 (wie Anm.8), 187 Anm.140. Ian G. Kidd, Posidonius. (Cambridge Classical Texts and Commentaries.) Vol.2: The Commentary (i). Testimonia and Fragments 1–149. Cambridge 1988, 42 lehnt die Identifizierung als poseidonisch ab, doch kann die Stelle selbst dann als repräsentativ für die antike Klimatheorie dienen. 68 Das λευκοí bezieht sich auf Γαλάται und da es im nächsten Satz um die Haare geht, könnten damit auch diese gemeint sein. 69 Diod. V,28,1–3 = F 116 Jac. = F 169 Theiler. Zur Benutzung der Historien des Poseidonios durch Diodor (und vor allem der Verkürzung des Textes) gibt Malitz, Historien (wie Anm.8), 34–42, einen eingehenden Überblick. Aufgrund dessen universalhistorischen Anspruchs konnten die Beschreibungen einzelner Völker nur jeweils einen geringen Raum einnehmen. Übersetzung in Malitz, Historien (wie Anm.8), 187f. nach Karl Reinhardt, Poseidonios. München 1921, 26f. Ich folge hier zumindest mit Blick auf die Beschrei-

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Zu Beginn beschreibt der Autor das physische Erscheinungsbild der Kelten, was für die griechische Ethnographie ungewöhnlich ist. 70 Auch die Detailfülle ist auffällig und Ausdruck seiner Autopsie, mit der er seine Vorgänger zu übertreffen suchte. 71 Die Gallier werden als ein Volk am nördlichen Rand der oikumene beschrieben, das sich stark von Griechen und Römern abhebt. 72 Das Vergleichsangebot ist für den Leser schon fast zwangsläufig. Die Kelten erscheinen nicht nur als großgewachsen und blond, sondern verstärken diesen fremdartigen Eindruck noch einmal bewusst. Auch deshalb vergleicht Poseidonios sie mit halbmenschlichen Fabelwesen wie den Satyrn. 73 Diese Topoi basierten auf der unter anderem im Corpus Hippocraticum und bei Aristoteles besprochenen Klimatheorie. Sie wies den Völkern des Nordens einen hohen Körperwuchs zu: Aufgrund der Kälte und der schwachen Sonneneinstrahlung würde den Leibern keine Feuchtigkeit entzogen werden. 74 Im Zusammenspiel mit feuchter Luft schwemmten die Körper der Menschen demnach zu unglaublibungen der ,Bankette‘ der Sichtweise von Malitz, Historien (wie Anm.8), Felix Jacoby, FGrH 2A. Berlin 1926, Nr.87, und Willy Theiler (Hrsg.), Poseidonios. Die Fragmente. Bd. 2. Berlin/New York 1982. Diese haben die entsprechenden Stellen bei Diodor Poseidonios zugeordnet. Die Kritik von Edelstein/Kidd, Posidonius (wie Anm.46) ist berechtigt und sollte im Einzelnen geprüft werden, doch kann dies im Rahmen dieses Aufsatzes nicht geleistet werden. Auch die neue Poseidonios-Edition von Vimercati hat die Diodor-Stellen aufgenommen, vgl. Posidonio. Testimonianze e frammenti. Presentazione di Roberto Radice, edizione, traduzione, commentario ed apparati di Emmanuele Vimercati. Mailand 2004. 70

Aufgrund der fragmentarischen Überlieferung ist die genaue Reihenfolge der einzelnen Abschnitte

nicht gesichert. Ich richte mich hier nach der Anordnung bei Malitz, Historien (wie Anm.8), 169–198. Die Darstellungen der Menschen selbst beginnen meistens mit der Heraushebung bestimmter Sitten, der Ernährung oder der Abstammung. Alleine im medizinisch interessierten Werk „Über die Umwelt“ findet sich eine vergleichbare starke Beschäftigung mit dem äußeren Erscheinungsbild. Vgl. Hippokr. De Aer. 12ff. 71

Die Beschreibung passt zwar zu den Topoi der Nordvölker und der bisherigen Darstellung der Kelten,

erweiterte diese aber noch einmal um Details, wie sie sonst nur die pergamenischen Statuen zeigen – welche ihrerseits auf den realen Auseinandersetzungen mit den Galatern beruhten. 72

Poseidonios benutzt in der Ethnographie meistens den Begriff Γαλάται, seltener Κελτοí. Die Aus-

wahl mag allerdings genauso gut auf das Exzerpt Diodors zurückgehen und muss keine automatisch negative/positive Konnotation mit sich tragen. Eine weiterführende These in diese Richtung vertritt Dobesch, Barbaricum (wie Anm.7), 32–38 und 80ff., der eine Teilung der Kelten durch Poseidonios zwischen wilden Γαλάται im Norden und zivilisierten Κελτοí im Süden vorschlägt. Diese These kann allerdings nicht die als Kelten und Keltiberer bezeichneten Stämme Nordiberiens erfassen, welche den Römern noch zu Poseidonios’ Lebzeiten und darüber hinaus erbitterten Widerstand leisteten. 73

Satyrn wurden zudem mit großer Fruchtbarkeit verbunden und könnten ein Symbol für die große An-

zahl der Kelten gewesen sein, die Poseidonios kurz zuvor unterstrichen hatte, vgl. Diod. V,25,1 = F 116 Jac. = F 169 Theiler. 74

Vgl. Vitr. VI,1,3 = F 121 Jac. Die tieferen Stimmen der Menschen des Nordens sind genauso auf das Kli-

ma zurückzuführen.

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cher Größe auf. Doch nicht nur die Körper, auch der Charakter der Bewohner des Nordens war vom harschen Klima geprägt: Da sie an dieses gewöhnt waren, verfügten sie über Leidenschaft und Mut im Krieg, aber auch nur über geringe Ausdauer und eine eingeschränkte zivilisatorische Entfaltung. 75 Die anschaulichste Darstellung dieser Topoi aus der Zeit vor Poseidonios fand sich in Pergamon, wo König Attalos I. zur Feier seiner militärischen Erfolge eine Statuengruppe im Heiligtum der Athena hatte ausstellen lassen, die sogenannten „Großen Gallier“. 76 Mit ihren gekalkten Haaren, den Schnurrbärten und dem allgegenwärtigen Schmuck, aber vor allem mit ihrem übertriebenen Pathos und einem Übermaß an Bewegung 77 entsprachen diese Bildnisse den in der Literatur bekannten Topoi über die Nordvölker. 78 Auch ihre Darstellung war hochgradig ambivalent: Auf der einen Seite erschienen die Galater dort als heroische Kämpfer, auf der anderen Seite als unkultivierte und verwirrte Verlierer einer Schlacht. 79 Die eingehende Charakterisierung der Kelten bei Poseidonios mündet direkt in die Beschreibung ihrer Bankette. Allein aufgrund ihres Aussehens erwecken sie beim Speisen einen wilden Eindruck, der sich in das bisher gezeichnete Bild einfügt. Diodor geht dann näher auf ihre Essgewohnheiten ein: „Sie essen alle im Sitzen, aber nicht auf Stühlen, sondern auf der Erde und benutzen dabei Wolfs- oder Hundefelle. Bedient werden sie von den jüngsten Kindern, von Jungen und Mädchen, die eben die Geschlechtsreife erlangt haben. Nahe dabei sind die Herdstellen voller Glut, mit Kesseln und Bratspießen, an denen große Fleischstücke stecken. Tapfere Männer ehren sie mit den schönsten Fleischstücken, wie ja auch der Dichter den Ajas einführt, wie er

75 Vgl. Hippokr. De Aer. und Aristot. Pol. 7,7 p. 1327b 23–227; Aristot. Eth. Eud. 3,1 p. 1229b 25–30 (zum Thymos). Zum Einfluss der Klimatheorie auf die antike Ethnographie bietet Klaus Müller, Geschichte der antiken Ethnologie. Hamburg 1997, passim wertvolle Erkenntnisse. 76 Für eine eingehende Deutung der Figuren eignet sich Friederike Fless, Zur Konstruktion antiker Feindbilder – Das Beispiel der „Großen Gallier“, in: Hans-Ulrich Cain/Sabine Rickhoff (Hrsg.), Die Religion der Kelten – fromm, fremd, barbarisch. (Ausstellungskatalog.) Leipzig 2002, 59–70. 77 Caesar sprach später von mobilitas (Veränderlichkeit, Unruhe) und levitas (Leichtsinnigkeit), vgl. Caes. Bell. Gall. II,1,4. 78 Ähnliche Darstellungen der Kelten in der pergamenischen Kunst fanden sich in Athen, auf Delos und in Delphi. Vgl. Karl Strobel, Die Galater im hellenistischen Kleinasien: Historische Aspekte einer keltischen Staatenbildung, in: Jakob Seibert (Hrsg.), Hellenistische Studien. Gedenkschrift für Hermann Bengtson. München 1991, 110ff. 79 Vgl. Zanker, Gegenwelt (wie Anm.63), 412f.

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geehrt wird von den Helden, als er den Hektor im Zweikampf besiegt hat: ‚Aber den Ajas ehrt’ er mit langausreichenden Rücken‘.“ 80

In diesem Abschnitt wird die griechische Perspektive auf die Gallier besonders deutlich. Im Gegensatz zu einem griechischen Symposion lagen die Teilnehmer des Mahls nicht auf Klinen, sondern saßen auf Tierfellen auf dem Boden. Das Sitzen beim Speisen erinnerte an die homerischen Helden. 81 Dazu passt das Ajas-Zitat aus der Ilias, durch das Poseidonios die Oberhäupter der gallischen Gesellschaft mit den Heroen Homers vergleicht. 82 Die Tierfelle können hingegen als ein Anzeichen für ein von Jagd und (noch) nicht von Ackerbau bestimmtes Leben verstanden werden. Einerseits dient der gesamte Absatz dazu, Ähnlichkeiten zwischen den Galliern des Poseidonios und den Griechen der heroischen Vergangenheit herauszustellen. Andererseits verwob er dieses Motiv mit Verweisen auf die primitive Wildheit der Kelten. Dahinter stand wahrscheinlich die Idee einer kontinuierlichen Weiterentwicklung der Völker, wie sie bereits Herodot angedeutet hatte. Dieser hatte die Bewohner der oikumene in ackerbauende Zivilisationen höherer und niederer Art im Zentrum unterteilt, die von Viehzüchtern umgeben waren. An den äußersten Rändern lebten schließlich reine Jäger und Sammler. 83 Da das Wesen der Völker auch für Herodot zuvorderst durch die klimatisch-geographischen Gegebenheiten bedingt war, unterlag dieses Schema nicht zwingend einer temporalen Entwicklung. Im Fall der Kelten des Poseidonios findet sich jedoch der Hinweis auf die Verwendung von (wenig) Brot. 84 Damit deutet er eine allmähliche Entwicklung hin zur Stufe des niederen Ackerbaus an. Die Kelten des Poseidonios befanden sich somit (noch) nicht auf der Stufe einer Hochkultur wie die der Griechen, die sich unter anderem durch ein urban geprägtes Gemeinschaftswesen und eine hochentwickelte Form der Landwirtschaft auszeichnete. 85 Der Stoiker verknüpfte diese Idee mit einer

80

Diod. V,28,4 = F 116 Jac. = F 169 Theiler; Übersetzung in Malitz, Historien (wie Anm.8), 188.

81

So Eduard Norden, Die germanische Urgeschichte in Tacitus’ Germania. Leipzig/Berlin 1920, 136, zu

Athen. p. 17 F. Interessanterweise schreibt Diod. XXXVIII/XXXIX,9, dass auch der junge Pompeius sein Essen stets im Sitzen einnahm. Die Stelle könnte, wie so vieles bei Diodor, auf Poseidonios zurückgehen. Wollte Poseidonios Pompeius so vielleicht nicht nur als Heroen darstellen, sondern genauso sehr die Einfachheit seiner Sitten und damit auch die der Kelten loben? Vgl. Malitz, Historien (wie Anm.8), 188 Anm.144. 82

Das Zitat stammt aus Hom. Il. 7,321.

83

Vgl. dazu die aufschlussreiche Darstellung von Müller, Ethnologie (wie Anm.75), 118–122, die vor

allem auf Hdt. IV basiert.

324

84

Vgl. Athen. p. 151E–152D = F 15 Jac. = F 67 EK = F 170 Theiler.

85

Vgl. Müller, Ethnologie (wie Anm.75), 121.

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moralischen Komponente: Er führt an anderer Stelle 86 aus, wie sich die Menschheit vom ursprünglichen Goldenen Zeitalter ausgehend zwar zivilisatorisch und technologisch weiterentwickelt hatte, moralisch aber durch zunehmenden Luxus und Neid verroht sei. 87 Diese Theorie stützt sich offenbar auf Demokrit, dessen Ideen von der Stoa und den Epikureern weiterentwickelt worden waren. 88 Im Anschluss an Platon und Dikaiarchos glaubte Poseidonios an die gerechte Herrschaft der Weisen in jenem vergangenen Goldenen Zeitalter. 89 Passenderweise behandelt er an einer anderen Stelle seiner Ethnographie auch die einflussreiche Rolle der Druiden. 90 Diese repräsentieren möglicherweise die Weisen früherer Zeiten, die noch mit dem ursprünglich Göttlichen vertraut waren 91, nach dem auch die Stoiker suchten. 92 Indem Poseidonios anschauliche Beispiele des primitiven, aber unverdorbenen Daseins der Kelten mit der Herrschaft der Weisen kombinierte, gelang ihm eine Synthese aus der von der Not (χρεíα) bestimmten Urgeschichte der Menschen und dem glücklichen Goldenen Zeitalter. 93

86 Vgl. Sen. Ep. 90,4–20 = F 448 Theiler = F 284 EK. Ob die Bezeichnung „Goldenes“ Zeitalter an dieser Stelle von Poseidonios selbst stammt oder von Seneca hinzugefügt wurde, ist nicht klar. In jedem Fall idealisierte er ein frühes Zeitalter, in dem sich die Menschen nach ihrer ursprünglichen Isolation unter der Führung der ersten Weisen (die aber nicht mit den Philosophen seiner Zeit gleichzusetzen sind) organisierten und davon nur profitierten. Ausführlicher dazu: Reimar Müller, Die Entdeckung der Kultur. Antike Theorien über Ursprung und Entwicklung der Kultur von Homer bis Seneca. Düsseldorf/Zürich 2003, 349–360. 87 So auch Tierney, Ethnography (wie Anm.44), 212f. 88 Vgl. Müller, Entwicklung (wie Anm.86), 350–353. In Grundzügen geht die Vorstellung auf Hesiod zurück, der bereits von einem „Goldenen Geschlecht“ sprach. Vgl. Hes. erg. passim. Über Demokrit kam sie dann zu den Stoikern und Epikureern – Epikur übernahm sogar viele Stellen aus dem Werk Demokrits direkt in seine eigenen Schriften. Vgl. Woldemar Graf Uxkull-Gyllenband, Griechische Kultur-Entstehungslehre. (Bibliothek für Philosophie, Bd. 26.) Berlin 1924, 42. 89 Dikaiarchos spricht von klugen und geeigneten Männern, vgl. Diog. Laert. I,50 = F 30 Wehrli. Die Funktion der Weisen als gute Hirten der Gemeinschaft stammt freilich aus Platon, vgl. z.B. Plat. Polit. 343 Af.; 345C. Dennoch existierte für Poseidonios bereits unter der Herrschaft der Weisen die Idee von Gewalt und Krieg, was das Konzept umso tragfähiger für eine Beschreibung der keltischen Welt macht. Vgl. Sen. Ep. 90,4–20 = F 448 Theiler = F 284 EK, und dazu Gunnar Rudberg, Forschungen zu Poseidonios, in: Skrifter utgifna af Kungl. Humanistiska Vetenskaps-Samfundet. Bd. 20. Uppsala 1917–1919, 64–68. 90 Vgl. Diod. V,31,4–5 = F 116 Jac. = F 169 Theiler. Dobesch, Barbaricum (wie Anm.7), 24 mit Anm.59 und 60 hält die pythagoreischen Vorstellungen der Druiden bei Poseidonios für authentisch. 91 Vgl. Tierney, Ethnography (wie Anm.44), 212f. 92 Vgl. Müller, Entwicklung (wie Anm.86), 363. In Diod. I,1,3 = F 80 Theiler wird auch vom Historiker die Suche nach dem Gesamtzusammenhang des Geschehens in der gesamten Oikumene gefordert, der der stoischen Vorstellung vom Weltlogos entsprach: Demnach waren alle Lebewesen Teil dieser Weltseele. 93 Vgl. Uxkull-Gyllenband, Kultur-Entstehungslehre (wie Anm. 88), 45f. Hiermit folgte Poseidonios der

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Die Deutung der Gallier durch Poseidonios hat schon Karl Reinhardt als „heroisch-primitiv“ 94 beschrieben. Sie reiht sich damit in die Tradition einer widersprüchlichen Idealisierung der Nordvölker ein. 95 Dieser Charakter zeigt sich auch in der längeren Fassung seiner Beschreibung des Gastmahls, das von Athenaios überliefert wird: „Die Kelten nehmen ihre Speisen ein auf einer Unterlage von Heu, an hölzernen, wenig über den Boden erhobenen Tischen. Ihre Nahrung besteht aus wenig Brot, aber viel Fleisch, das teils in Wasser gekocht, teils auf Kohlenpfannen oder an kleinen Spießen gebraten ist. Sie sagen dem Mahl reinlich, aber nach Löwenart zu; mit beiden Händen nehmen sie ganze Glieder auf und beißen davon ab. Wenn etwas schwer abzureißen ist, schneiden sie es mit einem kleinen Messer ab, das in einer eigenen Tasche an den Schwertscheiden befestigt ist. Diejenigen, die an den Flüssen oder am inneren und äußeren Meer wohnen, essen auch Fische, und zwar gebacken mit Salz und Essig und Kümmel. Kümmel fügen sie auch ihrem Getränk hinzu. Öl gebrauchen sie nicht wegen des Mangels, und weil es ungewohnt ist, scheint es ihnen unangenehm zu sein. Speisen sie in größerer Gesellschaft, sitzen sie im Kreis, in der Mitte, wie der Anführer eines Chors, der Stärkste, der entweder durch kriegerischen Mut oder durch seine Abstammung oder durch seinen Reichtum hervorragt. Wer nach ihm der Nächste ist, sitzt ihm zur Seite, und so der Reihe nach auf beiden Seiten nach eines jeden Rang. Hinter ihm stehen die Knappen mit den Schilden; die Speerträger 96 sitzen am anderen Ende im Kreise und schmausen wie ihre Herren. Das Getränk tragen die Schenken in Gefäßen auf, die den Ambiken gleichen und aus Ton oder Silber sind. Auch die Platten, auf denen sie die Speisen auftragen, sind aus dem gleichen Material; andere benutzen dafür bronzene Platten, wieder andere holzgeflochtene Körbe. Das Getränk bei den Reichen ist Wein, der aus Italien oder aus dem Gebiet von Massalia kommt. 97

Kulturanthropologie des Dikaiarchos, die dieser in seiner Kulturgeschichte Griechenlands (Bios Hellados) entwickelt hatte. Vgl. Müller, Ethnologie (wie Anm. 75), 201–204. Den Aspekt von Poseidonios’ eigener Schaffenskraft betont Rudberg, Forschungen (wie Anm. 89), 76. 94

Reinhardt, Poseidonios (wie Anm.69), 28.

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Als Überblick dazu eignet sich immer noch die detaillierte Untersuchung von Friedrich Alexander Rie-

se, Die Idealisierung der Naturvölker des Nordens in der griechischen und römischen Literatur. Programm des städtischen Gymnasiums. Frankfurt am Main 1875, 3–46. 96

Die Bezeichnung „Speerträger“ (doryphoroi/δορυφόροι) wird dem griechischen Leser als Bezeich-

nung für die Leibwachen griechischer Tyrannen vertraut gewesen sein. Vgl. etwa Brian M. Lavelle, Herodotos, Skythian Archers, and the doryphoroi of the Peisistratids, in: Klio 74, 1992, 78–97. 97

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Der Import von Wein aus dem Gebiet von Massalia spricht genauso wie die Bemerkung weiter oben,

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Dieser Wein wird ungemischt getrunken; manchmal wird ein wenig Wasser beigemischt. Bei den weniger Reichen trinkt man Weizenbier, das mit Honig zubereitet ist; beim Volk wird das Bier pur getrunken. Man nennt es ‚Korma‘. Sie schlürfen zusammen aus demselben Gefäß, aber das tun sie öfters. Die Schenke trägt nach rechts und links aus; so wird ihnen bei Tisch aufgewartet. Die Götter grüßen sie nach rechts gewandt.“ 98

Wieder finden sich Anspielungen auf die Zeit der homerischen Helden: Genau wie Ajas 99 schneiden die Gallier ihr Fleisch mit kleinen Messern, und ähnlich wie die Helden speisen sie im Sitzen oder am Boden. 100 Wenn Poseidonios sie „nach Löwenart“ speisen lässt, vergleicht er sie allerdings nicht nur mit wilden Tieren, sondern erinnert an die Kyklopen der Odyssee. 101 Die idealisierenden Elemente werden bei Poseidonios also stets durch Hinweise auf die primitive Wildheit der Nordvölker ergänzt. Angelegt war diese Ambivalenz schon bei Homer; dessen Beschreibung der Kyklopen ist widersprüchlich und schwankt zwischen Idealisierung und Degradierung. Einerseits ordnete er diese als Rohfleischesser und Kannibalen ein und stellte sie damit auf die äußerste Stufe der Barbarei. 102 Andererseits waren die Kyklopen

die Kelten seien unvertraut mit dem Gebrauch von Olivenöl, zumindest dafür, dass Poseidonios hier keine Bewohner des unmittelbaren Umlandes von Massalia beschreiben kann, wie dies noch Nash, Ethnography (wie Anm.39), 119, postuliert hatte. Zum lokalen Weinanbau in der chora Massalias vgl. Hodge, Greek France (wie Anm.3), 122f. 98 Athen. p. 151E–152D = F 15 Jac.= F 67 EK = F 170 Theiler; Übersetzung in Malitz, Historien (wie Anm. 8), 188f.; nach Reinhardt, Poseidonios (wie Anm.69), 28. Athenaios zitierte in seinen Deipnosophistai zwar teilweise wörtlich aus den Historien des Poseidonios, doch wurde sein Werk selbst wiederum nur in einer epitomierten Fassung überliefert. Nur eine Version von 15 Büchern ist erhalten, während das Werk ursprünglich wohl 30 Bücher umfasst hatte. Vgl. Malitz, Historien (wie Anm.8), 48. 99 Hom. Il. 3,271f. 100 Athen. p. 11 F diskutiert die Mahlzeiten der homerischen Helden. In klassischen griechischen Selbstbeschreibungen von Symposien sind diese klar vom eigentlichen Speisen getrennt – diese werden kaum beschrieben, der Schwerpunk liegt auf den philosophisch anspruchsvollen Gesprächen. Dies zeigt sich sowohl in Xenophons als auch in Platons Symposion. 101 Vgl. Hom. Od. 9,292. So Norden, Urgeschichte (wie Anm.81), 77, Anm.3. 102 Zum Zusammenhang zwischen Ernährung und Zivilisationsstufe vgl. Müller, Ethnologie (wie Anm. 75), 118–122. Die Kyklopen als erste Vertreter unzivilisierter, wilder „Barbaren“ in der griechischen Literaturgeschichte (im Gegensatz zu anderen Stadtkulturen wie den Trojanern und idealisierten Märchenvölkern wie den Phäaken) betont Elisabeth Charlotte Welskopf, Soziale Gruppen- und Typenbegriffe: Klasse, Stand, Schicht, Privatmann, Individualität – Hellenen und Barbaren, Polis und Territorialstaat, in: dies. (Hrsg.), Hellenische Poleis. Krise – Wandlung – Wirkung. Bd. 4. Darmstadt 1974, 2167f. Entscheidend für ihre negative Bewertung ist das Fehlen jeglicher Eigenschaften griechischer Kultur, vgl. Christine TrzaskaRichter, Furor teutonicus. Das römische Germanenbild in Politik und Propaganda von den Anfängen bis

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genügsame Höhlenbewohner, die ohne staatliche Strukturen und zivilisatorischen Luxus ein einfaches Leben führten. 103 Diese Idealisierung des von den moralischen Verfehlungen der Hochkulturen verschonten, naturnahen Daseins war Bestandteil epikureischer und stoischer Ideen, denen Poseidonios aufgeschlossen gegenüberstand. 104 Diese wurden nun durch die Argumente der Klimatheorie unterfüttert, die den Völkern des Nordens eine karge Ernährung zuwies. 105 Passend dazu weist er darauf hin, dass die Gallier überhaupt kein Olivenöl nutzen und den Wein importieren müssen 106 – an anderer Stelle hatte er dies mit der großen Kälte des Landes begründet. 107 Des Weiteren ernähren sich nur die an den Küsten lebenden Gallier von Fisch – sie folgen damit auf einfachste Weise dem Angebot der Natur. Allerdings wird der Fisch zuvor gebacken und gewürzt, genauso wie das Fleisch gekocht wird – auch wenn sie gleichzeitig wie wilde Tiere ganze Fleischstücke auf einmal abbeißen. Die teils widersprüchlichen Beschreibungen fügen sich zu einem geschlossenen Gesamtbild, das sich nahtlos in die „wissenschaftliche“ Weltsicht der Griechen einpasst. Als „Barbaren“ des Nordens befinden sich die Kelten auf einer niedrigeren zivilisatorischen Entwicklungsstufe als die Griechen. Poseidonios ordnet sie dementsprechend als wild und primitiv, gleichzeitig aber noch als heroisch und naturnah ein. Wie die Helden Homers respektieren sie den Stärksten als Anführer in ihrer Mitte und scheuen keinen Kampf. An anderer Stelle ergänzt Poseidonios, dass sich die Gallier selbst auf ihren Gastmahlen Duelle bis zum Tod liefern konnten. Wie alle Be-

zum 2.Jahrhundert n.Chr. (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium, Bd. 8.) Diss. phil. Trier 1991, 26f. 103 Vgl. Hom. Od. IX,105–565. 104 Vgl. Carl Schneider, Kulturgeschichte des Hellenismus. Bd. 2. München 1969, 464. 105 So spricht z.B. der Autor von „Über die Umwelt“ davon, dass in Skythien die kleinsten und wenigsten Wildtiere leben (vgl. Hippokr. De Aer. 19,1) und sich die Skythen auch deswegen von der Milch von Stuten ernähren, aus der sie sogar Käse herstellen, vgl. De Aer. 18,4. An gleicher Stelle wird gekochtes Fleisch genannt, doch stellt dieses offenbar die einzige Alternative in der Ernährung dar. 106 Die Archäologie hat das Ausmaß des Weinhandels zwischen Gallien und dem Mittelmeerraum, der größtenteils durch Massalia und über die Rhone geleitet wurde, eindrucksvoll nachweisen können. Besonders herausragende Stücke wie der Krater von Vix, der über 1000 Liter fassen konnte, sprechen dafür, dass die Angaben des Poseidonios keineswegs übertrieben sind. Vgl. Hodge, Greek France (wie Anm.3), 214f. 107 Vgl. Diod. V,26,2 = F 116 Jac. = F 169 Theiler. Auch hier scheint sich Poseidonios zumindest nicht auf die in der Nähe Massalias siedelnden Gallier zu beziehen, wenn Diodor schreibt, dass „diejenigen Gallier, die diese Dinge entbehren müssen, ein Gerstengetränk, das ,Zythos‘ genannt wird“ machen. Übers. in Malitz, Historien (wie Anm.8), 186. Im Original heißt es: διόπερ τῶν Γαλατῶν οἱ τούτων τῶν καρπῶν στερισκόμενοι πόμα κατασκευάζουσιν ἐκ τῆς κριθῆς τὸ προσαγορευόμενον ζῦθος.

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wohner des Nordens waren sie von aufbrausendem Temperament und wurden von einer feurigen Leidenschaft (θυμός) gelenkt, so dass sogar ein einfacher Streit um ein Stück Fleisch tödlich enden konnte. 108 Die Anwesenheit von Waffen und Gewalt sowie die Zügellosigkeit und der θυμός der Kelten charakterisieren die Zusammenkunft. Obwohl Poseidonios idealisierende Elemente integriert, bildet das keltische Bankett ein klares Gegenstück zum als gemäßigt und harmonisch verstandenen griechischen Symposion. 109 Poseidonios’ Nachforschungen dienten demnach dazu, die Ethnie der Kelten durch die detailreiche Beschreibung ihrer Sitten nicht nur genauer zu erfassen als dies bisher geschehen war, sondern dieses Bild durch die reichen Ergebnisse eigener Erkundigungen gleichzeitig in die theoretischen Spekulationen über die Völker des Nordens einzuordnen. Beides – die empirisch gesättigte Darstellung ethnographischer nomoi und ihre Ummantelung durch geographisch-klimatische Makrotheorien – bedingte einander und war in der Zeit des Hellenismus nicht mehr voneinander zu trennen. Darüber hinaus fallen Informationen ins Auge, die besonders für die römischen Eliten interessant gewesen sein dürften. So war militärisch-politisches Wissen zwar Bestandteil griechischer Ethnographien, doch stand es nur selten im Mittelpunkt der Untersuchung. Römische Autoren verfolgten dagegen zumeist ein wesentlich pragmatischeres Interesse ohne den gleichen philosophisch-„wissenschaftlichen“ Anspruch der griechischen Gelehrten. 110 Das Keltenbild Roms war von den jahr-

108 Diod. V,28,5 = F 116 Jac. = F 169 Theiler und ausführlicher Athen. p. 154 A–C = F16 Jac. = F 68 EK = F 171a Theiler. Im zweiten Fragment berichtet Poseidonios noch von einem seltsamen Opferungsritual, bei dem sich ein Gallier auf den Rücken seines Schildes legte und sich die Kehle durchschneiden ließ. Vgl. dazu Malitz, Historien (wie Anm.8), 190 Anm.173. Eventuell handelte es sich auch um eine Art Klientelverpflichtung. 109 Eine ausführliche Untersuchung dazu findet sich bei Martin, Viaggiatore (wie Anm.39), 85–96. Der Autor spekuliert an einigen Stellen sehr stark, wenn er etwa behauptet, Poseidonios habe solche Gewaltexzesse persönlich mitangesehen (95), und wird deshalb von Lampinen, Middle Ground (wie Anm.33), 232, gar als unwissenschaftlich bezeichnet. Sein Vergleich des keltischen Banketts mit dem griechischen symposion kann allerdings einige wichtige Unterschiede aufzeigen und wird durch den Hinweis auf Tacitus gestützt: Dieser nennt in seiner Beschreibung germanischer Zusammenkünfte ebenfalls die Anwesenheit von Waffen und Speerträgern (entsprechend der δορυφόροι); Germ. 13,1 und 11,6; vgl. Martin, Viaggiatore (wie Anm.39), 86. 110 Das zeigt sich etwa in den verschiedenen Beschreibungen Norditaliens durch Cato und Polybios: Obwohl Polybios als ehemaliger Militär selbst einer der pragmatischsten Vertreter der griechischen Ethnographie war, tauchen bei ihm deutlich mehr Angaben über das Klima, die Abstammung der Bewohner und

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hundertelangen kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt. 111 Aus der Einnahme der Stadt 390 v.Chr. durch keltische Kriegerbanden erwuchs der metus Gallicus, eine tief verwurzelte Angst vor den Galliern, die zur Zeit des Poseidonios noch durchaus virulent war. 112 Insofern wird die Beschreibung des furchterregenden Erscheinungsbildes der Kelten als hochgewachsen, muskulös und hellblond 113 auch den Erwartungen römischer Leser entsprochen haben. Indem er die Anwesenheit von Waffen, Schildträgern und Leibwächtern bei den Banketten 114 erwähnt, betont Poseidonios die kriegerische Mentalität der Gallier und den hohen Wert, den sie der Tapferkeit zumessen: Der Mächtigste unter ihnen zeichnet sich vor allem anderen durch mutige Taten im Krieg (πολεμικὴ εὐχέρεια) 115 aus. Ihre Bereitschaft, sich aufgrund von Nichtigkeiten bis auf den Tod zu duellieren, unterstreicht diese Furchtlosigkeit. 116 Solcherlei Informationen werden den römischen Amtsträgern bereits durch eigene Mittelsmänner, Händler oder Klientelfürsten zugänglich gewesen sein. 117 Im Gegensatz zu Polybios handelte Poseidonios trotz seiner guten Vernetzung in Rom auch nicht im direkten Auftrag eines römischen Amtsträgers. Doch bot sein Werk

ihre Lebensweise auf. Er bemüht klassische Topoi und schließt an ethnographische Traditionslinien an (Polyb. II,14–17), während Cato (Orig. F 2,1–2,15) diese Informationen bewusst wegfallen lässt und eine reine Nutzenanalyse vorstellt. Bei Iustin/Pompeius Trogus beispielsweise finden sich zwar detaillierte ethnographische Beschreibungen, doch stellen solche Angaben ohne militärisch-politisch-ökonomischen Bezug mit praktischem Nutzen die Ausnahme dar. Vgl. Müller, Ethnologie (wie Anm.75), 322–388. 111 „Echter ethnischer Gegensatz, politisch-militärisches Feindverhältnis und kulturelles Superioritätsbewusstsein verbanden sich in der Beziehung der Römer zu den Kelten, dem Prototyp der nördlichen Barbaren […]“; Dieter Timpe, Rom und die Barbaren des Nordens, in: Meinhard Schuster (Hrsg.), Die Begegnung mit dem Fremden. Wertungen und Wirkungen in Hochkulturen vom Altertum bis zur Gegenwart. (Colloquium Rauricum, Bd. 4.) Stuttgart/Leipzig 1996, 37. 112 Erst Caesar konnte diese ,Furcht‘ ‚überwinden‘, als er ganz Gallien unterwarf. Vgl. Bernhard Kremer, Das Bild der Kelten bis in augusteische Zeit. Studien zur Instrumentalisierung eines antiken Feindbildes bei griechischen und römischen Autoren. Stuttgart 1994, 62–68 und 112–118. 113 Diod. V,28,1–2 = F 116 Jac. = F 169 Theiler. 114 Athen. p. 151F–152C = F 15 Jac = F 67 EK = F 170 Theiler. 115 Athen. p. 152B = F 15 Jac. = F 67 EK = F 170 Theiler. 116 Vgl. Diod. 28,5 = F 116 Jac. = F 169 Theiler und Athen. p. 154 A–C. Neben Waffen tragen sie dabei sogar Rüstungen (ὅπλοις). 117 Ein gutes Beispiel für einen Klientelfürsten Roms bietet Kontoniatus bei Diodor, der sich durch seine Intelligenz und seine Befähigung als Feldherr auszeichnet. Theiler ordnete die Darstellung ebenfalls Poseidonios zu, vgl. Exc. de virt. Et vit. II i p. 313n. 351 = Diod. XXXIV/XXXV,36 = F 183 Theiler. Vgl. auch Malitz, Historien (wie Anm.8), 180, der der Einschätzung Theilers folgt.

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der gebildeten römischen Oberschicht die umfassendste Gesamtdarstellung gallischen Lebens und Charakters. 118 Zudem fügte Poseidonios in seine ethnographischen Beschreibungen Galliens Angaben über die Kimbern und Teutonen ein, deren Feldzüge die römische Welt erst wenige Jahre zuvor erschüttert hatten. Neben der Erwähnung seines Besuches des Schlachtfeldes von Aquae Sextiae 119 behandelte er linguistische Fragen 120, diskutierte ihre Herkunft 121 und den Grund für ihre Wanderung 122 und berichtete über die Anfänge ihres Zuges. 123 Dadurch bot er neues Wissen und gelehrte Spekulationen über eine Gruppe von „Barbaren“ des Nordens, die mit ihrem Vorstoß bis in die Poebene Römer wie Griechen seiner Zeit interessiert haben dürften. 124 Für Poseido-

118 Falls Caesar die poseidonische Schrift konsultierte, passt dies eher in den Kontext der Niederschrift seiner Commentarii als zur Vorbereitung seines Feldzuges. Vgl. dazu vor allem Tierney, Ethnography (wie Anm.44), 211ff. 119 Vgl. Plut. Marius 21,6–8 = F 113 Jac. = F 203 Theiler. 120 So verfolgte er die Theorie, es handele sich bei den Kimbern um die Nachfahren der Kimmerer, vgl. Diod. V,32,3–5 = F 116 Jac. = F 169 Theiler. 121 So etwa in Plut. Marius 11,2–14 = F 191 Theiler. 122 Strab. VII,2,1–2 = F 31 Jac. = F 272EK = F 44a Theiler. 123 Vgl. Strab. VII,2,2 = F 31 Jac. = F 272 EK = F 44a Theiler. Hier beschreibt Poseidonios das Aufeinandertreffen der Kimbern zuerst mit den (nördlichen) Boiern und dann mit den Helvetiern, die beide weit außerhalb römischen Gebietes siedelten. In Exc. de leg. I p. 524 n. 7 = App. Celt. 13 = Test. 10, das von Malitz Poseidonios zugewiesen wird, findet sich eine Darstellung ihres Eindringens in Noricum, das Poseidonios auch zur Kritik am aggressiven römischen Vorgehen des Gnaeus Papirius Carbo nutzte; vgl. dazu Malitz, Historien (wie Anm.8), 215. 124 Gerade seine Berichte über die helvetisch-raetischen Gebiete und Noricum zeigen, dass Poseidonios eine ganze Reihe an Quellen zur Verfügung gestanden haben muss, die sich nicht in griechischen und lateinischen Schriftzeugnissen erschöpft haben können (doch selbst dort war der Nachhall so groß, dass sogar poetische Werke über die Kimbern existierten, vgl. Cic. Arch. 19 = FGrH 186 T 1). Persönliche Gespräche mit kimbrisch-teutonischen Kriegsgefangenen (vgl. Plut. Marius 39,1–2, der z.B. einen Kimbern in Italien erwähnt) oder Kaufleuten (vgl. Malitz, Historien [wie Anm.8], 212 mit Anm.100) könnten durch Nachforschungen vor Ort in Arausio oder bei den betroffenen Stämmen in Südgallien ergänzt worden sein. In Italien kamen noch ein persönliches Gespräch mit Marius (vgl. Plut. Marius 45,3–12 = F 37 Jac. = F 255 EK [hier nur 45,3–7] = F 249 Theiler) und möglicherweise Unterredungen mit seinen römischen Freunden hinzu. So verteidigt (Athen. P. 168 D–E = F 243 Theiler) und lobt (Exc. de virt. Et vit. II i p. 316f. n 357–359 = Diod. XXXVII,5,1–4 = F 213 Theiler) Poseidonios den Konsul des Jahres 105, Publius Rutilius Rufus, während des-

sen Amtszeit die Römer bei Arausio geschlagen wurden, welches der Philosoph durchaus auch besucht haben könnte. In jedem Fall wird Rufus ihm durch seine erhöhten Kompetenzen in diesem Krisenjahr Zugang zu vertraulichen Informationen gewährt haben können. Dessen Geschichtswerk (FGrH 815) wird ihm als schriftliche Quelle gedient haben.

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nios waren die Kimbern zudem Nachfahren der Kimmerer. 125 Auf diese traf bereits Odysseus 126, bevor Herodot sie dann als historisches Nomadenvolk beschrieb, welches in archaischer Zeit Kleinasien verwüstet hatte. 127 Durch diese Zuschreibungen sprach Poseidonios die historischen Interessen seiner Leser 128 an und ließ seine Reise noch einmal relevanter erscheinen. Indem er die brandschatzenden Kimbern den Kelten gegenüberstellte, ordnete er Letztere – anders als seine Vorgänger 129 – in die engere griechisch-römische Welt ein, da sie genauso wie die Römer Opfer eines noch unzivilisierteren Volkes aus weiter nördlichen Gefilden geworden waren. 130 Die ethnographischen Texte des Poseidonios bieten somit eine Fülle neuer Details. Die Kelten werden als Menschen geschildert, die durch das raue Klima des Nordens geprägt waren. Sie befanden sich (noch) nicht auf der Stufe der griechischen „Hochkultur“. Indem er sie mit dem heroischen Zeitalter verglich, drückte er seinen Respekt für die Bewohner Galliens aus, die in stoischem Sinne noch viel stärker mit der Natur in Einklang lebten. Diese Einordnung in den eigenen kulturellen Hintergrund diente auch der Würdigung keltischer Gebräuche: Wenn er zum Schluss seiner Darstellung der Bankette darauf hinweist, dass sie ihre Götter nach rechts gewandt grüßten, dann ist dies eine eindeutige Anspielung auf die gleiche Sitte in

125 Vgl. Diod. V,32,3–5 = F 116 Jac. = F 169 Theiler (ohne 32,4) und Strab. VII,2,2 = F 31 Jac. = F 272 EK = F44a Theiler. Dobesch, Barbaricum (wie Anm.7), 66f., weist auf den großen Einfluss des Poseidonios auf Plutarch in Plut. Marius 11,5–9 hin: Hier werden die Kimbern gar zu einer Großethnie erhoben, von der die Kimmerer nur einen Teil dargestellt hatten. 126 Vgl. Hom. Od. XI,12–19. 127 Vgl. Hdt. I,6,3, IV,11–12 und I,103–106 (Vertreibung durch die Skythen). 128 Vgl. Norden, Urgeschichte (wie Anm.81), 74f., der in den Berichten des Poseidonios über die Kimbern Ähnlichkeiten zu den Kyklopen der Odyssee herausarbeitet. Seit der Übersetzung der Odyssee durch Livius Andronicus werden die homerischen Werke auch den römischen Eliten wohlvertraut gewesen sein. 129 So schloss etwa Polybios den Großteil der Keltiké aus seiner engeren Definition der oikumene aus, die nur solche Gebiete umfasste, die am Ende des 3.Jahrhunderts Teil der symploke wurden, der verflochtenen Geschichte. Vgl. Josephine Crawley Quinn, Imagining the Imperial Mediterranean, in: Bruce Gibson/Thomas Harrison (Eds.), Polybius and His World. Essays in Memory of F. W. Walbank. Oxford 2013, 337–352, hier besonders 337–342. 130 Vgl. auch Dobesch, Barbaricum (wie Anm.7), 72f. und 89ff., zu den Unterschieden zwischen den Kimbern und Teutonen auf der einen und den Kelten Südgalliens auf der anderen Seite. Zum Einfluss von Poseidonios’ Beschreibungen und seiner klimatheoretischen Erklärungen auf alle folgenden Berichte über die Kimbern vgl. Trzaska-Richter, Furor (wie Anm.102), 48–52. Sollte die Zuordnung von Diod. XXXVII,1,5 durch Theiler (F 117) zutreffen, spricht der dortige Vergleich zwischen den Kimbern und den Giganten ebenso für eine Randstellung dieses Volkes, das damit kaum noch zur oikumene gezählt haben dürfte.

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Rom. 131 Poseidonios konstatiert damit eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Völkern, die dafür spricht, dass die Kelten hellenisiert und schließlich auch romanisiert werden konnten. 132

IV. Fazit Die Keltenethnographie des Poseidonios war ein Produkt ihrer Zeit. Die maritime Expansion Roms an den Küsten des westlichen Mittelmeeres entlang hatte sein Interesse auf diese Gebiete gelenkt, und die Einrichtung der Provinz Gallia Narbonensis bot die nötige Infrastruktur und Sicherheit, um das Landesinnere zu bereisen. Für ihn selbst war die Unternehmung gleichermaßen Teil seiner geographischen, naturkundlichen, philosophischen und historischen Arbeit. Mit seinem Werk trug Poseidonios entscheidend zur Erforschung der äußersten Ränder der oikumene bei. Im Gegensatz zu ethnographisch interessierten Schreibtischgelehrten wie Agatharchides oder Strabon 133 erwarb er seine Informationen dabei zu einem großen Teil aus der Autopsie. Das philosophische und ethnographische Vorwissen des Poseidonios beeinflusste jedoch die Verarbeitung dieser neuen Kenntnisse. Dies zeigt sich besonders dort, wo er die Kelten und ihre Sitten mit seinen Lesern bekannten Beispielen aus der griechischen Kultur vergleicht. Als typischer Vertreter der hellenistischen Ethnographie hatte Poseidonios danach gestrebt, seine Vorgänger zu übertreffen und seine persönliche (stoische) Weltsicht durch die Früchte eigener Beobachtung zu untermauern. Dies gelang ihm, indem er die detailreichen Ergebnisse seiner Forschung in die intellektuellen Kontexte seiner Zeit einbettete. Damit genügte er den Ansprüchen der hellenistischen Geisteswelt und prägte das Bild von den Kelten bis heute entscheidend mit.

131 Vgl. Malitz, Historien (wie Anm.8), Anm.164. 132 Dies war eine Möglichkeit, auf die Poseidonios schon angespielt hatte, als er sie Brot essen ließ, und die zu der Meinung passt, er habe die keltische Lebenswelt festhalten wollen, bevor ihre Traditionen durch die Romanisierung für immer verlorengingen. 133 In Bezug auf den Norden.

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Kaufleute als Ethnographen Die Berichte über die Expeditionen zu den Kanarischen Inseln und an die Küste Westafrikas des 14. und 15.Jahrhunderts von Benjamin Scheller

Dieser Beitrag analysiert zwei spätmittelalterliche Berichte über italienisch-iberische Seeexpeditionen entlang der westafrikanischen Küste auf ihren ethnographischen Gehalt. Im Zentrum steht die Frage, welche Aspekte der Fremdbeobachtung diese Berichte prägen und inwieweit ihr Blick auf die Landschaft und Küstenvölker durch die Herkunft und die Ziele der Reisenden als Kaufleute gelenkt wurde. In diesem Kontext geht es auch darum, die Bezüge auf antike Autoren (Plinius) mit der zeitgenössischen Empirie abzugleichen und zu klären, inwieweit „Kaufmannsethnographie“ neue Interessen und Modelle entwickelte, die sich aus den pragmatischen Zielen des Fernhandels ergaben. Eine Schlüsselfunktion kommt dabei offenbar dem Sklavenhandel zu. Die seefahrenden Händler benötigten ein Kontaktsystem, welches das instrumentelle Wissen des Kaufmanns mit dem kategorialen Wissen des Diplomaten verband.

I. Einleitung Zum Jahr 1291 vermeldeten die Annalen von Genua ein bemerkenswertes Unternehmen: „In demselben Jahr schickten sich Tedisio Doria, Ugolino Vivaldi und dessen Bruder zusammen mit einigen anderen Bürgern Genuas an, eine Fahrt zu unternehmen, wie sie bis dahin noch kein anderer gewagt hatte: Sie rüsteten nämlich zwei Galeeren aufs trefflichste aus, versahen sie mit Proviant, Wasser und sonstigem Bedarf und sandten sie im Monat Mai in Richtung der Meerenge von Ceuta aus, damit sie durch den Ozean nach den Gestaden Indiens führen, um von dort gewinnversprechende Handelsgüter zu holen. An Bord begaben sich auch die besagten beiden Brüder Vivaldi selbst sowie zwei Minderbrüder. Dies dünkte freilich nicht nur denen wunderbar, die es selber sahen, sondern auch denen, die [nur] davon hörten. Und seitdem sie die Stelle, die Gozora (Kap Juby, an der Westküste Marokkos) heißt, passiert haben, ist keine sichere Kunde mehr von ihnen zu uns gelangt. Der Herr aber möge sie behüten und sie gesund und unversehrt in die Heimat zurückkehren lassen.“ 1

1 Annali Genovesi di Caffaro e de’ suoi continuatori dal 1280 al 1293. A cura di Cesare Imperiale. (Fonti

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110670547-015

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Die Hoffnung des Annalisten erfüllte sich nicht. Die Schiffe kehrten nicht zurück, sondern blieben verschollen. Die Expedition der Gebrüder Vivaldi von 1291 war also offenkundig ein Fehlschlag, dennoch markiert sie eine historische Zäsur. Denn es handelt sich bei ihr um den Auftakt der europäischen Expansion in den Atlantik entlang der Küsten Afrikas, die mit der Entdeckung der Südpassage nach Indien durch Vasco da Gama 1497 ihren Abschluss fand. Ihre Protagonisten waren bis zum Ende des 14.Jahrhunderts vor allem italienische Seeleute in Diensten der iberischen Königreiche Portugal, Kastilien und Aragòn, seit Beginn des 15.Jahrhunderts dann portugiesische Kapitäne, die jedoch die italienischen Seefahrer bis zur Mitte des 15.Jahrhunderts nicht völlig verdrängten. 2 Diese beziehungsweise einige von ihnen waren es auch, die ein neues, ganz eigenes Kapitel in der Geschichte der mittelalterlichen Ethnographie schrieben. Die Mitglieder der italienisch-iberischen Atlantikexpeditionen entlang der Küsten Afrikas stießen dort auf „previously unsuspected societies of pagan ‚primitives‘“, und zwar bereits im 14.Jahrhundert auf die der Ureinwohner der Kanarischen Inseln und seit ca. der Mitte des 15.Jahrhunderts auf die der Schwarzen des subsaharischen Afrikas. 3 Zwar sind nur wenige Berichte über die Expeditionen des

per la Storia d’Italia, 14.) Vol.5. Rom 1929, 124: „Eodem quippe anno, Thedisius Aurie, Ugolinus de Viualdo, et eius frater cum quibusdam aliis ciuibus Ianue, ceperunt facere, quoddam uiagium, quod aliquis usque nunc facere minime attemptauit. nam armauerunt optime duas galeas, et uictualibus, aqua et aliis necessariis eis impositis, miserunt eas de mense madii de uersus strictum Septe, ut per mare occeanum irent ad partes Indie mercimonia utilia inde deferentes. in quibus iuerunt dicti duo fratres de Viualdo personaliter, et duo fratres Minores; quod quidem mirabile fuit non solum uidentibus sed etiam audientibus. et postquam locum qui dicitur Gozora transierunt, aliqua certa noua non habuimus de eis. Dominus autem eos custodiat, et sanos et incolumes reducat ad propria.“ Deutsche Übersetzung nach Charles Verlinden/Eberhard Schmitt (Hrsg.), Die mittelalterlichen Ursprünge der europäischen Expansion. (Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, 1.) München 1986, 43f.; zur Reise der Gebrüder Vivaldi vgl. ebd.40– 43; Gilliam Moore, La spedizione dei fratelli Vivaldi e nuovi documenti d’archivio, in: Atti della Società Ligure di Storia Patria NS.12, 1972, 387–402; Alberto Magnaghi, Precursori di Colombo? Il tentativo di viaggio transoceanico dei genovesi fratelli Vivaldi nel 1291. (Memorie della reale società geografica italiana, Vol. 17.) Rom 1935; Georg Heinrich Pertz, Der älteste Versuch zur Entdeckung des Seewegs nach Ostindien im Jahre 1291. Berlin 1851. 2 Luisa d’Arienzo, L’apertura delle rotte atlantiche nell’età delle scoperte. La partecipazione italiana, in: Dino Puncuh (Ed.), L’uomo e il mare nella civiltà occidentale: da Ulisse a Cristoforo Colombo. Atti del Convegno Genova, 1–4 giugno 1992. Genua 1993, 363–378. 3 Felipe Fernández-Armesto, Before Columbus. Exploration and Colonisation from the Mediterranean to the Atlantic, 1229–1492. Philadelphia 1987, 7; vgl. auch David Abulafia, The Discovery of Mankind. Atlantic Encounters in the Age of Columbus. New Haven/London 2008.

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14. und 15. Jahrhunderts überliefert, doch zeichnen sich diese durch bemerkenswert detaillierte Beschreibungen der fremden Menschen aus, denen die Mitglieder der Expeditionen begegneten: ihrer äußeren Erscheinung und Sprachen, ihrer sozialen Praktiken, Religion und Formen politischer Herrschaft. Die Forschung hat die besondere ethnographische Qualität der Berichte über die italienisch-iberischen Expeditionen zu den Kanarischen Inseln und den Küsten des subsaharischen Afrika immer wieder darauf zurückgeführt, dass ihre Verfasser Kaufleute waren. 4 John Kenneth Hyde hat von einer regelrechten „Kaufmanns-Ethnographie“ gesprochen. Denn es habe nun vermehrt ethnographische Berichte („ethnographic accounts“) gegeben, die von Kaufleuten verfasst wurden. 5 Peter Russell wiederum hat darauf hingewiesen, dass die Fernhändler, die im 15.Jahrhundert über Afrika berichteten, zwar alle die Absicht gehabt hätten, „to inform fellow merchants in Europe about the new opportunities open to them in Guinea“, das von ihnen produzierte Wissen habe sich jedoch keineswegs darin erschöpft. 6 Allerdings wirft die Entstehung einer Kaufmannsethnographie im Kontext der italienisch-iberischen Expeditionen des 14. und 15.Jahrhunderts mehr Fragen auf, als sie Erklärungen liefert. Selbst wenn man davon ausginge, dass die Kaufleute ohne das „kulturelle Gepäck“ der Denkweisen und des Wissens der Gelehrten reisten und ihre Wahrnehmung deshalb weniger durch Vorwissen geprägt und dadurch stärker auf eigener Erfahrung und Beobachtung beruhte, und das wäre sicherlich eine Verkürzung, so versteht es sich doch keinesfalls von selbst, dass diese Beobachtungen sich auf die Eigenheiten unbekannter Völker, Kulturen und Gesellschaften richteten und in Berichten schriftlich festgehalten und überliefert wurden. 7

4 Stéphane Boissellier, Les nouvelles humanités vues par les explorateurs occidentaux au XVe siècle: aux origines de l’ethnographie?, in: Homenaje al Professor Carlos Posac. Vol.2. Ceuta 1998, 59–79. 5 John Kenneth Hyde, Ethnographers in Search of an Audience, zuletzt in: Joan-Pau Rubiés (Ed.), Medieval Ethnographies. European Perceptions of the World beyond. (The Expansion of Latin Europe, 1000–1500.) Farnham/Surrey 2009, 65–119, hier 102. 6 Peter Russel, Veni, vidi, vici. Some Fifteenth-Century Eyewitness Accounts of Travel in the African Atlantic before 1492, zuletzt in: Rubiés (Ed.), Medieval Ethnographies (wie Anm.5), 315–328, hier 322. 7 Boisselier, Nouvelles humanités (wie. Anm.4), 61.

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II. Kontaktsysteme und Wissenstypen im späten Mittelalter Zahlreiche Kaufleute aus den italienischen Seerepubliken Pisa, Genua und Venedig bereisten im 13. und 14.Jahrhundert das mongolische Großreich. Dennoch verdanken wir die zeitgenössischen Berichte über die Mongolen und ihre Kultur und Gesellschaft nicht ihnen, sondern Missionaren und Gesandten. 8 Die „Pratica della Mercatura“ des Florentiner Kaufmanns Francesco Pegolotti aus der Zeit um 1338 enthält bezeichnenderweise kein ethnographisches Wissen, sondern beschränkt sich auf die Schilderung von Handelswegen durch Zentralasien, auf Waren, Wechselkurse und Zölle. 9 Marco Polos „Divisament dou Monde“ enthält zwar detaillierte Beschreibungen der Menschen, mit denen der Kaufmann aus Venedig im Reich des Großkhans und auf seiner Reise dorthin in Berührung gekommen war, sowie ihrer Sitten und Bräuche. Polos Beobachtungen sind jedoch bekanntlich nicht von ihm selbst verschriftlicht worden, sondern von Rustichello da Pisa. Und es spricht einiges dafür, dass sie niemals niedergeschrieben worden wären, wenn es nicht 1298 im Gefängnis zu Genua zu einer Zufallsbegegnung zwischen dem Kaufmann Polo und dem Literaten Rustichello gekommen wäre. 10 Ob und wie Reisende im späten Mittelalter die Beobachtungen, die sie auf ihren Reisen machten, verschriftlichten und welche Rolle hierbei die Beschreibung der Menschen, mit denen sie in Kontakt traten, und ihrer äußeren Erscheinung, ihrer Sprachen, sozialen Praktiken, Religion und Formen politischer Herrschaft spielte, hing nämlich in erheblichem Maße von der Struktur des Kontaktes ab. 11

8 So bereits Robert Sabatino Lopez, European Merchants in the Medieval Indies. The Evidence of Commercial Documents, in: Journal of Ecclesiastical History 3, 1943, 164–184, hier 168; vgl. Marina Münkler, Erfahrung des Fremden. Die Beschreibung Ostasiens in den Augenzeugenberichten des 13. und 14.Jahrhunderts. Berlin 2000, 62. 9 Francesco Balducci Pegolotti, La Pratica della Mercatura. Ed. by Allan Evans. Cambridge, MA 1936 (Ndr. New York 1970); vgl. Carlo Milan/Rudolf Stünkel, Einige wissenswerte Dinge für Kaufleute, die nach Cathay reisen wollen, in: Verlinden/Schmitt (Hrsg.), Die mittelalterlichen Ursprünge der europäischen Expansion (wie Anm.1), 117–119. 10

Marina Münkler, Marco Polo. Leben und Legende. München 1998, 64; vgl. hierzu F. Regina Psaki, The

Book’s Two Fathers. Marco Polo, Rustichello da Pisa, and Le Devisement du Monde, in: Medievalia 32, 2011, 69–97. 11

Volker Rittner, Kulturkontakt und soziales Lernen im Mittelalter. Kreuzzüge im Lichte einer mittelal-

terlichen Biographie. (Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel im Mittelalter, Bd. 1.) Köln/Wien 1973; Münkler, Erfahrung des Fremden (wie Anm.8), 19f.

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Marina Münkler hat am Beispiel der Kontakte zwischen Europa und Ostasien im späten Mittelalter drei Kontaktsysteme unterschieden, die mutatis mutandis auch die Kontakte zwischen der iberischen Halbinsel, den italienischen Seerepubliken und der südostatlantischen Welt im 14. und 15.Jahrhundert strukturierten: Diplomatie, Mission und Fernhandel. Mit ihnen korrespondierten drei verschiedene Typen des Wissens über andere Völker, Kulturen und Gesellschaften: kategoriales Wissen (Diplomatie), operatives Wissen (Mission) und instrumentelles Wissen (Fernhandel). Dabei unterscheiden sich die drei Typen des Wissens zum einen hinsichtlich ihrer Inhalte und zum anderen in Bezug auf ihre Medialität. 12 Im Rahmen diplomatischer Kontakte war es notwendig, in die Sinnsysteme eines fremden Gegenübers zumindest insoweit einzudringen, dass seine Interessen und Ziele eingeschätzt werden konnten. Kategoriales Wissen thematisierte daher jene Eigenschaften von Menschen, Völkern, Gesellschaften oder Kulturen, die als bezeichnend für diese erschienen, und überführte sie in ein Feld geordneter Aussagen, das diese bezeichnenden Phänomene organisiert. Das Medium, über das kategoriales Wissen typischerweise vermittelt und verbreitet wurde, war der schriftliche Bericht, der an den Auftraggeber des Gesandten gerichtet war. Die Mission wiederum brachte operatives Wissen hervor. Dieses stellt letztlich einen Untertyp des kategorialen Wissens dar, der an dieser Stelle vernachlässigt werden kann. Der Fernhandel schließlich produzierte instrumentelles Wissen, das durch unmittelbare Nützlichkeitserwägungen und pragmatische Handlungsimperative bestimmt war. Für den Fernhandel war es in der Regel nicht nötig, die Sinnsysteme einer fremden Gesellschaft oder Kultur zu erfassen und sie anderen Akteuren innerhalb des Kontaktsystems durch schriftliche Berichte zu vermitteln. Denn der Kulturkontakt funktionierte hier normalerweise auch ohne eine verstehende Durchdringung von Sinnsystemen relativ problemlos. Wichtig war in erster Linie die Kenntnis der Produkte und der Institutionen, die für den Handel relevant waren. Kulturelle Sinnsysteme waren allenfalls dann von Interesse, wenn Regelverstöße gegen kulturelle Normen das Risiko von Sanktionen bargen. Aufgrund seiner Orientierung an unmittelbaren Nützlichkeitserwägungen und den Handlungsimperativen kaufmännischer Praxis musste das Wissen zudem ständig angepasst werden, wenn die Verhältnisse sich änderten. Kaufmännisches Wis-

12 Hierzu und zum Folgenden: Münkler, Erfahrung des Fremden (wie Anm.8), 19.

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sen über fremde Kulturen und Gesellschaften wurde daher in der Regel im Medium des Briefes vermittelt beziehungsweise – noch ephemerer – in direkter mündlicher Kommunikation. Diese vollzog sich dabei ausschließlich innerhalb der engen Kreise von Geschäftspartnern und Firmenangehörigen, um keine Wissensvorsprünge gegenüber Konkurrenten preiszugeben. Stellt man dies in Rechnung, dann stellt sich die Frage nur umso schärfer, warum beziehungsweise inwiefern die Fernhändler des 14. und 15.Jahrhunderts im Zuge der iberisch-italienischen Expansion entlang der atlantischen Küsten Afrikas begannen, als Ethnographen hervorzutreten. Dem soll im Folgenden anhand von zwei Texten nachgegangen werden, die wie keine anderen für die neue kaufmännische Ethnographie stehen, die sich seit dem 14.Jahrhundert auf dem Atlantik entwickelte. Der erste ist ein Text, der unter dem Titel „De Canaria et insulis reliquis ultra Ispaniam in Oceano noviter repertis“ überliefert ist und auf die Mitte des 14.Jahrhunderts datiert werden muss. 13 Er dokumentiert die Erfahrungen, welche die Mitglieder einer genuesisch-kastilisch-portugiesischen Expedition zu den Kanaren 1341 unter der Leitung des Genuesen Niccolò da Recco auf den Inseln machten. 14 Der zweite Text ist der Augenzeugenbericht des Venezianers Alvise Cadamosto über seine zwei Reisen nach Westafrika in den Jahren 1455 und 1456, die sogenannten „Navigazioni Atlantiche“. Zwischen den beiden Texten bestehen erhebliche Unterschiede, deren offenkundigster ihr sehr unterschiedlicher Umfang ist: Während „De Canaria“ ein kurzer Text ist, der in der modernen Edition gerade einmal fünf Seiten umfasst, hat Cadamostos Reisebericht in dieser 129 Seiten. Darüber hinaus unterscheiden sich die Texte auch hinsichtlich ihrer Form, ihrer Überlieferung und ihrer Rezeption, was ihnen in der Geschichte

13

Giovanni Boccaccio, De Canaria. Ed. Manlio Pastore Stocchi, in: Tutte le opere di Giovanni Boccaccio. A

cura di Vittore Branca. (I Classici Mondadori, Vol.5/1.) Mailand 1992, 963–986; vgl. die deutsche Übersetzung in: Verlinden/Schmitt (Hrsg.), Die mittelalterlichen Ursprünge der europäischen Expansion (wie Anm. 1), 47–53. 14

Vgl. hierzu Martial Staub, Die ‚Wiederentdeckung‘ der Kanarischen Inseln. Kolonialität und neue

Weltsicht, in: Andreas Speer/David Wirmer (Hrsg.), 1308. Eine Topographie historischer Gleichzeitigkeit. (Miscellanea Medievalia, 35.) Berlin 2010, 27–40; David Abulafia, Neolithic Meets Medieval. First Encounters in the Canary Islands, zuletzt in: Rubiés (Ed.), Medieval Ethnographies (wie Anm.5), 291–314; Hans-Joachim Ulbricht, Die Entdeckung der Kanaren vom 9. bis zum 14.Jahrhundert. Araber, Genuesen, Portugiesen, Spanier, in: Almogaren 20, 1989, 60–138, hier 83–87; Klaus Herbers, Die Eroberung der Kanarischen Inseln – ein Modell für die spätere Expansion Portugals und Spaniens nach Afrika und Amerika?, zuletzt in: Gordon Blennemann/Wiebke Deimann/Matthias Maser/Christofer Zwanzig (Hrsg.), Pilger, Päpste, Heilige. Ausgewählte Aufsätze zur europäischen Geschichte des Mittelalters. Tübingen 2011, 199–235.

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der spätmittelalterlichen Ethnographie einen unterschiedlichen Rang und für die gewählte Fragestellung ein unterschiedliches Gewicht verleiht. Dennoch bestehen zwischen beiden Texten erstaunliche Parallelen hinsichtlich des kaufmännischen Willens zum Wissen, der in ihnen artikuliert wird.

III. Insulaner, gefangen im anthropologischen Blick: „De Canaria et insulis reliquis ultra Ispaniam in Oceano noviter repertis“ (1341) „De Canaria“ beruht auf Briefen, die Florentiner Kaufleute, die in Sevilla ansässig waren, im November 1341 in ihre Heimatstadt geschickt hatten; der Text ist im sogenannten „Zibaldone Magliabechiano“ überliefert, einem Codex, in dem Giovanni Boccaccio fremde und eigene Texte aufgezeichnet hat. 15 Boccaccios Vater hatte in Diensten der Florentiner Gesellschaft der Bardi gestanden und seinen Sohn im Alter von 14 Jahren zur Ausbildung in deren Filiale in Neapel geschickt. 16 Die Bardi hatten im 14.Jahrhundert auch eine Filiale in Sevilla. Man geht daher davon aus, dass Boccaccio durch seine persönlichen Beziehungen zu den Florentiner Kaufleuten in Sevilla an die Briefe gelangt ist, auf denen „De Canaria“ beruht. 17 In die Briefe wiederum ging auch mündlich kommuniziertes Wissen ein, denn es heißt, dass der Leiter der Expedition, Niccolò da Recco, bestimmte Angaben auf Nachfrage gemacht beziehungsweise sich geweigert habe, den Fragenden weiterführende Auskünfte zu geben. 18 Unter dem Gesichtspunkt der Produktion ethnographischen Wissens besteht eine gewisse Analogie zwischen „De Canaria“ und dem „Divisament dou Monde“ des Marco Polo. Denn auch hier war es offenkundig ein Literat, der den Kaufmann beziehungsweise die Kaufleute zum Sprechen brachte. Ähnlich wie bei Marco Polo ist

15 Boccaccio, De Canaria (wie Anm.13), 966; Manlio Pastore Stocchi, Il „De canaria“ boccaccesco e un locus deperditus nel „De Insulis“ di Domenico Silvestri, in: Rinascimento 10, 1959, 143–156, hier 143. 16 Natalino Sapegno, Art.„Boccaccio, Giovanni“, in: Dizionario Biografico degli Italiani. Vol.10. Rom 1968, online: http://www.treccani.it/enciclopedia/giovanni-boccaccio [Dizionario-Biografico]/. 17 Abulafia, Neolithic Meets Medieval (wie Anm.14), 305. 18 Boccaccio, De Canaria (wie Anm.13), 970, 976.

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daher auch immer wieder die Frage diskutiert worden, wie sehr der kaufmännische Bericht durch den Literaten überarbeitet oder überformt worden ist. 19 Offenkundig ist, dass Boccaccio die Briefe, auf denen sein Text beruhte, aus dem Volgare ins Lateinische übersetzte. 20 Damit wechselte auch die Perspektive von der ersten Person, in der Kaufmannsbriefe üblicherweise geschrieben waren, in die dritte Person. Zweifelhaft sind dagegen inhaltliche Eingriffe und Zusätze, die man aufgrund vermeintlicher Parallelen zum Bericht über die „Fortunatae Insulae“ in der Naturgeschichte des älteren Plinius postuliert hat. 21 Denn die Parallelen erscheinen deutlich weniger signifikant als die Unterschiede zwischen beiden Texten. Eindeutig auf Plinius zurück geht allein der Name „Canaria“ für die größte Insel des Archipels. Die anderen Inseln jedoch bleiben anders als bei Plinius namenlos. Vor allem aber bezeichnet Boccaccio die Inseln in ihrer Gesamtheit nicht als die „Fortunatae Insulae“, sondern als „Inseln, die wir gemeinhin die (wieder-)gefundenen nennen“. 22 Damit weicht er signifikant vom Sprachgebrauch anderer zeitgenössischer und späterer Autoren ab. Francesco Petrarca etwa, der ebenfalls Kenntnis von Expeditionen zu den Kanarischen Inseln hatte und eventuell auch die Briefe kannte, auf denen der Text in Boccaccios „Zibaldone“ beruhte, erwähnte das Leben der Bewohner der Kanaren in seiner „Vita solitaria“ als ein Beispiel für eine solche, bezeichnet die Inseln in ihrer Gesamtheit dabei aber mit dem aus der Antike überlieferten Namen. 23 Sprachliche Entlehnungen aus dem Bericht des älteren Plinius sind in „De Canaria“ nicht auszumachen. Inhaltliche Parallelen bestehen nur darin, dass in beiden Texten die Rede davon ist, dass es auf einer der Inseln häufig regnete und dass auf der Insel, die als Canaria bezeichnet wird, Dattelpalmen wüchsen. 24 Als Belege für Intertextualität taugen diese jedoch nicht. Überhaupt überwiegen die inhaltlichen Un-

19

Giorgio Padoan, Petrarca, Boccaccio e le Canarie, in: Italia Medievale e Umanistica 7, 1964, 264–277; Hy-

de, Ethnographers in Search of an Audience (wie Anm.5), 102f.; Abulafia, Neolithic Meets Medieval (wie Anm.14), 306–308. 20

Boccaccio, De Canaria (wie Anm.13), 967; Andrea Bocchi, Appunti di lettura sul „De Canaria“, in: Anto-

nio Ferracin (Ed.), Giovanni Boccaccio. Udine 2014, 189–198, hier 192f.; Pastore Stocchi, Il „De canaria“ (wie Anm.15), 144. 21

C. Plinius Secundus der Ältere, Naturkunde. Hrsg. u. übers. v. Kai Brodersen. Buch VI: Geographie: Asien.

Zürich 1996, xxxvii, 202–205; Abulafia, Neolithic Meets Medieval (wie Anm.14), 306. 22

Boccaccio, De Canaria (wie Anm.13), 970: „eas insulas quas vulgo repertas dicimus“.

23

Francesco Petrarca, De Vita Solitaria. Buch I. Kritische Textausgabe und ideengeschichtlicher Kom-

mentar v. Karl A. E. Enenkel. (Leidse Romantische Reeks, Deel 24.) Leiden 1990. 24

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Plin. Nat. Hist. (wie Anm.21), xxxvii, 202, 205.

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terschiede zwischen den beiden Berichten. Diese betreffen bereits die Angaben über die Entfernung der Inseln vom iberischen Festland (750 Meilen ab Cádiz bei Plinius, 900 Meilen ab Cabo de São Vicente bei Boccaccio), die Anzahl der Inseln (sechs, allesamt unbewohnt bei Plinius, dreizehn, von denen sechs bewohnt seien, bei Boccaccio) und vor allem sämtliche Angaben zu Aussehen, Sprache und sozialen Praktiken der Inselbewohner, denn von solchen ist in der Naturgeschichte des älteren Plinius ja überhaupt nicht die Rede. Andrea Bocchi hat den Text von „De Canaria“ unlängst einer minutiösen Analyse unterzogen und betont, dass diesem jedwede rhetorische Einrahmung und metatextuelle Reflexion abginge und er keinerlei Informationen enthielte, die nicht sinnvollerweise in Kaufmannsbriefen enthalten sein müssten. Der Übersetzer habe nur den ersten Absatz hinzugefügt, mit dem der Text mit den Worten eingeleitet wird: „Im Jahre 1341 seit der Fleischwerdung des Wortes gelangten Briefe von Florentiner Kaufleuten, die sich in Sevilla, einer Stadt in Spanien jenseits [des Ebro] (Hispanie Ulterioris), niedergelassen hatten, nach Florenz, welche am 14.November des bereits genannten Jahres abgefaßt worden waren und in denen das, worüber wir im Folgenden sprechen werden, berichtet wird.“ 25

Der Text von „De Canaria“ in Boccaccios Codex enthält Schreib- und Grammatikfehler und bricht an seinem Ende abrupt ab. Es spricht also vieles dafür, dass es sich bei ihm um eine rohe Überarbeitung des Materials handelte, das Boccaccio in Form der Kaufmannsbriefe aus Sevilla vorlag, die letztlich fragmentarisch blieb. 26 Diese scheint im Spätmittelalter nur wenigen humanistischen Gelehrten bekannt gewesen zu sein, von denen sich zwei nachweislich auf „De Canaria“ bezogen: Domenico Silvestri in „De Insulis et earum Proprietatibus“ (geschrieben zwischen 1385 und 1406) und Domenico Bandino in seinem „Pons Memorabilium Universi“ (zwischen 1374 und 1418). 27 Größere Verbreitung fand der erste Bericht über die Kanarischen Inseln und ihre Bewohner erst, nachdem er 1827 erstmals durch Sebastiano Ciampi nach der Handschrift ediert wurde. 28 25 Boccaccio, De Canaria (wie Anm.13), 970: „Anno ab incarnato Verbo mcccxli a mercatoribus florentinis apud Sobiliam, Hispanie Ulterioris civitatem, morantibus, Florentiam lictere allate sunt ibidem clause xvii Kal. decembris anno iam dicto, in quibus que disseremus inferius continentur.“ Übersetzung hier und im Folgenden nach Verlinden/Schmitt (Hrsg.), Ursprünge (wie Anm. 1), 48–53. 26 Ebd.968; Bocchi, Appunti di lettura (wie Anm.20), 190. 27 Hyde, Ethnographers (wie Anm.5), 105. 28 Sebastiano Ciampi, Monumenti d’un manoscritto autografo di Messer Gio. Boccaccio da Certaldo. Florenz 1827, 53–59.

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„De Canaria“ hat im Kern die Form eines chorographischen Berichts, das heißt, die Erzählstruktur des Textes orientiert sich grob an der geographischen Ordnung einer Reiseroute. Diese wird an einer Stelle durch einen resümierenden Einschub unterbrochen und ist außerdem zu Beginn und an ihrem Ende durch Passagen gerahmt, die ebenfalls resümierenden Charakter haben: hinsichtlich von Zusammensetzung, Ziel und Ergebnis der Expedition. Ausführliche ethnographische Passagen enthält der Text sowohl im Rahmen der Chorographie als auch in der abschließenden, bilanzierenden Passage. Der chorographische Kern des Berichts beginnt mit der ersten Insel, welche die Expeditionsteilnehmer erreichen, und schildert, wie diese von dort aus zu fünf weiteren Inseln kommen. An fünf der sechs Inseln, die beschrieben werden, gingen Teilnehmer der Expedition an Land. Bei der sechsten und letzten Insel jedoch, bei der es sich offensichtlich um Teneriffa handelte, schreckte sie das vulkanische Geschehen am Pico del Teide davon ab: „Sie berichten nämlich, auf dieser gäbe es einen Berg, nach ihrer Schätzung von einer Höhe von 30 Meilen oder mehr, den man aus weiter Ferne sehen kann. Und auf seinem Gipfel zeigte sich etwas Weißes. Und da der ganze Berg felsig war, schien das Weiße die Form einer Burg zu haben; doch glaubten sie, es handele sich nicht um eine Burg, sondern um einen einzigen zinnenreichen Felsstock, auf dessen Spitze ein Mast so groß wie der Mastbaum eines Schiffes sichtbar ist. Daran befestigt hängt eine Rahe mit einem großen Lateinersegel, das wie ein Schild wirkt, wenn es [teilweise] eingeholt ist, welches gehisst sich im Winde bläht und sich sehr weit entfaltet; dann scheint es allmählich zu erschlaffen; und auf die gleiche Weise richtet sich zuerst der Mast wie bei einem Kriegsschiff wieder auf, und so geht es unaufhörlich weiter; diesen Vorgang konnte man von allen Seiten bei der Umrundung der Insel beobachten. In dem Glauben, die Erscheinung werde durch Zauberei hervorgerufen, wagten sie nicht, diese Insel zu betreten.“ 29

29

Boccaccio, De Canaria (wie Anm.13), 976: „Invenerunt insuper et aliam insulam in quam non descen-

derunt, nam ex ea mirabile quoddam apparet. Dicunt enim in hac montem existere altitudinis pro existimatione xxx m. passuum seu plurimum qui valde a longe videtur et apparet in eius vertice quoddam album; et cum omnis lapideus mons sit, album illud videtur formam arcis cuiusdam habere: attamen non arcem, sed lapidem unum acutissimum arbitrantur, cuius apparet in summitate malus, magnitudinis in modum mali cuiusdam navis, ad quem appchensa pendet antenna cum velo magne latine navis in modum scuti retracto, quod in altitudinem tractum tumescit vento et extenditur plurimum, deinde paulatim videtur deponi, et similiter malus in morem longe navis; demum ergitur et sic continue agitur, quod undique

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Inwieweit die Reihenfolge der Inseln in „De Canaria“ der tatsächlichen Route der Expedition entspricht, ist kaum nachzuvollziehen. Nur zwei der beschriebenen Inseln lassen sich identifizieren, Gran Canaria und Teneriffa. Die Reihenfolge, in der diese „De Canaria“ zufolge erreicht wurden, erscheint wenig plausibel. Um Gran Canaria handelt es sich offensichtlich bei der zweiten Insel, welche die Expedition ansteuert, bei Teneriffa um die sechste und letzte. Beide Inseln liegen nur 35 Seemeilen (circa 65 km) Luftlinie voneinander entfernt. Da die Schiffe der Expedition Gran Canaria umrundeten, wie es in „De Canaria“ heißt, hätten die Expeditionsteilnehmer Teneriffa zumindest am Horizont sehen müssen. Der Vulkan Pico del Teide auf Teneriffa war zum Zeitpunkt der Reise offensichtlich aktiv, und so erscheint es wenig plausibel, dass sie nicht direkt nach Teneriffa weitersegelten, um das wundersame Naturphänomen genauer in Augenschein zu nehmen, sondern zunächst drei andere Inseln ansteuerten. Offenkundig bildet die Reiseroute in „De Canaria“ also vor allem ein formales Erzählschema, das die geographische Beschreibung der Inseln mit dem Anspruch verknüpft, das reale Erleben der Expeditionsteilnehmer zu schildern. Nach der Beschreibung der fünften Insel wird der Bericht gewissermaßen durch ein chorographisches Resümee unterbrochen, das die Inselgruppe als Ganze beschreibt. Hier werden vor allem navigatorische Aspekte thematisiert, wie man sie aus spätmittelalterlichen Portolanen kennt: Die See sei ruhig, der Meeresboden zum Ankern geeignet, es gebe wenige (Natur-)Häfen, jedoch reichlich Möglichkeiten, sich mit Wasser zu versorgen. Außerdem – so der Bericht – habe die Expedition insgesamt dreizehn Inseln angelaufen, also neben den sechs, deren Beschreibung Eingang in den chorographischen Bericht fand, noch sieben weitere, die in diesem unerwähnt bleiben, obwohl drei von ihnen diesem zufolge bewohnt waren. Denn es heißt, dass sechs der dreizehn Inseln bewohnt waren, und zwar unterschiedlich dicht. Nur bei drei der sechs Inseln jedoch, die beschrieben werden, ist die Rede von Bewohnern. Von der fünften Insel wird dabei nur gesagt, dass sie bewohnt sei, bei der ersten Insel, dass die Bewohner nackt seien und „von rohen Sitten und Gebräuchen“ („asperis cultu et ritu“) zu sein schienen. 30 Ausführlicher beschrieben werden nur die Bewohner von Gran Canaria, der zweiten Insel, an der die Expedition landete. Hier kam es dem Text zufolge zu einer Begegnung zwischen den Expeditionsteilneh-

circumdantes insulam fieri advertere. Quod monstrum cantatis fieri carminibus arbitrantes, in eandem insulam descendere ausi non sunt.“ 30 Ebd.970.

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mern und der Inselbevölkerung in vier Schritten: Zunächst beobachteten die Portugiesen, Kastilier, Florentiner und Genuesen von ihren Schiffen aus „eine ungeheure Menge von Leuten“ („quantitatem gentium maximam“), die am Strand zusammengeströmt war. Daraufhin ließen sie Boote zu Wasser, deren Besatzungen zwar nicht wagten, an Land zu gehen, sich den Menschen am Strand jedoch soweit näherten, dass sie sie sprechen bzw. rufen hören konnten. Direkt in Kontakt mit Einheimischen kamen die Iberer und Italiener, weil einige von diesen zu ihren Schiffen schwammen, was sie damit bezahlten, dass sie gefangengenommen wurden. Als die Expeditionsteilnehmer bei der Umrundung der Insel Siedlungen sichteten, setzten sie schließlich 25 Bewaffnete an Land, die diese Siedlungen durchstreiften und dabei auch gewaltsam in Häuser eindrangen, um deren Inneres zu erkunden. 31 Dem chorographischen Kern von „De Canaria“ vorgeschaltet ist eine Auflistung der wesentlichen Charakteristika der Expedition und dessen, was sie von den Inseln mitbrachte. Die Expedition bestand aus zwei Schiffen, die der König von Portugal ausgestattet hatte, sowie einem kleineren Schiff, auf dem Florentiner, Genuesen, Kastilier und andere Spanier gesegelt seien. Sie sei so ausgerüstet gewesen, dass die Schiffsbesatzung die Inseln oder einzelne von ihnen gegebenenfalls gewaltsam hätte erobern können, nämlich mit Pferden, Waffen und „Belagerungsgerät verschiedener Art für die Eroberung von Städten und Burgen“ („machinamenta bellorum varia ad civitates et castra capienda“). 32 Mitgebracht von den Inseln habe die Expedition vier männliche Inselbewohner sowie verschiedene Naturprodukte und Rohstoffe: Ziegen- und Robbenfelle, Talg, Fischtran sowie Hölzer und Erde, die sich eventuell als Färbemittel würden nutzen lassen: „rote Hölzer, die etwa wie Brasilholz färbten“, Baumrinde, die auf die gleiche Weise rot färbe, ebenso rote Erde und dergleichen. Offenkundig hatte die Expedition also auch das Ziel, zu erkunden, inwieweit auf den Inseln gewinnbringende Handelsgüter zu finden seien. Der abschließende Passus von „De Canaria“ greift diesen Faden nach dem Ende der chorografischen Beschreibung wieder auf. Er zieht eine nüchterne ökonomische Bilanz der Expedition. Die Inseln seien nicht reich, denn den Seeleuten sei es kaum gelungen, ihre Reisekosten wieder hereinzuholen. Von dort leitet der Verfasser zu einer Beschreibung der vier Inselbewohner über, die die Expedition mit nach Portugal gebracht hatte. Nach der Beschreibung der Inselbewohner von Gran Canaria, die

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der chorographische Kern des Textes enthält, ist dies die zweite im eigentlichen Sinne ethnographische Passage von „De Canaria“. Sie verdankt ihr Wissen dem direkten Kontakt mit den vier Gefangenen an Bord eines der Schiffe über einen längeren Zeitraum hinweg. Die Gesamtdauer der Fahrt betrug „De Canaria“ zufolge knapp viereinhalb Monate, von denen nur fünf Tage auf die Hinreise fielen. Dabei hielten die Expeditionsteilnehmer die Inselbewohner nicht die ganze Zeit an Bord gefangen, sondern nahmen sie auch auf die Inseln mit, die sie erkundeten. Die Sprachen der Bewohner der verschiedenen Inseln seien so verschieden, dass sie sich gegenseitig überhaupt nicht verstünden („ut invicem nullo modo intelligantur“). Der Grund hierfür wiederum sei, dass sie vollkommen isoliert voneinander lebten, da sie keine Schiffe oder andere Wasserfahrzeuge bauten, mit denen sie zu den jeweils anderen Inseln gelangen könnten. 33 Offenkundig hatten die Expeditionsteilnehmer die vier Männer, die sie vor Gran Canaria gefangengenommen hatten, wiederholt mit den Bewohnern anderer Inseln konfrontiert und dabei festgestellt, dass sie deren Sprachen nicht verstanden. Diese sehr spezielle Form der teilnehmenden Beobachtung bestimmt in erheblichem Maß das Wissen über die Inselbewohner, das „De Canaria“ vermittelt. Es geht vor allem bezüglich ihrer äußeren Erscheinung und ihres Verhaltens untereinander deutlich über das Wissen hinaus, das die Expeditionsteilnehmer bei der unmittelbaren Begegnung mit diesen auf bzw. vor Gran Canaria erwarben. Vor allem an Bord der Schiffe aus dem Norden geraten die Inselbewohner in den „anthropologischen Blick“, den T. J. Cachey in „De Canaria“ ausgemacht hat. 34 Die Nacktheit der Inselbewohner hatten die Expeditionsteilnehmer bereits von ihren Schiffen aus beobachten können. Die vier Männer an Bord der Schiffe werden darüber hinaus noch als bartlos, schön und unbeschnitten beschrieben. Außerdem trügen sie langes blondes Haar und seien nicht größer als die iberischen und italienischen Expeditionsteilnehmer. Von den Ruderbooten aus, die sich dem Strand von Gran Canaria annäherten, hatten deren Besatzungen den Eindruck gehabt, dass die Sprache der Inselbewohner, die sie hatten sprechen beziehungsweise rufen hören, wohlklingend und fließend wie das Italienische sei. In der Kommunikation mit den vier Gefangenen stellten die Expeditionsteilnehmer außerdem fest, dass sie keine anderen Sprachen verstünden, „obgleich sie in verschiedenen Sprachen angeredet 33 Ebd.976. 34 Theodore J. Cachey Jr., Le Isole Fortunate. Appunti di storia letteraria italiana. Rom 1995, 83, 113.

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wurden“ („cum ex variis et pluribus eis locutum sit“), so dass sie sich mit Gesten „nach Art der Stummen“ („mutorum more“) mit ihnen verständigt hätten. 35 Ebenfalls von weitem aus hatten die Schiffsbesatzungen an den Menschen am Strand von Gran Canaria Anzeichen für soziale Hierarchien festzustellen gemeint: „Es seien einige unter ihnen gewesen, die offenbar eine Vorrangstellung eingenommen hätten; diese trügen Ziegenfelle, welche gelb (croceo) und rot gefärbt seien und, wie man von ferne habe erkennen können, überaus fein und weich und auch recht kunstvoll mit Därmen genäht. Und, wie man ihrem Verhalten entnehmen konnte, schienen sie einen Fürsten zu haben, dem alle Ehrerbietung und Gehorsam bezeugten.“ 36

Auch von den vier Männern an Bord der fremden Schiffe wurde einer von den anderen drei mit besonderer Ehrerbietung behandelt: „Und dieser trägt einen Lendenschurz aus Palmfasern, die anderen aber solche aus Binsen, gelb und rot gefärbt.“ 37 Doch betont der Text hier stärker die Gleichheit der Inselbewohner: „Treue und Redlichkeit gelten bei ihnen sehr viel: Keine Speise kann man einem von ihnen nämlich geben, ohne dass er, bevor er davon kostet, sie in gleiche Portionen aufteilt und den anderen ihren Anteil gibt.“ 38 Gold und Silber seien ihnen ebenso unbekannt wie Gewürze, Wein und Stichwaffen aus Metall. Sie sängen lieblich und tanzten wie die Franzosen. Sie lachten gern, seien lebhaft und recht gesittet, „mehr als es viele von den Spaniern sind“. 39 Andrea Bocchi hat im Text von „De Canaria“ zwei Stimmen identifizieren können: die Niccolòs da Recco und die der italienischen Kaufleute in Sevilla. Erstere trägt den chorographischen Kern des Textes, Letztere die bilanzierenden Teile zu Beginn und am Ende. 40 Das ethnographische Wissen, das der Text transportiert, ver-

35

Boccaccio, De Canaria (wie Anm.13), 976, 978.

36

Ebd.972: „[...] esto aliqui, qui videbantur aliis preminere, tegerentur pellibus caprinis pictis croceo at-

que rubro colore et, ut poterat a longe comprehendi, delicatissimis et mollibus, sutis satis artificiose ex visceribus; et, ut in eorum actibus poterat comprehendi, videbatur hos habere principem cui omnes reverentiam et obsequium exhiberent.“ 37

Ebd.978: „[...] et hic femoralia palme habet, reliqui vero iuncorum, picta croceo et rufo“.

38

Ebd.: „Fidei et legalitatis videntur permaxime: nil enim esibile datur uni quin antequam gustet equis

portionibus diviserit ceterisque portionem suam dederit.“ 39

Boccaccio, De Canaria (wie Anm.13), 978: „Cantant dulciter et fere more gallico tripudiant. Ridentes

sunt et alacres et satis domestici, ultra quam sint multi ex Ispanis.“ 40

348

Bocchi, Appunti di lettura (wie Anm.20), 194f.

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dankt sich daher sowohl dem Kapitän der Expedition als auch den Kaufleuten. Doch zeichnet sich das der Kaufleute durch besonderen Detailreichtum und Farbigkeit aus.

IV. Diplomatie und Ethnographie in Alvise Cadamostos „Navigazioni Atlantiche“ (1455/56) In ungleich stärkerem Maße gilt dies für die Ethnographie im Bericht Alvise Cadamostos über seine beiden Reisen an die Westküste Afrikas in den Jahren 1455 und 1456. 41 Cadamosto lebte von ca. 1432 bis 1483. 42 Er stammte aus einer venezianischen Patrizierfamilie. Schon im Alter von zehn Jahren begann er im Auftrag eines Vetters, Handelsreisen im Mittelmeerraum zu unternehmen, nach Kreta und auch bereits nach Nordafrika. Außerdem sind militärische Kommandos über die Bogenschützen auf venezianischen Galeeren nach Alexandria und nach Flandern belegt. Cadamostos Reisebericht ist das alleinige Werk seines Verfassers. Er schrieb ihn, nachdem er 1463 aus Portugal wieder in seine Heimatstadt zurückgekehrt war. Dabei ergänzte er ihn um einen Bericht über eine Fahrt des Portugiesen Pedro de Sintra, die dieser im Auftrag König Alfons’ V. in den Jahren 1461 bis 1462 unternommen hatte; er beruhte auf Angaben des Schreibers, der de Sintra begleitet hatte. Cadamosto stützte sich bei der Abfassung seines Reiseberichts wahrscheinlich auf schriftliche Aufzeichnungen, die während seiner beiden Expeditionen entstanden waren. De Sintras Schreiber hatte bereits zu Cadamostos Mannschaft gehört. 43 Er selbst hatte während seiner Fahrten Karten geführt, in die er geographische Gegebenheiten, die seine Expedition entdeckte, einzeichnete. 44 In Venedig wurden Cadamostos Berichte schnell rezipiert. Denn gut vierzig Toponyme, die dort erstmals erwähnt sind,

41 Tullia Gasparrini Leporace (Ed.), Le navigazioni atlantiche del Veneziano Alvise Da Mosto. (Il Nuovo Ramusio, 5.) Rom 1966; vgl. Rinaldo Caddeo, Le navigazioni atlantiche di Alvise da Cà da Mosto [Luigi Cadamosto], Antoniotto Usodimare e Niccoloso da Recco. 2.Aufl. Mailand 1929. 42 Andrea Da Mosto, Il navigatore Alvise Da Mosto e la sua famiglia, in: Archivio Veneto, Ser. 5/2, 1927, 168–259; vgl. ders., Nuovi contribuiti per la storia della marina. Alcune notizie inedited sulla vita del navigatore Alvise da ca’ Da Mosto, in: Rivista Marittima 39, 1906, 226–229; ders., Il portolano attribuito ad Alvise Ca’ Da Mosto, in: Bolletino della Società Geografica Italiana 6, 1893, 540–567. 43 Gasparrini Leporace (Ed.), Navigazioni (wie Anm.41), 117. 44 Ebd.76.

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fanden Eingang in die Karte der Küste Westafrikas, die Grazioso Benincasa dort 1468 erstellte. 45 Bereits unmittelbar nach seinen Reisen hatte Cadamosto jedoch dem Infanten Heinrich von Portugal von diesen Fahrten berichtet. Denn er überbrachte ihm nach seiner Rückkehr einen Stoßzahn, Haare vom Bauch und den Fuß eines Elefanten sowie eingesalzenes Elefantenfleisch als Geschenke. Diese kamen Cadamosto zufolge sehr gut an. Der Infant sei stets sehr begierig gewesen, merkwürdige Dinge aus fernen Ländern zu besitzen und aus jenen Gegenden, die aufgrund seiner Bestrebungen entdeckt worden waren. Cadomostos Gaben seien die ersten materiellen Zeugnisse aus jenen Landen gewesen, die der Infant zu Gesicht bekommen habe. 46 Überliefert sind Cadamostos Berichte in zwei Handschriften, von denen keine das Autograph ist. Die ältere lässt sich auf die zweite Hälfte des 15.Jahrhunderts, die jüngere auf die Zeit um 1520 datieren, wobei Erstere nur aus Cadamostos Bericht besteht, Letztere dagegen verschiedene Reiseberichte versammelt. Die spätere Fassung ähnelt stark der ersten Druckfassung von 1507 in der berühmten Sammlung „Paesi novamente retrovati“, herausgegeben von Francazano Montalboddo. Cadamostos Bericht über seine Fahrten von 1455 und 1456 ist ein idealtypischer Reisebericht, der Ereignisse und die persönlichen Erlebnisse, die sich dabei zutragen, anhand einer raum-zeitlichen Gliederung schildert, die die Narration steuert. Im August 1454 begab sich Cadamosto zunächst an Bord einer Galeere nach Flandern, kam dort jedoch nie an. Denn als das Schiff einige Wochen später wegen widrigen Wetters in Cabo de São Vicente festsaß, erhielt die Besatzung Besuch von zwei Emissären des Infanten Heinrich, unter ihnen der Konsul der Venezianer vor Ort, Patrizio di Conti. Dieser berichtete Cadamosto von den Landen, die portugiesische Expeditionen im Auftrag des Infanten unlängst in Afrika entdeckt hatten. Daraufhin beschloss Cadamosto, seinerseits eine Expedition auszurüsten und die Küste Westafrikas südlich der Sahara zu erkunden. 47 Im März des folgenden Jahres 1455 brach

45

Peter Russell, Henry the ‚Navigator‘. A Life. New Haven/London 2000, 341. Vgl. auch Andreas Massing,

Mapping the Malagueta Coast. A History of the Lower Guinea Coast, 1460–1510, through Portuguese Maps and Accounts, in: History in Africa 36, 2009, 331–365, hier 335–337. 46

Gasparrini Leporace (Ed.), Navigazioni (wie Anm.41), 106f.: „Le qual cosse con parte de quella carne

apresentai poi in Spagna al mio signor Infante don Henrich de Portogallo, el qual la recevè per grande presente, per esser la prima cossa haver visto de quel paexe, e ancho perché el desiderava molto de haver de queste cosse stranie, che a lui ge venia de lonzi parte apresentade e de paese discoperti per soa industria.“ 47

350

Ebd.11f.

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Cadamosto von Cabo de São Vicente aus auf. Über Porto Santo, Madeira und die Kanarischen Inseln erreichten Cadamostos Schiffe Cap Blanc. Von dort aus segelten sie entlang der Küste Westafrikas weiter nach Süden, zur Mündung des Senegal und zu einer Ankerstation etwas weiter südlich an der Grande Côte, die er als „Le Palme di Bodumel“ bezeichnet. 48 Diese Ankerstation war nach einem lokalen Herrscher benannt, dem „Bour e Damel“. In der Sprache der Wolof des Senegal bedeutet Bour „König“, Damel dagegen war die Amtsbezeichnung für den Herrscher der Provinz Cayor im Westen des Senegal. 49 Nach einem längeren Aufenthalt setzte Cadamosto die Reise fort und erreichte im Juni 1455 Kap Verde, von wo aus die Fahrt über die Îles des Madeleines, die Petite Côte und das Delta des Saloum weiter bis zur Mündung des Gambia ging. Dort kehrte er um und segelte nach Portugal zurück. Im Mai 1456 brach Cadamosto zu seiner zweiten Fahrt nach Afrika auf. Ihre Dauer lässt sich nicht exakt bestimmen, da er hierzu weniger präzise Angaben als für die erste Reise macht. Seine Schiffe folgten im Kern der gleichen Route wie bei seiner ersten Expedition. Auf der Höhe von Kap Verde gerieten sie allerdings in einen Sturm, der sie nach Westen abtrieb, wo sie die Kapverdischen Inseln entdeckten. Von dort ging es wieder zum Gambia und noch weiter nach Süden: über Cape St. Mary, Bald Cape, Cape Roxo bis zum Fluss Geba im heutigen Guinea-Bissau. Hier machte die Expedition kehrt. 50 Cadamostos Bericht über diese beiden Expeditionen hat ihm im 19.Jahrhundert den Ruf eines Marco Polo des westlichen Afrika eingetragen. 51 Noch unlängst hat Kenneth Hyde Cadamosto attestiert, er habe binnen weniger Monate ein tieferes Verständnis der westafrikanischen Gesellschaft erlangt als Marco Polo in über zwanzig Jahren von der Gesellschaft der Mongolen. Außerdem habe er keinen Rustichello da Pisa gebraucht, um seine Einsichten niederzuschreiben. 52 Das zentrale Motiv, das Cadamosto bewog, eine Fahrt an die Westküste Afrikas zu unternehmen, war sein persönliches Fortkommen. Das schildert er zu Beginn seines Berichts mit klaren Worten. Bereits seine Reise nach Flandern habe er unternommen mit dem Ziel, Gewinn zu machen („a fine di guadagnar“). Denn all sein

48 Ebd.49. 49 Ebd.279. 50 Ebd.102. 51 Carl Ritter, Geschichte der Erdkunde und der Entdeckungen. Berlin 1861, 232. 52 Hyde, Ethnographers (wie Anm.5), 109f.

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Streben sei darauf ausgerichtet gewesen, „meine Jugend zu nutzen, mich auf jede mögliche Weise zu mühen, um mir Fähigkeiten zu erwerben, damit ich später zu irgendeiner ehrenvollen Stellung gelangen würde“. 53 Vieles, wovon Cadamosto in seinen „Navigazioni“ berichtet, ist daher den Nützlichkeitserwägungen und pragmatischen Handlungsimperativen des Fernhandels verhaftet. Von den Sitten und Bräuchen der Einheimischen weckten nicht zuletzt Handelsbräuche sein Interesse, wie der geheimnisumwobene, ‚stumme‘ Goldhandel an den Ufern des Niger im Reich Mali, über den bereits 250 Jahre zuvor der arabische Geograph Yāqūt al Ḥamawī arRūmī geschrieben hatte sowie in der Antike bereits Herodot. 54 Cadamostos ethnographische Interessen beschränken sich jedoch nicht auf die Sitten des Handels, sondern beziehen sich praktisch auf sämtliche soziale Praktiken, mit deren Hilfe sich die Völker („generation“), denen er begegnete, charakterisieren und anhand derer sie sich unterscheiden ließen. 55 Wichtig sind für ihn dabei die Religion sowie Formen und Funktionsweisen politischer Herrschaft. Außerdem widmet er sich immer wieder der Bekleidung und der Ernährung, beschreibt Waffen und Kriegsführung sowie die körperliche Erscheinung der Menschen, denen er begegnet, und nicht zuletzt Geschlechterverhältnisse. So hält er bei der indigenen Bevölkerung des Senegal die geschlechterspezifische Arbeitsteilung für bezeichnend: „Und ihr sollt wissen, dass die Männer in diesen Landen viel Frauenarbeit (servizi femminili) machen, wie Garn spinnen, Wäsche waschen und andere Dinge.“ 56 Cadamostos Ethnographie basiert in erster Linie auf eigenen Beobachtungen. „Ich habe gesehen“ („vidi“) oder andere Konstruktionen mit „sehen“ („veder“) kehren häufig wieder. 57 So schreibt er etwa über die Einheimischen im Gebiet des Senegals: „Und ihr müsst wissen, dass diese Schwarzen die besten Schwimmer unter den Menschen sind, die es auf der Welt gibt, nach dem Beispiel, das ich einige von ihnen

53

Gasparrini Leporace (Ed.), Navigazioni (wie Anm. 41), 11: „[...] tutto el penser mio in esso tempo era di

travagiarmi per ogni via possibille per aquistar alguna facultade [...] e tandem venir ad alguna perfecione de honore“. 54

Paulo Fernando de Moraes Farias, Silent Trade. Myth and Historical Evidence, in: History in Africa 1,

1974, 9–24; Verlinden/Schmitt (Hrsg.), Die mittelalterlichen Ursprünge der europäischen Expansion (wie Anm.1), 306–308. 55

Gasparrini Leporace (Ed.), Navigazioni (wie Anm.41), 8.

56

Ebd.46: „E sapiati che li homini in quel paexe fano molti servisi femenili, como è de lavorar drapi e alt-

re cosse e filar gottoni.“ 57

352

Ebd.17, 19, 39, 48, 51f., 59, 66–68, 73–75, 91f., 104, 106, 119.

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geben sah, als sie in jenen Gegenden schwammen.“ 58 Eine Beschreibung des Bour e Damel und seiner Herrschaftspraxis leitet er ein mit den Worten: „Was ich von diesem Herrn, seinen Sitten und von seinem Haus gesehen habe, ist dies.“ 59 Auf der Basis seiner Beobachtungen falsifiziert Cadamosto wiederholt Vorwissen, das er mitbrachte. Auf beiden Reisen hatte er in der Gambia-Gegend Gelegenheit, Elefanten zu beobachten, einmal von seinem Schiff aus, das in der Mündung des Flusses ankerte, und einmal während einer Elefantenjagd, zu der ihn ein lokaler Herrscher eingeladen hatte. 60 In seinem Bericht gibt er eine detaillierte Beschreibung der Tiere und der Art und Weise, wie die Einheimischen sie jagen und erlegen, und schließt diese ab mit den bestimmten Worten: „Ich erkläre außerdem, dass die erwähnten Elefanten Kniegelenke haben, die sie beim Gehen biegen wie jedes andere Tier. Ich sage das, weil ich, bevor ich in jenen Gegenden war, gehört hatte, dass die Elefanten sich nicht hinknien könnten und im Stehen schliefen, was eine große Lüge ist, denn sie werfen sich auf den Boden und stehen wieder auf wie jedes andere Tier.“ 61

Cadamosto wendet sich hier ausdrücklich gegen eine irrige Annahme bezüglich der Anatomie des Elefanten, die in Europa seinerzeit weit verbreitet war. Sie geht auf Ktesias von Knidos (um 441 bis nach 393/92 v.Chr.) zurück und hat auch Eingang in die Naturgeschichte des älteren Plinius gefunden, obwohl bereits Aristoteles sie widerlegt hatte. 62 Allerdings bleibt Cadamosto nicht bei der reinen Beobachtung stehen, sondern ist ständig bestrebt, sich in Gesprächen mit den Einheimischen deren Lebensweise erläutern zu lassen, um so zu einem tieferen Verständnis zu kommen. „Neue Dinge sehen und verstehen“ („veder e intender cosa nuova“) 63 – auf diese Formel bringt er

58 Ebd.48: „E doviti saper che questi Negri sono i mazor nodadori de homeni che sia nel mondo, per la experientia ch’io vidi far ad alguni de loro in quelle parte nodando.“ 59 Ebd.52: „Quello che io puti veder de quello signor e de’ soi costumi e de cassa soa si è questo.“ 60 Ebd.64, 104–106. 61 Ebd.65: „Dechiarando etiam che li diti alefanti hano zenochi e desnodase nel andar como ogni altro animal: dico questo, perché havea intesso dir avanti che fosse in queste parte, che li alefanti non se podea inzenochiar e che dormia in piè; ch'è una gran bosia, perché se butano in terra e levanse como ogni altro animal“; vgl. ebd.108: „Non creda algun che lo elefante non se desnodi ne li zenochi, como altre volte ho aldito dir avanti che fosse in queste parte; anzi se desnoda e va e gietase zoso e suso come li altri animali.“ 62 Howard-Hay Scullard, The Elephant in the Greek and Roman World. Ithaca 1974; Karl Gröning, Der Elefant in Natur und Kulturgeschichte. Köln 1998, 246–251. 63 Gasparrini Leporace (Ed.), Navigazioni (wie Anm.41), 50.

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es selbst. Die Gespräche mit den Einheimischen, die dieses Verstehen ermöglichen, führte Cadamosto freilich nicht direkt, sondern mithilfe von Dolmetschern, die er aus Portugal mitgebracht hatte. Sie sind es auch, die häufig den ersten Kontakt zu den Einheimischen herstellen und Informationen über diese einholen, etwa im Gebiet des Gambia gegen Ende der ersten Reise: „Diesem Dolmetscher wurde aufgetragen, dass er sich über die Zustände in diesem Land informieren sollte, welchem Herrn es unterstünde, was dessen Absichten seien, ob sich dort Gold oder andere Dinge zu kaufen fänden. Mit dem Bericht darüber, den er geben könne, solle er zu uns zurückkehren.“ 64

Seine zweite Expedition im Jahr 1456 bricht Cadamosto bezeichnenderweise in dem Moment ab, als das Verstehen im Wortsinne nicht mehr möglich ist, nämlich als sie Gebiete erreicht, deren Einwohner seine Dolmetscher nicht verstehen: „Als wir dies sahen, dass wir in einem neuen Land waren und dass wir nicht verstanden werden konnten, wurde uns klar, dass es überflüssig war, weiter vorzudringen, da wir immer mehr neue Sprachen vorfinden würden und da wir diese nicht verstehen würden, könnten wir auch keine neuen Dinge tun. Und so beschlossen wir umzukehren.“ 65

Cadamostos Bestreben zu sehen und zu verstehen hing zusammen mit den Handelsgeschäften, derentwillen er nach Westafrika gereist war, genauer: mit den Waren dieses Handels und der Art und Weise, wie er in Besitz dieser Waren kam. Wie so viele Protagonisten der europäischen Expansion war auch Cadamosto stets auf der Suche nach Gold. Noch vor seinem Aufbruch aus Portugal habe er erfahren, dass südlich des Senegal ein Reich namens „Gambra“ (Gambia) liege, wo es eine große Menge Gold gebe, und dass die Christen, die dorthin reisten, reich würden. „Angetrieben vom Begehren dieses Gold zu finden“, sei er daher vom Senegal aus weitergereist. 66 Bereits in Cabo de São Vicente hatten ihm die Emissäre des Infanten Heinrich und der venezianische Konsul, Conti, im Herbst 1454 außerdem „Gewürze und gute Din-

64

Ebd.78: „Al qual truciman fo comesso che el se informasse de la condetion de questo paexe e soto que

signor ierano, e che lo intendesse se ’l se atrovava oro e altre cosse per poder comprar; con la relation de quello el podea presentir, el tornasse a nui.“ 65

Ebd.113: „[...] vedando nui questo, che ieremo in paexe nuovo e che non podevemo esser intessi, con-

cludessemo che ’l passar più avanti era superfluo, perché zudigavemo di atrovar sempre più novi lenguazi, che non podendoli intender non si podea far cossa nuova; e cossì determinassemo de tornar indredo.“ 66

354

Ebd.73.

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ge“ in Aussicht gestellt, die er in Afrika erwerben könne und mit denen sich Gewinne von 700 bis 1000 Prozent machen ließen. 67 Die Unbestimmtheit der „guten Dinge“ bringt zum Ausdruck, dass Cadamostos Unternehmen durchaus eine spekulative Dimension hatte. Die dichten Beschreibungen in seinem Bericht resultieren immer wieder aus dem Blick des Kaufmanns, der die fremde Welt, in der er sich bewegt, auf Anhaltspunkte für mögliche künftige Gewinne abtastet. So beschreibt er ausführlich die Tierwelt des Senegal-Gebiets. Neben den Elefanten wird vor allem den Papageien ein langer Abschnitt gewidmet, in dem er präzise schildert, wie diese ihre Nester bauen. En passant erwähnt er dabei, dass er eine große Zahl dieser Vögel habe fangen lassen, um sie mit nach Portugal zu bringen, wobei viele gestorben seien. Er habe aber immerhin mehr als 150 von ihnen für circa einen Dukaten verkaufen können. 68 Die Ware, mit der Cadamosto jedoch vor allem handelte, waren Menschen. Um 1445 hatten die Portugiesen erste Raubzüge im Gebiet des Senegal unternommen, bei denen sie Sklaven erbeuteten. Zehn Jahre später war der Sklavenhandel zwischen der westafrikanischen Küste südlich der Sahara und der iberischen Halbinsel bereits fest etabliert. 69 Cadamosto hatte von Beginn an vor, in Afrika Sklaven zu erwerben, die er dann in Portugal verkaufen wollte. Bei den Dolmetschern, die er aus Portugal mitgebracht hatte, handelte es sich um Sklaven aus Afrika, die in Portugal getauft worden waren und dort „spanisch“ („la lingua spagnola“) gelernt hatten. Ihre Besitzer hatten sie Cadamosto in Portugal gegen Geld überlassen. Die Sklaven selbst konnten sich mit vier Sklaven, die sie ihren Besitzern bei der Rückkehr überließen, ihre Freiheit erkaufen. 70 Während Cadamostos Suche nach Gold keine zufriedenstellenden Resultate brachte, war das Sklavengeschäft verhältnismäßig erfolgreich.

67 Ebd.12f. 68 Ebd.66: „E io ne hebi de queste do sorte molti, e spezialmente di pizoli de nido, dei quali molti me ne morì e li altri portai in Spagna, che fono da 150 in suso, vendendoli da cercha un ducato l’uno.“ 69 Toby Green, The Rise of the Trans-Atlantic Slave Trade in Western Africa, 1300–1589. (African Studies, 118.) New York 2012, 78f.; Wilfried Brulez, Les voyages de Cadamosto et le commerce guinéen au XVe siècle, in: Bulletin de l’Institut Belge de Rome – Bulletin van het Belgisch Historisch Instituut te Rome 39, 1968, 311–326, hier 319. 70 Gasparrini Leporace (Ed.), Navigazioni (wie Anm.41), 77: „[...] perché cadauno de li nostri navilii haveano trucimani negri portadi de Portogallo. I quali trucimani fono schiavi negri, vendudi per quel signor de Senega ai primi christiani portogalesi che veneno a discoprir el paexe de’ Negri; i qual schiavi se fesseno christiani in Portogallo e impreseno ben la lingua spagnola: i avevemo habuti da suo misere per stipendio e soldo, con pacto de darli una testa per uno a cernir in tuto el nostro monte per sua fadiga de la trucimania;

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Denn während seiner ersten Reise gelang es ihm im Senegal, hundert Sklaven zu erwerben. 71 Auf seiner zweiten Fahrt konnte Cadamosto im Gambia-Gebiet Sklaven eintauschen. 72 Cadamostos Interesse an den Menschen, denen er bei seinen beiden Fahrten begegnete und den Verhältnissen, in denen sie lebten, erklärt sich nicht zuletzt damit, dass Menschen die Ware waren, mit der er vor allem handelte. Wissen über sie gehörte gleichsam zum instrumentellen Wissen eines Sklavenhändlers. Das zeigt seine Beschreibung der Bewohner der Kanarischen Inseln. Mitte des 15.Jahrhunderts, als Cadamosto die Kanaren besuchte, waren die Inseln Lanzarote, Fuerteventura, La Gomera und El Hierro bereits von christlichen Siedlern, Gran Canaria, Teneriffa und La Palma dagegen noch von ihren Ureinwohnern bewohnt. Diese sind die ersten Menschen einer fremden Kultur, mit der Cadamosto auf seinen Reisen in Kontakt kommt und die er beschreibt. Er beginnt mit dem Herrschaftssystem und kommt über Kriegsführung, Bewaffnung, Kleidung, Siedlungsweise, Ernährung und Religion schließlich zu den Heiratsbräuchen. Die Frauen seien Gemeinbesitz. Ein jeder Mann könne sich so viele nehmen, wie er wolle. Doch würden sie keine Jungfrau zur Frau nehmen, wenn diese nicht vorher eine Nacht mit ihrem Herrn verbracht hätte; dies hielten sie für eine große Ehre. 73 An dieser Stelle wendet sich Cadamosto direkt an den Leser: „Und wenn du fragen solltest, woher man diese Dinge weiß, dann antworte ich, dass die Bewohner der vier christlichen Inseln den Brauch haben, jene Inseln des Nachts zu überfallen, um einige dieser götzendienerischen Kanaren zu fangen, und zuweilen nehmen sie Männer und Frauen gefangen und schicken sie nach Spanien, um sie als Sklaven zu verkaufen.“ 74

Cadamostos Wissen über die Ureinwohner der Kanarischen Inseln war offenkundig also Wissen von Sklavenhändlern oder zumindest im Kontext des Sklavenhandels entstanden.

e dando chadaun de questi truciman a suo misere 4 schiavi, lor li lassano franchi, e cossì per questo mezo molti schiavi son fati franchi da poi per questo mezo de la trucimania.“ 71

Ebd.50.

72

Ebd.99.

73

Ebd.20.

74

Ebd.21: „E se tu domandasti: dove sa tu questo? E se aresponde, che li abitanti de le 4 ixole sopra dite

de christiani si hano per costume con algune lor fuste venir a queste ixole de note ad asaltar questi Canarii idolatri, e a le volte ne prendeno e de maschi e de femine, e sì li mandano poi in Spagna a vender per schiavi.“

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V. Slavenjagd und Sklavenhandel Die Versklavung der Bewohner der Kanarischen Inseln ist seit Mitte des 14.Jahrhunderts belegt. Vor allem die Balearen waren seit dieser Zeit häufig Ausgangspunkt und Ziel von Fahrten zu den Kanaren, die das Ziel hatten, Menschen zu rauben. 75 Auch die Expedition des Niccolò da Recco von 1341, von der „De Canaria“ berichtet, hatte Züge einer solchen Beutefahrt. An erster Stelle der Liste dessen, was die Expedition mit zurück nach Lissabon brachte, stehen, wie bereits erwähnt, die vier Männer, die man auf Gran Canaria gefangengenommen hatte, vor Fellen, Talg, Fischtran und den Hölzern und Erden, die sich als Farbstoffe nutzen ließen. 76 Die Gefangenen werden in „De Canaria“ also als Produkt der Inseln aufgeführt, und zwar als das Wichtigste. Die meisten Beobachtungen über die Verhaltensweisen der Bewohner der Kanaren in „De Canaria“ beziehen sich explizit auf die vier Männer, die die Expedition auf Gran Canaria ergriffen hatte. Während der Wochen und Monate, die diese an Bord der portugiesischen Schiffe verbrachten, hatten die Mitglieder der Schiffsbesatzung ausreichend Gelegenheit, ihr Äußeres und elementare Formen ihres Umgangs miteinander zu studieren sowie im Kontakt mit ihnen herauszufinden, ob ihnen Materialien wie Gold oder Produkte wie Wein bekannt waren. Bereits im ersten Reisebericht, der im Zuge der iberisch-italienischen Atlantikexpeditionen im Spätmittelalter entstand, lässt sich also ein Konnex von Sklavenhandel und Ethnographie beobachten. Wissen über die Menschen einer fremden Kultur entsteht hier als Wissen über Menschen, die als Ware betrachtet werden. Anders als die Expedition des Niccolò da Recco 1341 und die christlichen Kolonisten der Kanarischen Inseln Mitte des 15.Jahrhunderts gelangte Cadamosto jedoch nicht durch gewaltsamen Raub in den Besitz von Sklaven. Die ersten portugiesischen Expeditionen in die Regionen südlich des Senegal Mitte der vierziger Jahre des 15.Jahrhunderts waren Fahrten zur gewaltsamen Erbeutung von Sklaven gewesen. Dabei stießen die Portugiesen jedoch zusehends auf bewaffneten Widerstand der einheimischen Bevölkerung. 77 Als Cadamosto 1455 versuchte, Handelsbeziehungen mit den Menschen im Hinterland der Mündung des Gambia anzuknüpfen,

75 Herbers, Eroberung der Kanarischen Inseln (wie Anm.14), 202f. 76 Boccaccio, De Canaria (wie Anm.13), 970. 77 Vgl. hierzu Ivana Elbl, Cross-Cultural Trade and Diplomacy. Portuguese Relations with West Africa, 1441–1521, in: Journal of World History 3, 1992, 165–204, hier 168.

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schlugen ihm diese sein Ansinnen, das er ihnen durch Dolmetscher hatte vortragen lassen, brüsk ab: Sie wollten auf keinen Fall ihre Freundschaft („amistade“), denn sie seien überzeugt, dass die Christen Menschenfleisch äßen und Schwarze nur kauften, um sie zu verspeisen. 78 Zu Cadamostos Zeiten waren die europäischen Sklavenhändler auf die Freundschaft der Einheimischen angewiesen, wenn sie Geschäfte mit der Ware Mensch machen wollten. Dies bedeutete in erster Linie Freundschaft und friedliche Beziehungen zu den lokalen Fürsten, den „Königen“, wie Cadamosto sie nennt, die entweder Kriegsgefangene oder aber ihre eigenen Untertanen verkauften. 79 Geschäfte mit der Ware Mensch konnten nur im Rahmen diplomatischer Beziehungen zu diesen Königen und Herren abgewickelt werden. Ohne Freundschaft mit ihnen bestand keine Aussicht auf Gewinn. Als er im Herrschaftsgebiet des Bour e Damel angekommen war, machte Cadamosto mit seiner Karavelle Halt und begab sich an Land, „um eine Unterredung mit jenem Herrn zu haben, denn gewisse Portugiesen, die mit ihm zu tun gehabt hatten, hatten mich informiert, dass er ein ehrlicher Herr sei, auf den man vertrauen könnte und der tatsächlich bezahlte, was man ihm lieferte. Und da ich einige Pferde aus Spanien mithatte, die im Land der Schwarzen in starker Nachfrage waren […], beschloss ich, dass ich versuchen wollte, mit diesem Herrn ins Geschäft zu kommen.“ 80 Er ließ dem lokalen Potentaten durch einen seiner Dolmetscher die Botschaft überbringen, dass er mit einigen Pferden und anderen Sachen gekommen sei, um ihm zu dienen („per servirlo“), wenn er Bedarf habe. „Und kurz darauf, nachdem er die Angelegenheit erfahren hatte, ritt der erwähnte Herr los und kam in Begleitung von etwa fünfzehn Berittenen und 150 Männern zu Fuß zur Küste. Dort ließ er mir ausrichten, dass er sich freuen würde, wenn ich an Land käme, ihn sehen kommen

78

Gasparrini Leporace (Ed.), Navigazioni (wie Anm.41), 85: „[...] perché lor teniano per fermo che nui altri

christiani manzavemo carne humana e che non compravemo Negri salvo per manzarli, e che per questo non voleano nostra amistade per algun modo del mondo.“ 79

Vgl. Green, The Rise of the Trans-Atlantic Slave Trade (wie Anm.69), 79.

80

Gasparrini Leporace (Ed.), Navigazioni (wie Anm.41), 49: „A questo luogo me afermai con la mia cara-

vella per haver lengua da questo signor, conzosiacossaché io havea habuto information da altri Portogalesi, che con lui havea habuto a far, che liera persona da bene e signor de chi se podea fidar, apagava realmente quello che ’l tolea. E perché havea portato con mi alguni cavali de Spagna e altre cosse necessarie, per esser quelli in bona rechiesta nel paexe de’ Negri, non obstante che molte altre cosse avesse con esso mi, como e pani de lana e lavoreri de seda moreschi e altre merze, determinai con questo signor de provar il fato mio.“

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würde und dass er mir Ehre erweisen würde.“ 81 Cadamosto nahm die Einladung an und schloss seine Geschäfte im Rahmen eines vierwöchigen Aufenthalts am ‚Hof‘ des Bour e Damel ab. Dort wurde er einem Neffen des Königs anvertraut, in dessen Haus er wohnte und „der ihm jederzeit Ehre erwies und gute Gesellschaft war“ („fesseme sempre honor e bona compagnia“). 82 Während dieses Aufenthalts hatte Cadamosto mehrere Treffen mit dem König. Außerdem, so schreibt er, sah er in jener Zeit einiges von der Lebensweise in jenem Land: „E in questo tempo vidi algune cosse nel modo de quel paexe.“ 83 In ganz ähnlicher Weise wurde auch das Sklavengeschäft im Gambia-Gebiet auf Cadamostos zweiter Reise angebahnt und abgeschlossen, und zwar mit einem lokalen Fürsten namens Battimausa. Bei diesem hielt er sich dabei insgesamt elf Tage auf, so dass er abermals viel Zeit hatte, sich mit den dortigen Sitten und Gebräuchen vertraut zu machen, unter ihnen die erwähnte Jagd auf Elefanten. Bei der Anbahnung des Geschäfts mit diesem lokalen Herrscher präsentierte Cadamosto sich und seine Entourage regelrecht als Gesandte des Königs von Portugal. Nachdem es seinen Dolmetschern gelungen war, in Kontakt mit einem Einheimischen zu treten, ließ Cadamosto als Geschenk für seinen Herrn ein seidenes Hemd übergeben und ihm auftragen, er solle mit diesem zu ihm gehen und berichten, „dass wir auf Befehl unseres Herrn Königs von Portugal, einem Christen, hierhergekommen seien, um mit ihm gute Freundschaft zu schließen und von ihm zu erfahren, ob er Bedarf an Dingen aus unseren Ländern habe“. 84 Dass Cadamosto hier also gleichzeitig als Kaufmann und als königlicher Emissär agierte, zeigt: Im Sklavenhandel mit Westafrika waren damals Handel und Diplomatie untrennbar miteinander verbunden. 85 Der frühe atlantische Sklavenhandel lässt sich somit als ein Sonderfall des Kontaktsystems Fernhandel charakterisieren.

81 Ebd.50: „E brevemente, el predito signor intesse la cossa, cavalca e vene a la marina con cavali circha 13 e 150 pedoni, e mandome a dir che ’l me piasese de voler dismontar in terra e andarlo a veder, che ’l me faria honor e prexio.“ 82 Ebd. 83 Ebd.51. 84 Ebd.98f.: „Zonti nui a questo luogo, determinassemo de mandar uno di nostri trucimani con questo Negro a la e presentia de questo signor Batimausa; e così mandassemo uno presente, che fo una alcimba de seda morescha, che a nostro modo è a dir como una camisa, la qual giera asai bella e fata in terra de’ Mori. E mandamoli a dir como ieremo lì venuti per comandamento del nostro signor re de Portogalo christiano, per far con lui bona amistade e per intender da lui se ’l avea bixogno de le cosse di nostri paexi […].“ 85 Elbl, Cross-Cultural Trade and Diplomacy (wie Anm.77).

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Wer in ihm erfolgreich sein wollte, brauchte neben dem instrumentellen Wissen des Kaufmanns das kategoriale Wissen des Diplomaten. Während der wochenlangen Aufenthalte an den Höfen afrikanischer Machthaber, in deren Rahmen die Geschäfte mit der Ware Mensch abgeschlossen wurden, boten sich zudem ganz neue Möglichkeiten, mit den Einheimischen in Kontakt zu treten und Wissen über die Regeln und Sinnsysteme ihrer Kultur zu erwerben. Seinen Aufenthalt beim Bour e Damel resümiert Cadamosto mit den Worten: „Einige Tage“ habe er im Land verbracht, „um zu verkaufen, zu kaufen und viele Dinge zu verstehen“. 86 Bei allen Unterschieden zwischen den beiden Texten, ihrer Entstehung, ihrer Überlieferung und Rezeption lassen sowohl „De Canaria“ als auch Cadamostos „Navigazioni“ erkennen, dass die Entstehung einer „Kaufmannsethnographie“ im Zuge der iberisch-italienischen Expansion entlang der Küsten Afrikas im 14. und 15.Jahrhundert zu einem erheblichen Maße auf die Besonderheit des Kontaktsystems zurückzuführen ist, in dem die Kaufleute agierten, die als erste über die fremden Kulturen und Gesellschaften berichteten. Im entstehenden atlantischen Sklavenhandel des 14. und 15.Jahrhunderts wurden die Menschen der fremden Gesellschaften und Kulturen, denen die Angehörigen der iberisch-italienischen Expeditionen begegneten, von Anfang an als Ware oder potentielle Ware betrachtet, und ihre äußere Erscheinung und sozialen Praktiken waren von daher in spezifischer Weise relevant und interessant. Im Sklavengeschäft im Westafrika der Mitte des 15.Jahrhunderts durchdrangen sich außerdem Handel und Diplomatie in ganz neuer Weise. Denn der Handel war nur im Rahmen freundschaftlicher Beziehungen zu den lokalen Herrschern möglich. Das Wissen über fremde Welten und ihre Menschen, das in diesem Kontaktsystem benötigt wurde, verband daher das instrumentelle Wissen des Kaufmanns mit dem kategorialen Wissen des Diplomaten. Dass die Menschen, die sowohl Niccolò da Recco als auch Cadamosto auf ihren Expeditionen 1341 und 1455/56 als Sklaven erwerben und verkaufen wollten, in den Berichten über ihre Welten weitgehend vorurteilsfrei beschrieben werden, gehört zu den Paradoxien dieses besonderen Zweiges der spätmittelalterlichen Ethnographie.

86

Gasparrini Leporace (Ed.), Navigazioni (wie Anm.41), 72: „Como avanti ho predito, io avi cason de star

in questo paexe del prenominato signor Budomel alguni zorni per vender e comprar e intender più cosse [...].“

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Frühneuzeitliche Indienwahrnehmung zwischen Empirie, Antike und Antiquarianismus Die Briefe des Pietro della Valle (1586–1652) von Antje Flüchter

Dieser Beitrag fragt danach, welche Bedeutung das Wissen aus der Antike für die frühneuzeitliche Wahrnehmung Indiens hatte. Er setzt sich kritisch mit der Vorstellung auseinander, es habe eine schlichte Ablösung der alten Autoritäten oder Traditionen durch neues, empirisch gewonnenes Wissen gegeben. Ausgehend von der These, dass bei verschiedenen Themenbereichen antikes Wissen unterschiedliche Funktionen erfüllte, werden die Reiseberichte des Italieners Pietro della Valle (1586–1652) untersucht und dabei mit anderen frühneuzeitlichen Texten über Indien, aber auch mit dem Amerikadiskurs kontrastiert. Als Ergebnis zeigte sich, dass bei politischen Phänomenen sowie geographischem oder biologischem Wissen die Antike fast nur noch als Referenz für die Bildung des Autors und den Wissenshaushalt, den er mit seiner Leserschaft teilte, fungierte. Bei der Darstellung indischer Bevölkerungsgruppen hatte antikes Wissen eine größere Bedeutung, wurde dabei aber vor allem mit Narrativen aus der Bibel verflochten und abgeglichen. Am wichtigsten war und blieb die Antike für die Wahrnehmung indischer Religionen: Hier finden sich erste Ansätze der späteren Religionskomparatistik, wodurch die fremde Gegenwart durch Vergleiche mit der Antike und eben nicht durch Wissen aus der Antike erklärt wurden; noch mehr strich della Valle die erkenntnistheoretische Bedeutung einer antiken Bildung heraus, um die fremden Religionen zu verstehen. So verlor das antike Wissen seine Rolle als Informationslieferant, um sein Erklärungspotential auf einer komparativen wie epistemologischen Ebene zu behalten oder sogar hinzuzugewinnen.

I. Einleitung Die Ankunft von Christoph Kolumbus auf Hispaniola wird traditionell als eine Epochengrenze zwischen Mittelalter und Neuzeit verstanden: Mit der Entdeckung der neuen Kontinente, ihrer unbekannten Menschen, Tieren und Pflanzen beginne eine neue Zeit. Alte Weltbilder und überkommene Wissensbestände seien durch die Erfahrung des Neuen in Frage gestellt, antike Wissenstraditionen durch Empirie zunächst relativiert worden, bis sich die Empirie als grundlegende Erkenntnisform durchgesetzt habe. Als wichtiger Schritt, die neue Empiriebegeisterung in Erkenntnistheorie umzusetzen, aber auch generell als richtungsweisend für die Neubewertung des überkommenen antiken Wissens gelten das Denken und Werk Francis

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110670547-016

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Bacons (1561–1626). In seinem „Novum Organum“ habe er die Vergangenheit und damit eben auch das antike Wissen nicht als Autorität verstanden, sondern „as history, in order to see how it had gone wrong“. 1 Auf Bacons Werk baue der entsprechende epistemologische Wandel in der wissenschaftlichen Revolution und schließlich die Aufklärung auf. 2 Gleichzeitig wird die Bedeutung der Antike, vor allem des wiederentdeckten geographischen Wissens, für den Aufbruch auf die Weltmeere und den Beginn der europäischen Expansion immer wieder betont. 3 Fast noch wichtiger erscheinen antike Deutungsmuster für die Wahrnehmung der Neuen Welt und die Verarbeitung des Fremden, wie Anthony Grafton in seinem nach wie vor grundlegenden Buch „New Worlds, Ancient Texts. The Power of Tradition and the Shock of Discovery“ darlegt: Gerade das ganz Neue und daher schwer zu Verstehende habe vertrauter Deutungsmuster bedurft, um vermittelbar zu sein. 4 Interessanterweise werden die Debatten um die Bedeutung des antiken Wissens vor allem am Beispiel der Amerikas, ihrer Entdeckung und deren Verarbeitung geführt. Graftons Buch ist hier geradezu paradigmatisch, aber Ähnliches gilt für die Überlegungen Wilfried Nippels in seinem Buch „Griechen, Barbaren und ‚Wilde‘“. 5 Der gefundene Seeweg nach Indien, die Verdichtung der Interaktion mit Asien und überhaupt dessen frühneuzeitliche Wahrnehmung stehen im Schatten der Ameri1 Anthony Grafton, New Worlds, Ancient Texts. The Power of Tradition and the Shock of Discovery. Boston 1995, 200. 2 Vgl. ebd.3f., 197–204; Steven Shapin, The Scientific Revolution. Chicago 1996, 75–80; etwas ausgewogener zum Verhältnis Bacons zur Antike: David C. Lindberg, Conceptions of the Scientific Revolution from Bacon to Butterfield. A Preliminary Sketch, in: ders./Robert S. Westman (Eds.), Reappraisals of the Scientific Revolution. Cambridge 1992, 1–26, vor allem 4. 3 Vgl. beispielsweise Dieter Harlfinger, Die Wiedergeburt der Antike und die Auffindung Amerikas. 2000 Jahre Wegbereitung einer Entdeckung. Bildkatalog einer Ausstellung. Wiesbaden 1992, 58–71 zur Wiederentdeckung des Ptolemaios seit dem 13.Jahrhundert, 133–138 zur Bibliothek des Kolumbus und ihren antiken Beständen. Aus der Perspektive der Alten Geschichte grundlegend: Raimund Schulz, Abenteurer der Ferne. Die großen Entdeckungsfahrten und das Weltwissen der Antike. 2.Aufl. Stuttgart 2016, 443–465. 4 Grafton, New Worlds (wie Anm.1), ähnlich: Martin van Gelderen, Hugo Grotius und die Indianer. Die kulturhistorische Einordnung Amerikas und seiner Bewohner in das Weltbild der Frühen Neuzeit, in: Raimund Schulz (Hrsg.), Aufbruch in neue Welten und neue Zeiten. Die großen maritimen Expansionsbewegungen der Antike und Frühen Neuzeit im Vergleich. München 2003, 51–78, hier 59. 5 Wilfried Nippel, Griechen, Barbaren und ,Wilde‘. Alte Geschichte und Sozialanthropologie. Frankfurt am Main 1990. Nippel berücksichtigt interessanterweise noch das vormoderne Afrikabild, aber blendet Asien fast gänzlich aus; vgl. Wilfried Nippel, Altertum und Neue Welt, in: ders., Griechen, Barbaren und ,Wilde‘, 30–55, hier 31–33.

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kas, sie werden meist ausgeblendet oder doch vernachlässigt. Die nichteuropäische Welt besteht aber nicht nur aus den ‚neu‘ entdeckten Amerikas. Die Interaktion mit Asien und damit die Produktion von Wissen begannen nicht erst mit dem Ausgreifen des europäischen Imperialismus und der Kolonialisierung Asiens. 6 Anders als die Amerikas war gerade Indien dem frühneuzeitlichen, europäischen Publikum nicht völlig fremd; seit der Antike waren die Interaktion und der Informationsstrom nie völlig abgerissen. 7 Ist die Dichotomie Empirie – Tradition schon für den Amerikadiskurs etwas schlicht, so trifft dies umso mehr für das frühneuzeitliche Bild Indiens zu. In diesem Beitrag wird daher nach der Bedeutung des antiken Wissens, der antiken Vorstellungen und Denkmuster für die frühneuzeitliche Interaktion in Asien und die Darstellung von Asien, vor allem Indien 8, gefragt. Sahen frühneuzeitliche Reisende Indien vornehmlich durch die Brille ihres überkommenen Vorwissens aus antiken Quellen oder verließen sie sich vielmehr auf ihre eigene Augenzeugenschaft oder glichen sie vielleicht beides miteinander ab? Die Kontinuität des Kontakts hatte antikes Wissen über Indien wachgehalten, es unterlag dadurch aber auch verschiedenen kulturellen und gesellschaftlichen Strömungen und veränderte sich vielfach. Manche aus der Antike stammenden Informationen oder Deutungen mögen spezifisch angeeignet und verändert worden sein. Andere sedimentierten geradezu im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wissen und verloren so den direkten Bezug zur Antike, das heißt das Bewusstsein, dass es sich um antikes Wissen handelte, ging verloren. Die Frage nach der Bedeutung antiken Wissens in der Frühen Neuzeit geht also nicht in der Alternative empirie- oder traditionsgeleitete Wahrnehmung und Darstellung auf, sondern ist deutlich komplexer.

6 Während die Mittelalterforschung immer wieder auf europäische Asienreisende verweist, sei es Marko Polo oder Wilhelm von Rubruck, wird Asien in vielen Überblicksdarstellungen erst mit der Kolonisierung des Kontinents wieder ausführlicher berücksichtigt. Ein neueres Beispiel dafür ist die WBG-Weltgeschichte, in der der Band zur Frühen Neuzeit überhaupt der „europäischste“ der Reihe ist, vgl. Walter Demel, Entdeckungen und neue Ordnungen 1200–1800. Darmstadt 2010. 7 Vgl. zum antiken Wissen zu Indien: Schulz, Abenteurer (wie Anm.3), 174–183, 253–258, 276–293, 355– 385. Dabei wird sehr deutlich, wie selektiv und eingeschränkt oder eben angeeignet das in der Frühen Neuzeit zitierte Wissen über Indien war. 8 Dieser Aufsatz baut auf meiner Forschung zum frühneuzeitlichen deutschen Indiendiskurs auf, vgl. Antje Flüchter, Die Vielfalt der Bilder und die eine Wahrheit. Die Staatlichkeit Indiens in der deutschsprachigen Wahrnehmung (1500–1700). Affalterbach (im Druck). Deshalb werden bei den frühneuzeitlichen Autoren auch zumeist die zeitgenössischen Übersetzungen ins Deutsche zitiert.

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Auch die Forschung bietet weitere, differenziertere Charakterisierungen für antike Elemente im europäischen Diskurs der Frühen Neuzeit an. Da ist zum einen der Begriff der konjekturalen Geschichte, der aus der Aufklärungsforschung vertraut ist. Er bezeichnet eine Mischung aus Logik und Empirie, verankert in einem christlicharistotelischen Rahmen, aber noch mehr ein Konzept einer fortschreitenden Geschichtsentwicklung. 9 Somit werden Antike und Aufklärung auf der grundlegenden Basis der Geschichtsdeutung verbunden. Zum anderen wird häufig der Begriff des antiquarischen Zugangs genutzt, der ein besonderes Interesse von Gelehrten an der Antike seit Humanismus und Renaissance umschreibt und regional noch bis in das 17.Jahrhundert anzutreffen ist. 10 Arnoldo Momigliano betonte „the notion of the ,antiquarious‘ as a lover, collector and student of the ancient traditions and remains“. 11 Ihr Zugang zur Antike entspringe aus der Gegenwart, beschränke sich aber nicht auf politische Geschichte und literarische Quellen, sondern sie interessierten sich auch für Sitten und Bräuche und zögen daher auch materielle Kultur heran. 12 Anders als bei der Dichotomie Tradition / Empirie geht es den Vertretern des Antiquarianismus um die Antike ‚an sich‘ und um in der Gegenwart noch auffindbare antike Artefakte, dagegen weniger als Referenzpunkt, um Wissen zu plausibilisieren. Helfen diese Ansätze weiter, die Bedeutung der Antike für das frühneuzeitliche Indienbild zu bestimmen? 9 Mit solchen Formulierungen charakterisiert Martin van Gelderen die Sichtweise des Jesuiten José de Acosta (1539/1540–1599/1600) und bezieht sich auf die Überlegungen Wilfried Nippels, van Gelderen, Hugo Grotius (wie Anm.4), 61. Nippel selber bezog sich auf eine strukturelle Ähnlichkeit des Konzepts „fortschreitender Entwicklung der materiellen Kultur“ bei Thukydides mit dem der schottischen Aufklärung, vgl. Wilfried Nippel, Ethnographie und Anthropologie bei Herodot, in: ders., Griechen, Barbaren und ,Wilde‘ (wie Anm.5), 11–29, hier 25; Wilfried Nippel, Die Antike und der Fortschritt der Zivilisation, in: ders., Griechen, Barbaren und ,Wilde‘ (wie Anm.5), 56–78, hier 63–65. Zum Konzept der schottischen Aufklärung: Annette Meyer, Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklärung. Tübingen 2008, vor allem 14, 134–136. 10

Jan Marco Sawilla, Antiquarianismus, Hagiographie und Historie im 17.Jahrhundert. Zum Werk der

Bollandisten – ein wissenschaftshistorischer Versuch. Tübingen 2009, 244. 11

Arnaldo Momigliano, Ancient History and the Antiquarian, in: Journal of the Warburg and Courtauld

Institutes 13, 1950, 285–315, hier 290. 12

Aus Sicht der Geschichtswissenschaft des frühen 21.Jahrhunderts, die sich schon lange nicht mehr

auf die reine Politikgeschichte beschränkt, erscheint diese Trennung von antiquarian und historian, die gerne gemacht wird, als wenig hilfreich, vgl. ebd.; Joan-Pau Rubiés, From Antiquarianism to Philosophical History. India, China and the World History of Religion in European Thought (1600–1770), in: Peter N. Miller/ François Louis (Eds.), Antiquarianism and Intellectual Life in Early Modern Europe and China. Ann Arbor 2012, 313–367.

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II. Pietro della Valle und der frühneuzeitliche Indiendiskurs Der vormoderne Diskurs über Indien war vielfältig. Sehr verschiedene Autoren speisten Informationen und Wissen ein. 13 Für die Fragestellung dieses Beitrages wurden als Quellengrundlage die Briefe Pietro della Valles, eines italienischen Reisenden und Zeitgenossen Francis Bacons ausgewählt. Seine Positionen und Perspektiven werden mit ausgewählten weiteren Autoren kontrastiert. Das „Weltbuch. Spiegel vn[d] bildtnisz des gantzen erdbodens“ (1530), eine Weltbeschreibung von Sebastian Franck (1499–1542), stellt ein frühes Beispiel für die schwindende Bedeutung tradierten Wissens im Indienbild dar. Sein Werk fasst enzyklopädisch das Wissen seiner Zeit zusammen; anders als die sonst vergleichbare Schedel’sche Weltchronik hat sein Text aber auch eine deutliche religiöse, radikalreformerische Ausrichtung. 14 Für seine Darstellung berief sich Franck explizit auf gewisse antike Autoren, nämlich auf Strabon, Macrobius, Plinius, Mela und Ptolemaios, während er anderen Autoren mehr fantastisches Fabelwissen zuwies und sie deshalb nicht berücksichtigt habe. 15 Darauf wird zurückzukommen sein. Franck hielt die antiken Autoren nicht einfach für weniger glaubwürdig, sondern erkannte, dass die Welt sich seit ihrer Zeit gewandelt hatte, viele der aus der Antike stammenden Informationen also veraltet waren. Deshalb stütze er sich vorrangig auf die neuen „welt beschauwern/merherren und gestrengen landtfarern“. 16 Das passt zu Thesen der Forschung, gerade das geographische Wissen der Antike wie das von Ptolemaios sei um 1600 widerlegt gewesen und habe nur noch „historical interest“ gehabt, verlegt den Wandel aber auch zeitlich nach vorne. 17 Überhaupt sei daher Wissen auch vor und um 1500 nicht als etwas Abgeschlossenes angesehen

13 Vgl. allgemein zur Vielfalt der Autoren Flüchter, Vielfalt (wie Anm.8); Joan-Pau Rubiés, Travel and Ethnology in the Renaissance. South India through European Eyes, 1250–1625. Cambridge 2000; Gita Dharampal-Frick, Indien im Spiegel deutscher Quellen der Frühen Neuzeit (1500–1750). Studien zu einer interkulturellen Konstellation. Tübingen 1994. 14 Franck erläuterte, er habe das Buch vor allem geschrieben, damit der Leser die Welt Gottes erkenne, so sieht er die „Geschichte als Lehrerin aber nicht ohne Erfahrung Gott“: Sebastian Franck, Weltbuch. Spiegel vn[d] bildtnisz des gantzen erdbodens […] in vier bücher / nemlich in Asiam / Aphricam / Europam / vnd Americam / gestelt vnd abteilt […]. Tübingen 1534, iii. 15 Ebd.ii. Nur den genannten Büchern sei nicht der Vorwurf der Lüge zu machen. Franck folgerte: „Mär sucht man in Fabeln, die warheyt aber in hystorien“ (ii). 16 Ebd.iii r. 17 Grafton, New Worlds (wie Anm.1), 205.

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worden, das in den autoritativen Texten in einer klar umrissenen Form vorliege, weshalb weiteres Suchen und Fragen unnötig sei. 18 Auch vor der wissenschaftlichen Revolution seien Traditionalität und der Gedanke an eine fortschreitende Entwicklung des Wissens keine Widersprüche gewesen. 19 Für Indien berief sich Franck auf die erwähnten antiken Autoren, aber auch auf viele Kirchenväter. Zwischen römischen und griechischen oder christlich-frühmittelalterlichen Quellen unterschied Franck nicht, sie galten ihm bezogen auf das Indienwissen gleichermaßen als überkommenes Traditionswissen. Vor allem übernahm er aber ganze Passagen aus der deutschen Übersetzung des Reiseberichts von Ludovico de Varthema (1470–1517), also einer zeitgenössischen Quelle. Vielleicht muss die Frage nach der Bedeutung antiker Autoritäten auch je nach Weltregion unterschiedlich beantwortet werden. Neben der Antike standen die Bibel und die Augenzeugenschaft. 20 Letztlich setzte Franck seine im Vorwort ausgeführte Entscheidung, antike Quellen durch zeitgenössische Erfahrung abzulösen, auch nicht konsequent um, sondern stellte eher verschiedenes Wissen aus unterschiedlichen Quellen nebeneinander, ohne es aufeinander zu beziehen, aber auch ohne zu bewerten, welche Wissensbestände er für glaubwürdiger hielt. 21 Das Zurückdrängen des antiken Wissens als Referenzpunkt aus dem Indiendiskurs war kein linearer Prozess. Denn während einerseits schon im 16.Jahrhundert – und Franck ist hier ein Beispiel, nicht die Ausnahme – die Bedeutung antiken Wis-

18

Ebd.13.

19

Vgl. Hans Gerd Rötzer, Traditionalität und Modernität in der europäischen Literatur. Ein Überblick

vom Attizismus-Asianismus-Streit bis zur „Querelle des Anciens et des Modernes“. Darmstadt 1979, z.B. 65; Grafton, New Worlds (wie Anm.1), 27 oder 58–72. 20

Van Gemert meint, besonders wichtig sei die Antike für Franck und seinen Zeitgenossen Schedel ge-

wesen, wenn sie „sich für die eigene Zeit, für überindividuelle, nationalkulturelle, nationalpolitische oder konfessionelle Belange fruchtbar machen ließ“; vgl. Guillaume C. A. M. van Gemert, Das Bild der römischen Antike in drei deutschen Chroniken des 15. bis 17.Jahrhunderts. Hartmann Schedel, Sebastian Franck und Aegidius Albertinus als Spiegel einer sich wandelnden Rezeptionshaltung, in: A. P. Orbán/M. G. M. van de Poel (Eds.), Ad Litteras. Latin Studies in Honour of J. H. Brouwers. Nijmegen 2001, 325–342, hier 340. 21

Sehr deutlich wird das auch daran, dass sein Indienbericht zunächst mit einer Beschreibung des

Reichs des Priesterkönigs Johannes beginnt, sich also ganz aus traditionellen mittelalterlichen Quellen speist, und daran kommentarlos Passagen aus dem Reisebericht Ludovico Varthemas anschließt. Beide Berichte schließen sich eigentlich aus, aber das scheint Franck nicht gestört zu haben; vgl. Franck, Weltbuch (wie Anm.14), 191–204. Grafton fasst ein ähnliches Phänomen bei Münster folgendermaßen zusammen: „New information did not modify or cancel the old, but piled up alongside it like fresh coal beside clinkers“; Grafton, New Worlds (wie Anm.1), 106.

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sens relativiert werden konnte, blieben antike Texte doch lange ein wichtiger Referenzpunkt des Diskurses. Auch in den Querelles des Anciencs et des Modernes wurden die antiken Wissenshelden nicht so von ihren Altären gestürzt, wie der bedeutende Aufklärungsforscher Paul Hazard noch 1939 formuliert hatte. 22 Im 18.Jahrhundert nahmen die Bezüge auf die Antike sogar zu und erhielten in der Klassik, zumindest ästhetisch, wieder Vorbildcharakter. So bezog sich der Zedler, die wichtige deutschsprachige Enzyklopädie des 18.Jahrhunderts, bei Lemmata zu Indien regelmäßig auf antike Autoren. 23 Antikes Wissen wurde im Vorfeld und in der Aufklärung gerade durch das Streben nach systematischer und komparatistischer Aufarbeitung von Wissensbeständen wieder wichtiger. Ein ebenso frühes wie eindrückliches Beispiel ist hier das Werk des französischen Jesuiten Joseph-François Lafitau (1681–1746) „Mœurs des sauvages américains: comparées aux mœurs des premiers temps“, auf den im Folgenden zurückzukommen sein wird. 24 Das Leben und die Vorstellungswelt der kanadischen First Nations waren schon zuvor in den früheren Relationes der kanadischen Jesuitenmission ausführlich beschrieben worden. 25 Aber erst Lafitau bezog diese Phänomene vergleichend auf die Antike. Es kann demnach keinesfalls von einer direkten Ablösung von Tradition durch Empirie gesprochen werden. Die Bedeutung und der strategisch-narrative Einsatz beider Legitimationsweisen scheinen sich vielmehr langsam und durchaus mit Gegenströmungen verschoben zu haben. Gerade bezogen auf Plausibilisierungsstrategien und epistemologische Autoritäten war die Frühe Neuzeit eine Zeit des Wandels, der Konkurrenz und Gegenläufigkeit verschiedener Konzepte. Die Verflechtungen werden noch komplexer, berücksichtigt man, dass in der Frühen Neuzeit das

22 Paul Hazard, Die Krise des europäischen Geistes. Hamburg 1939, 56, das französische Original erschien 1535. Wilfried Nippel betont, der frühneuzeitliche Pyrrhonismus habe zwar die Autorität der Überlieferung im Vergleich rationaler Kritik abgewertet, doch „innerhalb dieser veränderten Rahmenbedingungen entfaltete sich eine neu universalhistorische Perspektive auf Antike und Neue Welt zugleich“; Nippel, Antike und der Fortschritt (wie Anm.9), 58. 23 Vgl. im Folgenden vor allem Anm.61 und 62. 24 Joseph-François Lafitau, Moeurs des sauvages ameriquains, comparées aux moeurs des premiers temps. Paris 1724; vgl. hierzu: Margaret Hodgen, Early Anthropology in the Sixteenth and Seventeenth Century. Philadelphia 1964, insbesondere 346–348. 25 Vgl. dazu die Arbeiten von Franz-Joseph Post, Schamanen und Missionare. Katholische Mission und indigene Spiritualität in Nouvelle-France. Münster 1997. Es ist bezeichnend, dass diese Missionarsberichte in Briefform in der eher ideengeschichtlichen Forschung oft übersehen werden und Lafitau mit seinem Buch als Pionier gilt; vgl. z.B. Nippel, Altertum (wie Anm.5), 53; Meyer, Wahrheit (wie Anm.9), 184.

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überkommene Wissen nicht nur die antiken griechischen und römischen Autoren umfasste. Diese mussten vielmehr gerade in Fragen der Autorität mit biblischen Texten konkurrieren. So bezog sich Sebastian Franck regelmäßig auf Texte aus der Bibel oder der Kirchenväter. Gerade die Bibel wurde bis ins 18.Jahrhundert hinein als vollwertiger historischer Bericht angesehen. Traten antike Autoren mit ihren Berichten in Konkurrenz zu Bibelstellen, glaubte man eher der biblischen Autorität. 26 Über lange Phasen des Mittelalters wurde antikes Wissen in das christlich-biblische Gefüge eingebettet. Noch im Humanismus bemühte man sich, das antike Wissen zu christianisieren. Das zeigt sich auch im populären Diskurs: Die Schedel’sche Chronik bildete zwar verschiedene antike Philosophen ab und erläuterte sie, aber im gleichen Werk wurde die abgedruckte Weltkarte nach Ptolemaios geradezu biblifiziert. Sie wird eben nicht durch antike Gelehrte, sondern durch die Söhne Noahs gerahmt. 27 Nach Anthony Grafton soll sich Sir Walter Raleigh zur Vorbereitung für seine Weltfahrten ebenso auf die Bibel verlassen haben wie auf antike Historiographen. 28 Die Erfahrung nicht-christlicher Geschichte, nicht zuletzt die langen Kaiserlisten Chinas, stellte die Bibel als historische Autorität zunehmend in Frage. Als letzter großer Versuch, die biblischen Ereignisse mit der Weltgeschichte zu verbinden, gilt das Werk Bossuets. 29 In der Aufklärung, vor allem in den neuen schottischen Ansätzen zu einer Natural History of Man, verlor die biblische Geschichte zunächst an Bedeutung. Allerdings war schon die dritte Auflage der Encyclopaedia Britannica weniger säkular als die ersten zwei. 30

26

So konnte die Beschreibung des Untergangs von Atlantis bei Platon mit dem Argument bezweifelt

werden, dass dieses Ereignis nicht in der Bibel erwähnt wird; Grafton, New Worlds (wie Anm.1), 152. 27

Hartmann Schedel, Die Schedelsche Weltchronik. Nach der Ausgabe von 1493, mit einem Nachwort

von Rudolf Pörtner. Dortmund 1978, Weltkarte: XIII, Thales und Solon: LIX, Pythagoras: LXIv und mehr auf den folgenden Seiten. Anthony Grafton fasste zusammen, das Werk von Schedel „portrayed the history of the bible and the classical world as taking place in the cities and costumes of late medieval northern Europe“; Grafton, New Worlds (wie Anm.1), 22. Eine ähnliche Verbindung von biblischem und antikem Wissen zeigt sich in verschiedenen philosophischen und kosmologischen Enzyklopädien, ein bekanntes Beispiel ist Gregor Reisch, Margarita Philosophica. Freiburg 1503; vgl. dazu Grafton, New Worlds (wie Anm. 1), 14f. 28

Grafton, New Worlds (wie Anm.1), 207f.

29

Vgl. Hazard, Krise (wie Anm.22), vor allem 67–70.

30

Meyer, Wahrheit (wie Anm.9), 168; vgl. auch Silvia Sebastiani, Conjectural History vs. the Bible. Eight-

eenth-Century Scottish Historians and the Idea of History in the Encyclopaedia Britannica, in: Lumen. Se-

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Im Folgenden soll am Beispiel der Texte Pietro della Valles in diesem vielfach verflochtenen Feld eine Tiefenbohrung vorgenommen werden. Della Valles Texte sind hierfür eine besonders geeignete Quelle. Er führte Tagebuch und schickte seine Journale regelmäßig an Mario Schipano, einen befreundeten Medizinprofessor in Neapel. Diese Journale wurden später mit wenigen Veränderungen als Reisebriefsammlung veröffentlicht. 31 Das Werk erreichte schnell große Beliebtheit und wurde in viele Sprachen übersetzt, vor allem für die Levante galt es als klassischer Referenzpunkt. 32 Für unsere Fragen stellen die Briefe des Pietro della Valle eine besonders geeignete Quelle dar, zum einen wegen seiner besonderen Beobachtungsgabe. So beschrieb er die von ihm erlebte Umwelt ausführlicher als viele andere Autoren und scheute sich auch nicht vor Bewertungen. Er reiste durch Indien ohne konkretes Motiv, aber voller Neugier – laut Joan-Pau Rubiés stilisierte della Valle sich selbst als einen „pilgrim of curiosity“. 33 Mit Hilfe seiner Sprachkenntnisse, unter anderem sprach er etwas Arabisch, Türkisch und Persisch, konnte er direkt mit vielen Menschen in den bereisten Gebieten kommunizieren. In Bagdad verliebte er sich in die syrische Christin Sitti Maani Joerida und heiratete sie. 34 Zum anderen kam della Valle aus einem gelehrten Umfeld. Antikes Wissen bildete in seinen Briefen einen selbstverständlichen Referenzpunkt, deutlicher als bei vielen anderen Indienreisenden. 35 Geradezu konstitutiv war seine Selbststilisierung als Römer, wodurch er sich in die antike Tradition stellte. 36 An verschiedenen Stellected Proceedings from the Canadian Society for Eighteenth-Century Studies / Lumen. Travaux choisis de la Société canadienne d’étude du dix-huitième siècle 21, 2002, 213–231. 31 Vgl. zur Veröffentlichungsgeschichte Rubiés, Travel (wie Anm.13), 354, vor allem Anm.5. Rubiés belegt, dass die italienische Veröffentlichung sehr nah an den ursprünglichen Journalen war, mit der Einschränkung, dass einiges Kritische dem Christentum gegenüber wohl aus Angst vor Zensur ausgelassen wurde. Leider liegt keine moderne kritische Ausgabe von della Valles Text vor. 32 John D. Gurney, Pietro della Valle. The Limits of Perception, in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 49, 1986, 103–116, hier 104. 33 Rubiés, Travel (wie Anm.13), 355. 34 Seine Ehefrau verstarb 1621 in Persien, er nahm den einbalsamierten Leichnam mit sich auf seiner Reise durch Indien und sorgte für eine große Beerdigung in Rom; vgl. Rubiés, Travel (wie Anm.13), 335. 35 Ein Gegenpol sind die deutschsprachigen Angestellten der niederländischen Ostindienkompanie, die meist kaum über antike Bildung verfügten. Aber auch die im 17.Jahrhundert diskursmächtigen französischen Autoren wie Bernier, Thévenot und Tavernier bezogen sich deutlich seltener auf die Antike als della Valle. 36 Dies wird beispielsweise deutlich, wenn er den König von Persien mit Brutus vergleicht und hinzufügt: „einem Römer wie ich“; Pietro Della Valle, Fernerer Verfolg Der Reisen Petri Della Valle, Eines Römischen Patritii […] Zweiter Theil. Genf 1674, 3. Sendschreiben, 49f.

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len rief er Horaz quasi als Zeitgenossen an 37, oder er verglich den Schreibstil eines Freundes mit dem von Titus Livius. 38 Della Valle und seine intendierten Leser kannten also nicht nur antike Autoren, antikes Wissen und Deutungsmuster, sondern lebten mit ihnen und bezogen sich selbst und ihr Handeln immer wieder auf sie. Trotzdem war die Antike nicht mehr der einzige Referenzrahmen für diesen Römer des 17.Jahrhunderts. Er bewegte sich vielmehr mitten in einer Epoche des Wandels. Welche Rolle spielten die Antike, antikes Wissen und antike Deutungsangebote also für seine Indienwahrnehmung und -darstellung? Dabei geht es nicht nur darum, ob, sondern noch mehr wie dieses Wissen eingebracht wurde. 39 Wie verhält es sich zu anderen Erkenntnismöglichkeiten, vor allem empirischen, und anderen Deutungsangeboten, vor allem biblischen? Eine Ausgangsthese ist, dass sich die Antworten auf diese Fragen nicht in allen Bereichen gleich gestalteten. Deshalb werden im Folgenden verschiedene Themenbereiche systematisch in den Blick genommen.

III. Herrschaftsformen, Geographie und die indische Botanik Antike Staats- und Gesellschaftsideen hatten für die Wahrnehmung und Bearbeitung der Amerikas eine gewisse Bedeutung, jedenfalls für ganz spezifische Themen. So fand Sepulveda bei Aristoteles die Begründung für die Versklavung der indigenen Bevölkerung. 40 Noch häufiger hat die Forschung herausgearbeitet, wie gerade umgekehrt die Erfahrung der ganz fremden Amerikas für die europäische Staatstheorie wichtig gewesen sei und eine von der Antike losgelöste Weiterentwicklung staatstheoretischer Gedanken initiiert habe. 41 Für die Wahrnehmung und Bewertung von Herrschaft, Staatlichkeit und Herrschern in Asien wurde die Antike in den Reisebe-

37

Ebd.51.

38

Ebd.56.

39

Schon im Mittelalter, aber umso stärker seit der Renaissance und seit Ende des 16.Jahrhunderts wurde

nicht nur um Inhalte, sondern noch mehr um Methoden und Lesarten der autoritativen Schriften und Erkenntnisquellen gestritten; Grafton, New Worlds (wie Anm.1), 35. 40

Ebd.136; Nippel, Altertum (wie Anm.5), 33, 40f.

41

So stellt Grafton die These auf: „Only the brute fact of the discoveries inspired Bodin and his contem-

poraries with their confidence in modern achievement and their condescension towards ancient ignorance.“ Grafton, New Worlds (wie Anm.1), 126.

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richten des 16. und 17.Jahrhunderts dagegen nur selten herangezogen. Das ist ein interessanter Befund, weil für die moderne Darstellung und Wahrnehmung vieler asiatischer und vor allem islamischer Territorien sehr häufig das aus der Antike entlehnte Muster der ,orientalischen Despotie‘ strukturierend wirkte. 42 Allerdings findet sich die (durch das Konzept der Despotie zumindest implizite) Bezugnahme auf die Antike im Sinne der aristotelischen Staatslehre bis in die Moderne gerade nicht in Reiseberichten, sondern höchstens in Kompilationen und in Texten von in Europa verbliebenen Historiographen. Der Begriff der orientalischen Despotie taucht schon bei Giovanni Botero (1544–1617) auf, wird aber erst mit Montesquieus „Esprit des loix“ (1748) wirklich diskursmächtig. 43 In den Berichten aus dem Indien des 16. und 17.Jahrhunderts spielten dagegen weder solche Begrifflichkeiten noch andere Elemente antiker Staatslehre eine Rolle. Herrscher in Asien wurden nicht als Despoten, sondern vielmehr als Könige – oder auch Kaiser – wahrgenommen, also mit zeitgenössischen Begrifflichkeiten beschrieben, welche die Vergleichbarkeit mit den europäischen Verhältnissen, aber keine Differenz ausdrückten. 44 Auch ihre Herrschaftsweise wurde durchaus wie in Europa als policey, also mit dem gängigen Begriff für Herrschaftshandeln in Westeuropa bezeichnet. 45 Sogar Autoren wie François Bernier (1625–1688), auf den spä-

42 Vgl. allgemein zur Entwicklung des Konzeptes: Melvin Richter, Despotism, in: Philip P. Wiener (Ed.), Dictionary of the History of Ideas. Studies of Selected Pivotal Ideas. New York 1974, 1–18; Michael Curtis, Orientalism and Islam. European Thinkers on Oriental Despotism in the Middle East and India. Cambridge 2009; Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18.Jahrhundert. München 1998, vor allem 271–309. 43 Joan-Pau Rubiés sieht bereits früher das Werk von Pierre Bayle als entscheidende Prägung des Konzeptes der orientalischen Despotie; vgl. Joan-Pau Rubiés, Oriental Despotism and European Orientalism. Botero to Montesquieu, in: Journal of Early Modern History 9, 2005, 109–180, hier 110. 44 Antje Flüchter, Die Einschätzung indischer Herrschaft im deutschsprachigen Diskurs, in: dies., Vielfalt (wie Anm.8); Christina Brauner, Kompanien, Könige und caboceers. Interkulturelle Diplomatie an Gold- und Sklavenküste im 17. und 18.Jahrhundert. Köln 2015, 83–162; Walter Demel, Kaiser außerhalb Europas? Beobachtungen zur Titulatur außereuropäischer Herrscher zwischen ,deskriptiver‘ Reiseliteratur und politischen Interessen, in: Thomas Beck/Horst Pietschmann/Horst Gründer (Hrsg.), Überseegeschichte. Beiträge der jüngeren Forschung. Festschrift anläßlich der Gründung der Forschungsstiftung für Vergleichende Europäische Überseegeschichte 1999 in Bamberg. Stuttgart 1999, 56–75. 45 Beispielhaft sei der Bericht von Christian Burckhardt genannt, in dem man über indische Herrscher lesen kann, „da diese heyden sonst in andern Sachen / absonderlich in rebus divinis, sehr blind seynd / dennoch zu conservirung ihrer Policey in Erfindung kluger Staats-Griffe andern Völckern im geringsten nichts nachgeben“. Christian Burckhardt, Ost-Indianische Reise-Beschreibung oder Kurtzgefaßter Abriß von OstIndien und dessen angränzenden Provincien. Halle/Leipzig 1693, 130.

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tere Darstellungen des indischen Mogulreichs als orientalische Despotie immer wieder verwiesen, benutzten den Begriff der Despotie selbst nicht. 46 Erst am Übergang zur Moderne drang der Begriff der Despotie in die Texte der Reisenden aus Asien ein. Pierre Poivre (1719–1786) charakterisierte beispielsweise das vietnamesische Herrschaftssystem in seinem Reisebericht als despotisch. 47 Auch Carsten Niebuhr (1733–1815), der auf dem Rückweg von seiner Arabienexkursion in den 1760er Jahren in Indien war, bezeichnete die kleineren Herrscher in Indien als Despoten. 48 Pietro della Valle begegnete sehr verschiedenen Herrschern in Indien und setzte sich auch ausführlich mit ihnen und ihrer Herrschaftsweise auseinander. 49 Herrschaftsformen und -weisen gehören allerdings zu den Aspekten in seiner Darstellung, bei denen die Antike kaum als Referenz diente. Auch das Despotiekonzept findet sich in seinen Texten noch nicht. In einem Brief bestritt er geradezu jeden tyran-

46

Während in den deutschen frühneuzeitlichen Übersetzungen die Worte despotisch und Despotie bei

Bernier nicht zu finden sind, wurde das Wort tyrannisch verwandt und dann aber vor allem auf die Zwischengewalten wie Statthalter und Gouverneure bezogen, z.B. François Bernier, Sonderbare Begebnuß oder Erzehlung dessen was sich nach funffjährigen Krieg in denen Landen des Grossen Mogols begeben und zugetragen hat. Franckfurt am Mayn 1673, 117, 168, 179. Auf Seite 181 werden die Türkei, Persien und Industan als von Tyrannen beherrscht charakterisiert. Wichtige Elemente des späteren Konzepts der orientalischen Despotie werden vor allem im Brief an den französischen Minister Colbert beschrieben, aber eben ohne Gebrauch des Despotiebegriffs, 125–192. Dieser Brief, eine vergleichbar kurze Passage aus Berniers großem Werk, wurde im 18. und 19.Jahrhundert in das Konzept der orientalischen Despotie eingebaut, z. B. Christoph Meiners, Grundriß der Geschichte der Menschheit. Lemgo 1785, 130f. Zur Bedeutung von Bernier für das Marx’sche Konzept der asiatischen Produktionsweise vgl. James D. Tracy, Asian Despotism? Mughal Governments Seen from the Dutch East India Company Factory in Surat, in: Journal of Early Modern History 3, 1999, 256–281, hier 258f. 47

Pierre Poivre, Reisen eines Philosophen 1768. Eingeleitet, übersetzt u. erläutert v. Jürgen Osterhammel.

Sigmaringen 1997, 156, 211; Osterhammel betont aber, dass Poivre anders als Montesquieu und noch mehr seine vulgarisierenden Nachfolger eben nicht Asien und eine despotische Herrschaftsform gleichsetzte, sondern sehr viel genauer und differenzierter beschrieb und urteilte, vgl. ebd.Einleitung, 30f. 48

Carsten Niebuhr, Carsten Niebuhrs Reisebeschreibung nach Arabien und andern umliegenden Län-

dern. Kopenhagen/Hamburg 1774–1778. Bd. 2, 59; vgl. zu Niebuhr demnächst die Doktorarbeit von Miriam Hähnle, Den Orient erforschen und sich selbst finden. Wissen und Forschen im Umfeld der deutsch-dänischen Arabien-Expedition (1761–1767), sowie: Mirjam Hähnle, Das Ruinenfeld als ,Merkwürdigkeit‘ und Kontaktzone. Die Ägyptenberichte der dänischen Arabien-Expedition (1761–1767), in: Joachim Eibach/ Claudia Opitz-Belakhal (Hrsg.), Zwischen Kulturen. Mittler und Grenzgänger vom 17. bis 19.Jahrhundert. Hannover 2018, 93–117. 49

Besonders eindrucksvoll sind die Beschreibungen seiner Begegnung mit dem Hof in Ikkeri/Venkata-

pa, dem Samudrin von Calicut und der Königin von Olala, vgl. im 4. Teil das 5. und 7. Sendschreiben.

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nischen Charakter indischer Herrschaft. 50 Für die Frage, ab wann das Modell der orientalischen Despotie als Wahrnehmungsmuster des islamischen Mogulreichs relevant wurde, ist interessant, dass sich della Valle bei seinen zugegebenermaßen kurzen Bemerkungen über das Mogulreich und seine Herrscher explizit auf Botero berief, aber das Deutungsangebot des Despoten eben nicht übernahm. 51 In seinen Bemerkungen zum Mogulreich wird antikes Wissen höchstens geographisch im Sinne der räumlichen Verortung von della Valle genutzt. So erläuterte er, die Residenzen in Agra und Lahore befänden sich dort, wo König „Porus“ zu Alexanders Zeiten gelebt habe. 52 Antikes Wissen bietet demnach keinen Anhaltspunkt für die staats- oder gesellschaftstheoretische Einordnung oder Charakterisierung. Es ist naheliegend, nach der Bedeutung antiken geographischen Wissens zu fragen. Lange wurde betont, das über Humanismus und Renaissance neu entdeckte geographische Wissen aus der Antike habe die frühneuzeitliche europäische Expansion beeinflusst, wenn nicht beflügelt. 53 Gerade Ptolemaios, der in der Antike eher einem kleinen Kreis bekannt war, faszinierte die Gelehrten der Renaissance. 54 Das wird aber mittlerweile oft differenzierter gesehen. Vasco da Gama bediente sich wie andere Portugiesen des geographischen Wissens, das aus der Antike kam; es war aber gleichzeitig ein mit der arabischen Welt verflochtenes Wissen, oft auch nur durch arabische Quellen überliefert. 55 Zudem nutzten portugiesische Seefahrer 50 Vgl. Pietro Della Valle, Reiß-Beschreibung in unterschiedliche Theile der Welt. Bd. 4. Genf 1674, 1. Sendschreiben, 16. 51 Stattdessen kritisierte della Valle Boteros Begrifflichkeit, der Herrscher heiße „Mogol“ und eben nicht „Mogor“, siehe Della Valle, Reiß-Beschreibung 2 (wie Anm.50), 3. Sendschreiben, 36. 52 Ebd.36. 53 Reinhard Krüger hat dargelegt, wie das jeweilige Erdraumbewusstsein die Formen der iberischen Expansion strukturiert hat. So kann er auch erklären, weshalb die Portugiesen nicht an den Plänen von Kolumbus interessiert waren; vgl. Reinhard Krüger, „Atiro ao Oriente“. Die portugiesischen Seeunternehmungen des Spätmittelalters und die europäische Tradition des Erdraumbewusstseins, in: Lusorama. Revista de estudos sobre os paises de lingua portugesa 41, 2000, 9–44, vor allem 11–14. 54 Der Einfluss, den die Geographie des Ptolemaios bekam, nachdem sie aus dem Griechischen übersetzt und mit Kartenmaterial angereichert worden war, breitete sich bald über Italien hinaus aus. So finden sich entsprechende Abbildungen in der Schedel’schen Weltchronik, aber auch die kartographische Arbeit von Martin Waldseemüller von 1513 ist eine Verbindung von Ptolemaios mit neueren Weltkarten; vgl. Harlfinger, Wiedergeburt der Antike (wie Anm.3), 65–71. Zur Bedeutung von Ptolemaios in der Antike vgl. Schulz, Abenteurer (wie Anm.3), 420f., sowie Wolfgang Hübner, Klaudios Ptolemaios, in: Christoph Riedweg (Hrsg.), Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike. Basel 2018, 493–511. 55 Vgl. zu den islamischen Einflüssen auf die europäische Navigation Uwe Schnall, De sur a norte y viceversa: algunos indicios de contactos e influencias mutuas en relación con las técnicas de navegación entre

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afrikanisch-arabische Lotsen, die ihnen den Weg von der Ostküste Afrikas nach Indien wiesen und das Wissen um den Monsun vermittelten. Solche nichteuropäische Wissensstränge wurden in der modernen Geschichtsschreibung oft ausgeblendet. 56 Gerade in Indien, also in einer Weltgegend, die auch Reisende und Kaufleute der griechisch-römischen Antike aufsuchten und kannten, wurden antike Beschreibungen und vor allem Benennungen mit der frühneuzeitlichen Realität abgeglichen oder konfrontiert. Dadurch verlor das antike geographische Wissen bald an Autorität. Ein Echo davon fand sich in den eingangs angeführten Erklärungen Sebastian Francks, weshalb er lieber Seefahrer als antike Autoren zitieren wolle: Denn die Welt habe sich seit ihrer Zeit gewandelt, die Namen bei Ptolemaios und anderen passten nicht mehr. Das Argument wird geradezu toposhaft wiederholt. 57 Ähnlich argumentierte etwa hundert Jahre später auch Johannes de Laet (1581–1649), einer der Gründungsdirektoren der niederländischen Westindienkompanie. Er hatte ein vielbeachtetes Werk über die Neue Welt und 1631 auch eine Beschreibung des Mogulreichs auf Latein veröffentlicht. In seiner Einleitung erklärte er, viele antike Autoren, vor allem Plinius, hätten viel über Indien geschrieben, aber heute, also im frühen 17.Jahrhundert, sei alles anders, Namen und Orte und überhaupt alle Aspekte des Lebens hätten sich verändert. Deshalb wolle er sich nur auf zeitgenössische Reiseberichte beziehen. 58 Auch Pietro della Valle beklagte sich explizit, dass viele geographische Angaben der alten wie der neuen „Erdbeschreiber“ und auf Karten el Mediterráneo y el norte de Europa en la baja Edad Media y el principio del Renacimiento, in: J. Alemany/ Xavier Barral Altet (Eds.), Mediterraneum. El esplendor del Mediterráneo medieval s. XIII–XV. Madrid 2004, 389–399, sowie Charles Burnett, Translation from Arabic into Latin in the Middle Ages. The Translators and Their Intellectual and Social Context. Farnham 2009; für diese Hinweise danke ich Daniel König (Konstanz). 56 Ähnliches gilt auch für andere Tradierungen antiken Wissens, aus denen im Humanismus und der Renaissance die islamischen Stationen schlicht herausgeschrieben wurden; vgl. Walter Mignolo, The Geopolitics of Knowledge and the Colonial Difference, in: The South Atlantic Quarterly 101, 2002, 57–96; ders., The Darker Side of the Renaissance. Literacy, Territoriality, and Colonization. Ann Arbor, MI 2003. 57

Zudem erinnern solche Formulierungen an die erwähnte Position von Francis Bacon, dass man die

Antike oder konkreter vergangene Gedanken nicht als Autorität zitieren soll, sondern um zu sehen, wo sie sich geirrt hätten; vgl. Grafton, New Worlds (wie Anm.1), 200. 58

Interessanterweise nennt De Laet dann portugiesische, englische und niederländische, aber keine

französischen Autoren; Johannes De Laet, The Empire of the Great Mogol. A Translation of De Laet’s „Description of India and Fragment of Indian History“. Transl. by John S. Hoyland. Bombay 1928 (Ndr. New Delhi 1975), 1f. Eine ähnliche Vorliebe für zeitgenössische Autoren zeigt sich in seinem Buch über Amerika, dort nennt er de Acosta, de Lery, Hakluyt, Linschoten, aber weder Aristoteles noch Plinius oder Tacitus; vgl. van Gelderen, Hugo Grotius (wie. Anm.4), 68.

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nicht stimmten. 59 Manchmal nannte er antike Referenzen für Städte oder auch Flüsse und Gebirge, so für die Mogulresidenzstädte Agra und Lahore. Ähnlich erläuterte er bei seiner Reise durch Kandahar, dieses sei „von den Alten Paropamisso genennet worden“. 60 So sehr auch das geographische Wissen der Antike seinen praktischen Nutzen in der Frühen Neuzeit verloren hatte – viele Autoren hielten es dennoch für nötig zu erklären, weshalb sie es nicht nutzten (de Laet). Oder sie bezogen wie della Valle durch die Nennung der antiken Belege aktuelle Erlebnisse auf denjenigen Diskurs, der ihn und seine Leser zu Hause verband. Ihm – und anderen Autoren – diente das antike Wissen also weniger der Orientierung im Raum, sondern der Verortung im Diskurs. Schließlich konnte der Autor durch den Verweis auf antike Belege sein Wissen und damit seine Autorität inszenieren, auch wenn dem antiken Wissen selbst keine Autorität mehr zugeschrieben wurde. Umso interessanter ist die Feststellung, dass im 18.Jahrhundert manche Autoren in Zedlers „Universal-Lexicon“ geographisches Wissen aus der Antike geradezu systematisch aufgenommen zu haben scheinen. Beim Lemma „Calicut“, der westindischen Stadt, die Vasco da Gama 1498 als erste erreichte, liest man, dieser berühmte Hafen sei schon von Plinius und Ptolemaios erwähnt worden. 61 Darüber hinaus scheinen Ptolemaios, Strabon und Plinius systematisch nach Ortsnamen durchgegangen worden zu sein. Denn es gibt verschiedene Lemmata zu Orten, deren Inhalt nur darin besteht, dass die Orte von Strabon oder Ptolemaios erwähnt worden sind 62, allein die Nennung in einer antiken Quelle führte mithin zur Erstellung dieser Lemmata. Antikes Wissen wurde also im „Zedler“ mehr Autorität zugesprochen als bei della Valle, de Laet oder anderen frühneuzeitlichen Autoren. Doch diese Bedeutung der Antike, wie sie die Belege im „Zedler“ andeuten, spiegelt wohl eher einen bürgerlichen Wissenskanon, der nicht repräsentativ für Reisende in diesen Weltregionen ist. In Reiseberichten des 18.Jahrhunderts hatten sich vielmehr neue, moderne wissenschaftliche Referenzpunkte für die geographische Orientierung herausgebildet. Der bereits erwähnte Carsten Niebuhr verarbeitete in

59 Della Valle, Reiß-Beschreibung (wie Anm.50), 1. Sendschreiben, 23. 60 Ebd.3. Sendschreiben, 35. 61 Art.„Calicut“ in: Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Halle/Leipzig 1731–1754, Bd. 5, 254. 62 Vgl. die Stadt „Gange“, in: ebd.Bd. 10, 255.

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seinem Bericht über den Jemen in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts auch geographisches Wissen antiker Autoren, aber ähnlich wie della Valle vor allem, um die Orte im historischen Diskurs zu situieren. 63 Um dagegen genau zu bestimmen, wo ein Ort sich räumlich befand, bezog sich Niebuhr nicht auf antike Schriften, sondern auf Längen- und Breitengrade. So schrieb er beispielsweise, Surat, die wichtigste Hafenstadt des Mogulreichs, befinde sich auf 21°12'. Er nutzte also eine technisch-mathematische Verortung, entsprechend seiner Profession als Kartograph. 64 Anders als die geographischen Wissensbestände behielt das naturkundliche und medizinische antike Wissen seine Bedeutung bis weit in die Neuzeit hinein. Dies betraf Fachtexte für den Gebrauch in Europa, oft auf Latein, zunehmend aber auch in den jeweiligen Volkssprachen. Gleichzeitig wurden aber auch für die Ordnung der Wahrnehmung auf den Reisen in anderen Weltregionen antike Texte herangezogen. Gerade in nichteuropäischen Weltregionen erstaunte die botanische und zoologische Vielfalt europäische Reisende und Autoren von Enzyklopädien und Bestimmungsbüchern. 65 Dieter Harlfinger geht so weit zu behaupten, dass „für die Pflanzenbestimmung […] die antiken Schriftsteller maßgeblich“ blieben. 66 Auch Pietro della Valle bezog sich bei seinen Beschreibungen der indischen Pflanzenwelt mehrfach auf Dioskurides, einen Arzt aus dem 1.Jahrhundert, und im gleichen Atemzug auf Andrea Mattioli (1501–1577), der das Werk von Dioskurides ins Italienische übersetzte und mit einem langen Kommentar versah; es wurde erstmals 1544 veröffentlicht. 67 Zunächst scheint es, als habe della Valle die antiken Texte als Autorität für die Bestimmung von Pflanzen und Kräutern anerkannt. Aber schnell 63

Bei der Beschreibung, wie er die Sümpfe südlich von Babylon überquerte, betont er, diese seien schon

bei antiken Berichten zum Alexanderzug erwähnt worden: Niebuhr, Reisebeschreibung (wie Anm.48), Bd. 2, 247. 64

Niebuhr, Reisebeschreibung (wie Anm.48), Bd. 2, 56.

65

Vgl. Mechthild Habermann, Deutsche Fachtexte der frühen Neuzeit: naturkundlich-medizinische Wis-

sensvermittlung im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache. Berlin/New York 2011; für die Zoologie: Anne Bäumer-Schleinkofer, Die Enzyklopädien als Etablierung des Forschungsgebiets Zoologie in der Renaissance, in: Wolfgang Kullmann/Jochen Althoff/Markus Asper (Hrsg.), Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike. Tübingen 1998, 141–161. 66

Dieter Harlfinger, Graecogermania: Griechischstudien deutscher Humanisten. Die Editionstätigkeit

der Griechen in der italienischen Renaissance (1469–1523). Weinheim 1989, 229. 67

Zum Beispiel Della Valle, Reiß-Beschreibung (wie Anm.50), 3. Sendschreiben, 47, als er Amomum

sucht, das wohl ein Ingwergewürz ist. Interessanterweise erklärt er es auch mit seinen mangelnden Sprachkenntnissen, dass er dieses Kraut nicht bekommt, ebd.54. Zu Mattiolis Kommentar zu Dioskurides vgl. Renate Pfeuffer, Vom köstlichen Schatz der Kräuter. Das deutsche Kräuterbuch des Pietro Andrea Mattioli von

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schränkt er dies wieder ein, indem er erklärt, dass es in Indien als einer Zona Torrida eine Vielfalt von Pflanzen gebe, die er gar nicht alle beschreiben könne. Dafür seien auch „noch viel grössere Bücher als [das] deß Dioscoridis und Pliniie […] vonnöthen“. Doch außer diesen beiden und dem erwähnten Mattioli habe eben noch kein Europäer über die Pflanzenwelt geschrieben. 68 Della Valle bezieht sich hier also nicht auf das antike Wissen, weil er es für die beste Autorität hält; vielmehr nimmt er deutlich dessen Mängel wahr. Doch es fehlten andere Texte und Kompilationen, mit deren Hilfe er seine Wahrnehmung und deren Darstellung besser einordnen konnte.

IV. Menschen und andere Bewohner Indiens Noch interessanter werden die Formen des Gebrauchs antiker Texte, wenn wir die Wahrnehmung und Einordnung von Menschen betrachten. Die Vielfalt der indischen Bevölkerung war ein wichtiges Thema fast aller europäischen Reiseberichte der Frühen Neuzeit. Die indische Diversität überforderte allerdings viele Europäer, nicht zuletzt fehlten ihnen einheitliche Kategorien. Für die heutige Leserin vermischten sie geradezu chaotisch ethnische, protonationale, religiöse, geographische oder auch soziale Kriterien in ihren Beschreibungen. 69 Bezogen auf die frühe Wahrnehmung der amerikanischen Bevölkerung wird in der Forschung die große Bedeutung des antiken Wissens betont. Nur so habe beispielsweise Jose de Acosta die „Neuigkeit und Monstrositäten der Neuen Welt in eine gewissermaßen beruhigende und dem Leser vertraute Perspektive“ rücken können. 70 Martin van Gelderen

1563 und seine Illustrationen, in: Berichte des Naturwissenschaftlichen Vereins für Schwaben 118, 2014, 3–24, 6f. 68 Della Valle, Reiß-Beschreibung (wie Anm.50), 1. Sendschreiben, 15f. Der Druck von Dioskurides’ Kreutter Buch (Frankfurt am Main 1546) umfasste immerhin 827 Kapitel und beschrieb 600 Pflanzen; Harlfinger, Graecogermania (wie Anm.66), 238. Der berühmte „Hortus Malabaricus“ im Auftrag Hendrik van Rheedes benötigte alleine 12 Bände nur für die Pflanzen Keralas; vgl. Hendrik Adriaan van Rheede tot Drakestein, Hortus Indicus Malabaricus. Continens regni Malabarici apud Indos cereberrimi omnis generis plantas rariores, Latinas Malabaricis, Arabicis, Brachmanum charactareibus hominibusque expressas. Amsterdam 1678–1703. 69 Vgl. ausführlich: Antje Flüchter, Handling Diversity in Early Modern India? Perception and Evaluation in German Discourse, in: The Medieval History Journal 16, 2013, 297–334 (Special Issue: Handling Diversity. Medieval Europe and India in Comparison [13th–18th Century]). 70 Van Gelderen, Hugo Grotius (wie Anm.4), 59. Anthony Grafton erklärt, wie antikes Wissen mit großer

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schrieb, dass angesichts der Fremdheit der Indianer, ihrer Nacktheit, der freien Sexualität und des Kannibalismus „der Rückgriff auf die theoretischen Vorgaben der Antike […] selbstverständlich“ erschienen sei. 71 Eine vergleichbare grundlegende Bedeutung der Antike, um die vielen Bevölkerungsgruppen Indiens dem Leser zu erklären, kann in den frühneuzeitlichen Reiseberichten nicht nachgewiesen werden. Im Gegenteil verschwand ein klassisches antikes Deutungsmuster, nämlich die ‚Monster‘ oder andere seltsame Einwohner, die Asien noch im Mittelalter bevölkert hatten, aus dem frühneuzeitlichen Indiendiskurs: Menschen ohne Kopf, solche mit großen Ohren, in denen sie sich zum Schlafen einhüllen konnten, mit nur einem Bein und weitere Gruppen hatte Jean de Mandeville noch besucht, folgt man seinem fiktiven Reisebericht aus dem 14.Jahrhundert. Man fand sie auf manchen mittelalterlichen Karten am Rande der bewohnten Welt. 72 Das Wissen, die Legenden oder Mythen über diese Wesen stammten aus der Antike: Herodot und Ktesias, Megasthenes werden genannt, vermittelt von Solinus und Plinius. 73 Wie eingangs erwähnt, hatte Sebastian Franck manche antiken Autoren wegen ihrer „Fabeln“ verworfen. Sein Weltbuch enthält aber immerhin ein Kapitel „Was wunderliches in india erfunden werd“, in einem anderem werden solche wundersame Menschen, Amazonen, Kannibalen, fliegende Schlangen und der Vogel Phönix beschrieben. 74 Als Quelle verwies Franck allerdings, das muss betont werden, nicht auf die einschlägigen antiken Autoren, nämlich Solinus, Kallisthenes sowie Plinius, sondern auf den Kirchenvater Hieronymus. Pietro della Valle begegnete zwar keinen Hundsmenschen oder Einbeinern, aber auch er bezog sich bei der Beschreibung verschiedener Bevölkerungsgruppen IndiAutorität ein Deutungsmuster für die Wahrnehmung und Darstellung der amerikanischen Einwohner in den frühen Texten formte; Grafton, New Worlds (wie Anm.1), 44–48. 71

Van Gelderen, Hugo Grotius (wie Anm.4), 55.

72

Vgl. nach wie vor grundlegend Partha Mitter, Much Maligned Monsters. History of European Reac-

tions to Indian Art.Oxford 1977, zum Mittelalter vor allem 6–8; Grafton, New Worlds (wie Anm.1), 36–40. 73

Vgl. zu diesen Lebewesen im antiken Diskurs: Schulz, Abenteurer (wie Anm.3), 182, zur Weiterent-

wicklung durch Megasthenes 285. Interessanterweise geht Schulz in Anlehnung an die Althistoriker Reese und Karttunen davon aus, dass diese Narrative aus der indischen Mythologie und nicht ausschließlich aus dem griechischen Diskurs stammen, vgl. ebd.182. Die Wunderwesen hätten nach Schulz fast problemlos in den frühchristlichen Diskurs integriert werden können. Augustinus habe ihre Existenz am ehesten bezweifelt, bei anderen Autoren wurden sie als Nachfahren der Kainskinder interpretiert. Sogar Roger Bacon und Albertus Magnus hätten nicht an ihrer Existenz gezweifelt, ebd.438f. 74

Vgl. Franck, Weltbuch (vgl. Anm.14),191v, 192. Ein ähnliches Vorgehen beschrieb Grafton für Sebas-

tian Münster; vgl. Grafton, New Worlds (wie Anm.1), 102.

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ens auf antike Autoritäten. Bei diesem Thema hatte die Antike für ihn sogar signifikant mehr Gewicht als bei Herrschaft oder Geographie! Vor allem für die Erklärung von Kleidung und Haartracht, aber auch sozialer Differenzierung zog er Herodot, Diodor oder Aemilius Probus (vielleicht meinte er hier Cornelius Nepos) heran. Gleichzeitig wird bei diesen Referenzen deutlich, dass überkommenes antikes Wissen für della Valle eben nicht nur die uns heute vertrauten Autoren der griechischen und römischen Antike meinte, sondern dass sein Verständnis des überlieferten Wissens heterogener und verflochtener war. Er mischte offensichtlich Nachrichten griechischer Autoren über antike Kulturen in Ägypten und dem Mittleren Osten mit solchen aus der Bibel. Beispielsweise zog er Herodot und den anonymen Aemilius Probus heran, um die Verschleierung der Frauen in den ‚Morgenländern‘ zu erklären 75, und er verwies auf Strabon für die überlangen Haare der indischen Männer, „welche die Heyden / gleich wie von alters / nach Strabonis (a) Bericht / auch heutiges Tages lang wachsen lassen / gantz anderst alß die Mahometaner / welche dasselbe abscheren“. 76 Anschließend vergleicht er beides mit den Sitten der antiken Ägypter: „Wobei ich diese in acht genommen / daß die heutige Indianer in vielen absonderlichen Dingen / mit den alten Egyptiern übereinkommen.“ Della Valle benutzt hier das überkommene Wissen aus der Antike einerseits als Informationsquelle und als Referenz für sein eigenes Wissen, andererseits aber auch als comparatum in einer vergleichenden Methode, um die fremden Phänomene zu erklären. Die Ähnlichkeit zwischen Indern und Ägyptern begründet er schließlich mit der biblischen Sintflutgeschichte. 77 Die biblische Geschichte wird hier also mit anderen antiken Quellen harmonisiert und zusammen als ein verflochtener Erklärungszusammenhang verstanden. Auch bei der Erklärung der sozialen Differenzierungen Indiens, also dem Phänomen, das im modernen Diskurs als Kaste bezeichnet wird 78, verbindet und kontras-

75 Die Verschleierung der Frauen in Morgenländern erklärte della Valle mit einem Bezug auf Aemilius Probus; vgl. Della Valle, Reiß-Beschreibung (wie Anm.50), 3. Sendschreiben, 55. An anderer Stelle vergleicht er die Frauenkleider interessanterweise aber mit den Roben der Theatiner oder Pauliner (Jesuiten); vgl. ebd. 3. Sendschreiben, 40. 76 Della Valle, Reiß-Beschreibung (wie Anm.50), 1. Sendschreiben, 16. Er bemerkte auch, dass die persischen Männer ihre Haare so lang wie Frauen tragen, ebenso „wie die alten Persianer nach Herodot“, ebd.3. Sendschreiben, 40. 77 Ebd.1. Sendschreiben, 27. 78 Vgl. zur Konstruktion der Kasten durch den orientalischen Diskurs: Nicholas D. Dirks, Castes of Mind.

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tiert della Valle verschiedene Referenzsysteme. Er bezieht sich zunächst auf verschiedene antike Quellen (Diodor und Herodot), kritisiert dann aber ähnlich wie bereits bei geographischen oder botanischen Themen ihre Ungenauigkeit: Die antiken Autoren berichteten von sieben distinkten Gruppen, während es doch in der von ihm erlebten indischen Wirklichkeit entweder vier Hauptgeschlechter oder unzählige Gruppen seien. Während hier einerseits die antiken Informationen mit della Valles eigener Wahrnehmung oder den Erklärungen seiner indischen Kontaktpersonen abgeglichen werden, nutzt er andererseits bei der Erklärung des sozialen Phänomens in komparativer Weise das Alte Testament: Die indianischen Geschlechter seien „gleich wie die Stämme der Kinder Israel“. 79 In ähnlicher Weise vergleicht della Valle eine Seite später die Brahmanen mit den Leviten in der Bibel; die Ähnlichkeit sieht er vor allem in ihrer Gelehrtheit. 80 Della Valle scheint demnach die Bibel für die Erklärungen sozialer Distinktion als den verlässlichsten Bezugspunkt im Geflecht überkommenen Wissens angesehen zu haben. Nur mit antikem Wissen erklärt della Valle aber die indischen Asketen oder Yogis und setzt sie mit den antiken Gymnosophisten gleich: „Diese sind / sonder Zweiffel / die Alte / in der gantzen Welt so berühmte Gymnosophisten / und mit einem Wort / die jenige Sophisten / welche / zu ihrer Zeit gleichfals nackend gegangen seyn“ und ebenfalls Hunger und Durst freiwillig erlitten hätten. 81 Hier reiht sich della Valle in eine lange Traditionslinie ein. Bereits Sebastian Franck hatte in seinem Weltbuch von den indischen Gymnosophisten als „geystliche Inder berichtet, die nackend und bewegungslos in der Wüste“ lebten. 82 In vielen frühneuzeitlichen Reiseberichten werden die Gymnosophisten ähnlich eingeordnet. 83 Diese GleichsetColonialism and the Making of Modern India. Princeton 2001. Zum Kastensystem im heutigen Indien vgl. Axel Michaels, Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart. München 1998, 176–193. 79 Della Valle, Reiß-Beschreibung (wie Anm.50), 1. Sendschreiben, 28. 80

Ebd.29.

81

Ebd.35; ähnlich formulierte della Valle an einer späteren Stelle: „Nur allein diese will ich hierbei an-

deuten / daß / so viel ich abnehmen kann / die so berühmte alte Gymnosophisten, eine Art von diesen Indianern / welche auf so vielerley Weise unter einander verschieden sind / gewest seyen / und vielleicht noch seyn“, vgl. Della Valle, Reiß-Beschreibung (wie Anm.50), 3. Sendschreiben, 35. Für den Übertrag dieses Wissens über diese Gruppe aus der Antike in den vormodernen Diskurs war wohl vor allem der Alexanderroman wichtig; vgl. Florian Kragl, Die Weisheit des Fremden. Studien zur mittelalterlichen Alexandertradition. Bern 2005. Vgl. zur antiken Wahrnehmung der Yogis: Schulz, Abenteurer (wie Anm.3), 255f., 422. 82

Franck, Weltbuch (wie Anm.14), 194. Allerdings weist bei Franck nur der Begriff „Gymnosophist“ auf

die antike Referenz hin, er nennt keine spezifische Quelle. 83

380

Vgl. beispielsweise Abraham Rogerius, Offne Thür zu dem verborgenen Heydenthum […]. Nürnberg

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zung indischer Asketen mit antiken Gymnosophisten hatte sich fest im europäischen Diskurs etabliert und wurde kaum mehr mit der konkreten Wahrnehmung abgeglichen oder hinterfragt.

V. Das Wissen über indische Religionen zwischen Empirie, antikem und biblischem Wissen Mit den Ausführungen über Brahmanen, Yogis und Gymnosophisten betreten wir ein zentrales Feld für die Frage nach der Bedeutung antiken Wissens im vormodernen Indiendiskurs: das Feld der Religion. Ein erstes Ergebnis ist, dass della Valle auf diesem Feld die Antike in zwei unterschiedlichen Funktionen heranzieht. Einerseits nutzt er sie als Referenzpunkt für das von ihm und seinem Publikum geteilte Wissen, also einer positiven und produktiven Funktion, andererseits für abwertende Vergleiche derjenigen religiösen Praktiken, die er als seltsam empfindet. So sei die Anbetung von Kühen in Indien „gleich wie den Apis in Egypten“, den die Ägypter „für eine Gottheit halten“ 84; und wenn die Inder ihren „Abgott“ Rama fragen, was zu tun sei, entspreche das der Praxis „wie sie vor alten Zeiten in unsern Landen gethan haben“. 85 Auch das Rosenfest in Persien lässt ihn mutmaßen, „daß dieses Rosen-Fest vielleicht noch etwas übriges von dem alten Fest der Flora, oder Blumen-Göttin seye“. 86 Und schließlich erinnert die indische Praxis, sich selbst Farbe ins Gesicht zu streichen, wohl im Kontext des Holi-Festes, des bis heute gefeierten indischen Frühlingsfestes, della Valle an die Verehrung der Römer für Jupiter, wofür sie sich das Gesicht rot angemalt hätten, wie Plinius es beschrieben habe. 87 Hier hat die Antike keine Vorbildfunktion, sie steht auch nicht für etwas Erhabenes, sondern repräsentiert eher das Exotisch-Fremde, Abergläubische und Seltsame. Solche Vergleiche belegen 1663, Vorwort unpaginiert. Im 18.Jahrhundert werden die Gymnosophisten im „Zedler“ wieder mit den Brahmanen in einer Gruppe vereint; vgl. Art.„Brachmanes“, in: Zedler, Universal-Lexicon (wie Anm.61), Bd. 4, 967. In diesem Lemma werden die Brahmanen als „indianische“ Philosophen erklärt, ausführlich wird dann auf Plinius, Strabon und Diodorus Siculus Bezug genommen. Vgl. allgemein Paola von Wyss-Giacosa, Religionsbilder der frühen Aufklärung. Bernard Picarts Tafeln für die „Cérémonies et Coutumes religieuses de tous les Peuples du Monde“. Wabern/Bern 2006. 84 Della Valle, Reiß-Beschreibung (wie Anm.50), 3. Sendschreiben, 39. 85 Ebd.40. 86 Ebd.45. 87 Ebd.1. Sendschreiben, 14.

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eine mögliche Ambivalenz gegenüber der Antike, auch nach deren Neubewertung im Humanismus und der Renaissance. Gleichzeitig lassen manche dieser Stellen eine Hierarchie unter den verschiedenen ‚Antiken‘ erahnen. So schreibt della Valle über Götter mit Tierköpfen, sei es Anubis oder Ganesha: „welches nicht allein die Griechen / und Egyptier / sondern auch unsere Italiener selbsten gethan haben“. 88 In einem weiteren Punkt unterscheidet sich die Funktion antiken Wissens für die Religion von den vorangegangenen Themen: Mit den gerade genannten Vergleichen glich della Valle keine antiken Informationen über ein indisches Phänomen der Vergangenheit mit der erlebten Gegenwart ab, sondern hier wollte er mithilfe einer Komparatistik ein fremdes Phänomen mit einem bekannten erklären; das Vergleichen ist demnach eine „ethnographische Übersetzungsleistung“. Zumindest bei dem Holi-Fest wird die römische Verehrung des Jupiter zum comparatum. In solchen narrativen Verfahren liegen die Anfänge späterer Religionskomparatistik, wie sie in der Aufklärung und noch mehr im 19.Jahrhundert immer zentraler wurde. 89 Als ein früher Vertreter dieser Methode wird immer wieder der eingangs erwähnte Jesuit Joseph-François Lafitau genannt. In seinem Werk verglich Lafitau die First Nations in Kanada nicht nur synchron, sondern verschaltete „sie im historischen Raum mit vergleichbaren Kulturen“, unter anderem aus der Antike, wie Annette Meyer herausgearbeitet hat. 90 Lafitau steht für viele am Beginn der komparatistischen Methode des Religionsvergleichs. Wilfried Nippel sieht die Pionierleistung Lafitaus darin begründet, „daß er die Befunde aus der antiken Überlieferung und aus der zeitgenössischen Ethnographie zur jeweils wechselseitigen Kontrolle einsetzte und daß er vor allem auch die Chance nutzte, den reicheren neuzeitlichen Erfahrungsschatz zur Erhellung und gegebenenfalls Korrektur der häufig spärlichen antiken Nachrichten einzusetzen“. Damit verkennt Nippel meiner Meinung nach, dass es bei Lafitau – und eben auch bei den Vergleichen della Valles – nicht um eine Korrektur des antiken Wissens ging, sondern um die Erklärung des Neuen, zum Beispiel der fremden ‚indianischen‘ Götter, durch die Antike. Es wäre aber zu überlegen, ob die komparatistische 88

Ebd.27.

89

Die entstehende Religionskomparatistik ist auch wichtig für die Konstruktion, wenn nicht Erfindung

der Weltreligionen; vgl. Tomoko Masuzawa, The Invention of World Religions, or: How European Universalism Was Preserved in the Language of Pluralism. Chicago/London 2005; Talal Asad, Genealogies of Religion. Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam. Baltimore 1993. 90

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Meyer, Wahrheit (wie Anm.9), 184.

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Methode sich nicht gerade im Diskurs über die Amerikas entwickelte, weil es keine antiken Informationen zu den dort vorgefunden kulturellen Phänomenen gab und geben konnte. 91 Bezeichnenderweise lässt Nippel nur José de Acostas „Historia natural y moral de las Indias“ (1589), eine weitere klassische Schrift zu den Amerikas, als Vorläufer der modernen Komparatistik gelten. 92 Sicherlich sind die kleinen Satzfragmente della Valles nicht mit der systematischen Arbeit Acostas oder Lafitaus zu vergleichen, aber dennoch liegt hier der Beginn einer neuen, komparatistischen Verwendung der Antike für den Indiendiskurs: Nicht mehr der überkommene Informationsgehalt wird herangezogen und beurteilt, sondern ihre Bedeutung liegt in ihrer Erklärungskraft als comparatum, als Vergleichselement in einem komparatistischen Ansatz. 93 Und hier unterscheidet sich della Valle auch methodisch von zeitgenössischen Autoren. Beispielsweise erwähnt der protestantische Geistliche Abraham Rogerius (1609–1649), der mit der niederländischen Ostindienkompanie nach Indien gekommen war, in seinem Werk zu den indischen Religionen nur einleitend die besondere Bedeutung von Aristoteles, Platon und Sokrates und die Frage, ob die Erkenntnis Gottes nicht auch bei den antiken ‚Heiden‘ vereinzelt geleuchtet habe. Im weiteren Text werden antike Informationen angeführt, aber eben nicht vergleichend erklärt. 94 Gerade auf dem Feld der Religionen hatte antikes Wissen eine noch grundlegendere Funktion für die Erkenntnis im Sinne von Wissensproduktion und Wissensplausibilisierung. Hier kam es in der Frühen Neuzeit zu interessanten Verschiebungen des Dreiklangs von Empirie, christlichem Wissen und antikem Wissen. Das zeigt sich besonders deutlich, wenn man della Valles Position mit verschiedenen Autoren über die Zeit hinweg vergleicht. Della Valle versuchte immer wieder selbst, durch Gespräche, sozusagen empirisch, etwas über die Religion der Inder zu erfah-

91 Nippel, Altertum (wie Anm.5), 54. 92 Vgl. Rogerius, Heydenthum (wie Anm.83). 93 Vgl. auch Jürgen Jensen, Ethnographische Datenerfassung, Dokumentation und Beschreibung bei Pietro della Valle (1586–1652), in: Anthropos 102, 2007, 421–439, hier 423. Joan-Pau Rubiés bezeichnet dieses Vorgehen als „the allegorical analogy“, Rubiés, Travel (wie Anm.13), 357; meines Erachtens ist es aber durchaus der Beginn der komparatistischen Erkenntnisweise. 94 Bei den Beschreibungen der Witwenverbrennung bezieht er sich beispielsweise auf die Berichte von Strabon, Rogerius, Heydenthum (wie Anm.83), 184–186. Schon eher komparativ ging Philippus Baldaeus, Wahrhaftige Ausführliche Beschreibung. Amsterdam 1672, vor; dem muss weiter nachgegangen werden.

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ren. Sein Reisebericht zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er über seine direkte Kommunikation mit den Bewohnern der von ihm bereisten Länder schreibt. JoanPau Rubiés betont, „della Valle compared and researched, asked questions and listened to answers“. 95 Die Figur des einheimischen informant ist in seinen Reiseberichten deutlich weniger verdeckt als in anderen! 96 Allerdings stieß della Valle bei seinen Versuchen, mit einzelnen Indern über ihre Religion zu reden, vor allem auf ein Sprachproblem: Er klagte, dass diejenigen, die Portugiesisch oder Persisch verstünden, wenig wüssten, während es mit den religiösen Gelehrten keine gemeinsame Sprache gebe. 97 Della Valle sprach etwas Arabisch, Türkisch und Persisch. 98 Besonders aufschlussreich für die Erlangung von Wissen und die Zirkulation von Wissen ist eine längere Auseinandersetzung mit einem Brahmanen 99: Dieser gibt ihm „indianische“ Bücher über ihre Lehre; sie sprechen vor allem länger über die Idee der Reinkarnation. Der Brahmane erklärt della Valle, die gezeigten Bücher seien „ein Werck des Pythagoras“. Della Valle erläutert seiner Leserschaft, „daß nehmlich die Indianer von der Seele das jenige glaubten / was Pythagoras sie hiervon / und sie hinwiederum die Egyptier gelehret“ hätten. 100 Damit schließt der Text an eine eingeführte Deutungslinie an, welche die Reinkarnationskonzepte in Indien mit der Lehre des Pythagoras verband. 101 Noch im „Zedler“ liest

95

Rubiés, Travel (wie Anm.13), 356. Dies mochte vielleicht auch an seinem eigenen durchaus eigenwil-

ligen Glauben liegen; vgl. ebd.357 sowie 368–371. 96

Die Bedeutung des „local informant“ wurde in letzter Zeit vor allem im Kontext der Wissenschaftsge-

schichte diskutiert; vgl. Kapil Raj, Relocating Modern Science. Circulation and the Construction of Knowledge in South Asia and Europe, 1650–1900. Houndsmills 2007; Bettina Dietz, Contribution and Co-Production. The Collaborative Culture of Linnaean Botany, in: Annals of Science 69, 2012, 551–569. 97

Vgl. Della Valle, Reiß-Beschreibung (wie Anm.50), 1. Sendschreiben, 26; ähnlich: 1. Sendschreiben,

38 f.: Hier beschreibt della Valle, wie er einen weiteren Tempel mit vielen interessanten Götzen besuchte, „deren Nahmen / und Geschicht aber ich / wegen der kurtzen Zeit / und weil ich ihre Sprach nicht verstund / nicht habe erfahren können“. 98

Vgl. Jensen, Datenerfassung (wie Anm.93), 431–433.

99

Hier und im Folgenden: Della Valle, Reiß-Beschreibung (wie Anm.50), 1. Sendschreiben, 27.

100 Ebd.27; wahrscheinlich bezieht sich der Text hier auf Flavius Philostrato. 101 Sogar in Reiseberichten von VOC-Angestellten, wie Jürgen Andersen, wurde der in Indien verbreitete Glaube an die Seelenwanderung mit Pythagoras verbunden; vgl. Jürgen Andersen/Volquard Iversen, Orientalische Reise-Beschreibung Jürgen Andersen aus Schleßwig, der Anno Christi 1644 außgezogen, und 1650 wieder kommen und Volquard Iversen aus Hollstein, so anno 1655 außgezogen, und 1668 wieder angelanget: sind beyde respective durch Ost-Indien, Sina, Tartarien, Persien, Türckeyen, Arabien und Palestinam gezogen. Hamburg 1696, 32. In diesem Text mag es allerdings auch von dem gelehrten Herausgeber Adam Olearius hinzugefügt worden sein. Christian Burckardt, ein anderer VOC-Angestellter, bezeichnet die indi-

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man, die Inder seien Pythagoristen, weil sie an die Seelenwanderung glaubten. 102 Im 18.Jahrhundert ist diese Beziehung allerdings nicht mehr ganz so unumstritten, wie Jemima Kindersley erläuterte. So könne man beispielsweise heute nicht mehr klären, ob die Seelenwanderung bei den Brahmanen von Pythagoras entlehnt sei. 103 Della Valle vertiefte das Gespräch mit dem Brahmanen und dieser erklärte ihm, dass Brahma, der vornehmste Gott, nach dem die Brahmanen benannt seien, eben jener Pythagoras sei. Della Valle fasste zusammen: „welches gewißlich etwas frembdes ist / und in Europa für etwas neues würde gehalten werden / wann man dafürhalten wolte / daß Pythagoras in Indien für einen Gott angebetten worden“. Durchaus selbstkritisch relativierte della Valle seine Aussage: Vielleicht habe er ja „auß Mangel eines Dolmetschen“ den Brahmanen nicht richtig verstanden. Gleichzeitig dachte er die mögliche Zirkulation von Wissen weiter: Vielleicht wiederhole der Brahmane nur, was „er jemand von unsern Europeern sagen hören / daß Pythagoras der erste Urheber der närrischen Meynung von der Transmigration und Wanderschafft der Seelen gewest seye“. 104 Della Valle war aus verschiedenen Gründen mit dieser behaupteten Transfererklärung nicht zufrieden. Seinen Unglauben begründet er mit Diogenes Laertius, „welcher deß Pythagoras Leben sehr weitläufftig beschrieben / da er von seiner Reyse in Egypten / und von seinem Gespräch mit den Chaldeern und Magis Meldung thut / mit keinem Wort [erwähnt] / daß er jemals in Indien gereyset / noch einige Gemeinschafft mit den Brahmanen gemacht habe“. 105 Im Rahmen dieses Beitrages ist interessant, wie della Valle die Position des indischen Kommunikationspartners durch sein antikes Wissen in Frage stellte, während er bei anderen Themen gerade andersherum die Antike durch seine eigene Erfahrung korrigiert hatte. Ob antikes Wissens korrigiert oder als Korrektiv herangezogen wurde,

schen „Heyden“ alle als der „Pythagoreischen Secte zugethan“; Burckhardt, Reise-Beschreibung (wie Anm. 45), 108, 116. Zu Pythagoras im Kontext der antiken Expansion vgl. Schulz, Abenteurer (wie Anm.3), 143f. 102 Artikel zu Ostindianischen Speisen und Früchten in: Zedler, Universal-Lexicon (wie Anm.61), Bd. 25, 2338. 103 Jemima Kindersley, Briefe von der Insel Teneriffa, Brasilien, dem Vorgebirge der guten Hoffnung und Ostindien. Leipzig 1777, 114. 104 Della Valle, Reiß-Beschreibung (wie Anm.50), 1. Sendschreiben, 28. Es folgen noch einige gelehrte Überlegungen, weshalb della Valle bezweifelt, dass Pythagoras Brahma sei. Vgl. zu dieser Episode auch Rubiés, Travel (wie Anm.13), 372f. 105 Della Valle erklärte, wenn Pythagoras die Inder etwas gelehrt habe, dann nicht direkt, sondern durch seine Bücher, „die vielleicht nach Indien gebracht worden“ seien; vgl. Della Valle, Reiß-Beschreibung (wie Anm.50), 1. Sendschreiben, 27.

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war also situativ verschieden. Ausschlaggebend mag auch die Autorität des Augenzeugen gewesen sein. Antikes Wissen besaß gerade auf dem Feld der Religion eine besondere epistemologische Bedeutung. Das zeigt sich vor allem daran, wie della Valle andere christlicheuropäische Texte zu den Religionen Indiens, vor allem von Missionaren, bewertete. In der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts waren viele katholische Orden in Indien aktiv, aber von ihrem Wissen hielt della Valle nicht sehr viel. Er kritisierte beispielsweise, was der Jesuit Johannes de Lucena über die Religionen Indiens geschrieben hatte: „Es mißfället mir auch an seinem Buch / daß er / wie klärlich zu sehen ist / viel Sachen / die er wol gewust hat / zu beschreiben unterlassen / entweder weil es ärgerliche und gottlose Sachen gewest / oder weil sie nicht zu seinem Vorhaben gedienet.“ 106 Della Valle deutete hier zum einen die innere Zensur des Ordens an, wonach Dinge, die ein einfacher Christ nicht lesen sollte, ausgelassen wurden. Er unterstellte aber auch Missionaren in besonderem Maße eine strategische Selektion in der Wissensvermittlung. Letzteres ist plausibel; es ist aber auch interessant, dass della Valle diese Kritik bei keinem anderen Autor und keiner Autorengruppe, weder zeitgenössisch noch antik, so explizit äußerte – ganz abgesehen davon, dass er bei der Veröffentlichung seiner Texte ebenfalls auf die katholische Zensur Rückschicht nehmen musste, wie Rubiés nachgewiesen hat. 107 Etwas mehr als von den Texten der Jesuiten hielt della Valle zunächst von dem Franziskaner Francesco Negrão, den er in Isfahan kennen und schätzen gelernt hatte. 108 Dieser hatte ein Buch über die Religion der Brahmanen geschrieben, das della Valle aber leider dort wegen seiner knappen Zeit nicht hatte lesen können. Als er ihn in Goa erneut traf, schwand die Freude bei intensiveren Gesprächen bald: Denn ich habe „befunden / daß er [...] in den alten Historien wenig belesen / und in der Erdbeschreibung gar nicht erfahren gewest; da ich doch nicht sehen kan / wie er ohne die106 Ebd.39. Wahrscheinlich bezieht sich della Valle hier auf Lucenas Buch über das Leben von Franz Xaver S. J.: Johannes de Lucena, Vita b. P. Francisci Xavier. Rom 1613. 107 Rubiés, Travel (wie Anm.13), 354 Anm.5. 108 Vgl. zu diesem Autor Donald F. Lach, Asia in the Making of Europe. Chicago 1977, 654. Francesco Negrão war ein luso-indianischer Franziskaner und der Chronist der Provinz St. Thomas. Er sammelte über zehn Jahre Wissen über die indischen Religionen und wollte ein Buch über das religiöse System der Brahmanen schreiben. 1619 nach Europa gerufen, traf er auf dem Weg in Isfahan della Valle; 1622 kehrte er nach Goa zurück. Die Chronik seiner Provinz und das Buch zu den indischen Religionen wurden nicht veröffentlicht; vgl. hierzu: Jorge Flores, Re-Exploring the Links. History and Constructed Histories between Portugal and Sri Lanka. Wiesbaden 2007, 97.

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se beyde / und andere Wissenschafften / eine Histori / sonderlich aber von der Indianer Sachen / habe schreiben können / zumalen weil er sich nur allein durch Dolmetschen der Sachen erkundigen mussen; auf welche Weise man aber / wie ich selbst aus der Erfahrung habe / zum öfftern in viel Irthumb geräth“. 109 Während sich also bisher bei den meisten Themen eher gezeigt hat, dass antikes Wissen an Bedeutung, zumindest aber an Autorität verloren hatte, wird ihm im Kontext der indischen Religion ein sehr hoher Stellenwert eingeräumt. Sicherlich deutete das mangelnde Wissen des Franziskaners für della Valle einen allgemein eher niedrigen Bildungsstand an, doch in der zitierten Kritik sieht er das antike Wissen als eine erkenntnistheoretische Notwendigkeit, um Indien zu erfassen. Nur so ausgerüstet, könne man die indische Wirklichkeit und vor allem die indischen religiösen Systeme verstehen! Diese geradezu epistemologische Wertschätzung der Antike für das Verständnis indischer Religionen bei della Valle war aber nicht die einzige Position im zeitgenössischen Diskurs; ihr wurde durchaus widersprochen. Ganz anders argumentierte beispielsweise der erwähnte protestantische Geistliche Abraham Rogerius. Im Vorwort seines Werkes „Offne Thür zu dem verborgenen Heydenthum“ ist es nicht das antike Wissen, sondern die Religion, die Erkenntnis ermöglicht. Durch das von Gott veröffentlichte Wort „ist die Philosophia entstanden“, Platons Ideen ebenso wie die christliche Philosophie hingen von der göttlichen Offenbarung ab. 110 Entsprechend erklärt Rogerius auch den Transfer der Ideen zwischen Pythagoras und Brahmanen anders als della Valle: Die Brahmanen, bei ihm religiöse Experten und keine Philosophen, seien „mit fürtrefflichen Verstand und Geschicklichkeit gemeiniglich begabte Leute“. Schon Platon und Pythagoras hätten „sich nicht geschämt / [die Brahmanen] zu besuchen; von denen sie beide (wie vermutlich) fast all ihre Philosophiam entlehnt / und den Griechen überbracht haben“. 111 In der Deutung des Rogerius

109 Della Valle, Reiß-Beschreibung (wie Anm.50), 1. Sendschreiben, 39. 110 In gewissem Maße stehen für Rogerius Paulus und Aristoteles durchaus auf einer Ebene, aber „es ist zur Gnüge bewusst / dass die heydnische Theologia, also auch die Philosophia, da sie im höchsten Flor war / jederzeit mit dicken und finstern Wolken deß Irrthums überzogen / und mit Fabeln verdeckt gewest“; Rogerius, Heydenthum (wie Anm.83), Vorwort unpaginiert. 111 Ebd.Vorwort unpaginiert. Voltaire machte in seinem Bestreben, die Juden als erste Empfänger der Offenbarung zu entthronen, die Brahmanen dann zu den Lehrern der Juden; vgl. Andreas Pečar/Damien Tricoire, Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne? Frankfurt am Main 2015, 45.

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transferierten also die Inder Wissen nach Griechenland und nicht andersherum; zudem floss der Transfer aus dem religiösen Feld ins philosophische. Darüber hinaus ist zu betonen, dass sich Rogerius nur auf antike Informationen zu Indien bezieht und eben keine antiken Erklärungen und Beschreibungen komparativ zur Erklärung einsetzt, wie dies della Valle tat. Das Verhältnis von Empirie und biblischen wie antiken Wissenstraditionen konnte aber auch noch ganz anders konzeptualisiert werden. Das zeigt die Argumentation Carsten Niebuhrs gut hundert Jahre nach Rogerius. Auch er schrieb ausführlich über die Religionen der Inder und vor allem die Tempel auf der Insel Elefanta vor Bombay, heute Mumbai. Noch weniger als della Valle begrenzte Niebuhr die Antike auf die Zeit und Werke der Römer und Griechen, sondern schloss ebenso die Ägypter, die biblischen Akteure des Alten Testaments und eben auch die alten Inder ein. Vor allem drehte er aber die Bedeutung von Tradition und Empirie als Referenzpunkte um: Niebuhr berief sich bei seinen Schilderungen auf zeitgenössische Reisende, besonders auf Alexander Dow und François Bernier. Sie hätten mit Menschen in Indien kommunizieren können und keine anderen Reisenden hätten so viel über deren Religion lernen können, wie die beiden genannten. 112 Er misstraute hingegen den Berichten der antiken Texte als Wissensvermittler. Alles was man über diese alten Religionen (vor allem der Ägypter) wisse, so sein Argument, komme ‚nur‘ von griechischen Autoren, also „durch eine fremde Nation“ und sei deshalb wenig zuverlässig. 113 In Indien gebe es aber die Brahmanen, welche die entsprechenden Bücher hätten. Er sah wie della Valle das Sprachproblem und forderte, dass „gelehrte“ und „unpartheiische“ Reisende nach Indien kommen, die Sprachen lernen sollten und dann eben viel über die indischen Altertümer lernen könnten. Weitere zweihundert Jahre später sollte Edward Said das Wissen eben solcher gelehrter Orientalisten grundlegend kritisieren. 114 Niebuhr dagegen sieht ihre mögliche Leistung nicht nur in der Darstellung Indiens und des Nahen und Mittleren Ostens: Wenn diese Reisende mehr über Indiens Antike, seine Religion und sein Wissen gelernt hätten, „wer weiß, ob dieß nicht vieles beytragen würde, die ältesten griechischen und andere heidnischen Schriftsteller besser zu verstehen“. 115 Genau andersherum als della Val-

112 Niebuhr, Reisebeschreibung (wie Anm.48), 2, 22 Anm.*. 113 Ebd.2, 44. 114 Edward W. Said, Orientalism. New York 1994. 115 Niebuhr, Reisebeschreibung (wie Anm.48), 2, 45.

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le argumentierte, erhoffte sich also Niebuhr, dass die empirische, aktuelle Wissensproduktion helfen könne, die „eigene“ Antike zu verstehen. Die Antike und ihre Texte sind von einem Ort, an dem akzeptiertes Wissen versammelt war, und der als Wissensarchiv diente, zu einem Objekt der Untersuchung geworden, über das also erst Wissen produziert werden musste.

VI. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Antike in della Valles Werk eine wichtige Rolle spielte, aber zum einen keine hegemoniale, den Diskurs bestimmende und zum anderen durchaus verschiedene Funktionen erfüllte. Die Informationen über Indien, die aus der Antike überliefert waren, spielten kaum mehr eine Rolle. Die Bemerkung, die Welt habe sich verändert und so passe das antike geographische Wissen nicht mehr, war im 17.Jahrhundert gerade zum Topos geworden. Auch im Bereich der Botanik verließ sich della Valle vor allem auf das antike Handbuch, weil schlicht kein besseres zur Verfügung stand. Bei den meisten Themen diente antikes Wissen weniger als Referenzpunkt, der das Erzählte absicherte, sondern als Bezug auf denjenigen Wissenshaushalt, den Autor und Leser teilten und der die Autorität des Autors belegte. Anders als im Diskurs über die Amerikas war jedoch ein Bezug auf konkretes Wissen über Indien bis in die Moderne hinein überhaupt möglich. Eine größere Bedeutung hatte die Antike für die Erklärung der Bewohner Asiens, ihrer Sitten und noch mehr ihrer Religion. Aber hier liegt eine komplexe Verwebung verschiedener narrativer Strategien vor: Wissen wird aus antiken Quellen wie Herodot herangezogen, die Erklärung lieferte dann aber eher die Bibel. Bei den Religionen gibt es zum einen geradezu aus der Antike sedimentiertes Wissen: Die antiken Gymnosophisten bevölkern fast jeden frühneuzeitlichen Reisebericht unhinterfragt. Es kommt aber zum anderen auch etwas Neues dazu: Della Valle benutzte nicht nur antikes Wissen für betrachtete Phänomene, sondern in einem komparativen Zugang wurden neue, fremde Phänomene durch solche aus der Antike erklärt. Die Wurzeln der komparativen Methode, die mit der Aufklärung zunehmend den Diskurs bestimmte, können in gelehrten Reiseberichten wie dem von della Valle verortet werden. Dies war ein im weitesten Sinne ähnliches Verfahren wie die Verwendung des Begriffs der orientalischen Despotie. Denn der aus der antiken Staatstheo-

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rie entlehnte Despotiebegriff wurde später – aber eben noch nicht von della Valle! – zur Abwertung asiatischer Herrschaftsformen genutzt. Bezogen auf indische Religionen schrieb della Valle antikem Wissen eine noch grundlegendere, nämlich epistemologische Rolle zu: Ohne Kenntnis der antiken Texte könne man die indischen Religionen nicht verstehen. Das betonte er vor allem in seiner Kritik an den Texten von Missionaren. Della Valles Bezugnahme auf die Antike kann also nicht in einem Entweder/ Oder von Empirie und Tradition verortet werden, seine Texte sind aber auch nicht nur antiquarisch. Ihn nur als Liebhaber antiker Artefakte zu sehen, verkürzt die Bedeutung der Antike für sein Denken beträchtlich. Della Valles Bezüge auf die Antike hatten ganz verschiedene Funktionen und unterschieden sich je nach Thema. Diese Vielfalt und die Einbettung seiner Texte in einen weiteren, auch diachronen Diskurs haben gezeigt, dass es hier keine einfachen Entwicklungen gab. So lässt sich folgern, dass die Bedeutung der Antike als Informationslieferant sank, dass sie ihr Erklärungspotential auf einer erklärenden und epistemologischen Ebene aber behielt oder sogar hinzugewann – jedenfalls bei Autoren wie della Valle, die humanistisch gelehrt waren. Das waren aber bei weitem die wenigsten Reisenden – aber die bekanntesten Autoren.

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Abkürzungen und Siglen

Die Abkürzungen der Namen antiker Autoren und ihrer Werke werden nicht angeführt. ANRW

Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Reihe I–IV. Berlin 1972 ff.

BNJ

Brill’s New Jacoby. General Editor: Ian Worthington. (Online Edition).

CIL

Corpus Inscriptionum Latinarum. Consilio et auctoritate Academiae Litterarum Regiae Borussicae editum. Vol. 1–17. Berlin 1862 ff.

FGrH

Die Fragmente der griechischen Historiker. Begründet von Felix Jacoby. Berlin 1923 ff.

Migne PL Jacques-Paul Migne, Patrologia Latina. 221 Vols. 1844–1865. RE

Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Hrsg. v. Georg Wissowa u. August Friedrich Pauly. Stuttgart 1893 ff.

ABKÜRZUNGEN UND SIGLEN

391

Die Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Ingrid Baumgärtner, Universität Kassel, Fachbereich 05: Gesellschaftswissenschaften, Nora-Platiel-Str. 1, 34109 Kassel, E-Mail: [email protected] Dr. Ronald Bockius, Hauptkonservator und Leiter des Kompetenzbereichs Antike Schifffahrt, Römisch-Germanisches Zentralmuseum, Forschungsbereich und Museum für Antike Schifffahrt, Neutorstr. 2b, 55116 Mainz, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Jürgen Elvert, Universität zu Köln, Historisches Institut, Abteilung für Didaktik der Geschichte und Geschichte der Europäischen Integration, Gronewaldstr. 2, 50931 Köln, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Antje Flüchter, Universität Bielefeld, Fakultät für Geschichtswissenschaften, Philosophie und Theologie, Abt.Mittelalter und Frühe Neuzeit, Universitätsstr. 25, 33615 Bielefeld, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Klaus Geus, Freie Universität Berlin, Historische Geographie des antiken Mittelmeerraums, Friedrich-Meinecke-Institut, Koserstr. 20, 14195 Berlin, E-Mail: [email protected] Julian Gieseke, Universität Bielefeld (SFB 1288 „Praktiken des Vergleichens“), Fakultät für Geschichtswissenschaften, Philosophie und Theologie, Abt.Alte Geschichte, Universitätsstr. 25, 33615 Bielefeld, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Yingyan Gong, Ningbo University, Zhejiang, China, zur Zeit: Department of History, The Faculty of Letters, Kokugakuin University, Higashi, Shibuya-ku, Tokyo, Japan, ZIP 150–8440, E-Mail: [email protected] Dr. Sebastian Kolditz, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Historisches Seminar, Grabengasse 3–5, 69117 Heidelberg, E-Mail: [email protected] Marie Lemser, Universität Bielefeld (SFB 1288 „Praktiken des Vergleichens“), Fakultät für Geschichtswissenschaften, Philosophie und Theologie, Abt.Alte Geschichte, Universitätsstr. 25, 33615 Bielefeld, E-Mail: [email protected]

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110670547-017

393

Prof. Dr. Duane W. Roller, Professor Emeritus of Classics, The Ohio State University, 27 Estambre Road, Santa Fe, NM 87508, USA, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Benjamin Scheller, Universität Duisburg-Essen, Geisteswissenschaften/ Historisches Institut, Universitätsstr. 12, 45117 Essen, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Angela Schottenhammer, Universität Salzburg, Fachbereich Geschichte, Rudolfskai 42, Zimmer 1026, A-5020 Salzburg, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Raimund Schulz, Universität Bielefeld, Fakultät für Geschichtswissenschaften, Philosophie und Theologie, Abt.Alte Geschichte, Universitätsstr. 25, 33615 Bielefeld, E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Eivind Heldaas Seland, University of Bergen, Department of Archaeology, History, Cultural Studies and Religion, Øysteinsgt. 3, P.O. Box 7805, N-5020 Bergen, Norwegen, E-Mail: [email protected] Dr. Irina Tupikova, Technische Universität Dresden, Institut für planetare Geodäsie, August-Bebel-Straße 30, 01219 Dresden, E-Mail: [email protected]

394

Historische Zeitschrift //

BEIHEFT

77 / 2019

Register

1. Namen

Attalos I. 323 Augustus 35, 62, 100, 102f., 115, 185

Abū Zayd aus Sīraf (Geograph und Schriftsteller)

158, 161

Adam von Bremen 173, 188f., 191–196, 204 Adomnán 178

Benincasa, Grazioso

184

Agatharchides von Knidos 52f., 54f., 283–305, 333

183 34, 45, 50, 52, 82, 89f., 91f., 94,

96f., 112, 121, 125–127, 131, 230–232, 288, 291, 304, 314, 373 Alexandros (griech. Seefahrer)

105

Alfons (port. König) 203, 251, 349, 359 Alfred (angelsächsischer König) Ansgar (Missionar)

186f.

184f. 188

286, 293, 298, 314, 322, 370f., 383 227, 289

Athenaios 321, 326

Cadamosto (Cá da Mosto), Alvise 54, 340, 349, 359 Caesar, C. (Enkel des Augustus) 101, 185 Caesar, C. Iulius 202f., 231 Cato (d. Ä.)

77

Chandragupta Maurya

113, 283

311, 314 255

Colum Cille 178 Columban

179f.

Conches, Wilhelm von

176

Constantius II. 116

239

Ashoka (Maurya-Herrscher) Athena 323

272

Cabral, Pedro Álvares 135, 210, 255

Colón, Hernando 257

92, 105, 107f., 127, 131f., 249, 252f.,

Asterix 307

248

Ciampi, Sebastiano 343

289

Artemidor von Ephesos

177

Christophorus (Heiliger)

Ariston 287

Arrian

Cabot, John

Charmoleon

Anubis (ägypt. Gottheit) 282

Aristoteles

385

Buoninsegni, Domenico

153, 159, 163

Anonymus Leidensis

341–343

371–373

Brendan (Heiliger)

Al Idrīsī 163

Aristokreon

289

Brahma

163

Alexander (d. Gr.)

Bion

Botero, Giovanni

323, 324, 327

Alcuin

350

Bernier, François 371, 388 Boccaccio, Giovanni

Agnese, Battista 258f., 261–265

Al Mas’ūdī

Bandino, Domenico 343 Beda Venerabilis 193

Aemilius Probus 379

Al Bīrūnī

Ban Gu 139 Basilis 289

Aelius Gallus 101

Ajas

362, 365

Bacon, Roger 253

Adalbert (Erzbischof) 189, 193

Aethicus

Bacon, Francis

71, 113

Conti (venezianischer Konsul) 354 Cormac

179f.

Cornelius Scipio Aemilianus Africanus, P. 128, 133, 311 Cortés, Hernán 260

HTTPS :// DOI . ORG / 10.1515/9783110670547-018

395

Da Gama, Vasco

134, 210, 254, 336, 373–375

Fabri, Felix 243–245, 250

Da Pisa, Rustichello 338, 351

Fra Mauro

Da Recco, Niccolò

Franck, Sebastian

54, 340f., 348, 357, 360

Da Verrazzano, Giovanni

244f., 248–250 365–368, 374, 378–380

260

Da Verrazzano, Girolamo 26

Ganesha (hinduist. Gottheit)

Dareios I. (pers. König)

Ganuzwolf (dän. Fürst)

34, 83f., 90

382

190

De Acosta, José 377, 383

Gastaldi, Giacomo 263f., 266f.

De Alarcón, Hernando 260

Germanicus (Sohn des Drusus)

De Colonia, Johannes

Gómez, Estevan

252

De Gerretzheim, Johannes Manthen De Jode, Cornelius De la Cosa, Juan

252

Gondophares (indoparthischer König) 116

273

254

Håkon IV. Håkonsson (norw. König)

De la Valle, Pietro

56, 361–390

Hannibal

De Laet, Johannes

374f.

Hanno (Seefahrer aus Karthago)

De Lucena, Johannes

386

De Mendana, Alvaro

273

199

133 40, 54, 88f., 94,

99, 123, 132f., 185, 227 Harald (norw. König)

De Sintra, Pedro 349

190, 194

Heinrich (port. Infant, genannt der Seefahrer)

De Ulloa, Francisco 260 De Varthema, Ludovico

366

Hekataios 85, 91f., 228 Herakleides Lembos 286

Dezong (chin. Kaiser)

153f.

Herodot 55, 84–87, 92, 122f., 250, 289–292, 295,

350

Di Lapacino, Francesco

298f., 301, 304, 309, 318, 324, 332, 352, 378–380, 248

389

Diakaiarchos (von Messene) 127, 130, 293f., 296f.

Hesiod 292f., 296f.

Diaz, Bartolomeu 210, 249

Hieronymus (Kirchenvater

Dicuil

Himilko (Seefahrer aus Karthago) 40, 124, 132f.

180–186

Diodor 57, 226, 234f., 285, 321, 323f., 328–330, 380 Diogenes Laertius

Hipparchos Hitler, Adolf

385

378

127 214

Homer 57, 121, 128, 174, 292, 299, 324, 327f.

Dionysios (Gesandter der Ptolemäer)

71

Honorius Augustodunensis 176

Dioskurides 376

Horaz

Domitius Ahenobarbus, Cn. 311

Ḥudūd al-ʿĀlam

Doria, Tedisio 335

Huizong (chin. Kaiser) 69

370 163

Dow, Alexander 388 Drusus (röm. Feldherr in Germanien) 135

Ibn Khuradādhbih (pers. Geograph) 162 Isidor von Sevilla 173f., 184f.

Einhard 190

Iulius Marinus Caecilius Simplex, L. (röm.

Ephoros 127, 309 Eratosthenes von Kyrene

Consul)

Eudoxos von Knidos 92

Jesus

Eudoxos (Eudoxus) von Kyzikos 62, 71, 99f., 115,

Jia Dan

180 147, 155

Joerida, Sitti Maani

Euklid 249

369

Julian (röm. Kaiser) 241

Eumaios (Schweinehirte des Odysseus)

122

Eumedes 284, 287

Julius Agricola, Cn.

135f.

Jupiter (röm. Gottheit) 381f.

Euthymenes (Seefahrer aus Massilia)

Historische Zeitschrift //

230

131, 228, 236, 239, 318

134, 185

396

54,

206f., 350, 354

Demokrit 325 Di Conti, Patrizio

135

260–262

BEIHEFT

40, 123f.

77 / 2019

Kallisthenes Kambyses Kang Tai

Obelix 307

378

Odysseus 85, 133, 332

82, 290, 298

Ohthere 186–188

139, 141

Karl der Kahle 184

Olaf (norw. König)

Karl V. (Kaiser) 256–258

Orosius 175, 184–186

Kleopatra II. 71, 303

Ortelius, Abraham 47, 263, 269–274

Kleopatra III. 115

Ovid 237

Kolaios

192

121–123

Kolumbus, Christoph 32, 42, 108, 129, 136, 210– 212, 241, 248, 251–254, 257, 267, 361

Pagano, Matteo 266 Pan Mei

156

Kopernikus, Nikolaus 219

Pausanias

Kosmas Indikopleustes

Pegolotti, Francesco

44f., 127, 179

226 338

Krates von Mallos 93, 108

Petrarca, Francesco 342

Kronos (griech. Gottheit)

Philemon 135, 231

Ktesias von Knidos

136

353, 378

Philon 230, 283

Kyros II. (der Große) 82

Photius

285

Piccolomini, Enea Silvio Lafitau, Joseph-François Li Mi

Platon 44, 93, 107f., 302, 383, 387

370

Lu Guimeng

Plinius (d. Ä.) 57, 71, 107, 117f., 127, 181f., 185,

168

228, 249, 252, 342f., 353, 365, 374f., 378, 381

Lukian 136 Luo Hongxian

Plutarch 94, 136, 237

271

Poivre, Pierre Macrobius

108, 252f.

Plancius, Petrus 273

153

Livius, T.

252

Pierre d’Ailly (Petrus de Alliaco)

367

372

Polo, Marco 46, 50f., 56, 108, 263, 338, 341, 351

365

Polybios

Magellan, Ferdinand 254f., 257 Magnus Olavsson (norw. König)

199

Mandeville, Sir John (Jean de Mandeville) 50, 56,

40, 125, 127, 129–134, 225, 230f., 309,

311, 313, 319, 330 Poseidonios von Apamea 53, 55, 71, 92, 114, 249, 307f., 310–333

378 Marinos von Tyros

226–231

Ptolemaios I. 287

Marius, C. 315

Ptolemaios II. 284, 287

Martianus Capella 184f.

Ptolemaios III. 287

Martins, Ferdinand 251

Ptolemaios IV. Philopator 71, 284

Mattioli, Andrea

Ptolemaios VI. 285f., 304

376

Megasthenes 50, 52, 230, 378

Ptolemaios VIII. Euergetes II. 71, 114, 285, 303f.

Mela, Pomponius

Ptolemaios, Klaudios (Ptolemäus)

175, 184, 228, 249f., 365

Montalboddo, Francazano

350

368, 373–375 Pythagoras

Nearchos

52, 90f., 230, 288, 291f.; 294–296; 299

Necho (ägypt. König) Negrão, Francesco Niccoli, Niccolò

38, 45f., 215,

223, 228–231, 241, 247–251, 254, 264–268, 365,

Mercator, Gerhard 262

86

386 248

92, 384–387

Pythagoras (Seefahrer u. Geograph des 3.Jh.s v. Chr.)

283

Pytheas (aus Massilia)

40, 121, 126–135, 182, 193,

231, 309, 312f., 317–319

Niebuhr, Carsten 372, 375, 388f. Noah 368

Rabanus Maurus 176 Raleigh, Walter 220, 368

REGISTER

397

Ramusio, Giovan Battista 266

Wang Zhongsi

Ribeiro, Diogo

Wāqwāq

257, 260–262

147

162

Ricci, Matteo 47, 269–280

Wenzong (chin. Kaiser)

Rogerius, Abraham 383, 387

Wu Zetian (chin. Kaiserin)

Ruscelli, Girolamo 267

Wudi (chin. Kaiser der Han)

151 150 38, 68, 139, 141

Wulfstan 186 Satyros 287 Saxo Grammaticus

197f., 204

Schedel, Hartmann

365

Schipano, Mario

Xuanzong (chin. Kaiser) 69, 147

369

Yang Liangyao

154f.

Scipio Aemilianus, s. Cornelius

Yāqūt al Hamawī ar-Rūmī

Seleukos I.

Yin Chongke 156

283

352

Seneca 105, 108, 132,136, 252f. Sepulveda 370

Zhang Huang

Shenzong (chin. Kaiser) Silvestri, Domenico Simmias

156

Zheng He

343

Zhou Qufei 148f.

287

Simonides (d. J.)

269f., 274

39

Zhu Yu 147 289

Skylax von Karyanda 51, 83f., 86–92, 287, 291 Sokrates Solinus

383 181, 184f., 249, 378

Strabon 57, 108, 114, 118, 127–130, 226–228, 236, 249, 267, 285, 289, 302, 333, 353, 375, 379 Su Gui

2. Orte und geographische Bezeichnungen

150

Suleimān (arab. Reisender nach China) Sun Quan

158

Aalborg 192 Aarhus 191

140

Afghanistan 34, 38, 82, 113

Sven Estridsen 193

Afrika 11, 24f., 28, 33f., 39f., 49, 53, 55, 62, 81, 85, Taizu (chin. Kaiser) 155f.

88, 92, 94, 98f., 105f., 113, 118, 121, 123f., 131f.,

Thales 237

134f., 158, 163, 175, 181, 185, 196, 201, 207f.,

Theodosius (röm. Kaiser)

Theophilos (genannt der Inder) Thomas (Apostel) Thukydides Tiberius

210f., 227, 244, 248f., 256, 261, 266f., 271f., 295,

181 116, 119

313, 335f., 340, 349f., 354f., 359f., 374 Ägäis/Ägäisraum 51, 61, 67, 85, 122, 266

116f.

Agra

237

373, 375

Ägypten

135

Timosthenes von Rhodos

237, 283, 300

Toscanelli, Paolo dal Pozzo 251f. Trajan (röm. Kaiser)

28, 33, 35, 61–63, 65, 67, 69, 71f., 78, 82,

100f., 105, 112–118, 122, 239, 250, 283, 286, 379, 381, 385, 388 Aithiopien 62, 84, 181, 234, 290

229

Varro 237

Al-Andalus

201

Alexandria

31, 33, 37, 45, 49, 52, 69, 90, 97, 103,

105, 131, 234, 250, 284, 286, 300, 303, 349

Vegetius 241 Vivaldi, Ugolino 335

Alpen 133

Volusenus Quadratus 231

Al-Ubullah 162 Amerika („Neue Welt“) 23f., 29, 47, 55f., 106, 135f., 205, 211f., 219, 242, 248, 254, 259f., 266,

Wang Dang 142 Wang Fangqing

398

268, 271, 273, 361f., 370, 374, 377, 383, 389

150

Historische Zeitschrift //

BEIHEFT

77 / 2019

Amsterdam Annam

216

Beihai

147

Antiochia 31, 44, 105

Belitung 164

Apameia 308

Berenike 33, 63, 65, 67, 97, 115f., 118

Aquae Sextiae (Aix-en-Provence) Äquator/Äquatorialzone Arabien

68

Beijing 271

314, 331

108, 133, 136, 252, 265

33, 35, 37f., 42, 52, 55, 61, 65, 81, 85f., 90f.,

Bohai

147

Bologna 258 Bombay (Mumbai) 388

96, 98f., 104, 106, 108, 113f., 117f., 144, 148, 153f.,

Borkum

158f., 265, 284, 295, 372f.

Brasilien

Arabisches Meer Aragòn

51, 81, 113, 138, 185

336

135, 211, 255

Bremen

188, 193, 204

Bretagne 123

Araxes (Aras)

290

Brigantium (siehe auch La Coruña)

Argolis 78 Arguin

135

25

Britannien/England 25f., 78, 106, 121, 128f.,

207

134f., 175f., 181, 187, 193, 201f., 231

Ariane 238

Burma

Arikamedu 35, 66, 68, 71, 139

Byzanz 247

68

Arktis 130, 134, 200 Ärmelkanal Asien

125, 134, 201

Cabo de São Vicente 343, 350f., 354

26, 33f., 44, 47, 51, 60, 65, 67–69, 75, 80, 82,

Calicut

375

85, 91, 115, 119, 125, 137f., 144, 152, 155, 157,

Cap Blanc 351

159f., 164, 170, 172, 205f., 210, 212, 214, 249f.,

Cathai 108

254f., 260, 266f., 271f., 295, 338f., 362f., 370f.,

Ceuta 335

378, 389

Ceylon

Asowsches Meer Asturien Athen

234, 244

101, 105, 263

Chang’an (X’ian)

202

69f.

Changsha (Hunan)

237, 314

164f.

China 12, 18, 37f., 46f., 61f., 68f., 72, 108f., 137,

Atlantik/Atlantischer Ozean

11f., 15, 18f., 24f.,

139f., 150, 162, 169, 205, 211, 269f., 274, 368

32, 39, 41, 43, 53, 81, 93f., 99, 105f., 121f., 126, 129,

Chinesisches Meer

131f., 173, 175f., 179, 183, 185f., 196, 198, 200,

Chryse 263

203f., 208–211, 245, 251, 255f., 261, 309, 335,

Cipango (siehe auch Zipangu)

339f., 357, 359

Clymsa (Qulzum) 33

Atlantis

41, 176f.

Atlasgebirge/Atlas

Cōḷa 175f.

Australien/terra australis 11, 94

11, 13, 105, 137f., 158, 160, 166 108

147

Colorado River 260 Cornwall

123

Avalon 262 Azoren 11, 124, 205, 207, 210f.

Dakien

105

Dänemark 27, 189, 191, 197 Bab el-Mandeb 35, 62, 95, 98, 285

Dartmouth 202

Babylon

90, 126

Deng[zhou] 147

Badajoz

256

Don 234, 244

Bagdad 154, 369

Donau 92

Bahamas

212

Dong Xa 73, 75

Baktrien

85, 90

Balearen

203, 357

Baltisches Meer Basra

153, 162

190

Elephantine 290 Epirus 113 Eritrea

119

REGISTER

399

Europa 24, 26, 34, 41, 44, 50, 52, 54f., 91, 100, 106f.,

Golf von Mexiko

211f.

110f., 121, 126f., 138, 162, 173, 200, 203, 205f.,

Golf von Suez 86, 287

210f., 214f., 237, 239, 244, 247, 250, 258, 261,

Golf von Tonkin

263f., 267, 269, 271f., 337, 339, 353, 364, 370f.,

Gomera

377

Gorgoden (Inseln)

68, 139

356 181

Gran Canaria 344f., 356f. Farasân-Inseln 102

Grande Côte

Färöerinseln 129, 180, 199

Griechenland 35f., 38, 40, 43, 48, 51, 69, 82f., 112,

Flandern

349f.

Florenz

351

121, 310, 318, 322, 324, 333, 388

28, 247f., 251, 338, 341

Grönland 27, 34, 129, 193, 196f.

Floridastraße 212

Guabanara-Bucht 135

Foqi

Guadalquivir 26, 123

146

Frankreich 260, 272

Guanahani 212

Friesland 197

Guangdong 159, 164, 167, 170, 269

Fuerteventura 356

Guangxi

Fujian

151, 164, 167, 170

Guangzhou 141, 148, 150, 154f., 158,f., 165f.

Funan

138, 145

Guinea

68, 159 54, 337

Guinea-Bissau Gades/Cádiz

351

25, 53, 99, 106, 173f., 185, 317f., 343

Galizien 175, 202

Hainan 166

Gallia Narbonensis 307, 311, 315, 320, 333

Hamburg

Gallien

Hangzhou 159f.

78, 126, 173, 175, 185, 307, 311f., 316, 318,

331f.

Hanoi

Gambia

40, 54, 351, 353f., 357, 359

188, 192f.

72

Hebriden

199

Gandhara 33, 35, 83

Helgoland/Helgeland 193

Gandvik 198

Hepu 68

Ganges/Gangestal

52, 66, 89

Hesperiden

177, 181

Garonne 128

Hierro

Gascogne 201, 272

Hispaniola 263, 361

Gaza 86

Hutian

Geba

Hoq-Höhle (auf Sokotra)

351

356 167 119

Gedrosien 91, 291 Gedrosische Wüste 90

Iberien/Iberische Halbinsel, s. Spanien

Genua

Îles des Madeleines 351

28, 108, 335, 338, 340

Germanien Gerrha

173, 183, 227

Gewürzinseln Goa

Indien 19, 24f., 30, 33f., 37, 39, 41, 47, 50f., 56f.,

284

61f., 66f., 70f., 80f., 84, 87f., 92f., 101–103, 147, 251, 255

153, 158, 162, 170, 176, 179, 185, 205–208, 210,

386

Golfstrom

252f., 261, 266f., 283, 288, 295, 335, 361f., 372f., 212

377f., 381

Golf von Aden 96, 118

Indischer Ozean/Indik 11f., 15, 18, 20f., 23f., 29,

Golf von Bengalen 139

31, 33f., 38f., 44, 46, 52, 55f., 82, 95, 98f., 102,

Golf von Benin

104f., 109f., 116f., 120, 137, 140, 142f., 145, 151f.,

94

Golf von Bohai 139 Golf von Guinea

400

154, 157, 161, 163, 169, 172, 249, 254, 261

125

Indochina 61, 72, 139, 143

Golf von Hormuz 86

Indonesien

Golf von Lion (Sinus Gallicus) 311

Indus 33f., 52, 83f., 88f., 112f., 287f., 291

Historische Zeitschrift //

BEIHEFT

77 / 2019

61, 72, 164

Insulae fortunatae 177, 181

Kaspisches Meer

Irak 153

Kastilien

Iran

Kattigara 38, 105

47, 158, 159

Irland/Hibernia 123f., 135, 177f., 181, 187, 193, 202, 231

Kaukasus

89

Kent/Kantion

Isabella (Insel)

273

128

Kerne 125, 133

Isfahan 386

Khānfū (Kanton)

Island 129, 180, 193, 196f.

Khitan Liao

Isthmus von Kra

Kilikien

138

Italien 22, 24, 28, 32, 48, 54, 67, 92, 99, 104, 239, 269, 272, 311, 326, 335, 339, 346f. 137, 157f., 160, 163, 205

78 83, 87, 121, 123, 332

Kleine Antillen Koilesyrien 283 Kopenhagen

Jemen

Koptos

Jerusalem Jiangxi

116f., 250,

195

65, 103

Korbilon

167

212

286

Javasee 165 65, 376

153

155

Kleinasien Knidos

Japan

82, 126, 173, 238, 290

27, 336, 340

315

Korea 138f., 142, 157f., 160

Jingdezhen

170

Koromandelküste 66, 70, 139

Jütland 40, 191, 318

Kos

67

Kreta 250, 349 Kabulfluss 85

Kuba 212

Kabultal

Kykladen

Kairo

90

170

122

Kyrene 113, 122

Kalāh (Kedah)

153, 159

Kyzikos 98

Kalifornien 259f. Kambodscha

138

La Coruña 202

Kanada 27, 214, 367, 382

Lahore 373, 375

Kanaren/Kanarische Inseln 11, 25f., 41, 54, 106,

Lanzarote 356

124, 205, 210f., 337, 340, 342, 351, 356f. Kandahar Kanton

375

Leiden

147, 154f., 161, 164,

Kap der guten Hoffnung

205, 210f., 249

Kap Delgado 98 Kap Gelindonya

Larvik (am Skagerrak) 192 195

Levante

28, 35, 95, 105, 126

Libyen

44, 91, 121f., 124, 271

Ligurien 123, 311, 314 78

Lingnan

151

Kap Juby 335

Lissabon 49, 201, 209, 216, 251, 357

Kap Ortegal

Loire 128, 133, 315

202

Kap Race

262

Lombardei

Kap Roxo

351

London

Kap St. Mary

351

Longquan

265

216, 264 170

Kappadokien 112

Lorient 216

Kapverden

Lydien 112

11, 41, 124, 205, 207, 210, 212, 245, 351

Karibik 9, 54, 212f. Karien 98

Madagaskar 98, 163

Karthago 26, 29, 40, 48f., 54, 99f., 121, 123f., 128,

Madeira 22, 26, 41, 106, 124, 205, 207, 210f., 351

131f. Karyanda 51, 83, 85, 87

Magellanstraße 213, 262 Maharashtra (Gujaratregion) 114

REGISTER

401

Maine 260 Malaysia 68, 138, 145, 159, 205

Nova Scotia 260

Mallorca 202

Nubien

105, 112, 289f.

Marokko 107, 335 Massilia

26, 40, 53f., 89, 99f., 106, 121, 123–125,

129, 133f., 182, 216, 308, 311f., 314f., 317, 326

Oc Eo

38, 138f.

Oikumene 44, 79, 89f., 93, 126, 174, 179, 227, 236, 238, 250, 252, 308, 310, 318, 322, 333

Mauretanien

175f., 181, 207

Mazedonien

113

Okeanos 317–319

Megalopolis

133

Oman 65, 84, 118, 153, 159

Mekongdelta 139

Orkney-Inseln 180, 193, 199

Mesopotamien

Ostsee

Mexiko

84, 118, 238, 288

26, 40, 107, 130, 135, 183, 186, 190, 198, 206,

249

212

Ostrogard 191

Milet 91, 125 Mingzhou (Ningbo)

Oviedo 202

157

Mitteleuropäisches Binnenland 308 Mittelmeer 15, 18–23, 25–29, 31f., 38f., 41, 44, 53,

Pakistan

83f., 113

68f., 72, 77f., 85f., 89, 95, 97f., 100, 103, 105f.,

Palästina

78

109f., 116f., 121f., 124, 126f., 137, 161, 184, 203,

Palembang 145

206f., 234, 243f., 247, 264, 307, 311

Palma

Mokpo

Molukken

Pamir

255f., 258, 259

105 153

Mozambique 163

Parthien 68, 101

Muziris 31

Pazifik

Mumbai, s. Bombay

Pelagus Sciticum 190

Myanmar

Peloponnes

139

Myos Hormos Nanchang Nanfan

33, 65, 67, 97, 103, 115, 118

41, 254f., 259f., 271 133, 238

Pergamon

323

Persepolis

112

Persien 48, 51, 61, 112, 287, 381

47, 269f., 272, 274

Persischer Golf

148

Nanhai-Region

162, 291

Nanzhao 153, 155

Peru 262,

Narbo Martius (colonia) 311

Petite Côte 351

Navarra

Petra

272

65, 284

Neapel 265, 342

Phasis 92

Neue Welt, s. Amerika

Philippinen

Neufundland 213, 262

Phokaia

New Haven 264

Phönikien

Niger Nil

52, 81f., 86, 90, 95, 97f., 101, 105,

113f., 118f., 129, 138, 143–145, 151f., 154f., 158,

139

NanYue 139, 141

254, 255

123 28f., 35, 38, 40, 43, 78f., 84f., 94, 121f.,

126

352

33, 65, 67, 71, 80, 84, 92, 102f., 234, 250, 284

Piemont Pisa

Nordmeer 318

266

28, 338

Nordsee 26, 28, 40, 135, 201, 216

Platea 121f.

Nordwestpassage

Poduke 67

214, 260, 262

North Carolina 260

Poebene 331

Norwegen

Polarkreis/Polarregion 109, 182, 251, 271

27, 129f., 136, 186f., 189, 192f., 195–

Pontevedra-Bucht 203

200

402

356

Palmyra

160

Historische Zeitschrift //

BEIHEFT

77 / 2019

Porto Santo 351

Schweden

Porto Seguro 210

Seidenstraße 12, 38, 206, 251

Portugal

Senegal

24, 28, 40, 48, 53, 55f., 106, 108, 201, 203,

189

40, 55, 84, 99, 123, 351f., 354–357

210f., 216, 245, 251, 254f., 266, 272, 336, 340, 346,

Sevilla

349, 351, 354f.

Shatt al-Arab 85

136, 173f., 211, 341, 343, 348

Ptolemais Theron 284

Shetland-Inseln 106, 129, 135, 199

Punjab

Sīraf 159, 162

83

Punt 96

Sizilien 122, 237f.

Pyrenäen 202

Skandinavien

26f., 40, 183, 187, 189, 195–197

Skythien 173, 234, 238 Quanbalu 162

Sokotra

Quẚng Ngãi

Solund-Inseln

166

Quanzhou

147f., 157, 159f., 166, 168

37, 97, 114 199

Somalia 35, 37, 99, 114, 119, 284

Quinsai 251

Sorø (Kloster) 195 Spanien (Iberische Halbinsel) 28, 39, 82, 92f.,

Rhein 135, 201

105f., 108f., 121, 123, 125, 174f., 181, 185, 202,

Rhodos 40, 67, 123, 234f., 250, 314

211, 214, 238, 245, 252f., 266, 311, 313, 317, 335,

Rhône 308, 314 Ribe

339, 343, 346, 355, 358

191

Sri Lanka

Rio de Janeiro

135

263

Rio de la Plata

271

Śrīvijaya

Rom 25f., 36, 38, 61, 69, 78, 99, 104, 107, 109, 206, 229, 303, 313f., 320, 329f., 333

44, 65, 68, 113f., 116f., 139, 142, 147, 181, 145, 147, 159, 164f.

St. Nicolas

273

Straße von Gibraltar

Roter Fluss

72

Rotes Meer

28f., 31, 33–35, 37, 44, 52, 54, 62f., 65,

25, 27, 40, 44, 92, 122f., 125,

127f., 131f., 134 Straße von Malakka

81, 86, 90, 94f., 97, 99, 102f., 114, 116f., 131, 134,

Sudan 286

137f., 206, 283–305

Suez

35, 139, 146

33

Ṣūliyān 147 Sahara 336f., 350, 355

Sumatra 139, 163

Salomonen 273

Surat

Saloum 351

Syrien

Samarkand 153

376 31, 44, 78, 104f., 112f., 126, 228, 230, 284,

307, 314

Samos 40, 121f. Sanfoqi [Srivijaya]-Palembang 146f.

Taishan 167

San Salvador

Taklamakan

202

38

Santiago de Compostela 202f.

Tambre 202

Saragossa 245, 253, 256

Tanais (Don)

Sardinien 95, 239

Tanais (Polis)

Säulen des Herakles

121, 123, 125, 128, 131, 133,

173 Savoyen Schleswig Schonen

Taprobane

130 234

249, 263

Tarshish (siehe auch Tartessos) 272 191 192

Schottland 129, 178, 193 Schwarzes Meer/Schwarzmeerraum 130, 234, 238, 244f., 290

Tartessos

40, 121f.

Teneriffa

344f., 356

Thailand

138, 159, 166

122

Thrakien 83, 112 28, 40, 44,

Thule 129f., 135, 182, 193, 199 Tianzhu

147

REGISTER

403

Tibet 152f.

WuYue

Tigris 162

Xinghua 147

Tissamaharama Tōbō

166

Xixia 155

65

160

Tordesillas

Yangzhou 150f., 159f., 164

245, 253f.

Toskana 265

Yangzi-Fluss

Troja 237

Yemen

Trondheim Tyros

Yen Bac 74f.

193

Tylos (Bahrain)

Yucatán 263

129

126, 129, 230 Zanzibar

162

Zhanbei [Jambi]-Malayu

Ulm 244

Zhaoqing Venedig

28, 54, 244, 252, 258, 263, 265f., 338, 349

Via Domitia Vietnam

34, 38, 61, 72, 80, 138, 142, 159, 166

Zhejiang 165, 167

Weichsel

263

Zweistromland (siehe auch Mesopotamien)

163

130

Historische Zeitschrift //

40, 99, 123

Zipangu (siehe auch Cipango) Zypern

Wāqwāq (Insel)

146

269, 273

Zinninseln

311

Vinland 27, 34, 193

404

164

102

BEIHEFT

77 / 2019

250

88